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German Pages 314 [317] Year 1983
Juri Barabasch Fragen der Ästhetik und Poetik
Juri Barabascb
Fragen der Ästhetik und Poetik
Akademie-Verlag Berlin 1982
Autorisierte Fassung aus dem Russischen Russische Originalausgabe: Voprosy estetiki i p o e t i k i ; 2., ergänzte A u f l a g e , Moskau 1977
Übersetzer:
Ursula und Klaus Kantorczyk, Birgit Mai, Christel Schmidt, Brigitta Schröder Wissenschaftlicher B e a r b e i t e r :
Roswitha Loew Wissenschaftlicher B e r a t e r :
Heinz Plavius
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3-4 Korrektor: Gottfried Hemp © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/174/82 Gesamtherstellung: Union-Druck (VOB), Halle (Saale) Umschlaggestaltung: Rolf Kunze Bestellnummer: 7540 899 (6674) • LSV 8001 Printed in GDR DDR 1 8 , - M
Inhalt
Vorbemerkung
6
Kunst, Ideologie, Politik
8
Alpha und Omega
64
Algebra und Harmonie
119
Zu Problemen der semiotischen Strukturanalyse
183
Kunstwissenschaft. Suche nach einer Synthese. Zur Methodologie komplexer Forschung
202
Die revolutionäre Erneuerung der Welt und die Literatur von heute
227
Anmerkungen
272
Vorbemerkung
Ein gutes Buch, so heißt es nicht von ungefähr, spricht für sich selbst und bedarf des Vorspruchs nicht. Indessen gibt es Fälle, bei denen ohne zusätzliche Erklärung nicht auszukommen ist. Dieses Buch ist solch ein Fall. Die vorliegende Publikation, die ich als ein Ganzes ansehe - sowohl was meine Absicht als auch die übergreifende Idee betrifft vereinigt Arbeiten aus den 6oer und 70er Jahren. In den Kapiteln „Kunst, Ideologie, Politik" oder „Alpha und Omega" werden Erscheinungen und Fakten der ausgehenden 60er Jahre beschrieben. Mit ihren deutlich polemischen Akzenten, die auch, obwohl in geringerem Maße, das Kapitel „Die revolutionäre Erneuerung der Welt und die Literatur von heute" prägen, tragen diese Arbeiten den Stempel ihrer Entstehungszeit: Des „Tages Plage" herrschet vor . . . Ich halte es für gerechtfertigt, viele, wenn auch keineswegs alle Herkunftsmerkmale in diesem Band zu bewahren, zumal ich überzeugt bin, daß die Literatur nicht von der täglichen Plage allein lebt, es sei denn, man interpretiert sie kleinlich. E s wäre mir ohne Mühe möglich gewesen, die Kapitel mit aktuelleren literarischen Exempeln anzureichern; ich sehe jedoch keinen Sinn darin. Der Autor eines Buches, für dessen Niederschrift und Edition in der Regel ohnehin manches Jahr vergeht, befände sich bei dem Versuch, dem Kaleidoskop des schnellebigen literarischen Prozesses nachjagen zu wollen, in der Lage dessen, der den fliegenden Sonnenstrahl einzufangen g e d e n k t . . . Nicht einzelne Tatsachen sind wesentlich, sondern die in ihnen wirksamen, an ihnen erkannten Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten. Die ideologisch-ästhetischen Streitfragen jener Jahre sind keineswegs dadurch gegenstandslos, daß diese oder jene konkrete Erscheinung des literarischen Lebens inzwischen der Vergangenheit angehört. Mehr noch: E s läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß Fragen wie Parteilichkeit und Volksverbundenheit, Kunst und Politik, Kunst und ideologischer Kampf, Lebenswahrheit und Kunstwahrheit, die ideologisch-ästhetische Haltung des Künstlers u. a. m. unter unseren heutigen Bedingungen, auf einer neuen Stufe der literarischen Entwicklung an Aktualität und Brisanz gewonnen haben. Das läßt mich hoffen, daß dies früher Geschriebene auch heute noch wissenswert erscheint. 6
Mit noch größerer Berechtigung läßt sich das eben Gesagte auf jene Kapitel beziehen, die methodologischen Problemen der Literaturwissenschaft gewidmet sind. Sie sind zu Beginn der 70er Jahre entstanden, zu einer Zeit also, die eine Art „Sternstunde" des Strukturalismus war (oder zumindest als solche galt). In diesen Jahren schrieb ich eine Reihe von Aufsätzen, die weniger von dem Bestreben diktiert waren, den Strukturalismus einfach abzulehnen, als ihn vielmehr zu widerlegen, ihn zu überwinden, und das nicht vermittels eines Kritikknüppels oder durch feuilletonistische Nadelstiche, sondern durch eine objektive philosophische und ideologisch-ästhetische Analyse der Beschaffenheit und der historischen wie gnoseologischen Wurzeln der strukturalistischen Methodologie. So überzeugend wie möglich war zu zeigen, wie unbegründet die globalen Ambitionen und universellen Optionen des Strukturalismus waren und wie wenig stichhaltig seine literaturwissenschaftlichen Studien; es galt zu zeigen, wie unfruchtbar die Anwendung seiner toten Schemata den lebendigen Erscheinungen der Literatur entgegenstand. Bei alldem war es unerläßlich, die analytische Arbeit mit dem notwendigen wissenschaftlichen Taktgefühl zu betreiben, um der Suche nach Methoden in der Literaturwissenschaft nidit die Wege zu versperren; hier wie überall sind neue Methoden der Forschung denkbar und anwendbar und - wer weiß es - vieles keineswegs ohne Aussicht auf fruchtbare Ergebnisse. Heute hat der Strukturalismus offenkundig den Nimbus seiner geheimnisvollen Allmacht verloren. Im Arsenal der Literaturwissenschaft nimmt er jenen bescheidenen Platz ein, der seinen realen Möglichkeiten gebührt. Aber die polemischen Gefechte, die noch unlängst um ihn ausgetragen wurden, waren für uns eine wichtige methodologische Lektion. Und dies nicht nur, weil der Nährboden für die neopositivistischen Wurzeln, als deren Trieb man den Strukturalismus betrachten muß, noch existiert, sondern weil die Literaturwissenschaft wie jede andere Wissenschaft nicht auf der Stelle tritt, weil sie sich vorwärts bewegt und uns veranlaßt, ständig neue Fragen aufzuwerfen und zu lösen. Dazu aber bedürfen wir des Rüstzeugs der marxistisch-leninistischen Methodologie. Es schien mir nützlich, mit diesen einleitenden Bemerkungen den Leser der deutschen Ausgabe auf dieses Buch vorzubereiten. Über alles andere zu urteilen steht mir nicht mehr zu. Moskau, Sommer 1981
Juri Barabasch
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Kunst, Ideologie, Politik
Die These, daß der Entwicklungsprozeß der Kunst vom politischen und ideologischen Klima unseres Planeten abhängt, wird heute kaum noch angezweifelt. Niemals zuvor aber haben die Menschen so klar erkannt, daß sie aufeinander angewiesen sind. Gleichzeitig aber haben sie noch nie so deutlich gespürt, wie aktiv noch immer jene Kräfte sind, die den Bemühungen des sozialistischen Lagers um die Sicherung des Weltfriedens verzweifelt und erbittert Widerstand leisten. Das findet in dieser oder jener Form in der Kunst seine Widerspiegelung, genauer gesagt, davon lebt die Kunst der Gegenwart. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion betont die wachsende Rolle der Literatur und Kunst bei der Herausbildung der Weltanschauung des Sowjetmenschen, seiner Moral und geistigen Kultur und unterstreicht die Tatsache, daß sich die Literatur- und Kunstschaffenden „an einem Abschnitt" befinden, an dem „der ideologische Kampf mit besonderer Schärfe geführt wird" 1 . Eine der bemerkenswerten Besonderheiten unserer Zeit besteht gerade darin, daß das künstlerische Schaffen im Mittelpunkt der ideologischen Auseinandersetzung steht. Auch die Mehrzahl bürgerlicher Wissenschaftler erkennt die Literatur und Kunst als den wichtigsten Bereich des ideologischen Kampfes an. Die in der bürgerlichen propagandistischen Mimikry erfahrenen Adepten wissen, daß es in der Ästhetik oft leichter als in der Politik ist, ihre wahren Ziele „im Dickicht gnoseologischer Spitzfindigkeiten" zu verbergen. „Außerdem ist wohl kaum ein effektiveres Mittel der Einflußnahme auf Hirne und Herzen der Menschen zu finden als die Kunst, die unmittelbar auf die emotionale Sphäre des geistigen Lebens der Menschen wirkt." 2 So zählt beispielsweise der Verfasser des Buches „Frieden oder friedliche Koexistenz?" 3 , Richard V. Allen, Literatur und Kunst neben der Volksbildung zu den bedeutendsten Faktoren, die die ideologische Ausrüstung der ihm verhaßten kommunistischen Welt bestimmen. Allen, der zum „härteren" Flügel des modernen Antikommunismus zählt, ruft offen zu einer Verschärfung des kalten Krieges auf allen Gebieten auf, insbesondere auf dem der Ideologie und Kultur. Kunsttheorien und -konzeptionen, die noch vor kurzem Schreibtischtheorien 8
und -konzeptionen zu sein schienen, erhalten plötzlich aktuelle Bedeutung. Sie werden zum Gegenstand lebhafter Diskussionen, die nicht nur die Fachleute, sondern auch ein breites Publikum interessieren. Die Ästhetik steht buchstäblich im Schnittpunkt verschiedener Sphären, der sozialen, der politischen, der ideologischen. Eigentlich war das schon immer so: Bereits im Altertum entwickelte sich die Kunst im engen Zusammenhang mit Politik und Religion. Thomas Mann sah diese Tatsache zum Beispiel als den Beweis für die Einheit der menschlichen Welt an. So schildert er in dem Roman „Joseph und seine Brüder", mit welcher „eifrigen, ja eifernden Aufmerksamkeit" der junge Pharao Amenhotep, in der Geschichte unter dem Namen Echnaton bekannt, sich der „bildenden Weltverzierung" widmete. Hinter dieser Begeisterung für die Kunst sieht er das Bestreben, die traditionelle, althergebrachte und heilige „Welt der Darstellungen", die dem alten Priestertum half, seine Privilegien und seine Macht zu behaupten, zu zerstören. „Diese Fesselung der Gestalten zu lockern oder gar völlig aufzuheben um einer neuen Wahrheit und Lustigkeit willen, die Gott Aton dem Pharao offenbart hatte, war ein Stirnschlag für Amun-Rê, den Herrn einer Religion und Politik, welche mit einem bestimmten Kanon in der Darstellungsweise zusammenhingen."4 Dieses Moment betont auch Georgi Gulia in dem Roman „Der Pharao Echnaton". Der Kampf Echnatons gegen das Priestertum erscheint hier in organischem Zusammenhang mit dem Kampf um eine neue, wahrheitsgetreue, zutiefst menschliche Kunst. Dem Pharao nahestehende Künstler, vor allem ein Bildhauer, geraten in die politischen und religiösen Intrigen ihrer Zeit. Nicht ohne Grund schätzt Echnaton ihr Wirken hoch ein: „Kerne (so nannten die alten Ägypter ihr Land — Ju. B.) ist die beste Schöpfung des allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen Gottes. Das Beste aber in Kerne sind seine Bildhauer und Maler, seine Architekten und Musikanten."5 Thomas Manns Gedanken finden Widerhall in dem Beitrag des indischen Schriftstellers S. Ch. Vatsayan zu der 1969 von der Zeitschrift „Alotschan" organisierten Diskussion zum Thema „Poesie und Politik". Vatsayan bemerkt dazu: „Schon die rigwedischen magischen Lieder betrachtete man als ein Mittel, einen Krieg zu gewinnen. Und wird etwa im ,Mahabharata' keine Kritik an der Gesellschaft und der Politik jener Epoche geübt? Solche Werke wie ,Die Heimat und die Fremde' von Kschemendra sind voller Sarkasmus in bezug auf die politische Situation ihrer Zeit. Die indische Poesie seit Bharatendu ist von einer tiefen politischen Idee durchdrungen." In diesem Sinne äußert sich auch der nigerianische Schriftsteller D. S. Izevbaye in der Zeitschrift „Présence Africaine". Er erinnert daran, daß „ein solcher Zusammenhang seit Menschengedenken existiert", „seit den Zeiten des berühmten Geschenks der Griechen an die Trojaner, seit jenen Zeiten, da sich Shakespeare bemühte, den Druck der Krone auf die Untergebenen abzuschwächen, bis hin zum Tode Wilfred Owen's im ersten Weltkrieg und Christopher Okigbo's während 9
des Nigerianischen Bürgerkrieges"6. Izevbaye hält diesen Zusammenhang zwar nicht für günstig, erkennt aber an, daß „die Poesie der Politik einerseits als Gegenstand des Schaffens und andererseits als einem wichtigen, Voraussetzungen schaffenden Faktor stets große Aufmerksamkeit gewidmet hat" 7 . Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Leben, Geschichte und politischem Kampf liegt in der Natur des künstlerischen Schaffens. Vatsayan betont in seinem Artikel, daß das Problem des Zusammenhangs von Poesie und Politik immer aktueller wird und sich dessen sowohl Künstler als auch Politiker immer mehr bewußt werden.8 Wenn auch einzelne Diskussionsteilnehmer in der indischen Zeitschrift die Befürchtung äußerten, daß die Verschmelzung von Poesie und Politik mit einem übermäßig hohen Preis bezahlt wird (A. Alvarez), so wurde doch der Gedanke, daß der Zusammenhang von Poesie und Politik eines der Grundprobleme der heutigen Ästhetik ist, zum Leitmotiv der Diskussion. Es wird durch die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, den verschärften ideologischen Kampf zwischen Reaktion und Fortschritt in den Vordergrund gerückt. Einst ertönten Gorkis Worte „Mit wem seid Ihr, .Meister der Kultur'?" in der ganzen Welt. Diese Frage ist auch heute noch aktuell. Das Leben stellt sie dem Künstler täglich und fordert eine offene und eindeutige Antwort. Zwei Welten - zwei Kulturen. Diese Formel des realen Kräfteverhältnisses bleibt weiterhin aktuell. Einer Kultur, die der Menschheit die humanistischen Ideen der Freiheit, des Friedens und der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gibt - dieser zutiefst schöpferischen Kultur steht eine Pseudokultur gegenüber, die in der Bourgeoisie fest verwurzelt ist, eine Kunst, die die reaktionärsten und antihumanen Ideen des Jahrhunderts verbreitet. Die imperialistische Oligarchie braucht eine Kunst, die der Erhaltung und Festigung der Pfeiler der bürgerlichen Gesellschaft dient, die das Freiheitsstreben des Menschen unterdrückt und ihn im Geiste des Antihumanismus, ohne den Glauben an Ideale erzieht. Und eine solche Kunst gibt es! Die Konzeptionen vieler in Riesenauflagen in den kapitalistischen Ländern erscheinenden Bücher, Kino- und Fernsehfilme, Theaterstücke sowie die bürgerliche Presse, Rundfunk und Fernsehen sind abgestimmt auf die geistige und moralische Nivellierung, auf die Abwertung des Menschen. Gewalttätigkeit, Menschenhaß, Krieg und zügelloser Antikommunismus stehen dabei an erster Stelle und sollen die niedrigsten Instinkte und Leidenschaften wecken. Als Beispiel hierfür soll eine Analyse der im Westen weit verbreiteten „Thriller"-Romane angeführt werden, die der liberal eingestellte amerikanische Professor Leo Gurko vorgenommen hat.9 Er schreibt, daß in diesen Romanen jeder Mensch ein Feind des anderen ist, daß diese Feindschaft nichts Persönliches in sich berge, sondern ausschließlich Selbstzweck ist, hervorgerufen durch den kapitalistischen Konkurrenzgeist. Seine Charakterisierung bezieht sich nicht nur auf die negativen Personen dieser Romane wie Gangster, Mörder und Sadisten, sondern genauso 10
auf die Polizisten, die ebenso erbarmungslos handeln wie diejenigen, die sie verfolgen. „Die Grenze zwischen Zivilisation und Entartung beginnt zu verschwimmen"10, schreibt Gurko. So entsteht eine Atmosphäre totaler Grausamkeit, die in verheerender Weise auf die menschliche Psyche wirkt. Ist das nicht unmenschlich und unmoralisch? Und trotzdem existiert eine solche Kunst nicht nur, sondern blüht und gedeiht bestens dank aktivster Unterstützung des „Big Business". Es finden sich immer zynische Handwerker der Kunst, die gern ihr professionelles Können verkaufen. Aber es gibt auch skeptische Stimmen. John Lar zum Beispiel polemisiert in seinem in der Zeitschrift „Evergreen" veröffentlichten Artikel gegen das Buch „Business und Kunst", in dem vom Bestreben des Großkapitals, die Kunst zu finanzieren, gesprochen wird. Lar bringt überzeugende Beweise dafür, daß bei der Verbindung von Business und Kunst kaum von einer „Liebesheirat", eher von „Heirat aus Berechnung" die Rede sein kann.11 Geld und Gewinn spielen eine gewaltige Rolle, jedoch darf man sich in diesem Zusammenhang das Wechselverhältnis von Kapital und Kunst nicht so einfach vorstellen. Die imperialistische Oligarchie bezieht Literatur und Kunst in das System sogenannter Manipulationen mit ein, das heißt zielgerichteter geistiger Beeinflussung der Persönlichkeit. Ziel solcher Beeinflussung ist die begrenzte und einseitige Entwicklung der Persönlichkeit entsprechend den Bedürfnissen der modernen kapitalistischen Produktion und den neuen Aufgaben zur Festigung der politischen Macht der Bourgeoisie. Eine Kulturindustrie soll entstehen, die ein organischer Bestandteil jener breiten Front werden soll, die sich gegen die Ideologie des Sozialismus und die antiimperialistischen demokratischen Kräfte richtet. Natürlich läßt sich der Businessman X, der sein Geld in die Herstellung von Comics, Filmen oder einer Fernseh-Show investiert, auch unter diesen Bedingungen nicht so sehr von den Interessen der großen Politik leiten als vielmehr von dem Wunsch, Geld zu verdienen. Betrachtet man jedoch die bürgerliche Gesellschaft in ihren Haupttendenzen, so stellt sich heraus, daß Geschäft und Politik nicht voneinander zu trennen sind. Der bulgarische Schriftsteller Bogumil Rainow hat recht, wenn er in seinem Artikel „Kultur, Halbkultur und Pseudokultur" die beiden Aspekte dieses Problems - den kommerziellen und den ideologischen - in engster wechselseitiger Abhängigkeit untersucht.12 Rainow stellt fest, daß „die Kommerzialisierung der geistigen Güter ein allgemeines Merkmal des Kapitalismus ist, das sich auf allen Gebieten der Kunst und Kultur offenbart", und deckt gleichzeitig die Funktionsweise dieses Prozesses auf. Er betont, daß die Ziele und Aufgaben der bürgerlichen „Massenkunst" damit jedoch nicht erschöpft sind: „Die Massenkultur ist ein Mittel, um einen bestimmten ideologischen Effekt zu erreichen. Und dieser Effekt wird sowohl mittels offener wie verdeckter politischer als auch unpolitischer Methoden erzielt."13 Die offen politischen Methoden nehmen dabei immer mehr zu. Bezeichnend ist, daß in den letzten Jahren verstärkt rein propagandistische, militaristische und unverhüllt antikommunistische Themen in die pseudokulturelle Massenproduktion Ii
Eingang fanden. Immer häufiger wird das Kriminalgenre mit Motiven der Spionage überladen, immer häufiger erweist sich der Superheld vom Typ eines James Bond oder eines Mike Hammer entweder als Kämpfer gegen „die rote Gefahr" oder als „tapferer Bursche", der irgendwo in der Welt Heldentaten vollbringt. Bis vor kurzem lag der Schauplatz solcher Kämpfe meist in Indochina. Diese Verflechtung von reaktionärer bürgerlicher Kunst mit der Ideologie und den Praktiken des Antikommunismus deckt W. Golowanow 14 in seiner Untersuchung zum modernen amerikanischen Film sehr überzeugend auf, u. a. am Beispiel von „Der zerrissene Vorhang" und „Topas" von Alfred Hitchcock, „Der Spion, der aus der Kälte kam" von Martin Ritt und „Der Kreml-Brief" von John Houston. Besonders interessant ist der Abschnitt „Das Pentagon und Hollywood", in dem der Einfluß des amerikanischen Militärklüngels auf das Filmwesen untersucht wird und der aufdeckt, wie durch die Militärbehörde der USA Filmemacher vom Typ eines Bob Hope, John Wayne und andere manipuliert werden. Bezeichnend ist die Vorgeschichte des Films „Die grünen Barette". „Das Pentagon", schreibt der Verfasser der Untersuchung, „war anfangs gegen die Inszenierung dieses Films. Es befürchtete, daß ein Regisseur wie Stanley Kramer einen alles entlarvenden Film machen würde. Als jedoch John Wayne den Wunsch äußerte, diesen Film zu drehen, erteilte das Pentagon nicht nur die Genehmigung dazu, sondern stellte sogar eine Militärbasis für die Dreharbeiten zur Verfügung, auf der die ,grünen Barette' ihre Ausbildung erhalten, übernahm einen großen Teil der Finanzierung usw." 13 Solche Praxis hat ihre Motivierung in entsprechenden theoretischen Konzeptionen. Auf dem VI. Weltkongreß zu Fragen der Ästhetik in Schweden sprach Robert Ginsberg (USA) zum Thema „Die Ästhetik der Zerstörung: der Krieg". 16 Die „Zerstörung des menschlichen Lebens" sei von der Ästhetik fast nicht erforscht, klagte er und bemühte sich, die These von dem engen Zusammenhang zwischen Krieg und ästhetischem Gefühl „wissenschaftlich" zu begründen. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich „die Kunst des Kriegführens" dem Wesen nach prinzipiell in nichts von jeder anderen Kunst und, „wenn sie methodisch durchgeführt wird, so bereitet sie im Prozeß der Vernichtung des Opfers einen ästhetischen Genuß" 1 7 . In diesem Falle erübrigt sich wohl jeglicher Kommentar. In der bürgerlichen Welt gibt es jedoch genügend Künstler, die mit einer solchen Auffassung nichts gemein haben. Viele von ihnen bekunden ihre Abneigung gegenüber der Politik, nicht nur gegenüber der imperialistischen, sondern der Politik überhaupt. Sie ziehen es vor, „über dem Getümmel" zu bleiben. Das Leben aber rächt sich an dem, der versucht, seine Gesetze zu ignorieren. Früher oder später wird man gezwungen, diese doch in Betracht zu ziehen. Die Geschichte liefert dafür genügend Beispiele. „Über dem Getümmel" - so heißt einer der Aufsätze Romain Rollands, der die tiefen ideologisch-politischen Widersprüche seiner Position in der Periode des ersten Weltkrieges, seine bürgerlich-humanistischen Illusionen widerspiegelt. 18 12
Viele Jahre später, 1931, schätzt Rolland seine Verirrungen als „Tragödie", als „inneres Drama" ein und schreibt den Artikel „Abschied von der Vergangenheit", ein erschütterndes menschliches und, wenn man so will, politisches Dokument. 19 Mit bestechender Aufrichtigkeit schildert Rolland-den mit zerstörten Illusionen, zerbrochenen Freundschaften, fallengelassenen Vorurteilen übersäten Weg eines ehrlichen westlichen Intellektuellen zu der Erkenntnis, daß „die Kompaßnadel nach Norden weist, auf jenes Ziel, dem die fortschrittlichen Menschen Europas die heldenhaften Revolutionäre der UdSSR - entgegensteuern, und dieses Ziel heißt: soziale und moralische Umgestaltung der Menschheit" 20 . Als einen Abschied von der Vergangenheit könnte man auch Thomas Manns Manifest „Kultur und Politik" (1939) bezeichnen. Auch hier wird das Drama des suchenden, schwankenden, sich irrenden bürgerlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts deutlich. Über sein Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen" ist er zu der Erkenntnis gekommen: „A-Politik, das bedeutet einfach Anti-Demokratie" 2 1 , und „jener Verzicht des Geistes ist nämlich ein Irrtum, eine Selbsttäuschung; man entgeht damit nicht der Politik, man gerät nur auf die falsche Seite" 22 . Sich daran erinnernd, daß er sich einstmals „dem, was ich .Demokratie' nannte, nämlich der Politisierung des Geistes, im Namen der Kultur und sogar der Freiheit aus allen Kräften widersetzte" 23 , sagt Thomas Mann, daß das Leben ihm und vielen seinesgleichen eine überzeugende und furchtbare Lektion erteilt hat, als es die schmachvolle Verbindung zwischen dem unpolitischen „ästhetisch-bürgerlichen" germanischen Geist und den äußersten Formen des politischen Terrorismus, der Barbarei und des Totalitarismus anschaulich aufdeckte. „Mein persönliches Bekenntnis zur Demokratie geht aus einer Einsicht hervor", schreibt er, „die gewonnen sein wollte und meiner deutschbürgerlich-geistigen Herkunft und Erziehung ursprünglich fremd war: der Einsicht, daß das Politische und Soziale ein Teilgebiet des Menschlichen ausmacht, daß es der Totalität des humanen Problems angehört, vom Geiste in sie einzubeziehen ist, und daß diese Totalität eine gefährliche, die Kultur gefährdende Lücke aufweist, wenn es ihr an dem politischen, dem sozialen Element gebricht." 24 Worin der wahre Wert scheinbarer Politiklosigkeit besteht, ist deutlich an den Wendepunkten der Geschichte erkennbar, und Thomas Mann zeigt dies überzeugend am Beispiel Schopenhauers, „des Vorläufers und Lehrers Nietzsches im Anti-Intellektualismus" 25 . Schopenhauer, der die Politik „für die größte aller Philistereien erklärte" 26 , bezeichnete 1848 das revolutionäre Volk als „die souveräne Kanaille" und „lieh dem Offizier, der von seiner Wohnung aus die Barrikadenmänner rekognoszierte, ostentativ seinen Operngucker, damit der besser auf sie schießen könnte". . . . „Nennt man das Erhabenheit über die Politik?" 2 7 fragt der Schriftsteller. Wir sollten uns öfter an solche Lehren erinnern, hat doch die Bourgeoisie heutzutage ihre Fähigkeit, mit der sattsam bekannten „Politiklosigkeit" zu spielen, noch weiter vervollkommnet. Und jenem Intellektuellen, der sich nicht festlegen •3
möchte, droht die Gefahr, gemeinsame Sache mit der Reaktion zu machen. So ist nun einmal die Logik des Kampfes, besonders an den Wendepunkten der Geschichte. Immer mehr Kulturschaffende konstatieren den in der Welt fortschreitenden Prozeß der Politisierung der Kunst und dessen tiefe Verbundenheit mit den Tagesfragen des politischen Kampfes und den Sorgen der Menschheit. Dieser Prozeß ist, wie unsere führenden Wissenschaftler 28 völlig zu Recht betonen, durch gewichtige objektive Gründe hervorgerufen worden: durch die Verschärfung des Klassen- und des nationalen Befreiungskampfes und der inneren Widersprüche des Kapitalismus, durch die Erhöhung des Selbstbewußtseins der Arbeiterklasse und der progressiven Jugend in den bürgerlichen Ländern sowie durch den wachsenden Einfluß der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus. Eine wesentliche Bedeutung kommt auch gewissen Veränderungen in der sozialen Lage der Intelligenz zu, u. a. ihrer verstärkten Abhängigkeit vom kapitalistischen Establishment. Andererseits ist zu bemerken, daß die Frage der Politisierung der Kunst unterschiedlich behandelt wird. Nicht nur das Positive dieses Prozesses, sondern auch negative Aspekte, Entstellungen etc. müssen beachtet werden. Hier findet man sowohl unwissenschaftliche sektiererische „Theorien" mit offenkundig antisowjetischer Färbung als auch spekulative Versuche, die Politik mit Erotik zu vermischen,29 ebenso tauchen kleinbürgerliches Abenteurertum und aufgefrischte trotzkistische Ansichten auf. Auf einen Teil der westlichen Intelligenz, darunter einige Schriftsteller, übt auch die sogenannte kritische Theorie der Vertreter der Frankfurter Schule einen gewissen Einfluß aus (Theodor Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse u. a.), von der solche Führer und Ideologen der scheinradikalen Jugendbewegung wie Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke vieles übernahmen. 30 Herbert Marcuse weist der Kunst eine wichtige Rolle zu in seiner Konzeption der „großen Verweigerung". Er sieht in der Kunst (genauer - in der Antikunst) eine aufrührerische, rebellische Kraft mit einer ihr innewohnenden riesigen zerstörerischen Ladung, die aber in Zukunft einer der wesentlichen Faktoren bei der Formierung der von Marcuse propagierten „neuen Ordnung der sinnlichen Wahrnehmung" 31 werden soll. Man kann feststellen, daß bei allem „Revolutionarismus" Marcuses sein eigener ästhetischer Geschmack recht konservativ, ja elitär ist. Der Politologe Giselher Schmidt aus der BRD bemerkt sehr richtig in seinem Buch „Hitlers und Maos Söhne. N P D und neue Linke", daß im Namenverzeichnis zu Marcuses Buch „Der eindimensionale Mensch" der Leser weder Lessing noch Schiller, weder Heine noch Heinrich oder Thomas Mann, weder Hauptmann noch Hugo, Zola oder Anatole France finden wird. „Dafür", so schreibt Schmidt, „gehört Marcuses ganze Liebe Charles Baudelaire, der den Symbolismus als die aristokratisch-ästhetische Gegenbewegung gegen die literarischen Strömungen des Realismus und des Naturalismus und gegen die sozial und politisch engagierte Literatur von Hein14
rieh Heine bis Walt Whitman einleitete." 32 Neben Baudelaire sind Paul Valéry, Stefan George und Rainer Maria Rilke Marcuses Lieblingsautoren. Entscheidend sind wohl hier die zutiefst subjektiven Neigungen des Autors, der zum Beispiel besonders gern auf solche Äußerungen der angeführten Schriftsteller verweist, in denen der Kult der „reinen" Poesie, der Geist der Antidemokratie und des ästhetischen „Dandytums" zur Sprache kommen. Der unter dem offensichtlichen Einfluß von Schopenhauer, Nietzsche und Freud entstandene, für Marcuse charakteristische Kulturpessimismus, sein Antitechnizismus und seine Zivilisationsfeindlichkeit finden ihren Ausdruck unter anderem auch in seinen Äußerungen über die Kultur der Antike. Mit Wehmut und Trauer im Geiste Nikolaus Lenaus oder Clemens Brentanos sind jene Zeilen aus dem „Eindimensionalen Menschen" erfüllt, in denen Marcuse über die Lyrik und Prosa der „vortechnischen" Kultur schreibt, die „den Rhythmus von Menschen enthalten, die wandern oder in Kutschen fahren und die Zeit und Lust haben, nachzudenken, etwas zu betrachten, zu fühlen und zu erzählen" 33 . Und obwohl Marcuse begreift, daß das eine „altmodische und überholte" Kultur ist, gibt er trotzdem die Hoffnung auf die „Möglichkeit ihrer Wiedergeburt" nicht auf. Seine persönlichen ästhetischen Bestrebungen sind auf die Vergangenheit gerichtet. Und darin besteht das Paradoxe: In der ästhetischen Praxis scheitern die Ideen Marcuses vor allem an den verschiedenen Erscheinungsformen der avantgardistischen „totalen Revolte" - Absage an die Traditionen, Zerstörung der Form, der „bourgeoisen" Genres u. ä. - bis hin zur direkten Negation der Literatur und Kunst, dem „einzigen Terrain, auf dem die Bourgeoisie unangefochten dominiert". Betrachtungen dieser Art finden sich in zahlreichen vor Jahren erschienenen Manifestationen und Äußerungen von Hans Magnus Enzensberger. E r geht davon aus, daß im Jahrhundert der sexuellen Revolution „die intelligentesten K ö p f e zwischen zwanzig und dreißig mehr auf ein Agitationsmodell geben als auf einen .experimentellen T e x t ' ; . . . lieber Faktographien benutzen, als Schelmenromane; . . . darauf pfeifen, Belletristik zu machen und zu kaufen". 34 Tendenzen ähnlicher Art zollte auch Jean-Paul Sartre einen ernsten Tribut, besonders nachdem er im Mai 1968 von der revoltierenden Studentenschaft den wenig schmeichelhaften und ihn offensichtlich sehr schockierenden Spitznamen „petit vieux" erhielt. Diese und ähnliche Fakten legen Zeugnis ab von der Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit der Entwicklung der Weltkultur und des ästhetischen Denkens. Werden die Besonderheiten dieser Entwicklung analysiert, muß die Leninsche Lehre von den zwei Nationen in jeder Nation und den zwei Kulturen in jeder Nationalkultur unter den Bedingungen der antagonistischen Gesellschaft beachtet werden. In der heutigen Kultur des Westens stehen der Reaktion bedeutende progressive Kräfte gegenüber. Das sind in erster Linie Künstler und Kommunisten, die ihr Schicksal und ihr schöpferisches Suchen mit der revolutionären Bewegung der Gegenwart und dem Leben und Kampf der Volksmassen verbunden «5
haben. Verständnisvoll verhalten wir uns gegenüber jenen ehrlichen Künstlern und Humanisten des Westens, die die Verunglimpfungen der sie umgebenden Wirklichkeit schmerzvoll erleben und sich um einen Ausweg aus den Widersprüchen bemühen. Doch in den wenigsten Fällen finden sie ihn. Die Hauptkraft, die den reaktionären Strömungen in der Weltkultur, der Kultur des Verfalls und der Entmenschlichung, heute gegenübersteht, ist die sozialistische Kunst. Diese Kunst, die die fortschrittlichsten Ideale der Epoche verkörpert, die mit all ihren Wurzeln dem revolutionären Klassenkampf der werktätigen Massen verbunden ist, wird durch diesen Kampf befruchtet, gerade dadurch wird ihr Einfluß verstärkt und die Position des sozialistischen Realismus gefestigt. Dies ist wohl die bemerkenswerteste Tendenz der gegenwärtigen Entwicklung der Kunst. Die Kunst des sozialistischen Realismus rezipiert die besten Errungenschaften der Menschheit und verarbeitet sie schöpferisch. Auf dieses Erbe sind wir stolz und halten uns für die gesetzlichen Nachfolger all dessen, was von Generationen gespeichert wurde. In bezug auf dieses unschätzbare Erbe ist uns Nihilismus zutiefst fremd, auch wenn er unter dem Aushängeschild noch so „revolutionärer" Losungen auftritt. Gleichzeitig betonen wir, daß die sozialistische Kunst eine neue Kunst ist, denn sie wird durch die fortschrittlichste Idee der Gegenwart inspiriert, die Idee der Umgestaltung der Welt auf der Grundlage des Sozialismus. Einstmals träumte Lenin von einer freien Literatur, die den revolutionären Gedanken der Menschheit durch Erfahrung und lebendige Arbeit des sozialistischen Proletariats befruchten möge. Heute können wir mit vollem Recht sagen, daß jetzt eine solche Literatur, eine solche Kunst existiert und sich in der Welt immer festere Positionen erobert. Unter den Bedingungen des verschärften ideologischen Kampfes und angesichts der Aufgaben des kommunistischen Aufbaus erlangt jener Teil des Leninschen Erbes besondere Aktualität, der mit Fragen der Entwicklung der sozialistischen Kultur verbunden ist, sowie Lenins Ansichten über die Kunst und ihren Platz in der Gesellschaft. Heute ist die Autorität der Leninschen Lehre so groß, daß sogar unsere leidenschaftlichsten Gegner zu vermuten beginnen: Diese Theorie abzulehnen oder zu widerlegen ist eine vollkommen aussichtslose Beschäftigung, die keinerlei Erfolg verheißt. Um so größere Bedeutung messen sie deshalb „Umgehungsmanövern" verschiedener Art bei, wie zum Beispiel der gefährlichen Taktik der ideologischen „Aufweichung". Dafür ist beispielsweise charakteristisch, daß die Teilnehmer des 1967 in dem kleinen westdeutschen Ort Tönisstein abgehaltenen antikommunistischen Kolloquiums „Communist Reassessment of Capitalism: alt's Resultant Strategy and Western Response" bei der Suche nach möglichen Einwirkungen auf die Politik der K P d S U und ihrer Bruderparteien besondere Aufmerksamkeit den „neomarxi16
stischen" (sprich: revisionistischen) Strömungen schenkten, mit denen sie die Hoffnung auf eine „Liberalisierung" des Kommunismus verbinden. Und wie zur Bestätigung dessen, daß diese Hoffnungen der Antikommunisten nicht ganz vergeblich sind, erschien 1969 das Buch „Was Lenin in Wirklichkeit sagte" von Ernst Fischer und Franz Marek, das Jewgenija Knipowitsch zu Recht als eine „weitere Stufe der Eskalation . . . des Krieges gegen den Marxismus" 3 5 charakterisiert. Die These von der „Verwässerung" der marxistischen Ideologie wird immer wieder in den Publikationen eines der bekannten Vertreter des amerikanischen Antikommunismus, Zbigniew Brzezinski, propagiert. Obwohl sich Brzezinski zu der in der bürgerlichen Soziologie weitverbreiteten Theorie von der Annäherung der politischen Systeme der U S A und der UdSSR skeptisch verhält, schließt er dennoch nicht aus, daß es mittels ideologischer Diversionen gegen die UdSSR und die anderen sozialistischen Länder (Brzezinski greift in seinem Buch „Die Alternative zur Trennung" zu dem Euphemismus „friedliche Einmischung") gelingen wird, die „ideologische Perspektive" dieser Länder zu untergraben und sie letzten Endes in den „Schoß der westlichen Zivilisation" 36 zurückzubringen. Auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften, besonders in der Philosophie, werden hartnäckige Versuche unternommen, die klaren und eindeutigen Aussagen der Leninschen Lehre zu verwischen, diese oder jene Ansichten zu verfälschen, zu revidieren und den Leninismus mit allen möglichen anderen, ihm zutiefst fremden Ansichten und Strömungen zu vermischen. So entstand zum Beispiel eine gewisse „phänomenologisch-existentialistische Variante des Marxismus", die von einigen Teilnehmern des internationalen Symposiums zum Thema „Marxismus und Phänomenologie" (Sarajevo 1966) unterstützt wurde. Wer nennt sich nicht alles Marxist, und womit „synthetisiert" man nicht den Marxismus in unseren Tagen! Als das „einzige theoretische Organ dem Marxismus nahestehender linker Schriftsteller der B R D " proklamierte man Enzensbergers Zeitschrift „Kursbuch". Für einen Marxisten halten gewisse Leute auch Herbert Marcuse, obwohl er selbst mit grenzenloser Offenheit seinen Vortrag über Karl Marx (1968) mit „Die Revision der marxistischen Revolutionskonzeptionen" betitelte. Wie weit der von Marcuse propagierte „entkommunisierte Marxismus" vom wahren Marxismus entfernt ist, legte Philosoph und Marxist Robert Steigerwald aus der B R D in seinem Buch „Herbert Marcuses .dritter W e g ' " überzeugend dar. 37 Auf marxistischen Positionen steht auch, schenkt man den Herausgebern Glauben, die französische Zeitschrift „Tel Quel". In Wahrheit jedoch bietet sie dem Leser eine unverdauliche Mischung fruchtloser avantgardistischer Experimentiererei mit unverantwortlichem politischem Extremismus. Eifrig „ergänzen" die Philosophen der Frankfurter Schule den Marxismus mit Hilfe der Freudschen Psychoanalyse. So erklärte Erich Fromm am 26. Juli 1966 in seinem Interview mit der tschechoslowakischen Zeitschrift „Literärni noviny", daß er die Synthese des Marxismus mit der Freudschen Lehre „nicht nur für Batabasch 6674
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möglich, sondern geradezu für notwendig" hält. Die Redaktion der „Literarni noviny" stimmte Fromm voll und ganz zu und bemerkte, als sei dies selbstverständlich, daß die These von der Unvereinbarkeit der Philosophie von Marx mit der Psychoanalyse Freuds „jetzt bereits in bedeutendem Maße zurückgewiesen" sei. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Marcuse in dem Buch „Triebstruktur und Gesellschaft", und ein Vertreter der jungen Generation der Frankfurter Schule, A. Schmidt, besteht sogar auf der „Einheit" der Ansichten Marx' und Freuds. Eine Modernisierung des taktischen Arsenals ist auch für eine Reihe westlicher „Spezialisten" charakteristisch, die über die sowjetische Kunst und die Kulturpolitik der K P d S U schreiben. Das bedeutet jedoch nicht, daß die alten Methoden - offenkundige Lüge, Verleumdung, Provokation - ausgedient haben. Ausgaben vom Typ des in England erschienenen Sammelbandes „Andere Schriftsteller Rußlands" 38 , dessen Ziel - laut Zeugnis des Rezensenten der Literaturbeilage der „Times" vom 8. Januar 1971 - darin besteht, den „englischsprechenden Lesern Erscheinungsformen oppositioneller Stimmungen in der Sowjetunion nahezubringen", sind auch heute durchaus keine Seltenheit. Bis auf den heutigen Tag ist das Erscheinen solcher Aufsätze wie die eines gewissen B. Lewitzki möglich, der zum Beispiel auf den Seiten der westdeutschen Zeitschrift „Ostblock und Entwicklungsländer" 39 den Lesern mit seltener Schamlosigkeit versichert, daß die Kulturrevolution in der Sowjetunion „mit Gewaltmethoden durchgeführt wurde", daß man denjenigen, die sich nicht an der Beseitigung des Analphabetentums beteiligten, ganz einfach „mit Gefängnis drohte". Der ehemalige politische Direktor des Senders „Freies Europa", Berks, scheut sich nicht, in einem Artikel des Sammelbands „Die Vereinigten Staaten von Amerika und Osteuropa" die alte Mär von den „Partei-Ideologen" wiederzukäuen, die den Schriftstellern, Künstlern und Komponisten der Länder des Sozialismus „vorschreiben", wie sie „ihre konkreten Aufgaben zu erfüllen haben" 40 . Immer deutlicher sind Veränderungen in Strategie und Taktik der bürgerlichen Ideologen spürbar. Im Zustand der „ideologischen Hypertonie", nach einer Definition des bulgarischen Wissenschaftlers Atanas Natew 4 1 , bemüht sich die bürgerliche Ästhetik, Frontalangriffe gegen die ihr fremden ideologisch-kulturellen Tendenzen zu vermeiden. Sie bezieht die Position der Mäßigung und Toleranz, die Taktik des „Einlullens", des Einbeziehens (mit Hilfe des Marktes, der Reklame, der Massenmedien u. ä.) verschiedener Arten spontaner Protestbewegungen. Dabei geht die Bourgeoisie sogar bis zur sogenannten Exnomination, sie versucht, ihre Klassennatur zu verbergen und sich den neuen Bedingungen anzupassen, um diese letztendlich in ihrem Interesse auszunutzen. Die gleiche Taktik wird auch in bezug auf die sowjetische Kunst angewandt. Heute sind die heuchlerischen Klagen der bürgerlichen Gönner darüber, daß das Leninsche Prinzip der Parteilichkeit einen Verzicht auf die schöpferische Freiheit bedeutet, schon längst zu einer Banalität, einer Plattheit geworden. Die „Frontal"-
angriffe auf die Leninsche Kulturkonzeption können mit keinem propagandistischen Effekt rechnen. Sie werden durch Versuche abgelöst, die Ästhetik des Leninismus versteckt und bisweilen von pseudoleninistischen Positionen anzugreifen. Sehr populär ist zum Beispiel das Verfahren, die Leninschen Prinzipien unter Beachtung der äußeren Kennzeichen der „Objektivität" darzulegen, dann aber diesen Prinzipien die gesamte Kulturpolitik der K P d S U , die gesamte Praxis der Leitung von Kunst- und Literaturprozessen durch die Kommunistische Partei nach dem Tode Lenins demagogisch gegenüberzustellen. In dieser Hinsicht bezeichnend ist das vor einigen Jahren in den U S A erschienene Buch Herman Ermolaevs „Sowjetische Literaturtheorien von 1917-1934. Die Genesis des sozialistischen Realismus". 42 Und in den Aufsätzen einiger seiner Kollegen - G. Struve, M. Slonim, W. Charkins und W. Setschkareff und anderer - ist die Geschichte der sowjetischen Literatur nach genauso einem primitiven, pseudowissenschaftlichen Schema zusammengeschustert. Sie machen kein Geheimnis daraus, daß sie unsere politischen und ideologischen Gegner sind. Das erwähnte Verfahren wenden aber auch jene an, die sich zu den „Marxisten" zählen. So schreibt Roger Garaudy in dem Buch „Das chinesische Problem" von der „utilitaristischen Konzeption der Kunst und Literatur, die einige Jahre nach dem Tode Lenins zu herrschen begann und d i e . . . man unter dem Deckmantel einer solchen Pseudoorthodoxie wie der sozialistische Realismus heiligsprach" 43 . In einer anderen Arbeit - „Für ein französisches Modell des Sozialismus" - verbindet Garaudy den Namen Lenins mit verschiedenen antirealistischen Strömungen in der sowjetischen Kunst der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution: „Die russische Malerei . . . erlebte zu Lebzeiten Lenins eine Periode bemerkenswerten Aufschwungs . . . Zu Lenins Zeiten war Kandinski Vizepräsident der Akademie der Künste, Chagall und nach ihm Malewitsch Leiter der Kunstschule in Witebsk, Larionow und Gontscharowa hielt man für die bedeutendsten Persönlichkeiten unter den jungen sowjetischen Malern." 44 Im gleichen Kontext werden Tatlin, Jakobson, Brik und andere genannt, deren Tätigkeit nach Meinung des Autors die „Blütezeit" der jungen sowjetischen Kunst bedeutete. „Aber nach dem Tode Lenins", so erfährt man weiter, „werden bürokratische Verunglimpfungen zu einem ständigen Charakterzug der sowjetischen Ordnung" 45 , was sich, schenkt man Garaudy Glauben, auch auf die sowjetische Kunst unheilvoll auswirkte. Den Mythos von den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution als einem „goldenen Zeitalter", da (gewissermaßen unter der Schirmherrschaft Lenins!) das avantgardistische Experiment aufblühte, welches das revolutionäre Wesen der jungen sowjetischen Kunst bildete und gerade deswegen auch die „gesamte Kultur-Welt" bezauberte - diesen Mythos nahmen - den reaktionären Slawisten nacheifernd - revisionistische Ästhetiker und Kritiker als Rüstzeug für sich in Anspruch. In Alexander Mettschenkos Buch „Ererbtes und Erkämpftes" wird untersucht, wie und von wem dieser falsche Mythos unterstützt und aufge-
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bauscht wird. 46 Mettschenko stellt fest, daß einige die russische „Formale Schule" preisen, andere (Sveta Lukic) das Schaffen von Jewgeni Samjatin und Boris Pilnjak als Haupterrungenschaften der sowjetischen Literatur ansehen. Sie behaupten, daß echte Werte entweder abseits vom Sozialismus oder in direkter Opposition zu ihm geschaffen wurden; dritte wiederum (Ivan Subotic) begeistern sich für die „Antikunst" eines Malewitsch, da in dieser die „banale Anwesenheit der Realität" überhaupt nicht spürbar sei. P. Bros aber klagt über die vergangene „majestätische Epoche des Experiments, der Suche und des Neuerertums", und behauptet, daß sich die Avantgarde lediglich zu Beginn der zwanziger Jahre entwickeln konnte und dieser Entwicklung nach Lenins Tod „gewaltsam" Einhalt geboten wurde. Die Kunst „begann, sich zu mumifizieren, und überschwemmte den Markt mit Schundliteratur und Ausschußprodukten der Musik und Malerei" 4 7 , behauptet er. J e unumstößlicher und beeindruckender die Macht des Leninismus ist, um so raffinierter und hinterhältiger sind die Kampfmethoden unserer ideologischen Gegner. Daraus ergibt sich für uns die Schlußfolgerung, unsere Fähigkeit zu vervollkommnen, Erscheinungsformen der feindlichen Ideologie unter jeder beliebigen Maske zu erkennen - sei sie auch noch so „erzmarxistisch" - und unsere Methoden zu deren Enthüllung noch mehr auszufeilen.
Vor einigen Jahren war die Meinung weit verbreitet, daß Marx und Engels, die sich im wesentlichen mit ökonomischen Problemen befaßten, der Kunst und Literatur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten, daß man in ihrem wissenschaftlichen, publizistischen, epistolarischen Erbe nur vereinzelte Beobachtungen und partielle Wertungen hierzu entdecken könnte. In den Werken bürgerlicher Philosophen wurde behauptet, daß die Klassiker des Marxismus über keine logische kulturphilosophische Weltanschauung verfügen, daß ihr Verhältnis zur Kunst, ebenso wie zur Religion und Natur, „unproduktiv", von „Positivismus" geprägt sei u. ä. Nicht nur bürgerliche Kritiker, auch marxistische Autoren waren damals davon überzeugt, daß Mehring und Plechanow auf dem Gebiet der Ästhetik fast von vorn beginnen mußten und sich lediglich auf die allgemeinsten Prinzipien des dialektischen Materialismus stützen konnten. Diese Ansicht erwies sich als zählebig. Noch 1929 schrieb Michail Pokrowski in seinen „Erinnerungen an Genossen Fritsche", daß es praktisch keine marxistische Theorie des künstlerischen Schaffens gäbe, man müsse sie erst entwickeln.48 Diesen Standpunkt vertrat auch Wladimir Fritsche. E r versuchte nicht nur, diese Theorie zu entwickeln, um damit das fehlende Glied zu ergänzen, sondern „berichtigte" in einigen Fällen auch die Auffassungen von Marx über Kunst. Das von Fritsche formulierte Gesetz vom Primat jenes Landes auf dem Gebiet 20
der Kunst, das auch auf wirtschaftlichem Gebiet Vormachtstellung besitzt, stand in himmelschreiender Weise im Widerspruch zur Marxschen These, der zufolge die künstlerische Entwicklung der Menschheit keineswegs proportional zur Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft verläuft. Erinnert sei an die hohe Wertschätzung der Kunst des antiken Griechenlands durch Marx oder an den Gedanken Engels', daß sich das für Deutschland in politischer und sozialer Hinsicht so schändliche 18. Jahrhundert („Das ganze Land war eine lebende Masse von Fäulnis und abstoßendem Verfall" 49 ) zugleich als große Epoche der deutschen Literatur erwies. Michail Lifschitz kommentierte die Ansichten jener, die Anspruch auf eine „Bereicherung" des Marxismus durch ihre „Soziologie der Kunst" erhoben, und stellte richtig fest, daß so etwas nur deshalb möglich wurde, weil es üblich war, die Ansichten von Marx und Engels über Kunst „eher auf die Person jedes der Begründer des Marxismus zu beziehen als auf ihre Lehre"; in der Gesamtheit ihrer ästhetischen Ansichten sah man „private Neigungen, aber keine Theorie"50. Standpunkte dieser Art sind von der Wissenschaft schon lange widerlegt. Heute hört man Behauptungen über die „Unproduktivität" des Verhältnisses der Klassiker zur Kunst entweder von verleumderischen, wenig sachkundigen Verfälschern oder von Leuten, die den Marxismus nur oberflächlich kennen (und davon gibt es unter seinen Kritikern genügend). Wir haben allen Grund zu behaupten, daß diese durch nichts begründete Meinung vor allem durch die Fakten der Entwicklung des marxistisch-leninistischen ästhetischen Denkens widerlegt ist. Viel haben in dieser Richtung die sowjetischen Wissenschaftler und ihre Kollegen aus den anderen sozialistischen Ländern geleistet. Erwähnt seien grundlegende Arbeiten, die allein in den letzten Jahren erschienen sind von Alexander Dymschitz, Andrej Jesuitow, Michail Lifschitz, Boris Mejlach, Alexander Mjasnikow, M. Owsjannikow, Boris Rjurikow, Georgi Friedländer, Wladimir Stscherbina, Todor Pawlow (Bulgarien), Hans Koch und Claus Träger (DDR) Stanislaw Pazura (Polen) u. a. Selbstverständlich leisteten Franz Mehring und Georgi Plechanow seinerzeit einen beachtlichen Beitrag zur Erarbeitung einer marxistischen Ästhetik. Das Wertvollste und Fruchtbarste in ihrem theoretischen und literaturgeschichtlichen Erbe geht jedoch in der Regel eben von Marx und Engels aus. Verirrungen, Inkonsequenzen und Begrenztheit, die es leider auch gab, resultieren aus dem ungenügenden Erschließen des ästhetischen Vermächtnisses der Begründer des Marxismus. Wie bedeutsam die Verdienste Mehrings und Plechanows bei, der Erforschung der Kunst auf marxistischer Grundlage auch immer sein mögen, sie vermochten es jedoch nicht, jenen Tendenzen zum Vulgarismus und Opportunismus zu widerstehen (unter anderem auch auf dem Gebiet der Ästhetik), die in der Epoche der II. Internationale eine weite Verbreitung fanden, obwohl beide viel für den Kampf gegen diese Tendenzen getan haben. Beachtet werden muß auch, daß um die Jahrhundertwende die Auffassungen ZI
von Marx und Engels über Kunst noch nicht genügend verbreitet und studiert wurden. Das betraf auch das Problem des gezielten Einwirkens auf die Entwicklung von Kunst und Literatur. Doch ist dieses Problem erstens organisch aus jenen Arbeiten, Briefen, Äußerungen von Marx und Engels hervorgegangen, in denen von der Parteilichkeit der Kunst des sozialistischen Proletariats die Rede ist, und zweitens konnte zum richtigen Verständnis des Problems die tiefgehende Erforschung der Beziehungen der Klassiker des wissenschaftlichen Kommunismus zu den zeitgenössischen Künstlern beitragen. Unter diesem Gesichtspunkt hatten die Arbeiten Mehrings über Heine, Freiligrath und Herwegh trotz ihrer Fehler eine große Bedeutung. Doch das war erst das Präludium zum Thema. Unter den damaligen Bedingungen war die Entstehung einer ganzen Reihe pseudosozialistischer und antimarxistischer Theorien und Konzeptionen, die: das Verhältnis zwischen Kunst und Sozialismus verzerrt behandelten, möglich geworden. 1906 erschien in russischer Übersetzung die, Broschüre des bedeutenden belgischen Sozialisten Jules Destree „Sozialismus und Kunst". Ein Kapitel trägt die Überschrift „Warum hat der Staat Verpflichtungen gegenüber der Kunst, und was sind das für Verpflichtungen?" Der Autor vergleicht die Tätigkeit des Künstlers mit der Arbeit eines Schusters oder Apothekers und erklärt, warum seiner Meinung nach ersterer der Protektion durch den Staat bedarf, während die beiden anderen diese nicht nötig haben. Die Argumentation Destrees ist hier im allgemeinen gerechtfertigt, wenn auch äußerst naiv. Es lohnt nicht, weiter auf sie einzugehen. Wesentlicher sind Destrees Überlegungen, ob der Staat über die bloße Förderung der Kunst und Protektion der Künstler hinausgehen sollte: die Kunst nicht nur zu fördern, sondern auch zu „belohnen", „ihre Repräsentanten mit Lorbeerkränzen und Auszeichnungen zu behängen" u. ä. Die Position des Autors kommt klar zum Ausdruck. „Wenn der Staat versucht", schreibt er, „die Kunst zu werten und zu lenken, so überschreitet er seine Kompetenz. E r entwickelt eine offizielle Kunst, der gegenüber ich keinerlei Sympathie empfinde. Jemand hat sie mal sehr treffend definiert: Das ist eine besondere Kunst, und ihre Besonderheit besteht darin, daß sie keine Kunst ist, sondern ein einträgliches Handwerk." 3 1 Der Staat hat die Pflicht, der Kunst Freiheit zu gewähren, betont Destree. Jede lenkende Einflußnahme auf die Kunst bezeichnet er als Nötigung, denn „die Kunst braucht absolute Freiheit". Destree schlußfolgert: „Der Staat hat gegenüber der Kunst nur Pflichten, aber keinerlei Rechte; er muß bestrebt sein, der Wissenschaft und der Kunst zu dienen, nicht aber, sie zu zwingen, dem Staat zu dienen." 52 Beziehen sich die Überlegungen Destrees nur auf den bourgeoisen Staat, da in seiner Broschüre die Kritik an der Kultur- und Bildungspolitik der damaligen belgischen Regierung einen wichtigen Platz einnimmt? Nein! Die wesentlichen Schlußfolgerungen des Autors über die Wechselbezie22
hungen zwischen Kunst und Staat sind verallgemeinernder A r t und beziehen sich auch auf den sozialistischen Staat. Destree kritisiert die Situation der Kunst im bürgerlichen Belgien und ruft die Sozialisten auf, daraus Lehren zu ziehen: „ W i r haben mehrmals gesehen, daß Künstler unter einem klerikalen Regime nicht für ihr Talent ausgezeichnet und finanziell unterstützt wurden, sondern für ihre Überzeugungen. Wir müssen uns vor solcher Schwäche hüten." 5 3 Um seine Idee zu bekräftigen, daß die Kunst „erstickt und untergeht, wenn versucht wird, sie zu verwalten", beruft sich Destree auf das Beispiel des französischen Künstlers und Kommunarden Gustav Courbet, der einen ihm verliehenen Orden zurückwies. E r zitiert einen Ausschnitt aus Courbets Brief an den Minister: „Meine Künstlerehre lehnt sich entschieden gegen die Annahme einer Auszeichnung auf, die mir aus den Händen des Staates geschenkt wird. D e r Staat ist in Sachen Kunst nicht kompetent. Wenn er zu belohnen beginnt, usurpiert er den Geschmack der Gesellschaft, seine Einmischung verdirbt nur, sie ist verhängnisvoll für den Künstler, der hinsichtlich seiner Größe getäuscht wird, sie ist verhängnisvoll auch für die Kunst, die in den Rahmen der offiziellen Wohlanständigkeit gezwängt wird und zu fruchtlosester Mittelmäßigkeit verurteilt ist." 5 4
Wenden wir uns einem anderen Autor zu, der damals recht große Autorität in marxistischen Kreisen besaß: K a r l Kautsky gab 1902 sein Buch „ A m T a g e nach der sozialen Revolution" heraus. In der russischen Übersetzung erschien es im Sommer 1 9 1 7 mit einer Einführung von Anatoli Lunatscharski, der (irrtümlicherweise) meinte, daß Kautskys Ideen in den 15 Jahren nicht im geringsten an A k tualität eingebüßt hätten; im Gegenteil, das Leben hätte gezeigt, „wie praktisch unentbehrlich seine weisen Ratschläge für uns sind" 5 3 . Wir wollen hier nicht Kautskys Ansichten zur Ökonomie und Politik kommentieren, jedoch verdienen seine im Kapitel „Intellektuelle Produktion" dargelegten „weisen Ratschläge" Beachtung. Kautsky befürwortet, daß nach der Revolution nicht nur die materielle, sondern auch die intellektuelle Produktion, das heißt Wissenschaft, Kunst und ähnliches neu organisiert werden müssen.. Aber wie? Sollte man annehmen, daß auch in dieser Sphäre nur ein einziger Weg möglich und richtig sei - das Ersetzen des kapitalistischen Unternehmens durch das staatliche? Diese Annahme ruft bei Kautsky eine ganze K a s k a d e rhetorischer Fragen hervor: „Ist dem so, muß dann nicht die staatliche Zentralisation eines so großen und wichtigen Teils des geistigen Lebens es mit dem Schlimmsten bedrohen, was ihm passieren kann, mit Einförmigkeit und Stagnation? E s ist wahr, die Staatsgewalt hört auf, das Organ einer Klasse zu sein, aber wird sie nicht das Organ einer Majorität? Kann man das geistige Leben von Majoritätsbeschlüssen abhängig machen ? . . . Droht nicht diese Neuordnung gerade die Besten und Kühnsten
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der geistigen Vorkämpfer auf den verschiedensten Gebieten in ständigen Konflikt mit dem proletarischen Regime zu bringen? Und wenn dieses auch vermehrte Freiheit der künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung für den Einzelnen schafft, macht es sie nicht mehr wett durch die Fesseln, die es der geistigen Betätigung dort anlegt, wo sie nur durch gesellschaftliche Mittel erfolgen kann?" 56 Die weiteren Betrachtungen lassen keinen Zweifel offen: Kautsky geht davon aus, daß in der Sphäre der intellektuellen Produktion das Wertgesetz nicht wirkt und deshalb der Gesellschaft die vergleichbaren Größen der Produktion - sagen wir lyrische Gedichte oder Tragödien - vollkommen gleichgültig sind und keine Verletzung der Proportionen, kein anarchistischer Mißklang für die Gesellschaft irgendwelche Folgen hat. Sich auf erdachte Konstruktionen solcher Art stützend, die weder die Spezifik der Kunst noch ideologische Faktoren berücksichtigen, zieht Kautsky seine Schlußfolgerung: „Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen-, das ist der Typus einer sozialistischen Produktionsweise, wie sie aus der Herrschaft des Proletariats, mit anderen Worten, aus der sozialen Revolution, durch die Logik der ökonomischen Tatsachen entwickelt wird, welches immer die Wünsche, Absichten und Theorien des Proletariats sein mögen."57 Diese Sicht auf die Aufgaben der siegreichen Partei des Proletariats war ganz und gar im Sinne der Doktrin, die von den Führern der II. Internationale gepredigt wurde. Vulgarisierung und Revision des Marxismus, die unter anderem in der Überbetonung der Rolle spontaner ökonomischer Gesetze und der Unterschätzung, wenn nicht gar Negierung, der politischen Ziele des Kampfes zum Ausdruck kommen, traten auch in der Behandlung einiger ideologischer, philosophischer und ästhetischer Probleme auf. Schon Eduard Bernstein forderte in seinem 1899 erschienenen Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" kategorisch, daß man die Wissenschaft und überhaupt die geistige Produktion nicht anders behandeln solle „als außerparteiliche Angelegenheiten"58. In Kautskys Werk „Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft" wird die Kunst aus folgender Sicht heraus betrachtet: „Je mehr die Produktion der Arbeit wächst und dem Menschen Zeit läßt, über des Lebens Notdurft hinaus zu produzieren oder vermehrte Muße zu gewinnen, desto mehr verwendet er seine Produktivkraft darauf, nicht bloß notwendige Lebensmittel zu produzieren, sondern auch Genußmittel, die ihm stärkere, mannigfaltigere Erregungen verschaffen. Die primitivsten darunter gehen durch den Magen oder die Nase, wie Alkohol und Nikotin. Andere, feinere, das heißt mannigfaltigere sind jene, die den Geist beschäftigen, mannigfachere Töne, Farben, Formen, Empfindungen, Schicksale auf ihn wirken lassen, als der Alltag ihm bietet."59 Von analoger Position wird auch die Frage der ästhetischen Bedürfnisse des Proletariats erörtert. Kautsky stellt nicht in Abrede, daß die Bedürfnisse „wachsen und sich entwickeln" und sogar einen „gewissen Ausdruck" finden, aber für
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das Entscheidende hält er, daß die ökonomischen Bedingungen, die moderne Zivilisation das ästhetische Gefühl im Proletariat wie auch in der Bourgeoisie „töten oder, eher, immer mehr betäuben". Deshalb nimmt Kautsky an, das Proletariat sei wohl kaum in der Lage, eine „neue Epoche in der Kunst" zu schaffen. Das, womit es maximal rechnen könne, sei ein intensiverer Konsum der vorhandenen geistigen Werte als vorher. Der Autor schreibt: „Wird . . . der proletarische Kunstdrang zunächst nicht notwendigerweise dahin führen müssen, eine neue höhere Kunst zu begründen, wird er sich vielleicht zu begnügen haben mit dem Streben nach erweiterter Teilnahme an der Kunst, die heute die Bourgeoisie monopolisiert, so wird er auf jeden Fall in dem Maße, in dem das Proletariat an Kraft gewinnt, immer mehr dahin wirken, daß von den vorhandenen Produktionskräften ein größerer Teil für künstlerisches Schaffen zur Verfügung gestellt sowie daß die Muße ausgedehnt wird, die jedem Mitglied der Gesellschaft zu künstlerischem Tun oder künstlerischem Genießen freigibt." 60 Es ist klar, daß bei einer solchen Auffassung von der Kulturpolitik und den Aufgaben des Proletariats, bei einer solchen Vorstellung von den Entwicklungsperspektiven der Kunst nach der Revolution die Frage nach einer planmäßigen, zielgerichteten Leitung dieses Prozesses deplaziert war, sie entfiel einfach. E s blieb „die Anarchie". Vor diesem ideologischen und theoretischen Hintergrund erschien 1905 Lenins berühmter Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur", in dem erstmals mit äußerster Genauigkeit eine wahrhaft marxistische Auffassung von der Rolle und dem Platz der Kunst in der Gesellschaft, von der Parteilichkeit und der Freiheit des Schöpferischen formuliert wurde, in dem die grundlegenden Prinzipien der wissenschaftlichen, zielgerichteten Leitung kulturell-künstlerischer Prozesse durch die Partei dargelegt wurden - Prinzipien, die Inhalt und Form der Kulturpolitik unseres Staates bestimmten und bestimmen. Dieser Aufsatz wie auch die anderen Werke und Äußerungen Lenins über Fragen der Kunst stehen prinzipiell im Gegensatz zu den reformistischen, ihrem Wesen nach unwissenschaftlichen Konzeptionen von Jules Destree, Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Emile Vandervelde. Lenins Arbeiten beinhalten eine Weiterführung und Entwicklung der ästhetischen Auffassungen von Marx und Engels unter den neuen Bedingungen. Seit dem Erscheinen von „Parteiorganisation und Parteiliteratur" haben sich die Polemik, die scharfen ideologischen Diskussionen um diesen Aufsatz nicht beruhigt. Die Versuche, das Wesen des Werkes zu entstellen, es von falschen, ahistorischen Positionen her auszulegen, seine Bedeutung unter allen Umständen herabzumindern, dauern an. So existiert zum Beispiel die Meinung, daß der Aufsatz hauptsächlich im Zusammenhang mit den Fragen des innerparteilichen Kampfes jener Zeit gesehen werden muß, daß die Forderung nach Parteilichkeit vor allem an die Parteipublizisten gerichtet ist und mit dem künstlerischen Schaffen im Grunde nichts zu tun 25
hat. Diese These führte seinerzeit Georg Lukäcs ins Feld. Ernst Fischer und eine Reihe anderer Autoren versuchten, sie zu begründen. Das Bestreben, die Bedeutung des Leninschen Werkes auf rein organisatorische und taktische Fragen zu reduzieren, Stellt grundsätzlich das Prinzip der Parteilichkeit des künstlerischen Schaffens und somit natürlich die Rechtmäßigkeit jeglichen Einwirkens darauf seitens der Partei in Zweifel. Die Entwicklung und folgerichtige Realisierung des Leninschen Prinzips der Parteilichkeit wird mit „Totalitarismus" und „administrativem Bürokratismus" identifiziert. Das ist letztendlich auch der Sinn einer weiteren, von der bürgerlichen und revisionistischen Kritik oft wiederholten These, die das Prinzip der Parteilichkeit sowie die Leninsche Kulturkonzeption insgesamt für eine Art Improvisation hält, ausschließlich mit dem konkreten historischen Moment und den spezifischen Bedingungen Rußlands verbunden. Davon ausgehend, wird festgestellt, daß die Leninschen Prinzipien keinerlei Bedeutung für andere Epochen und Bedingungen haben. Diese Schlußfolgerung wird von den Tatsachen widerlegt. So erfahren wir aus einer Untersuchung zur Herausbildung des sozialistischen Realismus in der lettischen Literatur von dem großen Einfluß des Leninschen Aufsatzes auf die marxistische und demokratische Kritik in Lettland. Ja. S. Barkan untersucht das Wirken einer Reihe bedeutender Publizisten und Kritiker (Peteris Stucka, Jan Janson, Andrejs Upits, Robert Pelse) und zeigt auf, wie „das Leninsche Prinzip der Parteilichkeit zur grundlegenden schöpferischen Konzeption der fortschrittlichen lettischen Literatur und Kritik wurde" 6 1 . Ähnliche Prozesse in der bulgarischen Literatur weist Wasil Kolewski in seinem 1970 in Sofia erschienenem Buch „Lenin und die schöngeistige Literatur" nach. Wenn wir den Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur" als theoretisches Fundament der Kulturpolitik unserer Partei ansehen, so müssen wir vor allem zwei wichtige Momente betonen, die die Leninschen Prinzipien über die führende Rolle der Kommunistischen Partei auf dem Gebiet der Kunst und Literatur betreffen. Diese Prinzipien sind Ausdruck der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie können und müssen in dieser Beziehung als Teil der marxistisch-leninistischen Wissenschaft von der Leitung der Gesellschaft gesehen werden. Der Marxismus hat nicht nur die Frage nach dem zielgerichteten Einwirken auf die gesellschaftlichen Prozesse gestellt, indem er das dialektische Wechselverhältnis von der Erkenntnis der objektiv existierenden Gesetze und ihrer bewußten Anwendung in der Praxis aufdeckte, er hat auch unwiderlegbar die Notwendigkeit solchen Einwirkens bewiesen. Nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eröffnete sich in unserem Land zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, dieses grundlegende marxistisch-leninistische Prinzip zu realisieren. Die Leitung der Gesellschaft auf wissenschaftlicher Basis, die planmäßige und zielgerichtete Einwirkung auf die Entwicklung der gesamten gesellschaftlichen 26
Prozesse tritt als objektives Gesetz in Erscheinung, das im Sozialismus zur Wirkung gelangt. 62 Gibt es irgendeinen Grund, die Kunst hier auszuschließen? Nein. Die Kunst hat ebenso wie auch andere Gebiete des gesellschaftlichen Organismus ihre Spezifik. Den Spezifika des künstlerischen Schaffens muß Rechnung getragen werden. Die Spezifik des künstlerischen Schaffens bestand für Lenin vor allem darin, daß die Literatur „zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ,Rädchen und Schräubchen' des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus", einem „Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit" werden muß. Er forderte, daß die Literatur als „Sache der Parteiarbeit des Proletariats den anderen Teilen der Parteiarbeit des Proletariats nicht schablonenhaft gleichgesetzt werden" darf. Für Lenin war die literarische Tätigkeit „ein mit den anderen Teilen untrennbar verbundener Teil der sozialdemokratischen Parteiarbeit" 63 . Die Verschmelzung der Literatur „mit der Bewegung der wirklich fortgeschrittensten und bis zu Ende revolutionären Klasse" 64 betrachtete Lenin als Notwendigkeit, die man als eine durch die Interessen der Revolution diktierte unmittelbare und lebensnotwendige Aufgabe tief begreifen muß, mit anderen Worten, als objektive Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist charakteristisch, daß Lenin in der bekannten Auseinandersetzung mit Clara Zetkin den Begriff „Chaos" 63 als Alternative zu dieser Gesetzmäßigkeit verwendet, die sich in einer planmäßigen Leitung kulturell-künstlerischer Prozesse offenbart. (Erinnert sei an Kautskys „Anarchie".) Ein nicht minder wichtiger Gesichtspunkt: Die Notwendigkeit der führenden Rolle der Partei resultiert nicht nur aus unserem Verständnis der gesellschaftlichen Bestimmung der Kunst, aus den ihr von der Gesellschaft gestellten Forderungen, sondern auch aus der ideologisch-ästhetischen Natur der Kunst selbst. Wir haben somit nichts anderes vor uns als die objektive Gesetzmäßigkeit des künstlerischen Schaffens selbst, unerläßliche Voraussetzung und Bedingung seiner Lebensfähigkeit. Eine wahrhaft freie Literatur, „die", so Lenin, „das letzte Wort des revolutionären Denkens der Menschheit durch die Erfahrung und die lebendige Arbeit des sozialistischen Proletariats" 66 befruchtet, wird durch diese Erfahrung und „lebendige Arbeit" selbst fruchtbar. Darin besteht die bedeutungsvolle Dialektik dieses Prozesses. Der DDR-Wissenschaftler Hans Koch schreibt darüber in seinem Buch „Marxismus und Ästhetik" folgendes: „Deshalb ist die Notwendigkeit der führenden Rolle der Partei kein ,von außen', außerhalb eigentlich künstlerischer Entwicklungsbedingungen und ästhetischer Kriterien, ,über' die Literatur verhängtes Dekret; sie ergibt sich vielmehr völlig gesetzmäßig aus den .eigenen', .inneren', spezifischen Bedingungen der literarischen Entwicklung selbst. Die führende Rolle der Partei zu leugnen, zielt darauf, den organischen Zusammenhang der Literatur mit dem gesellschaftlichen Boden, in dem sie nur wachsen kann, zu zerstören, die 27
Literatur vom Leben, von der Wirklichkeit zu trennen." 6 7 D a s Problem der Leitung von Kunst- und Literaturprozessen durch die Partei ist somit nicht einfach nur ein politisches, ideologisches und schon gar nicht nur ein organisatorisches Problem, sondern auch ein ästhetisches Problem. Man kann nicht umhin zu bedauern, d a ß gerade dieser Aspekt zu wenig von der marxistischen Kritik akzentuiert wird. Wir schreiben und sprechen oft und zu Recht davon, was das Volk, die Gesellschaft, die Partei von der Kunst erwarten und fordern, lassen dabei jedoch eine andere wichtige Seite unberücksichtigt: W i e bereichert die wahrhaft Leninsche Leitung der Kunstentwicklung die Kunst selbst, wie trägt sie zur Entfaltung aller schöpferischen Potenzen des Künstlers bei? D e m Märchen vom „Diktat", das das künstlerische Schaffen zugrunde richtet, m u ß man ernsthafte Forschungen gegenüberstellen, die an konkreten Beispielen überzeugend zeigen, wie die behutsame, klug lenkende Einwirkung der Partei zur Herausbildung der besten, stärksten Seiten des Talents eines Künstlers beiträgt, sein schöpferisches Suchen befruchtet. D i e Leitung von Kunst- und Literaturprozessen entspricht im Prinzip ihren objektiven inneren Entwicklungsgesetzen. Wenn diese Leitung unter Berücksichtigung der Spezifik des künstlerischen Schaffens, der Besonderheiten der Arbeit des Künstlers erfolgt, wird sie selbst zum integrierten Bestandteil des künstlerischen Prozesses. D i e bedeutsamste Schlußfolgerung, die sich aus der Leninschen Lehre von der Parteilichkeit der Kunst ergibt und die von prinzipieller Bedeutung für die Herausbildung der Prinzipien, Formen und Methoden der Kulturpolitik unserer Partei und des sozialistischen Staates ist, läuft auf die Untrennbarkeit der politischen, ideologischen und ästhetischen Aspekte des Problems hinaus. Von diesem Gedanken sind sowohl die Leninschen Werke und Reden zu Fragen der Kultur als auch solche bedeutenden Dokumente der Kommunistischen Partei der Sowjetunion durchdrungen wie zum Beispiel die Resolution des Z K der K P R (B) „Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der schönen Literatur" sowie der Beschluß der K P d S U (B) „Über die Umbildung der Organisationen von Kunst- und Literaturschaffenden" u. a. 6 8 Bekanntlich wurde auf dem XXIV. Parteitag der K P d S U die Unerschütterlichkeit der Leninschen Prinzipien der Kulturpolitik aufs neue bekräftigt: „ G e m ä ß dem Leninschen Prinzip der Parteilichkeit", heißt es im Rechenschaftsbericht des Z K an den Parteitag, „sahen wir unsere Aufgabe darin, die Entwicklung aller Formen des künstlerischen Schaffens auf die Teilnahme an der Sache des kommunistischen Aufbaus, die eine Sache des ganzen Volkes ist, zu lenken." Es w u r d e besonders der seinem Wesen nach zutiefst konstruktive Charakter der Kulturpolitik betont: „Die Stärke der Führung durch die Partei", betonte Leonid Breshnew in seinem Bericht, „liegt in der Fähigkeit, den Künstler durch die edle A u f gabe, dem Volk zu dienen, mitzureißen, ihn zu einem überzeugten und aktiven Teilnehmer an der Umgestaltung der Gesellschaft auf kommunistischer G r u n d lage zu machen." 6 9 D i e Kulturpolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie 28
die politischen, ideologischen und ästhetischen Faktoren berücksichtigt; anders ausgedrückt, sie hat einen komplexen, einen Systemcharakter. Die Verletzung dieses Prinzips führt zu Einseitigkeit, Verschiebung der Proportionen etc. Die Überbetonung des, sagen wir, „rein" politischen Aspekts bei Vernachlässigung des ästhetischen führt zur Vulgarisierung, zur Unterschätzung der Spezifik des künstlerischen Schaffens, zu einem grob utilitaristischen Herangehen an die Kunst. Umgekehrt tritt die Verabsolutierung, die unrechtmäßige Akzentuierung des nur ästhetischen Moments, die Vernachlässigung der politischen, ideologischen Funktionen der Kunst in direkten Gegensatz zu der von Lenin vertretenen klassenmäßigen Auffassung der Literatur als einer die ganze Partei betreffenden Angelegenheit. Die aufgeworfenen Fragen tragen keineswegs „akademischen" Charakter, sondern sind aufs engste mit der praktischen politischen Tätigkeit der Bruderparteien verbunden; davon zeugen die Diskussionen zu Problemen der Kulturpolitik. Besondere Beachtung verdient die relativ verbreitete Theorie der sogenannten Kulturautonomie. Hierfür ein charakteristisches Zitat: „Wir haben wichtige Errungenschaften prinzipiellen Charakters erzielt, die jetzt niemand mehr in Zweifel zieht. Eine dieser Errungenschaften betrifft die Autonomie der Sphäre der Kultur im Verhältnis zur Sphäre der Politik und folglich auch der Verzicht darauf unter den Bedingungen des sozialistischen Staates - , der Partei die Kontrolle über die freie, schöpferische Suche und Diskussion auf dem Gebiet der Kultur zu übergeben." 70 Diese Worte von Mario Alikata, der sich viele Jahre lang in der Kommunistischen Partei Italiens mit Fragen der Ideologie und der Kultur beschäftigt hat, enthalten den wesentlichen Hinweis, daß das Prinzip der Autonomie, der Verzicht auf die Leitung der Kulturentwicklung, hier nicht mit zeitweiligen, nicht mit taktischen Erwägungen verbunden ist, sondern prinzipiellen Charakter trägt und nach Meinung des Autors auf die Bedingungen des sozialistischen Staates ausgedehnt werden solle. Natürlich bedeutet „Autonomie der Kultur" noch nicht die „absolute Freiheit" eines Jules Destree 71 oder gar die „Anarchie" eines Karl Kautsky. Überhaupt gibt es gewichtige Gründe, von einer relativen Autonomie der Kultur (wie übrigens auch von anderen Gebieten des geistigen Lebens) in dem Sinne zu sprechen, daß ihre Verbindung mit der Politik nicht gradlinig, sondern kompliziert und mittelbar ist. Wenn es sich bei der Autonomie nur um den Verzicht auf „autoritäre und administrative" Methoden der Leitung von Kunst- und Literaturprozessen handeln würde, wäre jeder Streit gegenstandslos. Die zitierten Erwägungen jedoch laufen auf die Gegenüberstellung von Politik und Kultur, die Unvereinbarkeit der Schaffensfreiheit mit dem Prinzip der Leitung überhaupt hinaus - welcher Art sie auch immer sei. Dabei geht diese Konzeption aus allgemeineren Thesen hervor, besonders aus der „Perspektive der politischen Führung, die unter den Bedingungen des sozialistischen Staates eine 29
Vielzahl politischer Parteien, die Möglichkeit der freien Konstituierung . . . von repräsentativen Gruppierungen der Mehrheit und der Minderheit vorsieht" 72 . • Diese Art von „Kulturautonomie" ist organischer Bestandteil einer besonderen politischen Konzeption, die auf dem Prinzip des Pluralismus und dem Verzicht auf „Einheitlichkeit" basiert. Die Anhänger dieser Konzeption berufen sich bei der theoretischen Begründung ihrer Thesen auf das Erbe Antonio Gramscis, insbesondere auf seine Anschauung über die Beziehungen von Literatur und Politik. In seinen Bemerkungen über die Literaturkritik, die Eingang in das Buch „Literatur und nationales Leben" 7 3 gefunden haben, schreibt Gramsci über den, wie er meint, unüberwindbaren Widerspruch zwischen Politiker und Künstler, dessen Wurzeln in der prinzipiellen menschlichen und gesellschaftlichen Verschiedenheit beider liegen. Nach Gramsci „hat der Literat notwendigerweise weniger genaue und definierte Perspektiven als der Politiker", denn der Künstler strebt immer danach, das „festzuhalten", was die Individualität im gegebenen Moment ausmacht, während der Politiker „jede Bewegung in ihrem Werden betrachtet". Die Wertung des Augenblicks verbindet sich mit der Notwendigkeit, „die Menschen in Bewegung zu bringen, sie aus ihrem gegenwärtigen Sein herauszuführen, um sie zu befähigen, kollektiv das vorgegebene Ziel erreichen zu können".. Demzufolge könne, so Gramsci, „der Politiker nie mit dem Künstler zufrieden sein und wird es nie sein können: Er wird ihn immer historisch zurückgeblieben, immer anachronistisch, immer von der wirklichen Bewegung überholt finden." Das ist es, weshalb der Künstler „weniger ein Sektierer, wenn man so sagen darf, und mehr ein - ,Bekämpfer' sein soll" 7 4 . Daraus wird nun von einigen die Schlußfolgerung gezogen, daß jegliche Einmischung der Politik in die Kunst, jeglicher Versuch der Politik, auf die Kunst einzuwirken, unweigerlich zu einem Konflikt mit dem Wesen der Kunst führt und d a ß die Gefahr einer Deformierung dieses Wesens, die Gefahr der Gewalt über die Freiheit des Schaffens droht. Deshalb gäbe es nur einen Ausweg - Verzicht auf Einwirkung, Anerkennung der „Autonomie der Kultur". Fehlt den Ansichten Gramscis über den Widerspruch zwischen Künstler und Politiker jeglicher rationale Kern? W i e stand Lenin zu demselben Problem? Nehmen wir seine Beziehungen zu Maxim Gorki. Wie stellt sich in Lenins Briefen und Aussagen das Verhältnis zum Problem „Politiker - Künstler" dar? Auf den ersten Blick scheint dieses Verhältnis widersprüchlich. Einerseits unterstreicht Lenin, daß Gorki seinem Wesen nach kein Politiker sei, daß es ihm nicht zustehe, sich mit Politik zu beschäftigen. „Aber warum muß sich auch Gorki mit Politik befassen?" schreibt Lenin in den „Briefen aus der Ferne" 7 5 , in denen er die verworrenen Ansichten des Schriftstellers über Krieg und Frieden kommentiert und sie als Ausdruck kleinbürgerlicher Vorurteile einschätzt. In einem Brief an Ilja Grusdew dementierte Gorki viele Jahre später: „Offensichtlich war irgend 30
etwas von der ausländischen Presse erfunden worden." 76 Doch hier geht es nicht um diese Einzelheit, sondern um die Position Lenins: ein Politiker kann in Petrograd arbeiten, Sie aber sind kein Politiker" 77 , schreibt Lenin an Gorki in seinem Brief vom 31. Juli 1919. Zugleich betrachtet und bewertet Lenin Gorkis gesamte Tätigkeit immer vom politischen Standpunkt aus, wobei er es nicht für möglich hält, in prinzipiellen Fragen der Politik Zugeständnisse an die „Kapricen" des Künstlers zu machen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht der offene Brief Lenins „An den Autor des .Liedes vom Falken'", nachdem Gorki neben anderen bekannten Persönlichkeiten der russischen Kultur (Schaljapin, A. Wasnezow, W. Wasnezow, A . Serafimowitsch, Struve u. a.) den in der Zeitung der rechtsstehenden Kadetten „Russkoje slowo" veröffentlichten Aufruf „Von Schriftstellern, Künstlern und Schauspielern" unterschrieben hatte, der nach Lenin von „chauvinistisch-pfäffischem" 78 Geist durchdrungen war. Lenin erinnert daran, daß Gorki einstmals Fjodor Schaljapin, der vor dem Zaren öffentlich auf die Knie gefallen war, mit der Begründung rechtfertigte, daß „wir Künstler . . . eine andere Mentalität [haben]". „Mag es so sein", kommentiert Lenin diese Worte. „Mag Schaljapin nicht streng zu verurteilen sein. E r ist Künstler und nur das. Ef steht der Sache des Proletariats fremd gegenüber.. Z' 79 Charakteristisch ist dieses „und nur das". Das bedeutet, daß Gorki in den Vorstellungen Lenins im Unterschied zu Schaljapin nicht nur Künstler ist. E r ist, wenn er sich selbst dessen nicht immer voll bewußt ist, auch ein Politiker, denn „Gorki . . . betrachten die Arbeiter als einen der Ihren", und „dieses Vertrauen der klassenbewußten Arbeiter erlegt Gorki eine gewisse Verpflichtung auf - seinen guten Namen zu hüten . . .' , 8 ° Es ist nicht schwer festzustellen, daß die Widersprüchlichkeit in Lenins Position nur scheinbar ist. In verschiedenen Etappen, unter verschiedenen Bedingungen, aus verschiedenen Anlässen akzentuiert Lenin als Dialektiker verschiedene Aspekte dieses Problems. Konnte Lenin die Augen vor den Besonderheiten der Mentalität und der emotionalen Welt des Künstlers Gorki verschließen? Nein, selbstverständlich nicht, und gerade vom Verständnis für diese Besonderheiten sind die tiefe Achtung, die Aufmerksamkeit, das Wohlwollen und - wenn man will - die Toleranz Lenins diktiert, die sich in seinen Briefen und Äußerungen finden lassen. Doch dieses Problem hat noch eine andere Seite: Bedeutete solch ein Herangehen Kapitulation vor den „Kapricen" der künstlerischen Natur, Verzicht auf politische Kriterien in der Beurteilung der schriftstellerischen Tätigkeit? Schaljapin ist für Lenin „ein Künstler, und nur das", das heißt ein Künstler nach der traditionellen Auffassung, Gorki jedoch ein Künstler neuen Typus, dessen Talent mit der Revolution, mit der Sache des Proletariats verwachsen ist. Und ihn muß man nach prinzipiell anderen Kriterien bewerten. Darauf basiert Lenins Prinzipienfestigkeit in den Beziehungen zu Gorki, die Unnachgiebigkeit in grundsätzlichen Fragen, die hohen Ansprüche, der scharfe Ton (erinnert sei nur an die 3i
Briefe vom JI. Juli und vom 15. September 1919) 8 1 , auch das ständige Bemühen Lenins, auf den Schriftsteller einzuwirken, ihn zu überzeugen, ihm beim Überwinden der Schwankungen zu helfen. Gleichermaßen aufschlußreich sind die Beziehungen zwischen Marx und einigen zeitgenössischen Poeten, die dem Sozialismus nahestanden. Niemand verstand es besser, dem Talent seiner Freunde gegenüber so feinfühlig zu begegnen, ihre poetische Natur mit all ihren Widersprüchen und Schwächen zu verstehen, niemand konnte so nachsichtig gegenüber diesen Schwächen sein wie Marx. „ . . . ein Poet, er mag als homme sein, was er will", bedarf „des Beifalls, der Admiration", schrieb er an Joseph Weydemeyer. „Ich glaube, daß dies im genre selbst liegt." 82 Als sich Georg Herwegh kopfüber in das mondäne Pariser Leben stürzte und nach den Worten Franz Mehrings aus sich „einen Salonlöwen und Dandy" machte, verteidigte Marx ihn Arnold Rüge gegenüber, weil er damals der Meinung war, daß Herwegh ein Genie sei und eine große Zukunft habe. Das führte zum andauernden Zerwürfnis zwischen Marx und Rüge. 83 Als Ferdinand Freiligrath jenen, die ihn und Marx entzweien wollten, keinen Widerstand leistete und zwischen beiden eine Entfremdung aufkam, war es Marx, der ungeachtet seiner Kränkung den ersten Schritt zur Festigung dieser alten Freundschaft tat. Als Heinrich Heine von der französischen Regierung eine geheime Beihilfe unter Berufung auf Marx angenommen hatte, ließ Marx dem Dichter gegenüber Großmut walten und widerlegte Heines Behauptung aus Zuneigung zu ihm und im Glauben an sein Talent nicht öffentlich.84 Doch zugleich konnte niemand zu befreundeten Dichtern so kompromißlos und unbeugsam wie Marx sein, wenn es um politische Prinzipien, um die Interessen der Partei, der Revolution, des Proletariats ging. Seine Freundschaft zu Freiligrath geriet ernsthaft in Gefahr, als der Dichter auf den Weg des bürgerlichen Liberalismus abgeglitten war, als er versuchte, sich von der Partei zu lösen. Freiligraths Worte, daß die „Partei auch ein K ä f i g " sei, konnte Marx nicht akzeptieren, er konnte auch dazu nicht schweigen und schrieb mit der ihm eigenen Direktheit an den Dichter, wie er darüber denke. Marx konnte Herwegh seinen kleinbürgerlichen Radikalismus nicht verzeihen (Herwegh beabsichtigte, aufgehetzt von dem Provokateur Adalbert von Bornstedt und der ihm selbst eigenen Neigung zum Abenteurertum, einen bewaffneten Feldzug nach Deutschland durchzuführen und dort die Republik auszurufen). E r verzieh Herwegh auch nicht seine Verbindungen zu den Bakunin-Anhängern und zu reaktionären deutschen Emigranten. Sogar Mehring, dessen Verdienste um die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Marx und den Vertretern der sozialistischen Literatur oben erwähnt wurden, interessierten diese Beziehungen nur bedingt. Mehring meint, daß Marx und Engels manchmal vergessen, daß der Dichter das Recht hat, seine eigene Sprache zu sprechen, die mit der Sprache der Wissenschaft nicht gleichgesetzt werden soll und kann. In der Arbeit Mehrings „Sozialistische Lyrik. G . Her-
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wegh - F. Freiligrath - H. Heine" 8 5 ist der wohltuende Einfluß von Marx auf alle drei überzeugend dargestellt, und dennoch wird in erster Linie die Nichtübereinstimmung ihrer Positionen mit der Position von Marx betont. Diese Nichtübereinstimmung ist nach Mehring kein Zufall, sondern eine Gesetzmäßigkeit, weil Dichter und Politiker unter verschiedenen Sternbildern leben. 86 Der Marxismus hat niemals geleugnet, daß Konflikte zwischen dem Politiker und dem Künstler existieren. E r sieht die Ursachen dieser Konflikte sowohl in den spezifischen Besonderheiten der künstlerischen Tätigkeit als auch in der sozialen Natur der Intelligenz überhaupt. Sowohl Marx und Engels als auch Lenin erkannten nicht nur die Unvermeidbarkeit solcher Widersprüche, sondern vor allem auch deren Relativität. Lenin war der Ansicht, daß der Konflikt zwischen Politiker und Künstler überwunden werden kann und soll. Gerade darin sah er den Sinn einer gezielten Einwirkung auf die Kunst. Die Dialektik dieses Prozesses schließt ein, daß dieser Widerspruch offensichtlich nicht beseitigt, nicht endgültig -gelöst werden kann, aber seine Überwindung ununterbrochen, beharrlich und konsequent angestrebt werden muß. Verabsolutiert man aber die Widersprüche zwischen Politiker und Künstler, so werden die Wechselbeziehungen zwischen ihnen nicht als in Bewegung befindlich begriffen, die gegenseitiges Beeinflussen und Durchdringen beinhaltet, sondern als etwas Erstarrtes, Feststehendes. Während Lenin die Herausbildung des Künstlers neuen Typus für äußerst wichtig (und unter bestimmten Bedingungen für entscheidend) hält, der in gänzlich neue Beziehungen zur Partei des Proletariats, zum sozialistischen Staat tritt, betrachten die Verfechter der „Autonomie" diese Frage statisch, außerhalb konkreter sozial-historischer Umstände. Für sie ist der Politiker immer „Sektierer", der Künstler immer „Bekämpfer", und die Haltung des letzteren dem Staat gegenüber verbleibt innerhalb des Dilemmas „Konformismus - Nonkonformismus". Extremer Ausdruck eines solchen Standpunktes ist der Vorschlag des Mailänder Redakteurs der Wochenzeitschrift „Rinascita", Mario Spinella, eine „spezifische Organisation revolutionärer Intellektueller" zu gründen, die außerhalb der Partei existieren soll. In seinem Artikel „Intelligenz und Partei" begründete Spinella seinen Vorschlag damit, daß der Konflikt zwischen bedeutenden Vertretern der Intelligenz und der Kommunistischen Partei, seiner Meinung nach, unvermeidlich sei; das sei ein „potentieller und objektiver" Konflikt, dessen Ursache darin begründet sei, daß der Intellektuelle sich nicht dazu zwingen kann, „auf seine vorwiegend kritische und theoretische Orientierung" und auf die „Freiheit des Suchens" zu verzichten. Doch wie es anzustellen sei, daß diese nicht in eine Fraktionsbildung münde, daß diese Bestrebungen des Intellektuellen nicht mit jedem Schritt den Widerspruch zu den Interessen der Partei unzulässig vertiefen das, nimmt Spinella an, wisse bisher niemand. Der einzige Ausweg sei eine separate Organisation von Intellektuellen, die der Partei nahestehen, ihr jedoch nicht angehören. 3
Barabasch 6674
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Dieser Vorschlag wurde im Verlaufe einer mehrere Monate andauernden Diskussion insbesondere auf den Seiten der Wochenzeitschrift „Rinascita" unter der Rubrik „Die Selbstkritik der Intelligenz" erörtert, fand aber keine Unterstützung. 87 Während der Diskussion über das Wechselverhältnis von Intelligenz und Partei wurde natürlich auch das Problem „Autonomie der Kultur" berührt. Dabei wurden die verschiedensten Ansichten ausgesprochen. Die Tatsache verdient Aufmerksamkeit, daß sich diesmal die Diskussion nicht einseitig auf eine „kritische Orientierung" beschränkte. In einer Reihe von Beiträgen wurden nicht so sehr die fatalen Widersprüche zwischen Intelligenz und Partei, zwischen „Freiheit", „Leitung und Einwirkung" hervorgehoben, sondern man suchte vielmehr nach Wegen und Mitteln zur Überwindung dieser Widersprüche. In dem die Diskussion resümierenden Artikel von Bruno Schacherl „Von der Selbstkritik zur Politik" ist der sachliche Hinweis enthalten, daß man Schwankungen, Illusionen, „Zwiespältigkeit" des Intellektuellen, von denen Gramsci gesprochen hatte, richtig erkennen und bewerten kann, wenn man dabei sein Bestreben, „heute ein Teil des .kollektiven Intellektuellen' zu werden", der die Partei ist, und „seinen Platz in der Politik zu finden"88, berücksichtigt. Was Gramscis Position betrifft, so ist es notwendig, neben allem anderen zu berücksichtigen, daß sie sich unter den besonderen politischen Bedingungen des Kampfes der Kommunisten gegen das sogenannte Borgianertum - einer sektiererischen, „links"-extremistischen Strömung in der Kommunistischen Partei Italiens herausbildete. Die polemisch zugespitzte Fragestellung nach der „Autonomie der Kunst", das aktive Auftreten Gramscis gegen den „Druck" der Politik auf die Kunst sind in gewissem Maße von dem damals aktuellen politischen Kampf gegen dogmatische und sektiererische Tendenzen geprägt. Mir scheint, Alexander Lebedew, der Verfasser des Vorwortes zur russischen Ausgabe von Gramscis Buch, berücksichtigt nicht in vollem Maße diese Dialektik, wenn er behauptet, daß Gramscis Ansichten über die Wechselbeziehungen zwischen Politik und Kunst „keine vorübergehende" 89 methodologische Bedeutung haben. Es besteht meines Erachtens kein Zweifel, daß Gramscis Ansichten in hohem Maße von jenen Bedingungen, von jener Zeit geprägt wurden. Warum ist es so wichtig, sich mit der Konzeption zur „Autonomie der Kultur" zu beschäftigen, sowohl mit dem Inhalt dieses Begriffes als auch mit einseitigen Interpretationen und ihrer Wertung? Diese Konzeption steht heute in einem äußerst komplizierten aktuellen ideologischen Kontext. Große Verbreitung haben verschiedene Theorien über die „besondere Mission" der Intelligenz, vor allem der schöpferischen Intelligenz gefunden. Es zeichnet sich eine ganze Palette von Schattierungen ab, eine Vielzahl von Strömungen: von offen antikommunistischen bis quasi marxistischen, rechtsopportunistischen und „links"revisionistischen. All diese Theorien basieren, das ist ohne besondere Mühe nachzuweisen, auf einer letztendlich kleinbürgerlichen Ideologie, auf einem unwissenschaftlichen, metaphysischen Herangehen an solche Probleme wie Wechselver34
hältnis von Kunst und Gesellschaft, Freiheit des Schaffens, Spezifik des künstlerischen Schaffens u. ä. So existiert eine Konzeption von der Freiheit der Kunst, die von der Vorstellung ausgeht, daß es keine völlige Gleichheit von künstlerischem Schaffen und anderen Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen geben könne. 90 Der Künstler erscheint hier als genialer Sonderling, der die ihn umgebende Welt in ihrem ursprünglichen, unberührten Wesen erschließt, was nicht jedem Sterblichen möglich sei. Es wird der Gedanke der Einheit von „Absonderlichkeit" und wahrem Talent strapaziert, das immer eine Sonderstellung in der Gesellschaft beansprucht und keine gemeinsame Sprache mit seinen Zeitgenossen spricht. Dabei wird eine ganz besondere Rolle den Werken zugestanden, die gleichsam von der Position eines Kindes geschrieben sind, das das Leben auf „naive" Weise wahrnimmt - frei von solchen „Überlagerungen" wie Weltanschauung, Klassenposition, geistige Erfahrung des Volkes. Wenn wir einen derartigen Infantilismus in bezug auf den Künstler und eine Theorie der „kindlichen Naivität" in der Kunst ablehnen, so unterschätzen wir keineswegs die Bedeutung des Individuellen in der künstlerischen Tätigkeit. Es geht um etwas anderes: Worin besteht die Besonderheit der künstlerischen Arbeit, welche Bedeutung kommt ihr zu? Der Künstler schafft in der Regel allein. Natürlich gibt es auch Formen des künstlerischen Schaffens, bei denen das Individuelle aufs engste mit dem Kollektiv verflochten ist - z. B. Kino, Theater - , doch das ist schon ein anderes Thema. Der schöpferische Akt ist seiner Natur nach individuell, und niemand kann anstelle des Künstlers das tun, was er und nur er tun kann. Dieser Umstand bewirkt die UnWiederholbarkeit der Kunst, jedoch liegt darin auch eine Quelle für Komplikationen. Birgt nicht diese Besonderheit des künstlerischen Schaffens, die bis zu einem gewissen Grad den Künstler in einen „Einzelgänger" verwandelt, Gefahren für die Erkenntnis der richtigen gesellschaftlichen Proportionen, der Lebenswahrheit in sich? Lenin wies bei der Charakterisierung der Intelligenz auf ihre Neigung zum „Individualismus", den „Mangel an Selbsterziehung im Geiste der Organisation und Disziplin" hin 91 : darin liegt eine der Erklärungen für die Schwächlichkeit und Wankelmütigkeit der Intelligenz, eine Eigenschaft, die das Proletariat so oft zu spüren bekommt; und diese Eigenschaft der Intelligenz steht in unlöslichem Zusammenhang mit ihren gewöhnlichen Lebensbedingungen und ihren Erwerbsverhältnissen, die sich in sehr vielem den Verhältnissen der kleinbürgerlichen Existenz nähern (Arbeit als Einzelperson oder in sehr kleinen Kollektiven usw.)" 92 , schrieb er in „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück". Zwar beziehen sich diese Bemerkungen auf die Intelligenz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, jedoch gelten einige Besonderheiten der intellektuellen schöpferischen Arbeit auch unter anderen Bedingungen. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die Erkenntnis der Spezifik dieser oder
jener Erscheinung prinzipiell zu unterscheiden ist von der Verabsolutierung dieser Spezifik. Das gilt voll und ganz für die Kunst. Selbst wenn man den in der nichtmarxistischen Ästhetik verbreiteten Vergleich des Künstlers mit Robinson, der auf einer unbewohnten Insel lebt, (bedingt!) akzeptieren würde, so verfügte doch Robinson über Lebens- und gesellschaftliche Erfahrung und konnte sich auf die Errungenschaften des damaligen menschlichen Denkens stützen. Und der Künstler? Bleibt er wirklich allein mit dem leeren Blatt Papier, wenn er sich an den Schreibtisch setzt? Hängt alles nur von ihm selbst, von seinem Talent und seiner Meisterschaft ab? Dieses Talent und diese Meisterschaft wie auch die Lebenserfahrung des Künstlers, seine Vorstellungen von der Welt, seine Einschätzung von Menschen und Erscheinungen, sein Geschmack, seine Sympathien und Antipathien - all das formiert sich doch nicht im luftleeren Raum. Der Künstler ist nicht nur sich selbst verpflichtet, sondern auch seinen Vorgängern, seinen Zeitgenossen, der Gesellschaft und dem Volk. „Das Fundament, auf dem sich das künstlerische Talent entwickelt - die Kultur des Volkes - " , schreibt Nikolai Schamota in seinem Buch „Über die Freiheit des Schaffens", „bilden das Klima, der Geschmack, die Bedürfnisse, das geistige Leben der Zeitgenossen. Der Künstler ist nur ein Mitautor der großen Schöpfung, die Kultur des Volkes heißt." 93 Im Schaffen eines wahren Künstlers stehen sich Individuelles und Gesellschaftliches nicht gegenüber. Ihre Dialektik besteht darin, „je markanter ein Künstler als Persönlichkeit ist, um so vollkommener verkörpert er den Charakter seiner Zeit, um so aktiver artikuliert er die Stimmungen seiner Zeitgenossen, um so parteilicher ist er. Für diejenigen, die sich durch Paradoxe nicht in Verwirrung bringen lassen, sei gesagt, daß ein Künstler um so weniger sich selbst gehört, je individueller er ist, um so mehr brauchen ihn die Menschen." 94 Einer der eigenwilligsten oder auf seine Art fundamentalen, in jedem Falle aber raffinierten Versuche, das ahistorische Erklären der Mission der Intelligenz, des Platzes des Künstlers in der Gesellschaft und seiner Beziehungen zur Macht zu motivieren, ist die Rede von Albert Camus anläßlich der Nobelpreisverleihung an ihn sowie seine Vorlesung „Der Künstler und seine Zeit" 95 . Es liegt etwas Imponierendes darin, mit welchem Zorn Camus l'art pour l'art ablehnt, diesen schändlichen Deckmantel für die Verantwortungslosigkeit, und wie entschieden er für eine mit der Gesellschaft verbundene Kunst plädiert. Die Kunst als Kurzweil, die formalistische Kunst, die Kunst, die sich von Anmaßung und Abstraktionen nährt, verdiene Verachtung; der Künstler solle von der Masse und für die Massen sprechen, solle das Leiden und das Glück aller in die Sprache aller übersetzen - nur ein solcher Künstler wird von allen überall verstanden werden. Wie stellt sich jedoch bei Camus diese Welt, diese Gesellschaft dar, mit der der Künstler durch Blutsbande verbunden ist? Der Künstler antwortet auf diese Frage mittels zweier Bildsymbole. 36
Das erste Symbol ist eine Galeere. „Jeder Künstler ist heutzutage auf die Galeere seiner Zeit verfrachtet. Er muß sich damit abfinden, selbst wenn er der Ansicht ist, diese Galeere rieche nach Hering, die Aufseher seien zu zahlreich, und außerdem werde ein schlechter Kurs gesteuert. Wir befinden uns auf hoher See. Der Künstler muß sich wie die anderen ans Ruder setzen, wenn möglich ohne über Bord zu gehen, das heißt, er muß fortfahren zu leben und zu schaffen." Das zweite Symbol ist die Geschichte. „Im Zirkus der Geschichte hat es das immer gegeben. Die ersten nährten sich von den Tröstungen der Ewigkeit, die letzteren von schön blutigem historischem Fleisch. Aber der Künstler saß bisher auf der Zuschauerbank. Er sang zum Vergnügen, für sich selbst oder im besten Fall, um den Märtyrer zu ermutigen und den Löwen ein wenig von seinem Heißhunger abzulenken. Jetzt dagegen befindet der Künstler sich in der Arena." 96 Also - hinaus auf den Schauplatz der Geschichte, in das dichteste Kampfgetümmel! Doch mit welchem Ziel? Will der Künstler dem Opfer in seinem ungleichen Kampf helfen, den Löwen zu besiegen? Will er die Sklaven gegen die Aufseher zum Kampf anführen, und versucht er, den Kurs der Galeere zu ändern? Eben diese Fragen sind nach Camus sinnlos. Die wahre Handlung, die auf dem Schauplatz der Geschichte abläuft, hat kein Finale. Und wenn morgen Löwe und Opfer ihre Plätze wechseln, bleibt das Prinzip der Kräfteverteilung unverändert. Deshalb ist es die Pflicht des Künstlers, immer auf der Seite des Opfers zu stehen - sogar dann, wenn es der gestrige Löwe ist. „Der Künstler", so Camus, „spricht frei, anstatt zu verdammen, lehnt keinesfalls den Kampf ab, weigert sich aber, sich den regulären Truppen anzuschließen", und die Garantie für seine Freiheit bestehe im ständigen Balancieren „zwischen zwei Abgründen, der Leichtigkeit und der Propaganda"97. Und wenn im Schiffsrumpf die Sträflinge meutern, wenn sie ihre Ketten zerbrechen, die Aufseher fesseln und den Kurs in der Hoffnung ändern, daß diese Galeere sie trotzdem ans Ziel bringt, lohnt es dann überhaupt zu rebellieren, zu kämpfen, den Kurs zu verändern? Camus, dessen existentialistische Verirrungen ihn auf die Positionen des Antikommunismus geführt haben, hat sich zumindest niemals als Verfechter der marxistischen Philosophie ausgegeben. Ernst Fischer, der lange Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs war, hat versucht, die These vom Konflikt zwischen Macht und geistiger Elite zu begründen. Wovon ging Fischer aus? Erstens davon, daß die Kunst frei sei von Ideologie, Klassen, Gesellschaft. „Als Erkenntnis der Wirklichkeit stammen Dichtung, Musik, die bildende Kunst... nicht aus der Sphäre der Ideologie"98, schrieb Fischer in seinem Buch „Kunst und Koexistenz". Zweitens - und dieses Moment ist natürlich eng mit dem ersten verbunden - ging er davon aus, daß der moderne Künstler unter den Bedingungen einer „totalen" Entfremdung, die allen „industriellen Zivilisationen" eigen ist, unabhängig von einem konkreten sozialen System lebt und schafft. „ . . . es ist stets die Gesamtheit einer Epoche..., die auf den Künstler einwirkt"99, lesen wir in demselben Buch. Diese Behaup37
tungen, die als marxistisch ausgegeben werden und in Wirklichkeit nur einen Abklatsch verbreiteter Ideen der bürgerlichen Ästhetik darstellen, 100 werden von Fischer auch in dem Artikel „Der Intellektuelle und die Macht" dargelegt, den 1966 die Prager Wochenzeitschrift „Literärni noviny" in ihrer Nummer 26 veröffentlichte. Auch hier wird die Intelligenz als „Gewissen der Gesellschaft" charakterisiert, als „Avantgarde", als die einzige geistige, intellektuelle, schöpferische Kraft, die der Trägheit, dem Stumpfsinn, dem Konservatismus der „Masse der Zweibeiner" gegenübersteht. Gramsci hatte die Intelligenz als „den Zement der Nation" bezeichnet. Fischer versucht, diese Definition zu ergänzen. Er ist der Ansicht, daß auch die von der Intelligenz geübte Kritik berücksichtigt werden muß. „Wenn man diesem Zement viel von der obligatorischen Ideologie, von Diensteifer, Speichelleckerei und gedankenloser Zustimmung beimischt", meint Fischer, kann er seine Aufgabe nicht erfüllen. Daraus resultiert die „präzisierte" Formel: „Intellektueller - Kritiker und Zement der Nation", wobei die kritische Funktion bei Fischer an erster Stelle steht. Auch den „Ketzer" braucht Fischer, denn in unserem Zeitalter sei der Intellektuelle dazu berufen, Ketzer zu sein. „In unserem Zeitalter" - das ist ein sehr wesentliches, wenn nicht gar das entscheidende Detail der dargelegten Konzeption. Fischer tauscht die marxistische Klassenanalyse einer jeden Macht, eines jeden Staates gegen abstrakte Erörterungen über die „Konzentration negativer Kräfte um die Macht", über die Politik als „Handwerk" von Menschen, die „für nichts anderes geeignet sind", und dergleichen mehr aus. So entsteht ein gewisses verallgemeinertes Bild von einem sogenannten realen Politiker - einem Antiintellektuellen, der Angst vor den Laboratorien des Doktor Faustus empfindet, wo der „Geist an der Vernichtung der Glaubenstradition, des Gehorsams und der Ergebenheit arbeitet". Dieses Bild entbehrt jeglicher sozialer und Klassenmerkmale. Das ist nach Fischer das Produkt der modernen Industriegesellschaft mit ihrer grenzenlosen Machtkonzentration, wo der Intellektuelle dazu berufen ist, „geistiges Gegengewicht sowohl zum Dogmatismus als auch zum Pragmatismus in allen seinen .Lagern' zu sein" (die Anführungsstriche des Wortes „Lager" stammen von Fischer. - Ju. 23.). Auf die Kunst angewandt, bedeutet dies, daß der moderne Künstler sich auch nicht in einen prinzipiellen, wiederum „totalen" Zerstörer und Nihilisten, in einen ständigen „Außenseiter" verwandeln kann. In diesem Sinne untersucht Fischer die Beziehungen zwischen dem Künstler und der kommunistischen Partei. „Wenn ein sozialistischer Künstler", lesen wir in seinem Artikel „Kunst und ideologischer Überbau", „nur ein Sprachrohr des Z K sein soll, nur ein hochqualifiziertes Mitglied einer Agitations- und Propagandaabteilung, dann degradiert er sich im Endergebnis nicht nur als Künstler, sondern er wird auch ein schlechter Agitator sein. Wenn die Kunst gezwungen sein wird, sich den Forderungen der jeweiligen taktischen Situation anzupassen, wird das Leben sie verlassen. Ihr gewaltiger Beitrag für die sozialistische Gesellschaft besteht darin, daß sie weit über die Grenzen von Berichten, statistischen Angaben, Leitartikeln und Resolutionen 38
hinausgeht. Er besteht darin, daß mit Hilfe der Kunst Probleme aufgegriffen werden, Fakten erhellt werden, die immer noch vielen Parteisekretären unbekannt sind." 101 Natürlich ist das richtig: Die Rolle des Künstlers kann nicht auf das Verfassen von Leitartikeln und Resolutionen beschränkt werden; die Kunst wird nicht dadurch sozialistisch, daß sie „dem Geschmack des Parteisekretärs entspricht". Wer bestreitet das? Fischer kämpft mit einem erfundenen und deshalb für die Polemik besonders bequemen Gegner. Doch welche Lösung des Problems der Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Politik, zwischen Künstler und Partei konnte er selbst vorschlagen? Alle Auftritte, alle Aussagen Fischers lassen in dieser Hinsicht keinen Zweifel offen: Er sieht sie immer nur als Konfliktbeziehungen zwischen konservativer und „rebellischer" Kraft, zwischen „Beschützer" und „Bekämpfer". Von den gleichen Positionen aus beurteilt auch A. Lim - früher tschechoslowakischer Literaturschaffender, heute Emigrant und Antikommunist - die Beziehungen von Politik und Kunst. Das Aufsehen, das von einigen französischen und italienischen Publizisten um sein Buch „Drei Generationen" gemacht wurde, lenkte für einige Zeit die Aufmerksamkeit der westlichen Presse auf den ehemaligen Redakteur 'der Wochenzeitschrift „Literärni listy". Lim erhielt die Möglichkeit, seine Ansichten über Politik und Kunst zu popularisieren, die allerdings wenig Neues enthielten. „Der Politiker und der Schriftsteller", erklärte Lim in einem Interview, das „Quinzaine littéraire" veröffentlichte, „erfüllen zwei verschiedene Funktionen, mehr als dies - antagonistische - , obwohl sie sich in gewissem Grade auch ergänzen. Seiner Natur nach ist der Künstler Anarchist. Er ist ein Feind der Macht, ein Feind von allem E t a b l i e r t e n . . . Seine Moral ist der Moral des Kollektivs fremd. Er kann ein Hippi sein oder wie ein Herzog leben, ein vorbildlicher Ehemann sein oder zwanzig Geliebte haben; in jedem Falle jedoch nimmt er eine Außenseiterposition ein und bleibt einsam." 102 Immerhin macht Lim eine interessante Ergänzung: Es zeigt sich, daß es im Leben der Gesellschaft immer noch Augenblicke gibt, in denen „die Kultur die Rolle der Politik übernimmt" und der Intellektuelle „den Thron besteigt, der von der Politik verlassen worden ist. Jedes Wort des Schriftstellers gewinnt politische Kraft." Das geschieht nach Lim dann, wenn es notwendig ist, „die Lage der Dinge explosiv zu ändern". Lim gehörte vor nicht allzu ferner Zeit selbst zu solch einer Art von „Sprengmeistern". In jener Periode, die die bürgerliche Presse gern hochtrabend den „Prager Frühling" 103 nennt, ging von einem bestimmten Teil der tschechoslowakischen Kulturschaffenden eine ziemlich große Zahl einer derartigen Betätigung nach. Man begann mit höchst banalem Theoretisieren über die „Unvereinbarkeit von Kultur und Politik", mit der Proklamation des Rechts der Intelligenz auf eine „besondere", vorrangig „kritische" Mission und dergleichen. Als charakteristisches Beispiel kann man M. Jodls Artikel „Kritik" in der Zei59
tung „Literärni noviny" anführen. 104 Mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit untersucht der Autor die Wechselbeziehungen von Literatur und Epoche und gelangt zu dem Schluß, daß diesen Wechselbeziehungen - in allen Zeiten und unter beliebigen Bedingungen - immer ein Konflikt zugrunde lag und liegt: Das ist sozusagen die Norm, das elementare Gesetz der Literatur. Und nur eine dogmatische Kritik (außer ihr gibt es nach Jodls Klassifizierung noch die kommentarhafte, die synthetische und die schöpferische), die das Leben als ein „geschlossenes System" auffaßt, könne in diesem Konflikt ein Moment der Disfunktionalität ausmachen. Die Literatur, die vom geschlossenen System abweicht, scheine auch vom Standpunkt der sich in Widersprüchen vollziehenden Entwicklung zutiefst funktional zu sein. Jodl bedauert deshalb, daß „bei uns . . . die integrierte Funktion der Literatur - die Literatur als Appell, als Kampf, als Pathos, als Dienst - besonders stark akzentuiert ist", während „die Funktion, Widersprüche festzustellen", die „Säuberungsfunktion", die „Konzeption der Beweisführung" und dergleichen mehr bis heute auf Widerspruch und Mißtrauen stießen und als Verfallserscheinungen betrachtet würden. 103 Darin drückt sich nach Jodl der gewaltige negative Einfluß des - wie er es nennt - „Prinzips der Organisation" auf die Literatur aus, das für die moderne Gesellschaft charakteristisch sei. Dieses Prinzip, schreibt Jodl, „bietet Manipulierungen und Bürokratismus breiten Raum. Die Tendenz wird offensichtlich, das ganze feingliedrige und komplizierte System der menschlichen Existenz in der Gesellschaft drei Prinzipien unterzuordnen: dem Prinzip der Aufgabenerfüllung, dem Prinzip, zentrale Direktiven umzusetzen, und dem Prinzip der Manipulierung." 106 Dieser entpersönlichenden, entfremdenden Kraft die Stirn bieten - das kann und soll gerade die Literatur, lautet Jodls Schlußfolgerung. Allmählich verlor dieses Thema seine abstrakt-theoretische Färbung und drückte eine ganz bestimmte politische Tendenz aus. In konzentrierter Form trat diese Tendenz in einer Anzahl von Reden auf dem IV. Kongreß der tschechoslowakischen Schriftsteller 1967 zutage. 107 Wohl versuchte beispielsweise Eduard Goldstücker in seiner Rede, den akademischen Ton zu wahren, und benutzte die sozialistische Terminologie. Aber seine Überlegungen darüber, daß die „Spannung" zwischen der Literatur und den führenden Partei- und Staatsorganen „gesetzmäßig" sei, sofern diese von der Literatur lediglich eine „mobilisierende Funktion" fordern und die Literatur danach strebe, „die Möglichkeiten ihrer Existenz zu erweitern", - trugen eindeutig einen verleumderischen Charakter. Ähnlich äußerte sich der Redakteur der „Literärni noviny", M. Jungmann, der verworren und verschwommen über den „Zusammenstoß und damit die gegenseitige Beeinflussung, über die unvermeidliche Wechselwirkung" von Kultur und Politik referierte. Andere Redner waren offener. Der schon erwähnte A. Lim betonte, daß es nicht um einzelne Fehler gehe, die bei der Verwirklichung einer bestimmten Kulturpolitik auftreten, sondern um die „Konzeption dieser Politik selbst". Seiner 40
Meinung nach bestehe der Hauptmangel darin, daß die sozialistische Kulturpolitik es bis jetzt nicht verstanden habe, „die Kultur mit dem Diktat der Macht und des Marktes zu verschonen". Das läßt nach Lim Zweifel darüber aufkommen, ob „der Sozialismus überhaupt fähig sei, das Kulturproblem zu lösen". Ebenso deutlich äußerte sich L. Vaculik: „Das erste Attribut einer jeden Macht: sie möchte auch weiterhin die Macht bleiben", und das bedeutet, daß Konflikte und Zusammenstöße zwischen ihr und der Literatur unvermeidlich seien. „ D i e Kunst kann nicht auf die Kritik an der Regierung verzichten", so Vaculik. Von dieser Position aus war es nur noch ein Schritt bis zur Proklamierung der sogenannten Gesellschaft unabhängiger Schriftsteller, die verkündete, daß die „Unabhängigkeit . . . von der Macht" eine unbedingt notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Tätigkeit des Künstlers sei. Eine solche Interpretation von Politik und Kunst, wie sie von jenen „Intellektuellen" angeboten wurde, bildete einen Teil des breiten Angriffs auf die Prinzipien des Sozialismus und vor allem auf die führende Rolle der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Lim fragte in einem Artikel: „Also: was nun konkret?" und stellte fest: „Gegenwärtig gibt es in unserem Lande keine strittigere Frage als das moralische und politische Recht der Kommunistischen Partei auf die führende Rolle." l o s Und diese Feststellung traf er zu jener Zeit, als er sich entschloß, Politiker zu werden. Die Ausfälle gegen die Macht „überhaupt" wechseln mit Ausfällen gegen die „offizielle Macht", gegen die Partei und den sozialistischen Staat. Die oppositionellen Intellektuellen sind nun schon nicht mehr dagegen, an der Führung derselben „Gesellschaft der pluralistischen Demokratie" teilzunehmen, zu der Ivan Svitäk aufgerufen hatte. Die gestrige „Elite des Einflusses", wie sie Rudolf Cerny, der Autor des Buches über die Konterrevolution in der Tschechoslowakei, 109 nennt, erhebt darauf Anspruch, „Elite der Macht" zu werden. In diese Richtung entwickelte sich die Konzeption, die auf Anerkennung der „besonderen Mission" der Intelligenz, auf Anerkennung des ewigen und angeblich fruchtbringenden Konflikts zwischen Künstler und Macht, zwischen Kunst und Politik aufgebaut war. Sicherlich stellen die Vorgänge in der Tschechoslowakei eine extreme Etappe jener Entwicklung dar, überstürzte Verallgemeinerungen sind hier fehl am Platze. Dennoch sollte man daraus Lehren ziehen, da die Diskussionen zum Verhältnis von Kunst, Politik und Ideologie bis auf den heutigen Tag andauern und bisweilen die umstrittensten Ansichten geäußert werden. 1971 erschien in Zagreb das Buch des kroatischen Literaturwissenschaftlers Stanko Lasic „Der Konflikt im Lager der linken Literatur (1928-1952)". Wie das Organ des B D K J „Kommunist" am 4. März 1971 dazu feststellte, kommt Lasic zu der Schlußfolgerung, daß die „Beziehungen zwischen Kunst und Revolution auf einer grundlegenden Antinomie basieren, solange die Revolution andauert und solange der Faktor der Entfremdung existiert. Folglich kann man 4i
keine harmonische und absolute Synthese von Kunst und Revolution erzielen, sie stehen zueinander in Widerspruch." Bezeichnend ist auch die Diskussion zum Thema „Ideologie und Schaffen", die die jugoslawische Zeitung „Politika" über das Buch von Lasic veranstaltete. 110 Einige Teilnehmer dieser Diskussion unterstützten die These von der Antinomie zwischen Revolution, Politik, Ideologie einerseits und Literatur andererseits und versuchten, diese These weiterzuentwickeln. So behauptete Dragan Jeremic: „Weil die Ideologie beständig die Rechtfertigung der heutigen gesellschaftlichen Praxis anstrebt, wird der Künstler die Ideologie, durch das Wesen seines Schaffens bedingt, nicht annehmen. Der Schriftsteller hat die Pflicht, sich keiner ideologischen, sondern nur einer Verantwortung zu unterwerfen, die anderer Natur ist." Ebenso argumentiert Zoran Gavrilovic: „Ideologie ist ein System, Kunst - das individuelle Schaffen, das sich schwer in die immanenten Prinzipien einordnen läßt; Ideologie - das ist ständige Tätigkeit oder das Bestreben dazu, Kunst aber ist begrenzt durch eigene spezifische Formen und die ihr eigene Selbstzufriedenheit . . . Die Ideologie strebt nach objektiver Wahrheit, die Kunst ist die Illusion des Objektiven . . . Durch ihr Wesen, ihre Neigung, sich aufzudrängen, entzieht die Ideologie der Kunst die Plattform und führt unvermeidbar das Schaffen zur Dekadenz und zum Verfall." Leitmotiv dieser und einer Reihe anderer Auftritte war wiederum der Gedanke einer „totalen", von sozialen und Klassenfaktoren unabhängigen Unvereinbarkeit von Künstler und Macht. Ein solches Herangehen ist seinem Wesen nach unwissenschaftlich und befindet sich in tiefem Widerspruch zum Marxismus. Es ist unbestritten, daß in der kapitalistischen Welt immer ein Konflikt zwischen bürgerlicher Politik und dem Schaffen des progressiven Künstlers besteht, und letzterer übernimmt manchmal unbewußt die Rolle eines „Sprengmeisters". Anders verhält es sich in der sozialistischen Gesellschaft, in der sowohl für die Partei und den Staat als auch für den wahren Künstler der Dienst am Volk das höchste Ziel ist. Hier verschwindet der soziale Boden für prinzipielle, unüberwindbare Widersprüche, und schon die Frage nach der „Autonomie" eines Künstlers in bezug auf die Gesellschaft ist überflüssig, wenn man nicht die mit ihrer Spezifik verbundene relative Selbständigkeit der Kunst im Auge hat. Das bedeutet nicht, daß das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft und zum Staat, zu diesen oder jenen Institutionen automatisch idyllisch ist. Hier sind Schwierigkeiten und „Reibungen" - unvermeidliche Begleiter einer lebendigen Entwicklung nicht ausgeschlossen. Doch die wichtigste, die bestimmende Gesetzmäßigkeit besteht darin, daß die Partei und der sozialistische Staat dem Künstler helfen, mit seiner Zeit zu gehen, daß sie für seine schöpferische Arbeit günstige Bedingungen schaffen, seine Aufmerksamkeit auf die wichtigsten, die entscheidenden Probleme im Leben der Gesellschaft und auf ihre Entwicklung lenken. Die Dialektik dieses Prozesses ist kompliziert, 111 und wir wollen hier nur eines unterstreichen: Ein argwöhnisches, feindseliges Verhältnis zur Intelligenz ist im 42
Grunde genommen nichts anderes als die Kehrseite des liberalen Kokettierens mit ihr, als der blinde Glaube an ihre besondere Mission. Beiden Konzeptionen liegt letzten Endes eine Vorstellung vom geistig und schöpferisch tätigen Menschen zugrunde als einer Kraft, die dem Sozialismus fremd gegenübersteht, als einem potentiellen Träger des Bürgerlichen. Einseitig betrachten auch diejenigen die Wechselbeziehungen zwischen Partei, Staat und Künstler, die die Fehler des letzteren betonen, sich an seinen Schwankungen und Irrtümern ergötzen und obendrein behaupten, der Künstler wäre für die Gesellschaft gerade wegen dieser Schwächen wertvoll und nicht trotz seiner Schwächen.
Ich teile völlig jene hohe Wertschätzung, mit der unsere Kritik die „Vier Lehrstunden bei Lenin" von Marietta Schaginjan bedachte. Dieses Buch ist eine hervorragende, originelle Bereicherung unserer Literatur über Lenin. Da lesen wir in dem Abschnitt „Die Geburt in Sorrento", in dem der Briefwechsel Lenins mit Gorki kommentiert wird: „Wenn man sich in jedes Wort dieses Briefwechsels hineingelesen hat, beginnt man zu ahnen, wie unentbehrlich für Lenin dieser eigensinnige, empfindsame, unentschlossene, zurückweichende Gorki, dieser anscheinend fremde, ihm unähnliche Mensch war, um seine Gedanken über diese Freundschaft, seine Antworten auszufeilen - der Politiker braucht den Künstler, wie die Luft, wie das Brot, wie der rechte Fuß den linken." Und weiter lesen wir: „Mir scheint, wäre Gorki ein anderer gewesen, hätte er sich nicht 1908 und 1917 und vielleicht nie davor und nie danach geirrt, hätte Iljitsch ihn nicht so lieben können, wie er ihn geliebt hat, sich in seinem Streit mit ihm entzündend, behauptend, seine Gedanken ausfeilend." 112 Nikolai Gej und Wladimir Piskunow nehmen in ihrer Arbeit „Humanismus und Kunst" 1 1 3 auf das Buch von Marietta Schaginjan Bezug und sehen darin ein Beispiel gewissenhafter Erforschung der Beziehungen zwischen Gorki und Lenin. Gleichzeitig äußern sie aber einen Vorbehalt gegenüber der „etwas zugespitzten Manier" der Schriftstellerin. Mir scheint, daß es hier nicht um die Manier geht. Auf ihr Konto mag die überaus weitschweifige Charakterisierung Gorkis gehen, dieses so gar nicht zu dem Schriftsteller passende Epitheton „fremd" (erinnern wir uns, daß Lenin, als er Schaljapin und Gorki gegenüberstellte, Schaljapin als jemanden bezeichnet hat, der der Sache des Proletariats fremd gegenübersteht)114. Manier hin - Manier her, das Wesen der Frage liegt nicht in der Manier, und hier fällt es viel schwerer, der Schriftstellerin zuzustimmen. Ja, der Politiker braucht den Künstler, darüber gibt es keinen Streit, doch er braucht ihn nicht, um seine Gedanken „auszufeilen". Er braucht ihnfals treuen und in vieler Hinsicht unersetzlichen Helfer für die Sache der Revolution, für die Sache des Sozialismus. Ja, der Künstler ist nicht immer völlig konsequent und standhaft, manchmal irrt er sich, weicht zurück. Dann muß der Politiker einen 43
beharrlichen Kampf mit ihm und um ihn führen. Dieser Kampf ist notwendig zur Überwindung der Widersprüche. Bei Schaginjan dient dieser Kampf dem Selbstzweck. Er trägt hier Züge einer gewissen „disharmonischen" Harmonie, eines sozusagen antagonistischen Gleichgewichts zwischen zwei sich gegenüberstehenden Kräften - dem Politiker und dem Künstler. Hinter den Verirrungen eines großen Künstlers kann sich eine ehrliche Haltung verbergen, doch sollte man nicht das Wesen und die Gründe dieser Verirrungen vergessen. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, daß es jene prinzipiellen Fehler Gorkis waren, die ihn und Lenin einander näher brachten. Nein, sie entfernten Gorki von Lenin, entfernten ihn zum Glück nur zeitweilig, denn Lenin wurde im Verlaufe von vielen Jahren nicht müde, gegen diese Fehler einen beharrlichen, unversöhnlichen Kampf zu führen. Gegen die Fehler Gorkis, für Gorki selbst. Die Beziehungen zwischen Lenin und Gorki als Beziehungen zwischen dem orthodoxen und doch wendigen Politiker und dem ewig opponierenden und gerade dadurch besonders wertvollen und anziehenden Künstler zu betrachten ist eine sichtliche Vereinfachung. Eine solche Betrachtungsweise entspricht erstens nicht den Tatsachen, dem historischen Hintergrund dieser Beziehungen, und zweitens widerspricht sie im Prinzip der Leninschen Konzeption der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen, seinen Anschauungen zur Kulturpolitik der Partei und des sozialistischen Staates. Die Leitung von Literatur- und Kunstprozessen umfaßt einen ungewöhnlich breiten Problemkreis, der in engem Zusammenhang mit der Kulturpolitik von Partei und Staat steht: Er beinhaltet die mannigfaltigsten Aspekte der Kulturrevolution, deren Programm unter unmittelbarer Leitung Lenins aufgestellt und realisiert worden war, die scharfen ideologischen Auseinandersetzungen im schöpferischen Milieu der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution, die Aktivität der Partei hinsichtlich der Konsolidierung aller progressiven Kräfte der künstlerischen Intelligenz, die Rolle und Bedeutung dieser oder jener Parteidokumente (Parteitagsbeschlüsse, Resolutionen und Verordnungen des Zentralkomitees der Partei usw.), die Aufgaben der Parteiorgane, der staatlichen Kultureinrichtungen, Formen und Methoden der ideologischen Erziehungsarbeit mit der künstlerischen Intelligenz, die Rolle der Literatur- und Kunstkritik und vieles andere mehr. Obwohl jeder der genannten Aspekte einer Analyse bedarf, die einzelnen Aspekte jedoch komplex miteinander verbunden sind, wollen wir, auch auf die Gefahr hin, daß Einzeldarstellungen relativ bleiben, zwei Probleme herausgreifen : zum einen das Verhältnis zu verschiedenen nichtrealistischen Strömungen, zum anderen die Effektivität, resultierend aus der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen. Die Aktualität der ersten Frage bedarf wohl kaum eines Beweises. Unseres Erachtens wird ständig der Versuch unternommen, alle möglichen Formen der Dekadenz ideologisch und ästhetisch zu rehabilitieren und sie mit dem Realismus zu verbinden. Eine breite antirealistische Front hat sich in der heutigen 44
Ästhetik herausgebildet, die von dem Gedanken einer gesetzmäßigen Synthese von Realismus und Modernismus ausgeht, von der Notwendigkeit, über avantgardistische und modernistische „Experimente" zum Realismus zu gelangen, ihn mit ihren künstlerischen Mitteln zu „bereichern". Dabei bezieht man sich erstaunlicherweise auf Lenin. Hier macht sich eine ungenaue Kenntnis der ästhetischen Prinzipien Lenins bemerkbar. Lenin zum Anhänger der dekadenten Kunst stempeln zu wollen dürfte ziemlich schwierig sein. Seine Einstellung zu avantgardistischen „Neuerungen" hat er klar und unmißverständlich fixiert. Bekannt sein dürften die häufig zitierten Worte Lenins, die von Clara Zetkin in ihren „Erinnerungen an Lenin" so formuliert wurden: „Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ,alt' ist. Warum sich vom wirklich Schönen abkehren und es als Ausgangspunkt weiterer Entwicklung ein für allemal verwerfen, nur weil es ,alt' ist? Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es das ,Neue' ist? Das ist Unsinn, nichts als Unsinn . . . Übrigens ist auch viel konventionelle Kunstheuchelei dabei im Spiele und der Respekt vor der Kunstmode im Westen. Selbstverständlich unbewußt. Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf der Höhe zeitgenössischer Kultur stehen. Ich habe den Mut, mich als .Barbar' zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarung des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen." 113 Das ist wohl deutlich genug. Die Anhänger des Modernismus versuchen, sich ein „Hintertürchen" offenzuhalten. Sie verdrehen Lenins Äußerungen so, als ob seine Äußerungen nur seine persönliche Einstellung, seinen eigenen Geschmack wiedergäben, die sich jedoch niemals auf seine Haltung als Parteiführer und Staatsmann ausgewirkt hätten. Daraus ziehen dann diese Verfechter den Schluß, Lenin sei beliebigen Pseudoneuerungen, dekadenten Strömungen in der Kunst gegenüber tolerant gewesen. In diesem Sinne gelten die getroffenen Feststellungen auch für Roger Garaudys Buch „Über das französische Modell des Sozialismus".116 Gelegentlich begegnet man auch in unserer Literaturkritik ähnlichen Behauptungen. Osaf Litowski schreibt beispielsweise in seinem Buch „So war es", daß die Leninsche Politik auf dem Gebiet der Kunst „liberal im wahrsten Sinne des Wortes" gewesen sei.117 Abram Kogan weist in seiner Polemik gegen Osaf Litowski wie auch Emil W. Kardin überzeugend nach, daß Lenin alle Erscheinungsformen des Liberalismus mißbilligte. 118 Kardin hatte sich in seinen Arbeiten bemüht nachzuweisen, daß Lenin ernsthaft bestrebt gewesen sei, bei aller Klarheit, „was die Linie der Partei" betraf, sein „Schweigen zu bestimmten Dingen nicht zu einer .Direktive' werden zu lassen" 119 . „Wie kann man ernsthaft von allem überzeugt sein, was Parteilichkeit der Kunst bedeutet, wenn man sich gleichzeitig eines strengen Urteils darüber enthält?" 120 , fragt Kogan in seiner Polemik. Für Lenin war die Kunstkritik stets 45
ein wichtiges Mittel, die Leitung der Kunst- und Literaturentwicklung durch die Partei zu realisieren, auf den Künstler ideologisch einzuwirken, ihn von der Richtigkeit der Ziele der Partei zu überzeugen. Lenin warnte vor jeder anderen Art, diese Fragen zu lösen. Nur durch Überzeugung, nur durch die Fähigkeit, den Künstler 2u interessieren, können reale Ergebnisse erzielt werden. „Behutsames Verhalten zum Talent und zum schöpferischen Suchen verbindet sich in der Leninschen Einstellung zur geistigen Arbeit mit prinzipienfester ideologisch-politischer Haltung, mit der Klarheit moralisch-ästhetischer Forderungen" 121 , heißt es in den Thesen des Z K der KPdSU „Zum 100. Geburtstag W. I. Lenins". Lenin hat sich stets für eine Orientierung an der realistischen Kunst und ihre Unterstützung eingesetzt. Obgleich er keine kategorischen Urteile in dieser Frage liebte, war er in jenen Fällen unbeugsam, wenn es um die Interessen der Kulturpolitik ging. Wenn Lenin als äußerst bescheidener Mensch auch mehrfach auf seine „Inkompetenz" in Fragen der Kunst hingewiesen hat, sollte man diese Äußerungen nicht allzu wörtlich nehmen. Seine Äußerungen bedeuten keinesfalls, daß er sich von der Leitung der Kulturpolitik zurückgehalten hat. Die Annahme, daß eine unüberwindliche Barriere zwischen den subjektiven ästhetischen Anschauungen eines Menschen und seinem praktischen Handeln bestehe, beruht entweder auf schulmäßigen Vorstellungen oder wird von anderen Voraussetzungen diktiert. An dieser Stelle soll an den Aufsatz von Anatoli Lunatscharski „Lenin und die Literaturwissenschaft" erinnert werden, in dem er schreibt: „In konkreten Fragen der Kunst und in Fragen des Geschmacks war Lenin außerordentlich bescheiden. Sein Urteil umrahmte er gewöhnlich mit den Worten: .Hierin bin ich ganz und gar nicht kompetent' oder ,das ist meine persönliche Ansicht, und es kann durchaus sein, daß ich mich irre' . . . Dabei möchte ich betonen, daß ich Lenins Geschmack große Gewichtigkeit beimesse und der Ansicht bin, daß selbst auf den Gebieten, wo er sich mit außerordentlicher Vorsicht und Zurückhaltung äußerte, er zweifellos mit seinen Werturteilen völlig recht hatte." 122 Dies ist die eine Seite der Frage, doch es gibt noch einen anderen, bei weitem wesentlicheren Aspekt. Lenins negative Einstellung gegenüber Pseudoneuerertum, gegenüber dekadenten Strömungen, war nicht nur Ausdruck seiner persönlichen Sympathien oder Antipathien, sondern vor allem Ausdruck seiner ideologisch-ästhetischen Position. „Diese Gedanken Lenins", bemerkt der bulgarische Kritiker Pentscho Dantschew und führt die bekannten Worte Lenins über die verschiedenen „Ismen" in der Kunst an, „dürfen nicht nur als Ausdruck seines persönlichen Geschmacks interpretiert werden. Sie sind eine Demonstration seines Verhaltens, hinter dem sich Motive und Grundsätze ausgesprochen prinzipieller Natur verbergen. Diese Grundprinzipien resultieren aus der revolutionär-realistischen Ästhetik Lenins." 123 Es war Lenins innerste Überzeugung, daß die dekadente Kunst nicht in der 46
Lage sei, eine positive gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, dem Volke zu dienen. Von dieser Überzeugung sind Lenins Entschlossenheit, seine Kompromißlosigkeit und manchmal auch seine Schärfe bei der Lösung einer Reihe von praktischen Aufgaben geprägt, die die modernistischen Strömungen in der jungen sowjetischen Kunst betrafen. Lenins Bescheidenheit und Zurückhaltung, seine Hinweise auf „Inkompetenz" und ähnliches haben ihn jedoch nicht daran hindern können, einen konsequenten und unversöhnlichen Kampf gegen den Futurismus zu führen. Höchst bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Notiz Lenins an Michail Pokrowski: „Schon wieder einmal bitte ich Sie um Ihre Hilfe im Kampf gegen den Futurismus", und er beklagt sich über die hohe Auflage von 5000 Exemplaren des Poems „150000000" von Majakowski: „Das muß verhindert werden! Einigen wir uns, daß wir diese Futuristen nicht öfter als zweimal im Jahr drucken und in nicht mehr als 1.500 Ex." 1 2 4 Lenin bittet Pokrowski um Unterstützung, „zuverlässige Antifuturisten" ausfindig zu machen. An Lunatscharski, der direkt oder in direkt die Futuristen unterstütze, schreibt Lenin, er „verdient Prügel wegen Futurismus" 125 . Man muß wohl nicht eigens erwähnen, daß es absurd wäre, den letztgenannten Vorschlag wörtlich zu nehmen, was einer oberflächlichen Interpretation der Leninschen Grundhaltung gleichkäme. Lenin hat diese Ansicht ja nicht in einem als Direktive dienenden Dokument vertreten und nicht in einem amtlichen Schreiben an Dritte geäußert, sondern in einem Brief, der an Lunatscharski persönlich gerichtet war. Den kameradschaftlichen scherzhaften Unterton, der im Umgang zwischen Menschen, die einander gut kennen und sich vertrauen, üblich ist, darf man nicht überhören. Trotz alledem bleiben Worte wie „Kampf", „verhindern" und sogar „Prügel" erhalten. Wie vereinbaren sich beispielsweise Vittorio Stradas Ausführungen in seinem Aufsatz „Lenins Polemik gegen die Ideologie des .Proletkults'" 126 , in dem gerade die Toleranz Lenins gegenüber dem Futurismus erwähnt wird, mit der eben beschriebenen Haltung Lenins? Ich habe mich zu diesem Problem bereits geäußert.127 Strada reagierte darauf mit einer Antwort, deren Ton und Wortlaut die Möglichkeit eines ernstzunehmenden wissenschaftlichen Disputs ausschlössen.128 Daher beschränke ich mich hier auf ein kurzes Kommentieren. Strada erkennt immerhin an, daß der Futurismus nicht nach Lenins Geschmack war. Dies nicht zu erwähnen hieße, sich offen zur Ignoranz historischer Tatsachen zu bekennen. Der Kritiker machte zwar dieses „Zugeständnis", versuchte aber dann sofort, es zu seinen Gunsten auszulegen: Lenins Mißbilligung des Futurismus sei in engem Zusammenhang mit seinem persönlichen Geschmack zu sehen und keinesfalls gleichzusetzen mit seiner Haltung als Politiker, Parteifunktionär und Staatsmann. Wollte man Strada Glauben schenken, so hat Lenin es als Hauptaufgabe betrachtet, der Kunst zu geben, was der Kunst ist, und dem Staate, 47
was des Staates ist (solange dieser existiert). Gerade deshalb trat Lenin, wie Strada meint, „nicht gegen den .Nihilismus' der Futuristen auf . . s o n d e r n gegen den Nihilismus und die kultur-utopischen Tendenzen" 129 'des Proletkultes. Welch seltsamer, völlig unbegründeter Vergleich! Mit dem Proletkult verbinde sich sozusagen nicht nur eine „nutzlose", „marktschreierische Phantasmagorie", nicht nur der Nihilismus, sondern auch allgemein eine Annäherung zwischen Kunst und Politik überhaupt, die nach Stradas Ansicht die Gefahr in sich berge, die Wirklichkeit in „schwärzeste bürokratische Finsternis" zu verwandeln. Der Futurismus tritt hierbei als Verkörperung wahrer Kunst in Erscheinung, und sein Nihilismus wäre gleichsam „mehr Nihilismus in Worten, denn in Taten" 130 . Lenins ablehnende Haltung zum Proletkult, sein Auftreten gegenüber den vulgarisierenden Konzeptionen Bogdanows, Pletnews u. a. sind allgemein bekannt. Aber eine Alternative zu diesen Konzeptionen sah Lenin bei weitem nicht im Futurismus - gegen den er, wie aus Fakten und Dokumenten zu ersehen ist, einen entschiedenen Kampf führte. Lenin suchte den Ausweg nicht in der Loslösung der Kunst von der Politik, dem Staat und der Partei, sondern im Gegenteil, in ihrer engen Verflechtung mit dem Kampf der Arbeiterklasse. Das muß ausdrücklich betont werden, weil wir die beharrlichen Versuche kennen, Berührungspunkte zwischen der marxistisch-leninistischen Ästhetik und der Ästhetik des Modernismus zu finden, und zwar mit dem Ziel, die ihrer sozialen und ideologischen Struktur nach wesensfremden Erscheinungen miteinander verknüpfen zu wollen. Versuche ähnlicher Art werden immer wieder unternommen. So geht Roger Garaudy davon aus, daß jede Kunst realistisch und auf diese oder jene Weise stets mit der Realität verbunden sei. Aus diesem Grunde lehnt er den Terminus „Dekadenz" völlig ab. In einer seiner Reden vertrat Garaudy die Ansicht, 131 daß die allgemein übliche Betrachtung der Dekadenz durch die marxistische Kritik der „Einzelfall eines viel allgemeineren Irrtums sei, der darin bestehe, daß man in der Kunst lediglich den ideologischen Überbau und die einfache Widerspiegelung der Wirklichkeit sehe, die sich völlig außerhalb der Kunst formiere". Eine derartige „mechanistische Konzeption der Widerspiegelung ist für die Kunst nicht weniger verhängnisvoll als für die Wissenschaft" 132 , behauptet Garaudy. Das Wesentliche seiner Konzeption faßt Garaudy im Nachwort zur russischen Ausgabe seines Buches „Über einen Realismus ohne Ufer" zusammen: „Was soll man machen, wenn die Werke eines Kafka, Saint-John Perse oder eines Picasso nicht diesen Kriterien genügen?" (Er meinte hier die „Kriterien des großen Realismus", dachte an Stendhal, Balzac, Tolstoi, Repin, Gorki, Majakowski u. a. ]u. B.) „Soll man jene Künstler aus dem Realismus ausklammern? Das würde bedeuten, auch aus der Kunst. Oder muß man, gerade umgekehrt, den Realismus neu definieren bzw. seine Definition erweitern? Oder kann man in diesen Werken, die für unser Jahrhundert charakteristisch sind, neue Maßstäbe für den Realismus entdecken, die es uns erlauben, an das Erbe der Vergangenheit mit 4«
diesem neuen Beitrag anzuknüpfen? Der zweite Weg scheint mir der überzeugendere zu sein." 133 Mit diesem Weg hat Garaudy vor allem das Prinzip der Widerspiegelung der Wirklichkeit als bestimmendes Merkmal realistischer Kunst verworfen. An die erste Stelle setzte er Termini völlig anderer Art, zum Beispiel das „Bewußtsein, am sich vollziehenden Prozeß der Vervollkommnung des Menschen durch den Menschen teilzuhaben", die Imitation der „Aktivität" des Realen, die Beteiligung am „Schöpfungsakt der Welt", die Suche nach einem „inneren Rhythmus" usw. Ernst Fischer sah in seiner Rezension zu Garaudys Buch darin eine „Abgrenzung" von der Widerspiegelungstheorie, was, wie er annahm, entscheidende Bedeutung für die Entwicklung und die Perspektive der Kunst habe. 134 In dieser Rezension Fischers finden wir alle Ansätze für ein zweifelhaftes Kompliment. Fischer selbst betrachtete die Dekadenz unter dem Gesichtspunkt der uns bekannten Konzeption der „Entfremdung" und des „Totalitären". Für ihn ist die Dekadenz die der gegenwärtigen Epoche einzig adäquate Form der Kunst. „Wenn das Absurde in der Kunst", schrieb Fischer in seinem Werk „Kunst und Koexistenz", „mit solcher Vehemenz um sich greift wie in diesem Zeitalter, wird dadurch kund getan, daß eine Welt aus den Fugen ist und jeder Sinn fragwürdig geworden." 135 Bei ihm werden nicht nur Widerwärtiges, Abstoßendes, Groteskes, sondern auch Deformiertes, Pathologisches zu Dingen, die im „neuen Realismus" der Darstellung wert sind. Auch in unserer Ästhetik werden über den Charakter der Dekadenz und ihre Stellung in der Kunst zeitweilig Ansichten geäußert, die mehr als strittig sind. Nach Ansicht einiger Autoren ist jene Kunst, die wir gewöhnlich als morbid, als dekadent bezeichnen, alles andere als das. Dekadente Kunst ist ihrer Meinung nach eine Kunst, die sich einen realistischen und optimistischen Anschein gibt und versucht, die verfallende kapitalistische Gesellschaftsordnung zu beschönigen, mit dem Ziel, sie wenn schon nicht zu verewigen, so doch ihre Existenz zu verlängern. „Unser Feind in der Kunst", schreibt einer der Verfechter dieser Konzeption, „ist letzten Endes nicht Kafka oder ein beliebiger anderer Autor, der ihm in der Schaffensmethode nahesteht, sondern vor allem (Hervorh. - Ju. B.) sind es die verschiedenen Formen des Pseudorealismus, des Naturalismus, die sich im Gegensatz zu .Kafka bemühen, die künstlerische Glaubwürdigkeit in den Details zu bewahren und die Lüge im allgemeinen zu bekräftigen." 136 Zweifellos, bürgerlicher Pseudorealismus, verlogener Naturalismus, „Massenkultur" sind uns in der Tat verhaßt. Warum aber stellen wir dieser pseudorealistischen Kunst nicht die wahrhaft realistische, sondern die dekadente Kunst entgegen? Wäre es nicht richtiger hervorzuheben, daß sowohl das Morbide als auch das Schönfärberische dieser Kunst zwei Seiten einer Medaille sind, zwei Hypostasen einer Erscheinung - der Krise des bourgeoisen Bewußtseins in der Kunst? In diesem Zusammenhang ist es angebracht, an Lenins Worte zu erinnern. Er be4
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merkte in einem Brief an Maxim Gorki mit bitterer Ironie, daß die „Gottsucherei sich von der Gottbildnerei... nicht mehr als ein gelber Teufel von einem blauen" 1 3 7 unterscheidet. Die oben angeführte Ansicht zur Dekadenz begründet man gewöhnlich mit Hinweisen darauf, daß die dekadente Kunst zwar nicht als „bewußt-sozialistische" in Erscheinung trete, jedoch aus dem Unvermögen des Kapitalismus, aus dem tragischen, subjektiv-hoffnungslosen Empfinden seines unumgänglichen Untergangs erwachse. Diese Besonderheit mache die objektive, potentielle, revolutionäre Stärke der Dekadenz aus. „In diesem Unvermögen", schreibt Georgi Kunizyn, „liegen die potentiellen Grundlagen für den historischen Optimismus (?), für den Übergang auf die Position des Sozialismus. So ist der dem Untergang geweihte Kapitalismus vor allem zu verstehen,"138 Dieses Argument überzeugt nicht. Das durch die tragische Ausweglosigkeit hervorgerufene Empfinden des Kapitalismus erweist sich als unfähig, eine gesunde Kunstentwicklung zu forcieren. Am ehesten verwandelt es sich in die Ablehnung menschlicher Zivilisation überhaupt, in eine allumfassende Skepsis, die den Künstler völlig aushöhlt. Der historische Optimismus gründet sich nicht auf kleinbürgerlich-individualistischem Aufbegehren, auf Mißtrauen gegenüber den revolutionären Potenzen und der Schöpferkraft der Massen. In dieser Beziehung ist Kafka eine der typischsten und kompliziertesten Gestalten. Um sein Schaffen wurden die schärfsten Diskussionen geführt. Roger Garaudy bezieht Kafka in seinem Buch „Über einen Realismus ohne Ufer" 1 3 9 nicht vorbehaltlos in die Sphäre eines „uferlosen Realismus" ein. (Dieser „Realismus" ist deshalb „uferlos", weil er in sich alles aufzunehmen imstande ist.) Garaudy betrachtet das geistige Erbe Kafkas als vorrangiges Argument, das für seine eigene Konzeption spricht. Kafkas Realismus besteht seiner Meinung nach darin, in welchem Maße er es verstanden hat, die Entfremdung der Welt darzustellen und die Atmosphäre der „Unruhe und der nahenden Katastrophe" zu versinnbildlichen. Man kommt nicht umhin, meint Garaudy, zu erkennen, daß Kafka „nicht die immanente Bewegung sah, in deren Folge sich der Übergang von einer Welt in eine andere vollzog", daß er „keine Antwort auf unsere Fragen gab (und auch nicht dazu neigte, sie'zu geben)" 140 . Aber Garaudy genügt es schon, daß Kafka „uns dazu zwingt", Fragen „zu stellen". In der Ausdruckskraft, mit der Kafka die Entfremdung einer äußerlich ganz alltäglichen, völlig geordneten, heilen Welt voller Phantasmagorie, geheimnisumwittert und dem Menschen gegenüber feindlich gesinnt, darstellte, sah Garaudy von Anbeginn an einen gewissen Impuls zur Suche nach einem Ausweg. „Wenn Kafka die Wirklichkeit beschreibt, wie sie ist, ohne Bemerkungen sekundärer Natur, das heißt, als völlig geordnete Realität, aber mit der ihr ständig innewohnenden Gefahr der Unterdrückung und Knechtschaft, mit Schrecken, Ironie und Aufbegehren im Herzen der Menschen, verkündet er gleichzeitig das Bedürfnis nach einer neuen Welt . . . Wir fühlen", schreibt der Kritiker weiter, „daß diese Welt nicht hermetisch abgeschlossen ist, daß wir aus Gewohn5°
heiten, Pflichten und Konventionen herausgerissen werden, daß man uns dazu zwingt, eine Antwort zu geben, eine Rechtfertigung für unser Handeln zu finden." 141 Im Milieu dieser allumfassenden Negation werde unwillkürlich, ganz allmählich das Gefühl des Schreckens und Hohns geboren und die Flamme des Aufbegehrens entzündet. In diesem Sinne sei die von Kafka übernommene Mission eines „Messias" zu verstehen, behauptet Garaudy. Verhält es sich wirklich so? Geht die Darstellung der Entfremdung tatsächlich fast automatisch in das bewußte Empfinden dieser Entfremdung über? Ist es wirklich wahr, daß Kafka uns „am Ende dieser undurchdringlichen Finsternis einen schwachen Hoffnungsschimmer" ahnen läßt? Die marxistische Kritik beantwortet diese Frage nicht mit aller Direktheit, aber trotzdem ablehnend. Die Bestrebungen, in der nihilistischen Darstellungsweise Kafkas unbedingt den revolutionären Umsturz sehen zu wollen und in seinen Werken die Entstehung des Dritten Reiches und den Beginn des Atomzeitalters gleichsam prophetisch zu erahnen, sind als banal zu betrachten und tragen rein spekulativen Charakter. Wie Jewgenija Knipowitsch richtig bemerkt, verbergen sich hinter „dem Gefühl der .Entfremdung', ,der Schuld' und ,der Angst', als Grundtenor der Einstellung Kafkas und seiner autobiographischen Helden zur Wirklichkeit, bestimmte soziale Gesetzmäßigkeiten" 142 . Das Wesen dieser Gesetzmäßigkeiten bleibt jedoch für Kafka ein Buch mit sieben Siegeln. Subjektiv gesehen ist Kafka ein antibürgerlicher Schriftsteller gewesen. Sowohl er als auch die ihm in Geist und Schaffensmethode nahestehenden Künstler haben es verstanden, beeindruckend das Gefühl des Verdammtseins der Ausbeutergesellschaft zum Untergang und zur Vernichtung, das Gefühl der Angst vor einem Umsturz, zum Ausdruck zu bringen. Für sie alle war dies aber gleichbedeutend mit dem Weltende, dem Untergang der menschlichen Zivilisation, des Menschengeschlechts überhaupt - daher auch diese apokalyptische Stimmung, dieser „Pessimismus, dieses Mißtrauen gegenüber den schöpferischen Möglichkeiten des Menschen, seinen Fähigkeiten, die Fesseln der Sklaverei zu sprengen und sich von der unterjochenden, Macht zu befreien" 143 . In der von dekadenter Weltempfindung geprägten Kunst sollte die „MessiasRolle" als Ausgangspunkt für historischen Optimismus gesehen werden, das heißt, man wollte in sie das hineinlegen, was man für die Wirklichkeit als wünschenswert erachtete. Andere Literaturkritiker haben sich mit diesen Details nicht näher befaßt. Georgi Kunizyn beispielsweise, der seinerzeit bei Kafka diesen erwähnten „Ursprung" für Optimismus sah, läßt dieses Thema beiseite und schreibt in seinem Buch „Politik und Literatur": „Historischer Optimismus ist bekanntlich der Optimismus der Kämpfer für den Kommunismus." 144 Damit verbindet sich für ihn mehr oder minder der Name Kafka bereits mit dem Kampf für den Kommunismus. Kommentare dieser Art entheben mich meines Erachtens der Notwendigkeit, 4'
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die Diskussion mit Kunizyn fortzusetzen. Der Charakter der vom Autor vertretenen Ideen und das Niveau seiner Argumente sprechen für sich und sind für mich Anlaß, an der Zweckmäßigkeit einer Fortsetzung dieser Diskussion ernsthaft zu zweifeln. Sich mit Formulierungsfragen und dem Widerlegen falscher Darstellungen u. ä. m. zu beschäftigen ist uninteressant und der Mühe nicht wert. Es wird keine „Replike" mehr geben. Kunizyn und ich werden jeweils den eigenen Standpunkt weiter vertreten und es dem interessierten Leser überlassen, sich mit diesen Standpunkten auseinanderzusetzen und Schlußfolgerungen zu ziehen.145 Doch wollen wir uns wieder Kafka, seinem „Realismus" und seinem „Optimismus" zuwenden. Interessante Gedanken findet man dazu in dem Buch von Horst Redeker „Abbildung und Aktion" 146 . Redeker setzt sich mit den Ansichten jener Autoren auseinander, die Kafka zu den Realisten zählen, weil sich in seinem Schaffen, auf diese oder jene Weise, die Prozesse der realen Wirklichkeit widerspiegeln, vor allem die Entfremdung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft (vergleiche Garaudy, Fischer, Enzensberger). Redeker zeigt die Unhaltbarkeit dergleichen Argumente. Allein die Tatsache, daß der charakteristische historische Platz der Persönlichkeit in der Gesellschaft Gegenstand der Literatur ist, bringt noch keine Lösung des Problems „Realismus". „Nicht die Widerspiegelung ist schon dekadent oder realistisch, diese kann realistisch sein, wie bei Thomas Mann u.a., und dekadent, wie bei Joyce, Beckett u.a." 1 4 7 , meint Redeker. „Entscheidend ist nicht einfach der Gegenstand der Widerspiegelung, entscheidend sind die Einstellung des Künstlers zu ihm, seine Position und sein Standpunkt im Hinblick auf diesen Gegenstand. Die Dekadenz, der Verfall des Realismus, beginnt dort, wo die Entfremdung aus der Position des selbst entfremdeten Individuums widergespiegelt wird", hebt Redeker hervor. „Das Erlebnis der Einsamkeit, Heimatlosigkeit, die Unmöglichkeit von Liebe und Gemeinschaft wird von vielen modernen bürgerlichen Autoren als Grunderlebnis ausgesprochen." 148 Bei Kafka findet dieses Gefühl eine extreme Zuspitzung. Er empfindet den Menschen und somit sich selbst in der ihn umgebenden Welt als Sache, Ding, Opfer. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Juri Kusmenkos Buch „Das Maß der Wahrheit" 149 , in dem er Vergleiche zieht zwischen der dekadenten Weltuntergangsstimmung Tatjanas aus Maxim Gorkis „Kleinbürger" und ähnlichen Stimmungen bei Kafka, insbesondere in seinen Tagebüchern. „Die Darstellung der Entfremdung", meint Leo Kofier, dem Horst Redeker in seinem Buch folgt, „gelingt oft sogar in einem so erstaunlichen Maße, daß einzelne Literaturtheoretiker, tief beeindruckt von der treffenden Zeichnung des entfremdeten Individuums, sich dazu verleiten lassen, dieser Kunst eine kritische und entlarvende Funktion zuzusprechen." 150 In Wahrheit verwandelt sich der Künstler mit seiner Absicht, die „gesamte Schuld der Zeit auf sich zu nehmen", nicht nur 52
in ein Opfer, sondern „hat selber teil an der Schuld der Zeit". E r gilt somit als überflüssige Kategorie, wie ich meine. Redeker führt eine überzeugende Polemik gegen Georg Lukâcs, der dahin tendierte, „im Expressionismus schlechthin die Form der ideologischen Apologie des Kapitalismus" 1 5 1 zu sehen. Eine derart vergröberte, indifferente Betrachtungsweise zieht außerordentlich ernste Rückschläge und Disproportionen des Realen in der Kunst des 20. Jahrhunderts nach sich und ist nicht fähig, die tatsächlichen Widersprüche dieser Kunst in ihren Haupttendenzen und -gesetzmäßigkeiten zu lösen. Man muß Redeker zustimmen, wenn er sagt, daß „ K a f k a die Entfremdung aus seiner eigenen entfremdeten Position" dargestellt habe und daß die Tendenz, die er dabei angestrebt habe, nicht der „Weg des Realismus sein könne" 1 5 2 . Aber nicht nur für K a f k a gilt das Gesagte. Es betrifft die Dekadenz als gesamte Erscheinung. Sie hat einen komplizierten und zweideutigen Charakter. So hat sie Übergangsformen und einander widersprechende Tendenzen und läßt sich nicht in vereinfachte Schemen pressen, die nach dem Prinzip „entweder . . . oder" aufgebaut sind. Diese Erscheinung ist dem Realismus und der revolutionären Weltanschauung fremd, das ist besonders bèi der Beurteilung des literarischen Nonkonformismus in den imperialistischen Ländern zu berücksichtigen. Unsinnig und gefährlich wäre es, auf die Vertreter modernistischer Strömungen die Verantwortung für den vom Faschismus gepredigten Kult der Stärke und der Zerstörung abwälzen zu wollen. Wir würden uns jedoch weit von der Wahrheit entfernen, wollten wir sie zu den bewußten Kämpfern gegen den Imperialismus zählen, nur auf Grund der Tatsache, daß im Faschismus die modernistische Kunst Verfolgungen ausgesetzt war. Das formallogische Prinzip des „Gegen-den-Gegnersein" könnte uns in dieser Frage ernsthaft faszinieren. Wenn Eugène Ionesco beklagt, daß in der ihn umgebenden bürgerlichen Welt jegliche Freiheit erstürbe, und José Ortega y Gasset als Gegner des klerikal-faschistischen Spaniens auftritt, so kann das an sich noch nicht als Beweis für revolutionäres Wirken gelten. Redeker hat recht, daß ein charakteristischer Zug jeglichen Nonkonformismus sei und dies gilt in vollem Maße auch für die Dekadenz - , daß er „sich gegen jedes Engagement, jede Bindung, gegen den Staat überhaupt, ob bürgerlich oder sozialistisch, richtet" 153 . Selbst dann, wenn ein Vertreter des Nonkonformismus von subjektiven antibürgerlichen Vorstellungen ausgeht, ist das nicht gleichbedeutend damit, daß er tatsächlich an den Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft rüttelt und ihre „Beschützer" auch nur im geringsten Furcht empfinden. „Der Verzicht auf bewußt analytische Möglichkeiten des künstlerischen Abbilds", kommentiert Alexander Kukarkin, „bedeutet im allgemeinen viel mehr als bloße kritische Textuntermalung, selbst wenn solche in dem einen oder anderen Falle gegeben ist, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, daß eine ähnliche .Kritik', sozial abstrahiert, meistens vom dekadenten Gefühl der Sinnlosigkeit jeglicher Existenz und der Unfaßbarkeit der realen Welt durchdrungen ist." 1 5 4 5}
Es ist auch möglich, daß der literarische Nonkonformismus sich in eine antirevolutionäre Strömung verwandelt und sich unverhohlen zum Bewahrer der bürgerlichen Ordnung bekennt. Als deutlicher Beweis dafür kann ein Interview mit Eugène Ionesco gelten, das das französische Wochenblatt „Express" im Oktober 1970 veröffentlichte. Die schon seit langem banal wirkenden und äußerst nebulosen Ansichten über die „Unbehaglichkeit der Existenz" und die „Loslösung des Menschen von seinen transzendenten Wurzeln", die nicht weniger banalen Angriffe gegen den Realismus („die Wirklichkeit ist nicht realistisch"), gegen den Menschen („für diese lächerliche Kreatur ist kein Platz im Universum"), gegen die Gesellschaft („eine gute Gesellschaft gibt es nicht") usw. vereinbaren sich bei Ionesco ausgezeichnet mit einer ausgesprochen mittelmäßigen Apologie der Grundlagen bürgerlicher Rechtsordnung und mit dem Haß auf sämtliche revolutionären Kräfte der Gesellschaft. „Wir müssen uns vom Mythos der Revolution befreien; Revolution, das ist nur eine ,fixe Idee', wir verlieren dabei nur unnütz Zeit", lauten seine Sprüche. Nicht die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, sondern die Vervollkommnung der Gesellschaft im Geiste der technokratischen Ideen eines Raymond Aron 1 5 5 , das ist Ionescos Ausweg. E r übernimmt dabei die Rolle des Kämpfers gegen „Starrköpfigkeit" und „Dummheit". Eine traurige, aber im Grunde genommen nicht unerwartete Entwicklung. „Für uns ist es wichtig, jeden Akt von Widerstand gegen die bürgerliche Welt und jede Erscheinung der Kunst, die deren Gebrechen aufzeigt, zu stimulieren und zu nutzen", schreibt der bulgarische Kritiker Tschawadar Dobrew in seinem Aufsatz „Revolution, Klassenbewußtsein und Parteilichkeit in der Literatur" 1 5 0 . Doch diese an sich keine Einwände zulassende Hypothese wird vom Autor dieses Artikels so interpretiert, daß zu „unseren gegenwärtigen oder potentiellen Verbündeten" auch der Modernismus mit sämtlichen Erscheinungsformen gezählt werden sollte. Hauptkriterium ist das Moment der „Entlarvung", die Orientiertheit des Werks „gegen jede Art von Regreßerscheinung unabhängig davon, ob sie von der internationalen Reaktion oder von kleinbürgerlichen Elementen vorbereitet worden ist" 1 5 7 . Die sich an der Diskussion dieses Problems in den bulgarischen Zeitschriften „Narodna kultura" und „Rabotnitschesko delo" beteiligenden Kritiker (unter ihnen A . Atanassow, B. Zenkow) mußten feststellen, wie unhaltbar und ungenau die Kriterien der „Verbündetenauswahl" waren. Die Ansichten Dobrews sind schon deshalb anfechtbar, weil er in seinem Bestreben, eine „Erweiterung der Zone des Realismus" 1 5 8 mittels der modernistischen Kunst zu erreichen, diese Kunst als antibürgerliche Erscheinung betrachtet. In diesem Zusammenhang hat Atanassow in seinem Aufsatz „Gedanken über die Entwicklung zum Modernismus" richtig bemerkt, daß nicht jede Kritik des Modernismus eine dogmatische Kritik sei, und bestand auf der Notwendigkeit zu unterscheiden zwischen: der Betrachtung des Modernismus durch Dogmatiker und Sektierer, für die der Modernismus (eingeschlossen das Schaffen ehrlicher und talentierter Künstler) ent54
weder Zersetzung, Antihumanismus oder einfach Dummheit sei - und der Betrachtung durch den objektivistischen Eklektiker, der formal das Reaktionäre des M o dernismus erkenne, aber bestrebt sei, ihn so präzise zu erfassen, daß er im wesentlichen aufhört, ihn zu kritisieren, sowie der Leninschen Betrachtungsweise. Z u r Diskussion über die „verborgene" revolutionäre Orientierung des Modernismus äußerte sich W . Christow in seinem Artikel „Modernismus. Seine Widersprüche und unsere Ansichten". Christow ist der Auffassung, daß alles „Revolutionäre", das die sozialen Bedürfnisse der Arbeiterklasse nicht reflektiert und die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung nicht berücksichtigt, nicht nur mit Mißerfolgten rechnen müsse, sondern daß es sich vor allem gegen die wahren Triebkräfte des Revolutionären in der Gesellschaft richten werde. Zweifellos müsse der Modernismus, der eine anarchistische, aufrührerische Bewegung auf kleinbürgerlicher Ebene ist, zu dieser Art „revolutionärer Strömung" gerechnet werden. Zu dieser Diskussion über Realismus und Modernismus hat sich auch Georgi Dshagarow auf der Zweiten nationalen Konferenz des Bulgarischen Schriftstellerverbandes (1970) geäußert. E r betont, daß nicht jede Kritik am Kapitalismus bedeute, daß man es mit einem Verbündeten zu tun habe. Dshagarow sieht prinzipielle Unterschiede zwischen Realisten und Modernisten: „Realisten kritisieren die bürgerliche Gesellschaft unter dem Aspekt der Hoffnung und Zuversicht. Modernisten wie Samuel Beckett und einige andere Nobelpreisträger kritisieren sie unter dem Gesichtspunkt des Mißtrauens dem Menschen gegenüber und ihres Zweifels am Fortschritt. Sie behaupten, das Böse sei in der menschlichen Natur selbst begründet. E s sei daher absurd, gegen die sozialen Wurzeln, gegen die Vernichtung des Bösen zu kämpfen, einen Ausweg aus dieser Situation zu suchen, eine revolutionäre Umwälzung herbeizuführen." 1 5 9 D e n scheinbar „revolutionären" Charakter der Dekadenz hat die marxistische Kritik schon sehr früh entlarvt. Ich beziehe mich hier auf einen Aufsatz von Wazlaw Worowski „Über das Bürgerliche der Modernisten" (1908), der eine erstaunlich präzise Charakteristik der Dekadenz enthält und ihren falschen Anspruch entlarvt, als „Neuerer", „ K ä m p f e r für die Zukunft", als „Pioniere der .Freiheit'", als „Revolutionäre" zu gelten. D i e ihrem Wesen nach kleinbürgerliche, deklassierte Intelligenz „haßt die profitsüchtige und besitzende Bourgeoisie. In ihrem Haß aber liebäugelt sie mit dem Proletariat und flößt ihm Furcht vor der Bourgeoisie ein. D i e Bestrebungen dieses Proletariats sind ihr jedoch völlig fremd. Sie glaubt nicht an das Proletariat und ist ihm im Gegenteil - zwar nicht immer völlig bewußt - feindlich gesinnt. Ihre ,Idee' ist nicht die Zerstörung der bürgerlichen Welt und ihre revolutionäre Umgestaltung, sondern sie drückt nur das Streben aus, sich ein gemütliches Plätzchen in der Gesellschaft zu sichern." „Nein, meine Herren Modernisten", schlußfolgert Worowski entschieden, „Ihre neueste Literatur ist die überreife Frucht der bürgerlichen Gesellschaft, eine bereits in Fäulnis übergehende Frucht, nur zu Ihrer eigenen Befriedigung geboren." 1 6 0 55
Den Charakter der sozialen Funktion des „Revolutionären" in der dekadenten Kunst der modernen bürgerlichen Gesellschaft untersucht Michail Lifschitz in dem Aufsatz „Modernismus als Erscheinung der bürgerlichen I d e o l o g i e " 1 6 1 . Außerordentlich bedeutsam scheint Lifschitz' Gedanke zu sein, daß das Pseudorevolutionäre der modernistischen Kunst, ihre feindliche Gesinnung gegen alles Gesunde, Realistische, gegen den Geschmack und die Bestrebungen der Volksmassen, den konservativsten, reaktionärsten Kräften die stärksten Trümpfe in die Hand gibt. Sie spekulieren außergewöhnlich geschickt auf die antidekadente Stimmung in der Öffentlichkeit und lassen nichts unversucht, um die Fahne der kommunistischen Revolution einem Haufen negativistischer modernistischer Aufrührer in die H a n d zu geben. D a s „Antibourgeoise" der dekadenten Interpretation schlägt in das Antinationale um. Unschwer läßt sich erkennen, warum die reaktionären K r ä f t e in finanzieller Hinsicht gern alle möglichen dekadenten Strömungen unterstützen: Durch einen pseudorevolutionären Anreiz inspiriert, läßt sich der K a m p f noch müheloser gegen wahrhaft revolutionäre Grundlagen führen, lassen sich Durchschnittsleser und Durchschnittshörer noch leichter beeinflussen. Man kann der Auffassung sein, daß diese Probleme und Dispute rein wissenschaftlichen Charakter tragen und in keinem direkten Verhältnis zur Politik und Ideologie, zu Fragen der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen und besonders zur praktischen Seite der Kulturpolitik stehen. A b e r das ist nicht richtig. Einen ernsten Rückschlag und eine nicht zu vertretende kompromißlerische H a l tung bedeutet es, wenn unter einigen marxistischen Kritikern die Vorstellung kursiert, daß die dekadente, die avantgardistische Kunst äußerst interessant sei, weil sie, die Krise der bürgerlichen Gesellschaft verkörpernd, der Erkenntnis bestimmter Seiten der Wirklichkeit und - indirekt - der revolutionären Umgestaltung diene, daß die Avantgarde - trotz all ihrer Extreme - schließlich das Arsenal der künstlerischen Mittel bereichert habe. Dazu ein Beispiel: D a s charakteristische Merkmal der in den 6oer Jahren in Italien wirkenden neoavantgardistischen „ G r u p p e 6 3 " war die „dreifache Verneinung". D a s bedeutete Verzicht auf die kommunikative Funktion der Kunst, Verzicht auf das Prinzip des künstlerischen Engagements - und als wichtigstes - , Verzicht auf Ideologie. D i e Entideologisierung wurde vor allem zum Ausgangspunkt von Konzeptionen des Theoretikers und Neoavantgardisten Angelo Guglielmi, dessen Monographie „Avantgarde und Experimentalismus" 1964 in Milano erschien. E r vertritt die Ansicht, daß die kritische Methodologie der Avantgarde nur entstehen konnte und nur deshalb existiere, weil jede Mittlerrolle der Ideologie ausgeschlossen wurde. E r geht aus von der „Unbeweisbarkeit der Hypothese, nach der zwischen Literatur und Politik wechselseitige Beziehungen begehen", und verneint entschieden jede Verbindung zwischen dem künstlerischen und dem ideologischen Moment. Von Seiten der marxistischen Kritiker Italiens wurden zahllose V o r w ü r f e an die Adresse der Neoavantgardisten, vor allem im Zusammenhang mit dem Prinzip
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der Entideologisierung der Kunst gerichtet. In einer Reihe von Reden vor der Öffentlichkeit ließ sich eine gewisse Zwiespältigkeit und Inkonsequenz erkennen. So läßt der in der Zeitschrift „Menabo" veröffentlichte Artikel Mario Spinellas „Zur soziologischen Hypothese der Literatur" neben einer Polemik auch seinen Standpunkt erkennen, um jeden Preis in den theoretischen Traktaten der Neoavantgarde und ihrer künstlerischen Praxis einen gewissen rationalen Kern zu entdecken. Besonders hartnäckig wird dieses Moment unter dem Aspekt betont, daß die Neoavantgarde eine Position der „Bekämpfung" des Neokapitalismus bezieht und dabei so etwas wie das „unglückliche Bewußtsein" darstellt. Gerade damit erklärt Spinella die Faszination, die die Neoavantgarde „zur Darstellung des Chaotischen, des Biologischen, des Unterbewußten, zur Darstellung der Welt des Traumes" drängt. Darin sieht er den Sinn der für die Neoavantgardisten typischen Verstümmelung der Sprache. Nach Ansicht der Kritik dürfte das wohl kaum der einzig mögliche Weg zur Darstellung des Chaotischen, des Tragischen und Ungewöhnlichen in der unmenschlichen, spätkapitalistischen Gesellschaft sein. Das Experimentieren mit der Sprache, ihre bewußte Entstellung wird von der Kritik in gewissem Sinne als revolutionäres Element, in jedem Falle aber als Form des Protestes, gewertet. Darüber hinaus verleihen die Neoavantgardisten ihren sprachlichen Experimenten einen vollkommen anderen Sinn: Für sie sind die Experimente vor allem ein Mittel, sich gegen Ideologie abzuschirmen, um sich rein linguistischen Betrachtungen widmen zu können. Die Poesie soll sich der Sprache darbieten, ohne jegliche Ideologie, meint Angelo Guglielmi. 162 Auf diese Tendenzen bezog sich der bekannte italienische Künstler und Kommunist Renato Guttuso in seiner scharfen Kritik an Rossana Rossandra, die seinerzeit die Kultursektion des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Italiens leitete (später wurde sie aus der Partei wegen Zersetzungstätigkeit ausgeschlossen). „Der Verzicht auf eine konkrete ideologische Richtlinie", betonte Guttuso, „führt dazu, daß wir uns als fünftes Rad am Wagen, und zwar nicht der revolutionären Kultur, sondern der .Avantgarde' betrachten müssen, mit all ihren unterschiedlichen ideologischen Standpunkten, einschließlich jener, die aus dem Verzicht auf die Ideologie insgesamt resultieren." 163 Nicht alle Neoavantgardisten stehen hinter der von Guglielmi verkündeten Entideologisierung. Der Schriftsteller und Gelehrte Edoardo Sanguineti, einer der Führer der Neoavantgarde, aktiv im Verlagswesen tätig, spricht sich in seiner Polemik gegen Guglielmi dafür aus, daß gerade die „Ideologisierung der Avantgarde" von unmittelbarer politischer Bedeutung für die Kultur sei. Die Verstümmelung der Sprache wird von Sanguineti als Methode der Wirklichkeitsinterpretation betrachtet. Schließlich ist aber doch nur eine genaue sprachliche Formulierung in der Lage, Aufmerksamkeit hervorzurufen. Aber immerhin erkennt Sanguineti den Zusammenhang zwischen Kunst, Ideologie und Politik an. Ein gewichtigeres Argument 57
zugunsten des revolutionären Charakters der Avantgarde, ihrer „Annäherung" an den Marxismus, ist wohl vonnöten. Um so mehr, als sich Sanguineti selbst als Marxist bezeichnet und einst bei Parlamentswahlen sogar von der Kommunistischen Partei Italiens nominiert worden war. Doch hat es mit dem „Marxismus" und dem „Revolutionären" bei Sanguineti eine besondere Bewandnis. Ein im März 1968 veröffentlichtes Interview mit Sanguineti in der Zeitschrift „Contemporaneo" enthielt neben verschwommenen Ansichten über die „dialektische Identität" von Politik und Kultur auch eine Erklärung über seine Neigung zum Maoismus. „Ich betone mit aller Entschiedenheit", antwortet Sanguineti auf die vorsichtige Frage eines Korrespondenten nach seinen Sympathien für die „chinesische Haltung", „daß ich den Maoismus nach wie vor für die höchste Entwicklungsstufe betrachte, die bisher von der marxistischen Ideologie erreicht wurde." Seiner Ansicht nach sei es an der Zeit, „die Möglichkeiten des Westens nicht nur vom Standpunkt des europäischen Marxismus und Leninismus zu betrachten, sondern von der Position der künftigen Entwicklung in Asien" 1 6 4 . Eine unerwartete Wendung! Doch ganz so unerwartet ist sie auch wieder nicht. Wir haben hier die gesetzmäßige Annäherung zweier Extreme vor uns, gesetzmäßig deshalb, weil sowohl der Avantgardismus voller Raffinement als auch die extrem utilitaristische, vulgäre Einstellung zur Kunst trotz offensichtlicher Widersprüche nur unterschiedliche Erscheinungsformen kleinbürgerlicher Ideologie darstellen. Sollte man nicht in der Belebung kleinbürgerlicher Elemente eine der Ursachen für die Verbreitung des Maoismus in einer ganzen Reihe kapitalistischer Länder sehen? Doch dies ist ein besonderes Problem. 1 ® Die erwähnten Fakten dienen als Grundlage für unsere Schlußfolgerungen: Die realen Bedingungen des ideologischen Kampfes und die Entwicklung der Kunst widerlegen alle Versuche einer Annäherung, einer Vereinigung des Marxismus mit ihm fremden ideologischen Tendenzen, einer Vermischung von marxistisch-leninistischer Ästhetik mit der Ästhetik der Dekadenz; Versuche dieser Art widersprechen dem Leninismus, seiner Methodologie, den Leninschen Prinzipien der Leitung des geistigen Lebens der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang soll eine charakteristische Episode aus der Geschichte des ideologischen Kampfes angeführt werden. Im Jahre 1922 wurde in der Zeitschrift „Krasnaja now" der Aufsatz von Wladimir Basarow „Oswald Spengler und seine Kritiker" veröffentlicht. 166 Das Besondere dieses Aufsatzes, dessen Autor Lenin bereits in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" als einen halben Berkeley und einen halben Hume machistischer Prägung bezeichnete, 16 ' bestand darin, daß Spengler hier offensichtlich als Verbündeter des Marxismus mit seiner Kritik an der bürgerlichen Zivilisation hingestellt wurde. Basarow überging die Fehler der Spenglerschen Konzeption nicht völlig. Die Tatsache jedoch, daß in dieser Konzeption die Widerspiegelung des Zerfalls der bürgerlichen Kultur ihren Niederschlag gefunden hat, ließ sie ihm als Beweis des
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objektiven Werts dieser Konzeption, als Grundlage für die Suche nach Berührungspunkten zwischen dieser Kultur und dem Marxismus dienen. „Es schien", schrieb Basarow, „als sollte die marxistische Kritik . . . nicht ohne gewisse Befriedigung die Annäherung des niedergehenden bürgerlichen Gedankenguts an diese historische, bisher nur vom revolutionären Sozialismus übertroffene Konzeption, feststellen." 168 Muß man verwundert sein, warum die Marxisten dies nicht taten, sondern in bezug auf Spengler eine äußerst kritische Position bezogen? Eine direkte Antwort Lenins auf Basarows Aufsatz besitzen wir - soweit mir bekannt ist - nicht. Es gibt jedoch indirekte Beweise dafür, daß diese Veröffentlichung von Lenin negativ aufgenommen wurde. Näheres ist einem Brief des Herausgebers der Zeitschrift „Krasnaja now", Alexander Woronski, zu entnehmen, der Lenin die Zeitschrift mit Basarows Artikel zusandte. Die Tatsache eines gesonderten Zeitschriftenversands mit Erläuterungen des Herausgebers besagt einiges: Woronski gibt zu, daß im Artikel Basarows, wie auch im Artikel N. Suchanows, „Im Juni des Jahres 1917", „bei weitem nicht alles für uns spricht", aber dieser „Kompromiß" aus der Notwendigkeit heraus zu verstehen sei, einen breiten Leserkreis zu gewinnen. 169 In seiner Rede anläßlich der Jubiläumsfeier für die Zeitschrift „Krasnaja now" im Jahre 1927 erinnerte Woronski daran, daß Lenin ihn seinerzeit für die Veröffentlichung der Erinnerungen Suchanows und des Aufsatzes von Basarow zurechtwies mit der Begründung, daß seiner Meinung nach Spengler zu uninteressant sei und es sich für Sowjetrußland nicht lohne, sich mit ihm näher zu befassen. 170 Der Aufsatz Basarows und die Argumentation Woronskis, die als Rechtfertigung für diese Veröffentlichung diente, sowie die Reaktion Lenins darauf sind in methodologischer Hinsicht außerordentlich bedeutsam. Oswald Spengler hatte mit großer Ausdruckskraft die Krise der bürgerlichen Zivilisation wiedergegeben. Die Vorahnung vom Untergang des „Faustischen Menschen", vom Niedergang der Wissenschaft und der Kultur erreicht bei ihm eine extreme Zuspitzung. 171 Aber jene, die auf dieser Grundlage den Versuch unternahmen, den Autor des Buches „Untergang des Abendlandes" dem Marxismus nahezubringen, verschlossen die Augen vor einer anderen Tatsache. Trotz der apokalyptischen Stimmung, trotz des Gefühls der Negation bei Spengler, wird bei ihm immer stärker die Hoffnung auf Rettung der westlichen Zivilisation spürbar. Diese Rettung sieht er im sogenannten echten Sozialismus, wobei ihm eine Militärdiktatur vorschwebte. „Pessimismus?" nannte Spengler eine Broschüre, in der er gegen jene polemisiert, die ihm Pessimismus und Ausweglosigkeit vorwarfen. Dieses Werk ist durchdrungen von kaltem, berechnendem preußischem „Optimismus", Geschäftsinteressen und Praktizismus. Nach der Kunst von gestern erwartet Spengler eine Kunst „aus Beton und Stahl", eine Dichtung, geschaffen von „harten Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick". Wie metallen klingen doch die Worte desjenigen, der das Gestern noch beklagte und entlarvte und der sein Werk mit 59
den Worten schloß: „Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar." 172 Welche Lehre kann man aus diesem Exkurs in unsere unmittelbare Vergangenheit unter dem Aspekt unserer heutigen Diskussionen mit jenen ziehen, die für eine Synthese des sozialistischen Realismus und der Dekadenz eintreten und die sich beeilen, eine scheinbare Annäherung von moderner „niedergehender" bürgerlicher Kultur an die sozialistische zu begrüßen? Man muß hier anmerken, daß Spengler und Kafka zwei völlig unterschiedliche Charaktere waren. Ich möchte noch ergänzen, daß Kafka wenig gemein hat sagen wir - mit Nikolai Danilewski, Konstantin Leontjew oder Nikolai Berdjajew. Die beiden letzteren nennt man auch, eine gewisse Banalisierung riskierend. Apologeten des Kapitalismus. Doch sollte man auch eingestehen, daß in vieler Hinsicht solche Werke wie „Rußland und Europa" von Danilewski 173 , „Der Osten, Rußland und das Slawentum" von Leontjew 174 , Berdjajews „Sub specie aeternitatis" 1 ' 5 von echter, beeindruckender Kritik an der bürgerlichen Zivilisation, dem bürgerlichen Bewußtsein, der bürgerlichen Lebensart durchdrungen sind. Keinesfalls denke ich aber, daß man jene Autoren zu unseren Verbündeten zählen könne. Gerade weil Kafka, Spengler und Leontjew so völlig verschiedene Charaktere sind, ist die Unhaltbarkeit des Versuchs offensichtlich, auf sie ein allgemeines Kriterium wie zum Beispiel „Kritik am Kapitalismus" anzuwenden. In dem genannten Werk „Politik und Literatur" von Georgi Kunizyn wurde gerade dieses Kriterium als eines der wichtigsten hervorgehoben. „Nein", schreibt der Autor, „nicht nur das Böse auf der Welt kritisierte Kafka, sondern auch den Kapitalismus. Aber, wer den Kapitalismus und alles das kritisiert, was mit dem Sozialismus unvereinbar ist - selbst wenn er den Sozialismus nicht kennt, ihn nicht versteht ist nicht unser Feind, nicht in jedem Falle unser Hauptfeind." 176 Diese Behauptung ist besonders in methodologischer Hinsicht anfechtbar. Kafka kennt den Sozialismus, aber er versteht ihn nicht. Spengler interpretiert die Idee des Sozialismus auf seine Weise im „eisernen preußischen Geiste", Leontjew dagegen weist den Sozialismus ebenso wie den Kapitalismus von der Hand. Das alles würde bedeuten, daß diese „Nuancen" für uns keine größere Bedeutung haben, sofern nur eine „kritische Einstellung" zum Kapitalismus vorhanden ist und man den abstrakten, spekulativen, ihrem Wesen nach ahistorischen Vorstellungen verhaftet bleibt. Wer sich ein Urteil über diese Erscheinungen von der Position des Historismus aus bilden will, kann sich nicht auf die Feststellung einer Kritik als solcher beschränken, sondern er muß zu erklären versuchen, von wem, unter welcher Sicht, in wessen Namen und mit welchen Mitteln diese Kritik geübt wird. Daher ist Kunizyns Frage, ob Kafka für uns ein Feind oder ein Freund sei, scholastisch, erkünstelt. Die Hoffnung, eine Antwort mittels des universellen Kriteriums „Kritik" zu finden, erweist sich für mich als eine Illusion. Gerade diese Frage trägt streng rhetorischen Charakter. Weder ich noch Boris Sutschkow haben die Fragestellung bezüglich Kafka so formuliert. 60
Jeder unvoreingenommene Leser muß erkennen, daß Sutschkow sich in seiner Arbeit „Die Welt K a f k a s " nicht darum kümmert, in welche Rubriken Kunizyns man den Autor des Werkes „Der Prozeß" einordnen könnte. Der Wissenschaftler war bestrebt, das Wesen des angespannt-krankhaften Schaffens Kafkas, die Dialektik seiner Widersprüche und ihre Ursachen zu verstehen. Sutschkow zählt K a f k a zu jenen Künstlern, die mit der realistischen Tradition gebrochen haben, betrachtet ihn jedoch deshalb nicht als einen „Feind", aber auch nicht ohne weiteres als „Verbündeten". „Eine echte Entwicklung und Bereicherung der Kunst kann niemals durch den Verzicht des Künstlers auf die Erkenntnis der Welt oder die Mißachtung der Erkenntnisfähigkeit des künstlerischen Denkens erreicht werden. Das dramatische Schicksal Kafkas bestätigt nochmals die Richtigkeit dieser einfachen Wahrheit, die jedoch den Charakter eines ästhetischen Gesetzes trägt" 1 7 7 , schreibt Sutschkow und schließt mit diesem Gedanken seine Arbeit. Das ist unsere Einstellung zu den modernistischen, unrealistischen Strömungen unterschiedlichster Art in der Kunst.
Als zweiten Aspekt des Problems der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen nannten wir den Terminus Effektivität. Es ist wohl nicht notwendig nachzuweisen, daß jede zielgerichtete Einflußnahme auf einen Prozeß danach strebt, reale Ergebnisse zu erzielen. Der Terminus Effektivität ist untrennbar mit der Idee selbst, mit dem Prinzip der Einflußnahme, des Einwirkens, der Organisation verbunden. Andernfalls würde das Prinzip jeglichen realen Inhalt verlieren. Ist der Terminus Effektivität auf das Kunstschaffen anwendbar? Kann man diesen Terminus überhaupt dort anwenden, wo der Spontaneität, der Begeisterung, der Intuition, der Phantasie die gewichtigere Bedeutung zukommt? Die Kategorie Effektivität ist die logische Folge unserer Auffassung von der Gesetzmäßigkeit der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen. Wenn wir eine zielgerichtete Einflußnahme auf die Entwicklung der Kunst und Literatur befürworten, müssen wir uns auch mit den Resultaten befassen. Erinnern wir uns: Als Gorki 1934 in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller 1934 vom Sieg der Sowjetmacht sprach, 178 war dies damals nicht gleichbedeutend damit, die Effektivität dieses Kongresses in einem wahrhaft historischen Umschwung in vielerlei Hinsicht, in der Entwicklung unserer Literatur, im Geistesleben unseres Landes zu sehen? Gorki sprach in seiner Rede davon, daß einige Schriftsteller nicht verstanden hätten, warum dieser Schriftstellerkongreß überhaupt einberufen worden sei. Ihnen machte er klar, daß es nicht das einzige Ziel sei, eine „professionelle Sicherstellung der Literaturschaffenden" zu erzielen, denn der „Verband [muß] nicht nur die beruflichen Interessen der Schriftsteller, sondern die Interessen der gesamten Literatur vertreten". Für Gorki lagen die praktischen Ergebnisse des Kongresses klar auf der Hand: E r sah sie vor allem im Zusammenschluß der sowjetischen Schrift61
steller sowie darin, daß die noch gestern als parteilos und schwankend geltenden Schriftsteller „nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu .sowjetischen' Schriftstellern werden, da sie den allgemeinen und den allgemein-menschlichen Sinn der heroischen Arbeit der Partei und der Arbeiter-und-Bauern-Macht, der Sowjetmacht, immer besser begreifen." 179 Der fruchtbare Einfluß des Schriftstellerkongresses auf die Entwicklung der Sowjetliteratur war für Gorki bereits damals eine unbestreitbare Tatsache. Wir können den Ersten Schriftstellerkongreß, die gesamte vorhergehende Arbeit, insbesondere den bekannten Beschluß des Z K der WKP (B) vom 23. April 1932 „Über die Umbildung der literarisch-künstlerischen Organisationen", sowie die Tätigkeit des von Gorki geleiteten Organisationsbüros, dem die Leitung der literarischen Gesellschaften vor dem Kongreß übertragen worden war, als praktische Realisierung der Leninschen Direktiven über die Notwendigkeit einer planmäßigen Leitung der Kunst- und Literaturprozesse betrachten. Soll die Effektivität der Leitung der Kunst- und Literaturprozesse analysiert werden, darf das zutiefst Spezifische dieser Sphäre, auf das Lenin immer wieder hingewiesen hat, nicht unberücksichtigt bleiben. Hier sind quantitative Kennziffern, rein utilitaristische Vorstellungen über Fruchtbarkeit und Nützlichkeit dieser oder jener Maßnahmen am allerwenigsten geeignet. Es wäre zu erwarten, daß eine Resolution (selbst die richtigste) oder eine Maßnahme (selbst die gelungenste) selbstverständlich schnell Früchte tragen würde in Form neuer Bücher, Schauspiele, Filme usw. - das bedeutete aber, von der Realität weit entfernt zu sein. Hast, jegliche Anspannung, Beschleunigung, Ungeduld widerstreben der Kulturpolitik in hohem Maße, welchen Bereich es auch immer betreffen mag, und sie widersprechen entschieden den Leninschen Prinzipien der Kulturpolitik. Ist dies gleichbedeutend damit, daß es keine objektiven Kriterien für die Einschätzung der Effektivität der Leitung von Literatur- und Kunstprozessen gibt? Nein! Diese Kriterien treten nicht offen zutage, sondern tragen qualitativen Charakter. Sie lassen sich nicht auf Kennziffern rein äußerlicher Natur reduzieren. Die Leitung der Kunst- und Literaturprozesse schließt die Fähigkeit ein, diese Tatsache zu erkennen, vorauszublicken, nicht von vergänglichen, sondern von bestimmenden Faktoren auszugehen. Ihre Stärke ist die Fähigkeit, bei der Einschätzung des „Nutzens", den ein Künstler erbringt, nicht nur von seinen heutigen Aktivitäten auszugehen, sondern auch über seine potentiellen Möglichkeiten ein Urteil abzugeben, und falls nötig, einem anderen Künstler den Vorrang zu gewähren. Ein Beispiel aus Lenins Arbeitspraxis: Wladimir Iljitsch Lenin war sehr daran interessiert, Gorki in die Arbeit der Zeitschrift „Proletari" mit einzubeziehen. Obwohl dies der politische Kampf dringend erforderlich machte, schrieb Lenin an Gorki: „Wenn Ihnen kleine, kurze, periodisch (wöchentlich, zweiwöchentlich) erscheinende Artikel nicht liegen, wenn Sie sich bei einer größeren Arbeit wohler fühlen, dann werde ich natürlich nicht raten, sie zu unterbrechen. Sie wird mehr Nutzen bringen!" 180 Einige Tage später äußerte Lenin in einem Brief an Lunatscharski: „Wenn er 62
mit einer ernsten, großen Arbeit ausgefüllt ist und wenn es dieser Arbeit schadet, wegen Kleinigkeiten, wegen einer Zeitung, wegen publizistischer Arbeiten unterbrochen zu werden - dann wäre es eine Torheit und ein Verbrechen, ihn zu stören und abzulenken! Das begreife und fühle ich sehr gut." 181 Weder umfangreiche Aufstellungen über herausgegebene Werke noch über künstlerisch-organisatorische Maßnahmen (Versammlungen, Diskussionen, öffentliche Vorträge, Reisen und anderes), noch anderes Zahlenmaterial können als ausreichendes Beweismaterial dafür angesehen werden, wie effektiv die Leitung der Kunst- und Literaturprozesse ist. Diese Momente gewinnen erst im Zusammenhang mit anderen Aspekten an Bedeutung, dazu gehören u. a.: die Schaffung einer gesunden, schöpferischen Atmosphäre im künstlerischen Milieu, die Heranbildung und Entwicklung von Talenten, die Orientierung des Künstlers auf die Lösung der wichtigsten, der lebensnotwendigen Aufgaben der Gegenwart, die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein sowie die ideologische Unversöhnlichkeit usw.182 Alle diese Faktoren lassen sich schlecht abrechnen in formaler Hinsicht, es sind aber völlig reale, objektive Kriterien, ohne deren Beachtung unsere Vorstellungen über die Effektivität einseitig und allzu banal blieben.
„Das Wichtigste im Leninschen Herangehen an die gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse", steht in den Thesen des Zentralkomitees der KPdSU „Zum 100. Geburtstag W. I. Lenins", „ist die organische Einheit von wissenschaftlicher Objektivität und prinzipieller Beurteilung dieser Erscheinungen vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus." 183 Auf dieser methodologischen Grundlage fußt auch der Leninsche Arbeitsstil im Umgang mit der schöpferischen Intelligenz, fußt die Leninsche Konzeption von der Leitung der Kunst- und Literaturprozesse. Keine zufälligen, subjektiven Momente konnten Lenins Standpunkt im Hinblick auf diese Frage erschüttern. Er wurde bestimmt von den Interessen des Volkes, der Partei, des Staates und von den Interessen der Revolution. Lenin besaß ein wohldurchdachtes System von Prinzipien, Formen, Methoden, Einschätzungen und Werturteilen, in dem alles - von den allgemeinsten Arbeiten bis hin zu detaillierten Aussagen, Bemerkungen, Briefen, Aufzeichnungen - vom revolutionären Geist, von seinen Grundgedanken über Kunst und Literatur als Teil der gemeinsamen Sache von Volk und Partei durchdrungen ist.
Alpha und Omega
Die Volksverbundenheit ist das Alpha und Omega der Ästhetik unserer Zeit
Wissarion G. Belinski^
Belinski schrieb 1841 in seiner unvollendeten Arbeit „Allgemeine Ansichten über die Volksdichtung und ihre Bedeutung - Die russische Volksdichtung": „Ob sich wohl viele darüber Rechenschaft ablegen, was Volksverbundenheit eigentlich bedeutet, obgleich der Begriff wohl für alle einfach und verständlich erscheint? Letztlich verlangt der Begriff Volksverbundenheit ebenso wie jedes andere Wort, das eine ganz bestimmte Bedeutung in sich birgt, eine präzise Definition. Der Begriff VOlksverbundenheit gehört gerade deshalb zu jenen Begriffen, die allzu verständlich erscheinen, da ihnen eine bestimmte und genaue Bedeutung fehlt." 2 Auch Puschkin hatte sich darüber geäußert, daß es zur Gewohnheit geworden war, von Volksverbundenheit zu sprechen, Volksverbundenheit zu fordern und sich über den Mangel an Volksverbundenheit in den Werken der Literatur zu beklagen, aber niemand bisher daran gedacht habe, genau zu definieren, was er unter Volksverbundenheit versteht.3 Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, und noch immer ist der Begriff Volksverbundenheit nicht eindeutig definiert. Handelt es sich hierbei wirklich nur um eine unzureichende terminologische Definition? Oder ist damit die heute gern zitierte „Nichtkommunizierbarkeit" gemeint, auf die man seit Urzeiten sämtliche Streitigkeiten abzuwälzen gewohnt ist? Terminologische Schwankungen wirken sich letztlich immer negativ auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Diskussionen aus. Wenn die Ansichten einiger Wissenschaftler zum Beispiel über die Parteilichkeit der Kunst oder den sozialistischen Realismus prinzipiell auseinandergehen, so stellt sich meistenteils - ich sage nicht „immer" - heraus, daß daran die Termini keine Schuld haben. Die Praxis liefert genügend Beweise dafür, daß die Unvollkommenheit der Sprache in der Regel kein unüberwindbares Hindernis bei der Verständigung Gleichgesinnter darstellt. Wenn man in der „Nichtkommunizierbarkeit" einen charakteristischen Wesenszug unserer Zeit entdecken will, darf man nicht vergessen, daß diese nicht nur Ursache, sondern viel mehr Folge bestimmter sozialer Prozesse ist und vielleicht als ein Beweis der Unvereinbarkeit fremder Ideologien zu werten ist. Es handelt sich hier jedoch nicht um terminologische Mißverständnisse. Die 64
ästhetische Kategorie Volksverbundenheit der Kunst und Literatur ist jener „Knotenpunkt", wo das künstlerische Schaffen fest und untrennbar mit dem Kampf der Ideen verflochten ist, wo scharfe ideologische wie ideell-ästhetische Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Diese ästhetische Kategorie ist eine der wichtigsten Sphären, in der der Zusammenhang von Ideologie und Politik in der Kunst und Literatur am deutlichsten sichtbar wird. Äußert sich nicht gerade darin das Wesen des Kampfes, den die russische revolutionär-demokratische und später die marxistische Ästhetik gegen jede Art reaktionärer, liberaler, kleinbürgerlicher Konzeptionen der Volksverbundenheit führte? Alexander Puschkin, Pjotr Wjasemski, Orest Somow, Fjodor Glinka, Wilhelm Küchelbecker und andere 4 schrieben zwar über die Volksverbundenheit, aber erst die fortschrittliche russische revolutionär-demokratische Kritik hat die Volksverbundenheit in vollem Maße als Grundkategorie der realistischen Ästhetik bezeichnet. Den idealistischen, pseudoromantischen Tendenzen, den snobistischen und elitären Konzeptionen verschiedenster Art wurde entschieden eine Literatur entgegengesetzt, die voll und ganz im Volksleben verwurzelt ist. Gerade diese Richtung wurde von der revolutionär-demokratischen Kritik theoretisch detailliert interpretiert und praktisch unterstützt als einzig richtige Entwicklung der Literatur. In diesem Zusammenhang kann an die Arbeiten Wissarion Belinskis „Über die russische Erzählung und die Erzählungen Gogols"5, Nikolai Tschernyschewskis „Skizze über die Gogolperiode der russischen Literatur" 6 und Nikolai Dobroljubows7 erinnert werden. Belinski hat in seiner Abhandlung unmißverständlich seinen Standpunkt zu den scharfen Auseinandersetzungen der Klassen, die nicht nur in der Literatur und um das ästhetische Gedankengut, sondern in der gesamten russischen Gesellschaft dieser Periode geführt wurden, zum Ausdruck gebracht. Seine beißende Ironie gilt der das soziale Wesen dieser Frage verschleiernden Terminologie, deren Gebrauch damals in der Diskussion über Volksverbundenheit als untrügliches Merkmal des guten Tons galt. In seinem Aufsatz „Allgemeine Ansichten über die Volksdichtung und ihre Bedeutung" führt Belinski Proben einer derartigen Terminologie an: „wolschebnyj epitet" (magisches Epitheton), „wolschebnoe slowo" (magisches Wort), „swjastschjonnyj gieroglif" (geheiligte Hieroglyphe) usw. „Jede Dichtung ist nur dann wahr, wenn sie volksverbunden i s t . . ." 8 , schreibt Belinski und verbindet Volksverbundenheit mit Begriffen wie Realismus und Wahrheit. Ein unrealistisches Werk, voller Falschheit und Unwahrheit, kann niemals volksverbunden sein, auch wenn in ihm Szenen aus dem Brauchtum des Volkes gestaltet werden und die Helden die „einfache Sprache des Volkes" sprechen. Von dieser Position aus führten die revolutionären Demokraten ihren Kampf gegen die zutiefst volksfeindliche „Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit", gegen die konservativen Ansichten der Slawophilen, die versuchten, Volksverbundenheit auf Bastschuh und Bauernrock zu reduzieren. Eine scharfe Auseinandersetzung mit ausgeprägt sozialer Nuancierung entbrannte um den Terminus des Volkscharakters. J
Barabasch 6674
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Die reaktionäre Kritik schrieb dem russischen Volk Charakterzüge zu, die sie mit der Formel „Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volkstümlichkeit" zu charakterisieren suchte. „Volkstümliche Auffassungen" und „Volkstümlichkeit" waren die Hauptpunkte in der vom Unterrichtsminister Sergej Uwarow verkündeten und von einer Reihe von Literaten (N. Butyrski, Stepan Schewyrjow, Michail Pogodin) 9 unterstützten „Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit". Sie schloß nach Uwarow als „Heiligtum" der nationalen Begriffe unter anderem auch die Rechtsordnung der Leibeigenschaft mit ein. Konstantin Leontjew entwickelte in seiner Publizistik diese reaktionäre Konzeption weiter und spitzte sie noch mehr zu. Diese Interpretation des Volkscharakters durch die reaktionäre Kritik verwarfen die revolutionären Demokraten entschieden und bestimmten diese ästhetische Kategorie vom Historismus aus. Charakteristisch dafür ist der Aufsatz Michail Saltykow-Stschedrins über Alexej Kolzows Schaffen. Die „Theoretiker des ausnahmslos nationalen Kunstschaffens" verspottend, nach deren Ansicht es im Volksleben „weder Dissonanzen noch Falschheit" gäbe, schreibt Saltykow-Stschedrin: „Wozu diese Übertreibungen? Was sollen diese schmeichlerischen Reden? Stellt etwa das Volk an sich nicht einen Organismus voller Leben dar, so daß es unserer Panegyriker nicht bedarf? Unseres Erachtens sind sowohl Tugend als auch Laster bei jedem Volk das Ergebnis seiner historischen Entwicklung, und es trägt folglich weder Schuld an dem einen noch am anderen." 10 In einem anderen Aufsatz hebt er hervor: „Wenn wir tatsächlich mit den Volksmassen fühlen wollen, müssen wir sie so akzeptieren, wie sie sind, müssen wir als Ausgangspunkt unserer Tätigkeit jenes geistig-ethische Niveau wählen, auf dem sie stehen, und von dort aus unsere Betrachtungen weiterführen." 11 Die revolutionären Demokraten haben die politische Unreife und soziale Trägheit eines bestimmten Teils der Volksmassen erkannt und trotzdem zutiefst an die revolutionären Potenzen des Volkes geglaubt. Tschernyschewskis Worte über die Notwendigkeit, Rußland „zu den Waffen" zu rufen, war Ausdruck einer im Innersten des Volksbewußtseins schlummernden Bereitschaft zum revolutionären Aufbegehren. Für Tschernyschewski und seine Anhänger war Volksverbundenheit untrennbar verbunden mit einer sozialen Umwälzung. Den Kampf um echte Volksverbundenheit der Literatur betrachteten sie als festen Bestandteil des revolutionären Kampfes. 12 Die wissenschaftlich fundierten, demokratischen und revolutionär orientierten Ansichten der revolutionären Demokraten über die Volksverbundenheit waren gleichsam Prolog und Wegbereiter einer marxistischen Konzeption der Volksverbundenheit. Erst die marxistische Ästhetik vermochte, auf der Basis einer einheitlichen wissenschaftlichen und revolutionären Theorie, mit reichen Erfahrungen aus dem politischen Kampf des Proletariats eine echte Lösung des Problems der Volksverbundenheit zu geben. Die konsequente marxistische Kritik an den volkstümlerischen und liberalen Strömungen im Kunstschaffen, an der Dekadenz, an der Theorie des 66
„einheitlichen Stroms" und an anderen, ihrer Natur nach bürgerlichen Tendenzen war Bestandteil des Kampfes gegen Versuche, die Unvereinbarkeit der Klassenantagonismen zu verwischen und den revolutionären Entwicklungsprozeß zu hemmen. Bei diesen Versuchen haben bekanntlich die sogenannten Volksfreunde (drusja) eine unrühmliche Rolle gespielt. Beim Gebrauch des Terminus Volksverbundenheit ist eine haarscharfe Trennungslinie zwischen bürgerlicher und sozialistischer Ideologie zu ziehen. Diese Tatsache müssen auch unsere Gegner akzeptieren. So schreibt Läszlo Revesz, Autor der in der BRD erschienenen antikommunistischen Broschüre „Ideologie und Praxis in der sowjetischen Innen- und Außenpolitik", daß der Terminus Volk in der kommunistischen Ideologie, Theorie und Praxis nicht dieselbe Bedeutung habe wie „bei uns", da er den Klassencharakter zum Ausdruck bringe. 13 Damit wird in einer zweifelhaften Neuartigkeit der Gedanke suggeriert, daß „bei uns", das heißt hier in der bürgerlichen Ideologie, Theorie und Praxis, der Terminus Volk jeglichen Klasseninhalts entbehre. So bemüht sich die bürgerliche Ideologie, der marxistisch-leninistischen Lehre vom Klassenkampf ihre Konzeption der „klassenlosen" Gesellschaft entgegenzustellen. Die verschiedenen Varianten dieser in ihren Grundfesten schon lange erschütterten Konzeption werden von der bürgerlichen Propaganda als neueste Errungenschaft der modernen Soziologie ausgegeben - darunter der „gesamtnationale" Kapitalismus, die „Gesellschaft gleicher Chancen für alle" und die „Demokratie für alle" sowie die sogenannte Industrie- (postindustrielle) Gesellschaft. Alle diese Theorien spiegeln die Bestrebungen der Apologeten des Kapitalismus wider, die Bourgeoisie als Träger der Ideen des „Gesamtnationalen" hervorzuheben und ihr das Recht einzuräumen, die Interessen des gesamten Volkes zu vertreten. Mit dieser Tendenz ist unter anderem jene pseudodemokratische, pseudorealistische Richtung in der modernen bürgerlichen Kunst eng verbunden, die in vielen kapitalistischen Ländern - besonders in den USA - weitverbreitet ist. Es handelt sich hier um jene Kunst, die auf Sympathie und Geschmack des sogenannten Massenkonsumenten spekuliert, um die bürgerliche Ideologie, Moral und Psychologie zu propagieren und zu festigen. Realismus verwandelt sich hier in trägen Naturalismus und illustrative Beschreibung, Verständlichkeit und Demokratismus der Form werden zu Primitivismus, Heldentum zu Banalität oder formalem Optimismus. Dem Konsumenten einer solchen Kunst wird der Gedanke suggeriert, der Durchschnittsbürger sei das Musterbeispiel des „ordentlichen" Menschen, des „Mannes aus dem Volke" und die kapitalistische Lebensweise der beste Garant für die Wahrung unvergänglicher menschlicher Werte. Es wird ein ganzer Komplex von Mitteln erfunden, die eine Schutzfunktion in bezug auf die kapitalistischen Verhältnisse ausüben, indem sie die bourgeoisen Wesenszüge mit der Theorie der Volksverbundenheit ummanteln. Besonders deutlich tritt dieser Umstand im Kunstschaffen mit ausgeprägtem Massencharakter zutage, das mit modernen Informationsmitteln realisiert wird 5*
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(Fernsehen, Film) und ein breites Publikum erreicht. Dieselbe Rolle spielen die in Millionenauflagen erscheinenden Comics und die Schlagermusik. Wie Pierre Emanuel, Mitglied der Französischen Akademie und Vorsitzender der Kommission zur Erforschung der neuen kulturpolitischen Lage, richtig feststellte, gab der kapitalistische Staat das „Gebiet der Kultur" frei zur „Kolonialisierung" durch die Massenmedien; „Kultur auf dieser Stufe trägt Warencharakter". Darin offenbart sich ihr schädlicher Einfluß. Diese „Massenkultur", diese „Kunst für alle", ist bestrebt, sich möglichst breite Leser- und Hörerkreise zu erschließen. Dies ist die eine Seite der Medaille. Die andere betrifft die noch immer bestehenden dekadenten Strömungen verschiedenster Art, die elitären Konzeptionen, die niemals außer acht gelassen werden dürfen. Für deren Repräsentanten ist die Orientierung auf das Experimentelle, das Kunstschaffen voller Raffinement, losgelöst von den sozialen und ästhetischen Bedürfnissen der Volksmassen, charakteristisch. Dieses Kunstschaffen entbehrt der historischen Perspektive. Es fußt nicht auf dem Verständnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der sozialen Entwicklung, nicht auf der entscheidenden dynamischen Kraft der Geschichte - dem Volk. Diese Tatsache findet ihre Widerspiegelung sowohl in der betont hervorgehobenen Asozialität des Inhalts als auch im antidemokratischen Charakter der Form. Es ist außerordentlich notwendig, die dekadente Kunst differenziert zu betrachten und dabei jedes Mal auch die subjektiven Absichten eines Künstlers, die objektive Orientierung seines Schaffens und die Perspektive der ideologisch-ästhetischen Evolution zu berücksichtigen. Eine derartige Differenzierung sollte immer von der präzisen Vorstellung ausgehen, daß die Dekadenz prinzipiell mit Volksverbundenheit unvereinbar ist, ja - ihr feindlich gegenübersteht. Das ist die Logik des unversöhnlichen Kampfes zweier Ideologien, der heute in der Sphäre des Kunstschaffens ausgetragen wird. Wladimir Iljitsch Lenin hat bei der Weiterentwicklung der von Marx und Engels herausgearbeiteten Ideen unter neuen historischen Voraussetzungen zum ersten Mal die Parteilichkeit der Literatur des sozialistischen Proletariats, die Frage nach dem Geistesleben der Gesellschaft, nach der Entwicklung von Literatur und Kunst mit der Arbeiterbewegung und den aktuellen Aufgaben der proletarischen Revolution verknüpft. Die Literatur ist ein Teil des proletarischen Gesamtanliegens. Eine Literatur, die sich offen zur revolutionären Bewegung des Proletariats bekennt und daher wahrhaft frei ist - nur eine solche Literatur kann den Anspruch erheben, die Hoffnungen und Interessen der Volksmassen wirklich zu vertreten. So wie im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Partei die höchsten Menschheitsideale ihre Verkörperung finden, kommt auch im Prinzip der kommunistischen Parteilichkeit der Literatur am vollkommensten und konzentriertesten die Idee zum Ausdruck, daß der Künstler dem Volk dient. Weder sektiererische Begrenztheit noch „Diktat von oben" - wie sich unsere ideologischen Feinde auszudrücken pflegen - , sondern eine bewußte und freie Bindung an jene gesellschaft68
liehe Bewegung, deren historische Mission in der Befreiung von Millionen von Werktätigen besteht - das ist Parteilichkeit Leninscher Prägung. Gerade deshalb betrachten wir die kommunistische Parteilichkeit als höchste Form der Volksverbundenheit der sozialistischen Literatur und Kunst. In diesem Sinne ist die Leninsche Lehre von der Parteilichkeit Basis und Kernstück der marxistischen Konzeption der Volksverbundenheit der Kunst. Von größter Bedeutung für die Herausbildung einer marxistischen Konzeption der Volksverbundenheit der Kunst und Literatur war die Leninsche Lehre von den zwei Nationen in jeder Nation und den zwei nationalen Kulturen in jeder Kultur unter den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Seit langem bemühen sich bürgerlich-liberale Ideologen, solche Termini wie Volk, Nation u. a. als nichtklassengebunden und ahistorisch, als sogenannten einheitlichen Strom zu interpretieren, wenn eine klassenmäßig scharf fixierte Grenze zwischen fortschrittlichen und konservativen, revolutionären und reaktionären Kräften fehlt. Wir haben bereits festgestellt, welcher Platz dergleichen Theorien im Propagandafundus des modernen Antikommunismus gebührt. Die Leninsche Lehre von den zwei Nationen in jeder Nation hilft, klare Vorstellungen über Nation und Volk in bürgerlichen Ideologien zu erlangen, und fordert eine klassengebundene, wahrhaft wissenschaftliche Lösung des Problems der Volksverbundenheit der Literatur. Auch jene Realität wird offenbar, daß Volksverbundenheit, die nicht von einer kommunistischen Weltanschauung getragen wird, von der Parteilichkeit gewaltsam getrennt und der Ästhetik des sozialistischen Realismus völlig wesensfremd ist. Versuche, die Interessen des Volkes den Interessen der Arbeiterklasse, der proletarischen Revolution und dem Marxismus entgegenzusetzen, stellen nichts anderes dar als eine kleinbürgerliche Entstellung des Terminus der Volksverbundenheit. Das hat Lenin bereits in seiner Arbeit „Was sind die .Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" überzeugend nachgewiesen.14 Lenins Lehre besagt, daß unter kapitalistischen Verhältnissen in jeder Nationalkultur zwei Kulturen unterschieden werden müssen: die Kultur der Bourgeoisie, der Kirche und der Reaktion und eine fortschrittliche, demokratische Kultur, die mit dem Leben, den Grundinteressen und den revolutionären Bestrebungen des Volkes verbunden ist. Nur dieses dialektische, klassenmäßige Vorgehen ist in der Lage, das Problem des kulturellen Erbes zu lösen. Alles, was sich in der Kultur der Vergangenheit mit fortschrittlichen Bestrebungen, mit demokratischen Elementen verbindet, worin sich der Geist des Volkes direkt oder indirekt, sein nationales Gepräge und seine Freiheitsideale widerspiegeln - alles das gehört zum Volk, ist Bestandteil seiner geistigen Position und muß daher vom revolutionären Proletariat bewahrt und weiterentwickelt werden. Volksverbundenheit tritt somit als wichtigstes Bewertungskriterium der Kultur vergangener Zeiten hervor. Eine nihilistische Einstellung zu dieser Kultur, die bekanntlich von Lenin scharf und unversöhnlich kritisiert wurde, stellt im wesent69
liehen nichts anderes dar als eine gegen das Volk gerichtete, eine antiproletarische Haltung, ist nichts anderes als Ausdruck bürgerlicher Ideologie. Die Arbeiten Lenins über Lew Tolstoi gelten als ein klassisches Beispiel der marxistischen Anwendung des Kriteriums Volksverbundenheit. Lenin wies nach, daß ein wahrhaft großer Künstler nicht umhin kann, in seine Werke die Revolution einzubeziehen. Die zutiefst natürliche, elementare Volksverbundenheit, ohne die ein großer Künstler undenkbar ist, „zwingt" ihn zur Darstellung der Revolution oder zumindest einiger ihrer Wesenszüge (welche Interpretation, sei dahingestellt). Als Beispiel führt Lenin die Werke Tolstois an, der, ohne die russische Revolution in ihrem Wesen erkannt zu haben, zu ihrem Spiegel wurde und es „verstand, mit eindringlicher Kraft die Stimmung der vom gegenwärtigen System unterdrückten breiten Massen wiederzugeben, ihre Lage zu schildern, ihrem elementaren Protest und Unwillen Ausdruck zu verleihen" 15 . Am Beispiel Lew Tolstois hat Lenin die Wechselbeziehungen zwischen „Künstler - Revolution - Volk" analysiert und die Kompliziertheit dieser Relationen aufgedeckt. Tolstoi hat es mit schonungsloser Offenheit und einer unübertroffenen künstlerischen Meisterschaft verstanden, in seinem Schaffen die tragischen Widersprüche in der Psychologie von Millionen russischer Bauern aufzuzeigen, die, wie Lenin hervorhob, ihre Ausbeuter bereits haßten, aber sich noch nicht zum bewußten Kampf gegen sie erhoben hatten. 16 Darin liegt Tolstois Stärke als Dichter des Volkes. Tolstoi hat jedoch die realen gesellschaftlichen Kräfte nicht erkannt, die fähig gewesen wären, die werktätigen Bauern Rußlands hinter sich zu sammeln und ihre Befreiung herbeizuführen. Darin liegen die historischen Grenzen seiner Volksverbundenheit. Einer der interessantesten und noch immer aktuellen Aspekte des Problems „Kunst und Volk" ist die Frage nach der Demokratisierung der Kultur, den Wechselbeziehungen zwischen Künstler und Volk, zwischen der Intelligenz und den Volksmassen. Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang der Kampf Lenins gegen reaktionäre, bürgerliche Theorien, die auf die Loslösung der Kunst von der Befreiungsbewegung abzielen, und insbesondere seine bekannte Schrift gegen das Kadettenwerk „Wechi". 17 Die Autoren dieses Werkes (P. Struwe, N. Berdjajew, S. Bulgakow, M. Gerschenson u. a.) lehnten unter dem Vorwand, die Kultur vor dem aufständischen Volk zu schützen, die sogenannte Volksanbetung ab. Sie stellten das Individuum als einzigen Schöpfer und Bewahrer kultureller Werte den Volksmassen entgegen. Nach der Oktoberrevolution fanden die Konzeptionen der „Wechi"-Leute in dem Werk „Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes" 1 8 ihre Fortsetzung. Die Spenglersche These von der Feindseligkeit zwischen „Zivilisation" und „Kultur" wurde von den Autoren dieses Werkes aufgenommen, um gegen die demokratische Kunst, das Volk und die Revolution polemisieren zu können. Berdjajew bezog sich auf Konstantin Leontjew, den er als „einen der scharfsinnigsten 7°
russischen Denker" bezeichnete, und auf Wladimir Solowjew: „Seit langem schon ist uns der Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation bekannt. Alle Religionsphilosophen Rußlands haben diesen Unterschied bestätigt. Sie alle fühlten eine gewisse heilige Furcht vor dem Untergang der Kultur und dem voranschreitenden Triumphzug der Zivilisation." Als Wesen der Zivilisation glaubte er „geistiges Spießertum und Philistertum" zu erkennen und behauptete weiter, daß „Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen von diesem Geist voll und ganz durchdrungen seien". Es bestehe überhaupt kein Unterschied, schreibt er, „ob die Zivilisation kapitalistisch oder sozialistisch s e i . . . sie ist gleichermaßen eine gottlose, kleinbürgerliche Zivilisation" 19 . Gegen diese Theorien wandte sich Lenin entschieden und bezeichnete das Werk „Wechi" als „Enzyklopädie des liberalen Renegatentums" 20 . Über „Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes" schrieb er, daß dieses Werk einem literarischen Deckmäntelchen der weißgardistischen Organisation sehr ähnelt. 21 Den reaktionären, gegen das Volk gerichteten Ansichten über die Kunst und Kultur als Sphäre, in der die geistige Elite unumschränkt herrsche, setzte Lenin entgegen, daß die Kunst dem Volke gehört und ihre tiefsten Wurzeln im Leben und Schaffen des Volkes haben muß, das Volk ästhetisch und geistig erziehen und sich auf seine Erfahrungen und seinen Kampf stützen muß. Hierzu gehört auch das Problem der Demokratisierung der Kunst. Sich auf die Traditionen der fortschrittlichen russischen Literatur und der Weltliteratur beziehend, hat Lenin die Einfachheit und Klarheit der Formen im Zusammenhang mit der Tiefe ihres Inhalts hoch bewertet. Die sogenannte neueste, experimentelle Kunst war Lenin wesensfremd und rief bei ihm Entrüstung und Abneigung hervor. Dabei ging es letztlich nicht um den subjektiven Geschmack Lenins. Es wurde bereits erwähnt, daß Wladimir IIjitsch in dieser Hinsicht überaus vorsichtig, zurückhaltend und ernsthaft bemüht war, seinen ästhetischen Sympathien und Neigungen nicht den Charakter von Leitideen zu verleihen. Aber das Problem der Demokratisierung der Kunst war für Lenin eine prinzipielle Frage. Ihr Wesen bestand in der Zugänglichkeit der Kunst für das Volk, ohne die sich die Kunst der Möglichkeiten beraubt, ideell-ästhetisch auf die Massen einzuwirken. Es geht um den Kontakt des Künstlers zum Volk, das sich in seinem revolutionären Aufbegehren das Recht auf Schönheit erkämpft. Mit anderen Worten, es handelt sich um die Volksverbundenheit der Kunst. Daraus resultiert auch Lenins unversöhnlicher Kampf gegenüber gekünstelter Manier und besonders komplizierten künstlerischen Formen, die den Inhalt eines Kunstwerkes verdunkeln und das Verständnis für die Leser bzw. Zuschauer erschweren. Realismus - das ist nach Lenin nicht einfach eine von vielen Schulen, die zum Akmeismus und Futurismus parallel besteht. Realismus ist der Weg zur künstlerischen Erkenntnis der Welt, zu ihrer vollkommenen und wahrheitsgetreuen Widerspiegelung. Der Realismus bietet mit seiner unerschöpflichen Vielfalt an künstlerischen Mitteln der Kunst die Gewähr für die Erfüllung ihrer höchsten 7i
Aufgabe: dem Volk, der Revolution, dem Sozialismus zu dienen. Die untrennbare Einheit von Realismus und Volksverbundenheit ist eine der Grundprinzipien der Leninschen Ästhetik. Für Lenin als Politiker, Organisator und Führer der kommunistischen Partei des ersten sozialistischen Staates der Welt hatte die These „Die Kunst gehört dem Volke" keine abstrakt-theoretische, sondern die gleiche praktische Bedeutung wie die Herausbildung einer neuen, sozialistischen Kultur. Diese Aufgabe stand vor dem jungen Sowjetstaat buchstäblich am Tage nach der Revolution. Es mußte ein in seinen Ausmaßen grandioser Kampf gegen Rückständigkeit, Analphabetentum und Unwissenheit geführt werden. Die Werke des Kunst- und Geistesschaffens der Menschheit waren den Volksmassen zugänglich zu machen, das Bildungswesen war aufzubauen, Kader der neuen, revolutionären Intelligenz heranzubilden, denen es oblag, die epochalen Werke des Sozialismus zu schaffen. Den kapitulierenden kleinbürgerlichen Theorien über das zur Revolution „nicht bereite" Rußland war entgegenzusetzen, daß gerade die sozialistische Revolution bisher ungeahnte Möglichkeiten für die geistige Entwicklung der Volksmassen eröffnet. Unter der Leitung Lenins hat die Partei den Plan für die Kulturrevolution unseres Landes ausgearbeitet und ein gigantisches Arbeitsprogramm zu seiner Realisierung aufgestellt. Die von der Sowjetmacht durchgeführte Kulturrevolution ist nichts anderes als die reale Verkörperung der Leninschen These: Die Kunst gehört dem Volke. Das ist, wenn man es so ausdrücken will, die „verwirklichte" Volksverbundenheit der sozialistischen Kunst. Lange Zeit vor der Oktoberrevolution äußerte sich Lenin zur sozialistischen Literatur: „Das wird eine freie Literatur sein - , weil nicht Gewinnsucht und Karriere, sondern die Ideen des Sozialismus und die Sympathie mit den Werktätigen neue und immer neue Kräfte für ihre Reihen werben werden. Das wird eine freie Literatur sein, weil sie nicht einer übersättigten Heldin, nicht den sich langweilenden und an Verfettung leidenden .oberen Zehntausend' dienen wird, sondern den Millionen und aber Millionen Werktätigen, die die Blüte des Landes, seine Kraft, seine Zukunft verkörpern." 22 Das Thema „Lenin und die Kunst" wurde von Autoren der verschiedensten Forschungsgebiete behandelt,23 und es ist immer noch nicht erschöpfend, dargestellt worden. Der gegenwärtige Kampf der Ideen, die Prozesse, die sich in der Weltkultur vollziehen, die lebendige Entwicklung der Kunst des sozialistischen Realismus werfen immer neue Probleme auf, deren Lösung nur unter der Voraussetzung der weiteren, tiefgreifenden Analyse des Leninschen Erbes und seiner schöpferischen Aneignung möglich wird. Hier möchte ich darauf hinweisen, daß bei der Erarbeitung der Grundlagen der marxistischen Konzeption über die Volksverbundenheit der Kunst und der Bereicherung unserer theoretischen Vorstellungen die Arbeiten und Reden der marxisti72
sehen Theoretiker und Führer der internationalen kommunistischen Bewegung Franz Mehring, Paul Lafargue, Georgi Plechanow, Anatoli Lunatscharski, Wazlaw Worowski, Michail Olminski, Stepan Schaumjan, Clara Zetkin, Karl Liebknecht, Antonio Gramsci u. a. - von großer Bedeutung waren. Ein Beispiel: 1967 erschien in russischer Übersetzung eine Sammlung von Aufsätzen Antonio Gramscis, des Führers und Ideologen der kommunistischen Bewegung Italiens.24 Die Kapitel „Die italienische Literatur ohne ,national-volksverbundene' Wesenszüge" und „Über unsere Literatur für das Volk" legen Zeugnis ab vom konsequenten Kampf um die wahre Volksverbundenheit der Kunst, den Gramsci unter den faschistischen Verhältnissen in Italien führte. Sie enthalten zu diesem Problemkreis wertvolles theoretisches Gedankengut und wichtige literaturhistorische Beobachtungen. Gramscis Gedanken über das „national-volksverbundene" Gefühl bei Dostojewski, über das Verständnis für die Mission der Intelligenz, die Kritik an der italienischen sogenannten Literatur für die Erniedrigten und der Vergleich des Aristokratismus Alessandro Manzonis mit der Volksverbundenheit Lew Tolstois, die Versuche, einige Gesetzmäßigkeiten im Geschmack und in den Sympathien der breiten Leserkreise aufzudecken, Gedanken über die Besonderheiten der Volksdichtung, insbesondere des Volksliedes, über Wechselbeziehungen zwischen Volksmoral und „Amtsmoral" - alles das kann als Beweis dafür dienen, inwieweit dieses wissenschaftliche Problem „Volksverbundenheit der Kunst" mit den aktuellen ideologischen und politischen Fragen besonders eng verknüpft ist. In den Arbeiten sowjetischer Wissenschaftler wird das Problem der Volksverbundenheit der Literatur als untrennbarer Bestandteil der Ästhetik des sozialistischen Realismus behandelt. Schöpferische Freiheit, Realismus und Dekadenz, Parteilichkeit der Kunst, Künstler und Volk, Held und Heldentum, Wege zur künstlerischen Wahrheitsfindung, realistische Volkstraditionen und neueste Errungenschaften des Realismus alles das sind Fragen, in die das Problem Volksverbundenheit eingebettet ist. Ob wir das Wesen und die Besonderheiten der literarischen Genres analysieren, das schöpferische Erbe einzelner Künstler erforschen oder unterschiedliche Aspekte des literarischen Prozesses beleuchten, stets tritt die Volksverbundenheit (oder sollte in jedem Falle) als eines der entscheidenden ideologisch-ästhetischen Kriterien in Erscheinung. Die Volksverbundenheit erfaßt, soweit sie gegeben ist, das gesamte Werk eines Künstlers, das bedeutet, sie ist ein ganzer Komplex von Aspekten, die allgemeintheoretische, ideologische und künstlerisch-„technologische" Probleme beinhalten. Volksverbundenheit „an sich" und „als solche", das sind ästhetische Abstraktionen. Die Volksverbundenheit der Kunst erfordert komplexe Methoden, umfassende Analysen zur Erforschung der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen. Eine zur Normative neigende Kritik wird sich schwerlich damit anfreunden können, daß Volksverbundenheit der Kunst zu jenen Erscheinungen zählt, denen das Fehlen genau fixierter Grenzen eigen ist. Doch kann man Volksverbundenheit
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unmöglich auf eine mechanische Summe von Merkmalen reduzieren, sie durch Analyse isolieren und sozusagen in chemisch reiner Form erproben. Gegenreaktion auf solche Verfahrensweisen wäre der Verzicht auf ernstzunehmende Versuche einer wissenschaftlichen Bestimmung der Wesenszüge der Volksverbundenheit, der Formen und Verfahren ihrer künstlerischen Realisierung. Es ist auffällig, daß sehr häufig bei der Bestimmung des Begriffs Volksverbundenheit aufgezählt wird, was Volksverbundenheit nicht ist (z. B. kann sie sich nicht auf die Beschreibung eines Sarafans beschränken, kann nicht auf folkloristische Traditionen reduziert werden usw.). Dabei wird die Frage, was nun Volksverbundenheit eigentlich ist, ganz an den Rand gedrängt. Es wird kaum untersucht, wie in der Literatur die Lebensansichten des werktätigen Menschen, die moralischen Normen und der ästhetische Geschmack realisiert werden, welche Beziehungen zwischen den geistig-ästhetischen Prinzipien des Künstlers, seiner schöpferischen Methode und jenen Prinzipien bestehen, die in der Psychologie des Volkes, im Volksschaffen verwurzelt sind. Die ganze Relativität meines Vergleiches erkennend, möchte ich behaupten, daß Volksverbundenheit als ästhetische Kategorie mit ihrer veränderlichen, dualistischen, „nicht greifbaren" Natur an ein Quant erinnert, das bekanntlich lange Zeit Anlaß für viele Physiker war, seine Materialität zu leugnen. Gerade aber weil die Volksverbundenheit der Kunst und Literatur nicht immer offen zutage tritt und sich nicht leicht analysieren läßt, müssen wir unser wissenschaftliches Instrumentarium und unsere Analysemethoden verbessern. Wie unsere Diskussionen um die Volksverbundenheit auch immer geführt werden, wenn von theoretischen Ansichten die Rede ist, herrscht mehr oder weniger Zustimmung, herrscht Schweigen. Meinungsverschiedenheiten treten aber sofort auf, wenn von der Theorie in den Bereich der künstlerischen Praxis übergegangen wird, wo die ästhetische Kategorie aufhört, Idee zu sein, und im Wort realisiert ist. Hier ergeben sich Fragen, deren Beantwortung von der Position des Wissenschaftlers abhängt. Entscheidend ist vor allem, was der Kritiker als Volksverbundenheit anerkennt, worin er Abweichungen oder Pseudovolksverbundenheit sieht, wie er das ästhetische Ideal des Volkes, den Moralkodex des Volkes auffaßt, in welchem Helden er die Verkörperung der Wesenszüge des Volkscharakters sucht und findet. Um Mißverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, soll hier hervorgehoben werden, daß es sich nicht um eine empirische kritiklose Einschätzung, nicht um die Gegenüberstellung des künstlerisch-praktischen und theoretischen Aspekts handelt. Eine ernsthafte Diskussion über Literatur ist ohne theoretische Basis unmöglich. Ausgangspunkt und Hauptbereich für die Forschung ist der lebendige literarische Prozeß mit all seinen realen Widersprüchen. Nicht einfach Volksverbundenheit, sondern Volksverbundenheit in ihrer konkreten künstlerischen Verkörperung, Volksverbundenheit, die im Roman, in der Poesie, im Drama usw., in der Schriftsteller-Biographie selbst künstlerisch materialisiert wurde. Eine derartige Verfahrensweise setzt das aktuellste Problem an die erste Stelle. 74
Es kommt vor, daß Fragen, die zunächst als vollständig und allseitig von der Literaturwissenschaft erforscht gelten, anders beleuchtet wieder neue Fragen aufwerfen. Als Beispiel dafür kann das für die sowjetische Literaturwissenschaft traditionelle Problem „Der Schriftsteller und sein Verhältnis zur Revolution" gelten. Man könnte annehmen, es gäbe auf diesem Gebiet kaum noch Unbekanntes, Unerforschtes. Doch wir wissen heute mehr als gestern. Wir kennen die Antwort (mag sie auch noch nicht erschöpfend und nicht endgültig sein) auf Fragen, die wir seinerzeit nicht einmal zu stellen wagten. Es wäre unsinnig, das herabzumindern, was schon geleistet wurde. Die Dialektik der wissenschaftlichen Wahrheit besteht doch darin, daß dieser Prozeß unerschöpflich und endlos ist. Die Verbindung zwischen Kunstschaffen und Revolution ist eines der Probleme, das auf Grund seiner bisherigen Erforschung nicht eingeengt, sondern, im Gegenteil, noch erweitert werden muß, um immer neue Aspekte beleuchten zu können. Je mehr uns auf diesem Gebiet bekannt ist, um so anschaulicher können wir uns von der Unvollkommenheit unseres Wissens überzeugen. Das mutet wie ein Paradoxon an, aber gerade die Anerkennung einer derartigen Unvollkommenheit ist in bestimmtem Maße Beweis für die Reife unseres wissenschaftlichen Denkens, das mit vorhandenen Lösungen nicht immer ganz zu befriedigen ist. Wir können heute sagen, daß unsere Literatur zur Erbin der progressiven geistigen Werte der Menschheit wurde, ihre besten Traditionen pflegt und schöpferisch weiterentwickelt. Ausdrücklich soll hier darauf hingewiesen werden, daß es sich um eine prinzipiell neue Etappe der Geschichte handelt, die nicht einfach mit irgendwelchen gesellschaftlichen Veränderungen, sondern mit der Revolution verbunden ist, mit der bedeutsamen Wende im Leben von Millionen Menschen. Die Literatur, geboren in der Revolution, mußte sich in scharfen Auseinandersetzungen stählen und beweisen. Ihr Entwicklungsweg ist untrennbar verbunden mit der Überwindung von Widerständen, mit beharrlichem Kampf, aber auch mit Entdeckungen. In diesem Kampf bildeten sich die grundlegenden Prinzipien der Literatur des sozialistischen Realismus heraus. Wenn wir die Revolution als stürmische Repräsentation der im Volke schlummernden Kräfte, als historische Wende im Leben der Werktätigen werten - und das war sie! - , tritt die Frage nach der Haltung des Künstlers zur Revolution und seiner Volksverbundenheit zutage. Die Volksverbundenheit eines Künstlers wird davon mitbestimmt, in welchem Maße er sein Schaffen mit den Bestrebungen der revolutionären Massen vereint. Wie die historische Entwicklung unserer Literatur beweist, war dieser Prozeß voller Widersprüche und Schwierigkeiten. Er fand bei den Schriftstellern auf unterschiedliche Weise seine Realisierung, abhängig vom persönlichen Schicksal, von der politischen Biographie, der künstlerischen Individualität und anderen Faktoren. Das Beispiel jener Künstler, die die Revolution weder verstanden noch akzeptiert haben, die die Verbindung zum Heimatland, zu ihrem Volk verloren, ist 75
ebenso beredtes Zeugnis wie das Schicksal derer, die gerade durch die Revolution und den revolutionären Dienst am Volke ihren Schaffensweg fanden. Es ist unmöglich, mit dem Volk zu gehen, wenn man die Revolution nicht akzeptiert und begriffen hat. Ein Künstler, dem es nicht gelingt, die Revolution schöpferisch zu verarbeiten, ein Künstler, für den die Revolution nicht zur Quelle seiner Ideen und seines schöpferischen Enthusiasmus wurde, wird im Geistesleben seines Volkes nur einen unbedeutenden Platz einnehmen. Man kann also sagen, daß die Volksverbundenheit ein ideologisch-ästhetisches Äquivalent zum Verhältnis eines Künstlers zur Revolution ist. In jedem Falle ist „der Grad des Anteils der Volksverbundenheit" (Dobroljubow) an der Entwicklung der Kunst davon abhängig, in welchem Maße, auf welche Art und Weise die Kunst von den Ideen, Stimmungen, Farben und Tönen des revolutionären Geschehens durchdrungen ist. Die Hinwendung zu historisch bedeutenden Ereignissen im Leben eines Volkes, die Fähigkeit, dieses Leben vom Standpunkt der fortschrittlichen Ideale der Epoche aus zum Ausdruck zu bringen, die führenden Tendenzen von der Position der grundlegenden Interessen des Volkes aus zu reproduzieren, das sind die wichtigsten Wesenszüge einer Kunst des Volkes, wie sie die marxistisch-leninistische Ästhetik versteht. Sie sind entscheidend, wenn das Schaffen eines Schriftstellers analysiert wird. Das Verhältnis des Künstlers zur Revolution ist niemals etwas Starres, ein für allemal unwiderruflich Fixiertes. Es ist weniger ein Zustand als vielmehr ein Prozeß, der in jedem einzelnen Falle seine Logik, seine Richtung und auch seine Umwege hat. Bei einem Künstler, der sofort vorbehaltlos sein Schöpfertum mit der Revolution verbunden hat, dürfen jene Widersprüche nicht außer acht gelassen werden, ohne die es keine Suche nach der Wahrheit gibt - und zwar besonders in der Kunst. So unerschöpflich die Revolution ist, so unerschöpflich ist auch der Prozeß ihrer künstlerischen Verarbeitung. In noch stärkerem Maße gelten diese Feststellungen für jene Künstler, die erst allmählich durch Einsicht in die objektiven Entwicklungsgesetze, durch die Realität des Lebens und die fortschrittlichen Ideen ihrer Zöit zur Revolution fanden. Die Oktoberrevolution stellte entschieden die Frage: Für wen ? Die Antwort auf diese Grundfrage der Epoche wurde zu einer Wegscheide. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß auf beiden Seiten dieser Wegscheide mannigfaltige Formen und Übergangsformen existierten. Jene, die die Revolution bejahten, akzeptierten sie auf unterschiedliche Weise. Zum einen waren es die Vertreter der alten demokratischen Intelligenz, die der Revolution loyal gegenüberstanden, und zum anderen jene, die unmittelbar aus den blutigen Kämpfen des Bürgerkrieges kamen, für die die Revolution der Anfang aller Dinge war: ihres eigenen Schaffens, ihrer Studien, ihres Vordringens zum kulturellen Erbe und überhaupt zu einem bewußten Leben. Anders verhielt es sich mit dem komplizierten Suchen all derer, die erst ihre Vorurteile gegenüber der Revolution abbauen mußten.
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Es besteht ein klarer Unterschied zwischen jenen, die der Vergangenheit nachtrauerten, und jenen, die nach ziellosem Umherirren aus der Emigration zurückkehrten oder zumindest die Absicht hatten. Hier müssen wir genau differenzieren. An das zu analysierende Problem kann nicht ohne Berücksichtigung der Vielfalt der realen Umstände herangegangen werden. Zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen den Haupt- und Randproblemen muß klar unterschieden werden. Aber auch Fakten und Erscheinungen, die zunächst als untypisch, als zweitrangig erschienen, können relevante Tendenzen und wichtige Seiten eines Prozesses widerspiegeln. Wenn ein Schriftsteller die Revolution nicht verstanden und sich offen auf die Seite ihrer Feinde begeben hat, bedeutet das nicht, daß man seine Position und sein schöpferisches Suchen nicht in engem Zusammenhang mit der Revolution zu betrachten hat. Im Gegenteil, eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode setzt gerade diese Betrachtungsweise voraus. Die Aufklärung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen den Träumen, Fehlern, politischen Irrtümern und der ideologisch-ästhetischen Evolution eines Künstlers bedeutet, die (wenn auch hier negativen) Aspekte des Problems „Künstler und Revolution" zu verstehen. Lenin enthüllte wichtige Wesenszüge der ersten russischen Revolution mittels Analyse des Schaffens eines Künstlers, der der Revolution fernstand - Lew Tolstoi. Er war damit beispielgebend für eine neue Betrachtungsweise bereits feststehender Werturteile. Lenin vermochte es, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Lew Tolstoi und Arkadi Awertschenko zum Beispiel oder Wladimir Winnitschenko und Alexander Kuprin unterschieden sich in ihrem Schaffen völlig voneinander. Aber es geht hier nicht um die Gegenüberstellung von Talenten, nicht darum, welchen Platz dieser oder jener Schriftsteller in der Literatur und im Geistesleben eines Volkes einnimmt, sondern um ein methodologisches Prinzip• Um den Zusammenhang von Kunstschaffen und Revolution umfassend analysieren zu können, muß dieser Prozeß sowohl in seinen allgemeinen Wesenszügen als auch in seinen Besonderheiten untersucht werden. Die Revolution ist für den Künstler die einzige, durch nichts zu ersetzende Schule der VOlksverbundenheit. Gerade im Strudel der historischen Umwälzungen und des Kampfes vollzieht sich die künstlerische Erkenntnis der revolutionären Wirklichkeit, die Überwindung falscher Vorstellungen, fremder ideologischer und ideell-ästhetischer Einflüsse. Dem Künstler erschließen sich ungeahnte Möglichkeiten der organischen Verschmelzung seines Schaffens mit den revolutionären Aktivitäten der Masse. Und das ist die Voraussetzung für die echte Entfaltung seines Talents.
Werden die objektiven Kriterien der Volksverbundenheit der Literatur bestimmt, stellt man in der Regel zwei Hauptmomente heraus: die Hinwendung des Schriftstellers zu den wichtigsten Lebensfragen des Volkes und das Aufzeigen wah77
rer Volkscharaktere, der Lebensgewohnheiten und des nationalen Kolorits eines Volkes. Gegen eine solche Methode können keine Einwände erhoben werden, sofern jene Aspekte nicht im Widerspruch zueinander, sondern in ihrer untrennbaren Einheit betrachtet werden. Aber es gilt, noch eine andere Seite zu berücksichtigen: die Volksverbundenheit des ästhetischen Ideals eines Künstlers. Sie tritt in zutiefst volksverbundenen ästhetischen und ethischen Werturteilen und Prinzipien, in den Vorstellungen des Künstlers über das Schöne und das Häßliche in Erscheinung. Diese Vorstellungen und Werturteile bestimmen in beträchtlichem Maße das Verhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit, welche Aspekte dieser Realität und welche Lebensprobleme er auch immer beschreiben mag. Vom Grad der Übereinstimmung des ästhetischen Ideals eines Künstlers mit den Idealen des Volkes hängen Wirksamkeit und Wahrheit seiner Kunst ab. Die Volksverbundenheit des ästhetischen Ideals ist zwar nicht das Hauptkriterium, da hierzu auch die künstlerische Darstellung des Volkslebens und des Volkscharakters gehört, aber sie ist eines der Hauptkriterien der VOlksverbundenheit der Literatur. In seinem Aufsatz „Über Kunst" schreibt Gorki über einen Holzschnitzer, der ihm auffallend häßliche Figuren (Mönch, Pope) zum Kauf anbot. Das Wesen seiner Schaffensmethode interpretierte dieser Holzschnitzer so: „Ich schnitze nach der Natur . . . Einige Figuren mache ich schlechter, und andere muß ich besser machen, als sie in Wirklichkeit sind. Sympathische Leute mache ich sympathischer, aber wenn ich welche nicht leiden kann, mache ich sie noch häßlicher, als sie es so schon sind." 2 5 ' Wovon läßt sich dieser Holzschnitzer leiten? Wovon wird sein Verhältnis zu den dargestellten Typen geprägt? Offensichtlich von seinen Vorstellungen, was gut und was schlecht, nützlich und schön, negativ und häßlich ist. Diese Vorstellungen, die von ihm schöpferisch verarbeiteten Traditionen und Prinzipien des ethischen und ästhetischen Kodexes, machen in ihrer Gesamtheit das ästhetische Ideal des Holzschnitzers aus, dem entsprechend er seine Figuren schafft. Das Interesse an der Definition ästhetischer Werte - sowohl des Schönen als auch des Häßlichen - zeugt von der charakteristischen Besonderheit des künstlerischen Denkens eines Volkes. Die Darstellung von Menschen, Ereignissen und Erscheinungen der Wirklichkeit ist untrennbar mit der Darstellung des Ideals verbunden, das der Mensch hat. Das Prinzip der Volksverbundenheit der Kunst und die Kategorie des ästhetischen Ideals sind so eng miteinander verbunden, daß man sie nicht isoliert voneinander betrachten kann. Falsche und verzerrte Vorstellungen vom ästhetischen Ideal des Schriftstellers sowohl bei Lesern als auch bei Schriftstellern - sind noch weit verbreitet. Nicht selten assoziiert man diesen Begriff bei uns entweder mit der vulgär-soziologischen Ästhetik oder mit billigem Marktgeschmack. 78
Einige sind vielleicht der Ansicht, daß schon die Formulierung „Ideal" heute altmodisch, trivial sei, daß vom Ideal Schönfärberei ausginge, um die -Wirklichkeit zu übertünchen und Widersprüche zu verschleiern. Hier drängen sich die ironischen Zeilen Puschkins aus „Eugen Onegin" auf: „ E r flüstert vorher noch einmal/ Das Modewörtchen ,Ideal' ", 26 Erinnert sei auch an die bekannten Worte Tschechows, daß das Wort „Ideal" in ihm unwillkürlich die Vorstellung von „etwas Süßlichem" wachrufe. Andere wiederum sind der Auffassung, daß das Problem des „Ideals" von Anfang bis Ende etwas künstlich Zugespitztes sei, das dogmatische Theoretiker aus der Luft gegriffen hätten. So verhält es sich auch mit den literarischen Vorurteilen. Was die Feinde der Sowjetliteratur angeht, so lohnt es nicht, diese auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Sie alle sind von einer rührenden Einmütigkeit, sofern es um die Negierung des sozialistischen Ideals unserer Kunst geht. Hauptmerkmal der zahlreichen Versuche, den sozialistischen Realismus, das Leninsche Prinzip der Parteilichkeit revidieren zu wollen, ist der Verzicht auf das sozialistische Ideal, die „Befreiung" der Literatur von ihm. Charakteristisch hierfür sind die Ansichten Henri Lefebvres, eines französischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers. 1958 unternahm er in seinem Aufsatz „Zur revolutionären Romantik" den Versuch, die Prinzipien der marxistischen Ästhetik zu revidieren. E r rechtfertigte ihn damit, daß das „sozialistische und kommunistische Ideal in Frage gestellt werden könne", daß „heute dieses blendende, strahlende Ideal selbst in den Herzen seiner treuesten und aufrechtesten Verfechter gestorben sei" 27 . Die Attacke gegen die fortschrittliche Kunst begann man mit einem Angriff auf ihre ideologischen und sozialen Grundlagen, mit dem Versuch, die fortschrittlichsten und kraftvollsten Ideale der Gegenwart zu zerstören. Wie Lefebvre eingesteht, hat sich vor ihm eine „Leere" ausgebreitet, die immer größer wird. Wie gefährlich diese Leere, diese völlige „Entidealisierung" ist, davon zeugen die traurigen und schmachvollen Erfahrungen jener, in deren Bewußtsein die Ideale verdrängt und durch „Ideale" des Rückschritts und der Reaktion ersetzt wurden. Die Ideologie kennt, wie die Natur, keine Leere. 28 Die marxistisch-leninistische Ästhetik widerlegte seinerzeit überzeugend die Theorien über eine neutrale, von der Weltanschauung, dem ideologischen Standpunkt, den gesellschaftspolitischen Ansichten des Künstlers unabhängige Widerspiegelung des Lebens. Heute dürften wohl jegliche Versuche, diese „zerbrochenen Scherben" wieder kitten zu wollen, ohne Erfolg bleiben. Kunst - das ist nicht nur eine Form der Erkenntnis, sondern immer auch aktive Beurteilung der Wirklichkeit, das ist der Mensch, der Sympathien und Antipathien, Vorstellungen vom Positiven und Negativen, vom Schönen und Häßlichen hat, der Mensch mit Idealen. Ohne menschliche Emotionen gibt es keine menschliche Praxis. Eine Kunst, in der sich Allgemeines und Besonderes, Logisches und Gefühlsmä79
ßiges, Objektives und Subjektives zu einer organischen Einheit verbinden, ist ohne Emotionen undenkbar. „Das Ideal" - schreibt der bulgarische Wissenschaftler Pantelej Sarew, „ist ein ideologisches Element, ein historisches und geistig-subjektives, ein subjektiv-ästhetisches Element, das stets in der Kunst zutage tritt und sich als .Subjektivität' präsentiert. Die Kunst stellt nicht nur das Objektive dar, sondern bringt auch ihr Verhältnis dazu zum Ausdruck. Sie ist nicht nur plastischbildliche Form, sondern gleichzeitig geistiges und ethisches Werturteil u. ä. m." 29 Aus dieser Überzeugung heraus können wir Roger Garaudy nicht zustimmen, der das Ideal des Künstlers als etwas dem Schaffen Fremdes, nicht Gemäßes, Aufgepfropftes betrachtet. Diese Ansicht vertrat er auf einer dem Schaffen Pablo Picassos gewidmeten Konferenz und betonte: „Das, was große Kunstwerke bewundernswert erscheinen läßt, ist nicht die Erhabenheit des Ideals . . ." 30 Jahrhundertealte Erfahrungswerte der Literatur erbringen überzeugend den Beweis, daß das Ideal des Künstlers, das sein Schaffen durchdringt, keine relative, künstlich erdachte Kategorie ist, kein der idealistischen Ästhetik zu zollender Tribut, kein Kind des Dogmatismus, sondern objektive Gesetzmäßigkeit der Kunst. Puschkin verhielt sich äußerst ironisch zu dem Modewort „Ideal", das zur damaligen Zeit von den Epigonen der Romantik so gern entstellt verwendet wurde. Aber hat nicht gerade Puschkin geschrieben, daß das „Ziel der Kunst das Ideal sei"? 31 Tschechow war dieses „süßliche" Ideal verhaßt. Aber auch von ihm kennen wir die Worte: „Die besten von ihnen (d. h. die Vertreter der realistischen Kunst Ju. B.) beschreiben das Leben so wie es ist, aber . . . sie spüren außer dem Leben wie es wirklich ist, auch das Gefühl für das Leben, wie es eigentlich sein sollte."32 Von einem der bedeutendsten Künstler Rußlands, der wohl kaum zur Idealisierung des Lebens neigte, stammt ein besonders wertvolles Urteil: „Dann erst", lesen wir in den Aufzeichnungen Dostojewskis, „wird Gefühl wahrnehmbar, wenn es mit der Schönheit wahrer Größe, mit der Schönheit des Ideals in Berührung kommt. Diese enge Berührung mit der Schönheit des Ideals gibt es auch in unseren Bylinen, und zwar in sehr starkem Maße. Dort sind Gestalten wie Ilja Muromez, der uns phantastisch anmutende Swjatogor und andere zu finden, die wir bewundern." 33 Wie auch immer unsere Feinde gegen das Leninsche Prinzip der Parteilichkeit auftreten, wie sie es auch immer verdrehen mögen, die entscheidende Bedeutung dieser wichtigen objektiven Gesetzmäßigkeit der Kunst wird durch das Leben selbst bewiesen. In den vergangenen Jahrzehnten, die durch eine noch nie dagewesene Schärfe des Klassenkampfes und durch gigantische soziale Umwälzungen gekennzeichnet sind, trat die Wahrheit der Leninschen Worte besonders klar zutage, daß man „nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein kann" 34 . Es wurde deutlich, daß die berüchtigte „Unparteilichkeit" nur eine Maske für „bourgeoise Parteilichkeit" ist und die Frage „Für wen?" - für die Kräfte der alten, überlebten Welt oder für eine Welt des Neuen, dem die Zukunft gehört sich jedem „Meister der Kultur" (Gorki) stellt. 80
Gorki hatte mit seiner Behauptung völlig recht, daß die Kunst ihrem Wesen nach ein Kampf „für" oder „gegen" etwas sei. Wie spezifisch die Kunst im Vergleich zu anderen Formen des menschlichen Bewußtseins auch immer sein mag, für den Künstler ist der schöpferische Prozeß undenkbar ohne die Berücksichtigung des Resultats und der Tatsache, für wen und in wessen Namen er schafft. Das Problem des Ideals beinhaltet die Frage, welchen Platz der Künstler in der Gesellschaft einnimmt und ob er eine enge Verbindung zum Leben des Volkes und zum Kampf der werktätigen Massen hat. Der sowjetische Schriftsteller demonstriert offen die Übereinstimmung seiner staatsbürgerlichen, ethischen und ästhetischen Ideale mit denen der Gesellschaft. In der bürgerlichen Gesellschaft verbergen sich diese Zusammenhänge fast immer hinter dem leeren Geschwätz von der „absoluten Schaffensfreiheit" und der „Überparteilichkeit". Der Preis für diese „absolute Freiheit" in der kapitalistischen Welt ist uns zur Genüge bekannt. Ein weiteres Beispiel dafür aus dem vielfältigen Material der bürgerlichen Presse: Das französische Wochenblatt „Arts" charakterisiert in dem Artikel „Was ist ein Schriftsteller?" die Einstellung der oberen Zehntausend einer modernen bürgerlichen Gesellschaft zum Künstler so: „Ein Schriftsteller . . . ist so etwas wie ein kleines Schmuckstück, das man zu seinem Vergnügen trägt, und man besitzt damit einen Teil der Nation. Natürlich ist er bei weitem nicht mit irgendeinem Filmstar zu vergleichen, aber dennoch liegt sein Wert ein wenig über einer beliebigen Ware." Diese bitter-ironischen Worte von Herbert la Porrier geben zwar keine erschöpfende Auskunft über die Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft zum Künstler, denn diese Beziehungen sind natürlich ebenso vielfältig und kompliziert, wie es auch die verschiedenen Positionen oder der Schaffensweg vieler bürgerlicher Künstler ist. Betrachtet man jedoch das 'Wesen der Wechselbeziehungen zwischen dem künstlerischen Schaffen und den in der kapitalistischen Welt herrschenden Idealen, so muß man den Feststellungen Porriers wohl Glauben schenken. Eines ist jedenfalls klar, die Frage nach dem Ideal ist engstens mit dem Kampf der Ideologien verknüpft. Das ist nicht nur eines der aktuellsten, sondern auch eines der bisher am wenigsten aufgearbeiteten Probleme der Theorie des sozialistischen Realismus. Diese Tatsache läßt sich aus dem Wesen des ästhetischen Ideals selbst erklären. Das ästhetische Ideal ist untrennbar integriert in den Gesamtkomplex ästhetischer Grundfragen, zu denen unter anderem die Geisteshaltung des Künstlers und seine Parteilichkeit, der Grad der Volksverbundenheit seiner ethischen und ästhetischen Kriterien, die Konzeption des Schönen, die Gestalt des Helden, die künstlerische und die Lebenswahrheit gehören. Der komplexe Charakter dieser Probleme bringt verschiedene Schwierigkeiten mit sich. Es taucht zum Beispiel die Frage nach der Verwendung des Terminus Ideal bei der Beurteilung konkreter Erscheinungen des künstlerischen Prozesses auf. Es ist hier unbedingt notwendig, Elemente der Vulgarisierung und den starren 6
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Gebrauch des Begriffes Ideal zu vermeiden. Das einzelne Kunstwerk vermittelt nicht immer eine vollständige und präzise Vorstellung vom ästhetischen Ideal des Künstlers, es bietet jedoch immer die Möglichkeit, über das ästhetische Ideal eines Künstlers in breiterem Umfang zu diskutieren. Wann auch immer die vulgär-soziologische Kritik das Ideal des Schriftstellers erwähnte, so versuchte sie stets, dies mit solchen Kategorien wie „Psychoideologie" einer bestimmten Klasse, Idealisierung der Wirklichkeit von der Position der herrschenden Klasse aus zu verbinden. Es wäre unsinnig, sich mit diesen überlebten vulgär-soziologischen Auffassungen auseinanderzusetzen, fänden sich nicht auch in unserer heutigen Literaturpraxis ähnliche Tendenzen. Ich denke dabei an jene, leider zahlreichen Rezensionen, die eine Mischung aus Inhaltsangaben, Komplimenten für den Künstler, der „unsere lichten Ideale" vertritt, enthalten und aus solchen Urteilen über das Künstlerische eines Werkes bestehen, die es oft völlig ad absurdum führen. Man könnte einwenden, daß es sich in solchen Fällen nicht um vulgär-soziologische Tendenzen, sondern um ästhetisches Analphabetentum gewöhnlichster Art handelt. Wir erinnern aber gerade deshalb daran, weil für diese Tendenzen charakteristisch war, den Inhalt eines literarischen Werkes vom Kriterium des Künstlerischen zu trennen und letzteres obendrein zu mißachten. Die marxistisch-leninistische Ästhetik kennt keine Trennung zwischen dem gesellschaftlichen und dem ästhetischen Ideal des Autors, zwischen der Haltung des Künstlers als Staatsbürger und deren Widerspiegelung in seinem Kunstschaffen. Die Termini „Ideal" und das „Schöne" bilden eine untrennbare Einheit. Für die realistische Kunst ist alles das schön, was fortschrittliches Ideal ausdrückt. Diese Begriffe werden aber in unsrer Literaturkritik oft voneinander getrennt. Das Zentralkomitee der K P d S U richtete in seinem Beschluß „Über die Literatur- und Kunstkritik" in den Materialien des 24. Parteitages auf dieses Problem besondere Aufmerksamkeit. 35 Eine ebenso wichtige Rolle spielen die begrenzten Vorstellungen vom Prinzip der Parteilichkeit, die Unterschätzung seines ästhetischen Inhalts. Man vergißt manchmal, daß die Parteilichkeit der Sowjetliteratur das Künstlerische, hohe Meisterschaft und ästhetischen Genuß in sich vereint. Im Kampf um die Verwirklichung kommunistischer Ideale spiegelt unsere Literatur als schärfste ideologisch-politische Waffe die neue Schönheit wider, macht sie zum Besitz der gesamten Nation und trägt zur ästhetischen Bereicherung des Menschen bei. Zu diesem Problem äußert sich der bulgarische Wissenschaftler Alexander Atanassow in seinem Buch „Schönheit und Parteilichkeit": „Einige sind der Ansicht, wenn wir Revolutionäre, Helden der Arbeit, Patrioten als schön bezeichnen, denken wir nicht an eine ästhetische Erscheinung, sondern lediglich an ethische Qualitäten. Aber das Ästhetische . . . existiert nicht in .reiner' Form, dies ist nur ein besonderer Aspekt der Wirklichkeit, der aus den ihr innewohnenden objektiven und subjektiven Qualitäten und Relationen ausgewählt wurde. Sowohl 82
politische und gesellschaftliche Verhältnisse als auch die Ethik haben einen ästhetischen Aspekt. Das Ethische tritt in seiner ästhetischen Eigenart dann zutage, wenn in individuellem unwiederholbarem Verhalten, in Erlebnissen, in den Vorstellungen, in den Träumen das signifikant Relevante .aufblitzt' . . . , eröffnet sich so oder anders der progressive Sinn menschlichen Wirkens. Die höchste ethische Qualität, die revolutionäre, progressive oder kommunistische Parteilichkeit, wahrgenommen als Lebensstimulus, flammende Leidenschaft, unwiederholbarer Charakter, als individuelle oder kollektive Güte, läßt diese Qualitäten sich auch als ästhetische Erscheinung, als höchste Schönheit offenbaren." 36 Atanassow betont dabei, daß Parteilichkeit nur dann zum künstlerischen Faktor wird, wenn die Erscheinungen der Wirklichkeit von einem talentierten Künstler mittels wahrhaft ästhetischer Mittel widergespiegelt werden. Welch hohe Ideale ein Kunstwerk auch immer reflektieren mag, es erfüllt sein Ziel nicht, wenn es den Leser nicht durch seine künstlerische Aussagekraft emotional bewegt. Triviales kann dem Leser kein Ideal vermitteln, kein Interesse, keinen Schönheitssinn und Edelmut wecken. Es bringt häufig, entgegen den Vorstellungen des Autors, dieses Ideal in Mißkredit, weil die ideell-ästhetische Aussage eines Kunstwerkes, die Position eines Künstlers nur in lebendigen künstlerischen Gestalten, in einer wahrhaft realistischen Darstellung des Lebens ihre Verkörperung finden können. Großen Schaden fügte die vulgär-soziologische Methode vor allem der Lyrik zu. Diese Tatsache zeigt sich besonders darin, wie mitunter der Ideengehalt der Dichtung interpretiert wurde, welche schülerhaften Vorstellungen vom staatsbürgerlichen Ideal in der Dichtung existierten. Die Lyrik war stets eine jener „Hintertüren", durch die sich rückständige und antinationale Theorien in die Literatur einzuschleichen versuchten. Das ist bereits Geschichte, und wir wollen uns der näheren Vergangenheit zuwenden. Das Heranreifen und die Vereinigung der revolutionären Kräfte, der gewaltige Sturm des Jahres 1905, die sich anschließende finsterste politische und geistige Reaktion, unter deren Verhältnissen trotzdem der Funke der künftigen Flamme der Revolution glimmen konnte, hatten die geistigen Auseinandersetzungen um die Literatur zu Beginn unseres Jahrhunderts verschärft. Die Frage nach dem Platz der Literatur in der Gesellschaft stand hier an erster Stelle: Soll die Literatur im „trauten Heim des wohlsituierten Bourgeois" heimisch sein oder die Arbeiterklasse auf die Barrikaden begleiten? Soll sie sich vom revolutionären Kampf isolieren oder den kämpfenden Menschen zur Seite stehen? Selbstverständlich gab es in der Fragestellung feine Nuancierungen, aber die Grundfrage lautete so und nicht anders. In Rußland verbreiteten sich zahlreiche literarische Schulen und Strömungen, deren Anhänger verkündeten, der Künstler habe sich abseits vom Kampfgeschehen zu halten (übrigens wurden ihre Losungen nicht immer so offen ausgesprochen). Trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen und Hypostasen war ihnen eine einheitliche ästhetische Konzeption eigen, die weit entfernt war vom wahren Le6*
ben mit seinen komplizierten Erscheinungsformen und seinen Kämpfen. Der Künstler war danach kein Kämpfer, sondern ein genialer Denker. Auf diese Weise verschleierte man das Fehlen des fortschrittlichen Ideengutes, zeigte antirevolutionäre Haltung, gleichbedeutend mit der Ablehnung der Volksverbundenheit der Literatur, obgleich einzelne Vertreter dieser Schulen auch subjektiv mit dem Sozialismus sympathisierten. Lenins Artikel „Parteiorganisation und Parteiliteratur" 37 rief Bestürzung in der bürgerlichen Presse hervor. Die Losung „Parteilichkeit" erregte nicht nur die Gemüter von Filosofow und Berdjajew. Auch Brjussow veröffentlichte in der Zeitschrift „Wessy" einen Aufsatz darüber, wie schwierig und widersprüchlich selbst für die fortschrittlichsten bürgerlichen Künstler der Weg zur Leninschen Auffassung von der Freiheit im Kunstschaffen sei. Den größten Spielraum für das Festhalten an der „Nichtanerkennung" von Idealen bot den Verkündern der „absoluten Schaffensfreiheit" - wie es schien vor allem die Lyrik. Wo, wenn nicht in der zutiefst intimen Erlebnis- und Gefühlswelt, vermag der Dichter sich frei zu fühlen von der Wirklichkeit, von den langweiligen Einflüssen des Lebens, Herr über sich zu sein! Welchen Ideengehalt, welche Ideale kann man von einem Lyriker, von jenem, der die Seele besingt, erwarten? Gegen derartige Vorstellungen richtete sich die marxistische Kritik und trat für Volksverbundenheit, hohe geistige Werte und staatsbürgerliches Pathos der Dichtung ein. Leider kam es in der Folgezeit zu den bekannten Überspitzungen, die sich in Versuchen äußerten, lyrische und staatsbürgerliche Dichtung künstlich voneinander abzugrenzen. Wie paradox es auch erscheinen mag, die Anhänger dieser Abgrenzungstheorie gingen konform mit den Verkündern einer ideenlosen Lyrik und sahen die Existenz zweier Arten von Dichtung als gesetzmäßig an: die Dichtung, als Waffe, die dem Kampf diene, und die Dichtung, die sich seit eh und je auf das Besingen der Natur und der Liebe beschränke und die man als Lyrik bezeichne. Lyrik ist jedoch keinesfalls ein Synonym für Gegenstands- und Ideenlosigkeit. Lyrik kann Ideen enthalten oder ideenlos sein, kämpferisch oder intim sein. Sie kann für die Ideale des Volkes eintreten, braucht es aber nicht. Es handelt sich hierbei nicht um das Genre, sondern um die Haltung des Künstlers. Auf die Lyrik zu verzichten, hieße die Dichtung zu verstümmeln, viele ihrer besten Beispiele auszustreichen und auf eine der stärksten Einwirkungen auf die menschliche Seele zu verzichten. Die ungerechte und obendrein unzutreffende Beurteilung der Lyrik äußert sich zuweilen in der Überbetonung des Individuellen, der Seele. Der Protest gegen eine Rhetorik voller Langeweile, gegen die Ignoranz der Gefühlswelt, der unendlich breiten Palette seelischen Erlebens führt mitunter zur Verkündung der „reinen" Lyrik, faktisch zur Ablehnung des Ideengehalts der Dichtung. Das künstlerische Ideal kann in der Lyrik auf vielfache Weise dargestellt wer84
den; der Autor bringt zum Beispiel in seinen lyrischen Werken sein Verhältnis zu bestimmten Erscheinungen der Wirklichkeit direkt zum Ausdruck, wertet sie uns, präsentiert somit unmittelbar die Idee seines Werkes. In diesen Fällen kommt dem publizistischen Temperament des Autors, seiner Überzeugungskraft und seiner Fähigkeit, das Interesse des Lesers zu wecken und ihn für seine Emotionen empfänglich zu machen, eine entscheidende Bedeutung zu. Eine bedeutende Idee kann jedoch in der Lyrik auch auf indirekte Weise zum Ausdruck gebracht werden, wenn der Dichter versucht, den Leser zu bestimmten Schlußfolgerungen zu zwingen, und ihn dazu bringt, sein eigenes Urteil abzugeben. Gibt es objektive Kriterien, um dieses geistige Sich-Verstehen zwischen Dichter und breitem Leserkreis aufzudecken, und worin bestehen diese Kriterien, unter welchen Voraussetzungen sind die in seinen Werken ausgedrückten Ideen von allgemeingültiger Bedeutung? Auf Eckermanns Frage, welche Idee Goethe in seinem „Torquato Tasso" zum Ausdruck bringen wollte, hat ihm der Dichter verwundert entgegnet: „Idee} - daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tasso's, und ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich, als prosaischen Kontrast, den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte . . . Es war im Ganzen nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von Abstraktem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot, und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß Andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen."38 Aus diesen Worten kann nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß man über eine Idee nicht nachzudenken brauche, daß es ausreichend sei, die Wirklichkeit, menschliche Charaktere etc. zu kopieren, aus denen die Idee von ganz allein erwächst. Das wäre eine primitive Interpretation von Goethes Worten. Dieser große Dichter formulierte auf der Grundlage seiner künstlerischen Erfahrungen im wesentlichen das Prinzip der realistischen Kunst, das nicht aus einem abstrakten Ideal resultiert. Er selbst entdeckte dieses Ideal in der unmittelbaren Wirklichkeit, in dem Lebensmilieu, das ihn umgab. Goethe maß der Persönlichkeit des Künstlers große Bedeutung bei, das „eigene Leben" war für ihn eine der notwendigen Komponenten des schöpferischen Prozesses. Eindrücke „sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art" verwirklichen sich dann im künstlerischen Abbild, durchdringen sein Wesen. Ähnliches findet sich auch im Tagebuch Dobroljubows. In ihm entwickelt der Kritiker in einem Gespräch mit dem Philologiestudenten Alexandrowitsch den Gedanken über die „reine und die didaktische Richtung in der Kunst". Alexandrowitsch, berichtete der Kritiker, stehe mehr für die didaktische Richtung, vermochte 85
aber bis jetzt noch nicht, sich von dem Gedanken frei zu machen, daß sie einem Kunstwerk Mortalität, Langeweile und Kälte verleiht. Um dem Freund bei der Lösung dieses Konfliktes zu helfen, überbetonte Dobroljubow die Rolle der Persönlichkeit des Künstlers, indem er behauptete, daß „Didaktik" die gesamte „Dichternatur" durchdringen und sich in die natürliche Empfindung für „das Gute und das Wahre" verwandeln solle.39 Bei diesem Vorgehen kommt ganz offensichtlich der Persönlichkeit des Künstlers die entscheidende Bedeutung zu, seinem Gefühl für Maßstäbe und der Fähigkeit, etwas in sich „aufzunehmen", was über den streng individuellen Rahmen hinausgeht, sowie seinem persönlichen Engagement am geistigen Leben des Volkes. Dort, wo es begründet ist, vom Verschmelzen des Ideals des Künstlers mit den Idealen des Volkes zu sprechen, wo der Dichter mit seinen Gedanken, Gefühlen, seinen ästhetischen Anschauungen die Bestrebungen, Hoffnungen und Vorstellungen des Volkes über das Schöne zum Ausdruck bringt, wird jene Qualität eines lyrischen Kunstwerkes geboren, die man Volksverbundenheit nennt. Die Kategorie des ästhetischen Ideals resultiert aus der Verflechtung von Begriffen wie das gesellschaftliche Ideal des Künstlers und seine Konzeption des Schönen. Die Sphäre des Schönen war stets das Objekt heftiger Auseinandersetzungen, es ging um die idealistisch-ästhetische Konzeption oder die Prinzipien der realistischen Kunst, die das Schöne in der Wirklichkeit, im Leben des Volkes zu entdecken sucht. „Jemand hatte plötzlich von .Schönheit' gesprochen. Da sind alle in Bewegung geraten", schrieb Maxim Rylski in einem Artikel. „Wir hatten dieses Wort tatsächlich vergessen, ebenso vergessen, daß es ein untrügliches Merkmal eines Romans, Poems, eines Musikwerkes, eines Bildes, einer Statue ist, daß sie - sofern in ihnen die fortschrittlichen Ideen ihrer Zeit verkörpert sind, sie dem Volk dienen, auch schön sind. Es entbrannte sofort ein heftiger Streit um den Begriff des Schönen. Wir erinnerten uns der Worte von Karl Marx, daß der Mensch nach den Gesetzen der Schönheit schafft."40 Die revolutionären Umwälzungen in der Welt während der letzten Jahrzehnte, der zutiefst ästhetische Inhalt der Heldentaten des Sowjetvolkes, sein Kampf beim Aufbau des Kommunismus und bei der Heranbildung eines neuen, harmonischen Menschen - alles das ließ der Literatur des sozialistischen Realismus unerschöpfliche Quellen für das Schöne erstehen. Die Nutzung dieser Quellen war in der Endkonsequenz für die Entwicklung unserer gesamten Literatur bestimmend. Für unsere Schriftsteller ist das Schöne ein Gegenstand der Kunst, denn das Schöne finden sie im Leben des Volkes. Die sowjetischen Menschen mit ihren Heldentaten, ihrem Arbeitsheroismus, ihrem Kampf für die Umgestaltung der Wirklichkeit, für die geistige Bereicherung und ethische Vervollkommnung des Menschen - alles das gehört zu unserem täglichen Leben. Ein Leben voller Poesie und Schönheit für einen Künstler. Eine charakteristische Besonderheit seiner Weltsicht ist sein ausgeprägtes Empfinden 86
für das Schöne in der Wirklichkeit, für ihre klaren Farben und ihren unermeßlichen Reichtum. Das Schöne einer neuen Welt wurde zum Hauptthema jener Werke, die das ganz Alltägliche, das Schicksal unermüdlich schaffender Menschen darstellen. Ein anderes Problem in unseren Diskussionen ist das Thema Literatur und Gegenwart. In unserer Epoche muß sich ein Schriftsteller darüber klar werden, welchen Platz er in der Gesellschaft einnehmen will und wie er in seinen Arbeiten seine Übereinstimmung mit den Interessen des Volkes zum Ausdruck bringen kann. Das ist ein objektives Gesetz der Literaturentwicklung, die stets und zu allen Zeiten von den Ideen ihrer Zeit durchdrungen war. Verständlich ist daher das Interesse, mit dem unsere Schriftsteller Diskussionen über Wege und Formen der Verbindung von Literatur und Gegenwart, über die Rolle des künstlerischen Wortes im Leben und im Kampf des Volkes führen. Einige Kritiker betrachten die Verbindung von Literatur und Gegenwart vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber, ihrer aktiven, erzieherischen und umgestalterischen Funktion. Der ästhetische Inhalt des Begriffes Gegenwart selbst könnte bei dieser Sicht in den Hintergrund geraten. Bei der Erörterung dieses Themas sollten wir davon ausgehen, welchen Reichtum unser Leben dem Künstler bietet. Es wäre völlig falsch anzunehmen, daß an der Verbindung von Literatur und Gegenwart nur die Gesellschaft interessiert sei. Viel bedeutender, ja notwendiger ist sie für die Literatur selbst, für sie ist dies buchstäblich eine Lebensfrage, eine Frage der künstlerischen Vollwertigkeit. Alexander Fadejew hat in seiner Rede „Schriftsteller und Gegenwart" auf der Konferenz der Schriftsteller der RSFSR (1939) auf die organische Einheit zwischen dem Streben eines Künstlers nach „dem Schönen" und seinem gleichzeitigen Wunsch, „das Charakteristische und Wichtigste aus der Gegenwart zu vermitteln", hingewiesen. 41 Die Suche des Künstlers nach Schönheit in Verbindung mit der Gegenwart sind zwei Aspekte eines Prozesses. In diesem Zusammenhang sei noch auf ein anderes Moment hingewiesen: So manche ungenauen und unbefriedigenden theoretischen Vorstellungen über das ästhetische Ideal stehen im Widerspruch zu den schöpferischen Erfahrungen der Sowjetliteratur. Es existiert beispielsweise die Tendenz, die Kategorie des ästhetischen Ideals hauptsächlich - oder auch ausschließlich - mit der Vorstellung zu verbinden, nur das Seinsollende als das Schöne anzusehen. Hier wird das Ideal als etwas betrachtet, das nur der Zukunft eigen sein wird, ein schöner Traum, für dessen Realisierung zwar objektiv und historisch begründete Voraussetzungen existieren, aber eben nur Voraussetzungen. Das aber würde bedeuten, um das Leben, so wie es ist, widerzuspiegeln, wäre es die Aufgabe des Schriftstellers, sich „die Frage zu stellen", wie dieses Leben eigentlich sein sollte. Die Darstellung des Seinsollenden als des Schönen ist selbstverständlich eine der wichtigsten Funktionen der realistischen Literatur. Die Sowjetliteratur ist gereift, hat sich gefestigt und die Achtung der Welt gerade dadurch erlangt, daß sie. in 87
ihren besten Werken den zutiefst ästhetischen Gehalt der sozialistischen Revolution enthüllte und die Geburt einer neuen Ära als Sieg einer neuen Schönheit aufzeigte. Dieses widerspricht in keiner Weise einer anderen Besonderheit der Literatur des sozialistischen Realismus: Sie offenbart das Schöne der Wirklichkeit, sie sieht die Verkörperung des Ideals in den Helden von heute und in ihren Problemen. „Der Mensch braucht ein Ideal, aber ein menschliches, der Natur entsprechendes und kein übernatürliches Ideal" 42 , schrieb Lenin. Andererseits muß man wohl auch jenen Forschern zustimmen, die gegen andere extreme Auffassungen auftreten, wo das Ideal entweder als etwas ganz Alltägliches, als Teil des Erreichten oder nur als zukünftiges Moment betrachtet wird. Das alles ist einseitig und führt zur Verarmung der Vorstellungen vom Ideal. Bereits Herzen hat in seiner Arbeit „Der Dilettantismus in der Wissenschaft" darauf hingewiesen, daß die Lösung dieses Problems nur über eine dialektische Betrachtungsweise führt: „Je besser und vollkommener die Gegenwart erfaßt wird, um so umfassender und wirklichkeitsgetreuer ist ihr Ideal."' 53 Das ästhetische Ideal des sowjetischen Künstlers findet sowohl in der Huldigung der Schönheit unseres Zieles, unseres Traumes als auch in der Anerkennung des Schönen als des Seinsollenden und des Existenten seine Widerspiegelung. Eine Literatur, die auf das Leben, wie es ist und wie es sein sollte, orientiert, lebt in der Gegenwart und findet die Verkörperung ihres ästhetischen Ideals in ihrer unmittelbaren Nähe, im Arbeitsgeschehen und im Kampf des Volkes. Wenn sich das „Ideal" eines Schriftstellers auf das Fehlen von Idealen reduzieren läßt (und das gibt es), kann selbst irgendein Oblomow44 nur schwerlich von der Wirklichkeit isoliert betrachtet werden. Stellt aber der Künstler sein ganzes Talent bewußt in den Dienst des Ideals, wird er gesetzmäßig zum Kämpfer für dieses Ideal. Die Dialektik dieses Prozesses äußert sich in dieser oder jener künstlerischen Methode und ist eines der kompliziertesten ästhetischen Probleme, das sowohl theoretische wie auch praktische Bedeutung hat. Es handelt sich um den Platz der Literatur in der Gesellschaft, im Leben des Volkes, um ihren Dienst für den gesellschaftlichen Fortschritt. Die Literatur des sozialistischen Realismus ist zutiefst im Leben und Schaffen des Volkes verwurzelt und organisch mit den Bestrebungen, Taten und Idealen der Volksmassen verbunden. Gerade dank diesem Umstand vermag sie in ihren besten Werken mit beeindruckender künstlerischer Kraft und Stärke die Wahrheit unserer Epoche zu erfassen. Die künstlerische Wahrheit ist für die Literatur eine grundlegende Frage und, ohne Übertreibung, eine Frage des Seins oder Nichtseins. Die wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Wirklichkeit betrachtet die marxistisch-leninistische Ästhetik als notwendige Voraussetzung und als eines der relevantesten Merkmale wahrer Volksverbundenheit der Literatur. Zu den verbreitetsten „Trümpfen" im Propagandafundus unserer Feinde gehört 88
der Vorwurf, daß der sozialistische Realismus die Wahrheit nicht als eine notwendige Voraussetzung für die künstlerische Widerspiegelung des Lebens betrachte, daß das Dominieren des sozialistischen Ideals unumgänglich Verzerrung der Wahrheit nach sich ziehe und den Schriftsteller dahingehend beeinflusse, das Leben nicht so aufzuzeigen, wie es ist, sondern so, wie man es eben sehen möchte. So stellt der amerikanische „Experte für den wissenschaftlichen Kommunismus", A. Meyer, in seinem Werk „Das sowjetische politische System. Eine Interpretation" fest: „In der Sowjetliteratur, im sowjetischen Kunstschaffen und auf der Bühne triumphiert stets die Tugend. Der Ausgang ist stets glücklich und von Sieg und Optimismus erfüllt." 45 Die Unhaltbarkeit solcher Behauptungen wird deutlich, wenn man sie mit den vielfältigen künstlerischen Erfahrungen der Literatur des sozialistischen Realismus konfrontiert. Diese Erfahrungswerte beweisen, daß der sozialistische Realismus - und gerade darin liegt seine Stärke - der Widerspiegelung der Lebenswahrheit größten Raum bietet und dem Dichter sowohl bei der Wahl der Themen, Probleme und Objekte seiner Darstellungen als auch der künstlerischen Lösungen jegliche Freiheit gewährt. Die Sowjetliteratur kennt keine „Zonen, die tabu sind". Erhabenes, Komisches, Tragisches, schärfste Gegensätze und äußerste Klarheit sind gleichermaßen akzeptabel. Unsere Schriftsteller stehen nicht vor der Entscheidung, die Wahrheit zu berichten oder nicht. Eine Frage dieser Art kennen sie nicht. Wahrheit ist die elementarste, die Ausgangsforderung der Ästhetik des sozialistischen Realismus. Entscheidend ist, welches Ideal dem Schriftsteller zur Wahrheitsfindung dient, welches Ziel er verfolgt und zu welchen Schlußfolgerungen er den Leser bewegt. Nur so ist die Frage nach der Position des Künstlers zu stellen, denn seine Position drückt sein ästhetisches Ideal aus, den sozialen Gehalt seines Ideals, sein Verhältnis zu den Vorstellungen des Volkes darüber, was im Leben schön und was häßlich ist, was der Vergangenheit und was der Zukunft gehört. Nur auf dieser Ebene wird in der Kunst des sozialistischen Realismus das Problem der künstlerischen Wahrheit gelöst, und nur auf diese Weise kommt der tiefe Zusammenhang dieses Problems mit dem Prinzip der Volksverbundenheit zum Ausdruck. Es ist kein Geheimnis, daß manche die Wahrheit als etwas Absolutes, als eine abstrakte Kategorie betrachten, als wäre es gleichgültig, in wessen Namen und mit welchem Ziel ein Künstler zur Feder greift. Jeden Versuch, den Begriff der Wahrheit anhand klassischer Kriterien, von der Position der Parteilichkeit aus zu beurteilen, werten jene dann als Vulgarismus, der der Kunst völlig widerspreche. Wir verwerfen eine pragmatische, konjunkturorientierte Interpretation der Wahrheit, wenn man unter Wahrheit das versteht, was sich als zweckmäßig und nützlich für die Gegenwart erweist. Die Theorie der „multiplen Wahrheit" ist keine marxistische Theorie. Diskussionen ergeben sich aber im Hinblick auf ein anderes Problem: Wir sind der Ansicht, daß es eine Wahrheit als solche nicht gibt. Die Auffassung, daß die Wahrheit von subjektiven Wertungen unabhängig sei und über 89
den Personen, den Klassenpositionen und -anschauungen stehe, hält der Kritik der marxistisch-leninistischen Ästhetik nicht stand. Im Begriff der Wahrheit vereinen sich Objektives und Subjektives, eine Tatsache und ihre Wertung. Der Künstler ist kein gleichmütiger Registrator. E r erforscht das Leben, analysiert und verallgemeinert Erscheinungsformen der Wirklichkeit und wertet sie ästhetisch. Bestätigen oder verneinen kann man auf unterschiedliche Weise, das hängt von der Weltanschauung, von der Position des Künstlers und seinem Ideal ab, das ihn inspiriert. Der Kampf für dieses Ideal, die „Inspiration" durch das Ideal ist die konkrete Ausdrucksform der Parteilichkeit des Künstlers und seiner Volksverbundenheit sowie Kriterium dafür, inwieweit diese Begriffe untrennbar miteinander verknüpft sind. Eine künstliche, eine gewaltsame Trennung der Lebenswahrheit von der Parteilichkeit, von der ideologischen Haltung eines Schriftstellers, ein illusorischer Objektivismus, alles das ist dem sozialistischen Realismus fremd. Sie führen, wie die Praxis beweist, zur Entstellung der Wahrheit, zur Einseitigkeit. Die „unparteiische" Wahrheit, die sich vom gesellschaftlichen ästhetischen Ideal entfremdet hat, ist Verrat am Realismus, eine Kapitulation vor dem Naturalismus und in der Endkonsequenz gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Wahrheit. Erst die Leninsche Parteilichkeit ermöglicht dem Künstler die Erschließung der Lebenswahrheit, einer Wahrheit, der sowohl Naturalismus, subjektivistische Willkür und idyllische Schönfärberei als auch Pessimismus wesensfremd sind. In der Kunst ist es nicht nur wichtig, was und wie der Künstler gestaltet, sondern vor allem auch in wessen Namen. Die Antwort auf diese Frage muß jeder Künstler selbst finden. Er sollte sich dabei von seiner Überzeugung, vom staatsbürgerlichen Bewußtsein, Verantwortungsgefühl und - eine Weile sind wir dieser Frage ausgewichen - seinen politischen, klassenmäßigen Vorstellungen leiten lassen. Der Künstler, der bewußt sein Schaffen in den Dienst des Volkes, der Partei stellt, urteilt über die Wirklichkeit vom Standpunkt des sozialistischen Ideals. Gerade diese Position hilft ihm, mit den Mitteln der Kunst die relevantesten Seiten des Volkslebens zu entdecken und sie in ihrer Vielfalt aufzuzeigen. Seine Gedanken über die Wahrheit, darüber, daß man sie „niemals verändern darf", hat Olexander Dowshenko in seinem Tagebuch festgehalten: „Man muß sie (die Wahrheit - ]u. B.) in Ehren halten und im Herzen tragen." 46 Besonders dieses „In-Ehren-Halten" hilft, die Welt zu erkennen. Wenn der Künstler diese Erkenntnisfähigkeit in sich trägt, wird sein ästhetisches Ideal nicht in Widerspruch zur Wahrheit des Volkslebens geraten, so prosaisch sie auch immer sein mag. Selbst wenn er negative, unserer Gesellschaft zutiefst fremde Erscheinungen beschreibt und enthüllt, die unser Voranschreiten behindern, wird das stets unter dem Gesichtspunkt der Bestätigung des Schönen, des Kampfes für das Schöne erfolgen. Entscheidend sind in der Endkonsequenz die Intensität der vom Künstler aufgezeigten bestimmenden Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung, des Volkslebens, seine klare ideologische Haltung und die Größe seines ästhetischen Ideals. 90
Auf dieser Grundlage basierte immer und basiert die Literatur des sozialistischen Realismus. Lediglich unsere ideologischen Feinde, die die Mühe scheuen, über das Wesen der Erscheinungen nachzudenken, können mit dem ästhetischen Ideal der Sowjetliteratur, ihrer Parteilichkeit, Begriffe wie „Sich-von-der-Wahrheit-Entfernen", „Schönfärberei", „Deformation" verbinden. Alexander Owtscharenko hat in einer Antwort an den amerikanischen Professor Ernest J. Simmons hervorgehoben, daß die Treue der Sowjetliteratur zu den sozialistischen Idealen, ihre Parteilichkeit „höchste Objektivität, größte Kühnheit dem Leben gegenüber und eine ausgesprochen nüchterne Einstellung zur W e l t . . . " nicht ausschließen, sondern sie gerade voraussetzen. „Sie (die Parteilichkeit Ju. B.) beginnt dort", schreibt Owtscharenko, „und, wenn Sie so wollen, verlangt, ja sie verlangt, daß die Welt in ihrer ganzen Kompliziertheit, in ihren Widersprüchen, im Kampf um die Lösung dieser Widersprüche dargestellt wird." 4 7 Hat etwa Michail Scholochow mit unseren Idealen gebrochen? Hat er sie nicht gerade mit der Darstellung des dramatischen Schicksals von Andrej Sokolow bestätigt? Greifen die Schriftsteller nicht in diesem Sinne wieder und wieder das tragische Kriegsgeschehen auf? Denken wir nur an die Werke von Juri Bondarew („Heißer Schnee", „Das Ufer"), Konstantin Simonow („Die Lebenden und die Toten"), Alexander Tschakowski („Die Blockade"), Iwan Stadnjuk („Der Krieg"), Wiktor Astafjew („Schäfer und Schäferin"), Walentin Rasputin („Leb und vergiß nicht"). Verfolgen nicht Schriftsteller wie Fjodor Abramow in der Tetralogie „Brüder und Schwestern", Sergej Krutilin in seinen Aufzeichnungen über „Das Dorf der Walstadt", Wassili Below in „Sind wir ja gewohnt", Michail Alexejew in „Der Kirschengrund", Schriftsteller wie Grigori Konowalow und Anatoli Iwanow bei der Darstellung der historischen Entwicklungstendenzen des sowjetischen Dorfes dasselbe Ziel? Widmen sich nicht die besten Gegenwartsautoren zur Bestätigung desselben Ideals den kompliziertesten gesellschaftlichen und ethischen Konflikten? Schärfe und kritische Orientierung dürfen dem Künstler jedoch nicht zum Selbstzweck werden. Die Wirklichkeit wahrheitsgetreu, das heißt vom Standpunkt echter Volksverbundenheit widerzuspiegeln, bedeutet nicht nur, ihre komplizierten Erscheinungsformen und Widersprüche, sondern auch ihre Hauptentwicklungstendenzen aufzuzeigen, die sich als ihr Ideal bestimmen lassen. Gerade diese Besonderheit der Literatur des sozialistischen Realismus hat Dmitri Starikow gemeint, als er allgemein von der „Schule der Furmanows" 48 sprach, mit ihrer kompromißlosen, nüchternen analytischen Grundhaltung und ihrer ungewöhnlichen Fähigkeit, an „jeglicher Art Wirklichkeit" (Lunatscharski), auch an einer rauhen, unangenehmen, sogar schrecklichen Wirklichkeit teilzuhaben, sich nicht im Chaos der Empfindungen zu verlieren und nicht vor der „Barmherzigkeit der Wirklichkeit zu kapitulieren" 49 . Manchmal macht ein Autor eine „Momentaufnahme" von Fakten und Erscheinungen, mit denen er konfrontiert wurde. Er greift auf, was auf der Oberfläche in Erscheinung tritt, und glaubt Wahres, aus dem Leben Gegriffenes beschrieben zu 9i
haben. Die Widerspiegelung der Lebenswahrheit ist jedoch bei weitem nicht so einfach. Das Leben ist voller komplizierter Erscheinungen, vielschichtig, widersprüchlich, und das Wesen der Erscheinungen repräsentiert sich selten in reiner Form. Wenn für uns die einfache Wiedergabe des Geschehenen als wahrheitsgetreues Abbild des Lebens ausreichend wäre, gäbe es keine unwahren Werke. Denn jeder Künstler strebt (sofern er ehrlich ist) nach Wahrheit. Nein, man kommt mit einer „Momentaufnahme" nicht aus. Der Prozeß der Widerspiegelung muß eine allseitige Analyse der Wirklichkeit unter bestimmten weltanschaulichen Aspekten, eine konzentrierte Gegenüberstellung von Tatsachen und Erscheinungen beinhalten und im Leben jene dominierenden Tendenzen auffinden, die Perspektive und Weiterentwicklung dieser Tendenzen vorhersehen. Selbstverständlich sollte die Auswahl des Objektes, des Materials und der Form zielgerichtet sein. Kunst ist ihrem Wesen nach selektiv. In der nichtmarxistischen Ästhetik betont man nur einen einzigen Aspekt dieses Problems: das Recht des Künstlers, frei zu wählen. In der Praxis wird das durch die Feststellung verdreht: „das Recht, nicht wählen zu müssen", sondern alles in das Kunstwerk aufzunehmen, was sich dem Auge darbietet. Eine solche Sicht zeugt unserer Meinung nach nicht vom Reichtum, sondern von der Armut einer Kunst. Über die Forderung nach der Freiheit, „das schreiben zu dürfen, was man will und wie man will", sagt Nikolai Schamota, daß dies in solchen Fällen gleichbedeutend mit dem Wunsche ist, das zu schreiben, „was man kann" und „wie man kann" 50 . Echte künstlerische Schaffensfreiheit, wie sie die marxistisch-leninistische Ästhetik versteht, setzt nicht nur das Recht des Künstlers zu wählen voraus, sondern sogar auch seine Pflicht. Das ist keine leichte Pflicht. Erfahrungen, Lebensweisheit, präzise Beobachtungsgabe, Talent, künstlerisches Einfühlungsvermögen, vollendete Meisterschaft und nicht zuletzt eine klare Weltanschauung sind dazu notwendig. Nur dieser Weg führt zur Lebenswahrheit. Wer die Schaffensfreiheit als eine Freiheit von den Gesetzen der Kunst und von den Verpflichtungen des Künstlers versteht, sieht seine Berufung nur in einer leidenschaftslosen Registrierung von Fakten, Erscheinungen, Ereignissen, Eindrücken und wird die Wahrheit des Lebens nicht einmal annähernd darstellen können. Die modernistischen Strömungen sind prinzipiell auf ein gespaltenes, chaotisches Weltbild, auf die Fixierung untypischer Erscheinungen und ihrer zufälligen Verbindungen orientiert. Auch in unserer Literatur waren vor nicht allzu langer Zeit einzelne Autoren, besonders der jüngeren Generation, von der Modeerscheinung verschiedener Etüden, Fragmente, Skizzen fasziniert. Wo „Logik der Fakten, Verfahren der Chemie" (Gorki) nötig gewesen wären, ließen sich nur oberflächliche Beobachtungen, verflachte Feststellungen und nebulöse Andeutungen finden. Die Vertreter dieser „Nicht-Literatur" - wie man sie bezeichnen könnte - betonen gern, daß jeder Autor völlige Freiheit in der Wahl des Aspekts habe, unter dem er die Wirklichkeit betrachtet, und mehr noch, auch in der Wahl des Genres völlige Freiheit walten lassen könne. Das ist zwar richtig, aber nur die erste, elementarste 92
Stufe seiner Freiheit als Schöpfer. Außer den Gesetzmäßigkeiten des Genres, den Gesetzen der kapriziösen künstlerischen Phantasie existiert noch das allerhöchste Gesetz der Kunst: das Gesetz der Wahrheitstreue gegenüber dem Leben. Echte schöpferische Freiheit ist ohne die Fähigkeit des Künstlers, seine Weltanschauung organisch mit der objektiven Wahrheit dieser Welt zu verbinden, undenkbar. Wahrheit kann nur unter einer Voraussetzung widergespiegelt werden: Der Künstler muß sich mit ihr auseinandersetzen. Wofür spricht diese Tatsache? Nur dafür, daß der Begriff der Widerspiegelung der Wirklichkeit keine quantitative Kategorie ist. Entscheidend ist nicht die Geographie, nicht die Chronologie, nicht die Zahl der handelnden Personen, entscheidend ist allein die Haltung des Autors, die Fähigkeit des Künstlers, die Dynamik des Lebens, seine Entwicklungstendenzen und die komplizierten Wechselbeziehungen der Erscheinungen aufzuzeigen. Manche Epopöen leiden an eingeschränkter Wirklichkeitsbetrachtung, während oft in einer Erzählung das Schicksal eines Menschen über den historischen Weg eines ganzen Volkes, über eine Epoche aussagen kann. Der Künstler ist nicht verpflichtet, in einem Werk das Leben in seiner Gesamtheit wiederzugeben. Die Kritik, die solche Forderungen erhebt, verläßt den Boden der Realität. Aber die Empfindung für die lebendigen, vielgestaltigen Verbindungen und Beziehungen, das Gefühl für die Perspektive des Lebens darf er nicht verlieren, welchem Genre er sich auch immer zuwenden mag. Das ist das Unterpfand der Wahrheit eines Werkes, darin kommen die Parteilichkeit des Künstlers, seine Volksverbundenheit und Wahrheitstreue dem Leben gegenüber zum Ausdruck. In der letzten Zeit wurde viel über ein verstärkt analytisches, forschungsmäßiges Vorgehen in der Literatur, über eine Steigerung ihres „Bewußtseinstonus" diskutiert. Zum Nachdenken regte die Tendenz an, das Wesen dieses Prozesses mittels der stärkeren Akzentuierung von düsteren und negativen Seiten des nationalen Lebens zu erfassen. Der Terminus Wahrheit verbindet sich in diesen Fällen vor allem - wenn nicht ausschließlich - mit einem kritischen Anliegen, mit einer „Entlarvung", mit einer stümperhaften Darstellung von Leidenschaften und Greueltaten und der Anhäufung ethischer, moralischer und sonstiger Schwächen. Die Literatur sollte hier die Rolle eines Signalgebers für diese oder jene Abweichung von der Norm in einem gesellschaftlichen Organismus übernehmen. Die Logik dieser Betrachtungsweise soll anhand des Aufsatzes von Felix Swetow „Über eine unschöpferische Literatur" analysiert werden. Swetow schreibt: „Muß sich die Literatur denn tatsächlich um ernstere Probleme kümmern, Tragödien behandeln, Fragen stellen und sie beantworten, gegen Verlogenheit und Falschheit ankämpfen? Wäre es nicht angenehmer, eine Erzählung oder einen Roman über Helden lesen zu können, die in jeder Hinsicht schön sind, über Ritter ohne Furcht und Tadel - und nur über sie? Aber doch auch der Schriftsteller, der umfassend und schonungslos das Wesen und die Ursachen des Bösen in unserem Leben zu analysieren vermag, verdient letzten Endes Aufmerksamkeit. Bei diesem 93
Zeitgenossen kann man sich zwar nicht amüsieren, die Zeit nicht angenehm verbringen, sich Träumen hingeben oder sich an schönen Details erfreuen. Aber der Dialog mit einem solchen Gesprächspartner verspricht uns jenes Wissen, das uns helfen kann, das Wesen solcher Erscheinungen zu erkennen, kann das in uns schlummernde ethische Empfinden wecken und uns davon abhalten, wieder in Träumereien zu versinken." 51 Dieses Zitat anzuführen war notwendig, um die einzelnen Gedankengänge des Kritikers erfassen zu können, die letzten Endes zu einer charakteristischen Schlußfolgerung führen. Wir befinden uns in einem Dilemma: Welche Literatur ist gefragt? Eine geistlose, amüsante Pseudoliteratur, die den Leser einzulullen vermag, eine Literatur zum „Zeitvertreib", oder eine Literatur, die sich mit ernsthaften Problemen auseinandersetzt? Swetow zufolge ist übrigens die Existenz des positiven Helden eine der relevantesten Eigenschaften, die die gehaltlosen, schönfärberischen Werke auszeichnen. Hier gibt es nur eine Alternative: Entweder wählt man das konfliktlose Klischee oder man wählt die schweren Jahre des Kampfes, die Literatur über den Bürgerkrieg. Kann es bei dieser Fragestellung überhaupt Zweifel darüber geben, was ein x-beliebiger Leser wählen wird, der nachzudenken versteht? t Im Verlaufe des Aufsatzes ändern sich Swetows Gedanken dann - auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar - entscheidend. Die uns von ihm aufgedrängte These über die Literatur des Bürgerkrieges erfährt eine höchst interessante Metamorphose, die allerdings im zornigen Aufbegehren gegen die konfliktlose Literatur nicht sofort erkennbar wird. Der konfliktlosen Literatur wird jetzt nicht mehr jene Literatur gegenübergestellt, die sich „mit ernsteren Problemen auseinandersetzt", sondern eine Literatur, die das Wesen und den Ursprung des „Bösen" in unserem Leben analysiert und „schonungslos" aufdeckt. Der Kritiker bezeichnet zwar zu Recht diese Literatur als eine Literatur, die „letzten Endes Aufmerksamkeit verdient", doch diese vorsichtige Formulierung wird dann von seinen nun folgenden Gedankengängen zunichte gemacht. Swetow präzisiert: Gerade die Literatur, die das „Böse" als Objekt gewählt hat und deren Hauptmerkmal die „Schonungslosigkeit" ist, diese und nur diese Literatur ist in der Lage, den Leser mit jener „Sachkenntnis" auszustatten, die ihm hilft, das „Wesen der Erscheinungen" zu erfassen. 52 Was versteht er unter „Sachkenntnis" und unter dem „Wesen der Erscheinungen", wenn nicht die Wahrheit über eine Sache oder eine Erscheinung, deren künstlerisches Abbild Ziel jeglichen Schöpfertums ist? Der logische Kreis schließt sich hier. Die Lebenswahrheit und die starke Akzentuierung der düsteren Seiten der Wirklichkeit werden in eine direkte Wechselbeziehung gebracht. Es wäre zumindest eigenartig zu leugnen, daß die Kritik von Mängeln und Schattenseiten in unserer Entwicklung eine gesetzmäßige Funktion der Kunst, eine spezifische Form der Erkenntnis der Wirklichkeit ist. 94
Was die Kunst des sozialistischen Realismus anbelangt, so sind die Wurzeln dieser Funktion in den Besonderheiten der marxistischen Philosophie zu suchen, die eine kritische, revolutionäre, auf die aktive Umgestaltung der Welt, auf ihre Vervollkommnung gerichtete Philosophie ist. Die Kunst, und besonders die Kunst des sozialistischen Realismus, darf sich nicht nur auf diese Funktion beschränken. Ihre Aufgabe ist es, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Breite, ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt darzustellen, nicht nur zu negieren, sondern auch zu akzeptieren, nicht nur die krankhaften Erscheinungen aufzuzeigen, sondern auch die Heilmethode dafür anzugeben. Sich von einer derartigen Darstellungsweise, die die Hauptrichtung in unserer Kunstentwicklung bestimmt, zu entfernen, hieße, das Bild des Volkslebens einzuengen, es nur einseitig zu beleuchten. Zwischen Wahrheit und „Entlarvung" ist die Verbindung annähernd so geartet wie zwischen Wahrheit und einer „Theorie der Konfliktlosigkeit". Die seinerzeit nach den Rezepten dieser Theorie geschriebenen Werke waren nicht alle falsch und verlogen. Sie spiegelten einen gewissen Teil der Wahrheit über unsere Wirklichkeit wider, aber eben nur einen Teil. Das reale Leben mit seinen komplizierten Konflikten und seiner Dramatik, mit seinen ungewöhnlichen menschlichen Schicksalen, seinen Nachkriegsschwierigkeiten blieb am Rande. In der Regel beinhaltet der „schonungslose" Realismus nichts Unwahres, und nicht umsonst lautet das Hauptargument seiner Anhänger: „So war das Leben." Aber, daß etwas nicht unwahr ist, bedeutet noch lange nicht, daß es die volle Wahrheit ist, besonders in der Kunst. Eine Literatur, die sich nur auf die Schattenseiten des Lebens, nur auf das Schlechte und Böse konzentriert, deckt bestenfalls nur einen gewissen Teil der Wirklichkeit auf. Methodologisch relevant sind für das Verständnis des Wesens dieser Erscheinungen Lenins Gedanken über die gnoseologischen Grundlagen subjektivistischer Abweichungen und Verzerrungen jeglicher Art innerhalb des menschlichen Erkenntnisprozesses. „Das Herangehen des Verstandes an das einzelne Ding, die Anfertigung eines Abdrucks (d. h. Begriffs) von ihm, ist kein einfacher, unmittelbarer, spiegelartig toter, sondern ein komplizierter, zweiseitiger, zickzackartiger Vorgang, der die Möglichkeit in sich schließt, daß die Phantasie dem Leben entschwebt." 53 In der Kunst ist eine derartige „Ausrichtung" einseitig, „hölzern" und „verknöchert", mit Subjektivismus und subjektivistischer Blindheit gepaart, wovon bereits Lenin gesprochen hat. Von vollkommener Wahrheit kann in solchen Fällen nicht die Rede sein, hier wird die Unwahrheit geboren. „Einseitigkeit in der Betrachtungsweise führt immer zu falschen Schlüssen", warnte schon Belinski in seinem Artikel „Gedanken und Bemerkungen über die russische Literatur", „auch wenn diese Betrachtungsweise tiefgründig ist und Scharfsinn verrät". 5 '' Einem Werk, das im Geiste der „schonungslosen" Realismus geschrieben ist, kann man nicht von vornherein „Tiefgründigkeit und Scharfsinn" absprechen, weil der Autor jene Seiten und Aspekte des Lebens verfolgt, die bisher 95
aus den verschiedensten Gründen außerhalb des Betrachtungsfeldes der Literatur blieben. Darin liegt seine Stärke, die sich aber schnell in Schwäche verwandeln kann, sofern der Künstler über die Anfangsetappe nicht hinauskommt, wenn die von ihm aufgespürten Schattenseiten und negativen Erscheinungen isoliert von den übrigen Erscheinungen des Lebens dargestellt werden. Daraus ergibt sich dann eine einseitige Betrachtungsweise, die unweigerlich zur Verarmung der Literatur, zur Einengung ihrer Möglichkeiten führen muß. Das echte Anliegen der Literatur ist eben nicht nur das „Signalisieren" von Mängeln, sondern das Verstehen des Lebens, das untrennbar mit einer aktiven Einflußnahme und Umgestaltung verbunden ist. Eine interessante Polemik gegen die „Entlarvungstendenz" in der Literatur führt Wassili Nowikow in seinem Buch „Künstlerische Wahrheit und Dialektik des Schaffens" 55 . Im folgenden Zitat nimmt er Bezug auf den Aufsatz von Georgi Kunizyn „Kunst und Politik" 56 : „Ich halte die Ansicht für prinzipiell falsch, daß die Kunst in der Periode des entwickelten Aufbaus des Kommunismus in erster Linie die Rolle eines Signalgebers für Unzulänglichkeiten erfüllen soll, negative Seiten aufzeigen und damit eine Korrektur der allgemeinen Entwicklungsrichtung der Gesellschaft vornehmen soll." 57 Die von Nowikow vertretene These, daß „vor der Kunst in der Periode des Aufbaus des Kommunismus in erster Linie die Aufgabe der Poetisierung des Schönen, Positiven, Großen steht" 58 , halte ich jedoch nicht für erschöpfend. Diese Formulierung sowie die Frage hinsichtlich der „Hierarchie" der Aufgaben der Kunst erwecken den Eindruck, als ob hier ein Extrem durch ein anderes ausgetauscht wird - und das dürfte wohl nicht den Absichten und dem Anliegen des Autors entsprechen. Ich meine, daß der Dialektik des Lebens und künstlerischen Schaffens immer noch das Prinzip der Vielseitigkeit und der Vollständigkeit am ehesten gerecht wird. Denn der Künstler ist unaufhörlich bestrebt, die dynamische Entwicklung der Welt, ihr historisches Wesen und den Lebensinhalt der Menschen zu erfassen, die realen Proportionen zu verstehen und zu reflektieren. Fedin schrieb darüber an einen Leser: „Ohne die Relation von Licht und Schatten gibt es keine Kunst. Diese einfache Regel ist fast jedem bekannt, aber man vergißt allzu leicht, daß in einem Kunstwerk (und in der Natur übrigens auch) kein Schatten ohne Licht entstehen kann." Diese Relation von Licht und Schatten im Leben zu sehen und zu erfassen, das ist eine der Grundvoraussetzungen für die Wahrheit in der Kunst. Die Gleichsetzung des Begriffes Wahrheit mit negativem Pathos, mit „Entlarven", hat ihren Ursprung in verzerrten Vorstellungen von der Rolle der Literatur im Leben eines Volkes und der Gesellschaft. Das äußert sich in solchen Vorstellungen, daß gerade die Literatur und nur sie in der Lage ist, kühn, ohne Umschweife, Schwächen anzuprangern, die Gesellschaft aufzurütteln und zu aktivieren, um dem Fortschritt zum Durchbruch zu verhelfen. Dem Schriftsteller fällt die Rolle des Propheten, des Messias, wenn nicht gar die des einzigen Kämpfers für 96
die Interessen der Massen zu, ihm, der in solchen Vorstellungen außerhalb der Politik, genauer, darüber steht. Der Schriftsteller - meint man - besitzt einen schärferen Blick, begreift alles besser, da er dem Volk besonders nahe steht, seine Sorgen und Nöte am besten kennt und daher der erste und unmittelbarste Vertreter der Volksinteressen sein muß. Eine solche Auffassung von der Volksverbundenheit der Literatur spiegelt eine sich verbreitende Tendenz der Überbetonung „außerpolitischer" Faktoren in der Entwicklung der heutigen Gesellschaft wider. Und noch etwas muß hervorgehoben werden: Die Illusion von der MessiasRolle der Literatur steht, obgleich sie den utilitaristischen, vulgärpolitischen Auffassungen vom Kunstschaffen scheinbar widerspricht, ihrem Wesen nach diesen Auffassungen sehr nahe. Analysiert man das Verhältnis zur Literatur als einer Dienerin der Politik und den Dichter als Messias, erkennt man, daß diese Erscheinung nichts-anderes ausdrückt als eine primitive Vorstellung vom Einfluß der Literatur auf das gesellschaftliche Leben, die vom Marxismus weit entfernt ist. Wir betrachten die Literatur als wichtigste Sphäre des geistigen Lebens der Gesellschaft, als scharfe und in ihrer Art unersetzliche Waffe im ideologischen Kampf. Diese Aufgaben erfüllt sie mit ihren spezifischen Mitteln, sie fördert die moralisch-ethische, die ästhetische und ideologische Erziehung des neuen Menschen und formt eine harmonische Persönlichkeit. Aus diesem Grunde kann man die staatsbürgerliche Aufgabe der Literatur in unserer Gesellschaft nicht hoch genug einschätzen. Die sowjetische Intelligenz läßt sich jedoch nicht von Ansprüchen auf irgendeine Sonderstellung in der Gesellschaft leiten, sondern ist bestrebt, dem Volk zu dienen. Das Wichtigste ist die organische Verbindung von staatsbürgerlichem Verantwortungsbewußtsein und parteilicher Zielstrebigkeit des Schriftstellers mit seiner schöpferischen Initiative. Spricht man vom Prinzip der Volksverbundenheit, das mit dem ästhetischen Ideal und der künstlerischenftf/ahrheit eng verbunden ist, müssen - wenn das hier auch nur flüchtig erfolgen kann - solche Probleme in der Literatur wie Romantik, das Verhältnis von Wirklichkeit und Traum, von Existentem und Seinsollendem mit einbezogen werden. Im Verlaufe der Diskussionen, die sich in den fünfziger Jahren um Fadejews „Junge Garde" entwickelt hatten, sprachen sich einige Kritiker berechtigt gegen Versuche aus, die sogenannte Neoromantik zur Universalmethode der Sowjetliteratur zu erklären. Sie äußerten die Befürchtung, daß sich der Hang zur Romantik mit einer gewissen, vielleicht unbewußten Hoffnung verbinden könnte, auf irgendeine Weise die realen Widersprüche des Lebens umgehen zu können, die Lebenswahrheit zu „überlisten". Diese Gedanken lassen sich etwa so zusammenfassen: Wenn die Anhänger der Romantik bestrebt sind, das Schöne als das Seinsollende und - in der Hauptsache als das Existente zu bezeichnen, wären sie dann nicht zu Schönfärberei, zur Idealisierung unseres Lebens gezwungen? Und könnte man nicht daraus folgern, daß das Aufzeigen der schönen Seiten und die Abkehr vom Leben des Volkes mit 7
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seinen komplizierten Erscheinungen und seiner Dramatik ein charakteristischer Wesenszug der romantischen Tendenz sein muß? 59 Seinerzeit hat der Kritiker Wladimir Ognew in seinem Artikel „Über die romantische Poesie" 60 festgestellt, daß Olexander Dowshenko und Samed Wurgun in ihren Werken „über die Köpfe der einfachen Menschen" hinwegblickten. Ognew sieht darin eine ernsthafte Schwäche der ästhetischen Ansichten Dowshenkos und Wurguns. Gleichzeitig vertritt er aber die Meinung, daß diese „Ritter der Kunst" Achtung verdienen, da ihre Ziele edel und human seien. Uns wird hier eine Legende vom romantischen Künstler angeboten, der zwar ehrlich und aufrichtig, aber weit vom realen Leben entfernt ist, der „über den Dingen" steht, etwa einem Don Quichote in der Kunst ähnelt und deswegen Nachsicht verdient. Das Schaffen eines Dowshenko oder Wurgun steht also nach dieser Interpretation der Kunst des sozialistischen Realismus fern. Und eine Kunst mit romantischem Charakter erscheint somit als eine Kunst zweiten Ranges. Die Legende vom romantischen Don Quichote ist eine Erscheinung jenes Mißtrauens, jener Voreingenommenheit der Romantik gegenüber, der man auch noch heute in unserer Literaturpraxis begegnet und die man nach meiner Ansicht als ein Merkmal der zu eng verstandenen ästhetischen Auffassungen betrachten kann. In Gesprächen über künstlerische „Unzulänglichkeiten" dieses oder jenes Werkes, über das Abweichen von der Lebenswahrheit, über erkünstelte Gefühle und Empfindungen der Helden, über die Zerstörung der Logik der Charaktere und anderes mehr, ertönt sofort der Hinweis auf die Romantik. Von diesem Standpunkt aus betrachtete seinerzeit die Kritikerin I. Solowjowa die Prosawerke Juri Kasakows und brachte alle ihre Unzulänglichkeiten mit einer „falsettenartigen romantischen Note" in Verbindung. Man kann Kasakow in der Tat vieler Mängel bezichtigen, aber gerade in der Romantik „sündigte" er nicht. Solowjowa stellte zu Recht fest, daß das Poetische solcher Erzählungen Kasakows wie „Nikischkas Geheimnisse" und „Das Hirschgeweih" vorsätzlich, unnatürlich sei und die offensichtliche Stilisierung des Skas uns in einigen Novellen wirklich unangenehm berührt; alle möglichen Trolle in altertümlicher Maskerade und andere pseudoromantische Attribute tauchen hier auf. D a stellt sich die Frage, worin hier eigentlich die Romantik besteht und ob es nicht angebracht wäre, die Dinge beim Namen zu nennen und von lebensfremder Schriftstellern zu sprechen? Der Kritiker Wladimir Lakschin hat auf einer wissenschaftlichen Tagung zu Problemen des sozialistischen Realismus versucht, theoretisch zu begründen, daß die romantische Betrachtungsweise ein Hemmschuh für die weitere Vertiefung des Realismus sei. Lakschin vertrat die Ansicht, daß sich die romantische Strömung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Reihe guter, von Talent zeugender Werke hervorgebracht hat, schon lange überlebt habe und nicht mehr dem betont analytischen, nüchternen Zeitgeist entspräche. Ungeachtet der Vorbehalte hinsichtlich des Unterschieds zwischen „echter" und „scheinbarer" Romantik sind Lakschins Überlegungen insgesamt der deutliche Ausdruck einer antiromantischen Linie. Denn 98
gerade in Verbindung mit der Romantik sieht der Kritiker in der Endkonsequenz „romantisches Entzücken", „selbstzufriedene Prahlerei", „sich-überschlagende-Rhetorik" in der heutigen Literatur als Fehler an. 61 Es besteht wohl kaum die Notwendigkeit, hier einen Überblick über die zahlreichen „antiromantischen" Ansichten und Konzeptionen zu geben. Ich möchte nur betonen, daß es unter den Gegnern der Romantik anerkannte Autoren gibt, die in ihr eine Erscheinungsform der idealistischen Weltanschauung sehen. Andrejs Upits vertritt beispielsweise in seiner Arbeit über Probleme des sozialistischen Realismus die Ansicht, daß in unserer Literatur Romantik nicht nur unnötig sei, sondern sich negativ auf die wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Wirklichkeit auswirke, den Autor vom Leben des Volkes entfremde.62 Die Lösung dieses Problems ist offensichtlich im Leben selbst, in den Gesetzmäßigkeiten der künstlerischen Praxis zu suchen. Auf Grund langjähriger Erfahrungen der Sowjetliteratur wurden wesentliche Korrekturen am Terminus Romantik vorgenommen, der prinzipielle Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen romantischem Pathos und Lebenswahrheit, wurde aufgehoben. Die alte, „schulmäßige" Vorstellung von der Romantik als einer vom Leben losgelösten, mit der rauhen Wirklichkeit des Alltags unvereinbaren Erscheinung ist seit langem schon zum Anachronismus geworden. Die Stärke der Literatur des sozialistischen Realismus gegenüber der Literatur der Vergangenheit besteht unter anderem darin, daß sie die Welt im historischen Vorwärtsschreiten zeigt und daß für sie die Zukunftsbestrebungen, die Fähigkeit, in der realen Umwelt Züge des Neuen zu sehen, eine Perspektive aufzuzeigen, charakteristisch sind. „In diesem Sinne", betonte Fadejew, „bezieht der sozialistische Realismus die revolutionäre Romantik, das heißt den revolutionären Traum von der Zukunft, der sich auf eine reale Entwicklung stützt, mit ein." 63 Das Leben des Volkes, die Arbeit des sowjetischen Menschen ist die Quelle dieser Stärke. Daher steht der Terminus Romantik nicht im Gegensatz zur Volksverbundenheit unserer Literatur, sondern ist aufs engste mit ihr verbunden. Man kann sagen, daß ohne die Romantik, die auf dem Wesen unseres Volkslebens basiert, die wahrheitsgetreue Widerspiegelung dieses Lebens unmöglich ist.64 Weder Dowshenko noch Wurgun, noch die Romantik als Ganzes sind dem Untergang geweiht, um noch einmal auf die Legende vom Don Quichote zurückzukommen. Ein aufmerksamer und unvoreingenommener Beobachter wird feststellen, daß die „Theorie der Konfliktlosigkeit" nicht ausschließlich und nicht vorzugsweise in Werken mit romantischer Färbung Widerhall gefunden hat. Dem Leser wurde eine heile Welt anstelle von Lebenswahrheit häufig auch in jenen Werken vorgeführt, deren Autoren dem realistischen Genre verhaftet sind. Ist es überhaupt angebracht, die Wurzeln einer so komplizierten gesellschaftlich-geistigen Erscheinung, wie sie die „Theorie der Konfliktlosigkeit" darstellt, im Bereich der Literaturgattungen und -Stile zu suchen? Die Forderung, die Wahrheit zu schreiben, das Leben vollständig und allseitig 7*
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in einer Darstellung wiederzugeben, den Kampf der Widersprüche und neue, fortschrittliche Entwicklungstendenzen der Gesellschaft aufzuzeigen und dabei gegen das Alte, Überkommene zu Felde zu ziehen, diese Forderung erstreckt sich über die gesamte Literatur des sozialistischen Realismus. Weder ein Genre noch eine Stilrichtung befreien den Künstler davon. Es ist eine falsche Vorstellung, daß die Romantik der Kunst das Recht einräumt, auf eine allseitige und wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens zu verzichten. Auf diesem illusorischen Recht fußt übrigens die von einer Reihe chinesischer Autoren verkündete Konzeption der „revolutionären Romantik". Das Wesen dieser Konzeption, betonen ihre Verfechter, liege vor allem darin, daß das in den Werken der Literatur und Kunst dargestellte Leben feierlicher, klarer und idealer als die Wirklichkeit sein sollte. Bereits im Mai 1942 wurde auf einer Tagung zu Fragen der Literatur und Kunst in Yenan der Gedanke geäußert, daß die „revolutionäre Romantik" einerseits gleichbedeutend sei mit einer starken Akzentuierung der Sonnenseiten des Proletariats und andererseits mit der Betonung der Schattenseiten der Bourgeoisie. Dabei war man bemüht, sich auf die sowjetische Literatur und Kunst zu beziehen, die in der Periode des Aufbaus des Sozialismus - wie man meinte - in der Hauptsache die lichten Seiten des Lebens dargestellt habe. Der gesamte Erfahrungsschatz des sowjetischen Literaturschaffens zeugt davon, daß diese Behauptungen, eine derartige verflachte, schematische Interpretation der revolutionären Romantik, von der Ästhetik des sozialistischen Realismus weit entfernt sind. Vergeblich bemüht sich auch Roger Garaudy, in seinem Werk „Das chinesische Problem" nachzuweisen, daß in Yenan jene Prinzipien entwickelt worden seien, die - wie er meint - für solche „Pseudoorthodoxie" wie der sozialistische Realismus charakteristisch seien.65 Man sollte nicht vergessen, daß wissenschaftliche Objektivität eine differenzierte Einschätzung der Erscheinungen verlangt, die nicht miteinander verbunden sind, ja die sogar einander widersprechen. In der Kunst des sozialistischen Realismus bilden Romantik und Realismus eine ideell-ästhetische Einheit, eine prinzipiell neue künstlerische Qualität, in der die Romantik nicht zu einer vom Leben losgelösten Kunst wird und der Realismus nicht dem Höhenflug schöpferischen Enthusiasmus Einhalt gebietet, sondern das Leben in seiner ganzen Dynamik widerspiegelt. Deshalb betrachten wir mit Recht die Romantik in untrennbarer Einheit mit jenen Kategorien wie Volksverbundenheit, ästhetisches Ideal und künstlerische Wahrheit. Ein weiteres Thema ist das Problem Held und Heldentum. Die französische Wochenzeitschrift „Nouvelle litteraire" schätzt den Helden des „nouveau roman" so ein: „Ein Diogenes ohne Feuer, der sich im Schein einer Straßenlaterne vergeblich bemüht, etwas zu finden, und dazu verdammt ist, dabei unterzugehen." Wir können diese Beurteilung analog auf alle anderen dekadenten Tendenzen in der Literatur übertragen. Ein „Antiheld", ein „Diogenes ohne Feuer", ein Mensch ohne klares Ziel und ohne Lebensideale ist eine Gestalt, die für die mo-
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derne bürgerliche Kunst charakteristisch ist. „Wo sind die Helden geblieben?" diese Frage stellt sich heute die Intelligenz des Westens immer häufiger. Der englische Schriftsteller Ronald F. Delderfield verwendet diese Frage als Titel eines Aufsatzes, den er in der Monatsschrift „Books and Booksman" veröffentlichte. Nicht ohne einen Anflug von bitterer Ironie polemisiert er gegen jene, die die hervorstechende Besonderheit der westlichen Literatur der letzten Jahre nur in der freien Darstellung des Sexuallebens sehen. Delderfield zufolge ist das nur ein äußeres Merkmal, allerdings das offensichtlichste und hervorstechendste der heutigen bürgerlichen Literatur. Das wesentlichste Merkmal aber: In den westlichen Literaturen verschwand der Held, an seine Stelle trat entweder ein Antiheld oder eine gewisse immaterielle Abstraktion ohne individuelle Besonderheit. Das Verschwinden des Helden aus der Literatur beunruhigt Delderfield. Er sieht darin die Bestätigung für eine sich vollziehende moralische Wandlung, für eine katastrophale Mißachtung ethischer und geistiger Werte. Man ist es leid, ständig zu konstatieren, meint er, daß die Welt ein schmutziger Ort voller Laster und ohne Hoffnung, die Heimstatt von Lügnern, Dieben, Wüstlingen und Nichtsnutzen ist. Diese Literatur lehrt nur, mit dem Strom zu schwimmen, sich anzupassen, als Dieb oder gemeiner Heuchler aufzutreten. In der Frage von Held und Heldentum verläuft eine prinzipielle ideologischästhetische Grenze zwischen Modernismus und sozialistischem Realismus, der Kunst, die ihr Schaffen mit den fortschrittlichsten und lebenbejahenden Idealen unserer Epoche verbindet. Das ästhetische Ideal eines Künstlers nur anhand seines positiven Helden (zumindest aus der Sicht des Autors) zu beurteilen ist problematisch. Die Begriffe Ideal und Held sind nicht identisch, denn unser Urteil über das Ideal eines Autors geben wir auch in jenen Fällen ab, wo eine negative Gestalt im Mittelpunkt eines Werkes steht. Das trifft sowohl für die Satire als auch für die Lyrik zu. Dennoch kommt der Gestalt des Helden eine besondere Rolle zu. Nirgendwo sonst wird mit einer solchen Anschaulichkeit und Überzeugungskraft dargestellt, wie ein Mensch ist oder wie er sein sollte, wozu er auf dieser Welt lebt, als durch einen vom Künstler erwählten Helden. Seit jenem Zeitpunkt, da sich unsere Literatur für immer mit den Idealen des Leninismus, mit der Revolution verbunden hat, nimmt die Gestalt des wahren Helden dieser Epoche, der die Welt umzugestalten vermag, eine dominierende Stellung in der Literatur ein. Im Laufe einer jahrzehntelangen Entwicklung der Literatur des sozialistischen Realismus hat unser Ideal, von dessen Verkörperung Lenin träumte, sich vor allem in der Gestalt des neuen Helden manifestiert: in einem Pawel Wlassow, einem Tschapajew, im Lewinsohn und Pawel Kortschagin, Kurilow und Iswekow, im Semjon Dawydow, in den Junggardisten, im Alexej Meresjew und Andrej Sokolow. Dank der gewaltigen Ausstrahlungskraft dieser und anderer Gestalten der Sowjetliteratur wurden die Ideale des Sozialismus Millionen Menschen auf der Welt nahegebracht. IOI
Diese oder jene Züge des ästhetischen Ideals eines Künstlers in der Gestalt des Helden widerzuspiegeln ist schon seit alters bekannt. Schon Boileau-Despreaux forderte in Übereinstimmung mit den Normen des Klassizismus, daß der Held frei von kleinbürgerlichen, unehrenhaften Gefühlen, „tapfer und edelmütig" sein soll, wenn auch nicht frei von Schwächen.66 Doch die Vertreter des Klassizismus und der Romantik verstanden - bei aller Bedeutsamkeit ihrer künstlerischen Errungenschaften - die Schaffung und Entwicklung eines Helden im wesentlichen als „Umsetzung" ihrer Ideen in eine menschliche Gestalt, als Personifizierung bestimmter Normen. Der realistischen Kunst ist dieses Prinzip fremd. Ein realistischer Schriftsteller schöpft aus dem Leben, für ihn verkörpert der positive Held einen lebendigen menschlichen Charakter; er ist ein Mensch seiner Zeit, der auf diese oder jene Art den fortschrittlichen Geist der Epoche, die Entwicklungstendenzen und die besten Ideale der Gegenwart repräsentiert. Unsere ideologischen Feinde schreiben der Kunst des sozialistischen Realismus als Qualitätsnorm primitive „Ideal"-Schemen zu. Unserer Ästhetik liegt nichts ferner als das. Die Stärke der Literatur des sozialistischen Realismus besteht gerade darin, daß ihr Held keine abstrakte Verkörperung von Wesenszügen eines Ideals darstellt, kein Homunkulus ist, sondern unmittelbar aus unserem Leben hervorgeht und typisch menschliche Züge trägt. Rufen wir uns die Helden unserer Literatur aus der unmittelbaren Vergangenheit ins Gedächtnis, so finden wir die vielfältigsten menschlichen Individualitäten vor: Menschen vom Typ eines Pawel Kortschagin, die uns durch ungeheure Zielstrebigkeit und unbeugsamen Willen beeindrucken, oder eines Sergej Petrow aus der Erzählung von Wladislaw Titow „Dem Tod zum Trotz" oder eines Leutnant Knjashko aus Juri Bondarews Roman „Das Ufer". Das sind Menschen, die nicht frei sind von Widersprüchen und Schwächen, aber starke Überzeugungskraft und ein staatsbürgerliches Verantwortungsbewußtsein haben, wie Bachirew aus dem Roman „Schlacht unterwegs" von Galina Nikolajewa, wie Konstantin Simonows Serpilin oder Derbatschew aus dem Roman „Bittere Gräser" von Pjotr Proskurin, Stephan Bukow aus der Erzählung „Die Sonderabteilung" von Wadim Koshewnikow, Tschinkow aus dem Roman von Oleg Kuwajew „Das Territorium", die Kinderhelden, die im Feuer des Gefechtes zu Erwachsenen wurden, die Helden der Romane Sergej Barusdins oder Michail Godenkos, solche typischen Volkshelden wie Fenja aus dem Roman von Michail Alexejew „Die Weide trauert nicht", Aniskin aus Wil Lipatows Erzählzyklus „Der Dorfdetektiv", Piaton Jartschuk aus dem Werk Iwan Stadnjuks „Menschen sind keine Engel", der Alte Guchar aus der Erzählung Wladimir Tschiwilichins „Für Klawa Iwanowa". Diese künstlerisch unterschiedlich gestalteten Helden verkörpern das ästhetische Ideal in starken Charakteren, fernab jeglichen Nörmativdenkens über einen „Idealhelden" oder einer Konzeption vom „Durchschnittsmenschen". Ein gemeinsamer Wesenszug dieser Helden bei aller Individualität ist ihre heroische Natur. Es sind nicht einfach „positiv handelnde Personen", sondern es sind Helden unserer Zeit. 102
Erinnert sei an die heftigen Diskussionen um den positiven Helden, die sich im wesentlichen auf das Epitheton „positiv" konzentrierten und das Wort „Held" außer acht ließen. Aber gerade das zweite Wort beinhaltet m. E. das Wesentliche. Die Wortverbindung „positiver Held" mutet zunächst wie ein „weißer Schimmel" an. Doch das Wort „Held" ist seit langem nicht mehr nur ein literaturwissenschaftlicher Terminus, ein Synonym für eine „handelnde Person". Dieses Wort hat einen neuen Inhalt erhalten, es wurde zum Ausdruck für das Wesen der Sowjetepoche. Betonen wir die vielfältigen individuellen Charaktere unserer Helden, dürfen wir den ihnen gemeinsamen Wesenszug - das Heroische - nicht vergessen. Ja, ein Held soll heroisch sein. Ohne diese Eigenschaft bleibt er nur eine mittelmäßige „positiv handelnde Person". Diese Betrachtungsweise deckt sich völlig mit unseren nationalen ästhetischen Traditionen. Wir sprechen häufig von der Zuspitzung als einer gesetzmäßigen Methode der Darstellung negativer Gestalten, einem Verfahren, dessen Wurzeln in der Folklore liegen. Der Künstler aus dem Volk hat niemals kräftige Farben und ehrende Worte gescheut, wenn er Helden gestaltete, die alles Lichte, Gesunde und Gute verkörperten. In der Folklore wird beispielsweise nicht das düstere Schicksal und das gequälte Dasein des armen Mannes betont, sondern vor allem seine enorme physische Stärke, seine geistigen Fähigkeiten, seine Geschicklichkeit und Großherzigkeit. Es wäre jedoch falsch, diesen charakteristischen Eigenschaften allgemeine Gültigkeit beizumessen, sie kanonisieren zu wollen. Die Kunst des sozialistischen Realismus ist weit davon entfernt, sich ausgesprochen folkloristischer Mittel zu bedienen. Es lohnt nicht, eine Literatur der Vergangenheit wieder heraufzubeschwören. Es handelt sich hier lediglich um eines der Glieder zwischen dem Problem des Helden und dem Prinzip der Volksverbundenheit. Dieses Problem sollte viel breiter gesehen werden. Spricht man von der Volksverbundenheit eines literarischen Helden, müssen seine vielfältigen Beziehungen zum Volksleben, der Grad der Verkörperung führender Tendenzen dieses Lebens, der Volksideale und anderes mehr berücksichtigt werden. Innerhalb der Kriterien, die die Volksverbundenheit eines Helden charakterisieren, ist gerade sein Heroismus von außerordentlicher Bedeutung. Jedes Volk hat seine Idealvorstellungen vom Menschen, die es vor allem in der Persönlichkeit eines Kämpfers sieht, der zu heroischen Taten fähig ist. Diese Tradition ist seit langem in unserer Literatur verwurzelt. Das ist wohl eine schwer zu bestreitende Tatsache. Bedauerlicherweise befassen sich unsere Literaturwissenschaft und Kritik kaum mehr mit diesem Aspekt des Heroischen, der außerordentlich interessant ist, wie das Werk des bulgarischen Wissenschaftlers Boris Michalkow „Das ästhetische Selbstbewußtsein einer Klasse nach dem Sieg" 67 bezeugt. Michalkow betrachtet das Heroische als strukturbildendes Hauptelement, als entscheidende Dominante eines komplizierten und vielgestaltigen Komplexes. Gerade die Erforschung des ideo103
logischen und ideell-ästhetischen Inhalts der Kategorie des Heroischen, einiger charakteristischer Wesenszüge und Besonderheiten der bulgarischen Literatur mit heroischem Pathos, bietet dem Autor die Möglichkeit, in seinem Werk historischliterarische Studien mit seinen Gedanken über die aktuellen Fragen der gegenwärtigen Literaturentwicklung zu verbinden. „Im künstlerischen Schaffen", schreibt Michalkow, „kann das Heroische als eine komplexe Erscheinung, aus Weltanschauung, künstlerischer Methode und Stil des Autors bestehend, angesehen werden." 6 8 Bei einer solchen Methode erweisen sich die Parameter des zu analysierenden Problems als außergewöhnlich weitgespannt: vom Heroischen in der Volksdichtung und in der klassischen bulgarischen Literatur über heroische Traditionen und künstlerisches Neuerertum, sowohl echtes als auch scheinbares, bis hin zum Heroismus und zur Romantik in der Literatur des sozialistischen Realismus, Heroisches als Zentrum ideologischer Auseinandersetzungen und, damit in Zusammenhang stehend, die Bedeutung der Literatur für die patriotische und ästhetische Erziehung der Jugend. Jeder Aspekt dieses Themas ist wichtig und interessant, bietet sich für Vergleiche und Polemiken an. Breiten Raum widmet Michalkow den heroischen Traditionen der Volksdichtung. Den Kritiker interessieren nicht nur die historischen Voraussetzungen für die Entstehung des heroischen Pathos in der bulgarischen Literatur, sondern auch jene lebendigen Impulse, die die realistische Kunst inspirieren. Die Analyse des Volksliedes dient ihm als eines seiner Argumente im Streit über fremde ästhetische Einflüsse. Seine polemische Schärfe verleitet ihn jedoch nicht zur Vereinfachung oder zur „Glättung" komplizierter Probleme. Der Autor behandelt die heroischen Traditionen des Volksschaffens nicht als Summe schablonenhafter Vorgaben oder Rezepte, nicht als eine statistische Größe. Diese Traditionen, und mit ihnen auch solch ein Terminus wie Volksverbundenheit, werden in ihrer Dynamik, der kontinuierlichen dialektischen Entwicklung und Erneuerung, der Überwindung von Überlebtem und der Bestätigung alles wahrhaft Fortschrittlichen und Zukunftsträchtigen gesehen. Unter diesem Aspekt untersucht Michalkow das Schaffen von Christo Botew, Ljuben Karawelow, Christo Smirnenski, Nikola Wapzarow und Iwan Wasow. „Wo liegen die Ursachen für den großen Einfluß Iwan Wasows und anderer Schriftsteller und Dichter dieser Epoche auf die nächfolgenden Schriftstellérgenerationen?" - fragt Michalkow. „Welche historischen Gesetzmäßigkeiten verbergen sich hinter diesem Prozeß, und haben wir Grund zu behaupten, d a ß sich dieser Prozeß in den Werken unserer zeitgenössischen Literatur fortgesetzt und weiterentwickelt hat?" 6 9 Um eine Antwort auf diese Frage bemüht, hebt der Wissenschaftler hervor, d a ß sich die revolutionären Traditionen der bulgarischen Literatur auf die historische Vergangenheit, auf die Besonderheiten der Entwicklung des Volkes stützen, das heißt Besonderheiten, die gerade die heroisch-romantischen, die patriotischen Tendenzen in der Literatur stimulierten, die dazu anregten, ein wahrheitsgetreues, heroisches Bild vom Kämpfer für nationale und soziale Befrei104
ung zu schaffen. Das entsprach in höchstem Maße den Vorstellungen und der Weltsicht der breiten Volksmassen Bulgariens und wurde ihrem sozialen und ästhetischen „Selbstbewußtsein" gerecht. Das Geheimnis der ewig starken ideell-ästhetischen und revolutionierenden Ausstrahlungskraft solcher Gestalten wie zum Beispiel Iwan Wasows Held Bojtscho Ognjanow besteht darin, daß sie das zutiefst empfundene Verlangen des Volkes nach Heldentaten im Namen der Freiheit befriedigen. Somit nähern sich die Begriffe des Heroischen und des Volksverbundenen einander an, lassen sich die komplizierten, doch völlig realen Beziehungen zwischen beiden Begriffen verfolgen. Michalkows Analyse des Volksliedes und des Schaffens bulgarischer Klassiker beweist, daß solche menschlichen Eigenschaften wie Patriotismus, Freiheitsliebe, Humanismus und Kampfbereitschaft den Vorstellungen des Volkes vom Ideal des Helden zugrunde liegen. Schon seit langem schenkt das Volk jenen Menschen seine Sympathien, die heldenhaft das Leben meistern. Michalkow zieht die wichtige Schlußfolgerung, daß das dominierende und typischste Merkmal des Volkscharakters immer das Heroische war und bleiben wird. Die einer historischen Epoche eigenen Besonderheiten sollten nicht als ausschließlich und unveränderlich angesehen werden. Den Volkscharakter lediglich als Sammelpunkt aller Tugenden verstehen zu wollen, aus ihm negative Züge und Traditionen verbannen hieße, die Leninsche Lehre über die zwei Nationen in jeder Nation unter den Verhältnissen der Ausbeutergesellschaft negieren. Der Volkscharakter war und wird auch weiterhin die Sphäre schärfster Klassenauseinandersetzungen sein im Kampf des Alten mit dem Neuen, des Konservativen mit dem Progressiven, des wahrhaft Volksverbundenen mit den sich hinter der Maske der Volksverbundenheit verbergenden Erscheinungen. Sprechen wir vom Heroismus als einem Wesensmerkmal des Volkscharakters - gekennzeichnet durch Einfachheit und Bescheidenheit (was auch manche Forscher aus dem Konzept zu bringen vermag, die diesen Helden als „kleinen Mann" usw. bezeichnen) - , so meinen wir nicht eine bestimmte uralte Eigenschaft, die mechanisch von Generation zu Generation vererbt wird. Wir meinen vor allem die lebendigen, sich ewig erneuernden, reicher werdenden nationalen Traditionen, die ihren Ausdruck und ihre schöpferische Weiterentwicklung in unserer gegenwärtigen Literatur finden. Der Volkscharakter ist kein abstrakter Begriff. Er existiert nur innerhalb konkreter künstlerischer Erscheinungen, realisiert sich im Inhalt eines Werkes, in einer nicht wiederholbaren, schöpferischen Individualität. Es ist deshalb wichtig, diesen komplizierten Vorgang zu verfolgen, um die vom Künstler realisierten wesentlichsten Merkmale der Volksverbundenheit, sein individuelles Weltgefühl, seine Wirklichkeitsbetrachtung und seine ästhetische Position dialektisch zu verstehen. Das ist jedoch schwierig. Es gibt in der Ästhetik Begriffe, deren typische Merkmale sich mittels logischer Definitionen nur schwer erfassen lassen. Sie sind vieldeutig, dehnbar, erschweren dadurch die wissenschaftliche Beschreibung, ja machen sie manchmal überhaupt unmöglich. Manche Forscher nehmen diesen Umstand 105
zum Anlaß, sie aus der wissenschaftlichen Forschung zu eleminieren. Erscheinungen, die nicht eindeutiger Natur sind, Erscheinungen, die nach Leonid Nowitschenko „weniger im Bereich der Festkörper als vielmehr im gasförmigen Zustand vorkommen, also sehr schwer faßbar sind und starken Veränderungen unterliegen, aber dennoch real existieren", solche Erscheinungen erkennen einige Forscher nicht an. Der Volkscharakter ist eine Erscheinung dieser Art. Ich stelle die Hypothese auf, mehr noch, ich bin fest davon überzeugt, daß wir niemals in der Lage sein werden, eine „wissenschaftliche Beschreibung" (im normativen Sinne) des Volkscharakters, des ganzen Registers von unwiederholbaren Wesensmerkmalen und Besonderheiten zu liefern. Andernfalls würden wir uns sehr weit von dem entfernen, was man Kunst nennt. Trotzdem ist der Volkscharakter keine fiktive Erscheinung, sondern eine ästhetische Realität. Entscheidend ist vor allem, den methodologischen Schlüssel für sein Verständnis zu finden. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise des Problems „Volkscharakter" besteht nämlich nicht darin, nur die Grenzen des gegebenen Begriffs scharf zu umreißen und ihn zudem noch isoliert von anderen ästhetischen und ethischen Kategorien zu untersuchen. Der Volkscharakter muß mittels konkreter sozial-historischer und ästhetischer Kriterien analysiert werden. Die Volksverbundenheit eines Charakters äußert sich unter anderem darin, wie er unter bestimmten historischen, sozialen und nationalen Bedingungen zutage tritt, in welchem Verhältnis er zu den TraditioneÄ der Volkskunst und den neuesten Errungenschaften der zeitgenössischen realistischen Kunst steht. Der Volkscharakter ist eine so vielgestaltige Kategorie, daß sie sich nicht erschöpfend nur in einer Gestalt realisieren läßt, so lebendig und künstlerisch überzeugend diese auch gestaltet sein mag. Diese Aufgabe, die Merkmale des Volkscharakters in seiner Gesamtheit und Dialektik aufzudecken und zu erfassen, vermag in der Endkonsequenz nur die Literatur als Ganzes zu lösen. Versuche, diese Aufgabe in einer Gestalt realisieren zu wollen, waren in der Regel selbst für die hervorragendsten Künstler zum Scheitern verurteilt. Doch je näher ein Künstler dem Geistesleben eines Volkes, seinen moralischen und ästhetischen Vorstellungen steht, um so vollkommener und überzeugender äußern sich in den von ihm geschaffenen Gestalten die typischsten Wesensmerkmale des Volkscharakters. Mit Recht betrachten wir • diesen Wesenszug als Zeugnis tiefer Volksverbundenheit seines Schaffens. Die Frage nach dem Heroismus des Helden, den Quellen und Formen seines Ausdrucks nimmt eine zentrale Stellung in den Diskussionen der letzten Jahre um den „idealen" Helden ein. Diese immer wieder aufflammenden Diskussionen haben bei manchem ein skeptisches Lächeln hervorgerufen, da sie nicht selten von scholastischen Wortgefechten begleitet waren. Doch offensichtlich handelt es sich hier nicht nur um Ambitionen dieses oder jenes Autors, gern und häufig Diskussionen zu führen, sondern um eine objektive Gesetzmäßigkeit des literarischen 106
Prozesses. Hinter diesen Diskussionen um den „idealen Helden" steht das tiefe Interesse unserer Kritik und eines breiten Leserkreises an der richtigen Lösung der wichtigsten Probleme der Ästhetik des sozialistischen Realismus. Mitte der 6oer Jahre hatten diese Diskussionen ihren Höhepunkt erreicht. Sie sind in der Zeitung „Literaturnaja gaseta" dieser Zeit nachzulesen. Hier soll an zwei gegensätzliche Standpunkte erinnert werden, die für diese Diskussion um den Helden und das Heldentum charakteristisch waren. Anatoli Dremows Hauptanliegen, das er in seinem Aufsatz „Wirklichkeit Ideal - Idealisierung" 70 formulierte, galt der Bekräftigung des heroischen Charakters der Sowjetliteratur, des heroischen Wesens ihrer Helden, Helden, die die kommunistische Weltanschauung vertreten, die kommunistische Moral verkörpern, die Schöpfer, Umgestalter und Kämpfer zugleich sind. Dieser Aufsatz richtete sich gegen die Theorie der „Entheroisierung", gegen die Propagierung des sogenannten skieinen Mannes. Der Aufsatz Dremows enthält jedoch auch anfechtbare Ansichten. Dazu gehören meines Erachtens erstens Elemente der Normativität in der Beurteilung dieser oder jener künstlerischer Gestalten und zweitens Ungenauigkeiten in seinen Ansichten und unzureichende Logik bei der Verteidigung seiner Konzeption. Allgemeintheoretische Ansichten vertritt Dremow bedeutend sicherer als die Ergebnisse seiner konkreten ideell-künstlerischen Analysen. Er neigt zu einer chrestomatieartigen Aufzählung, zur „Aneinanderreihung" der Wesensmerkmale eines Helden, er dringt meines Erachtens nicht in die Tiefe der Charaktere ein, betrachtet sie nicht in ihrer gesamten individuellen Kompliziertheit sowie künstlerischen Einmaligkeit. Deshalb trägt die Kategorie des Heroischen bei Dremow abstrakte Merkmale. Die Diskussionsteilnehmer stellten in der „Literaturnaja gaseta" zu Recht fest, daß die Bestimmung jenes Prinzips, das Dremow zur Definition „idealer Held", „heroischer Charakter", „positiver Held", „gewöhnlicher Held" usw. angewandt hatte, problematisch ist. Nachdem es Dremow zunächst entschieden abgelehnt hatte, die „gewöhnlichen Helden" als Idealgestalten zu bezeichnen, zählt er sie später zu den „positiven Helden" und schließt damit den Kreis der „Idealgestalten". Ein terminologischer Wirrwarr? Eher Ungenauigkeiten, eine nichtdurchdachte Konzeption. 71 Der Hauptopponent Dremows war in dieser Diskussion Anatoli Botscharow. 72 Im großen und ganzen hatte er - obwohl zu scharf formuliert - recht mit seiner Polemik gegen die Normativität und das Spekulative in der Behandlungsweise des Problems „Held". D a er eine rein empirische Betrachtung des Lebens durch den Künstler verteidigte und dabei die Bedeutung seiner aktiven und parteilichen Position unterschätzte, hat er - wie ein anderer Diskussionsteilnehmer richtig bemerkte - den sozialistischen Helden eine Absage erteilt, ihnen ihr vorrangiges Recht, unsere Gesellschaft zu repräsentieren und sie zu charakterisieren, abgesprochen. Botscharow war zwar bemüht, die Frage nach dem Helden mit der Aufgabe zu verknüpfen, die Wirklichkeit bis ins Detail zu erfassen, zu erkennen und richtig 107
widerzuspiegeln. Doch die Erkenntnis der Wirklichkeit und ihre Widerspiegelung bieten sich dem Künstler nicht automatisch, mittels empirischen Sammeins von Fakten, Details und einer fotografischen Wiedergabe des Lebens dar. „Die Logik einer wahrheitsgetreuen Widerspiegelung der Wirklichkeit", „die umfassende Darstellung unserer Zeitgenossen", das ist nach Botscharow zwar nicht eine sich widersprechende Aufgabe bei der Gestaltung großartiger Heldencharaktere, jedoch in jedem Falle eine gesonderte, nicht mit dieser Aufgabe verbundene Angelegenheit. „Die Logik einer wahrheitsgetreuen Widerspiegelung unserer Wirklichkeit" fordert von der Kunst, daß sie sich den heroischen sozialistischen Charakteren zuwendet, stellt ihr unerschöpfliches Material für die Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung. Dremows und Botscharows Standpunkte sind gerade deshalb anfechtbar, weil beide Kritiker sich in ihren Ansichten kaum auf die Gesetzmäßigkeit des Volkslebens stützen und das Prinzip der Volksverbundenheit unberücksichtigt lassen, das ihnen keine abstrakten, einengenden, sondern lebendige Kriterien für die Bestimmung des Charakters des Heroischen bietet. 73 Jede Epoche bringt den für sie charakteristischen Typ des fortschrittlichen Menschen hervor. In unserer heutigen Literatur soll der Held nicht einfach eine „positiv handelnde Person" sein, sondern ein Mensch mit hohen Idealen. So ist es im Leben, wo Millionen von Menschen arbeiten, lieben, kämpfen, sich irren, Heldentaten vollbringen, Menschen voller Leidenschaften, mit fortschrittlichen Ansichten und einem scharfen und klugen Verstand. Diesen Heldentyp hat die Sowjetliteratur schon seit langem gestaltet. Und das ist beredter Ausdruck für ihre tiefe Volksverbundenheit. Ein solcher Held muß in die Literatur eingehen. Das ist eine Forderung der Zeit. Wenn das Wesen des heroischen Charakters eng mit den Besonderheiten der Zeit, mit den Traditionen des künstlerischen Denkens verbunden ist, wie verhält es sich dann mit der sogenannten Entheroisierung? W ä r e es nicht folgerichtig, sie als Abweichung vom Prinzip der Volksverbundenheit, als etwas unserer Ästhetik Wesensfremdes zu betrachten? Es wurden Zweifel geäußert, ob es in unserer Literatur mehr oder minder bemerkbare Anzeichen für eine „Entheroisierung" gab oder gibt. Sind wir nicht oft zu mißtrauisch, zu voreilig, wenn wir diese oder jene Interpretation des Künstlers zum Problem „Held" als eine bestimmte Tendenz deklarieren? Markant sind in dieser Hinsicht einige Werke, die die Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges zum Inhalt haben. Die Konzeption des „Menschen im Krieg", die die moralisch-ethischen, die ästhetischen und ideologischen Ansichten des Künstlers in sich vereint, widerspiegelt anschaulich die Existenz prinzipiell unterschiedlicher Betrachtungen des Heroischen im Leben und in der Literatur, im Erfassen des Wesens einer Heldentat und der Methoden ihrer künstlerischen Widerspiegelung. 108
Die Tendenz der Entheroisierung fand seinerzeit in Michail Parchomows Powest „Erschossen '42" ihren Niederschlag, die vom tragischen Tod siebzehn in Hitlergefangenschaft geratener sowjetischer Matrosen berichtet. Die Powest ist ihrem Ideengehalt nach ausgesprochen polemisch, und der Autor verbirgt das nicht. Parchomows Anliegen ist die Neubewertung bereits bestehender Wertungen, die Entheroisierung der „Helden, wie sie in den Büchern beschrieben werden". Parchomow stellt dar, wie einer der Kämpfer, der Matrose Ponomarjow, sinnlos unter der Folter sterben muß und fragt i „Gibt es denn überhaupt einen .sinnvollen' T o d ? " In dieser völlig an der Peripherie stehenden Frage ist jedoch die gesamte Konzeption des Werkes enthalten. Es ist anzunehmen, daß Parchomow über die Schrecken im Konzentrationslager, über einfache, bei weitem nicht als Idealgestalten geltende sowjetische Menschen berichten wollte, die unter diesen Umständen ihr menschliches Antlitz, ihr Pflichtgefühl und den Glauben an ihre Sache bewahrt haben. E r erzählte jedoch faktisch nur vom allmählichen Sterben einer Handvoll Gefangener, denen einfach die psychische und physische K r a f t fehlte, um weiterzukämpfen, von Menschen, die des Leidens müde waren und jetzt nur noch auf ein Wunder hofften oder ihrem unausweichlichen Untergang entgegensahen. In den letzten Minuten vor der Exekution stimmten die Matrosen ein Lied an. Das ist jedoch nicht die Apotheose des Heldentums, nicht Ausdruck ihres unbeugsamen Willens, sondern eher als verspätetes, verzweifeltes Aufflammen einstiger Tapferkeit und Kühnheit von Menschen zu verstehen, die sich im Grunde genommen schon lange mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Die ideologisch-ästhetische Position Parchomows - Entheroisierung und Entthronung der „Helden, wie sie in den Büchern beschrieben werden" - lenkte die Aufmerksamkeit des Autors dann auch auf solche Menschen wie den Feigling und Egoisten Kozjuba, solche moralisch verkommenen Typen wie Sucharew, den streitsüchtigen Permanent u. a. Die drei standhaften jungen Männer wie der Bootsmann Seroschtan, Baljuk oder Charitonow bilden die Ausnahme unter den Matrosen. Selbst der nach Ansicht des Autors positivste Held der Powest, Oberstleutnant Sjomin, erweckt den Eindruck, ein seelischer Krüppel zu sein. Der Autor erklärt dies damit, daß Sjomin einst zu Unrecht aus der Partei ausgeschlossen wurde. D a uns aber die Gründe und Umstände dieser Angelegenheit im Leben des Helden unbekannt bleiben, ist die Motivierung nicht sehr überzeugend. Die Bekanntschaft mit Sjomin und Ponomarjow hinterläßt keine freundlichen Eindrücke. Die anfechtbare Herausstellung der „Unparteilichkeit" Ponomarjows, seine außerordentlich leichtfertigen Ansichten über moralische Normen, schließlich seine Sentenzen, die schon von weitem eine spießbürgerliche Philosophie verraten, geben zu berechtigtem Zweifel Anlaß: Handelte der Autor richtig, gerade Ponomarjow mit dem Bericht über das Schicksal der siebzehn Matrosen zu beauftragen und von ihm eine Einschätzung der Ereignisse zu verlangen? Parchomow bewies uns hier seine Logik: Nachdem er sich nämlich dieses „heldenlose" Sujet ausge109
dacht hatte, war es ihm nicht mehr möglich, sich auf andere Möglichkeiten der Darstellung zu konzentrieren. In der Powest hat Parchomow seine ideologisch-ästhetische Konzeption zum Ausdruck gebracht. Davon zeugt insbesondere der Aufsatz, den er als Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift „Woprossy literatury" anläßlich des 20. Jahrestages des Sieges über den Hitlerfaschismus geschrieben hat. 74 Parchomow unterstreicht darin seine Haltung in bezug auf das Problem des Helden. Hinter dem Vergleich des „legendären Helden" - wie sich der Schriftsteller ausdrückt - mit dem „einfachen Menschen" und den abstrakten Erörterungen über den „ehrlichen, tapferen und kühnen Menschen", hinter dem Verspotten der „unbesiegbaren Recken", die „weder Furcht noch Zweifel kennen", verbirgt sich nichts anderes als seine Konzeption vom „Antihelden", der in dieser Powest seine Widerspiegelung gefunden hat. Weniger eindeutig, aber im Grunde genommen ebenso anfechtbar, war die Position Grigori Baklanows, die er in der Powest „Ein Fußbreit E r d e " bezog, einem Werk, dessen Titel zu einer feststehenden Redewendung für die Definition einer bestimmten Richtung in der Kriegsprosa wurde, der sogenannten Schützengrabenliteratur. Fast alle, die sich über Baklanows Powest äußerten, waren sich darin einig, daß der Autor mit Talent und Ehrlichkeit die Wahrheit über den vergangenen Krieg aufzuzeigen versuchte. Trotzdem bestanden erhebliche Meinungsverschiedenheiten unter den Kritikern. In dieser Powest hatte sich eine ganze Menge Zündstoff angesammelt, den man nicht einfach durch Schweigen entschärfen konnte. Der erste Rezensent dieser Powest, L . Lasarew, setzte sich auch später noch in seinem Aufsatz „Ein Fußbreit unserer E r d e " 7 5 für Baklanow ein, als der Schriftsteller bereits stark angegriffen worden war. Kritiker dieser Powest gab es genügend, und das war nicht unbegründet. Sie stellten fest, daß der Autor in der Darstellung des Kriegsgeschehens zum Naturalismus und zu einer grausam-offenen Beschreibung menschlichen Leidens tendiere. Sie bemängelten, daß Baklanow das beinahe tierische Gefühl der Angst und des Schreckens, das sich des Soldaten im Kampfe bemächtigt und ihn dabei jegliche Kontrolle über sich verlieren läßt, zu stark betone. Mehr noch, sein Held ist auch noch bemüht, diese Gefühle, wenn auch nicht zu rechtfertigen, so doch mindestens zu erklären und versichert dabei zum Beispiel, daß der während des Kampfes flüchtende Generalow „eigentlich kein Feigling" gewesen sei. Man kann nur Pawel Toper zustimmen, der in seinem Buch „Für ein Leben auf der E r d e " zu diesem Problem bemerkt, daß eine solche Position dazu führt, den Tod eines Deserteurs als seine persönliche Angelegenheit zu betrachten.76 Auch Motowilows Frage nach der Schuld ist rein rhetorisch und in diesem Fall falsch. Man muß wohl auch jenen zustimmen, die eine bestimmte Absicht des Autors hinter der Herauslösung der Handlung aus anderen Kampfabschnitten und der schematischen, manchmal mit Elementen der Karikatur vermischten Beschreibung des „Führungsstabes" vermuten.
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Das mag alles stimmen, trotzdem bleiben die konkreten künstlerischen Erscheinungsformen einer Konzeption des „Antihelden", des in den grausamen Strudel der Kriegsgeschehnisse hineingeratenen „kleinen Mannes" bestehen. Sein Schicksal besiegeln irgendwelche ihm unverständlichen, imaginären Kräfte. Der Zufall und uralte Instinkte spielen dort eine entscheidende Rolle. Baklanows „Held" ist weder in der Lage, seine höhere Berufung noch den Sinn des Kampfes überhaupt zu verstehen, an dem er teilnehmen soll. Er begreift nicht den tiefen Zusammenhang zwischen seinem Schicksal und dem Schicksal seines Volkes. 77 Einer der Kritiker, die Baklanow gegen diese Vorwürfe verteidigen wollten, versuchte nachzuweisen, daß auch seinen Helden jene Gedanken, „die allen sowjetischen Menschen eigen sind", nicht fremd seien. Dazu wurden Zitate des Autors und der Helden über die Heimat, über Heldentaten, über die untrennbare Einheit zwischen dem Schicksal des einzelnen sowjetischen Menschen und dem Schicksal des gesamten Volkes angeführt. Aber für die Widerspiegelung einer künstlerischen Position sind in erster Linie nicht die Erklärungen eines Autors von Bedeutung, sondern ein ganzer Komplex von Gedanken, Gestalten, Bildern, Assoziationen, die in einem Kunstwerk zum Ausdruck kommen. Nicht die Aussage der Helden, sondern ihre Taten, die Wesensmerkmale und die Logik ihrer Charaktere sind entscheidend. Man kann sich nicht nur auf das Zitieren von „richtigen" Erklärungen beschränk ken, sondern muß ein Werk als komplizierte Einheit von Komponenten betrachten, in der jedes Detail, jeder Strich, jede Nuance und Besonderheit des Gestaltungssystems, des Sujets und der Komposition, dem Hauptanliegen des Künstlers dient. Bei dieser Betrachtungsweise muß man einfach feststellen, daß Baklanow die Welt, in der seine Helden leben und kämpfen, einengte. Er machte sie zum Spielball des Schicksals. Der Powest „Ein Fußbreit Erde" mangelt es an echter volksverbundener Betrachtung und Einschätzung des Krieges, des Platzes und der Aufgabe, die ein Mensch angesichts des Kampfes auf Leben und Tod zu erfüllen hat. Es gibt hier keinerlei charakteristische Merkmale einer „Psychologie der Heldentaten", jenen organischen und bewußten Heroismus, der den Sowjetmenschen auszeichnet und den Toper richtig in dem bereits erwähnten Buch „Für ein Leben auf der E r d e " mit dem „Tjorkinschen Geist" vergleicht. Das sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, das Positive, das sich in der Powest Baklanows widerspiegelt, zu vergessen. Damit ist vor allem die sehr sympathische lyrische Note, von der sie durchdrungen ist, gemeint sowie die bestechende Aufrichtigkeit des Tons und eine ganze Reihe heldenhafter Züge. Das entbindet uns jedoch nicht der Pflicht, ganz entschieden gegen die Haupttendenz des Werkes zu polemisieren. Wäre es denkbar, daß gerade diese unsere Pflicht das Hauptanliegen des Autors war? Könnte es möglich sein, daß Baklanow sich bewußt auf die gewöhnlichen, unauffälligen Menschen konzentrierte, die jedoch nichtsdestoweniger diesen Krieg mitentschieden? Kann man dieses Werk dafür kritisieren, daß es etwas unberück111
sichtigt läßt? Muß man den Schriftsteller nicht nach den von ihm selbst aufgestellten Gesetzen beurteilen? Mit solchen Fragen, scheint mir, wollen einige Kritiker nicht nur die Originalität des Schriftstellers unterstreichen, seine Gedankengänge analysieren, sondern vielmehr ihre Behauptung untermauern, daß die realistische Kunst von objektiven Gesetzen „absolut" frei sei. Seit einiger Zeit gilt diese eigenartige Ansicht als „Kampf um die Vielfalt" der Sowjetliteratur, um das Aufblühen schöpferischer Individualität. Diese Methode kann sich leicht in eine ideell-künstlerische Konsumtion verwandeln und führt dann zum Verlust klarer Kriterien. Wenn Baklanow in „Ein Fußbreit Erde" tatsächlich beabsichtigt hat, den sowjetischen Durchschnittsmenschen, den „kleinen Mann" im Kriegsgeschehen zu zeigen, so heißt das, d a ß diese Absicht auf einer falschen Vorstellung beruht. Wenn der Schriftsteller sich selbst ein „Gesetz" zurechtzimmert, nach dem seine Helden außerhalb der vielseitigen Beziehungen zu der sie umgebenden Wirklichkeit, zum Volksleben, auftreten, so ist das gleichbedeutend mit der Verletzung eines Gesetztes, des Gesetzes der Ästhetik des sozialistischen Realismus, der das Leben in seiner vollen Größe, in seinen wahrhaft komplizierten Erscheinungsformen, in der revolutionären Entwicklung darstellt. Eine Zeitlang haben die Anhänger von Baklanows Powest beharrlich versucht, dieses Werk in den Blickpunkt der literarischen Öffentlichkeit zu stellen und es innerhalb der Prosa über den Großen Vaterländischen Krieg neu zu interpretieren. Aber weder die positiven Seiten des Werkes noch die didaktischen Exempel des Autors boten hierfür eine akzeptable Grundlage. Um so erstaunlicher ist daher L. Lasarews Versuch in dem bereits erwähnten Artikel, Baklanows Powest aus der gesamten Prosa über diese Zeit ausklammern zu wollen sowie außerdem die Werke einiger anderer Schriftsteller, die „erneut von einer Darstellung des Krieges aus der Sicht der Soldaten" zu sprechen begonnen hätten. 78 Nicht genug damit, der Kritiker hat gerade dieser Schriftstellergruppe, dieser Richtung in unserer Prosa - und nur ihr! - vorbehaltlos das Monopol des „Interesses an der inneren Welt des einfachen sowjetischen Menschen" eingeräumt. Der lebendige literarische Prozeß rechtfertigt in keiner Weise dergleichen extrem subjektive Schlußfolgerungen. Gerade das Gegenteil ist der Fall, viele literarische Werke treten ausdrücklich und überzeugend gegen solche Konzeptionen, wie sie z. B. in Baklanows Powest vertreten sind, auf. In diesem Streit geht es nicht um irgendwelche Merkmale der künstlerischen Form, sondern nur um den Inhalt. W i r wollen als Beispiel die Gestalten aus Michail Scholochows Roman „Sie kämpften für die Heimat" erwähnen. Auf den ersten Blick sehen sich die Helden Baklanows aus „Ein Fußbreit Erde" und Scholochows Possenreißer Lopachin oder das nicht gerade hübsche, stupsnasige Mädchen, das als Frontschwester Swjaginzew das Leben rettete, oder schließlich Swjaginzew selbst ähnlich. Ebenso ähnlich ist die betont unromantische Intonation, Glaubwürdigkeit in der Schilderung der Ereignisse. 112
Aber warum haben diese Werke eine so unterschiedliche Ausstrahlungskraft? Warum wirkt dieser urwüchsige und widersprüchliche Lopachin trotz seiner Schwächen auf uns sympathischer als Baklanows Helden? Offensichtlich ist das die innere Geschlossenheit, die starke Ausstrahlungskraft der Erzählweise Scholochows, kraft deren auch das Antlitz der Frontschwester schön erscheint. Uns beeindrucken der wahre, der echte Heldenmut Swjaginzews, in dem sich Todesangst mit unauslöschlichem Haß gegen den Feind paart, und der Mut der beiden Unteroffiziere Popristschenko und Strelzow, die verwundet das Lazarett verlassen, um wieder an vorderster Front zu kämpfen. Auch Lopachin wird uns ewig in Erinnerung bleiben (wie auch die schauspielerische Leistung Wassili Schukschins in dem gleichnamigen Film). Diese Männer sind den Recken der Märchen und Sagen wenig ähnlich, und doch lebt in ihnen ein Teil dieser unbesiegbaren Kraft und Stärke des Volkes, die innere Überzeugung von der Richtigkeit ihrer Sache und die ständige Kampfbereitschaft. Sie sind sich bewußt, daß ihr Schicksal untrennbar mit dem Schicksal des ganzen Volkes verknüpft ist. Gerade das macht die Größe und die Bedeutung der Scholochowschen Helden aus. Vergleichen wir Juri Bondarews Powest „Die letzten Salven" und Baklanows „Ein Fußbreit Erde": dieselben blutigen Schlachten, derselbe Heldentyp. Bei aller Grausamkeit der Darstellung des Todes begegnen wir bei Bondarew dem echten Heldentum in der Gestalt des Hauptmanns Nowikow. Dominierende Charaktereigenschaften des jüngsten Hauptmanns im Regiment sind Zielstrebigkeit, hohes Verantwortungsbewußtsein, Willensstärke, ständige Einsatzbereitschaft, ethisches Empfinden, Aufrichtigkeit und Herzlichkeit, die sich hinter Wortkargheit und Starrköpfigkeit verbergen. Der Krieg beendete allzufrüh Nowikows Kindheit, konfrontierte ihn mit menschlichem Leid, mit dem Tod. Der Krieg konnte ihm jedoch nicht die Liebe zum Leben, den Glauben an den Menschen, an das Gute und Schöne nehmen. Er weiß, wofür die Schulter an Schulter mit ihm kämpfenden, ihm nahestehenden Kameraden ihr Leben opfern, weiß, daß sein eigener Tod bitter wie jeder Tod - kein sinnloser, sondern ein sinnvoller, ein Heldentod ist. Stets werden in der Ästhetik des sozialistischen Realismus Prinzipien dominieren, die für alle Künstler gleich sind, so unterschiedlich ihr Kunstschaffen auch immer sein mag, so unwiederholbar ihre Individualität, ihre schriftstellerische Aussagekraft, ihr Schöpfertum sein mögen. Eines dieser Prinzipien ist die Fähigkeit, das Heroische im Leben aufzuspüren und es künstlerisch überzeugend widerzuspiegeln. Das ist eines der wichtigsten Aspekte der Volksverbundenheit der Sowjetliteratur. Wenn wir es nicht genügend beachten, werden wir das Neue nicht verstehen, das die Sowjetliteratur heute in die künstlerische Praxis der Menschheit einbringt.
In den letzten Jahren hat sich eine weitere, noch stärkere Annäherung unserer Literatur an das Leben des Volkes vollzogen. Über die Bedeutung dieser Entwick8
Barabasch 6674
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lung für unsere Literatur sind sich offenbar alle einig. In Diskussionen versucht man nun zu klären, worin konkret diese verstärkte Annäherung besteht und wie man sie bestimmen kann. Dabei tauchen die verschiedensten Ansichten auf, unter anderem die Auffassung, daß diese Annäherung an das Leben des Volkes mit der Tendenz der Entheroisierung, mit der Gestaltung des „Antihelden" in der Literatur verbunden sei. Ein absolut gewöhnlicher, unscheinbarer Mensch tritt danach als der wahre Vertreter des Volkes, als derjenige, der alle Merkmale der Volksverbundenheit in sich vereint, auf. Und Volksverbundenheit wird betont als „Einfachheit" interpretiert. Diese unter anderem von Wladimir Lakschin vertretene These stand überaus lange Zeit im Mittelpunkt der Kritik. 79 Lakschin ging davon aus, daß wir in den letzten Jahren Augenzeugen einer „realen, aber nicht erklärbaren" Annäherung der Literatur an das Leben des Volkes waren. An sich enthält diese Beobachtung ja nichts Neues, charakteristisch ist aber ihre Auslegung durch die Kritik. Lakschins Position läßt sich kurz so zusammenfassen: Wenn sich die Literatur in den vergangenen Jahren vorzugsweise mit der Darstellung von führenden Persönlichkeiten, Leitern, Organisatoren befaßt hat, so wendet sie sich heute der Darstellung von Menschen zu, die geleitet werden, also den gewöhnlichen Menschen. Woran denkt man unwillkürlich bei diesem Entwicklungsschema der Sowjetliteratur? Vor allem daran, daß es ein Schema ist, ein Schema, das keinem Vergleich mit dem lebendigen Literaturprozeß standhält. Man braucht sich nur an die zwischen den 20er und 40er Jahren geschaffenen Gestalten der „einfachen Menschen" in der Literatur zu erinnern: an Grigori Melechow, Moroska, Großvater Stschukar, Jegor Dremow, Tjorkin oder an solche „Leiterpersönlichkeiten" der letzten Jahre wie Bachirew, Balujew, Serpilin, Litwinow, Derbatschow, Anton Saweljew, Tschinkow u. a., um Lakschins These zu widerlegen. ' • Aber das ist nicht das Entscheidende. Man muß versuchen, das 'Wesen der Konzeption vom „Leiter" und von den „Geleiteten" zu begreifen, die darauf Anspruch erhebt, die in unserer Literatur der letzten Jahre stattgefundenen Prozesse zu interpretieren. Zunächst entsteht der Eindruck, als sei die Theorie vom „Leiter" und von den „Geleiteten" demokratisch und stehe der berüchtigten Theorie vom „Rädchen im Uhrwerk" entgegen, richte sich gegen das mangelnde Vertrauen den Massen gegenüber, gegen die Unterschätzung des Volkes als des wahren Helden der Geschichte, und fördere somit die Idee von der Volksverbundenheit der Literatur. Bei näherer Betrachtung dieser Theorie erkennt man jedoch, daß es sich ganz anders verhält. Bereits Belinski wandte sich sarkastisch gegen die Bauernrock-und-BastschuhRomantik, der zufolge nur der Bauer wahres Nationalgefühl kenne und dieses Gefühl nur in der Bauernhütte heimisch sei, sich aber bei den Gebildeten wohl kaum eine Spur von Volksverbundenheit finden lasse.80 Die Worte dieses großen Literaturkritikers drängen sich unwillkürlich auf, wenn 114
man mit der Feststellung konfrontiert wird, daß es leichter sei, über einen Spezialisten für Selektionstheorie, einen Kreisparteisekretär, Hauptagronomen oder einen Direktor einer MTS zu schreiben als über einen „ganz gewöhnlichen" Werktätigen. Lakschin ist jedenfalls eifrig darum bemüht, daß man nicht vergessen möge, über diese „gewöhnlichen" Menschen, diese „Rädchen" zu schreiben. Der Kritiker bemerkt dabei gar nicht, wie unbegründet seine Sorge um das Verhältnis zu den „Geleiteten" ist. Es fällt ihm auch nicht auf, daß die Ablehnung eines Dogmas mit der Alternative, wie er sie stellt, zu einem neuen Dogma wird, das sich hier unter dem Deckmantel der Volksverbundenheit verbirgt. Die Literatur entwickelt sich nicht auf der Basis von kritischen Schemen und Rezepten. Sie entwickelt sich in Übereinstimmung mit dem Leben des Volkes nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Ihre Stärke, die Gewähr für ihren Erfolg und letztlich der Beweis ihrer Volksverbundenheit liegen, wenn man die letzten Jahre betrachtet, keinesfalls darin, daß sie aufgehört hat, über „Leiter" zu schreiben, und sich den „Geleiteten" zugewandt hat. Weder Ranglisten noch irgendwelche Tabellen vermögen den Anteil der Volksverbundenheit an der Entwicklung unserer Literatur zu bestimmen, dies widerspricht ihrem Wesen. Die Stärke unserer Literatur liegt in der Hinwendung zum arbeitenden Volk, dem Erbauer und Herrn des Landes, in der Darstellung der komplizierten, dramatischen und schönen Wahrheit über die Werktätigen der Sowjetunion. Sie will die wahre Größe und das Heldentum dieser Menschen aus dem Volk zugleich als den wahren Volkscharakter widerspiegeln. In diesem Zusammenhang ist es charakteristisch, daß in den Werken der jüngsten Vergangenheit die historischen Wendepunkte in unserer Entwicklung mit großer Themenvielfalt und Brillanz in der Darstellungsweise reflektiert werden. Bezeichnend ist das Erscheinen jener Werke, die ganze historische Etappen umfassen. Dazu gehören die Romane von Anatoli Iwanow „Die Schatten verschwinden am Mittag" und „Der ewige Ruf", Michail Alexejews „Brot ist ein Hauptwort" und „Fenja, Weide ohne Trauer" sowie „Der Feldrain" von Anatoli Ananjew und „Das Schicksal" von Pjotr Proskurin. Man kann die Annäherung unserer Literatur an das Leben des Volkes nicht mittels Schablonen erfassen. Jeder, der ernsthaft die Prosa der letzten Jahre analysierte, muß feststellen, daß in ihren besten Werken der „gewöhnliche Mensch" bei weitem nicht als der einfache und durchschnittliche erscheint. Sein Platz und seine Rolle in der Gesellschaft werden nicht nur von seinem Pflichtgefühl ihr gegenüber bestimmt, sondern dadurch, daß er sich bewußt ist, Herr über sein eigenes Schicksal zu sein. Wird er dann zum „Leiter" berufen, dann gerade wegen dieses Bewußtseins, daß sein Schicksal und seine Taten eng mit jenen verbunden sind, die Lakschin als die „Geleiteten" bezeichnet, mit dem Volk. Er weiß sich als ein Teil des Volkes, das ist ganz entscheidend. Die Tradition, führende Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens darzustellen, die echte Volksverbundenheit auszeichnet, ist eine der 8*
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schöpferischsten Traditionen der Literatur des sozialistischen Realismus. D i e Stärke unserer heutigen Literatur liegt nicht in der Abkehr von diesen Traditionen, in ihrer Ablehnung, sondern umgekehrt, in der schöpferischen Weiterentwicklung auf einer neuen Stufe, frei von allen überlebten Vorstellungen der Vergangenheit. Dieser Prozeß ist kompliziert und vielschichtig. E r schließt unter anderem ein die Gestaltung großartiger Partei- und Wirtschaftsfunktionäre, die Entlarvung der politischen und moralischen Störenfriede, ihrer Gewohnheiten und Methoden sowie die verstärkte Hinwendung der Literatur zu einem mit den Massen verbundenen kommunistischen Leiter, dem Deputierten, der selbst aus dem einfachen Volk hervorgegangen ist. Alles das ist wichtig für die konsequente Stärkung der Volksverbundenheit, der Konzeption vom werktätigen Menschen, der über sein Schicksal und die Z u k u n f t seines Landes selbst bestimmt. Das ist eine Konzeption, die der alten, aufpolierten Theorie vom „Rädchen im Uhrwerk" entschieden widerspricht. Zwischen dem Überlebten und dem Fortschrittlichen in unserer Literatur besteht eine scharfe ideologisch-ästhetische und ethische, eine unüberwindbare Grenze. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an solch eine Gestalt wie Roman Bastrykow aus Georgi Markows Roman „Vater und Sohn". Roman ist Vorsitzender einer Kommune in Sibirien, doch seine „Macht" trennt ihn in keiner Weise von den Kommunarden. Im Gegenteil, sie ist das Ergebnis einer engen Verbundenheit mit den Massen. Seine Qualitäten als Vorsitzender vereinen in sich die besten Charakterzüge des Volkes: Liebe zur Arbeit, beharrliches Ringen und unbesiegbarer Glaube an die Leninsche Wahrheit und die Zukunft, an die Idee des gemeinsamen Schaffens und kollektiven Zusammenlebens, ein zutiefst humanistisches Empfinden, das sich besonders im Verhältnis Bastrykows zu seinem Sohn, in dem Gedenken an seine verstorbene Frau, sowie in der Einstellung zum tragischen Schicksal Lukerjas und zu seinen Kameraden offenbart. Eine solche Gestalt ist auch der „Deputierte auf Lebenszeit", Akimuschka Akimow, aus Michail Alexejews Roman in Novellen „Brot ist ein Hauptwort". Akimow hat zeit seines Lebens als Dorfschmied gearbeitet, keinerlei Posten bekleidet und somit zu den „Geleiteten" gehört. In seinem Dorf aber gab es außer ihm und dem Parteiorganisator des Kolchos, Appolon Styschnoi, keinen, der sich einer so großen, beständigen und allgemeinen Autorität erfreute. Ein halbes Dutzend Vorsitzender und Sekretäre des Dorfes hatte er kommen und gehen sehen. E r aber hatte zu allen Zeiten seine Pflichten als „Deputierter auf Lebenszeit" getreulich erfüllt. Es gab wohl keinen Dorfbewohner, der nicht schon einmal seine Schroffheit zu spüren bekommen hatte, wenn es galt, Unzulänglichkeiten aufzudecken und zu beseitigen. Aber jeder kannte auch seine Güte. Auch Akimuschka kann man - von Bastrykow ganz zu schweigen - zu jenen rechnen, die leiten, obwohl er niemals Mitglied des Dorfsowjets war. U n d was hat Michail Alexejews Ljuschnja, eine Gestalt aus demselben Werk, veranlaßt, in dunkler Nacht, bei klirrendem Frost, bei Schneesturm oder strömen116
dem Regen mit dem Gewehr durch die Wälder zu streifen? Woher nimmt er die Kraft, woher kommt seine Liebe zur Natur, zum Wald? Es ist das Gefühl der persönlichen Verantwortung für das Wohl seines Volkes. Das schätzt man an ihm, obgleich man über seine seltsamen Gepflogenheiten als Waldusurpator auch gutmütig lächelt. Er hat den treffenden Namen, denn Ljuschnja heißt Achsengabel, ohne die das beste Fuhrwerk nicht fahren kann. Und wie verhält es sich mit Großvater Kaplja? „Was kann wichtiger sein als Brot, das ist ein Hauptwort", erklärt er. „Brot ist lebensnotwendig, weil wir nur leben können, wenn wir essen. Brot - das ist ein Hauptwort, alle übrigen Nahrungsmittel sind Eigenschaftswörter." 81 Das Bewußtsein, Herr über sein Leben zu sein, macht solche Menschen wie Bastrykow, Akimuschka Akimow oder Anton Saweljew aus „Der ewige Ruf" von Anatoli Iwanow, die Bauern aus Sergej Salygins „Kommission" einander verwandt. Dieses Selbstbewußtsein, das weder an einen Rang noch an eine Leitungstätigkeit gebunden ist, das durch Arbeit, durch hohe moralisch-ethische Werte des Menschen hervorgebracht wird, welchen Posten er auch immer bekleiden mag, ist der wichtigste, der bedeutendste Wesenszug des heutigen Volkscharakters. Es ist ein Wesenszug, der sich mit der Theorie vom „Rädchen im Uhrwerk" nicht vereinbaren läßt. Der italienische Schriftsteller Carlo Montella widmete einen seiner Romane, der von ehrlichem Mitgefühl und Mitleid mit dem Schicksal des einfachen Mannes in einer Ausbeutergesellschaft durchdrungen ist, den „Akaki Akakijewitsch Baschmatschkins aller Zeiten und Nationen". Wir sympathisieren mit dem humanistischen Empfinden im Schaffen progressiver Schriftsteller des Westens. Obgleich wir dabei nicht vergessen dürfen, daß der Tragödie der „Baschmatschkins aller Zeiten und Nationen" der unversöhnliche Konflikt mit der Ausbeutergesellschaft zugrunde liegt. Die Feindseligkeit dieser Gesellschaft gegenüber dem einfachen Menschen, dem „Akaki Akakijewitsch" 82 , hat die Literatur des kritischen Realismus enthüllt, darin wurzelt ihr tiefer Humanismus, ihre Volkstümlichkeit. Diese Kriterien mechanisch auf die Literatur des sozialistischen Realismus übertragen zu wollen, der die prinzipiell neuen Beziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Individuum aufdeckt, hieße auf der Position des Ahistorismus zu stehen. Wir meinen, es ist heute noch zu früh, von einer völligen Harmonie zwischen der sozialistischen Gesellschaft und jeder einzelnen Persönlichkeit zu sprechen. Diese Harmonie kann nur das Ergebnis eines gewaltigen, komplizierten, vielschichtigen Entwicklungsprozesses und des Kampfes sein. Es ist unsere Aufgabe, diesen Prozeß in seinen bestimmenden Tendenzen und seiner Perspektive widerzuspiegeln. Es ist etwas anderes, der Darstellung der Wirklichkeit den Gedanken der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Interessen der Gesellschaft, des Staates mit Interessen des Menschen zugrunde zu legen, die Wahrheit des Volkes als etwas Abstraktes, als etwas, was sich von der Wahrheit des Kampfes für den Sozialismus entfremdet, anzusehen. U7
Die Theorie vom „Leiter" und von „Geleiteten" ist objektiv auf diese, der Ästhetik des Sozialismus wesensfremde Interpretation der Volksverbundenheit gerichtet. Ungewöhnlich gewöhnliche Menschen, der große „kleine" Mann, dessen Interessen und Möglichkeiten unbegrenzt sind, der sich durch seine Arbeit das Recht erkämpft hat, sein Leben und die Zukunft seines Volkes, seines Landes selbst zu bestimmen, das ist unsere Konzeption vom Menschen.
Algebra und Harmonie
Die Töne tötend, Zerlegt" ich die Musik wie eine Leiche Und prüfte Harmonie an Algebra. (Alexander
Puschkin:
„Mozart
und
Salieri")
Der heutige Literat ist von Widersprüchen zerrissen. Stolz auf seinen Gegenstand geniert er sich doch ein klein wenig, daß er zum Clan der (wie ihm scheint) verfolgten „Lyriker" und nicht zu den geachteten „Physikern" gehört. E r wettert gegen die Technokraten, kommentiert sarkastisch die schöpferischen Ansprüche der kybernetischen Roboter, möchte für sein Leben gern über einen Fliederzweig und ein Puschkin-Bändchen in der Kabine eines Raumschiffes r e f l e k t i e r e n . . Doch all das verrät eine gewisse Unsicherheit, die Furcht, hinter dem Trend der Zeit zurückzubleiben, ein heiliges, wenngleich sorgfältig verborgenes Zittern des Dilettanten vor der Allmacht der Mathematik. Diese bemerkenswerte Besonderheit in der Psychologie des Literaten unserer Tage hat der polnische Schriftsteller Stanislaw Lern recht treffend charakterisiert. „Ihm imponieren die exakten Wissenschaften, er möchte gern ihres Prüfsteins, des Experiments, habhaft werden, das den Verallgemeinerungen .Instabilität' verleiht, obwohl nicht ausgeschlossen ist, daß er sich davor ein wenig fürchtet. Die alleinige Obhut über unlösbare Probleme, die sich weder beiseite schieben noch überwinden lassen, wie der Besitz eines Geheimnisses, mit dem man zwar nicht viel anfangen kann, das aber seinem Hüter eine besondere Würde verleiht, weil es ewig ist - eine solche Situation ist für einen gewissen Denkstil schon an sich von Wert." 1 Ein Mensch mit diesem Denkstil macht sich also daran, das ewige Geheimnis zu enträtseln. Ihn verlangt danach, „Harmonie an Algebra zu prüfen", und in seinem Eifer geht er - wie bei Neubekehrten nicht selten - um vieles weiter als die Vertreter der exakten Wissenschaften. Letztere haben es übrigens nicht eilig, die Kunst in die Verführungsgewalt einer elektronischen Kalliope zu geben. Im Gegenteil, sie bringen ihr große Achtung entgegen. Denken wir an Albert Einstein, seine zeitlebens bewahrte Liebe zur Musik Haydns, Mozarts, Bachs; nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen assoziierte er die architektonische Schönheit der Schöpfungen Bachs mit der harmonischen und erhabenen Logik mathematischer Konstruktionen. Weitbekannt ist das Geständnis des großen Physikers, Dostojewski habe ihm mehr gegeben als Gauß. 2 Ein anderer bedeutender Physiker unseres Jahrhunderts, Niels Bohr, schätzt die Kunst wegen 119
ihrer einzigartigen Fähigkeit, „uns Harmonien zu vermitteln, die jenseits systematischer Analyse bestehen". E r sieht keine Schwäche, sondern einen Vorzug der Kunst darin, daß der „Verzicht auf die die wissenschaftliche Mitteilung kennzeichnende Forderung nach Definition der Phantasie freieren Spielraum läßt" 3 . Akademiemitglied A . N . Kolmogorow, anerkannter Leiter jener Gruppe von Mathematikern, die sich in ihren Experimenten weitgehend auf Material der Kunst stützen, spricht nicht ohne einen Anflug von Entzücken davon, daß nur der Dichter in der Lage sei, mit Hilfe einer vom Standpunkt der heutigen Technik quantitativ winzigen, aus vierhundert Buchstaben bestehenden Mitteilung „einen ,Kommunikationskanal' unmittelbaren Umgangs mit seinen Zeitgenossen und Nachfahren . . . zu schaffen", die „Beschränkungen von Raum und Z e i t " zu sprengen. 4 A b e r den Hitzköpfen steht der Sinn nicht nach solchen Feinheiten. Unser Literat hat Eile, prescht voraus. W i e der Verfasser von Tschechows „Brief an einen gelehrten Nachbarn" berauscht er sich an einer supermodernen Terminologie: Algorithmus, Modell, I n v a r i a n t e . . . E r organisiert Dispute, hält Vorlesungen, schreibt Broschüren. E r ist am Werk. Mit solchen Leuten ernsthaft zu streiten ist keine sehr dankbare und verlockende Beschäftigung, doch man soll sie mit einem „nicht bös gemeinten leisen W o r t " erwähnen. D a s Schlimme ist, daß der gewöhnliche Leser meist gerade aus ihren Händen die Information über Prozesse bezieht, die sich in unserer Zeit an der Nahtstelle zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften vollziehen, und zwar als eine Information, die in vielem entstellt ist. Deshalb ist es notwendig, zwischen dem Geschwätz über „kybernetische" Themen und den ernsthaften Versuchen, die Methodologie der Sozialwissenschaften weiter zu vervollkommnen, zwischen bloßem Strohfeuer und wissenschaftlichen Diskussionen einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen. Diese Diskussionen tendieren allem Anschein nach eher zur Vertiefung und Aktivierung als zur Einschränkung. E s hat keinen Sinn, davor die Augen zu verschließen. Und offensichtlich handelt es sich nicht nur und vielleicht gar nicht einmal so sehr um einen „ D r u c k " der Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaften als vielmehr um die eigenen, inneren Bedürfnisse dieser letztgenannten, um ihre zunehmende Bedeutung, die jeder von uns immer klarer empfindet. Nach Meinung des bekannten französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss wird das 2 1 . Jahrhundert entweder ein Jahrhundert der Sozialwissenschaften sein, oder es wird überhaupt nicht sein. 5 Vielleicht ist das ein wenig überspitzt ausgedrückt, doch so denken heute viele, obwohl darin letzten Endes nicht das Wesentliche liegt. Wesentlich ist etwas anderes: W i e sollen die Sozialwissenschaften an der Schwelle des neuen Jahrhunderts beschaffen sein? Claude Lévi-Strauss meint, der einzige Weg zum Gelobten L a n d sei die Exaktheit. „Wir können nicht die exakten und Naturwissenschaften auf eine Seite stellen und die Sozial- und Humanwissenschaften auf die andere. E s sind zwei Arten des Herangehens, von denen nur eine wissenschaftlich ist: das Herangehen der exakten
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und Naturwissenschaften, die die Welt erforschen, und auf das sich die Humanwissenschaften zu stützen suchen, wenn sie den Menschen als einen Teil der Welt untersuchen." 6 Eine solche Fragestellung imponiert irgendwie, nicht wahr? Wir alle sind in der Tat des Ungefähren, des Subjektivismus, der vom persönlichen Geschmack bestimmten Beurteilung, der pseudowissenschaftlichen Belletristik müde. Aber wie kommt man zu der gewünschten Genauigkeit? Manche meinen, der Genauigkeitsgrad der Gesellschaftswissenschaften hinge gänzlich vom Grad ihrer Mathematisierung ab. Man beruft sich auf die uns in der Wiedergabe Paul Lafargues bekannten Worte von Karl Marx, daß die Wissenschaft nur dann Vollkommenheit erlangt, wenn es ihr gelingt, sich der Mathematik zu bedienen. Hieraus wird der Schluß gezogen, daß nur mathematische und statistische Methoden imstande seien, die Literaturwissenschaft den exakten Wissenschaften anzunähern. Viele Wissenschaftler warnen jedoch vor einer allzu freien und übermäßig verallgemeinernden Auslegung dieser Worte von Marx. In einer Wissenschaft, die ein so „subjektives" Phänomen wie das künstlerische Schaffen untersucht, in einer Wissenschaft, in der soziale und persönliche Faktoren eine so wichtige Rolle spielen, 7 in der das Untersuchungsobjekt mehrdimensional, vieldeutig, nicht greifbar, fließend ist - in solch einer Wissenschaft hat das quantitative Kriterium eine begrenzte Anwendungssphäre. „Die Suche nach einer mathematisch genauen Wahrheit", bemerkt A. Buschmin, „ist auf dem Gebiet der Kunst außerordentlich schwierig, und wenn sie erfolgreich endet, stellt sich heraus, daß diese erkannte ,genaue Wahrheit' bei weitem nicht die ganze Wahrheit erfaßt, daß sie in bezug auf das Ganze dürftig, unangemessen klein bleibt." 8 Was bleibt, ist die nackte, abstrakte, des lebendigen Inhalts beraubte „Formel"; Karl Marx hat den Versuch, ihr in den Gesellschaftswissenschaften nachzujagen, bissig verspottet. Das Problem läßt sich jedoch nicht von der Hand weisen. Man kann den Literaten, der mit der Mathematik kokettiert, ironisch abtun, man kann (und muß) gegen Extreme polemisieren, darf aber dabei den ziemlich starken Strom nicht übersehen, der beständig in die Gesellschaftswissenschaften, besonders in die Literaturwissenschaft, einbricht. Fragen des Strukturalismus, die Untersuchung der Kunst als Zeichensystem beschäftigen heute das philosophische, ästhetische Denken in der ganzen Welt. Auch bei uns bildet sich (ob uns das gefällt oder nicht, ist eine andere Sache) in der Literaturwissenschaft immer merklicher eine strukturalistische Strömung. 9 Symposien und Konferenzen finden statt, die der Einführung semiotischer, mathematischer, wahrscheinlichkeitsstatistischer Methoden in die Literaturwissenschaft gewidmet sind. Kollektivbände und wissenschaftliche Schriften erscheinen eine ganze Bibliothek zur strukturellen Poetik, die eine sachliche Analyse erfordert, nicht kühne Feuilletons, Gesten edler Entrüstung. Wir haben allen Anlaß, Belinskis Worte zu paraphrasieren: Alle sprechen von Struktur, alle fordern Struktur. Es kommt der Moment, oder richtiger, er ist bereits eingetreten, da unsere Theoretiker sich über all das verständlich äußern müssen. 121
Vor einigen Jahren erschien bei uns ein hochinteressantes Buch über den New •Criticism, dessen Autor, der DDR-Wissenschaftler Robert Weimann, die Geschichte der bürgerlichen formalistischen Literaturwissenschaft über mehr als ein halbes Jahrhundert rekonstruiert und bis auf ihre Wurzeln zurückgeht.10 In dieser Arbeit verbindet sich die breite Erfassung des Materials mit einer eingehenden Untersuchung der verschiedenen Modifikationen des Formalismus, wissenschaftliche •Gründlichkeit, eine, ich möchte sogar sagen, Superkorrektheit in der Anerkennung der Verdienste bestimmter Vertreter dieser Neuen Kritik mit polemischer Schärfe •und Klarheit in den Wertungen. Wie dringend brauchten auch wir eine solche Arbeit - wenigstens, sagen wir, über die russische Formale Schule11 der 20er Jahre, über das sogenannte OPOJAS (Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache) ! 1 2 Denn, wir können es nicht leugnen, wenn wir diese Schule erwähnen, begnügen wir uns mit Hinweisen auf Diskussionen längst vergangener Jahre und mit der Feststellung, daß das Leben die mangelnde Stichhaltigkeit dieser Strömung bestätigt habe. Aber das Leben hat nicht nur dies bestätigt, es hat auch die Lebensfähigkeit einiger Ideen des OPOJAS gezeigt, und sich darin auszukennen lohnte schon. Es ist nicht viel damit getan, eine wissenschaftliche Konzeption einfach zu verwerfen. Man muß erstens den Gegenstand allseitig untersuchen, ihn gänzlich erfassen, dies aber ist bisher nicht geschehen. Wir müssen uns in den sozialen, philosophischen, ideellen Wurzeln des Strukturalismus, in seiner ästhetischen Natur auskennen, die Grenzen der Anwendung strukturell-semiotischer Methoden, ihren „Produktivitäts-Koeffizienten" bestimmen. Wir haben zu klären, ob es tatsächlich Berührungspunkte zwischen diesen Methoden und der dialektischen Methode, zwischen Strukturalismus und Marxismus gibt (eine These, die von einer ganzen Reihe Strukturalisten beharrlich ins Feld geführt wird). Zweitens, und das ist vielleicht noch wichtiger, gilt es eine eigene Antwort auf die Frage nach den Perspektiven der Gesellschaftswissenschaften zu geben. Wenn Claude Lévi-Strauss recht hat und es dem 21. Jahrhundert bestimmt ist, ein Jahrhundert der Sozialwissenschaften zu werden, dann kann es uns keineswegs gleichgültig sein, wie diese Wissenschaften aussehen werden. Im Prinzip ist die Antwort bekannt. Wir gehen davon aus, daß die fruchtbarste Entwicklung der Literaturwissenschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Methodologie möglich ist, daß eben sie uns dem exakten Wissen in der Sphäre des künstlerischen Schaffens so nahe wie möglich bringt. Aber in dieser Allgemeinheit genügt das nicht. Die Wahrheit ist konkret, und wir müssen tatkräftig daran gehen, den in der Methodologie der Literaturwissenschaft herangereiften Problemen, darunter auch denen des Strukturalismus und der Semiotik, den gebührenden Platz einzuräumen, und sie bearbeiten. Gestehen wir ein, daß wir uns wenig damit beschäftigen : Nach den längst verstummten ideologischen und methodologischen Debatten der zwanziger, dreißiger Jahre, nach vereinzelten Disputen in den jüngst vergangenen Jahrzehnten ist es auf diesem Gebiet für lange Zeit still geworden. 122
Es braucht wohl nicht besonders darauf hingewiesen zu werden, daß der Verfasser der vorliegenden Bemerkungen die Aufmerksamkeit nur auf einige Aspekte der genannten Problematik zu lenken beabsichtigt. Die „Kinderkrankheit des Strukturalismus" nannte Roman Jakobson den russischen Formalismus der zwanziger Jahre, womit er betonen wollte, daß zwischen beiden zwar keine Identität, auf jeden Fall aber eine offensichtliche Beziehung der Nachfolge besteht. 13 Das ist eine höchst autoritative Meinung, und es lohnt, ihr Beachtung zu schenken. Mit dem Namen Roman Jakobson verbindet sich vieles. Hier zwei charakteristische Aussprüche von ihm. Der erste: „Wenn die Literaturwissenschaft zu einer Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das ,Verfahren' als ihren einzigen .Helden' anzuerkennen." 14 Und der zweite: „Ich weiß nicht, wie man auf dem Gebiet der Sprache und Kunst arbeiten kann, ohne zu versuchen, die Struktur zu erfassen. Wer von etwas anderem redet, betreibt Plauderei, aber keine Wissenschaft." 15 Zwischen beiden Aussprüchen liegt ein halbes Jahrhundert, die Entwicklung eines ehemaligen aktiven Mitglieds des OPOJAS zu einem anerkannten Meister des Strukturalismus von heute. OPOJAS wurde wohl hin und wieder in sehr speziellen Veröffentlichungen erwähnt, aber auch das meist mit dem Epitheton „berüchtigt". Heute ist das Interesse für den russischen Formalismus eine schwer zu leugnende Tatsache. Im Ausland werden ihm Bücher und Aufsätze gewidmet, und auch bei uns wächst die diesbezügliche Bibliographie. 16 Sicherlich ist hier auch etwas Mode im Spiel, doch es gibt auch objektive Faktoren, und sie sind u. a. mit einer Aktivierung der Strömungen und Tendenzen in der heutigen Literaturwissenschaft verbunden, die wir summarisch - meist ohne die notwendige Differenzierung - unter dem Begriff Strukturalismus zusammenfassen. Letzterer aber macht aus seiner Beziehung zur Formalen Schule gar kein Hehl, sondern betont sie im Gegenteil auf jede Weise (man kann sogar sagen, er stellt sie zur Schau). Die theoretische Ausrüstung des OPOJAS wird einmütig als eine Quelle des Strukturalismus in der Literaturwissenschaft anerkannt. Nebenbei bemerkt, ist das OPOJAS selbst auch nicht aus dem Nichts entstanden. Hinsichtlich des „Auseinandernehmens" von Kunst 17 hatte die Formale Schule ebenfalls Vorgänger: „Die lebendigen Impulse für die methodologische Suche auf dem Gebiet Fragen der literarischen Form empfingen wir faktisch von den Theoretikern des Symbolismus... An erster Stelle muß hier Andrej Bely genannt werden." 1 8 Natürlich fühlten sich die Formalisten von den religiös-idealistischen philosophischen Konzeptionen der Symbolisten 19 wenig angezogen, sie lehnten sie entschieden ab, ebenso wie die Lehre Potebnjas, dessen Poetik-Theorie, wie Andrej Bely bestätigt, die russischen Symbolisten unterschrieben hätten. Die OPOJAS-Mitglieder erkannten die Verdienste der Symbolisten um die Belebung des Interesses für Probleme der Poetik an, meinten aber, daß der Symbolismus „nicht imstande war, eine neue, wissenschaftliche Poetik als Theorie des eigengesetzlichen Wortes zu schaffen", daß sein System „auf morschem Fundament ruht" 20 . "3
Man muß jedoch berücksichtigen, daß die Ästhetik des Symbolismus nicht in sich geschlossen war. Mystische Motive, eine hochtrabende Terminologie21 verbanden sich mit der Behauptung vom Eigenwert und von der Konstruktivität des Wortes, mit einem erhöhten Interesse für die poetische Technik, für die Instrumentierung des Verses, für die Euphonie u. a. Was Andrej Bely betrifft, so versuchte er als einer der ersten in der russischen Literaturwissenschaft, die Notwendigkeit der Einführung exakter Methoden in die Ästhetik zu begründen. Allerdings hatte schon Trediakowski zur Statistik gegriffen, doch waren dies noch zufällige und zaghafte Versuche - Andrej Bely dagegen stellte die Aufgabe, ein ganzes System methodologischer Prinzipien auszuarbeiten, das vom Stand der Naturwissenschaften seiner Zeit ausgehen sollte. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist sein Aufsatz „Die Lyrik und das Experiment" (1909). Mit bissiger Ironie äußert sich der Autor über die „verderbte" Kritik in den Zeitschriften und die „offizielle quasi-Ästhetik", in deren Augen jedes Interesse für Fragen der poetischen Form ein zumindest müßiges Interesse ist. „ . . . der Gedanke an eine Ästhetik als System exakter experimenteller Wissenschaften ist für sie (die mit dem wissenschaftlichen Experiment fast gar nicht vertraut sind) ein ketzerischer Gedanke." 22 Diese seine Thesen suchte Andrej Bely in der Forschungspraxis zu realisieren. In seinen Arbeiten23 wimmelt es von mathematischen Berechnungen, Formeln, Zeichnungen, Diagrammen, Tabellen, wobei recht interessante Beobachtungen hier in bizarrer Weise mit willkürlichen Verallgemeinerungen verflochten sind. Gerade dieser positivistische Geist, der Geist eines gewissen, ich möchte sagen, Praktizismus, der bei Andrej Bely durch die dicke mystische, anthroposophische Hülle durchschlägt, dieses Primat der „Algebra" vor der „Harmonie" imponierte den OPOJAS-Mitgliedern. Sie hatten sofort erfaßt, daß in Andrej Belys Arbeiten, nach einer treffenden Bemerkung Wiktor Schklowskis, „das Handwerk die Anthroposophie aufgefressen hat und auf ihr wächst wie auf Dung" 24 . Aber das Handwerk hat bei Andrej Bely nicht nur die Anthroposophie aufgefressen, sondern auch noch alles übrige verschlungen. Die Annäherung der Ästhetik an die exakten Wissenschaften machte Andrej Bely direkt und unmittelbar abhängig von ihrer Entideologisierung. Nach seiner Vorstellung kann in erster Linie und sogar ausschließlich die formale, vom Inhalt gereinigte Seite des Kunstwerks Gegenstand der exakten, wirklich wissenschaftlichen Untersuchung sein. „Wenn wir das untersuchte Gedicht", schrieb er in dem Buch „Symbolismus", „von jedem ideellen Gehalt als nicht in den Bereich der formalen und daher auch exakten Beobachtungen gehörend befreien, bleibt vor uns nur die Form, d. h. die Darstellungsmittel, in denen ein Bild gebracht wird, die Worte, ihre Vereinigung und ihre Anordnung." 25 Alles, was dieser methodologischen Ausgangsposition nicht entspricht, wird vom Autor als „schreiender Subjektivismus und als unbewiesen" gewertet. Als verschleppte Krankheit der russischen Kritik aller Richtungen und Schattierungen 124
von dem „ehrwürdigen" Wengerow 26 und Owsjaniko-Kulikowski 27 bis zum „scharfen" Iwanow-Rasumnik 28 , vom „unausgeglichenen" Boborykin 29 bis zu dem Soziologen Fritsche30 - betrachtete Andrej Bely den „vorsätzlichen Asketismus", „die Furcht, das Fleisch des künstlerischen gedanklichen Ausdrucks zu lieben: die Worte, die Vereinigung der Worte" 3 1 . Erstaunlich, wie nahe das alles - in der Argumentation, der Logik und sogar im Stil - dem steht, was die Formalisten über die ihnen vorangegangene und zeitgenössische Literaturwissenschaft sagten. Folgendes schrieb Wiktor Schklowski, das damalige „enfant terrible" des OPOJAS, der die Position dieses Kreises gewöhnlich in äußerst zugespitzter, paradoxer Form zum Ausdruck brachte: „Und sie lebten, die Belinskis, Dobroljubows, Saizews32, Michailowskis 33 , Skabitschewskis34, Owsjaniko-Kulikowskis, Kogans 35 , Lwow-Rogatschewskis 36 . Und überlebten die russische Literatur. Sie sind wie Menschen, die gekommen waren, um eine Blume anzuschauen und sich der Bequemlichkeit halber auf ihr niederließen." Wie wir sehen, machte der Autor keinen Unterschied: Für ihn waren die volkstümlerische, die soziologische oder irgendeine andere Kritik sowie die akademische Literaturwissenschaft gleich: Alle waren sie „verfluchte Mittelmäßigkeiten, Aktiengesellschaften zur Nivellierung der Menschen". Es ist übrigens nicht schwer zu bemerken, daß dennoch die revolutionär-demokratische Kritik eine besondere Feindschaft bei ihm hervorrief. Nicht zufällig stand Belinski als erster auf der Liste, und er wurde nicht nur einmal erwähnt, gegen Schluß sogar als „Mörder der russischen Literatur (ein erfolgloser)" 37 . Zurückhaltender war Boris Tomaschewski 38 , doch das Wesen seiner Urteile ist im allgemeinen das gleiche: Die russische Kritik der sechziger Jahre wertete die Helden der Literatur nur „unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Nützlichkeit ihres Charakters und ihrer Ideologie", nahm den Helden aus dem Werk heraus; Boris Tomaschewski zufolge vollzog sich „eine Uminterpretation des Kunstwerks nach ihrer ideologischen Elle" 39 . Es käme uns heute merkwürdig vor, die „Belinskis, Dobroljubows" ernsthaft vor solchen Anschuldigungen in Schutz nehmen zu wollen. Trotzdem lohnt es sich, diese Episode in der Geschichte unserer Literaturwissenschaft zu erwähnen: Die Philippiken des OPOJAS sind nicht als solche interessant, sondern als Charakteristikum, als integrierendes Detail einer allgemeinen und, wie die Praxis zeigt, sehr zählebigen Kunstauffassung. Die Formalisten bezeichneten sich wiederholt als eine Kraft, die von Anbeginn zum Symbolismus und überhaupt zu allen Erscheinungsformen der idealistischen, subjektiv-psychologischen Ästhetik im Gegensatz stand. „Die Hauptlosung", schrieb Boris Eichenbaum, „die die ursprüngliche Gruppe der Formalisten vereinte, war die Losung der Befreiung des poetischen Wortes von den Fesseln philosophischer und religiöser Tendenzen, die sich der Symbolisten mehr und mehr bemächtigten." 40
Das ist richtig - jedoch nur zum Teil: Die formalistische Kritik richtete sich gegen die philosophischen Konzeptionen des Symbolismus, da sie gegen alle philosophischen Konzeptionen gerichtet war. Die Symbolisten, die Anhänger Potebnjas, die Psychologisten erwiesen sich lediglich als das sozusagen griffbereite Objekt. Hauptzielscheibe war jedoch die Bedeutung, der Inhalt, alles sozial Relevante in der Kunst; das trennten die OPOJAS-Mitglieder rundweg ab, verwarfen es zusammen mit dem Subjektivismus, Idealismus, zusammen mit der „Innenwelt", der „Seele" und dergleichen. Die auf den ersten Blick unerwartete Übereinstimmung der Formalisten mit Andrej Bely war, wenn man es näher bedenkt, gar nicht so überraschend: Die symbolistische „Welle" und der formalistische „Stein" trafen sich zumindest in einem, aber äußerst wesentlichen, prinzipiellen Punkt: in der Negation des Inhalts als etwas, das angeblich ganz zum subjektivistischen Element gehört. Die „Objektivität", für die die Formalisten eintraten, wurde für einen hohen Preis erkauft, wie ein Forscher der dreißiger Jahre bemerkte - für den Preis des Sinns. 41 Und diesen Preis zahlten die Formalisten, ohne zu zögern. Aber war dies denn überhaupt Objektivität, genaugenommen? Eher ist dies ein Pseudonym für eine andere Erscheinung: die Theorie der Immanenz der Kunst, der völligen Autonomie der ästhetischen Reihe. Auch in dieser Hinsicht hatten die OPOJAS-Mitglieder außer Andrej Bely noch Vorläufer und Kollegen. Obwohl ich mir nicht die Aufgabe stelle, die Quellen des russischen Formalismus genau zu analysieren, 42 muß einiges doch erwähnt werden. Fast gleichzeitig mit Andrej Belys Versuchen und den ersten Veröffentlichungen des O P O J A S erschien eine Reihe von Arbeiten, deren Verfasser die Zahl zum wichtigsten Instrument bei der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des künstlerischen Schaffens machen. Immer öfter und beharrlicher wird der Gedanke geäußert, daß „die Statistik ein Weg sei, das Element des Wortes aufzudecken" 43 . Der Autor dieser Formulierung, N . Setnizki, führt in der Broschüre „Statistik, Literatur und Poesie" zur Untermauerung seiner These eine recht umfangreiche Liste von Büchern und Artikeln an. Allerdings finden sich darunter auch ganz traditionelle Arbeiten. 44 Aber in einem großen Teil der von N. Setnizki erwähnten Arbeiten nimmt die quantitative Analyse tatsächlich einen beträchtlichen Platz ein. So zählt S. Lukjanow in dem „Zurnal ministerstva narodnogo prosvescenija" peinlich genau zusammen, wie viele Silben, wie viele Vokale und Konsonanten in A . Golenistschew-Kutusows Gedicht „Der Todesengel" enthalten sind. In S. Bobrows Buch „Aufzeichnungen eines Dichters" (Moskau 1916) finden wir eine ausführliche Tabelle der Korrelationen zwischen Labialen, Dentalen, Spiranten und den übrigen Konsonanten bei russischen Dichtern (wobei drei Werke von Puschkin, ein Gedicht von Lermontow und vier Gedichte von S. Bobrow selbst analysiert werden). Diese Begeisterung für die Mengenanalyse entbehrte in den meisten Fällen einer festen methodologischen Grundlage, was nicht selten zu Kuriositäten führte. So 126
kann man sich beispielsweise eines Lächelns nicht erwehren, wenn man liest, wie S. Lukjanow, der den prozentualen Gehalt an Wörtern mit wenigen Silben bei Puschkin und Golenistschew-Kutusow vergleicht, zu der Schlußfolgerung kommt,, daß letzterer „dieses Element fast mit der gleichen Vollkommenheit verwendet wie Puschkin" 45 . Es hat jedoch auch Versuche gegeben, Prinzipien in der Anwendung statistischer Methoden aufzustellen. Unter diesem Aspekt gesehen, sind einige Beiträge in Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften bezeichnend. „Linguistische Spektren" - so heißt eine Arbeit von N . Morosow. Der Autor zählt die Menge von Hilfswörtern je tausend Einzelwörter bei den russischen K l a s sikern zusammen.46 Bei der Durchführung dieser „stilmetrischen" Experimente, wie N. Morosow sie nennt, stellt er sich, nach dem Untertitel seines Aufsatzes zu urteilen, eine ziemlich begrenzte Aufgabe: ein Plagiat vom Original unterscheiden zu lernen. Im Kern der Sache geht es jedoch um etwas Wesentlicheres: um die Suche nach exakten, auf statistischen Berechnungen beruhenden Methoden zur Untersuchung des künstlerischen Stils. Gerade darin liegt der Sinn des von N . 'Morosow vorgeschlagenen Verfahrens zur Ableitung des „Individualitätskoeffizienten" des Autors. Noch früher war A . Markow mit einer Notiz über die Anwendung statistischer Methoden hervorgetreten. Als er danach die Arbeit N. Morosows kommentierte und sie insgesamt wohlwollend einschätzte, unterstrich er jedoch, daß es notwendig sei, feste methodologische Grundlagen, echte wissenschaftliche Prinzipien auszuarbeiten, die die „Beständigkeit der Resultate" solcher Untersuchungen, deren „Stabilität" 47 gewährleisten sollten. Die Bemühungen des O P O J A S schlössen zwar nicht unmittelbar an die „stilmetrische" Richtung in der Poetik an, letztere ist jedoch wichtig zum Verständnis der allgemeinen Atmosphäre, in der sich diese Bemühungen entwickelten, in der sich Konzeptionen herausbildeten, nach denen die Literatur entideologisiert wurde und die Vorstellung entstand, nach der das Kunstwerk eine Summe technischer Verfahren, ein in sich geschlossenes Ganzes ist. Besonders nahe standen dem O P O J A S in Geist und Ausrichtung die Ideen der deutschen Gestalt-Theorie, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr aktiv entwickelt wurde. Schon Konrad Fiedler und Adolf Hildebrand wollten zum wichtigsten Untersuchungsobjekt die „architektonische Gestaltung eines Kunstwerks" machen. Im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches „Das Problem der Form" schrieb Adolf Hildebrand: „Die architektonische Gestaltung ist das, was aus der künstlerischen Naturerforschung ein höheres Kunstwerk schafft." 48 Diese Prinzipien wurden von H. Wölfflin weiterentwickelt. Ich erinnere auch an die Arbeiten von Oskar Walzel, den W. Setschkareff zu den „Pionieren .werkimmanenter' K r i tik" 4 9 rechnet. Oskar Walzel sah das Unterpfand einer wissenschaftlichen Betrachtung von Dichtungen darin, daß man „den Künstler über seinem Werk vergißt". Bei der Begründung seines Standpunkts hob er hervor, daß in einer Reihe von
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Fällen bei der Rezeption eines Kunstwerks die Befriedigung eines „rein formalen künstlerischen Bedürfnisses" entscheidende Bedeutung erlangt. „Viele verlassen das Theater in unbefriedigter Stimmung und sind überzeugt, die aufgeführte Tragödie habe ihnen zuletzt sittlich nicht genug getan, während ihnen tatsächlich bloß gewisse Formwirkungen des Schlusses entzogen geblieben sind, an die sie sich gewöhnt haben." 50 Diese ihre Vorläufer erwähnten die OPOJAS-Mitglieder in der Regel nicht sei es aus Unkenntnis, sei es aus anderen Gründen - , was den Arbeiten der russischen Formalen Schule einen gewissen Anflug von Eigenständigkeit verlieh. Ironisch kommentierte A. Belezki dieses Bestreben, „koste es, was es wolle, das Patent eines Pioniers im noch von niemandem untersuchten Dickicht zu erhalten, eigene Systeme zu schaffen, ohne die Existenz anderer, nicht selten sehr solider Systeme zu ahnen oder ahnen zu wollen - das Verlangen, unbedingt neue Worte zu sagen,, selbst wenn sie in Wirklichkeit schon längst und gewichtig von anderen ausgesprochen worden waren" 51 . Eine Ausnahme bildeten W. Shirmunski, Verfasser des Vorworts zur russischen Ausgabe von Oskar Walzeis Buch, und Boris Eichenbaum, der bemerkte, der einheimische Formalismus klinge, verglichen mit dem westeuropäischen, wie ein „von den Fingern schüchterner Schülerinnen gespielter .Freischütz'". Man muß sagen, daß auch in Rußland, in den Arbeiten einiger Vertreter des „akademischen Eklektizismus" hin und wieder Gedanken geäußert wurden, denen die OPOJAS-Mitglieder voller Geringschätzung begegneten, die ihnen aber gar nicht so fremd waren. Zum Beispiel schrieb W. Peretz, Gegenstand der Literaturgeschichte sei „die Literatur selbst, nicht aber die Biographie, die Geschichte und die Psychologie des Schaffens der einzelnen Personen"; der Literaturhistoriker untersuche „die formale Seite der Denkmäler des literarischen Schaffens", wobei er „die Untersuchung des Inhalts, die eigentlich ideelle Seite" ignoriere. 52 Bei der russischen Formalen Schule sind diese Prinzipien bis ins Extrem geführt, in zugespitzte, absichtlich paradoxe Formulierungen gebracht. In den Vordergrund wird das selbstwertige, von den „Fesseln" der Bedeutung befreite Wort gerückt. Zum wichtigsten und einzigen „Helden" der Literaturwissenschaft wird das Verfahren erklärt. Das Kunstwerk wird als Phänomen betrachtet, das nur sich selbst genügt, als zielloses Spiel, als „etwas Gemachtes, Geformtes, Erdachtes - nicht nur Kunstvolles, sondern auch Künstliches" 53 . Hier nur einige charakteristische Thesen: „Mögen andere dem Dichter Gedanken, die in seinen Werken ausgesprochen sind, aufzwingen! Den Dichter der Ideen, der Gefühle zu bezichtigen . . . ist absurd . . ," 54 „Irgendeinen ursächlichen Zusammenhang mit dem .Leben' oder mit dem .Temperament' oder der .Psychologie' hat sie (die Kunst - Ju. B.) nicht." 55 „Die Geschichte der Poesie ist die Geschichte der Entwicklung von Verfahren literarischer Formgebung." 56 128
„Man beschuldigte uns, daß wir der Erörterung der Frage, was ist Literatur, ausweichen und ,die Literatur nicht durch die Weltanschauung' erklären. Ich möchte mit einem Vergleich antworten. Man braucht nicht zu wissen, was Elektrizität ist, und kann sie untersuchen. Und was bedeutet überhaupt diese Frage: ,Was ist Elektrizität?' Ich würde antworten: ,Es ist das, was, wenn man eine Glühbirne einschraubt, sie aufleuchten l ä ß t ' . . . Einer solchen Untersuchung der Literatur widmen die Formalisten ihre Bücherberge." 57 „Wenn man eine aus einem Betrieb genommene Parallele ziehen will, dann interessiere ich mich nicht für die Baumwollsituation auf dem Weltmarkt, nicht für die Politik der Trusts, sondern nur für die Nummern des Garns und für die / 5 8 Verfahren, es zu weben." Der Autor des letztgenannten Aphorismus ging, was bei ihm nicht selten vorkam, weiter als alle anderen: Nicht nur die Helden und ihr Schicksal, nicht nur den literarischen Typ und die Epoche, sondern auch die Weltanschauung führt er ganz auf die Technik des Schriftstellers zurück: „Der soziale Auftrag und die Weltanschauung sind für den Künstler nützlich als Anlaß zur Veränderung der Form." 5 9 Ich zitiere diese vor langer Zeit getanen Aussprüche, die schon der Literaturgeschichte angehören, keineswegs, um sie ihren Autoren im nachhinein noch einmal vorzuwerfen. Bekanntlich haben manche von ihnen später viel in ihren Ansichten revidiert. Die Geschichte des Formalismus ist also zu Ende? Leider nicht. „Die Literatur ist nur Sprache, d. h. ein Zeichensystem; ihr Wesen besteht nicht in dem, was sie mitteilt, sondern in diesem System." Nicht wahr, man kann sich schwer des Gefühls erwehren, d a ß wir eines der alten Paradoxa des O P O J A S vor uns haben? Aber das OPOJAS hat hiermit wirklich nichts zu tun. Diese Worte stammen von Roland Barthes, einem bedeutenden Vertreter der strukturellen Literaturwissenschaft. 60 Eine Ähnlichkeit mit der Formalen Schule ist vorhanden, genauer eine methodologische Nachfolge. Das Grundprinzip des Formalismus die Immanenz, die „Abgeschlossenheit" der Kunst, ein Prinzip, das seinerzeit von den Theoretikern des OPOJAS, wie bereits gesagt, ins Extrem geführt wurde - ist zusammen mit diesem Kreis nicht spurlos verschwunden. Es erwacht heute zu neuem Leben, wurde als Stafette durch die Jahrzehnte getragen, zuerst von der Prager Schule 61 , danach von verschiedenen Schulen des New Criticism, und wird jetzt von der strukturalistischen Literaturwissenschaft aufgegriffen. In dem Artikel „Über den Strukturalismus in der Literaturwissenschaft" 62 erinnert P. Palijewski zu Recht daran, daß Versuche, ein vollendetes und in seiner Art logisches System der formalistischen Poetik aufzubauen, während der zwanziger bis vierziger Jahre vom New Criticism unternommen wurden, und führt dabei die Namen R. P. Warren, J. Ransom, C. Brooks, W . Empson u. a. an. Palijewskis Ansicht über den New Criticism kann man im Prinzip teilen, trotzdem fürchte ich, d a ß der Wunsch der Vater des Gedankens ist, wenn er sagt, dieses System sei als ein scholastisches und untaugliches System zusammengebrochen. Den New Criticism 9
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zu begraben ist noch viel zu früh. Er stellt bis zum heutigen Tag einen sehr einflußreichen Flügel der bürgerlichen Literaturwissenschaft dar, wobei die Stärke der von uns gebrauchten Epitheta (selbst wenn sie im ganzen auch richtig sind) schwerlich dazu angetan ist, die Lage der Dinge zu ändern. Jedenfalls näher an der Realität ist, wie mir scheint, Robert Weimann, der in seinem Buch über den New Criticism anhand reichhaltigen Materials überzeugend nachweist, wie breit und stark heute die Front der Neuen Kritik ist, wie tief die Wurzeln des Formalismus reichen. Auf einem anderen Blatt steht, daß die heutige Neue Kritik ein recht buntes Bild bietet, daß innerhalb dieser Strömung nicht wenige Schattierungen und sogar Unterschiede vorhanden sind. Manche ihrer Vertreter versuchen, den engen Rahmen der Richtung zu überwinden, indem sie Elemente des Freudianismus oder des Existentialismus in sie einbeziehen (letzteres ist beispielsweise charakteristisch für die sogenannte Schweizer Schule). Doch möge die Frage nach der Geschlossenheit und Reinheit der Doktrin der Neuen Kritik vor allem ihre Anhänger selbst bewegen. Fest steht ungeachtet spezieller Meinungsverschiedenheiten das wichtigste: die Betrachtung des Kunstwerks als ein erstarrtes Phänomen, eine Betrachtung, die - mehr oder weniger konsequent und mehr oder weniger militant - jeden Zusammenhang zwischen Kunst und Realität ausschließt. Die verschiedenen Schulen der Neuen Kritik treffen sich letztendlich eben auf dieser Plattform. 63 Ihr Wesen definiert J. Ransom folgendermaßen: „Ich wage anzunehmen, daß jede .technisch' bemerkenswerte Dichtung zum Teil ein Werk abstrakter Kunst ist, die sich aus rein spekulativem Interesse auf die Struktur und auf das Verhältnis von Struktur und Aufbau konzentriert." 64 Auf dasselbe Objekt - auf die „structure-texture relation" - konzentriert sich auch die Aufmerksamkeit der strukturalistischen Literaturwissenschaft, deren Verwandtschaft mit dem russischen Formalismus und dem New Criticism am deutlichsten in dem Bestreben zutage tritt, das Kunstwerk von allem, was über den Rahmen eines in sich geschlossenen Systems hinausgeht, zu „reinigen". Der mit der Informationstheorie und der strukturellen Linguistik eng verbundene Strukturalismus in der Literaturwissenschaft entlehnte von erstgenannter das Verhältnis zum Werk als einem System der Weitergabe von Mitteilungen ohne Bezug zu dem in ihnen beschlossenen Sinn und beim zweiten die Bevorzugung der Syntax vor der Semantik. „Die Aufgabe der strukturalistischen Kritik", schreibt M. Dufrenne in dem Aufsatz „Struktur und Sinn", „ist folgende: die Elemente und die sie ineinanderfügenden .Strukturen' aufzudecken; diese Elemente sind Signifikanten (Bezeichnende), aber sie verfügen über diese Eigenschaft, weil sie in das System eingefügt sind und nicht dank einer direkten Beziehung zu einem Signifikat (Bezeichneten) 65 ; diese Elemente sind als solche sinnlos, und der Strukturalismus will mit Hilfe der Struktur den Sinn aus dem Sinnlosen hervorbringen." 66 Dieser aus dem Sinnlosen hervorgebrachte Sinn ist nicht „Sinn von etwas" oder „Sinn für etwas" - er ist immanent, gehört in keinen sozialen oder historischen Kontext, erfordert nicht die geringste Beziehung zur Realität. 130
Sogar die Annahme, die Literaturwissenschaft könne das Kunstwerk als Zeugnis der realen Welt und etwa gar als Mittel irgendeiner Einwirkung auf diese Welt betrachten, wird von der strukturalistischen Kritik verworfen, als eine „realistische Illusion" erklärt. Ein literarisches Werk ist für diese Kritik wie eine algebraische Gleichung, deren Sinn ausschließlich von der Korrelation der Elemente abhängt und in sich selbst beschlossen liegt. Damit „zerreißt die Kritik", nach den Worten von M. Dufrenne, „die Nabelschnur, die das Werk mit dem Schriftsteller und über den Schriftsteller mit der Welt verbindet". Sie verwandelt sich in eine „Metasprache", die, wie Roland Barthes direkt feststellt, der Untersuchung der Organisation der Signifikanten bei weitem mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Aufdeckung des Signifikats und seiner Beziehung zum Signifikanten. Der Verteidigung und Begründung dieses Herangehens an das literarische Werk sind beispielsweise die Essays des italienischen Kritikers Barbieri Squarotti „Kritik als Struktur" („Sigma", 1966, Nr. 10) und „Zwischen Soziologie und Linguistik" („Giovane Critica", 1966, Nr. 12) gewidmet. Nur wenn sich die Kritik der ideologisch neutralen Sprache der Wissenschaft bediene und die strenge Anwendung dieser Sprache zu ihrem einzigen Kriterium mache, heißt es bei Squarotti, könne sie die Hauptaufgabe erfüllen - die Literatur absolut außerhalb der ökonomischen und sozialen Struktur darzustellen. Geht man eben von dieser Aufgabe aus, kommt man nicht umhin, anzuerkennen, daß der Verfasser der Essays auf seine Art logisch ist: Man kann sie nicht erfüllen, ohne mit den Gesetzen der Geschichte und Gesellschaft zu brechen. Doch es erhebt sich die Frage, ob diese Kritik mit ihrem Prinzip der „Orientierung des literarischen Werkes auf sich selbst" nicht Gefahr läuft, sich plötzlich in der Lage von Thomas Manns Adrian Leverkühn zu sehen, der „mit Formen spielt, aus denen, wie man weiß, das Leben geschwunden ist" 67 . Allerdings sind das alles extreme Formulierungen. Es gibt im Strukturalismus auch gemäßigtere Tendenzen. Juri Lotman z. B., einer der sachlichsten Vertreter der strukturalistischen Strömung in unserer Literaturwissenschaft, besteht darauf, daß das strukturelle Herangehen an die Kunst in keiner Weise eine bewußte Unterschätzung und noch weniger Ignorierung des inhaltlichen Moments bedeutet. „Die Begriffe der ,Idee* und der .poetischen Vorstellung von der Wirklichkeit'", schreibt er, „werden nicht durch eine abstrakte Struktur von .irgend etwas* ersetzt. Es ist unumgänglich, die Struktur der Idee, die Struktur der poetischen Vorstellung von der Wirklichkeit zu studieren." Davon ausgehend lehnt Lotman entschieden jeden Zusammenhang und jede Nachfolge, ja sogar jede wie auch immer geartete Beziehung zwischen Strukturalismus und Formalismus ab. Die Frage nach diesen Beziehungen wird seiner Meinung nach „gegenwärtig (von verschiedenen Forschern aus unterschiedlichen Gründen) künstlich hochgespielt.. ," 68 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Lotman diesem Problem in dem Buch „Die Struktur des künstlerischen Textes", in dem er seine Interpretation der nicht verstummenden Dispute zwischen dem Formalismus und dessen Gegnern vorlegt. 9*
Auf der Suche nach literarhistorischen Analogien wendet Lotman sich Fonwisins „Landjunker" zu. In den uns noch von der Schulbank erinnerlichen Überlegungen Mitrofans über die Tür, die angeblich ein Adjektiv sei, „weil sie ihrem Platz beigefügt ist", will der Verfasser des Buches „Die Struktur des künstlerischen Textes1" mehr sehen als nur ein Zeugnis für Stumpfsinn und Unwissenheit. Seiner Meinung nach verkörpert der dem Jünglingsalter entwachsene Dummkopf „den gesunden Menschenverstand, der keine Abstraktionen anerkennt und die Fragen unter dem Aspekt des Wesens und nicht unter dem Aspekt der Methode lösen will" 6 9 . Ebenso sieht Mitrofans Mama, Frau Prostakowa, die Dinge. Die von dem Lehrer Zyfirkin gestellte Aufgabe - dreihundert Rubel, die gefunden wurden, gleichmäßig aufzuteilen - gibt den Anlaß zu alltäglichen Instruktionen: „Hast du Geld gefunden, teile es mit niemandem. Nimm dir alles, Mitrofanuschka. Studiere diese blöde Wissenschaft nicht." Und wiederum, so meint Lotman, hat Frau Prostakowa „vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands" recht, weil für sie, wie überhaupt für Leute dieses Schlags, nicht die Richtigkeit der durchgeführten Rechenoperationen, sondern das „Wesen" der Erscheinungen wichtig ist. Und wer sind der Sergeant i. R. Zyfirkin und sein Kollege, der Seminarist Kutejkin? Wie sich herausstellt, haben wir gewissermaßen die Vorläufer des heutigen Strukturalismus vor uns, denn, vergeblich bemüht, dem Jüngling die Elementarregeln der Arithmetik und Grammatik einzutrichtern, bestätigen sie damit die Betrachtung dieser Wissenschaften als „immanente . . . Wissensstrukturen". Ihnen stehen Mitrofan und Frau Prostakowa gegenüber, für die diese selben Systeme nicht mehr sind als „blöde Wissenschaft"; sie sind zu abstraktem Denken absolut unfähig und geben deutlich dem Inhalt den Vorzug vor der Form. Ich würde dies Präventivtaktik nennen. Lotman errät gewissermaßen die Einwände eines potentiellen Opponenten im voraus - möchte sie von vornherein neutralisieren, entschärfen. Dieser Aufgabe dienen die mit dem „Landjunker" verbundenen Reminiszenzen. Der Autor muß die Rechtmäßigkeit der Untersuchung eines Kunstwerks als einer synchron abgeschlossenen Struktur begründen, muß beweisen, daß die immanente Textanalyse kein Zugeständnis an den Formalismus bedeutet, nicht mit einer Abwendung von den Fragen des Inhalts, der Bedeutung, des gesellschaftlich-ethischen Wertes der Kunst und ihres Zusammenhangs mit der Wirklichkeit gekoppelt ist. In der Voraussicht, daß ein solches Herangehen Zweifel wecken kann, will Ju. Lotman sie gleich desavouieren mit dem Hinweis auf Mitrofan und Frau Prostakowa: Da sieh, wer deine Gesinnungsgenossen sind, verehrter Opponent . . . Was ist hierzu zu sagen? Den Wunsch, sich um jeden Preis vom Formalismus abzugrenzen, kann man verstehen, aber der Wunsch allein tut es noch nicht. Es gibt Fakten, es gibt eine unerbittliche, objektiv vorhandene Logik der Konzeption. Natürlich ist die Bemerkung durchaus begründet, daß Zyfirkin seinen Schüler Mitrofan „ganz und gar nicht lehrt, wie man moralisch, nützlich und vorteilhaft vorgeht, sondern wie die Teilung ganzer Zahlen vorzunehmen ist", und daß man 132
zur Beherrschung der Grammatik und Arithmetik „diese - auf einer bestimmten Etappe - als immanente, geschlossene Systeme von Kenntnissen darstellen muß" 70 . Aber inwieweit ist eine Extrapolation dieses Prinzips auf das künstlerische Schaffen zulässig? Kann man sich bei der Untersuchung eines Kunstwerks nur für die „Richtigkeit der ausgeführten Operationen" interessieren und alles beiseite lassen, was Lotman aus irgendeinem Grunde mit ironischem Unterton das „Wesen" der Erscheinungen nennt? Allem Anschein nach neigt der Autor zu einer bejahenden Antwort auf diese Fragen, obwohl gerade das von ihm angeführte Beispiel aus Fonwisins Komödie etwas anderes besagt. Es geht doch hier nicht um einen Konflikt zwischen gesundem Menschenverstand und abstraktem Denken, zwischen dem „Aspekt des Wesens" und dem „Aspekt der Methode". Frau Prostakowas Überlegungen sind gerade eine anschauliche Illustration dafür, daß selbst die Regeln der Arithmetik, wenn sie in die Sphäre menschlicher Beziehungen, in die Sphäre der Kunst einbezogen werden, durchaus nicht von den Positionen der Immanenz interpretiert zu werden brauchen, daß sie plötzlich eine sittliche und soziale Bedeutung erhalten können. Lotman unterstreicht allerdings, daß für ihn das immanente Herangehen an den künstlerischen Text in beträchtlichem Maße einen bedingten heuristischen Charakter habe, daß es nur eine vorbereitende Etappe auf dem Weg zum Erkennen des Inhalts sei. Sein Gedankengang ist folgender: Um den Inhalt eines Buches zu verstehen, muß man die Sprache kennen, in der es geschrieben ist; in einem Lehrbuch für eine Fremdsprache interessieren uns bekanntlich nicht die Ideen, nicht der Inhalt, sondern die Form, bestimmte Gesetzmäßigkeiten der gegebenen Sprache als System, das imstande ist, Mittel zur Weitergabe beliebiger Mitteilungen zu sein. Das alles wird über die natürliche Sprache gesagt. Aber die Kunst? Dieses sekundäre modellierende System als „Überbau" über der natürlichen Sprache hat doch seine eigene Sprache, die sich in vielem nach anderen Gesetzen entwickelt. Ist hier eine' Trennung, und sei es auch nur eine bedingte, der Ebene des Inhalts und der Ebene des Ausdrucks möglich? Auf jeden Fall wird der Grad dieser Bedingtheit so sein, daß man von einer Geschlossenheit des Textes als einem irgendwie realen Merkmal nicht mehr sprechen kann. Überhaupt ist hier in Lotmans Position eine gewisse Zwiespältigkeit, Inkonsequenz zu spüren. Darauf muß man näher eingehen: Es handelt sich um eine prinzipielle Frage. Einerseits schlägt Lotman vor (und versucht dies selbst zu tun), den Text außerhalb des Kontextes als eine völlig isolierte Einheit, an und für sich zu betrachten. Andererseits muß er aber mit Faktoren rechnen, die diese Geschlossenheit stören, von außen „einbrechen". Einerseits besteht er sehr entschieden auf dem Immanenzprinzip. Andererseits stellt er der abstrakten „Struktur ,von etwas"' die „Struktur des wiedergegebenen Inhalts" gegenüber. Wenden wir uns den Fakten zu. Lotman schrieb u. a., daß „die Untersuchung der Kultur, Kunst, Literatur als Zeichensystem getrennt vom Problem des Inhalts jeden 135
Sinn verliert" 71 . „Für einen Menschen", lesen wir auch, „der es mit einem aus der Gesamtheit der außertextlichen Zusammenhänge herausgerissenen Text zu tun haben möchte, könnte ein Werk überhaupt nicht Träger irgendwelcher Bedeutungen sein." 72 Darüber hinaus wird der Gedanke geäußert, daß ein Kunstwerk „sich nicht im Text erschöpft", daß es „eine Beziehung von textlichen und außertextlichen Systemen darstellt" 73 . Wenn Lotman schließlich die Verfahren der Bedeutungsbilder im Prozeß der sogenannten Umkodierung betrachtet - der Annäherung, Überschneidung, Wechselwirkung von Elementen verschiedener Strukturen - , bemerkt er wie beiläufig, daß im Ergebnis vielmaliger Umkodierung „ein semantischer Kern entsteht, der als Bedeutung, als ein Hinausgehen über den Rahmen der Zeichenstrukturen in die Welt des Objektes verstanden wird" 7 4 . Anders ausgedrückt, es wird anerkannt, daß solche Begriffe wie Bedeutung, Inhalt, Sinn in abgeschlossenen Strukturen keinen Platz finden. Was bleibt in diesem Fall von der Immanenz? Allein die Bedingtheit? Lotman versucht, diesen Widerspruch zu überwinden, indem er als Kompromiß den Begriff der „immanenten Bedeutung" einführt. Als Beispiel beruft er sich auf Rousseau und meint, wir könnten die Bedeutung seiner Ideen nicht nur bestimmen, indem wir sie mit den Ideen anderer Strukturreihen vergleichen, sondern auch, indem wir die Beziehung eines bestimmten Elements zu anderen Elementen desselben Systems klären. 75 Ein derartiger Forschungsaspekt ist möglich, doch warum soll man die dabei entstehende Bedeutung immanent nennen? Lotman gibt doch selbst zu, daß wir uns sowieso „ n i c h t . . . der vielen, vom Standpunkt der Weltanschauung Rousseaus außerhalb des Systems liegenden Bedeutungen dieser Termini entziehen können" 76 , und das ist eine richtige Bemerkung. Dieselbe Zwiespältigkeit zeigt auch die von Lotman vorgeschlagene Interpretation des modellierenden Charakters der Kunst: „Das Kunstwerk ist ein Modell der unendlichen Welt" 7 7 , schreibt er. Diese Worte scheinen keinen Zweifel zu lassen: Die Kunst modelliert nichts anderes als die objektive Wirklichkeit. Eine solche Ansicht verträgt sich, so könnte es scheinen, auf keine Weise mit der Vorstellung vom Modell als einem in sich geschlossenen, von der „großen" Realität abgegrenzten Mechanismus, der nur entsprechend seinen immanenten Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Indessen können einige Urteile Lotmans gerade in diesem Sinn interpretiert werden. Hier ein charakteristisches Beispiel. Lotman erzählt die Geschichte, wie es dem bedeutenden deutschen Mathematiker Felix Klein gelang, Lobatschewskis These von der Möglichkeit, durch einen Punkt zwei Geraden zu ziehen, die einer dritten parallel sind, zu modellieren. Dies mit Hilfe traditioneller, „gebräuchlicher Verfahren zu beweisen, war nicht möglich: Es ging um die Zerstörung unserer gewohnten Vorstellungen, die Kant beispielsweise für unmittelbar offensichtlich, apriorisch hielt" 78 . Was tat Felix Klein? Er schlug vor, auf einer gewöhnlichen Euklidischen Ebene einen Kreis zu beschreiben, in dem die Geraden als Sehnen und die parallelen Geraden als Sehnen mit einem gemeinsamen Ende dargestellt werden. Dabei 134
und das ist das Wichtigste - wurde nur das Innere des Kreises betrachtet, die Kreislinie sowie das außenliegende Gebiet wurden aus der Betrachtung ausgeschlossen. Innerhalb dieses begrenzten Raums, der als Modell des ganzen Raums auftritt, wurde Lobatschewskis These mit aller Anschaulichkeit bestätigt. Das angeführte Beispiel hat, so Lotman, „eine direkte Beziehung zum Problem des Rahmens in der Literatur" 79 : Der Anfang und das Ende nehmen den Text gleichsam aus dem Kontext (jedem beliebigen - literarischen, historischen, sozialen) heraus, trennen ihn von allem, was außerhalb des gegebenen Rahmens liegt. Eben darin, meint Lotman, bestehe die modellierende Funktion der Kunst. Auf diese Weise werden Verfahren des Aufbaus geometrischer Modelle auf das künstlerische Schaffen extrapoliert. Eine solche Operation scheint mir riskant. Ich erlaube mir, mich auf die Autorität des bekannten marxistischen Philosophen Georg Klaus zu berufen: Seiner Meinung nach bedeutet der mathematische Begriff des Modells „genau das Gegenteil des in den übrigen Wissenschaften gebräuchlichen"80. Ohne auf Einzelheiten der Frage einzugehen, bemerke ich nur, daß es sich um einen prinzipiellen, qualitativen Unterschied im Verhältnis von konkreter Interpretation und Abstraktion, um Besonderheiten bei der Anwendung der Methode der Analogie auf unterschiedlichen Gebieten handelt. Wenn wir vom künstlerischen Schaffen sprechen, ist eine Trennung von modellierten Strukturen und sinnlicher Unmittelbarkeit besonders gefährlich; wir laufen Gefahr, nicht ein Modell der objektiven Welt, sondern nur ein blutloses Schema zu erhalten. Was in der Mathematik zulässig und fruchtbar ist, kann sich für die Kunst als tödlich erweisen. Das Gesagte soll nicht als Ausdruck einer mißtrauischen, skeptischen Haltung zur Idee des Modellierens überhaupt aufgefaßt werden. Die Vorstellung vom modellierenden Charakter des Kunstwerks ist heute ziemlich fest in der marxistischen Ästhetik verankert. Es ist jedoch klar, daß diese Feststellung nicht genügt, sondern der Begriff des Modells muß unter Berücksichtigung seiner ästhetischen Spezifik präzisiert werden. Wie Horst Redeker in seinem Buch „Abbildung und Aktion" bemerkt, gibt es „im Modellbegriff allein (aber gerade so wird er z. B. von Roger Garaudy interpretiert - ]u. B.) . . . keine Schranke für die Abstraktion, so daß theoretisch auch eine mathematische Symbolisierung des Modells als Literatur gerechtfertigt werden kann" 81 . Redekers Buch ist deshalb interessant, weil er versucht, an den Modellbegriff in der Kunst vom Standpunkt der Dialektik von Widerspiegelung und schöpferischer Aktivität heranzugehen. Redeker stellt als Hauptkriterium bei der Charakterisierung der modellierenden Funktion der Kunst das Kriterium der Wahrheit heraus: „Die Frage . . . müßte dann lauten, ob die Gesamtstruktur des Werkes als Modell wesentlichen Seiten des historischen Prozesses adäquat ist"; dabei „steht jedes Modell für sein Original und verlangt ein ähnliches Verhalten zu ihm wie zum Original" 82 . Gerade dieses Moment - das Moment der Widerspiegelung und der Erkenntnis der Wirklichkeit - fällt aus Ju. Lotmans Urteilen über den modellierenden 135
Charakter der Kunst heraus bzw. tritt nicht als das entscheidende hervor. Während beispielsweise Rita Schober83 in ihrem Beitrag auf dem VI. Komparatistenkongreß in Bordeaux (1970) das realistische Werk vor allem deshalb als ein Modell der Wirklichkeit betrachtet, weil es sowohl die Kausalität gesellschaftlicher und historischer Prozesse als auch die Struktur der menschlichen Psyche widerspiegele, richtet sich Lotmans Aufmerksamkeit in erster Linie auf Erscheinungen der Unähnlichkeit von Modell und Realität. Der Akzent wird darauf gelegt, daß Modellieren kein Kopieren des Objektes in den ihm eigenen Formen sei, sondern „stets Übertragung"84. Das ist nicht zu bestreiten, obwohl beiläufig zu bemerken ist, daß Kopieren und Widerspiegeln eines Objekts „in den ihm eigenen Formen" sehr verschiedene Dinge sind. Aber hier geht es nicht um terminologische Nuancen. Das Wesentliche ist die absichtliche und beharrliche Ausgliederung einer Seite des Prozesses. Infolgedessen steht nicht die künstlerisch-erkenntnismäßige, sondern die mythologisierende Rolle des Modells in der Kunst im Vordergrund, und der flügellahmen Wahrscheinlichkeit wird als Alternative die „Malerei des 20. Jahrhunderts" gegenübergestellt, die sich, wie es heißt, „Vereinigungen, die vom alltäglichen Bewußtsein verboten sind" 85 , erlaubt. Es ist nicht sonderlich schwer zu erraten, wohin die polemische Spitze dieser Definition zielt: Erinnern wir uns an Frau Prostakowa als Verkörperung des „gesunden Menschenverstandes" . . . Dieses Motiv nimmt in Lotmans Argumentationssystem einen wesentlichen Platz ein und soll daher etwas eingehender behandelt werden. Das Verhältnis zwischen dem „gesunden Menschenverstand", dem „alltäglichen" („gewöhnlichen") Bewußtsein einerseits und der Kunst andererseits wird von Lotman als eine der wesentlichsten Fragen der Kultur des 20. Jahrhunderts gewertet, die über die Sphäre des Ästhetischen hinausgeht und eine ausgesprochen soziale Färbung erlangt. Seiner Meinung nach wäre das alltägliche Bewußtsein die einzige ideologische Form, die dem Verständnis der Massen des Kleinbürgertums zugänglich sei, dessen antikulturelle Funktion im 20. Jahrhundert mit besonderer Deutlichkeit zutage trete. Unter diesem Aspekt erscheinen die Strömungen der heutigen Kunst, die sich auf „vom alltäglichen Bewußtsein verbotene Vereinigungen" orientieren, als Hauptkraft, die die „avantgardistische Rolle im Kampf gegen das Kleinbürgertum" spielt. Aber ist dieses Problem wirklich so eindeutig? Selbstverständlich hat Lotman recht, wenn er sich gegen die Auffassung wendet, die Kunst habe der Wirklichkeit adäquat zu sein, und davor warnt, „Normen und Vorstellungen, die im Menschen von der täglichen Praxis und den unmittelbaren Daten seiner Sinne entwickelt wurden" 86 , mechanisch auf die Kunst anzuwenden. Hier handelt es sich tatsächlich um einen wichtigen Aspekt der kulturellen Entwicklung unserer Zeit, der vieles, beispielsweise hinsichtlich der Verbreitungsursachen und des Wirkungsmechanismus der bürgerlichen „Massenkultur", erklärt. Das Gesicht dieser „Kultur der geistigen Narkotika", die Geheimnisse der den Spießbürger bezaubernden „Magie des Marktes" werden in A. Kukarkins Buch „Die bürgerliche Gesellschaft und die Kultur" 8 7 gut gezeigt. 136
In demselben Buch werden jedoch auch zahlreiche Zeugnisse dafür erbracht, d a ß die formalistische Kunst, die bekanntlich den Anspruch erhebt, eine avantgardistische Kunst zu sein, die „Mission der Verdunklung" nicht weniger aktiv erfüllt. Dem Spießbürger imponieren nicht nur die Erfolgsfilme Hollywoods, die billigen Fernseh-Shows und Schundromane zu „Sex", nicht nur die Serienromane von J. Fleming, sondern auch die raffiniertesten Formen des literarischen Neo-Avantgardismus, der Surrealismus, „Pop"- und „Op-Art" . . . Kurz gesagt, die - übrigens keineswegs neue - Deutung der avantgardistischen Kunst als einer antikleinbürgerlichen, echt revolutionären Kunst wird durch die ideel-künstlerische Praxis nicht bestätigt, welcher Art die subjektiven Beweggründe ihrer einzelnen Vertreter auch sein mögen. Daß der Autor des Buches „Die Struktur des künstlerischen Textes" alle diese Momente, die von der Kompliziertheit und Vieldeutigkeit des Problems zeugen, außer acht gelassen hat, ist, wie mir scheint, weitgehend auf eine enge, in Wirklichkeit immanente Interpretation der Kategorie des Modells in der Kunst zurückzuführen. Genaugenommen hat das von Lotman vorgelegte Modell weder zur Widerspiegelungstheorie noch zur Lebenswahrheit oder zum Realismus einen Bezug. Für sie findet sich im System der strukturellen Poetik kein Platz, sie bleiben einfach außerhalb „dieser abgeschlossenen, abgeschlossenen . . . Welt". Übrigens gilt dies auch für so „traditionelle" Begriffe wie die Position des Künstlers, seine Ansicht vom Leben, seine Weltanschauung. Hierin kommt die für die strukturalistischen und mathematisch-statistischen Richtungen bezeichnende Ignorierung der schöpferischen Individualität zum Ausdruck. „Die Rolle des Schriftstellers wird auf die jeweilige Auswahl der Konstruktionsverfahren für die Werke, auf die Transformation dieser Verfahren, ihre Varianten reduziert" 88 , schreibt dazu M. Chraptschenko. Bei Lotman wird alles, was mit der Persönlichkeit des Künstlers zusammenhängt, durch den sogenannten Standpunkt ersetzt. Diese Kategorie ist dem literaturwissenschaftlichen Arsenal des New Criticism, insbesondere des amerikanischen, entlehnt. 89 Dies zu erwähnen vergessen seltsamerweise sowohl Lotman als auch B. Uspenski, der Autor des Buches „Die Poetik der Komposition" 90 , das fast gänzlich auf der Anwendung dieses Verfahrens aufgebaut ist. Man muß bemerken, daß die Vertreter der Konzeption des „point of view", wenn man die bedeutendsten Arbeiten (z. B. „Die Macht der Fiktion" von P. Lubbock) nimmt, nicht wenige wertvolle Einzelerkenntnisse bei der Erforschung der formalen Besonderheiten des Romans für sich verbuchen können. Aber der New Criticism ist nicht imstande, einen dialektischen Zusammenhang zwischen dem „Standpunkt" und anderen Formelementen herzustellen und dabei ihre allgemeine objektive Korrelation mit der historischen Wirklichkeit aufzudecken. Auch die strukturelle Poetik verbindet den „Standpunkt" vor allem mit inneren Gesetzmäßigkeiten des Textes, mit der Vorstellung von seiner Abgeschlossenheit: Nicht umsonst heißt das entsprechende Kapitel von Lotmans Buch „Der Standpunkt 137
des Textes". Wie wir sehen, Zwiespältigkeit über Zwiespältigkeit, und trotzdem siegt die Immanenz als grundlegendes, bestimmendes Prinzip. Wenn Lotman auch schwankt, wenn er auch versucht, den Teufelskreis zu durchbrechen - vor die Wahl zwischen formaler „Richtigkeit" und „Wesen" gestellt, wählt er trotzdem ersteres. Übrigens kannte die Entwicklungsgeschichte der strukturalistischen Strömungen schon Versuche dieser Art. Der tschechoslowakische Literaturwissenschaftler Jan Mukarovsky, eine anerkannte Autorität in Fragen des semiotischen Charakters der Kunst, betonte seinerzeit: Wenn seine Methode zu Anfang dem russischen Formalismus, der das Prinzip der Autonomie der Kunst vertrat, am nächsten gestanden habe, so sei er später zu der Schlußfolgerung gekommen, daß man die Korrelation der Kunst zu den anderen Reihen untersuchen müsse. An anderer Stelle spricht J. Mukarovsky von einem organischen Zusammenhang zwischen der sogenannten Soziologie der Kunst und der Untersuchung des künstlerischen Aufbaus. 91 Es könnte scheinen, das sei der Bruch mit dem Formalismus, die Überwindung seiner Enge; denn ist es nicht schon ein Schritt vorwärts im Vergleich zur formalistischen Orthodoxie, das Kunstwerk nicht einfach als Zeichen und Struktur, sondern auch als Wert zu betrachten? Natürlich ist es ein Schritt nach vorn. Man sollte jedoch nicht so eilig schlußfolgern, der Strukturalismus sei hier zu einem marxistischen Verständnis der sozialen Zusammenhänge der künstlerischen Struktur gekommen. Denn J. Mukarovsky kann sich trotz der Hinwendung zu diesen Zusammenhängen nicht entschließen, sich vom Wichtigsten - vom Immanenzprinzip im Verständnis des Kunstwerks - loszusagen. J. Mukarovsky spürt die Widersprüchlichkeit seiner Position, meint aber, der semiologische Standpunkt könne ihm heraushelfen, könne diesen Widerspruch aufheben und erlaube es, die Entwicklung der Kunst „als immanente Bewegung, die sich jedoch in einem ständigen dialektischen Verhältnis zur Entwicklung der übrigen Bereiche der Kultur befindet", zu begreifen („Die Kurist als semiologisches Faktum"). Doch diese Hoffnung ist illusorisch - Unversöhnliches zu versöhnen ist noch keinem gelungen. Dem Versuch, den Inhalt der Kunst mit der strukturalistischen Methode zu erschließen, wird wohl kaum größerer Erfolg beschieden sein. Jedenfalls ist bis jetzt nicht ganz klar, was real hinter Lotmans Terminus „Struktur des wiedergegebenen Inhalts" 92 steht. Und es geht dabei nicht um die subjektiven Absichten des einen oder anderen Wissenschaftlers. Das Prinzip der Abgeschlossenheit der ästhetischen Reihe - ihrer Immanenz, ihrer Isoliertheit von der Welt, vom Menschen, vom Sinn - stellt nicht einfach eine Verirrung einzelner Autoren dar; es ist eine Ureigenheit des Strukturalismus, der es als Erbe vom Formalismus übernommen hat. Die Anerkennung einer unbewußten, verborgenen, abstrakten Struktur - (jener selben Struktur „von etwas", die Lotman angeblich ablehnt), in der nicht die Elemente gewisse Seiten der realen Wirklichkeit widerspiegeln, sondern nur die abstrakt genommenen Beziehungen zwischen ihnen - liegt dem Strukturalismus zu138
gründe. Der reale Inhalt, der von jedem dieser Elemente widergespiegelt wird, hat keine Bedeutung. Nach Meinung eines Strukturalisten ist das Kunstwerk nur ein System von Symbolen, in die „jeder einen eigenen Inhalt einsetzt" 93 , und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Kunst prinzipiell nicht, sagen wir, von Wahrsagerei oder von einer religiösen Predigt. Man könnte einwerfen, dies sei wiederum ein extremer Standpunkt. Ja, Lotman spricht nicht einfach von Elementen, sondern von bedeutungstragenden Elementen, von der semantischen Fracht eines jeden von ihnen. Wie dem auch sei, die reale Welt und unsere Modelle von dieser Welt bleiben trotzdem vor allem „ein System von Beziehungen und Zusammenhängen" 94 , und gerade darin sieht er das Wesen des strukturellen Herangehens. Die Idee des Primats des Systems der Signifikanten vor dem Signifikat, der reinen Beziehungen vor dem Wesen und der Bedeutung der in Korrelation stehenden Elemente ist aus dem theoretischen Erbe Ferdinand de Saussures geschöpft, von dem die Formulierung stammt: „Die Sprache ist nicht Substanz, sondern Beziehung." 93 Bindeglied zwischen de Saussure und dem Strukturalismus wurde die Formale Schule. „Die poetische Rede", lesen wir in einem Aufsatz über de Saussure, „wird durch die Gegenüberstellung, das Zusammentreffen selbständiger Sprachelemente als solcher aufgebaut." 96 Noch kategorischer war Wiktor Schklowski. Das literarische Werk, behauptet er, „ist reine Form, es ist keine Sache, kein Material, sondern ein Verhältnis von Materialien". Dabei ist die absolute Bedeutung der zueinander in Korrelation stehenden Elemente („des Zählers und des Nenners") unwesentlich. „Scherzhafte, tragische, Welt-, Kammerwerke, die Gegenüberstellung von Welt und Welt oder von Katze und Stein - sind untereinander gleich." 97 Daher der Vergleich der Literatur mit dem Schachspiel: „Die Handlung eines literarischen Werkes vollzieht sich nur auf einem bestimmten Feld; den Schachfiguren entsprechen die Typen - die Masken der Rollenfächer des heutigen Theaters. Die Sujets entsprechen den Gambits, d. h. den klassischen Austragungen dieses Spiels, deren sich die Spieler in Varianten bedienen. Die Aufgaben und Peripetien entsprechen der Rolle der Züge des Gegners." 98 Hier gebraucht Wiktor Schklowski in Anwendung auf die Literatur denselben Vergleich wie de Saussure. Als letzterer seine Auffassung von der Sprache als einem System erklären wollte, in dem die entscheidende Rolle die Beziehungen spielen und nicht das Wesen, stützte er sich gerade auf das Schachspiel. „Wenn ich", schrieb er, „die Holzfiguren durch Figuren aus Elfenbein ersetze, so ist dieser Wechsel gleichgültig für das System; aber wenn ich die Anzahl der Figuren verringere oder erhöhe, so berührt dieser Wechsel zutiefst die .Grammatik* des Spiels." 99 Wiktor Schklowski braucht die Analogie mit dem Schachspiel zum Beweis des Gedankens, daß die Literatur ebenfalls gänzlich auf eine „Beziehung", auf „eine Verflechtung von Lauten, Artikulationsbewegungen und Gedanken" 100 reduziert werden kann, daß die Seele des literarischen Werkes „sein Aufbau, seine Form" sei. „Oder", schreibt er, „um meine Formulie139
rung zu benutzen: Der Inhalt (die Seele) eines literarischen Werkes ist gleich der Summe seiner Stilverfahren." 101 Der bekannte sowjetische Psychologe L. Wygotski 102 kommentiert dieses Postulat und vergleicht die Formalisten mit dem Schneider Staub (bei Heine), der für einen Frack, den er aus seinem eigenen Tuch genäht hat, ebensoviel nimmt wie für einen Frack, den er aus dem Tuch des Auftraggebers gefertigt hat. Dabei erinnert Wygotski zu Recht daran, daß durchaus nicht alle Schneider dem Sonderling Staub gleichen; überdies unterscheidet sich das künstlerische Schaffen vom Schneiderhandwerk u. a. dadurch, daß wir hier nicht nur die Form, sondern auch das Material bezahlen.103 Wozu führt es, wenn das Kunstwerk als Summe von Stilverfahren, eine Art Ballung „reiner" Beziehungen gesehen wird? Wie W. Shirmunski seinerzeit gezeigt hat, wird damit die Wortkunst „in Analogie zur Ornamentalkunst, d. h. zur gegenstandslosen Kunst" 104 betrachtet. I. A. Winogradow erinnert sich in diesem Zusammenhang an Pasternaks Zeilen: Wann wäre ich, Mensch, eine leere Sammlung von Schläfen und Lippen und Augen, Händen Schultern und Wangen gewesen! 105 In der Tat führte uns das OPOJAS das Kunstwerk nur als „leere Sammlung" verschiedener Verfahren vor. M. Girschman lenkt in seinem Artikel „Die literaturwissenschaftliche Analyse. Methodologische Fragen" 106 die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen der strukturalistischen Auffassung von den Elementen eines Werkes und den Konzeptionen des OPOJAS. Die Formalisten verwarfen die „spezifischen Elemente" als Fiktion, als schädliche Erfindung der Psychologisten und rückten nur die Art des Aufbaus eines Werkes in den Vordergrund. Die Strukturalisten gehen davon aus, daß jeder künstlerische Text nichts anderes ist als eine Kombination von einander wiederholenden, jedes Sinns entbehrenden Elementen und daß er letzten Endes in diese Elemente oder in ihre Gruppen - unter Herauslösung der Regeln der Syntagmatik - zerlegt werden kann. Die Strukturalisten berufen sich auf die Arbeiten der Theoretiker des OPOJAS und sehen den wichtigsten Vorzug dieser Arbeiten darin, daß ihre Verfasser bestrebt waren, die literarischen Werke „als Zusammenstellungen von Invarianten, die auf Grund ihrer Funktionen im System aufgedeckt werden" 107 , zu beschreiben. Bezeichnenderweise vergleichen die Vertreter der strukturellen Literaturwissenschaft die Kunst ebenfalls gern mit dem Schachspiel. Ihrer Meinung nach „steht das Kunstwerk in demselben Verhältnis zum Leben wie die Etüde zur Schachpartie", und die Sujeterzählung „wird wie ein System von Gabeln aufgebaut" 108 . Eine zu140
fällige Ähnlichkeit der Formulierungen? Eher eine organische Nähe der methodologischen Positionen. Die Strukturalisten können - ebensowenig wie ihre Vorläufer - „die Vorstellung vom fertigen Inhalt, der in der künstlerischen Struktur entsprechend bezeichnet wird", nicht überwinden, schreibt M. Girschman; indem sie das Kunstwerk in leblose Elementarteilchen zersplittern, töten sie es zwangsläufig. Hier ist Girschman vielleicht nicht ganz exakt. Der Strukturalismus zersplittert ein Werk nicht einfach in Elemente, er versucht danach gewissermaßen, es von neuem „zusammenzusetzen", ihm seine Ganzheit wiederzugeben. Aber ein Kunstphänomen, das einmal „auseinandergenommen" wurde, ist nicht mehr es selbst. Regeneration widerspricht der Natur der Kunst, denn die Kunst ist immer einmalig. Zwar strebt der Strukturalismus in der Theorie zu dynamischer Ganzheit, aber in der Praxis dominiert in ihm, wie der bulgarische Wissenschaftler P. Sarew bemerkt, gerade die Zersplitterung; die strukturellen Forschungen sind in der Regel auf die Untersuchung des Details beschränkt, sie sind „Kollektionen von Einzelheiten"; „die ,alte', .traditionelle', angeblich unwissenschaftliche Betrachtung der künstlerischen Literatur als komplizierte geschlossene Einheit wird verworfen" 109 . Es bleibt eine Tatsache: Der Strukturalismus hat von der Formalen Schule den Begriff der Abgeschlossenheit des Systems und seiner „Reinigung" vom Sinn entlehnt. Dabei, und das ist völlig logisch, entnahm er dem Arsenal des OPOJAS auch eine Reihe von speziellen Ideen, in denen die allgemeinen Prinzipien dieser Strömung ihre Brechung fanden. Besonderen Erfolg hatte die sogenannte Verfremdung. Dieser Terminus, seinerzeit von Wiktor Schklowski erfunden, bezeichnete ein Verfahren, das darauf gerichtet ist, eine Sache aus den gewohnten Zusammenhängen herauszuführen, sie in unerwarteter, eigenwilliger Perspektive zu zeigen und den Leser damit zu zwingen, die Sache gewissermaßen neu zu sehen, zu „erleben". Diese Beobachtung ist übrigens recht treffend, zudem wurde sie durch interessante Hinweise auf gewisse Besonderheiten des Stils Lew Tolstois untermauert. Aber die Formalisten erhoben das Verfremdungsverfahren zum Absolutum, erklärten es zum allgemeinen Konstruktionsprinzip, dessen Zweck es sei, „die Aufmerksamkeit zu fesseln", die Sache aus der „Automatie der Wahrnehmung" herauszuführen. Dies wurde als universales Merkmal des Künstlerischen betrachtet. 110 Gerade in solcher Deutung nehmen auch die Strukturalisten die Verfremdung als Rüstzeug. So wird in den Thesen von I. Rewsins Vortrag „Zur semiotischen Analyse der Geheimsprachen" das Verfremdungsverfahren nicht nur als grundlegender Faktor bei der Herausbildung des Gaunerjargons betrachtet (was im allgemeinen ziemlich überzeugend bewiesen wird), sondern auch als „Grundprinzip des künstlerischen Aufbaus" 111 . Abraham A. Moles betrachtet z. B. die Zerstörung sowohl der inneren Struktur des dargestellten Objekts als auch seiner Verbindungen mit der Wirklichkeit als den sichersten Weg zur Überwindung der „Automatie" und zur Erlangung des „Effekts des Unerwarteten" 112 . Es ist völlig logisch, daß die „Originalität", das 141
„Neuerertum", die um diesen Preis erkauft werden, sich in erster Linie als ein Prärogativ der abstrakten Malerei, der konkreten Musik, der Pop-Art, der Sa-um 113 erweisen. Bei dieser Gelegenheit etwas zur Sa-um. In den ästhetischen Theorien des OPOJAS nahm dieses Problem einen sehr wichtigen Platz ein. Die Sa-um war für die Formalisten wie ein Muster, ein Ideal, zu dem die Kunst streben müsse. Dem Spiel mit Lauten und inhaltslosen Wortverbindungen, dem Genuß am bedeutungslosen Wort wurde ein besonderer, höherer Sinn verliehen. „Vielleicht", schrieb Wiktor Schklowski, „liegt sogar überhaupt in der artikulatorischen Seite, im eigenartigen Tanz der Sprachorgane ein Großteil des durch die Poesie bereiteten Genusses." 114 Hiermit verband sich die These vom Selbstwert und Selbstzweck der lautlichen Seite der Verssprache, deren Begründung außer Schklowskis Arbeiten auch L. Jakubinskis Artikel 115 gewidmet waren. Daher auch der Kult um Welimir Chlebnikow, den Juri Tynjanow einen „Lobatschewski des Wortes" nannte und von dem er behauptete, daß „das Ausmaß seines fermentierenden Einflusses noch nicht abzusehen" 116 sei. Heute unternehmen einige Strukturalisten den Versuch, das Interesse für die Sa-um und für die rein lautliche Seite der Poesie wieder zu beleben. B. Uspenski z. B. hält „gewisse experimentelle Verbindungen mit Null-Bedeutung, auf die eine bereits eingeprägte Norm projiziert wird", für fruchtbar; zwar warnt er vor einem Überwiegen solcher Verbindungen, zieht aber den „ästhetischen Wert" der Sa-um nicht in Zweifel. Natürlich erweist sich dabei der Sinn, sofern er nicht ganz verworfen wird, als zweitrangiges, abgeleitetes Moment. „Die phonetische Ähnlichkeit", behauptet Uspenski, „zwingt den Dichter, auch (1) semantische Verbindungen zwischen den Wörtern zu suchen - auf diese Weise bringt die Phonetik den Gedanken h e r v o r . . . " Den schöpferischen Prozeß sieht Uspenski hier folgendermaßen: „Ein bestimmter Satz von Zeichen gibt dem Künstler den Inhalt ein. Er organisiert ihn teilweise nach formalen Regeln (zur Norm und zu Abweichungen von ihr); daraus entsteht eine Folge von Symbolen, die der Zuschauer mit eigenem Inhalt erfüllt." 117 Ich enthalte mich eines Kommentars und erlaube mir, zum Vergleich ein Zitat anzuführen: „Ich wiederhole meine hauptsächlichen Schlußfolgerungen: Im verssprachlichen Denken gelangen die Leute ins helle Feld des Bewußtseins; verbunden damit entsteht eine emotionale Einstellung zu ihnen, die ihrerseits die Herstellung einer gewissen Abhängigkeit zwischen dem .Inhalt' des Gedichts und seinen Lauten nach sich zieht." 118 Gedruckt wurde dies vor mehr als einem halben Jahrhundert in einem Sammelband des OPOJAS. Meines Erachtens ist die methodologische Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Auffassungen vom schöpferischen Prozeß zu offensichtlich, als daß sie geleugnet werden könnte. Übrigens tun dies die meisten Anhänger der strukturalistischen Literaturwissenschaft, zum Unterschied von Ju. Lotman, auch nicht. Wir kennen bereits die Meinung 142
von Roman Jakobson zu dieser Frage. Man kann sich auf eine Reihe weiterer Beispiele berufen. Der Amerikaner Victor Erlich nennt den Strukturalismus das „Endresultat des schöpferischen Suchens der Formalisten"119 und bedient sich weitgehend des bezeichnenden „doppelten" Terminus „Formalismus-Strukturalismus". R. Saripow und W. Iwanow schreiben, daß die Arbeiten des OPOJAS unmittelbar den Boden für eine exakte Beschreibung des Kunstwerks bereiteten (und der Strukturalismus erhebt gerade Anspruch auf eine solche Beschreibung - ]u. B.) und daß man in den aus jenen Jahren stammenden Arbeiten von Boris Tomaschewski, Boris Eichenbaum, Juri Tynjanow, Wiktor Schklowski u. a. „eine Vorwegnahme vieler Züge des kybernetischen Herangehens an die Kunst sehen kann"120. A. Sholkowski und J. Stscheglow heben hervor, daß das OPOJAS „mehr oder weniger einhellig als Vorläufer des Strukturalismus anerkannt wird", und loben Wiktor Schklowskis frühe Arbeit „Die Kunst als Verfahren", weil sie „die Forschungen zur Poetik aktiviert" hat121. Im redaktionellen Vorwort zu einem der letzten Hefte der Tartuer „Arbeiten zu den Zeichensystemen" wird Juri Tynjanow, der seinerzeit zum Kern des OPOJAS gehörte, direkt als einer der Gründer der sowjetischen strukturellen Literaturwissenschaft bezeichnet122; das Heft selbst ist gänzlich seinem Andenken gewidmet. M. Sokoljanski schließlich, der gewisse Gründe „nicht ideologischen Charakters" andeutet, denen zufolge die Formale Schule aufhörte zu existieren (obwohl bekannt ist, daß sie vor allem infolge der inneren Krise zerfallen ist, worüber ehemalige Formalisten wiederholt geschrieben haben), charakterisiert das heutige, seiner Meinung nach verspätete Interesse für das OPOJAS so: Nach einem Vierteljahrhundert begann der einheimische Flachs gemäß einer traurigen Tradition als holländische Leinwand zu uns zurückzukehren."123
Unter den zahlreichen Vorwürfen, die Ju. Lotman gegen die Formale Schule erhebt („mechanistisch-inventarisierende" Methode, „mechanische Aneignung . . . der Dyade ,Form - Inhalt'" u. a.), ist fast der schwerste - die Unterschätzung der Geschichte. In den Arbeiten des OPOJAS, so unterstreicht der Autor der „Vorlesungen zur strukturellen Poetik", wurde das künstlerische Verfahren nicht als historisch bedingte Funktion, sondern als Formelement außerhalb des realen historischen Kontextes betrachtet, was den Begriff des Verfahrens selbst inhaltslos machte, eine genauere Vorstellung von der ideell-künstlerischen Einheit des Werkes, von der „Einheit der Ebenen des Inhalts und des Ausdrucks"124 ausschloß. Dieser Vorwurf aus dem Munde eines Anhängers des Strukturalismus kommt etwas unerwartet, und ich werde im weiteren versuchen zu erklären, weshalb. Doch vorher wollen wir feststellen, ob er gerechtfertigt ist. Um ein Kunstwerk „auseinanderzunehmen" - dieses Ziel stellten sich die Theoretiker des OPOJAS - , war es nötig, zuerst seine Bewegung zu „bremsen", es aus dem Strom der Geschichte herauszunehmen, alles, was vorher war, abzutrennen und die 43
Augen vor dem, was „nachher" sein kann, zu verschließen. Jedes Phänomen der Literaturgeschichte ist gewissermaßen ein angehaltener Augenblick, wird in horizontalem Querschnitt, statisch als eine Art Momentaufnahme, gesehen. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht Eichenbaums Analyse von Gogols „Mantel". Für Eichenbaum existiert in der Erzählung nichts außer den „Skas-Verfahren" (Erzählverfahren) als solchen, außer bestimmten Methoden des „Aufbaus des Skas" (der Erzählung), dem „Spiel der Sprache". Den Beobachtungen des Kritikers ist Treffsicherheit nicht abzusprechen; interessant sind z. B. seine Urteile über Gogols Skas als einen „wiedergegebenen" Skas, über den Unterschied zwischen diesem Skas und der alltäglichen Sprache Ostrowskis u. ä. Aber alles, was über diesen Rahmen hinausgeht, sei vom Übel: keinerlei seelische Empirie, keinerlei Widerspiegelung persönlicher Gefühle des Autors, keinerlei Didaktik oder Satire; Zweck sei allein (eben Zweck, nicht Mittel) das „Spiel mit der Realität", die Zerstörung der gewohnten Beziehungen und Verbindungen. Boris Eichenbaum streitet mit den „von Belinski hypnotisierten" Forschern, die die geistige Welt Akaki Akakijewitsch Baschmatschkins für nichtig halten, und er streitet nicht deshalb, weil diese Definition ihm nicht richtig erscheint und er eine andere vorzuschlagen beabsichtigt. D i e Welt von Akaki Akakijewitsch ist für Eichenbaum nur von Wert als etwas künstlich Geschaffenes, „Gemachtes", als eine „phantastisch in sich geschlossene, eigene" Welt. „Diese Welt hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Proportionen", nur insofern interessiert sie. Es ist völlig natürlich, daß bei einem solchen Herangehen sogar die berühmte „humane" Stelle aus Gogols Erzählung („ich bin dein Bruder") jeden sittlichen und erst recht jeden sozialen Sinn verliert. Boris Eichenbaum lehnt es rundweg ab, in diesem Ausschnitt „etwas anderes als ein bestimmtes künstlerisches Verfahren" zu sehen. Das Wichtigste ist für ihn, daß hier der komische Skas plötzlich durch eine sentimental-melodramatische, empfindsame Intonation unterbrochen wird und infolge der Annäherung dieser beiden kontrastierenden Elemente eine neue Qualität entsteht - die einfache Anekdote wird auf die Stufe einer Groteske gehoben. Dieses Verfahren ist, nach der Überzeugung des Kritikers, keiner Aufgabe untergeordnet, hat keinerlei Gehalt, es ist selbstwertig, fesselt als solches, als Element des Spiels. „Es geht keineswegs um Akaki Akakijewitschs .Nichtigkeit'", schreibt Eichenbaum, „und nicht um die Predigt der .Humanität' gegenüber dem kleinen Bruder, sondern darum, daß Gogol, nachdem er die ganze Sphäre der Erzählung von der großen Realität abgegrenzt hat . . . mit allen Normen und Gesetzen des realen Seelenlebens spielen kann." 125 Spielen weswegen? Diese Frage wird nicht gestellt. Eichenbaums Artikel hieß „Wie der .Mantel' gemacht ist". Bei Wiktor Schklowski gab es eine Arbeit mit einem analogen Titel: „Wie der ,Don Quichote' gemacht ist." Auch hier verwandelt sich die Gestalt des Helden im Prozeß des „Auseinandernehmens" in ein Konstruktionsdetail, genauer gesagt, in den „verbindenden Faden" für Cervantes' Gedanken. Die Zeitgenossen bemerkten in diesem Zusammenhang, 144
es gäbe in Schklowskis Buch über Don Quichote keinen Don Quichote, ebenso wie es in seinen Büchern über Sterne und Rosanow weder einen Stern noch einen Rosanow gäbe. Von den historischen Bedingungen, die das Erscheinen der Gestalt des armen Ritters ermöglichten und bewirkten, von den sozialen, ideologischen, ethischen Faktoren war überhaupt nicht die Rede. Heute hält es Schklowski, wenn er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Übereinstimmung zwischen dem Titel seiner Arbeit über „Don Quichote" und dem des Artikels von Boris Eichenbaum lenkt, für notwendig zu unterstreichen, in dem Wort „gemacht" liege „der Fehler darin, daß ein Werk nicht wie ein Mantel genäht wird" 1 2 6 . Doch zu jener Zeit schrieb er: „Der Typ des Don Quichote, den Heine so verherrlicht und Turgenjew breitgetreten hat, ist nicht die ursprüngliche Aufgabe des Autors. Dieser Typ entstand aus der Wirkung des Romanaufbaus, so hat der Ausführungsmechanismus oft neue Formen in der Poesie geschaffen." 12 ' So erschien in der Poetik des O P O J A S das einzeln genommene Faktum der Literaturgeschichte. Wie stehen diese Fakten in Korrelation, wie sind sie miteinander verbunden? Diese Frage konnten selbst die Formalisten nicht umgehen, und sie taten es auch nicht. Nur beantworteten sie sie auf ihre Weise. Wenn die Formalisten anerkannten, daß „die Kunst ein ununterbrochener Prozeß" ist (B. Eichenbaum), meinten sie damit einen seiner Natur nach immanenten Prozeß. Die Ablösung der Stile, Schulen, Richtungen wurde nicht geleugnet, aber sie wurde als eine rein „innere Angelegenheit" der Literatur gefaßt, als etwas, was sich im geschlossenen Raum der literarischen Reihe vollzieht, die in keiner Weise zur außerliterarischen Wirklichkeit in Korrelation steht. Die treibende K r a f t dieses Prozesses suchten die Formalisten ebenfalls nicht außerhalb, sondern innerhalb der Literatur: Es war das Gesetz der sogenannten Automatisierung der Wahrnehmung. Eben hier lag nach ihrer Meinung die Energiequelle verborgen, die die Impulse für die ununterbrochene Ablösung der alten, verwischten, „automatisierten" literarischen Formen durch neue, ungewohnte, „wahrnehmbare" lieferte. Die Literaturgeschichte wurde dabei als ein Prozeß ständiger Zerstörung der Kanons, dauernder Negation der vorangegangenen Formen gezeichnet, wobei sich die ablösenden Formen eigentlich nicht als neue, sondern in der Regel nur als vergessene alte Formen erwiesen. Das Wichtigste ist der Überraschungseffekt, der Effekt des Ungewohnten, die Veränderung. Das Kontinuitätsprinzip wurde von den Theoretikern des O P O J A S nicht anders als ironisch kommentiert. Die traditionelle Literaturgeschichte ging nach Juri Tynjanows Meinung nicht über die alttestamentliche Kette hinaus: „Lomonossow brachte Dershawin hervor, Dershawin brachte Shukowski hervor, Shukowski Puschkin, Puschkin Lermontow . . ." „Unbeachtet blieb, daß Dershawin Lomonossows Erbe antrat, indem er nur dessen Ode verschob; daß Puschkin das Erbe der großen Form des 18. Jahrhunderts antrat, indem er die Bagatelle der Karamsinisten zur großen Form machte; daß sie alle nur deshalb das Erbe ihrer Vorläufer antreten konnten, weil sie ihren Stil verschoben, ihre Gattungen verschoben. Unbeachtet blieb, daß jede neue Erscheio
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nung eine alte ablöste und daß jede derartige Ablösungserscheinung in ihrer Zusammensetzung außerordentlich kompliziert ist; daß man nur bei den Erscheinungen der Schule, des Epigonentums von einer Kontinuität sprechen kann, nicht aber bei Erscheinungen der literarischen Evolution, deren Prinzip Kampf und Ablösung ist." 1 2 8 Was ergab sich daraus? Heraus kam, daß Nekrassow nur dank dem VaudevilleSchreiber Belopjatkin (das frühere Pseudonym des Dichters), der die literarischen Kanons zerstört hatte, zu Nekrassow geworden ist; diesem Ziel - dem Kampf gegen kanonisierte Formen - diente angeblich auch Nekrassows, Hinwendung zur Folklore, zu Themen aus dem Leben des Volkes. Heraus kam, daß Tschechow vor allem deshalb interessant ist, weil er in die Literatur die Themen, den Stil, die Manier des „Weckers" einführte, und Block, weil er die Verfahren der Zigeunerromanze verwendete, wobei sich beide wiederum ausschließlich von der Idee der Verfremdung leiten ließen. Das literarhistorische Erbe der Theoretiker des O P O J A S ist ziemlich umfangreich. Und man muß sagen, daß es darin viel Wertvolles gibt. Es wäre der Wissenschaft kaum dienlich und ungerecht, wollten wir an den Betrachtungen über das Schaffen bestimmter Künstler 129 , über die Geschichte einzelner literarischer Arten, Gattungen, Verfahren vorbeigehen. Die Suche nach den innerliterarischen Triebkräften, die - ohne Einmischung außerästhetischer Faktoren - die Ablösung der Formen gewährleisten, führte die Theoretiker des O P O J A S in einer Reihe von Fällen zu Schlußfolgerungen und Urteilen, die unzweifelhaft von speziell literarhistorischem sowie gesamttheoretischem Interesse sind. Zudem darf man auch eine gewisse Evolution in den Ansichten der Vertreter der Formalen Schule nicht übersehen. Zum Beispiel ist es aufschlußreich, Boris Eichenbaums Bücher über Lew Tolstoi miteinander zu vergleichen. Im ersten bahnen sich interessante Fakten und Beobachtungen nur mit Mühe den Weg durch die massive Schicht der gänzlich dem O P O J A S verpflichteten Konzeptionen und Thesen. So zum Beispiel das von Eichenbaum vorgelegte Entwicklungsschema der russischen Prosa des 19. Jahrhunderts, das sich auf die reihum gehende Ablösung von erzählenden, subjektiven Skas- (Erzähl-) und anderen Formen reduziert. Ebenso die Charakterisierung des Realismus als einer „konventionellen und sich ständig wiederholenden Devise, mit der die neue literarische Schule gegen die überlebten und schablonenhaft und daher allzu konventionell gewordenen Verfahren der ,alten Schule' kämpft". An sich, meint der Autor der Arbeit „ D e r junge Tolstoi", bedeutet Realismus „nichts Positives, weil sein Inhalt nicht durch den Vergleich mit dem Leben bestimmt wird, sondern durch den Vergleich mit einem anderen System von künstlerischen Verfahren" 1 3 0 . In seinen nachfolgenden Arbeiten über Tolstoi befreit sich Boris Eichenbaum zusehends von der formalistischen Bürde, die Methodologie ist sorgfältiger und wissenschaftlicher. Nicht zu leugnen ist, daß die Mitglieder des O P O J A S auch einen Beitrag zur Theorie und Geschichte der Parodie leisteten. Letztere betrachteten sie als eines 146
der effektivsten Mittel, die kanonisierten literarischen Formen zu zerstören, sahen sie als maximalen Ausdruck der Veränderung, der Verschiebung an. Daher konzentrierte Boris Eichenbaum bei der Erforschung von Nekrassows Schaffen seine Aufmerksamkeit auf dessen frühe Parodien. Was Juri Tynjanows Buch „Dostojewski und Gogol. Zur Theorie der Parodie" anbelangt, so tritt vielleicht gerade in dieser ungewöhnlichen Arbeit besonders deutlich die entscheidende methodologische Schwäche der literarischen Konzeptionen des Formalismus zutage. Juri Tynjanow stellt sich die Aufgabe zu zeigen, daß Dostojewski „offenkundig von Gogol ausgeht"; speziell in der Gestalt Foma Opiskins sei angeblich der Charakter des Autors der „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden" parodiert. Wir wollen auf diese recht Strittige Konzeption nicht näher eingehen. Im vorliegenden Fall ist es wichtig, etwas anderes zu unterstreichen: Tynjanow deckt weder die ideologische noch die moralische Bedeutung dieser Episode der russischen Literaturgeschichte auf, er umgeht sie einfach. Es wird nur von einem Element der „dialektischen Ablösung der Schulen" gesprochen; überhaupt ist für Juri Tynjanow Dostojewskis beharrliche und beständige Einführung der Literatur in seine Werke nicht mehr als ein „bequemes parodistisches Verfahren"131. Auf diese Besonderheiten der formalistischen literarhistorischen Konzeption haben viele hingewiesen. So bemerkte B. Engelhardt, der einräumte, daß die formalistischen Prinzipien der „Abnutzung - Erneuerung" und der Ablösung alter Linien durch jüngere eine „immanente ästhetische Interpretation der Erscheinungen der literarischen Evolution" ermöglichen: „Eine andere Frage ist, inwieweit ein auf der Grundlage dieser Prinzipien aufgebautes Evolutionsschema auch der konkreten historischen Wirklichkeit entspricht."132 Zwar meint Engelhardt, daß diese Überlegung den Erkenntniswert des gegebenen Schemas nicht erschüttern kann, doch im Grunde ist diese Bemerkung für die formalistische Literaturgeschichte vernichtend. Entschieden wandte sich W. Shirmunski dagegen, das Verfahren zum einzigen Faktor der literarischen Entwicklung zu erklären. Eine gewisse, wenngleich sehr bedingte Autonomie der ästhetischen Reihe bestritt er nicht, meinte jedoch, daß „Impulse für die Entwicklung innerhalb eines gesonderten Gebiets nicht selten von außen in dieses Gebiet kommen". „ . . . Es ist berechtigt, beim Studium des Dichters Nekrassow vom Einfluß der Ideen Belinskis und seines Kreises auszugehen, unter deren Einfluß neue poetische Themen entstehen; historisch ist eine solche Erklärung richtiger als die unlängst vorgelegte Theorie, nach der die politischen Themen bei Nekrassow auftauchten als .Rechtfertigung' der herangereiften Notwendigkeit, mit der Poetik der Puschkinschen Epoche zu brechen, die sich erschöpft und aufgehört hatte, wirksam zu sein."133 Lunatscharski führte eine scharfe Polemik mit Boris Eichenbaum, weil dieser seiner Ansicht nach überbetonte, daß die Literaturwissenschaft nicht nur ein Teil der Kulturgeschichte sei. Allerdings hat Boris Eichenbaum, der sich viel mit Lite147
raturgeschichte befaßte, weniger gegen die geschichtliche Betrachtungsweise gesündigt als einige andere Theoretiker des OPOJAS. In der Arbeit über Nekrassow wendet er sich sogar gegen die Isolierung des Schriftstellers von den historischen Gesetzen, spricht er von der Notwendigkeit, „die Stimme der Geschichte zu hören" 134 . Trotzdem hatte Lunatscharski recht, wenn er dem Formalismus als Ganzem vorwarf, er trenne die Theorie von der Geschichte. Diese Trennung, diese Verwandlung der Grammatik, Stilistik, Poetik in einen Komplex scholastischer Regeln stellen den wissenschaftlichen und kulturellen Wert der Theorie selbst in Frage. „Wir interessieren uns äußerst wenig für dieses Herangehen an die Literatur", schreibt Lunatscharski, „dieses Herangehen steht außerhalb der K«Z/«rgeschichte, weil es von Anbeginn außerhalb der Geschichte steht." 135 Strenggenommen ist die formalistische Literaturgeschichte eine Pseudogeschichte, eine „Antigeschichte". Es ist schwer, dieses Kreisen selbstwertiger Verfahren, die nicht durch Berührung mit dem lebendigen Leben „entweiht" sind, dieses „perpetuum mobile zweier Linien, diesen permanenten Tanz von ,ma chère' mit ,ma chère', der nur dadurch variiert wird, wer von ihnen ,der Kavalier' i s t . . . " 1 3 6 , anders zu bezeichnen. Von einer Entwicklung, von einer fortschreitenden Bewegung kann keine Rede sein. Wir haben eine Aufeinanderfolge von Niveaus, horizontalen „Schnitten" der Literatur vor uns, eine Aufeinanderfolge, die sich nicht zur Geschichte zusammenfügt, ähnlich wie eine Kombination einzeln genommener, erstarrter Filmszenen nicht als Film bezeichnet werden kann. Wie wir sehen, ist die von Ju. Lotman gestellte Diagnose der Hauptkrankheit des Formalismus völlig begründet. Warum hinterläßt sie dennoch das Gefühl von etwas Paradoxem? Es liegt daran, daß der Strukturalismus selbst in mehr als komplizierten und nicht in jeder Hinsicht geklärten Beziehungen zur Geschichte steht. Man kann bei ihm von einem Konflikt mit der Geschichte sprechen, und dieser Konflikt wird aus derselben Quelle gespeist wie seinerzeit die Methodologie der Formalen Schule: von den linguistischen Konzeptionen Ferdinand de Saussures; hier ist vieles von dem programmiert, wovon das strukturalistische Denken bis zum heutigen Tag lebt und womit es sich herumschlägt. Ich meine das Prinzip der Trennung von Synchronie und Diachronie. „Es ist sicher, daß alle Wissenschaften ein Interesse hätten", schrieb de Saussure, „sorgfältiger die Achsen zu zeichnen, auf denen die Gegenstände, mit denen sie sich befassen, liegen; überall müßte man unterscheiden . . .1) die Achse der Gleichzeitigkeit, die die Beziehungen zwischen den bestehenden Dingen betrifft, wo jede Einmischung der Zeit ausgeschlossen ist, und 2) die Achse der Aufeinanderfolge, auf der man nie mehr als eine Sache auf einmal betrachten kann, auf der aber alle Dinge der ersten Achse mit ihren "Veränderungen liegen." 137 Der erste Aspekt ist der statische, er gibt die bestehende Ordnung der Dinge wieder, konstatiert einen bestimmten Zustand. Das ist der synchronische Schnitt. Der zweite Aspekt betrifft die Evolution, die Dynamik, die Geschichte; die Fakten erscheinen hier in der 148
Entwicklung, wobei diese im System unter dem Einfluß bestimmter äußerer Faktoren vor sich geht, die einen besonderen Charakter haben, sich nicht ins System fügen. Das ist der diachronische Schnitt. Der Autor der „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft" will seinen Gedanken mit Hilfe alltäglicher Beispiele verständlicher machen. Wenn, sagen wir, das diachronische Herangehen an eine Erscheinung wie einen Obstgarten als notwendig voraussetzt, in Betracht zu ziehen, was für Bäume hier wachsen, wie viele es sind, von wem und wann der Garten angelegt wurde, wem er gehört, wie seine Ertragfähigkeit ist u. ä., dann kann vom Standpunkt der Synchronie nur die Tatsache als wichtig anerkannt werden, daß die Bäume in diesem Garten in schrägen Reihen gepflanzt worden sind. Noch anschaulicher ist das Bild vom Schachspiel. Die Tatsache, daß dieses Spiel aus Persien nach Europa kam, ist ein äußerliches Faktum, das sich im Wesen des Spiels, ebenso wie alles übrige, was seine Geschichte betrifft, nicht widerspiegelt. Entscheidende Bedeutung haben die inneren Faktoren, die mit den Spielregeln, dem System verbunden sind. „Inneres ist alles, was das System in irgendeinem Grad verändert." 138 In der Anwendung auf die Sprachwissenschaft gab die Trennung von Synchronie und Diachronie Saussure die Möglichkeit, zwei Arten der Linguistik zu schaffen: die synchronische, die sich mit dem Studium der Elemente befaßt, die zueinander in Korrelation stehen und ein System bilden, und die diachronische, in der sich die Aufmerksamkeit auf die Elemente konzentriert, die nur auf Grund ihrer Aufeinanderfolge verbunden sind. Dabei wird der Vorrang der ersten gegeben, weil nur der synchronische Aspekt der Sprache „die wahre und einzige Realität" sei, da für das sprechende Subjekt die Aufeinanderfolge der Fakten der Sprache in der Zeit, ihre Genesis, ihre Geschichte nicht existiere: „. . . es befindet sich vor einem Zustand. Auch der Linguist, der diesen Zustand verstehen will, muß die Augen vor allem, was diesen erzeugt hat, verschließen und die Diachronie ignorieren." 139 Ignorieren bedeutet noch nicht: gänzlich negieren. Saussure erkennt an, daß sich die diachronische oder „äußere" Sprachwissenschaft mit wichtigen Gegenständen befaßt, doch um die Sprache als System zu begreifen, ihren inneren Organismus, ihren „Mechanismus" zu verstehen, sei es nicht notwendig, auf jeden Fall die Bedingungen zu kennen, unter denen sich die Sprache entwickelt habe, den Einfluß politischer, geographischer, kultureller, ethnographischer und anderer Faktoren auf sie zu erforschen. Wichtig sei allein der Zustand der Sprache. Die Ignorierung der Diachronie ist eine Art Konvention, ein methodologisches Verfahren, das diesen Zustand tiefer zu erfassen hilft. Die Fruchtbarkeit eines solchen Verfahrens für die Sprachwissenschaft durch die realen Errungenschaften der strukturellen Linguistik ist bestätigt. Für die Sprachwissenschaft - das ist wichtig zu unterstreichen! Saussure sagte allerdings, daß die Abgrenzung der Achse der Gleichzeitigkeit und der Achse der Aufeinanderfolge im Interesse „aller Wissenschaften" läge, aber in der Praxis wandte er seine methodologischen Prinzipien eben auf die Linguistik an und bestand nicht auf Universalität. 149
Übrigens verweisen viele Sprachwissenschaftler auf die Bedingtheit der Saussureschen Antinomie „Synchronie - Diachronie" sogar in bezug auf die Sphäre. Schon 1917, kurz nach Erscheinen der „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft", bemerkte der österreichische Wissenschaftler Hugo Schuchardt, als er die These von den Achsen der Gleichzeitigkeit und der Aufeinanderfolge kommentierte: „Ruhe und Bewegung (diese in weitestem Sinn genommen) bilden wie überhaupt so bei der Sprache keinen Gegensatz; nur die Bewegung ist wirklich, nur die Ruhe ist wahrnehmbar."140 Reine Synchronie ist eine Abstraktion; eine kühne, interessante, in vielem methodologisch fruchtbare, aber trotzdem eine Abstraktion. Der horizontale Schnitt kann keine erschöpfende Vorstellung vom Zustand der Sprache geben, denn „er stellt stets das .Resultat' eines vorangegangenen Zustandes her". Der reale Zustand der Sprache wird sich unvermeidlich von ihrem „projizierten" Zustand unterscheiden, der durch die synchronische Beschreibung gegeben ist. „Die Wichtigkeit der Synchronie unterstreichen bedeutet nicht, die Rolle der Diachronie herabzusetzen: denn beschrieben wird immer ein reales Resultat der Tradition. Zwar tritt in der reinen Beschreibung die Tradition . . . nicht auf - sie wird ignoriert - aber das bedeutet nicht, daß sie nicht existiert oder daß sie die Sprache nicht bestimmt. Das Ahistorische (Synchronische) gehört zum Wesen der Beschreibung, aber nicht zum Wesen der Sprache."141 Wenn schon die Linguisten so vorsichtig sind, muß dann eine Wissenschaft, die es mit einem so durch und durch „historischen", durch und durch persönlichen Phänomen wie der Literatur zu tun hat, nicht doppelt vorsichtig sein? Schon A. Potebnja sprach sich in dem Sinn aus, daß „die Literaturgeschichte sich mehr und mehr der Sprachgeschichte annähern muß, ohne die sie ebenso unwissenschaftlich ist wie die Physiologie ohne Chemie" 142 . A. Wesselowski betrachtete die historische Poetik ebenfalls als eine Grenzwissenschaft zur Linguistik. Die Formalisten aber, die die Synchronie bei der Linguistik entlehnt haben, versuchten sie zum Universalschlüssel zu machen. War es etwas anderes als eine Extrapolation der Verfahren Saussures, als ihre Übertragung auf die Literatur, wenn Boris Eichenbaum vorschlug, bei der Untersuchung der Literatur „von der Mitte zu beginnen von dem Punkt, wo uns das Faktum der Kunst vorfindet" 143 ? Die Synchronie half den Theoretikern des OPOJAS bei der Untersuchung des „Mechanismus" des literarischen Werkes, seiner Details, Teile, Knotenpunkte, solange sie als ein methodologisches Verfahren verwendet wurde. Aber zum Absolutum erhoben, von der Diachronie getrennt, hinderte sie das Verständnis des Wirkungsprinzips dieses Mechanismus, ließ sie diesen nicht in der Bewegung, in der „Arbeit" sehen.. Die Synchronie gewährte die Möglichkeit, die Literatur „auseinanderzunehmen", und die Formalisten verstanden dies in der Regel meisterhaft, doch das Schlimme war, daß wir nach einer solchen Operation nur noch eine Leiche vor uns hatten: Die lebendige Seele und der pulsierende Körper der Literatur waren abgetötet. Der Strukturalismus übertrug Verfahren und Methoden, die für die heutige 150
Sprachwissenschaft charakteristisch sind, nicht nur auf die Untersuchung von Literatur, sondern auf die aller Gesellschaftswissenschaften. Es handelt sich vor allem um Saussures Prinzip der synchronischen Beschreibung und um N. Trubezkois Lehre vom bedeutungsunterscheidenden Wert der Phoneme in ihren Oppositionen (Oppositionssystem). „Ein Ding", schrieb N. Trubezkoi in seinen „Grundzügen der Phonologie", „kann bloß von einem anderen Ding unterschieden werden, insofern beide einander gegenübergestellt, entgegengestellt werden, d. h. insofern zwischen den beiden ein Gegensatz- oder Oppositionsverhältnis besteht." 144 N. Trubezkoi selbst befaßte sich mit der Untersuchung phonologischer Oppositionen, d. h. solcher Lautgegensätze, die die Bedeutung zweier Worte der gegebenen Sprache differenzieren können. Doch die Strukturalisten meinen, daß die methodologische Bedeutung dieses Prinzips über den Rahmen der Phonologie und überhaupt der Linguistik hinausgeht. Für sie wurden die „Grundzüge der Phonologie" sowie Roman Jakobsons Arbeiten, insbesondere sein Buch über den tschechischen Versbau 145 , in dem der Zusammenhang zwischen Vers und phonologischen Elementen gezeigt wird, zum Impuls und Ausgangspunkt bei der Suche nach der „Triebfeder" im Mechanismus des Kunstwerks. Das bezieht sich nicht nur auf das Gebiet der Literaturwissenschaft. Den universalen Charakter der Linguistik unterstreicht Claude Lévi-Strauss, der sich wiederholt auf sie, besonders auf die Phonologie, als ein Muster für die Anwendung von strukturellen Methoden durch eine gesellschaftswissenschaftliche Disziplin beruft: Die Phonologie sei dazu berufen, in bezug auf die Gesellschaftswissenschaften dieselbe Neuererrolle zu spielen, die beispielsweise die Kernphysik in bezug auf die exakten Wissenschaften gespielt hat. Die Geschichte tritt dabei in den Hintergrund. Über die extremen Strukturalisten wie Michel Foucault, die behaupten, die historische Betrachtungsweise habe sich völlig erschöpft und sei nicht stichhaltig, erübrigt sich jedes Wort. Aber bei LéviStrauss, der gewöhnlich sein achtungsvolles Verhältnis zur Geschichte betont, muß sich die Geschichte doch mit einer zweitrangigen Rolle begnügen. Lévi-Strauss sagt, die heutige, traditionelle Geschichtswissenschaft sei nicht objektiv genug, sie sei stets „Geschichte für . . . " , in der eine willkürliche Auswahl der Daten, Erscheinungen, Ereignisse unvermeidlich sei; ein solcher Subjektivismus mindere nach seiner Meinung den wissenschaftlichen Wert der Geschichte, eröffne aber gleichzeitig, indem er ihr Diskretion verleiht, weite Möglichkeiten für die Anwendung struktureller Methoden. Ebenso wie de Saussure lehnt Lévi-Strauss die Diachronie nicht insgesamt ab, er gibt aber der Synchronie den Vorzug. Das historische Herangehen könne uns nur verständlich machen, wie bestimmte gesellschaftliche Institutionen entstehen - eine wirklich wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft setze jedoch einen ausschließlich synchronen Schnitt voraus, das Aufdecken der formalen Struktur der Beziehungen zwischen den sozialen Institutionen, Beziehungen, die sich aus der spontanen Natur kollektiver Phänomene ergeben. 146 Das veranlaßt die Opponenten der Strukturalisten, den Vorwurf einer ahistorischen Betrachtungs151
weise gegen sie zu erheben; Jean-Paul Sartre spricht in seiner Polemik mit LéviStrauss sogar von einer Diskreditierung der Geschichte.147 In der Literaturwissenschaft findet die Extrapolation der Ideen de Saussures und Trubezkois ihren extremen Ausdruck darin, daß die Poetik nur als ein Bestandteil der Linguistik betrachtet wird. Diesen Standpunkt, der auch bei uns seine Anhänger hat, formulierte Roman Jakobson in seinem Beitrag auf der Konferenz „Stil in der Sprache", die 1958 an der Universität des Staates Indiana (USA) stattfand. Was die Literatur selbst betrifft, so ist sie gemäß dem von Roman Jakobson ausgearbeiteten Modell der Sprachfunktionen nichts anderes als eine auf besondere Weise organisierte Sprache.148 Es ist nicht Aufgabe des vorliegenden Artikels, diese Konzeption und die sie betreffenden Diskussionen,149 in deren Verlauf von beiden Seiten sowohl richtige Überlegungen als auch extreme Ansichten geäußert wurden, zu analysieren. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß Roman Jakobsons Hypothese noch auf die Theorien des OPOJAS von der „poetischen" und „praktischen" Sprache zurückgeht und mit seiner alten Formulierung übereinstimmt: „Poesie ist Sprache in ihrer ästhetischen Funktion." 150 In diesem Zusammenhang ist die Kritik von Interesse, die Wiktor Schklowski, sein ehemaliger Kollege aus dem OPOJAS, an Roman Jakobsons Konzeption übt. Als Wiktor Schklowski die Arbeit „Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie" von Roman Jakobson kommentierte, bemerkte er, daß „die Linguistik die Poesie angreift, ohne auch nur Artilleriebeschuß durchzuführen". Ohne die Bedeutung der strukturellen Linguistik in irgendeiner Weise herabzusetzen und ohne die Verwendbarkeit einiger ihrer Errungenschaften für die Untersuchung der Literatur auszuschließen, darf man doch die Gesetze von Sprachstrukturen nicht automatisch auf andere Strukturen ausweiten. „Die Übertragung der Gesetze der Grammatik auf die Poesie ist die Behauptung von der Universalität einer Struktur, und diese ist noch nicht bewiesen." Nach Meinung Wiktor Schklowskis enthält Roman Jakobsons Hypothese „inerte Momente des Strukturalismus als einer Erscheinung, die bei der Sprachanalyse geboren wurde und in der Sprache zu verbleiben sucht, d. h. die versucht, Gesetze von Sprachstrukturen auf Strukturen anderer Ordnungen zu übertragen". Ein solches Herangehen ignoriert die Gesetze der Kunst, „drängt die Poesie aus dem Leben". Bezeichnend ist Roman Jakobsons Analyse von Puschkins Meisterwerk „Ich habe Sie geliebt..." Die Analyse der grammatikalischen Formen ist an sich makellos ausgeführt, doch bringt sie dem Leser das Gedicht nicht näher. 131 Zweifellos ist eine solche Analyse auf grammatikalischer Ebene als Hilfe von gewissem Interesse, doch kann sie das Geheimnis der künstlerischen Wirkung lüften? Etwas schwer zu Erfassendes, aber höchst Wichtiges wird ausgeklammert, und Wiktor Schklowski bemerkt dazu feinsinnig, Puschkins Gedicht werde „wie ein Schatten und nicht wie eine Sache" 132 analysiert. Denselben Eindruck hinterläßt Roman Jakobsons Analyse von Ch. Botews Ge152
dicht „Die Hinrichtung Wassil Lewskis". Im vorliegenden Fall gelingt es Jakobson allerdings nicht, alles abzutrennen, was dieses Werk mit der Epoche, mit dem gesellschaftlichen Leben verbindet. Er bemerkt, daß wir das Gedicht eines Autors vor uns haben, dem „jede Ornamentik, jede Predigt der Kunst für die Kunst stets zutiefst fremd war", daß dies „Verse eines revolutionären Agitators" seien, und verspricht, seine linguistische Analyse der Aufdeckung eben dieser Besonderheiten unterzuordnen. Und doch verdrängt auch hier die Linguistik die Poetik. Die sorgfältige, genaue Analyse der grammatikalischen Formen und phonologischen Merkmale verdeckt alles übrige. Das Gedicht erweist sich schließlich als präpariert, zersplittert, die Geschlossenheit der poetischen Idee und der emotionalen Wirkung geht verloren. Die Frage nach der Volksverbundenheit des Dichters, nach den Zusammenhängen seines Schaffens mit folkloristischen Traditionen wird zwar nicht umgangen, aber nur unter einem Aspekt gestreift - als Botews Überwindung „fertiger Modelle", als ein Sichabstoßen von den Kanons des „volkstümlerischen Versbaus". Botew erscheint also weniger als revolutionärer Agitator denn als Experimentator, was weder seinem menschlichen und poetischen Habitus noch dem wirklichen Klang des von Roman Jakobson analysierten Gedichts entspricht.153 An diesen Beispielen wird ganz deutlich, wie die Eigenart des Strukturalismus zu vergessen, daß ein literarisches Werk in eine bestimmte Geschichte hineingeschrieben wird und seine eigene Geschichte hat, eine austrocknende, abtötende Wirkung auf das künstlerische Gewebe hat: Das Werk verwandelt sich aus einem lebendigen Organismus in eine Summe leerer grammatikalischer Kategorien. Diese Neigung zum „Ahistorischen" ist ererbt - sie ist von dem OPOJAS auf den Strukturalismus übergegangen. Es ist schade, daß Ju. Lotman, der die Formalisten zu Recht kritisiert, einen so wesentlichen Umstand verschweigt. In einer seiner Arbeiten 154 äußert Lotman den Gedanken, daß die Klärung der synchronen Korrelationen der konstruktiven Elemente, die die Betrachtung des Textes ausschließlich vom Standpunkt seiner immanenten Struktur voraussetzt, nur der erste Schritt sei. Der nächste Schritt ist „das zunehmende Interesse für die diachronische Untersuchung der Strukturen", die erhöhte Aufmerksamkeit des Strukturalismus „für Prozesse, für die Bewegung". Unter diesem Aspekt werden die poetischen Texte Puschkins und Pasternaks analysiert. Lotmans Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Entstehungsprozeß des poetischen Textes, der Hierarchie, Aufeinanderfolge von Modellen, die die Suche des Künstlers nach der endgültigen Variante widerspiegelt. Lotman verfolgt diesen Prozeß an einer Reihe von Beispielen und ist bestrebt, die Gesetzmäßigkeiten und Normen, die „Schichten von Regeln" zu bestimmen, nach denen die Entstehung des poetischen Textes verläuft. Der Vergleich der Manuskripte Puschkins und Pasternaks führt Lotman zu dem Schluß, daß wir es mit verschiedenen Modellen der Textentstehung, mit zwei polaren Prinzipien des generativen Aufbaus zu tun haben. Diese Beobachtung ist recht interessant. Doch fällt eine methodologische Besonderheit in der Analyse der Manuskripte 15*
beider Dichter ins Auge: Die angeführten objektiven Faktoren, die entscheidend dafür sind, welche Textvariante der jeweilige Dichter als die „richtige" erkennt, gehen nicht über den Rahmen der eng ästhetischen, im Grunde technologischen Reihe hinaus. Hauptsächlich ist von der Zerstörung literarischer Normative und automatisierter Traditionen durch den Dichter, von neuen Modellen des „entautomatisierten" Textes, die der kleinbürgerlichen Ästhetik des „gesunden Menschenverstandes" gegenübergestellt werden, u. ä. die Rede. Faktoren anderer Art werden ignoriert. Den Kritiker interessieren im gegebenen Fall „nicht die Weltanschauung und nicht das ästhetische System", sondern die „Sprache der Kultur der Epoche". 155 Zwar werden in bezug auf Puschkins Manuskripte u. a. auch Normen erwähnt, die die „Richtigkeit" des Textes „vom Standpunkt der Weltanschauung des Schriftstellers, seiner Auffassung von den Gesetzen der Wirklichkeit" gewährleisten, doch bleibt dies praktisch ohne Auswirkung auf die Analyse von Puschkins Werken. Wesentlich ist etwas anderes: In voller Übereinstimmung mit den Konzeptionen der Theoretiker des OPOJAS, insbesondere Boris Eichenbaums (wenngleich ohne Hinweis auf ihn) 158 , wird „Ruslan und Ludmila" kommentiert: „Puschkin zerstörte bewußt die durch die Tradition automatisierten Korrelationen von Sujet, Gattung und Stil. Der erste Vers des Poems - ein Zitat aus dem ,Ossian' - erforderte eine bestimmte Fortsetzung: eine meditativ elegische, national romantische und heroische. Der Leser sah sich statt dessen mit Ironie und einem frivolen Liebessujet konfrontiert, was auf ihn, wie wir aus den Reaktionen der Kritik wissen, einen tief schockierenden Eindruck ausübte." 157 Was Pasternaks Manuskripte betrifft, so entdecken wir in ihrer Analyse überhaupt keine „Normen der dritten Schicht", d. h. weltanschauliche Normen, nicht einmal in der Form eines „allgemeinen semantischen Feldes, in dem sich der Text bewegt", wie es bei Puschkins Manuskripten der Fall war. Hier lösen sich diese Normen gänzlich in solchen Kategorien auf wie „sichtbare Welt", „erkannte Idee", „Vereinigung von Wörtern", „Zusammenlegen von Wörtern" u. a. Lotman meint, d a ß „alle grundlegenden Aspekte der sozialen Problematik - von der Liebe bis zur Revolution - in Pasternaks Lyrik in verschiedenen Sujettypen verkörpert werden", die aus drei Grundkomponenten bestehen: „ich", „Natur", „Frau". Ich glaube, d a ß sich Pasternaks frühe Lyrik nicht in das Prokrustesbett dieser Triade zwingen läßt: Als lebendiges und kompliziertes Phänomen übersteigt sie unvermeidlich das angebotene Schema. Indessen beschränkt sich die Angelegenheit nicht auf Pasternak; der Autor möchte seiner Verallgemeinerung universalen Charakter verleihen, indem er behauptet, daß diese Elemente („ich", „Natur", „Frau") überhaupt „zum Aufbau jedes beliebigen sozialen oder kosmischen Modells genügen" 158 . In dieser Konzeption kann ich keine Anzeichen für den von Lotman versprochenen Schritt zur diachronischen Untersuchung der Strukturen entdecken. Wir haben dieselben synchronischen Schnitte, dieselben immanenten Strukturen vor uns, nur sehen sie diesmal wie Applikationen auf literarhistorischem Untergrund aus. Wenn 154
es hier auch „Prozeß, Bewegung" gibt, so ist es eine Bewegung innerhalb der literarischen Reihe, ein Prozeß der Ablösung der einen Varianten des poetischen Textes durch andere Varianten; wenn es eine Geschichte gibt, dann nur die der einzelnen Manuskripte. Wiederum drängt sich eine literarische Analogie auf. Ende der zwanziger Jahre, als die Unfruchtbarkeit der formalistischen Konzeption offensichtlich wurde, unternahmen die Theoretiker der Formalen Schule den Versuch, die Schranken der ahistorischen Betrachtungsweise zu überwinden. In den Thesen Juri Tynjanows und Roman Jakobsons „Problemen des Studiums der Literatur und Sprache" wird der Gedanke ausgesprochen, daß die „scharfe Gegenüberstellung von synchronischem ... und diachronischem Schnitt" zwar eine „fruchtbare Arbeitshypothese" war, jetzt aber eine bereits durchlaufene Etappe sei; es werde klar, daß „jedes synchronische System seine Vergangenheit und Zukunft hat", und dies zwingt dazu, auch die „Prinzipien der Diachronie zu überprüfen".159 Die Absicht ist gut, doch wie wurde sie realisiert? Was beinhalten Juri Tynjanows und Boris Eichenbaums Theorien von der „literarischen Evolution" und dem „literarischen Sein", die eine Veränderung des Formalismus zur historischen Betrachtungsweise hin bewirken sollten? Juri Tynjanow versuchte, das Statische in der Interpretation der poetischen Konstruktion aufzuheben, indem er das Prinzip der Dynamik, das Prinzip „des Kampfes und der Ablösung", der literarischen Verständlichkeit aufstellte. Das war ein Schritt vorwärts im Vergleich zum frühen Formalismus, doch ein halber Schritt. Im Grunde blieben Begriffe wie Abgeschlossenheit der literarischen Reihe, Immanenz ihrer Gesetze unangetastet. Nicht umsonst sprach Juri Tynjanow von der Evolution der Literatur, die er der Genesis gegenüberstellte, was dazu beitrug, die Immanenz der literarischen Reihe in Reinheit zu erhalten. Als Juri Tynjanow die Frage nach der „ständigen Korrelation" der literarischen Reihe zu anderen Reihen stellte,160 dachte er vor allem an die nächste, benachbarte Reihe - das literarische Sein. Die Theorie des „literarischen Seins", deren Begründung Boris Eichenbaum besondere Aufmerksamkeit schenkte, sollte der „formalen Methode" frisches Blut zuführen, sie dem realen literarischen Prozeß, der Geschichte näherbringen. Boris Eichenbaum verstand, daß das Leben selbst „die Abhängigkeit der Literatur und ihrer Evolution von Bedingungen, die sich außerhalb ihrer selbst herausbilden", offensichtlich werden läßt.161 Doch in seiner Vorstellung reduzieren sich diese Bedingungen vorerst auf die Gesamtheit der Fakten, die das professionelle Seih des Schriftstellers, das, was man das „literarische Sein" nennt, aber nicht das gesellschaftliche Sein charakterisieren. Die bisherige immanente Untersuchung der literarischen „Sache" wird ergänzt durch die Untersuchung des beruflichen Milieus, der alltäglichen Umgebung, der literarischen Zirkel und Salons, der Tätigkeit von Zeitschriften, Druckereien, Buchläden u. a. Zweifellos ist auch dieser Aspekt wichtig, jedoch löst er noch nicht die Aufgabe der Annäherung der Literatur an das Leben der Gesellschaft. Ein Durchbruch zur Geschichte kam nicht zustande. Die zuvor unbeweglichen 155
Räder drehten sich jetzt, aber auf der Stelle . . . Konnte es anders sein? Schwerlich. Die führenden Vertreter der Formalen Schule waren ernsthafte Wissenschaftler und bemühten sich aufrichtig, einen Ausweg aus der ahistorischen Sackgasse zu finden, aber sie wollten sich dabei nicht von ihren wichtigsten Prinzipien trennen. Diese aber widersprachen in ihrem ureigensten Wesen der historischen Betrachtungsweise. Die Trennung zwischen Synchronie und Diachronie, zwischen der literarischen Reihe und der Geschichte war im methodologischen Fundament der Formalen Schule angelegt. Eine „Evolution in den Grenzen des Formalismus" 162 das ist das Äußerste, was unter solchen Bedingungen erreicht werden konnte. Diese Lehre des Formalismus ist sehr instruktiv. Der Wunsch, den Strukturalismus zu „verbessern", ihn mit der Geschichte, mit dem gesellschaftlichen Sein zu versöhnen, ist an sich löblich. Es wäre sehr gut, wenn es den Anhängern der strukturalen Literaturwissenschaft gelänge, weiter zu gehen als bis zu einem Vergleich verschiedener Manuskriptvarianten, 163 die Grenzen der abgeschlossenen literarischen Reihe, der immanenten Struktur zu überschreiten und die verhängnisvolle Trennung zwischen Synchronie und Diachronie zu überwinden. Nur ist zu fragen, inwieweit dies real ist. Denn es ist doch kein Zufall, daß die Literatur in der strukturalistischen Kritik - nach Rita Schober - „als zufällige Anhäufung eines Trümmerfeldes" 164 erscheint und daß Roland Barthes z. B. die Literaturgeschichte überhaupt ablehnt. Wenn das Kunstwerk als geschlossene formale Struktur gesehen wird, wenn die logischen Zusammenhänge zwischen dieser Struktur und der Bedeutung des Werkes ignoriert werden, löst man das Werk zwangsläufig aus der Literaturgeschichte, die - so Rita Schober - „unstreitig mit der Erkenntnisfunktion (mit der Bedeutung der Werke) verbunden ist und sie der allgemeinen Ideologieund Kulturgeschichte (mit der sie natürlich verbunden ist) überantwortet" 163 . Deshalb stellt man sich, wenn man im Prinzip die von Ju. Lotman deklarierte Losung „zusammen mit der Geschichte" und nicht „anstatt der Geschichte"166 unterstützt, unwillkürlich die Frage: Aber bliebe in diesem Falle unser Strukturalismus auch Strukturalismus? „Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen . . . kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen . . . " Nur ein Lachen? Ja, Michel Foucault, Autor des Buches „Die Wörter und die Sachen", das in Frankreich Aufsehen erregte, besteht entschieden darauf: Der Mensch ist nicht mehr als ein vorübergehender Irrtum der Philosophie, ein Mythos, er „wird ausgelöscht wie eine Abbildung aus Sand am Ufer des Meeres"; der Mensch ist „weder das älteste noch das beständigste Problem, das dem menschlichen Wissen gestellt ist. . . Der Mensch ist eine Erfindung, deren noch junges Entstehungsdatum und vielleicht nahes Ende die Archäologie unseres Denkens leicht aufzeigen kann." 167 Vielleicht wird uns Foucaults Predigt des „Antimenschen" einiges von der sozialen und philosophischen Natur des Strukturalismus erklären, als dessen Adept Michel Foucault auftritt. 156
Wohl nirgends wurde über den Strukturalismus so viel geschrieben und so leidenschaftlich gestritten wie in Frankreich. Wahrscheinlich hat hierbei die Existenz von Claude Lévi-Strauss, von dem man sagt, der Strukturalismus sei Lévi-Strauss, eine nicht geringe stimulierende Rolle gespielt. Es gibt auch andere, objektive Gründe. Fast ein Dritteljahrhundert währte in diesem Land die Herrschaft des Existentialismus. Gerade hier gestalteten sich die Verhältnisse so, daß die Philosophie des Existentialismus in höchstem Maß den lokalen Belangen, der menschlichen Erfahrung entgegenkam. In den Jahren der Résistance erhielten die Kategorien der Rebellion, der Negation einen realen historischen und sogar politischen Sinn, der Existentialismus war mitbeteiligt am Kampf gegen den Faschismus, an den gesamtnationalen Befreiungstendenzen. Und in den Nachkriegsjahrçn beherrschte der Existentialismus weiterhin die Gemüter einer ganzen Generation von Franzosen. In Sartres militantem Subjektivismus, in der begeisterten Bestätigung des Individuums sahen nur zu viele ein Gegengewicht zu der blinden, entfremdeten Kraft der bürgerlichen Verhältnisse - einen Ausgleich, einen Hoffnungsschimmer, die Andeutung einer Perspektive. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die Unfähigkeit des Existentialismus, konstruktive Aufgaben zu lösen, sein „altmodisches" Wesen, seine Diskrepanz zum Geist der Zeit wurden immer offensichtlicher. Der Individualismus verblaßt, tritt zurück, die Persönlichkeit wird nivelliert, deutlich kommt die Bedingtheit ihres Daseins und Verhaltens durch objektive Strukturen zum Vorschein. Auch der Existentialismus tritt zurück. Heute spricht man im Westen immer häufiger von seiner Krise, der Enttäuschung über ihn. Unter diesen Bedingungen rückte der Strukturalismus nach vorn. Er war, wie einer seiner Kritiker sagt, „eine kalte Dusche für die existentialistische Mythologie" 168 . Als der Strukturalismus dem subjektiven Prinzip den Kampf ansagte, mußte er zwangsläufig mit dem Existentialismus in Konflikt geraten, und Arena der erbittertsten Zusammenstöße war natürlich Frankreich. Im Kontext dieser Polemik muß auch Michel Foucaults Buch „Die Wörter und die Sachen" gesehen werden. Wir haben eine Episode der auf dem Gebiet der Philosophie entbrannten „Schlacht der Giganten" vor uns, in der Michel Foucaults Buch die Rolle der Stoßkraft zufiel. Für den Autor des Buches „Die Wörter und die Sachen" ist im Begriff „Mensch" die Quintessenz des Existentialismus mit allen seinen subjektivistischen Illusionen akkumuliert, daher attackiert er den Menschen auch mit solchem Eifer, mit derartiger polemischer Schärfe. „Ebenso wie wir der Erörterung über das .Subjekt' müde" sind, schreibt Guy Besse, „das sich, ohne selbst zu wissen, über wen und worüber es spricht, naiv zum Maß aller Dinge nimmt, betrachtet Foucault die Begriffe .Mensch' und .Humanismus' als Überbleibsel eines .Wissens', das den Erfordernissen der Gegenwart nicht entspricht, geschweige denn denen der Zukunft." 1 6 9 Das hindert den Autor des Artikels nicht, Michel Foucaults Buch als „enttäuschende" Arbeit einzuschätzen. Es erhebt sich die Frage: Wie verhalten sich Marxisten zu dieser Polemik? 157
Diese Frage erlangt für uns Aktualität, weil beide streitenden Parteien nicht abgeneigt sind, den Marxismus zu ihrem Bundesgenossen zu machen. Bekannt sind die von Jean-Paul Sartre unternommenen Versuche, einzelne marxistische Elemente in das philosophische System des Existentialismus zu „integrieren"; wir wollen darauf nicht eingehen,170 sondern nur erwähnen, daß diese Versuche als solche symptomatisch sind. Der Strukturalismus seinerseits sucht ebenfalls Berührungspunkte mit dem Marxismus. Claude Lévi-Strauss hat wiederholt seine Achtung vor Marx betont. Roman Jakobson erklärte vor ein paar Jahren in einem in Paris gegebenen Interview, er sehe keinen Widerspruch zwischen der strukturellen Methode und dem Marxismus - unter der Bedingung, daß man den Marxismus nicht mit seiner mechanischen Karikatur verwechsle, die beanspruche, das Gebiet der Kunst als ein von den übrigen Gebieten mechanisch abgeleitetes Gebiet zu erforschen. Es gibt auch eine gegenläufige Tendenz. So meint Maurice Godelier, das strukturelle Herangehen an die soziale Wirklichkeit widerspreche dem Marxismus keineswegs, sondern helfe, den komplizierten Mechanismus der Beziehungen zwischen Basis und Überbau und folglich auch den Entwicklungsprozeß selbst klarer zu verstehen und darzustellen. 171 Eine Gruppe französischer Autoren mit Louis Althusser an der Spitze ersucht in der Kollektivarbeit „Das Kapital lesen", Marx von den Positionen des Strukturalismus zu analysieren und ihn nahezu als einen Vorläufer dieser Richtung darzustellen. 172 Man könnte sich noch auf eine Sondernummer der französischen Zeitschrift „La Penseé" 173 berufen, die von der Redaktion Zusammen mit dem Centre d'études et de recherches marxistes (C. E. R. M.) vorbereitet wurde, sowie auf einige andere Materialien. Ähnliche Motive begegnen auch bei unseren Autoren. 174 Also Strukturalismus und Marxismus... Hier drängen sich sofort historische Parallelen auf, und sie werden nicht deplaciert erscheinen nach allem, was bisher über die lebendigen Verbindungen gesagt wurde, die zwischen Formalismus und Strukturalismus bestehen. Überdies hilft die Hinwendung zu den Lehren der Vergangenheit, die Gegenwart besser zu verstehen. Es gab eine Zeit, da man sehr aktiv versuchte, Formalismus und Marxismus miteinander zu vermählen, wobei man meinte, wenn dies auch eine Mesalliance sei, dann doch eine, die ganz im Interesse des Marxismus läge. „Brauchen Marxisten die formale Methode in ihrer OPOJAS-, ihrer reinsten Form?" fragte ein Autor der Zeitschrift „Lef" 175 und antwortete ohne Zögern: „Unbedingt. Und gerade in ihrer Übernahme besteht die nächste Aufgabe der Methodologie des Marxismus und die einzige Möglichkeit für die marxistische Methode, wissenschaftlich zu werden." Nach Meinung des Kritikers kann „beim gegenwärtigen Zustand unserer Wissenschaft" (dieser Zustand aber ist seiner Ansicht nach so, daß „eine marxistische Auffassung der Ästhetik bislang nicht existiert") die einzige Rettung nur die Übernahme der formalen Methode als der „notwendigsten, momentan wichtigsten, fruchtbarsten" sein.176 Die Formalisten begannen mit einer eindeutigen und sehr aktiven Ablehnung 158
des Marxismus. Weniger als ein Jahr vor dem oben zitierten Aufruf zur „Bereicherung" der marxistischen Methode durch die formale trat Boris Eichenbaum mit einem Artikel hervor, in dem er den Marxismus in scharfer Form eines utilitaristischen, vulgären Herangehens an die Kunst beschuldigte. Dieser Artikel zeugt von der unverhohlenen Antipathie des Autors gegen den Marxismus wie auch von seinem Unverständnis für ihn. Die Verbreitung des Marxismus in Rußland wurde in dem Artikel damit erklärt, daß „die Russen gern bei der deutschen Wissenschaft lernten, weil sie keine eigene wissenschaftliche Weltanschauung besaßen, sondern nur die Zuneigung zu ihr"; deshalb habe bei uns angeblich auch die marxistische „monistische Anschauung" so leicht Fuß gefaßt. Marx hingegen habe, so behauptet Boris Eichenbaum, „als echter Deutscher das ganze Leben auf die .Ökonomie' hingeführt". In dem vom Marxismus aufgebauten Schemata „war für die Kunst kein Platz - man warf sie hinaus. Soll sie als .Widerspiegelung' existieren. Zuweilen ist sie nützlich zur Aufklärung." Diese von ihm selbst verfaßte böse Karikatur auf die marxistische Kunstkonzeption lehnte der Kritiker natürlich entrüstet ab. „Das Leben baut sich nicht nach Marx auf - um so besser." 177 Das gespannte Verhältnis der Theoretiker des OPOJAS zur „Ökonomie" erklärt sich teilweise als Reaktion auf vulgärsoziologische Tendenzen. Als Boris Eichenbaum es für nötig hielt, daran zu erinnern, daß „der Klassenkampf nicht immer mit dem literarischen Kampf und literarischen Gruppierungen zusammenfällt" und daß man die Literatur nicht „zur Dienerin der juristischen und ökonomischen Wissenschaften"178 machen kann, hatte er dafür gewisse Gründe. Die vulgärsoziologische Behandlung der Literatur war damals sehr verbreitet. Doch dies ist ein Teil der Wahrheit. Die Formalisten hatten nicht nur mit den Vulgarisatoren des Marxismus Meinungsverschiedenheiten, für sie war vor allem der Marxismus selbst unannehmbar, und Boris Eichenbaums Artikel „5 = 100" läßt diesbezüglich keinen Zweifel. Wiktor Schklowski hatte drei Jahre zuvor nicht weniger bestimmt geschrieben : „Die Kunst war stets unabhängig vom Leben, und in ihrer Farbe zeichnete sich niemals die Farbe der Flagge über der Stadtfestung ab." 179 Um so überraschender kam nur wenige Jahre später Boris Eichenbaums Erklärung, daß nur ein „Blättchen Zigarettenpapier"180 die Formalisten vom Marxismus trenne. Annähernd in demselben Sinn sprach sich jetzt auch Wiktor Schklowski aus: „Wir sind keine Marxisten, aber wenn wir dieses Instrument in unserem Haushalt brauchen, werden wir nicht vorsätzlich mit den Händen essen." 181 Diese Wendung im Formalismus, die A. Mettschenko nicht ohne Grund als „Taktik der Zugeständnisse"182 wertet, wurde von seinen Adepten ungewöhnlich lautstark gepriesen. Die Sache war höchst einfach: Da „man sich bei der Einschätzung des Wertes eines poetischen Werkes nicht allein auf die formale Methode beschränken kann", „muß die soziale Analyse des Werkes hinzugenommen (!) werden"; „daher", schrieb ein Anhänger der Formalen Schule in der Ukraine, „ist die Schlußfolgerung sehr einfach: die Arbeit der formalistischen Kritiker und der soziologischen Kritiker muß vereint werden." 183 159
Eben zu jener Zeit wurde ein so widernatürliches Gebilde wie die formalsoziologische Methode geboren. Eine gewisse Vorstellung von dieser seltsamen literaturwissenschaftlichen Symbiose vermittelt das Buch ihres wichtigsten Theoretikers und Propagandisten B. Arwatow „Soziologische Poetik", das berufen war, „das Programm der ,Lef' 18/ ' vom Standpunkt des Marxismus zu begründen", wie Ossip Brik in seinem Vorwort dazu schrieb. Und B. Arwatow erklärte auch selbst, daß die formalsoziologische Methode sich unmittelbar auf den Marxismus stütze. In Wirklichkeit war vom Marxismus in der „Soziologischen Poetik" nicht das Geringste zu spüren. Die wichtigsten Ausgangspositionen der Poetik des OPOJAS der Begriff des „Materials", die Absage an den „Inhalt", die Geringschätzung der „Überzeugungen", der „Geisteshaltung" des Künstlers 185 , die Betrachtung der Kunst als ein „System von Verfahren in darstellend-erfundenen Gattungen" usw. - blieben unangetastet, nur wurde jetzt alles recht schmackhaft gemacht durch eine „schrecklich soziologische" Terminologie. Während beispielsweise die Theoretiker des OPOJAS das „Machen einer Sache" kultivierten, ersetzten die Vertreter der formalsoziologischen Methode diesen Begriff gemäß dem Programm der „Lef" durch die „Produktionsweise" der Werke, die „gesellschaftliche Herstellung der literarischen Massenproduktion". Während die Formalisten in der Sa-um das höchste Ziel der Kunst sahen, behaupteten die Anhänger der formalsoziologischen Methode, daß im experimentellen Sprachschöpfertum die „soziale Rolle" der Poesie ihren Ausdruck finde. Soziologisch gefärbte formalistische Postulate verbanden sich bei den Vertretern der formalsoziologischen Methode bizarr mit ausgeprägtesten Vulgarisierungen. Wesen und Sinn der Kunst wurde reduziert auf die „militaristisch-propagandistische Bestimmung des literarischen Produkts". Die Ablösung von poetischen Formen und von Sujetverfahren wurde in direkte Verbindung gebracht mit sozialökonomischen Veränderungen, mit dem Entstehen eines „Kaders von individuellen und isolierten Künstlern als Warenproduzenten", die ihre Werke auf den Markt warfen. Der Reim wurde als „unvermeidliches Erzeugnis der Warenwirtschaft in der Literatur" 186 betrachtet usw. usf. Ein Forscher jener Jahre gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild vom „Treibriemen der Produktion, der dem Schriftsteller unmittelbar um den Hals geworfen wird" 187 . So erhielt die Tätigkeit der Anhänger der formalsoziologischen Methode bereits einen nicht mehr nur absurden, sondern recht unheilvollen Zug. Einige Formalisten gingen sogleich daran, sich von den Vertretern der formalsoziologischen Methode abzugrenzen. Boris Eichenbaum z.B. sagte, daß die Vertreter der formalsoziologischen Methode mit ihrem Vorschlag, die formale und soziologische Methode zu vereinen, „den Weg des geringsten Widerstands" wählten und „ihre komische Rolle in den Händen der Geschichte" 188 nicht verstünden. Aber sündigten die gestrigen OPOJAS-Vertreter denn nicht selber durch die gleiche Eklektik, das gleiche Bestreben, Unvereinbares miteinander zu verbinden? Ist der Unterschied zwischen dem „professionell-praktischen System der literarischen Ar160
beit", das die Anhänger der formalsoziologischen Methode propagierten, und z. B. der Konzeption des „literarischen Seins" wirklich so groß? Schrieb doch zu letzterer ein Kritiker: Mit Eichenbaum ist das geschehen, was er einstmals selbst einem anderen Literaturhistoriker sarkastisch vorgeworfen hat: er .fügte . . . ein wenig Soziologie, ein wenig Ästhetik, ein wenig Biographie usw. hinzu'." 1 8 9 In noch stärkerem M a ß gilt dies für Wiktor Schklowskis Arbeit über „Krieg und Frieden". Einerseits Formulierungen, um deren Schärfe und kategorischen Charakter ihn jeder Soziologe beneiden würde: „Tolstoi ist der Gutsherren-Schriftsteller in Person", „Krieg und Frieden" ist eine adlige Agitationsschrift usw. Andererseits unangetastete Beibehaltung der in sich geschlossenen literarischen Reihe, dem OPOJAS verpflichtete Methoden zur Analyse der formal-stilistischen Struktur. 190 Dieselbe Zwiespältigkeit fällt auch in Wiktor Schklowskis Notiz über Lenins Stil auf, die eine Artikelserie zu diesem Thema in der Zeitschrift „Lef" eröffnete. Bei dem Versuch, sich ein für ihn so prinzipiell neues Material wie Lenins Werke anzueignen, bedient sich Schklowski jedoch im wesentlichen der vorherigen Analyseverfahren. Charakteristisch ist schon der Titel des Artikels „Lenin als Dekanonisator". Die bestimmende Besonderheit des Leninschen Stils sah Wiktor Schklowski in der Überwindung des Kanons, im Kampf gegen die erstarrte Formulierung, gegen die stilistische Stereotype, in der ständigen Herabstufung der revolutionären Phrase. „Wer den Stil Lenins begreifen will", schrieb der Autor des Artikels, „muß in erster Linie begreifen, daß dieser Stil verändert und nicht feststellt." 1 9 1 Hier erkennt man die von der Poetik des OPOJAS überlieferten Prinzipien der „Automatisierung" und „Verfremdung". Das gilt übrigens auch für das andere von den Vertretern der Formalen Schule stammende Material der erwähnten Artikelserie. 1 9 2 Man kann nur bedauern, daß die Wissenschaftler, die sich heute dieser wohl frühesten Seite unserer wissenschaftlichen Leniniana zuwenden, diesen Umstand nicht selten unberücksichtigt lassen. Eine Ausnahme bildet J. Eisbergs Arbeit „Probleme und Aufgaben der Untersuchung des literarischen Stils Lenins", in der nicht übergangen wird, was bei den Autoren der „Lef" an Positivem zu finden ist, und zugleich die entscheidenden methodologischen Schwächen ihrer Studien überzeugend gezeigt werden. So muß man der Einschätzung zustimmen, die L e w Jakubinskis Artikel „Über die Herabstufung des gehobenen Stils bei Lenin" erfährt: „Die Vielfarbigkeit und Vielseitigkeit des Leninschen Stils, die Verbindung .großer' Worte mit der sachlich-wissenschaftlichen Sprache und der einfachen Volkssprache, die gerade die Kraft, die Realität dieser Worte und die Begründung des Pathos bekräftigen - dieses ganze hochkomplizierte und zugleich geschlossene Mosaik des Leninschen Stils sucht Jakubinski auf eine .Herabstufung' zu reduzieren, indem er die Bedeutung der Klammern und Brüche rein formalistisch interpretiert." 193 Offensichtlich haben diejenigen recht, die meinen, daß das Material der „Lef" in das historisch-philologische Leben aufgenommen werden müsse, d a ß vor allem die Arbeiten von Juri Tynjanow und Boris Eichenbaum nicht wenig interessante und wertvolle Einzelbeobachtungen enthalten. Richtig ist auch, daß für die Formalisten 11
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schon die Tatsache der Hinwendung zum Leninschen Erbe nützlich war und zu einem Meilenstein in ihrer Entwicklung als Wissenschaftler wurde. Aber diese Evolution deutete sich vorerst nur an. „Es bedurfte noch vieler Jahre, ehe sie ihre formalistischen Konzeptionen revidieren konnten ..." 1 9 4 , bemerkt W. Perzow. Das aufrichtige Bestreben, sich dem Marxismus zu nähern, konnte keine wirklich positiven Ergebnisse zeitigen, denn sie versuchten neuen Wein in die alten formalistischen Schläuche zu gießen. Es geht nicht um die subjektiven Absichten der Vertreter der Formalen Schule, sondern in erster Linie um den objektiven Charakter dieser Erscheinung, um den sozialphilosophischen Boden, aus dem die Methodologie des Formalismus erwuchs. Die Formalisten kokettieren gern damit, daß sie mit keiner bestimmten philosophischen Schule verbunden sind. Doch die „Sorglosigkeit bei der Feststellung der Vaterschaft ist kein Grund für den Mythos von der unbefleckten Empfängnis" 195 . Das Aufleben formalistischer Tendenzen an der Grenze zweier Zeitalter war, wie A. Lunatscharski schrieb, das Produkt „der späten Reife oder der frühen Überreife der Bourgeoisie"196, als das kranke bürgerliche Denken, vom fruchtlosen positivistischen Empirismus ermüdet und angesichts der Widersprüche der Epoche unsicher geworden, zum Idealismus, „zurück zu Kant" drängte. W. Shirmunski erinnert an die Formulierung der Kantschen Ästhetik: „Schön ist, was ohne Begriff gefällt", und meint, daß „in diesen Worten der formalistischen Kunstlehre Ausdruck verliehen wird" 197 . Tatsächlich lagen dem Formalismus die formale Logik und die transzendentale Ästhetik Kants zugrunde, wobei neukantianische Elemente sich bizarr mit Rudimenten des angeblich zu überwindenden, aber durchaus nicht überwundenen Positivismus verflochten. Es war Synthese, es war jener „eigenartige agnostische Pluralismus, der die Weltanschauung von Epochen und Menschen ist, die unschöpferisch, verwirrt, dezentralisiert sind, aber ihre üble Krankheit stolz als echteste Gesundheit ausgeben"198. Im nachrevolutionären Rußland, unter den Bedingungen des äußerst zugespitzten Klassen- und Ideenkampfes, kehrte der Formalismus vor allem seine dem Marxismus besonders feindlichen Seiten hervor. „Mit der NÖP erhielt die ganze bürgerlich-intellektuelle Gattung Auftrieb" 199 , und objektiv gehörte der Formalismus welcher Art die subjektiven Positionen und Ansichten seiner Vertreter auch sein mochten - zu den ideologischen Gegnern des Proletariats. Lunatscharski schrieb in der Zeitschrift „Pecat' i revoljucija": „Vor dem Oktober war der Formalismus einfach eine Zeiterscheinung, jetzt aber ist er ein zählebiges Überbleibsel des Alten, ist er das Palladion, um das die Verteidigung der bürgerlich-europäisch denkenden Intelligenz geführt wird, die dabei weiß, daß der Angriff die beste Art der Verteidigung ist. Ein offener Kampf des Kadettentums gegen den Kommunismus ist nicht vorstellbar, aber ein offener Kampf des Formalismus gegen den Marxismus ist durchaus möglich."200 Beachten wir, daß Lunatscharski die zum Formalismus neigende Intelligenz als „bürgerlich-europäisch" denkend bezeichnet: noch ein wesentlicher Pinselstrich zum Porträt des russischen Formalismus. 162
Wollte man sagen, letzterer sei gänzlich aus dem Ausland importiert, würde man das Problem stark vereinfachen. Einflüsse, Übereinstimmung, insbesondere mit gesamteuropäischen spezifizierenden Strömungen, waren vorhanden. Trotzdem wuchs und formierte sich diese Schule auf heimischem Boden, in spezifischer ideologischer und philosophischer Atmosphäre. Infolge von Gründen, die sich aus den Bedingungen des imperialistischen Krieges und der ersten nachrevolutionären Jahre ergaben, waren ihre direkten Verbindungen mit der europäischen Literaturwissenschaft höchst begrenzt. Dennoch war im russischen Formalismus etwas, was den progressiven Traditionen der einheimischen Kultur und Wissenschaft fremd war. „Die slawisch-russische Kultur war nicht nach meinem Sinn", erinnerte sich Boris Eichenbaum an seine ersten Schritte an der Universität. „Sogar das ,Igorlied' bewegte mich damals nicht . . . Und da geriet ich plötzlich, ohne auch nur auf die Straße zu gehen, nach Europa - d. h. in Auditorium vier. Ich geriet in die Atmosphäre der deutschen Romantik, der Lyrik der Provence, des altfranzösischen Epos, der .Göttlichen Komödie' von Dante. Meine Suche hatte ein Ende." 201 Der Formalismus wurde von Anbeginn als eine fremdartige Erscheinung empfunden. Auch die Hinwendung zu folkloristischem Material änderte die Lage nicht: Unter dem Skalpell des OPOJAS verloren selbst das russische Märchen, das Lied, das Rätsel ihr unverwechselbares nationales Gesicht, verwandelten sich in eine Sammlung blasser, entwurzelter Schablonen. Schon die Methodologie, die Natur des Formalismus gerieten in Widerspruch zu den Besonderheiten des volkstümlichen künstlerischen Denkens wie auch zu den Traditionen der fortschrittlichen russischen Kunst, in der der patriotische Geist immer so stark und unausrottbar war. In diesem Punkt lassen sich übrigens unschwer Ähnlichkeiten zwischen der Formalen Schule und dem Strukturalismus erkennen. Der Nachfolger weist denselben leblosen Zug des „Europäismus" (in dem Sinn, den Lunatscharski diesem Terminus gab) auf wie sein Vorgänger. P. Palijewski bemerkt richtig, daß die Strukturalisten bei der Analyse der Folklore peinlich genau sich wiederholende Motive und die Art ihrer Verbindung registrieren, aber außerstande sind, „zu verstehen, warum diese Motive immer neu und unerschöpflich sind" 202 . Wie sollten sie auch - wenn ein Werk der Folklore nicht als künstlerisch dargestellte Geschichte des Volkes, nicht als lebendiger Ausdruck des Nationalcharakters, sondern als lebloser Mechanismus betrachtet wird ? Hier handelt es sich nicht einfach um eine persönliche Schwäche, um Versäumnisse des einen oder des anderen Autors, sondern um eine Grundeigenschaft des Formalismus als Richtung. Bezeichnend sind die Worte des bedeutenden Vertreters der werkimmanenten Betrachtungsweise, Wolfgang Kayser: „Das sprachliche Kunstwerk lebt als solches und in sich. Wenn dem so ist, dann droht nicht mehr die Gefahr einer Gleichsetzung von Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte, dann droht aber auch nicht mehr jene Gefahr, der das Denken in den letzten Jahrzehnten oft hilflos ausgesetzt war, daß das Kunstwerk in den Strudel eines psycho163
logischen oder historischen oder nationalen Relativismus gerissen würde." 203 Die Trennung der Kunst vom nationalen Boden ist auf diese Weise Ausdruck einer allgemeinen Tendenz, deren Sinn in der Absage an jede soziale Determiniertheit des künstlerischen Schadens und an die Wirklichkeit überhaupt besteht. Oben wurde bereits auf den Zusammenhang zwischen den formalistischen Theorien und dem ästhetischen Erbe Kants hingewiesen. Offensichtlich ist unter heutigen Bedingungen der Einfluß der Marburger Schule des Neukantianismus, insbesondere Ernst Cassirers. In den weit verbreiteten verschiedenen Modifikationen der Zeichen- und Symboltheorien der Kunst ist unschwer ein Widerhall der Konzeptionen zu erkennen, die Cassirer in den Arbeiten „Philosophie der symbolischen Formen" und „Ein Essay über den Menschen" dargelegt hat. Es geht um die Behandlung der Kunst als einer „symbolischen Form", die nach Cassirer nicht die reale Wirklichkeit widerspiegelt, sondern uns in eine besondere, in sich geschlossene, immanente (ganz in Kantschem Geist) Welt der „intuitiven Strukturen", der „reinen Formen" versenkt. Auf die Ideen Ernst Cassirers, der dem Intuitionismus entschieden vor dem Rationalismus, dem Geist vor der Erkenntnis, den Vorrang gab, geht auch das für den heutigen Strukturalismus charakteristische „Abstoßen" von Hegel und zugleich von der revolutionär-demokratischen und marxistischen Kritik zurück, die sich angeblich nicht von der Nabelschnur der Hegeischen Ästhetik getrennt habe. Dieser Linie, der Linie des „Inhalts", wird die „formale" Linie gegenübergestellt, die bei Kant beginnt, von J. F. Herbart, der die Ästhetik von der Vormundschaft der Philosophie befreien, sie autonom machen wollte, fortgesetzt wird und danach über den frühen O. Hostinsky und die russische Formale Schule zum Strukturalismus führt. Verallgemeinerungen dieser Art kann man in den Arbeiten einer Reihe von tschechoslowakischen Philosophen 0 . Zumr, K. Chvatik u. a.) finden. Einige Autoren des Sammelbandes „Struktur und Sinn des literarischen Werkes" (Prag 1966) sehen das Hauptverdienst des Strukturalismus darin, daß er das „inhaltliche" ästhetische (Hegeische) Denken, das die „Wahrheit" verabsolutiere und ästhetisiere, verwarf, solche Begriffe wie Wahrheit, das Gute, Wirklichkeit „sind ausgeplündert, die ständige Feiertagsgarderobe wurde ihnen abgenommen". Doch der Strukturalismus ist in seinem philosophischen Charakter eklektizistisch, und Kantsche Einflüsse, die Ablehnung des Rationalismus verbinden sich bei ihm mit einem starken Zug zum logischen Positivismus. Letzterer zieht die Strukturalisten wegen seiner äußersten Verabsolutierung der formalisierten Sprache, ihrer logischen Struktur an. Es ist interessant, daß sich die Mitglieder des 1923 gegründeten Wiener Kreises, als sie im Manifest „Wissenschaftliche Weltauffassung" die Quellen ihres Neupositivismus bestimmten, auf die logisch-mathematischen Ideen von Leibniz beriefen. Eines der wichtigsten Leitmotive in Leibniz' philosophischen Überlegungen war das Bestreben, ein einheitliches allumfassendes System, eine „charakteristica universalis" zu schaffen, der streng eindeutige Begriffe, in einem „Gedankenalphabet" 164
organisiert, zugrunde liegen sollten. Er glaubte, das ganze Denken könne mathematisiert werden. „Wenn jemand als Mathematiker über Fragen der Metaphysik oder der Moral schreibt, dann würde nichts ihn daran hindern, dies mit wissenschaftlicher Strenge zu tun . . ." 204 , lesen wir in den „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand". Hieraus resultiert die Idee der Erfindung einer Weltschrift (Pasigraphie), die dazu berufen sei, die natürliche Sprache aus dem wissenschaftlichen Verkehr zu verdrängen. Ein Biograph und Interpret Leibniz' kommentierte diese Idee so: „Die Aufgabe einer Weltschrift ist gelöst, sobald die Wissenschaften alle das Beispiel der Mathematik nachahmen und Charaktere gefunden werden können, die alle Begriffe so genau bezeichnen wie die arithmetischen und algebraischen Zeichen die Größen und deren Verhältnisse. Dann werden sich die wissenschaftlichen Wahrheiten insgesamt ebenso verständlich ausdrücken, ebenso genau beaufsichtigen und gleichsam nachrechnen lassen wie die mathematischen." 205 Leibniz' „Pasigraphie" wird zuweilen nur als Vorläuferin des Esperanto und anderer künstlicher Sprachen betrachtet, doch ihre Bedeutung reicht weiter. Es handelt sich um die Suche nach einem universalen logisch-mathematischen Modell, das auf dem Prinzip der Konventionalität beruht. Ein Nachhall dieser Ideen ist in der heutigen Wissenschaft zu entdecken. So schreibt Norbert Wiener, als er auf Leibniz' Interesse „für eine Rechensprache, die nach seiner Ansicht nur eine Erweiterung seiner Idee von einer völlig künstlichen Sprache war", hinweist, daß ihm zwar die philosophischen Anschauungen des deutschen Gelehrten fernstünden, jedoch „die Probleme, mit denen ich mich beschäftigte, ganz bestimmt Leibnizsche sind": denn Leibniz „gab meistens der Linguistik und der Mitteilung den Vorzug". 206 Was den Wiener Kreis betrifft, so wurde für seine Vertreter die Sprache als Gesamtheit logisch-symbolischer Mittel der Beschreibung, als geordnetes, innerlich nicht widersprüchliches Zeichensystem, das ausschließlich den formalen Bedingungen der Wahrheit entspricht, zum universalen Modell. An die Stelle der Erforschung realer Erscheinungen wurde die Erforschung ihrer Bezeichnungen gesetzt der Worte und Sätze, der logischen und sprachlichen Verbindungen zwischen ihnen. So müsse man sich, um aus dem subjektivistischen Chaos herauszukommen und eine in ihrer Grundlage wissenschaftliche Philosophie zu schaffen, nach Rudolf Carnap vor allem „auf den festen Boden der exakten syntaktischen Probleme" stellen. 20 ' D a alle Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Gedanken und realen Dingen angeblich unvermeidlich Verwirrung stiften, schlägt Carnap vor, das Programm der Philosophie ausschließlich auf die logische Analyse der Sprache zu beschränken, wobei er an die Schaffung besonderer sprachlicher semantischer Systeme denkt, in denen die Begriffe, zum Unterschied von der gewöhnlichen Umgangssprache, streng eindeutig sein sollten. Gerade diese Richtung der neueren bürgerlichen Philosophie hatte entscheidenden Einfluß auf die Sprachwissenschaft (hauptsächlich in der Glossematik 208 Louis Hjelmslevs, die auch dänischer oder kopenhagener Strukturalismus genannt wird), 165
über sie dann auch auf die Literaturwissenschaft und gab einen starken Impuls für die Entwicklung strukturalistischer Tendenzen. Solche grundlegenden strukturellen Begriffe wie „Autonomie des Objekts", „Immanenz des Systems", „reine" Beziehungen, „Metasprache" u. a. gehen letzten Endes auf neupositivistische Postulate zurück. Hieran schließen sich auch verschiedene Modifikationen des sogenannten Semantismus an, in erster Linie die Semiotik von Ch. Morris, der, gestützt auf die Arbeiten des amerikanischen Logikers Ch. Peirce sowie auf die pragmatische Ästhetik von Dewey, Meed u. a., versucht hat, die Wege zur Erforschung der Kunst als Zeichensystem zu skizzieren. Die semiotische Analyse der Kunst ist ein besonderes Thema, Ansätze dazu sind in den Arbeiten antiker und späterer Autoren zu finden. 209 Das Herangehen an die Kunst unter dem Zeichenaspekt kann sich in einer Reihe von Fällen als fruchtbar erweisen, vorausgesetzt, daß man sich seiner Ziele und Grenzen klar bewußt ist. Gerade letzteres ist die Achillesferse der bürgerlichen Konzeptionen. Das semiotische Herangehen wird nicht als ein möglicher Aspekt bei der Untersuchung der Kunst betrachtet, sondern als „Wesen" der Ästhetik. Dies ist ein Ergebnis des Einflusses positivistischer Ideen; nicht zufällig erklärt Ch. Morris den Zeichenbegriff zum „Grundbegriff der Wissenschaft vom Menschen"210. Die Opponenten der Strukturalisten, insbesondere Sartre, haben also recht gewichtige Gründe, von einer „Rückkehr zum Positivismus" zu sprechen.211 Dieser Prozeß spiegelt in eigener Weise die sich vertiefende Krise des kapitalistischen Systems und zugleich eine gewisse Stabilisierung dieses Systems unter den Bedingungen der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution wider. Die in Ausmaß und Intensität bisher einmaligen Prozesse, die sich in Wissenschaft und Technik vollziehen, die gewaltige „Informationsexplosion", das zunehmende Diktat der Massenmedien, das einerseits dazu veranlaßt, „die Aufmerksamkeit auf die Autonomie der zwischenmenschlichen Kommunikation" 212 zu richten, und andererseits im Gegenteil zu einer Schwächung der „Kommunikabilität" in der kapitalistischen Gesellschaft führt, das hier üppig wuchernde System aller möglichen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, die sich immer mehr in eine beinahe mystische, transzendentale entfremdende Kraft verwandeln - all das wird zur Quelle scharfer Widersprüche im bürgerlichen Bewußtsein. Hier herrschen sowohl tiefe Unzufriedenheit mit der Welt als auch eine unbewußte Angst vor dem realen Sein, vor der wirklichen Erfahrung, zugleich aber auch blinde Hoffnung auf eben diese Erfahrung als die einzige Kraft, die vielleicht noch imstande ist, das Chaos zu überwinden. Daher die „Kapitulation des lebendigen Denkens vor der abstrakten Logik und der isoliert-technischen, toten Seite der modernen Zivilisation" 213 ; daher der für den heutigen Bourgeois so charakteristische Glaube an die Ziffer, die Statistik, an eine errechnete, formalisierte Wahrheit, die anstatt der vorherigen erhabenen Ideale reale alltägliche Werte verheißt. „ . . . alle menschlichen Handlungen werden selbstverständlich . . . mathematisch, 166
in der Art einer Logarithmentafel, bis 108 ooo errechnet und in einen Kalender eingetragen werden; oder besser, es werden einige wohlgemeinte Werke erscheinen, ähnlich den jetzigen enzyklopädischen Lexika, in denen alles so exakt ausgerechnet und bezeichnet sein wird, daß es auf der Welt weder Taten noch Abenteuer mehr geben wird" 2 1 4 - so schrieb seinerzeit der Schriftsteller Fjodor Dostojewski und meinte damit auch die von ihm unverstandenen sozialistischen „Utopien" zu widerlegen, in Wirklichkeit aber charakterisierte er in scharfer Voraussicht der Entwicklungswege des Eigentumsgeistes die typischen Besonderheiten des bürgerlichen Bewußtseins. Eine Weiterführung dieser Charakteristik finden wir bei einem modernen Autor, der mit bitterer Ironie eine Parabel unserer Tage von einem einfältigen Menschen erzählt, den gedankenlose Begeisterung für die allmächtige Ziffer erfaßt hat. Dieser Mensch hatte einmal von seinem Freund, einem Mathematiker, gehört, daß nach der Wahrscheinlichkeitstheorie sechs Schimpansen, die man an Schreibmaschinen setzt und die Tasten aufs Geratewohl drücken läßt, nach gewisser Zeit alle Bücher aus der Bibliothek des Britischen Museums schreiben werden. E r beschließt, etwas für den Fortschritt der Wissenschaft zu tun. Die von ihm gekauften Schimpansen gehen an die Arbeit und tippen alsbald zuerst „Oliver Twist", etwas von John Donne, danach Anatole France, Conan Doyle, Marcel Proust, ausgewählte Dramen von Somerset Maugham, die Erinnerungen der Maria von Rumänien usw. Das Experiment endet tragisch: Der Mathematiker, erschüttert, daß seine Prognosen sich so unerwartet für ihn selbst erfüllen, verliert den Verstand, erschießt die A f fen und stirbt selbst durch die Kugel seines fanatischen Freundes. Der letzte Schimpanse blickt verblutend und in Todestrauer auf das eben von ihm vollendete Maschinenmanuskript der „Essays" von Montaigne. Diese phantastische Geschichte, die von dem amerikanischen Wissenschaftler Mortimer Taube 2 1 5 erzählt wird, charakterisiert den sozialpsychologischen Boden, auf dem heute der alte Baum des philosophischen Positivismus von neuem erblüht und einer seiner Schößlinge - der Strukturalismus - erstarkt ist. Eine aufschlußreiche Besonderheit des Strukturalismus ist der Anspruch auf das Revolutionäre. Die Theoretiker der Formalen Schule gaben seinerzeit deutlich zu verstehen, daß das Aufkommen des Formalismus angeblich die revolutionären Veränderungen in Rußland widerspiegelt. Auch die neuformalistischen Strömungen geben sich heute als diejenigen aus, die die Grundlagen erschüttern und neue Wege eröffnen. So bezeichnen sich die Vertreter der italienischen „neuen Avantgarde" (Gruppe 63) 216 als „linke" Schriftsteller, deklarieren ihren Dienst an den revolutionären Aufgaben und sogar Sympathie für den Marxismus. In demselben Geist sind die Deklarationen der französischen Gruppe Tel Quel 2 1 7 gehalten, in denen u . a . vorgeschlagen wird, die Prozesse der Revolution und der Konterrevolution durch das Prisma der Struktur der poetischen Sprache, der „écriture", ihrer politischen, ideologischen und sogar ökonomischen Funktion zu erforschen. Auch die Ansichten des Theoretikers der Neuen Linken, Herbert Marcuse, der 167
den Formalismus in der Kunst mit einer anarchistischen Rebellion, mit den Ideen des „historischen Bruchs mit der Vergangenheit und der Gegenwart" in Verbindung bringen möchte, verdienen in diesem Zusammenhang Beachtung. Eine rebellierende Tendenz liege in der Natur des künstlerischen Schaffens („die Form ist es, deretwegen Kunst die gegebene Wirklichkeit transzendiert, in der etablierten Wirklichkeit arbeitet"), doch ihren deutlichsten Ausdruck findet sie in den extremen Erscheinungen der Anti-Kunst, die sich den „Bruch mit der Vertrautheit", die Darstellung dessen, was der „gewöhnlichen Sprache oder der alltäglichen Erfahrung" unzugänglich ist, zum Ziel setzt. Der Autor des „Versuchs über die Befreiung" vergleicht die Vertreter der sogenannten schwarzen Musik (dieser Begriff schließt alle Modifikationen des Avantgardismus, darunter auch des „weißen" ein) mit dem Helden des „Doktor Faustus", der davon träumt, die „Neunte Symphonie" zurückzunehmen, und sieht in dieser Erscheinung eine direkte Verbindung zur „politischen Rebellion gegen die .Überflußgesellschaft'". Allerdings erkennt Marcuse an, daß letztere derartige Deformationen nicht allzusehr fürchtet, mehr noch, die rebellische Kunst wird vom Markt nicht nur mühelos absorbiert, sondern sie wird auch durch ihn „geformt". Trotzdem setzt er große Hoffnungen auf eine solche Kunst und wertet sie als ein „wesentliches Element radikaler politischer Taktik: das der umstürzenden Kräfte im Übergang" 2 1 8 . Zuweilen wird die Sache so dargestellt, als träten die strukturalistischen Schulen, die formalistischen Strömungen nahezu in der Rolle einer revolutionären Kraft auf, die sich mit größter Mühe „durch die Mauer der offiziellen Propaganda, der kleinbürgerlichen Gelassenheit und des Konformismus" 219 hindurchkämpfen muß. Indessen sind die antibürgerliche Haltung des Formalismus, sein Nonkonformismus imaginäre Größen, sie sind nicht mehr als das Ergebnis einer Aberration der sozialen Sicht. Der Neuformalismus in der schöpferischen Praxis, der Strukturalismus in der Theorie sind letzten Endes mit den Theorien der sogenannten industriellen und postindustriellen Gesellschaft verbunden. Interessant unter diesem Aspekt ist die Polemik des italienischen Autors Romano Luperini mit der strukturalistischen Kritik, mit ihrem Anspruch auf absolute Autonomie. Eine solche Autonomie 220 sei sogar rein theoretisch nur in bestimmten Grenzen möglich: Selbst ein Wissenschaftler, der sich mit einem ganz spezifischen Fragenkreis beschäftige und sich spezieller Forschungsmethoden bediene, sei in dieser oder jener Form verschiedenartigen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Im Grunde erkennen dies auch die Anhänger der strukturalistischen Kritik an, die ihr nicht nur einen „reinen Wert", sondern auch noch den Wert der „Voraussage" zuschreiben, d. h. eine Eigenschaft ethisch-politischen Charakters. Unter den Bedingungen der entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaft wird die „Autonomie" der Kritik nicht einfach zur Illusion; sie sei bereits eine ideologische Mystifikation, die, so R. Luperini, die herrschenden Klassen annehmen, um die effektive Unterordnung der Ideologie unter die Gesetze der Produktion zu sichern. Eigentlich müsse man von einer Art Arbeitsteilung zwecks Rationalisierung, zwecks Erreichung einer grö168
ßeren Effektivität sowohl in den Grenzen des gegebenen Bereichs der gesellschaftlichen Produktion als auch im ganzen System sprechen. Das gäbe Grund zu der Behauptung, daß die strukturalistische Kritik der historischen Betrachtungsweise und des Marxismus zu einem Teil der Ideologie der kapitalistischen Ordnung werde. In der sowjetischen Kritik hat G . Brejtburd 2 2 1 am Beispiel der italienischen Neuen Avantgarde darauf hingewiesen, daß sich das „Revolutionäre" des heutigen Formalismus in der Regel auf die ultralinke Phrase oder einen kleinbürgerlichen politischen Extremismus maoistischer Prägung reduziert. 222 Aber dies sind lediglich interessante Paradoxa. Im Grunde ist der Strukturalismus durchaus loyal, nicht revolutionäre Haltung und Zerstörungssucht, sondern ein Hang zu Beständigkeit und Konformismus entspricht seiner Natur am meisten. Viele Autoren bringen den sich heute in Frankreich abzeichnenden Rückgang des Interesses für den Strukturalismus mit den Ereignissen von Mai/Juni 1968 in Verbindung, als die gesellschaftlichen Widersprüche mit noch nie gesehener Schärfe zutage traten und die Unfruchtbarkeit aller Formen des Statischen offenkundig wurde. Selbstverständlich gibt es keinen Anlaß, von Scheitern oder gar einer Niederlage zu sprechen. Der Strukturalismus ist erschüttert worden, aber er hat standgehalten - nicht umsonst ist er äußerst pragmatisch und - clever. Doch trägt er deutlich den Stempel des Idealismus. Zwischen der strukturalistischen Auffassung vom Kunstwerk als System abstrakter Beziehungen und der logischen Konstruktion der Positivisten, die ein „empirisch erkanntes Verhältnis der .Nachbarschaft'" 223 darstellt, ist ein direkter Zusammenhang zu bemerken. Für Rudolf Carnap „bedeutet die Welt der Dinge zu erkennen nicht mehr, als eine gewisse Form der Sprache, mit anderen Worten, Regeln für die Aufstellung von Behauptungen und für ihre Überprüfung, Annahme oder Ablehnung, zu erkennen" 224 . Diese Regeln aber, nach denen Sprachstrukturen geschaffen werden, sind konventionell, sie hängen ganz von der Willkür des Subjekts ab. L . Hjelmslev, der sich das Ziel gesetzt hat, die Ideen des logischen Positivismus auf das Gebiet der Sprachuntersuchung zu übertragen, meint ebenfalls, daß die Linguistik entschieden darauf verzichten muß, die Objekte „als etwas, das sich von den Termini der Beziehungen unterscheidet" zu postulieren, da „das Ganze nicht aus Dingen besteht, sondern aus Beziehungen, und . . . nicht die Substanz, sondern nur ihre inneren und äußeren Beziehungen wissenschaftliche Existenz haben . . ." 2 2 5 Noch bestimmter formuliert ein anderer Vertreter des Kopenhagener Strukturalismus diese Ansicht: „Das Weltall besteht nicht aus Gegenständen oder gar aus .Materie', sondern nur aus Funktionen, die zwischen den Gegenständen hergestellt werden." 2 2 6 Es handelt sich also um Strukturen, die jeder objektiven materiellen Basis entbehren, die reale Welt wird als Gesamtheit von Verbindungen interpretiert, in der die „Füllung" der Bestandteile nicht wesentlich ist. Von hier bis zum physikalischen Idealismus ist es sozusagen nur ein Katzensprung. Eine der wichtigsten Quellen des logischen Positivismus war, wie seine Vertreter 169
bekannten, der Konventionalismus Henri Poincarés. Dieser gehört zu den Autoren, gegen die Lenin in dem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" polemisierte, als er die Ursachen der Krise in der Physik seiner Zeit analysierte. Die Interpretation wissenschaftlicher Gesetze als reine Symbole, Konventionen und als „freie Erfindungen", die im Grunde das Ignorieren der objektiven Realität voraussetzte und zur These vom „Verschwinden der Materie" führte, veranlaßte Lenin dazu, Poincaré vorzuwerfen, er mache dem Idealismus und Fideismus Konzessionen. Konventionalistische Ideen sind heute unter einer Reihe der Physiker im Westen verbreitet. „Die Physik g e h t . . . darauf aus", meint der österreichische Physiker und Theoretiker Arthur March, „die tote Materie aus ihrem Weltbild zu tilgen und durch ein lebendiges Spiel von Formen zu ersetzen." Der Begriff der Struktur wird in idealistischem Sinn gedeutet - als Beweis für das „Verschwinden der Materie", die „Entsubstantialisierung" der Materieteilchen verwandt; die physikalischen Gesetze werden als reine Aussagen über die Struktur betrachtet. All das wertet Arthur March als Beweis für das Scheitern der „materialistischen Denkweise". Hier wird Gewünschtes für Wirklichkeit ausgegeben, doch hat March recht, daß diese Deutung der Struktur „mit dem Geist des Materialismus... nicht mehr in Einklang zu bringen ist" 227 . Und noch weniger mit dem des Marxismus. Die Tatsache (und auf sie berufen sich die Anhänger des Strukturalismus gern), daß Marx den Terminus „Struktur" ebenfalls verwendete, besagt an sich noch gar nichts. Ausschlaggebend ist nicht die Übereinstimmung der Termini, sondern ihr wirklicher Sinn. Der Marxismus faßt den Begriff der Struktur zutiefst materialistisch. Ob an den rein räumlichen Aspekt des Begriffs Struktur gedacht ist (wie z. B. in der Kristallographie) oder an eine gewisse Aufeinanderfolge, Anordnung der Atome im Molekül chemischer Verbindungen oder an Strukturen von Prozessen, die im lebenden Organismus ablaufen, oder schließlich an einen besonderen Typ der Menge in der Einheit ihrer Elemente, der in der Mathematik gebräuchlich ist - in diesen Strukturen spiegelt sich die Struktur der uns umgebenden objektiven Wirklichkeit wider. 228 Der Begriff der Struktur, der eine der im Erkenntnisprozeß notwendige Abstraktion ist, widerspiegelt zugleich „objektiv existierende Verbindungen von Elementen, wobei offensichtlich ist, daß es in der materiellen Welt keine Strukturen an sich, außerhalb der Elemente gibt" 229 . Wenn Marx die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse der Gesellschaft als deren ökonomische Struktur betrachtet, meint er, daß sich hinter dieser Struktur nicht irgendwelche halbmystischen „reinen" Beziehungen verbergen, sondern völlig reale ökonomische Zusammenhänge zwischen den Bestandteilen eines objektiv existierenden Ganzen - des gesellschaftlichen Organismus. Entgegen der Meinung der Autoren von „Das Kapital lesen" untersucht Marx die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft nicht als Abstraktion, sondern als Struktur einer bestimmten historischen Formation. 230 Der Strukturalismus hingegen versteht die Struktur anders, und das sind nicht bloß Nuancen der Interpretation, sondern prinzipielle Unterschiede, die im ideell-philosophischen und sozialen Charakter beider Konzeptionen wurzeln. 170
Im Zusammenhang mit dem untersuchten Thema kehren wir noch einmal zum Disput zwischen Strukturalismus und Existentialismus zurück. Die Existentialisten, deren Philosophie der Existenz in ihrer Grundlage dem Marxismus fremd ist, haben im Prozeß der Polemik gegen den Strukturalismus dessen schwache Stellen herausgefunden und beachtenswerte Überlegungen zum Charakter dieser Strömung angestellt. So bringt Sartre nicht ohne Grund das Ahistorische des Strukturalismus mit der im Westen gängigen These vom „Tod der Philosophie" in Verbindung und sieht die Wurzeln dieser beiden Erscheinungen in der „technokratischen Revolution", die für die Philosophie keinen Platz mehr lasse, wenn diese sich nicht auch selbst in Technik verwandele. Ich wiederhole: Der Existentialismus bleibt Existentialismus, und seine antistrukturalistische Ausrichtung ändert nichts an seiner eigentlichen Natur. Aber wenn Sartre von der Schaffung einer neuen Ideologie, der letzten Wehr, die die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten könne, spricht, wenn er Michel Foucault vorwirft, daß er mit seiner Befreiung von der Geschichte auf den Marxismus ziele, 231 dann hat es Sinn, dem Gehör zu schenken, wie immer seine Absichten sein mögen. Bei einem Vergleich von Marxismus und Strukturalismus haben wir es mit Begriffen unterschiedlicher Ebenen zu tun. Die meisten Anhänger des Strukturalismus erheben keinen Anspruch darauf, ein besonderes philosophisches System zu schaffen. „Der Strukturalismus", bemerkt Claude Lévi-Strauss, „ist keine philosophische Doktrin, sondern eine Methode." 232 Gerade dies ermöglicht es, einzelne seiner Verfahren in den Gesellschaftswissenschaften zu verwenden, und verleiht einigen seiner Errungenschaften eine gewisse allgemeinmethodologische Bedeutung. Das gilt besonders für die sozialen Disziplinen, für die ein verhältnismäßig hoher Grad an Diskretion charakteristisch ist - für die Ökonomie, Soziologie, Geschichte, Ethnologie u. a. So die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss (in erster Linie sein grundlegendes Werk „Mythologien") die eine in ihrer Art mustergültige Strukturanalyse Hunderter von Mythen der amerikanischen Indianer enthalten. Für die Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft gibt es auch Forschungen, die wissenschaftliche Bedeutung besitzen. 233 Auch in den Arbeiten sowjetischer Autoren gibt es manches, das die Fruchtbarkeit der Verfahren einer strukturellen sowie einer wahrscheinlichkeits-statistischen Analyse in bezug auf Einzelaspekte des künstlerischen Schaffens bestätigt. Ich berufe mich auf die mathematischen Studien von Akademiemitglied A. N. Kolmogorow zum Versbau. 234 Interessant ist beispielsweise der von Kolmogorow eingeführte Begriff „Entropie der Sprache", worunter Kolmogorow den „Verzweigungsindex der Möglichkeiten zur Fortsetzung der Sprache bei einem gegebenen Wortschatz und gegebenen Regeln für den Satzbau" 235 versteht. Unsere traditionellen und doch recht verschwommenen Urteile über „Geschmeidigkeit", „Reichtum" der Sprache eines Autors können durch das Experiment, durch gewisse objektive Kriterien untermauert werden. Zu den anregenden Ideen der strukturellen Poetik würde ich auch das Opponi
sitionsprinzip zählen, das den Strukturalisten von der Phonologie „eingegeben" wurde. Vor einigen Jahren erregten die Beobachtungen von Wjatscheslaw Ws. Iwanow und W . N. Toporow (die konkreten Beobachtungen, nicht die allgemeinmethodologischen Schlußfolgerungen) zum System der Gegenüberstellungen, die für das altslawische „Weltmodell" charakteristisch sind, Aufmerksamkeit. 2 3 6 Einen bedeutenden Platz nimmt das Oppositionsprinzip in Ju. Lotmans Buch „Die Struktur des künstlerischen Textes" ein. Lotman betrachtet es als eine Art Schlüssel zum Allerheiligsten der inneren Organisation des künstlerischen Textes, zu den Feinheiten des hochkompliziertcn Systems der Vergleiche und Gegenüberstellungen, ihrer Überschneidungen und Wechselwirkungen. In einer Reihe von Fällen bedient sich der Autor dieses „Schlüssels" in recht geschickter Weise. So gelang es ihm am Beispiel eines Gedichtes von Lermontow, den Zusammenhang zwischen Versstruktur und phonologischen Elementen zu zeigen, die bedeutungsunterscheidende Rolle von Wiederholungen aufzudecken. Auch Lotmans Beobachtungen zu einigen Gesetzmäßigkeiten des syntagmatischen Aufbaus des künstlerischen Textes erregten Aufmerksamkeit. Lotman erinnert daran, d a ß schon Lomonossow die „Verbindung weit voneinander entfernter Ideen" als ein wesentliches rhetorisches Verfahren ansah, und nennt die „Vereinigung von Unvereinbarkeiten", die Annäherung von Unterschiedlichem eine Art versteckten Antrieb, eine Quelle der inneren Energie der künstlerischen Struktur. 237 Die poetische Konstruktion erscheint als „besondere Welt semantischer Annäherungen, Analogien, Gegenüberstellungen und Oppositionen, die nicht mit dem semantischen Netz der natürlichen Sprache übereinstimmt, die mit ihr in Konflikt gerät und kämpft" 2 3 8 . Ein solches Herangehen an die künstlerische Konstruktion kann gewisse positive Resultate zeitigen. Hier muß übrigens gleich an die der strukturellen Poetik eigene Tendenz zur Verabsolutierung des Oppositionsprinzips, zur Überschätzung seiner Rolle erinnert werden, die in demselben Buch „Die Struktur des künstlerischen Textes" zu erkennen ist. Lotman neigt offenkundig dazu, die binäre Opposition (Reiche und Arme, Eigene und Fremde, Rechtsgläubige und Ketzer, Feinde und Freunde, Menschen der Natur und Menschen der Gesellschaft usw.) als generelles Prinzip zu werten, das ein Werk ganz durchdringt, das alle seine Ebenen, die ganze Vielfalt der konstruktiven Besonderheiten umfaßt. Eine so globale Deutung des Oppositionsprinzips muß zu Schematismus führen. Und einige Beispiele aus dem Buch zeigen, daß diese Befürchtungen begründet sind. Der Versuch des Autors, unter dem Aspekt dieses Prinzips das Problem des Charakters zu betrachten, ist nicht überzeugend und fruchtbar. Folgendes wird vorgeschlagen: Das Werk (hier das dramatische Genre) in synchrone Schnitte zu zerlegen, von denen jeder „auf besondere Weise die Personen in zwei Lager teilt", danach diese binären Teilungen übereinanderzulegen; die entstandenen „Differenzierungsbündel" sollen dann die Charaktere sein. Auf diese Weise ist der Charakter einer Person „die Gesamtheit aller im Text gegebenen binären Gegen172
Überstellungen zwischen ihr und den anderen Personen (anderen Gruppen)" 239 . Der einzige Vorzug dieser Konzeption vom Charakter besteht darin, daß sie gänzlich dem immanenten Herangehen an das Werk entspricht, aber ist dies nur ein Vorzug? Unsere Theorie kannte seinerzeit schon etwas Ähnliches und hat es überwunden. Auch in Arbeiten von Vertretern der Formalen Schule trat der literarische Held nur in der Rolle des „lebendigen Trägers bestimmter Motive" auf. Boris Tomaschewski schrieb einst: „Die Person ist der Leitfaden, der es ermöglicht, sich in der Anhäufung von Motiven zurechtzufinden, sie ist ein Hilfsmittel zur Klassifizierung und Ordnung der einzelnen Motive." 240 Ich sehe nicht, worin sich diese Person das „Hilfsmittel" (oder, wenn es beliebt, das „Verfahren zur Gruppierung und Aneinanderreihung der Motive") prinzipiell von Lotmans „Gesamtheit... binärer Gegenüberstellungen" unterscheidet. Noch ein Beispiel, das zur Vorsicht beim Umgang mit dem Oppositionsprinzip mahnt - Lotmans Analyse des Vierzeilers aus Zwetajewas Gedicht „Die Grotte" (Zyklus „Verse an eine Waise"). In dem Bestreben, um jeden Preis den Inhalt des Werkes in den Rahmen der Opposition „ich - du" zu bringen, teilt Lotman alle vorkommenden Wörter in Paare ein; es entstehen fünfzehn Wortpaare gemäß ihrer zunehmenden phonologischen Nähe. Eine solche Operation führt dazu, daß das Werk zerlegt wird, die Geschlossenheit seiner Struktur verlorengeht, und wir haben es im Ergebnis „nicht mehr mit dem Text der Zwetajewa, sondern mit dem weit davon entfernten Text Ju. Lotmans" zu tun. 241 Ähnliches geschieht mit den Versen N. Sabolozkis, die ausschließlich unter dem Aspekt der modellierenden Rolle der Opposition „oben - unten" betrachtet werden. Wieder wird eine Reihe von Variantengegenüberstellungen aufgebaut, durch die angeblich die „Grundachse ,oben - unten'" realisiert wird: weit - nahe, geräumig - eng, Bewegung - Unbeweglichkeit usw. Und ich, Lebendiger, streife über die Felder, Ging ohne Furcht in den Wald, Und die Gedanken der Toten als durchsichtige Säulen Um mich erhoben sieb bis zum Himmel. Lotman nimmt an, die hervorgehobenen Wörter ließen die Schlußfolgerung zu, daß „das Denken in Sabolozkis Lyrik ständig als vertikales Aufsteigen der befreiten Natur" 2 4 2 hervortritt. Also triumphiert die Idee der allumfassenden Opposition „oben - unten", aber mit ihr triumphiert leider auch trockene Geradlinigkeit in der Deutung der poetischen Bildhaftigkeit. Der Grund liegt hier offensichtlich darin, daß das Oppositionsprinzip sich nur als Element der formalisierten Sprache des Werkes erweist, sein Zusammenhang mit dem inhaltlichen Aspekt ist Schein. Hierauf hat übrigens seinerzeit B. Marjew, einer der wenigen Rezensenten der 73
„Vorlesungen zur strukturellen Poetik", aufmerksam gemacht. Seiner Meinung nach „sucht Ju. Lotman häufig . . . die Oppositionen in der Textstruktur, was zu einer Ignorierung des künstlerischen Kontextes führt". Dasselbe kann man über die rein formale Einteilung aller künstlerischen Erscheinungen in zwei Kategorien sagen die „Ästhetik der Übereinstimmung" und die „Ästhetik der Gegenüberstellung": „die Untersuchung der i n h a l t l i c h e n . . . Seite würde sofort die Strenge des vorgeschlagenen Schemas stören" 243 . In den oben angeführten konkreten Beispielen zum Oppositionsprinzip zeigte sich mit aller Deutlichkeit eine der wesentlichen Schwächen der strukturellen Schule: Sie kann bis jetzt nicht beweisen, daß ihre Poetik in der Praxis nutzbringend ist. Die Versuche, ihre Postulate auf Erscheinungen der Kunst anzuwenden, wirken meist gezwungen. Eine mehr oder weniger systematische Anwendung struktureller Methoden in der Literaturwissenschaft ist bis jetzt eher als Möglichkeit denn als reale Tatsache anzusehen. Diese Barriere zu überwinden gelingt auch Lotman nicht. Die meisten der einer konkreten Analyse gewidmeten Seiten haben eigentlich den Charakter von Illustrationen zu theoretischen Behauptungen. Natürlich gibt es auch gelungene Analysen, aber man kann sich trotzdem schwer des Gefühls erwehren: W a s neu ist, das ist bei weitem nicht immer überzeugend und annehmbar, und was wirklich interessant ist, das geht im allgemeinen nicht über den Rahmen der traditionellen Poetik hinaus, mit Ausnahme der ungewohnten Terminologie. Bei dieser Gelegenheit etwas zur Terminologie. Die Erneuerung des terminologischen Arsenals ist ein natürlicher und notwendiger Prozeß, und er soll weder Schrecken noch gar übertriebene Aufmerksamkeit hervorrufen. Jedoch kann eine solche Erneuerung an sich nicht als Garantie für einen Fortschritt der Wissenschaft gelten. Wirklich gerechtfertigt ist sie nur dann, wenn sie der Erweiterung des Begriffssystems dient und, nach den Worten von Niels Bohr, „nicht nur Ordnung innerhalb der einzelnen Zweige der Wissenschaft geschafft [hat], sondern auch Ähnlichkeit unserer Stellung bei der Analyse und Synthese von Erfahrungen innerhalb anscheinend getrennter Wissensgebiete e n t h ü l l t . . Z'244 Entspricht dieser Forderung die neueste Terminologie, von der die Arbeiten der Vertreter der strukturellen Schule so gesättigt sind? Es ist noch nicht bewiesen, d a ß wir, wenn wir in die Literaturwissenschaft solche Termini wie „Information", „Geräusch im Verbindungskanal", „Kode", „Kodierung", „Invariante" u. ä. einführen, tatsächlich auf diesem Gebiet „Ordnung schaffen". „Eine organische Verschmelzung von Terminologie und Beschreibung", hieß es kürzlich in einer Rezension zu B. Uspenkis Buch „Die Poetik der Komposition", „ist nicht zu spüren; die neuen Bezeichnungen nehmen sich in einer Darlegung, deren Stütze die traditionellen literaturwissenschaftlichen Begriffe gewöhnlich sind, nicht als verbindlich aus." Der Rezensent betrachtet diese Zwiespältigkeit des terminologischen Apparates als einen Beweis für methodologische Zwiespältigkeit und Unklarheit. Er anerkennt, d a ß das Buch viele gelungene Einzelbeobachtungen zum 174
Thema enthält, sieht aber in ihnen nichts „spezifisch Semiotisches". Bei der Beschreibung bestimmter Varianten der Komposition, verschiedener Erscheinungsformen der „Standpunkte" vollzieht B. Uspenski im Grunde „Untersuchungsoperationen, die vor ihm wiederholt und in analoger Weise vorgenommen wurden" 245 . Es drängt sich der Schluß auf, daß wir es mit einem Verfahren zu tun haben, das für die Literatur zur strukturellen Poetik typisch ist. Die Einführung der neuen Terminologie sollte doch wohl die Exaktheit der Kriterien der Literaturwissenschaft erhöhen. Was aber geschieht in der Praxis? Denken wir nur an Lotmans Analyse der Poesie N. Sabolozkis: dieselbe Vagheit, dieselbe Willkürlichkeit - nur im Gewand einer supermodernen Terminologie . . . Viele Termini, die vom Autor und von seinen Kollegen weitgehend als „exakte" Termini verwendet werden, erweisen sich bei einer Überprüfung als recht verschwommen, ihre Konkretisierung kann Gegenstand von Disputen und verschiedensten Auslegungen werden. Und kein anderer als Lotman schrieb einst, daß Begriffe solcher Art überhaupt nicht als Termini anzusehen seien.246 Offenbar ist die Frage der Exaktheit in der Literaturwissenschaft nicht so einfach, wie es manchmal scheint,2'17 und bislang ist durchaus nicht klar, ob die strukturelle Poetik wirklich in dieser Richtung irgendwelche neuen Perspektiven eröffnet. Dafür zeichnet sich eine andere Schlußfolgerung ziemlich klar ab: Selbst die erfolgreichsten Anwendungsversuche der strukturellen Analyse, semiotischer, mathematischer, wahrscheinlichkeitsstatistischer Methoden sind vorwiegend mit speziellen Aspekten des künstlerischen Schaffens verbunden, in denen Elementen, die sich wiederholen, die berechnet werden können, eine wichtige Rolle zukommt. Entweder sind es Versuche, die Wahrscheinlichkeitstheorie auf den Versbau anzuwenden, wo der künstlerische Effekt nicht selten von der Wiederholung bestimmter Formen abhängt, oder es handelt sich um eine wahrscheinlichkeitsstatistische Analyse einzelner Sprachkomponenten eines Schriftstellers. 248 Schließlich können es auch Untersuchungen folkloristischer Muster sein, denen bis zu einem gewissen Grad eine Statik, eine Wiederholbarkeit der Formen eigen ist. 249 Dies erkennen die Strukturalisten auch selbst an. „Die semiotische Analyse", lesen wir bei I. Rewsin, „wird bislang nur auf die einfachsten Formen und Aspekte des Kunstwerks angewandt. Geht es aber um die Analyse abgeschlossener Sachen, so können mit strukturellen Methoden vorläufig nur so relativ einfache und massenhaft vorhandene Erscheinungen wie Scherzgedichte, Rätsel, Bylinen, Märchen, Sagen untersucht werden." 250 Ich möchte die Wichtigkeit solcher Forschungen in keiner Weise in Zweifel ziehen; letztendlich können sich bei vernünftigem Herangehen alle in dieser Richtung unternommenen Versuche als nützlich erweisen. Es gibt einzelne Versuche, semiotische Methoden auf die Analyse des Schaffens von Puschkin, Lermontow, Tolstoi anzuwenden. Doch auch hier beschränkt sich die Angelegenheit auf eine Lösung eng begrenzter, spezieller Aufgaben. Im schlimmsten Fall muß man von unzulässiger Vulgarisierung sprechen. Es sei nur auf jene Konzeption verwiesen, 175
nach der das Kunstwerk eine „Erfindung" ist, die „eine konkrete technische Aufgabe" realisiert, und die „Demonstration seines Entstehens aus bestimmten Themen und Material nach gewissen ständigen Regeln" seine strukturelle Beschreibung ist.251 Hierher gehört auch die „in vollem Ernst" ausgesprochene Annahme, daß ein Automat, der io 20 verschiedene Operationen hat, einen „Eugen Onegin" schreiben könnte.252 Zu solchen Ansichten nehmen allerdings einige Anhänger des Strukturalismus unzweideutig und scharf Stellung. Lotman äußert sich sehr kritisch zu der Möglichkeit, ein „Generationsmodell" des „Eugen Onegin" zu schaffen. Wjatscheslaw Iwanow 253 nennt die Analysen A. Sholkowskis und J. Stscheglows „halbparodistisch" und unterstreicht, daß diese Analysen „noch sehr weit entfernt" sind von ernster Literaturwissenschaft. Wichtig ist jedoch nicht nur, sich von Extremen abzugrenzen, sondern auch zu begreifen, auf welchem Boden sie entstellen konnten. Geht es im vorliegenden Fall nicht um eine dem Strukturalismus organisch eigene Überschätzung der realen Möglichkeiten bei der Anwendung struktureller Methoden in den Gesellschaftswissenschaften insgesamt und in der Kunstwissenschaft im besonderen? Lotman stellt z. B. direkt die Frage nach der Entwicklung einer „neuen Methodologie der Humanwissenschaften"254. Allerdings beschließt Lotman sein Buch „Die Struktur des künstlerischen Textes" mit den Worten, daß „jede Beschreibung einer Strukturebene zwangsläufig mit dem Verlust des semantischen Reichtums des Textes verbunden ist" 255 . Dieses Bekenntnis ist doppelt wertvoll, weil man es selten zu hören bekommen wird. Aber im ganzen gesehen ist für unsere strukturelle Schule trotzdem die Tendenz charakteristisch, Spezielles als Allgemeinbedeutsames auszugeben. Einzelne Analyseverfahren, bestimmte Ideen, die eine durch und durch heuristische Bedeutung haben, werden als allumfassende Gesetzmäßigkeiten, als absolute Norm aufgefaßt. Wenn Synchronie - dann nur Synchronie, zum Schaden der Geschichte. Wenn objektive Strukturen - dann nur sie, der Mensch wird nicht mehr berücksichtigt. Wenn Verbindung mit der Linguistik - dann wird letzteres zur Wissenschaft der Wissenschaften erklärt. Wenn Oppositionsprinzip - dann wird jede beliebige Erscheinung nur auf dieses zurückgeführt usw. usf. Der Strukturalismus, der gemäß seinem Charakter eine ergänzende Methode ist, die nur in Verbindung mit anderen Methoden sinnvoll ist, erhebt völlig unbegründet Anspruch auf Universalität. Und das ist vielleicht eines seiner Hauptübel. Solche Ansprüche rufen einen sehr aktiven Widerstand hervor, was sich negativ auf die Art der Diskussionen auswirkt und einer objektiven Bewertung selbst dessen, was die strukturelle Schule real geleistet hat, nicht förderlich ist. A. Belezki bemerkte, als er Wiktor Schklowskis Buch „Über die Theorie der Prosa" rezensierte: „Im ganzen - eine Reihe interessanter Beobachtungen, die einen unbedingten Wert hätten, wenn der Autor sie nicht immer wieder durch Exkursionen in die Sphäre weiter Verallgemeinerungen unterbrochen hätte.. Z'256 Etwas Ähnliches kann man heute auch über einige Strukturalisten sagen. Der Hang zu ungerechtfei:176
tigten Verallgemeinerungen, ständige Bemühungen um die Führungsposition hindern sie daran, sich mit der Ausarbeitung der Probleme zu befassen, bei denen die Anwendung struktureller Methoden wirklich von Nutzen sein könnte. Das zeigt sich sogar in den Arbeiten der interessantesten Vertreter der strukturalistischen Literaturwissenschaft. Die vor einigen Jahren veröffentlichten „Vorlesungen zur strukturellen Poetik" von Lotman wurden von vielen als verheißungsvoll angesehen. Strittiges gab es in diesem Konspekt übergenug, aber die Gedankenschärfe, der untraditionelle Charakter der Urteile schienen etwas Neues zu versprechen. Das Buch „Die Struktur des künstlerischen Textes" ist ruhiger, akademischer. Wir haben hier weniger das Manifest einer entstehenden Schule vor uns als vielmehr ein Statut und Programm. Viele Formulierungen sind jetzt mit Rücksicht auf schon zu hörende sowie mögliche Kritik ausgefeilt. Eine große Anzahl verschiedenster Vorbehalte, Warnungen, „präventiver" polemischer Abschweifungen und derlei Verfahren tauchten auf. Dies bot dem Buch in einer Reihe von Fällen größeren Schutz vor Kritik, erhöhte jedoch seine Überzeugungskraft nicht. Die methodologischen Ausgangspositionen blieben ebenso anfechtbar. Prinzipiell Neues im Vergleich zu den vorangegangenen Arbeiten dieses Autors gibt es hier im wesentlichen nicht. Dafür sind Frische und Überraschungseffekt - vorher das Anziehende daran - wie verflogen. Rächt sich hier nicht vielleicht auch die allzu große Überzeugtheit von der Universalität der strukturell-semiotischen Methoden, deren Wirkungsbereich auf die formallogische Ebene beschränkt ist? Zweifellos eröffnet der Formalisierungsprozeß eines bestimmten Wissenssystems, der auf einer eindeutigen Interpretation der Begriffe basiert und die Festlegung eines ein für allemal gegebenen, wiederum eindeutigen Inhalts bedeutet, im Prinzip weite Möglichkeiten für eine logisch-mathematische Bearbeitung von Fakten und ist als solche progressiv. Jedoch ist dieser Prozeß nicht grenzenlos. „Prinzipiell ist die völlige Formalisierung einer Wissenschaft, die es mit konkreten Gegenständen zu tun hat, nicht möglich, da es unmöglich ist, die Erkenntnis, den unendlichen Prozeß der Bereicherung unseres Wissens mit seinen zahllosen Seiten zu formalisieren" 257 , schreiben die Autoren einer Kollektivarbeit hierzu. Spezialisten kommen zu dem Schluß, daß die Möglichkeiten, einen Algorithmus oder ein Gesetz zu finden, das es erlaubt, für einen bestimmten Aufgabenkreis einen Lösungsweg jeder beliebigen dieser Aufgaben zu weisen, selbst im Bereich des exakten Wissens nicht unbegrenzt sind. 258 Was soll man dann von der Kunst sagen? Ihre Interpretation kann doch überhaupt nicht auf eine formallogische Ebene reduziert werden, sie hängt von einer ganzen Reihe anderer Faktoren ab - sozialen, historischen, psychologischen u. a. „Diese Vieldeutigkeit der Kunst", unterstreichen die Rezensenten der „Vorlesungen zur strukturellen Poetik", „engt die Verwendungsmöglichkeit der für den Aufbau eines Zeichensystems so notwendigen exakten Sprache der Wissenschaft beträchtlich ein." 259 Überhaupt ist der philosophische Aspekt des Problems bei weitem noch nicht 12
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geklärt. Besonders viel Verwirrung herrscht bezüglich der Wechselbeziehung zwischen Strukturalismus und Dialektik. Unter den Strukturalisten selbst ist die Ansicht verbreitet, daß die strukturelle Methode eben die dialektische Methode sei. Das Oppositionsprinzip wird nicht nur als universales Prinzip des Aufbaus künstlerischer Strukturen, sondern überhaupt als höchste Verkörperung der dialektischen Einheit der Gegensätze gewertet. „Das entscheidende, wesentliche Element der strukturalistischen Theorie", lesen wir in dem Sammelband „Struktur und Sinn des literarischen Werkes" (Prag 1966), sei die Dialektik, die Fähigkeit, mittels der dialektischen Analyse den dialektischen Charakter der Wirklichkeit zu erfassen. Auch eine andere Ansicht wird vertreten. Der französische Marxist Lucien Sève meint, daß die strukturelle Methode und die dialektische Methode durchaus nicht identisch sind, sondern sich zueinander verhalten wie die formale Logik zur dialektischen Logik. Nach seiner Meinung könne „die strukturelle Methode charakterisiert werden als eine sehr entwickelte nichtdialektische Logik der segments internodaux (Verknüpfungssegmenté) dialektischer Widersprüche"260. Die Aufdeckung dialektischer Widersprüche gehört nicht zu den starken Seiten der strukturellen Methode. „Dialektik schließt Historizität ein" 261 , bemerkte Lenin, aber der Strukturalismus steht mit der Geschichte nicht auf gutem Fuß. Viel mehr entspricht seiner Natur die sich wechselseitig ergänzende Gegenüberstellung von Fakten, Erscheinungen, Strukturen. Diese Beziehungen finden vor allem im Oppositionsprinzip ihre Widerspiegelung. Letzteres ruft eher Assoziationen zu der in der Kybernetik gebräuchlichen sogenannten Binärberechnung als zu der dialektischen Einheit der Gegensätze hervor.26? Das Oppositionsprinzip kann helfen, wenn es um den Mechanismus von Erscheinungen geht, doch dieses Prinzip als universal und erschöpfend vom Standpunkt der Dialektik zu betrachten heißt, sich unbegründeten Illusionen hingeben. Reale Perspektiven eröffnet in dieser Beziehung die marxistische wissenschaftliche Methode. Lucien Sève hat in seiner dem Strukturalismus gewidmeten Arbeit gut gezeigt, wie tief und peinlich genau Marx im „Kapital" den Mechanismus des Übergangs vom Kreislauf W - G - W , d. h. von der Formel der einfachen Warenzirkulation, zur allgemeinen Formel des Kapitals (Kreislauf G - W - G ) untersucht, um danach den Mechanismus der Entstehung des Mehrwerts und den Prozeß des Klassenkampfes aufzudecken und zu verstehen. Auf diese Weise ist nicht die Ignorierung relativ unveränderlicher Mechanismen, sondern im Gegenteil ihre aufmerksame Beachtung, die Untersuchung ihres Funktionierens charakteristisch für die marxistisch dialektische Methode, und zwar keine immanente, sondern in organischem Zusammenhang mit der Dialektik der lebendigen Entwicklung stehende Untersuchung. Gerade diese Methode erlaubte es zu beweisen, daß „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist" 263 . Der Strukturalismus, meint Lucien Sève, ist zu einer solchen Analyse nicht imstande, denn er ist in seiner Grundlage eine „undialektische Alternative zum Marxismus".264 178
Wenig ändert in dieser Beziehung der von dem französischen Psychologen Jean Piaget unternommene Versuch, die Struktur mit der Genesis zu versöhnen, indem er die Konzeption vom sogenannten genetischen Strukturalismus 265 entwarf. Letzterer wird dem „statischen" Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss entgegengestellt, dem Jean Piaget vorwirft, er betrachte die Struktur als eine Gegebenheit und lasse ihren Entstehungsprozeß außer acht. Jean Piaget schreibt: „.. . zwischen Genesis und Strukturen besteht eine notwendige Wechselbeziehung : die Genesis ist immer nur der Übergang von einer Struktur zu einer anderen, aber ein formierender Übergang, der vom Schwächeren zum Stärkeren führt, und die Struktur ist immer nur ein Transformationssystem, dessen Wurzeln aber in Aktion sind." 266 Lucien Sève, der die Konzeption des „genetischen Strukturalismus" kommentiert, leugnet nicht, daß sie einen rationellen Kern hat, sieht jedoch keinen Grund, die „zum Gleichgewicht neigende" Genesis Jean Piagets als Äquivalent der dialektischen Auffassung von der Entwicklung zu betrachten. 267 Genesis und Struktur nähern sich hier auf der Grundlage des Ergänzungsprinzips an. Auf der Suche nach Argumenten, die die dialektische Natur des Strukturalismus bestätigen, wenden sich seine Anhänger in letzter Zeit den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften zu, in der Hoffnung, hier irgendwelche wichtigen Zusammenhänge, Übergänge, Überschneidungen zu entdecken. Sehr bezeichnend in diesem Sinn sind die Materialisten der Pernsehdiskussionen „Leben und reden" 268 . Leitmotiv des Disputs wurde die Idee, daß es zwischen Linguistik, Anthropologie, Biologie, Genetik Berührungspunkte gibt. Dabei wurden Momente, die mit Begriffen wie Struktur, Kommunikationssystem, Information u. ä. verbunden sind, als vereinend herausgestellt. Besonderen Nachdruck legte man auf die (für die Phonologie äußerst wichtige) These von der Kombination einfacher Einheiten als Prinzip zur Schaffung komplizierter Erscheinungen. Gerade in diesem Punkt wird eine „Brücke" von linguistischen Systemen zu den Systemen der Molekulargenetik geschlagen. Roman Jakobson z. B. meint, daß die Vorstellung der Genetiker von den Signalen, die Anfang und Ende bezeichnen, „vollkommen dem entspricht, was Trubezkoi in der Linguistik .Grenzsignale* nannte". Wir können, wenn wir das für die Linguistik charakteristische hierarchische Prinzip damit vergleichen, wie sich in der Genetik die differenzierende Rolle der sogenannten Untereinheiten im Prozeß ihrer Kombination äußert, uns überzeugen, daß die menschliche Sprache und der genetische Kode im Grunde analog funktionieren. „Wir Linguisten", betonte Roman Jakobson, „sagten gewöhnlich in unseren Vorlesungen, daß es kein anderes Beispiel für eine solche Hierarchie dieser leeren Elemente gebe, die danach, in ihren Kombinationen, einen großen Reichtum an Ausdrucksmitteln schaffen. Nun! Da haben Sie die nächstliegende Analogie. Und die wesentlichen Ergebnisse bestehen darin, daß eine endliche Anzahl dieser unterschiedlichen Stufen kodierter Elemente es ermöglicht, Mitteilungen von großer Länge und von höchst erstaunlicher Vielfalt zu erhalten. Genauso wie in der Genetik, wo es keine zwei Personen gibt, die völlig gleich wären, ist es auch in Fragen der Sprache." 12:
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Diese Gedanken wurden in den Beiträgen anderer Teilnehmer des Disputs unterstützt und entwickelt. Claude Lévi-Strauss: „Die tiefe Analogie zwischen dem, was Sie in der Zellgenetik und in der Sprache finden, besteht darin, daß die Kombination von Elementen, die des Sinns entbehren und die einfach sind, nicht nur etwas Komplizierteres ergibt, sondern etwas, das sich als Träger eines bestimmten Sinns erweist." François Jacob: „Wir Molekulargenetiker waren äußerst überrascht von dieser Ähnlichkeit, die zwischen genetischem Kombinieren und sprachlichem Kombinieren besteht." Philippe L'Héritier: „ . . . ich denke, daß dieses System der Weitergabe von Informationen und einer beträchtlichen Menge an Informationen, das im Menschengeschlecht dank der Sprache möglich ist, wirklich in die Welt der Biologie eine neue Form von Erblichkeit eingeführt hat, die man soziale Erblichkeit oder vielleicht Erblichkeit der Sprache nennen k a n n . . . " Ähnliche Ideen sind auch in dem Ende 1970 erschienenen Buch des Nobelpreisträgers Jacques Monod „Zufall und Notwendigkeit. Untersuchungen naturphilosophischer Probleme der heutigen Biologie" enthalten. Inwieweit solche Versuche, den linguistischen Strukturalismus den Naturwissenschaften zu nähern, begründet sind, wird die Zukunft lehren. Offensichtlich stehen Diskussionen zu diesen Problemen noch bevor, und es ist zu hoffen, daß sie konstruktiv sein werden. Die Frage nach Charakter und Wesen dieser oder jener Methode, nach ihren Anwendungsgrenzen, weist außer einem sozusagen ganz praktischen auch noch einen allgemeinphilosophischen und einen ideologischen Aspekt auf. Vor unseren Augen tritt die Methodik mit dem Anspruch auf, als Methodologie zu gelten; in dieser Eigenschaft ist sie nicht abgeneigt, auch die Ideologie zu ersetzen. Folgt hieraus nicht für uns die Verpflichtung, diese Begriffe nicht nur deutlich abzugrenzen, sondern auch den dialektischen Zusammenhang zwischen ihnen zu sehen? Man kann schwer jenen zustimmen, die da meinen, daß „jede ideologische Kritik der Mathematisierung der Gesellschaftswissenschaften den wirklichen aktuellen Erfordernissen der Entwicklung einer modernen wissenschaftlichen marxistischen Methodologie fremd ist" 269 . Warum denn jede? Fremd ist offensichtlich die vulgarisierende Kritik, die jede Anwendungsmöglichkeit exakter Methoden rundweg ablehnt; dies ist aber eine pseudo-ìà&Aogiséie. Kritik. Doch eine tiefe allseitige Analyse der ideologischen, philosophischen, sozialen Aspekte dieser Methodologie, die Klärung ihrer Wurzeln, ihrer Berührungspunkte sowohl mit dem Marxismus als auch mit ihm feindlichen philosophischen und ästhetischen Systemen, die Erarbeitung einer klaren und konstruktiven Position in dieser Frage - das alles ist keine fremde, sondern eine ganz einfach notwendige und aktuelle Sache. Man muß B. Mejlach zustimmen, der schreibt, daß es falsch wäre zu glauben, „die in der neuen Etappe der heutigen Wissenschaft aufgetauchten, mit der Kybernetik verbundenen methodologischen Probleme hätten keinerlei Beziehung zur Literaturwissenschaft"270. Dabei ist es für die Anerkennung, daß die Verwendung strukturell-semiotischer 180
Methoden zur Untersuchung des künstlerischen Schaffens in gewissen Grenzen möglich ist, überhaupt nicht notwendig, dem Strukturalismus das Aussehen des Marxismus zu geben. Um den realen Wert, die realen Möglichkeiten struktureller Methoden, ihren wirklichen Platz im gesamtmethodologischen Arsenal der Literaturwissenschaft zu bestimmen, ist die wissenschaftliche Objektivität erforderlich. Und trotzdem erlaube ich mir, in subjektivem und - wenn man so will, emotionalem Ton zu schließen . . . Natürlich ist es naiv zu glauben, man könne einzig und allein „mit L i e b e . . . von dem, was sein wird, Skizzen" zeichnen (W. Chlebnikow) - man braucht dazu auch „Kreide", d. h. Wissenschaft, exaktes Wissen, Berechnung. Ohne sie wird man auch bei der Untersuchung der Kunst nicht auskommen. Puschkin beispielsweise wußte das; nicht umsonst dachte er zusammen mit einer seiner Gestalten darüber nach, warum „der Gedanke schon mit vier Reimen versehen, in regelmäßigen einförmigen Versfüßen aus dem Kopf des Dichters hervorgeht". Tschechow gab sich ebenfalls der „bezaubernden Versuchung" hin - dem Wunsch, das allgemeine Gesetz und die Formel zu erkennen, nach denen ein Kunstwerk entsteht. Doch das analytische Skalpell kann sich in ein gefährliches Instrument verwandeln. Wichtig ist, in wessen Händen es sich befindet. Iwanuschka, Held im „Atommärchen." des jungen Dichters J. Kusnezow, experimentiert mit einem Frosch, ohne zu ahnen, daß er eine schöne Prinzessin tötet. Für ihn ist wichtig, d a ß der Frosch „für eine gerechte Sache taugt", und ohne zu zögern präpariert er den „weißen königlichen Körper", leitet elektrischen Strom hindurch . . . Unter langen Qualen starb sie. In jeder Ader pulsten Jahrhunderte. Und ein Lächeln des Erkennens spielte Auf dem glücklichen Gesicht des Dummkopfs. 271 Puschkins Salieri ist kein Iwanuschka - er ist klug. Doch seine Klugheit ist inhuman. Ein starker Mensch und ein ungewöhnlicher Musiker, doch er versteht nicht, daß Schaffen etwas Ganzheitliches ist, daß die in eine Leiche verwandelte Musik nicht wieder zum Leben erweckt werden kann, selbst wenn man wie er „in der Wissenschaft erfahren" ist. Sein Versuch, Harmonie an Algebra zu prüfen, wird zu einem Anschlag auf die Harmonie. Wenn Salieri auch Talent hat, wie Belinski meint, so ist es das Talent eines Handwerkers, aber nicht das eines schöpferischen Menschen. Können ist unabdingbare Voraussetzung des Schaffens, aber es ist noch nicht Kunst. Der ganze Weg Salieris, als dessen lebendige Negation Mozart auftritt, ist ein anschaulicher Beweis dafür, daß wahre Kunst und selbst gediegenstes Handwerk unvereinbar sind. Deshalb kann ich Sergej Eisensteins Interpretation nicht zustimmen, der beabsichtigte, einen seiner Sammelbände dem „armen Salieri" zu widmen und ihn 181
einen „Suchenden" 2 ' 2 nannte. Salieritum wird von uns trotzdem nicht als ein Symbol des Suchens des Neuerertums, der Meisterschaft aufgefaßt, sondern als ein dem Schöpfertum feindliches Prinzip, als eine die Kunst verzehrende K r a n k h e i t . . . Zudem scheint diese Krankheit erblich zu sein . . . Man kann Wiktor Schklowski verstehen, wenn er in dem Buch „Bogensehne" da$ OPOJAS von Salieri abzugrenzen sucht. Aber Salieris Unglück besteht nicht einfach darin, daß er „den Weg änderte, weil man es ihm geraten hatte" 273 . Salieri wollte der Kunst dienen, liebte aber das Leben nicht und verachtete die Menschen. Und was ist vom Formalismus zu sagen? Andrej Bely rief „jeden, der die Kunst liebt", in die Abgeschiedenheit des Kabinetts, in die „Katakomben", sah ringsum nur Räuber und von einer blinden Menge umgebene Savonarolas. Die Theoretiker des OPOJAS „nahmen" die Kunst hingerissen „auseinander"; so nimmt ein Kind sein Lieblingsspielzeug auseinander, und es kommt ihm nicht in den Sinn, daß es dieses damit für immer verliert. Ist jetzt der Strukturalismus (ich meine seine extremsten Formen und Erscheinungen), von dem Wunsch besessen, die Ziffernchiffre zum Geheimschloß an den Pforten der Kunst zu suchen, tatsächlich bereit, der Algebra nicht nur die Harmonie, sondern auch den Menschen zum Opfer zu bringen? Seinerzeit äußerte ein Forscher, der „Mozart und Salieri" kommentierte, die Vermutung, Salieris Tage seien gezählt, die Tat, die er begangen hat, werde zu schwer auf ihm lasten, er werde mit den ihn plötzlich befallenden schrecklichen Zweifeln an der eigenen Genialität nicht fertig werden. „Die physische Lösung hat der Dichter vor uns verborgen, doch ist dies nur ein tiefsinniges künstlerisches Verfahren. Wir brauchen nicht daran zu zweifeln, wir wissen, wie wenig Salieri das Leben liebt, wie oft es ihn eine unerträgliche Qual dünkte." 274 Diese Version bestätigt sich jedoch nicht. Er ist wie ein düsterer, hartnäckiger Schatten der Kunst, dieser S a l i e r i . . .
Zu Problemen der semiotischen Strukturanalyse
Nichts beeindruckt uns an fremden Sitten, Bräuchen und Lebensgewohnheiten mehr als die völlige Andersartigkeit im Vergleich zu dem, was wir als Norm zu betrachten gewohnt sind. Ilja Ehrenburg berichtete über seine Reisen durch China, daß er stets zutiefst berührt war, wenn Menschen über ihren Kummer lächelnd sprachen. Das gilt dort als Zeichen besonderer Höflichkeit und Sorge um den inneren Frieden desjenigen, mit dem man spricht. Dieses Verhalten weckte in Ehrenburg den Wunsch, sich gründlicher mit der Vielfalt von Sitten und Gewohnheiten zu beschäftigen. Er wollte nun genau wissen, was sich hinter dem Ausspruch „fremde Länder, fremde Sitten" verbirgt. 1 Doch letztendlich gleicht das Lächeln auf dem Antlitz eines von Kummer und Schmerz erfüllten Menschen der floskelhaften Anrede „Ehrenwerter Herr!" in einem Brief, in dem der Empfänger gerade des Betrugs bezichtigt wird. Soweit mir bekannt ist, hat sich Ilja Ehrenburg nicht mit semiotischen Studien befaßt. Interessanterweise beziehen sich Semiotikforscher aber gern auf seine Beobachtungen, wenn sie sich mit der Vielfalt von Sitten und Gebräuchen dieses oder jenes Volkes als Zeichensystem, als Sprache eigener Art, auseinandersetzen. 2 Als eine charakteristische Besonderheit des Zeichens hob Ehrenburg seine Willkürlichkeit, seine Konventionalität hervor. Wenn die Trauer nicht nur durch die schwarze, sondern auch durch die weiße Farbe, wie in China, ausgedrückt werden kann, bedeutet dies, daß das Zeichen durchaus nicht immer und nicht obligatorisch durch den inneren Gehalt des von ihm zu substituierenden Objekts bedingt wird. Dies ist eine Seite des Problems. Kommt man in ein anderes Land, stellt man häufig fest, daß dort völlig andere Sitten und Bräuche herrschen. Die Kausalität zwischen Zeichen und Objekt wird in ganz besonderem Maße als fremdartig empfunden. Die Gegenüberstellung verschiedener Zeichensysteme - und darum handelt es sich gerade bei Ehrenburg - läßt sowohl die Relativität als auch die Stabilität des Zeichens innerhalb des einen oder anderen Systems offenbar werden. 183
N o r m und Abweichung sind unmittelbar miteinander verbunden und können außerhalb dieser Korrelation von uns nicht erfaßt werden. Dies ist ein echter dialektischer Prozeß. Darüber schrieb auch Ferdinand de Saussure. E r bezeichnete den scheinbaren Widerspruch zwischen der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens und seiner „Verbindlichkeit" für das sich einer gegebenen Sprache bedienende Kollektiv scharfsinnig als „Zugzwang". „Als würde man zur Sprache sagen: , W ä h l e ! ' " und gleichzeitig hinzufügen, „aber dieses und kein anderes Zeichen." 3 Von de Saussure stammt auch der bekannte Vergleich zwischen Sprache und Schachspiel, den er anstellte, um die inneren Merkmale zu enthüllen, die sie zu Systemen werden ließen, die in Übereinstimmung mit bestimmten Regeln aufgestellt worden waren und deshalb auch über eine eigene „Grammatik" verfügen müssen. Heute unternehmen Wissenschaftler den interessanten Versuch, die Analogie zwischen Sprache und Schach aufzuklären, indem Elemente, Relationen und Operationen in beiden Systemen einander gegenübergestellt werden. 4 Meines Erachtens wird dabei zu wenig berücksichtigt, d a ß der G r a d der historischen und sozialen Relativität der Beziehungen zwischen Zeichen und Objekt in einem Sprachsystem ungleich höher ist als beim Schachspiel. Wichtig ist jedoch, d a ß hier Saussures Gedanke klar und deutlich demonstriert w i r d : Das Normative als obligates Merkmal eines jeglichen Zeichensystems bildet die Voraussetzung seiner Stabilität. W a s liegt dieser Stabilität zugrunde? D i e Fixiertheit der Beziehungen, jener G r a d ihrer Konstanz, der notwendig ist, um einer gewissen Anzahl von Elementen die Züge einer stabilen Struktur verleihen zu können. „Würde beispielsweise das Rot der Ampelregelung erst das Verbot, die Straße zu überqueren, signalisieren, danach aber plötzlich dazu auffordern, und nach einiger Zeit wieder etwas ganz anderes bedeuten, würde sich dieser Wechsel zudem völlig systemlos vollziehen", so hätte natürlich, wie Michail Chraptschenko richtig bemerkt, „das Rot als gültiges Zeichen völlig seinen Sinn verloren" 5 . An eben jenem klassischen Beispiel, dem Schach, tritt das charakteristische Merkmal eines Zeichensystems deutlich zutage. Das Schachspiel kam nach Europa wahrscheinlich über Persien. Hergestellt wurden die Schachfiguren aus Elfenbein oder Holz, aus Bernstein oder Teig - alles das sind jedoch relative Merkmale konventionellen Charakters, die für das Wesen des Spiels keinerlei Bedeutung haben. D i e Zahl der Figuren und ihre Funktionen, ihre Ausgangsposition auf dem Brett, die Anzahl der Felder, die Spielregeln usw. sind entscheidend. O h n e sie, diese konstanten, ein für allemal fixierten Merkmale, einschließlich ihrer konsequenten Wiederholung, w ü r d e das Schachspiel aufhören, als solches zu existieren. D a s Prinzip der Wiederholbarkeit wäre (oder auch die Verletzung dieses Prinzips) ohne diese konstanten Merkmale unmöglich, außerhalb dieser Merkmale gäbe es weder System noch Struktur. Im Zusammenhang damit sei an Lenins Gedanken über das Prinzip der Wie184
derholbarkeit erinnert, die er in „Was sind die .Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" darlegte. 6 Vor allem sei hervorgehoben, daß Lenin in dieser Arbeit den Begriff Struktur auf die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens angewendet hat. Er bezieht sich nicht nur auf die Stelle im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie", wo Marx die Gesamtheit aller Produktionsverhältnisse als die Struktur der Gesellschaft bezeichnet, sondern betrachtet diesen Terminus als entsprechend für die materialistische Auffassung der historischen Entwicklung. 7 Lenin verknüpft den Begriff Struktur mit dem „allgemein-wissenschaftlichen Kriterium der Wiederholbarkeit" - ein Aspekt, der für unsere Betrachtungen außerordentlich wichtig ist. Gerade die Definition der Produktionsverhältnisse als Repräsentation der Gesellschaftsstruktur macht die Anwendung des Kriteriums der Wiederholbarkeit, welches als notwendige Voraussetzung für die objektive beziehungsweise wahre wissenschaftliche Analyse gilt, möglich. Als Beweis möchte ich eine jener Schlußfolgerungen wörtlich zitieren: „Der Materialismus gab ein völlig objektives Kriterium an die Hand, indem er die .Produktionsverhältnisse als die Struktur der Gesellschaft' heraushob und es möglich machte, auf diese Verhältnisse jenes allgemein-wissenschaftliche Kriterium der Wiederholbarkeit anzuwenden, dessen Anwendbarkeit auf die Soziologie die Subjektivisten bestritten." 8 Wir wollen nicht näher auf Lenins Polemik eingehen, die er gegen die Subjektivisten führte, insbesondere gegen die liberalen russischen Volkstümler, die sich um die Zeitschrift „Russkoje bogatswo" gruppierten. Lediglich sei hervorgehoben, daß Lenin den Hauptfehler, das Grundübel der „Volksfreunde" darin sah, daß sie die „Wiederholung und Regelmäßigkeit" der gesellschaftlichen Erscheinungen nicht erkannt haben. Deshalb war es ihnen unmöglich, mehr als „eine bloße Beschreibung der Erscheinungen, eine Zusammenstellung von Rohmaterial" geben zu können. 9 Um dieses Material analysieren, es auf obligate Weise bearbeiten und verallgemeinern zu können, wäre es nötig gewesen, die Merkmale der Wiederholung und der Regelmäßigkeit (Systemhaftigkeit würden wir heute sagen) herauszuarbeiten - und das wiederum ist nur dem Marxismus möglich. Welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus? Erstens die Tatsache, daß Lenin nach Marx die Gesamtheit aller Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft als deren Struktur definierte und damit offenbar die Basis schuf, die gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse völlig gerechtfertigt auch mittels strukturanalytischer Methoden beschreiben zu können. Dieses Vorgehen widerspricht nicht der materialistischen Auffassung von der Gesellschaftsentwicklung. Es hat einen genau fixierten Platz innerhalb der marxistischleninistischen Methode. Es kann zu positiven Ergebnissen führen und zu einem gewichtigen Gegenpol subjektivistischer Konzeptionen werden. Eine andere Frage ist es, welche Möglichkeiten und Grenzen dieses Vorgehen 185
hat, welcher Anwendungsbereich in Frage kommt und wie es sich in das Gefüge der anderen Forschungsmethoden einordnen läßt. Diese Fragen tragen prinzipiellen Charakter, und um so bedauerlicher scheint der Umstand zu sein, daß die Verfechter des Strukturalismus sich diese Fragen im wesentlichen nicht einmal stellen. Absichtlich habe ich mich vorstehend der vorsichtigen Formulierung „es kann zu positiven Ergebnissen führen" bedient - dazu zwingt einfach die strukturalistische Praxis ihrerseits, von der noch die Rede sein wird. Zweitens gilt als wichtigste Voraussetzung für die Ableitung bestimmter allgemeiner Gesetzmäßigkeiten die Fähigkeit, die Wiederholbarkeit aller Erscheinungen und Fakten zu erkennen. Ohne diese Fähigkeit konnte sich Lenin keine streng wissenschaftliche Analyse materieller und gesellschaftlicher Verhältnisse vorstellen. Dies läßt den Gedanken aufkommen, daß möglicherweise irgendwelche Berührungspunkte zwischen dem Kriterium Wiederholbarkeit und dem struktursystemanalytischen Vorgehen bestehen können, die, wie wir bereits gesehen haben, zur Aufdeckung stabiler, sich wiederholender Elemente in diesen zu erforschenden Objekten führen. Auf das dritte Moment werde ich später ausführlicher eingehen. Lassen sich die oben getroffenen Feststellungen mit den Forschungsaufgaben auf einem Gebiet wie beispielsweise dem Kunstschaffen verbinden? Wenn ja, in welchem Maße? An einer positiven Antwort auf die erste der beiden Fragen besteht wohl kein Zweifel. Lenin spricht von der Wiederholbarkeit als einem allgemein-wissenschaftlichen Kriterium, ohne dabei irgendwelche Erläuterungen über Ausnahmen zu geben. Für uns besteht nicht der geringste Grund, das Kunstschaffen als eine Ausnahme zu betrachten. Natürlich ist dies ein in höchstem Maße spezifischer Bereich. Die Spezifik stellt jedoch nicht die allgemein-wissenschaftlichen Kriterien in Frage, sondern zeigt nur, daß ihre Anwendung in jedem Falle besondere, charakteristische Merkmale trägt. Die letztere Feststellung bezieht sich bereits auf die zweite Frage, die einer differenzierten Betrachtung bedarf. In bezug auf das Kriterium Wiederholbarkeit sind vor allem die konstanten Elemente der künstlerischen Prozesse und Erscheinungen, die ästhetischen Invarianten von erstrangigem Interesse. Deren charakteristische Besonderheit ist die relative Unveränderlichkeit innerhalb der veränderten Strukturen und Bedingungen. Es sei jedoch hervorgehoben, daß, sowohl hinsichtlich des Ideengehalts, des Wesens, des Charakters und der Funktionen jener Elemente, die unterschiedlichen Kunstgattungen und -genres, einschließlich ihrer verschiedenen Richtungen und jeweiligen Entwicklungsstufen, vom Schaffen einzelner Künstler ganz zu schweigen, eine ausgesprochen ungewöhnliche Vielfalt aufweisen. Zweifellos gebührt in diesem Sinne dem Volksschaffen ein besonderer Platz, 186
sofern es um darstellende Elemente, die Ornamentik, das Volksspiel, das Volkslied, den Volkstanz, um traditionelle Theatermasken, um die verschiedensten Arten des mündlichen poetischen Schaffens geht. Fjodor Buslajew vertrat schon 1861 die Meinung, daß als wichtigstes Objekt der Folkloristik die „unveränderten epischen Formen" gelten sollten, die, wie er betonte, „die charakteristischste Eigenart der epischen Sprache" in den Volksliedern ausmachen.10 Diese Besonderheit der Folklore dürfte allgemein bekannt sein, obgleich die Wissenschaftler bei der Erkundung konstanter Elemente und der Interpretation ihres Wesens verschiedene Wege gehen. Buslajew sieht als fruchtbarste Quelle für erhalten gebliebene Formen die mythologischen und religiösen Überlieferungen eines Volkes an. „Der Mythos", schreibt er, „verliert sich mit der Zeit aus dem Gedächtnis eines Volkes. Seinen Platz nehmen historische Ereignisse oder Alltäglichkeiten ein. Die epische Wendung aber, als gewöhnliche Phrase, als Sammlung von Eindrücken und Vorstellungen, wird ein für allemal in der Sprache erhalten bleiben und bei einem poetischen Kunstwerk, mit verändertem Inhalt zwar, die früheren Anspielungen auf religiöse Überlieferungen vergangener Zeiten, die irgendwann einmal diesen Volksmythos verkörperten, bewahren." Die alte epische Form vergleicht der Gelehrte „mit einem antiken Fries, eingebunden in eine ärmliche Hütte späterer Zeiten, mit Dorischen Säulen, die einen mittelalterlichen Palast tragen . . . So stellt auch die alte epische Form in den späteren Liedern nichts anderes dar, als die versprengten Reste eines zerstörten, poetischen Gebäudes längst vergangener Zeiten." 11 Alexander Wesselowski, der bei weitem nicht alles aus der Mythologischen Schule akzeptierte, hat jedoch ebenfalls die Wurzeln dieser „nicht-weiter-zerlegbaren Elemente", der Motive, in der Sagen- und Märchenwelt gesucht. „Unter einem Motiv verstehe ich die einfachste TUtzahleinbeit, die auf verschiedene Anfragen primitiven Denkens oder einer alltäglichen Beobachtung bildhaft antwortet." 1 2 Wladimir Propp widerlegt Alexander Wesselowski in seiner „Morphologie des Märchens". Er meint, daß das „Motiv nicht eingliedrig und unzerlegbar sei" 1 3 , daher nicht als primäres, konstantes Element folkloristischer Erzählkunst akzeptiert werden könne. Propp betrachtet die Funktion der handelnden Personen im Märchen als ein solches Element. Claude Lévi-Strauss unternahm den Versuch, Propp zu widerlegen. Er rezensierte i960 die englische Ausgabe von Propps „Morphologie des Märchens". Von Lévi-Strauss stammt der Gedanke, daß es möglich sei, innerhalb der Mythen größere konstitutive Einheiten, die sogenannten Mytheme, herauszukristallisieren. Ich möchte hier die Konzeptionen jener Wissenschaftler näher beleuchten, deren Ansichten in vielem nicht identisch sind, aber die hinsichtlich der Anerkennung einer der grundlegenden typologischen Eigenschaften der Folklore, der so187
genannten Invarianz (sofern es gestattet ist, sich dieses mathematischen Terminus zu bedienen), einer Meinung sind. Für die beiden zuletzt genannten Autoren wurde dies zum Ausgangspunkt, die semiotische Strukturanalyse auf das Volksschaffen anzuwenden. Propp beispielsweise, dessen Arbeiten als klassisch in der strukturalistischen Literatur gelten dürfen, hat durch Herauslösen sich wiederholender erzählender Syntagmen und der ihnen entsprechenden konstanten Funktionen der handelnden Personen ein Invarianten-Sujetschema entwickelt. Demzufolge stellen sämtliche existierende Märchen eine gewisse Anzahl von Varianten dar. Die strenge Abgrenzung der Funktionen, die der Autor mit 31 beziffert, einschließlich ihrer präzisen Distribution, oder die Bestimmung des Handlungskreises aller Märchengestalten (die Zahl letzterer wird auf sieben beschränkt), hat es Propp ermöglicht, zwei korrelativ miteinander verbundene Strukturmodelle des Märchens zu entwickeln. Lévi-Strauss hat seinen Arbeiten Material völlig anderer Art zugrunde gelegt. Er analysierte die archaischen Mythen der amerikanischen Indianer. Aber auch hier liegt der Strukturanalyse die Vorstellung von der Existenz sich wiederholender Elemente im primitiven Denken der Menschen zugrunde, die bestimmte Funktionen besitzen und diese oder jene Beziehung zueinander haben. Von einer ähnlichen methodologischen Voraussetzung ging Pjotr Bogatyrew aus, als er die Hauptpostulate semiotischer Betrachtungsweise für Folklore und Ethnographie definierte. In dem Artikel „Die Folklore als besondere Form des Schaffens", verfaßt unter Mitautorschaft vom Roman Jakobson, wurde die Zahl der spezifischen Merkmale des mündlichen poetischen Volksschaffens, die es von der Literatur unterscheiden und die die Anwendung der semiotischen Strukturanalyse zulassen, auf die relativ begrenzte Zahl aller vorhandenen Wiederholungsformen reduziert. Die von de Saussure vorgeschlagene Unterscheidung zwischen „Rede" (parole) und „Sprache" (languej in der Literatur und Folklore erfährt eine Extrapolation durch die Autoren des Aufsatzes, die betonen, daß die Hinwendung des mündlichen Volksschaffens zu langue mit dem mehr systemhaften Charakter - im Vergleich zur Literatur - begründet werden muß. Der großen Vielfalt der Sujets in der Literatur steht eine begrenzte Anzahl der Sujets im mündlichen Volksschaffen gegenüber. Diese Begrenztheit kann nach Ansicht von Bogatyrew und Jakobson weder „mit der Gemeinsamkeit der Quellen noch der Gemeinsamkeit der Psyche, noch mit den gemeinsamen äußeren Bedingungen erklärt werden. Identische Sujets entstehen auf der Grundlage allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der poetischen Komposition. Diese Gesetzmäßigkeiten sind, gleich denen der Strukturgesetze einer Sprache, im kollektiven Schaffen regelhaft strenger und monotoner als im individuellen Schaffensprozeß."14 Bogatyrews resümierender Sammelband zu „Fragen der Theorie der Volkskunst" 13 vermittelt ein anschauliches Bild davon, wie entscheidend für die syn188
chrone Beschreibung und semiotische Strukturanalyse die konstanten Wiederholungselemente in folkloristischen Systemen sind. Als Beispiel für ein solches System kann die Volkstracht gelten. In Bogatyrews Buch „Die Funktionen der Nationaltracht in der Mährischen Slowakei" wird die Interpretation der Tracht als Zeichen und gleichzeitig als ganzes „Bündel von Funktionen gerade deshalb möglich, weil sich die Kleidung der Bauern dieser Gegend als eine Art semiotisches System, als eine begrenzte Anzahl einzelner, relativ konstanter Elemente repräsentiert". 16 In anderen Arbeiten Bogatyrews treten als Elemente dieser Art die Volksriten und religiösen Zeremonien in Erscheinung, desgleichen ethnographische Fakten, die mit dem Weihnachtsfest in Zusammenhang stehen, traditionelle Masken und Spiele, sich wiederholende Sujets und Texte, die für das Volkstheater und Schaustellungen auf Jahrmärkten charakteristisch sind. 1 ' Von großem Interesse dürfte der Artikel Bogatyrews „Die Funktionen des Leitmotivs in der russischen Byline" sein.18 Am Material zweier von Alexander F. Hilferding niedergeschriebener Bylinen über Ilja Muromez hat der Forscher die bedeutsame, konstitutive Rolle der Wiederholung konstanter Elemente - einzelner Verse, Strophen, Rhythmen usw. - aufgezeigt. „Die Analyse der Bylinen und anderer epischer und lyrisch-epischer Lieder", schreibt er, „zeigt, daß eine beträchtliche Anzahl von Strophen eines Liedes zu den Wiederholungselementen Strophen und Wendungen - zu zählen ist." 19 Die Folklore ist ein typischer, jedoch bei weitem nicht der einzige Bereich, wo das Kriterium der Wiederholbarkeit so anschaulich demonstriert werden kann. Aufmerksamkeit verdienen auch andere künstlerische Systeme mit klar ausgeprägter Tendenz zur Norm, zum Kanon, zur breiten und zielgerichteten Nutzung fester Redewendungen und Attribute. Man könnte zum Beispiel die Wiederholungen unterschiedlichster Art im stilistischen System eines so uralten Literaturdenkmals, wie es die „Bibel" ist, erwähnen. Die Wissenschaftler haben völlig berechtigt auf die Funktion dergleichen Elemente im Buch „Ecclesiastes" und im einleitenden Teil des „Johannesevangeliums" hingewiesen.20 Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen, erinnert man nur an die rhetorischen Bilder, die im „Alten Testament" am Anfang der fünf Kapitel der „Klagelieder Jeremias" stehen („Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war!" „Wie hat der Herr die Tochter Zion mit seinem Zorn überschüttet!" „Wie ist das Gold so gar verdunkelt...!") - oder an die Strukturmonotypie im „Hohenlied Salomos", oder an die Wendungen der Lobgesänge zu Anfang der meisten Psalmen Davids. Besonders bedeutsam ist die strukturierende Funktion der kanonischen Konstruktionen mit der Konjuktion „und" und der Partikel „da", von denen es in den biblischen Texten förmlich wimmelt. Ein weiteres charakteristisches Beispiel sind die kanonischen Elemente in der altrussischen Literatur und Kunst, alle jenen, die Dmitri Lichatschow zur sogenannten literarischen Etikette zählt. 21 Die Feststellungen der hervorragenden 189
Kenner altrussischer Denkmäler, W. Kljutschewski und A. Orlow 22 , über die Viten und Kriegserzählungen hat Lichatschow in seiner „Poetik der altrussischen Literatur 23 vertieft und weiterentwickelt. Auf der Grundlage reichen Faktenmaterials hat er die charakteristischen Merkmale der literarischen Etikette (Wiederholungen von Redewendungen, Stabilität der Modelle, Metaphern, Vergleiche, Normen zur Sprach- und Stilwahl, kanonische Sujetschemen, Übertragung ganzer Abschnitte aus einem Werk in ein anderes usw.) analysiert. Im Gegensatz zu einigen Wissenschaftlern betrachtet Lichatschow diese Erscheinungen nicht einfach als ein Zeugnis der Stagnation der altrussischen Literatur, sondern als ein Merkmal eines bestimmten künstlerischen Systems.24 Zweifellos sind die Eigenschaften derartiger Systeme in vielem durch historische Voraussetzungen determiniert. Lichatschow bemerkt zu Recht, daß das Tendieren der altrussischen Kunst zum Kanon aus dem gesellschaftlichen Leben resultiere, wo die „Beziehungen zwischen den Menschen und ihre Beziehungen zu Gott der Etikette, der Tradition, den Gepflogenheiten, dem Zeremoniell unterworfen waren, und zwar so streng, daß sie selbst die Weltanschauung und das Denken der Menschen beherrschten". 25 Mit den herrschenden Idealen, mit der ethisch-ästhetischen Basis ist der künstlerische Kanon in den meisten der in dem Sammelband enthaltenen Aufsätze verbunden, der speziell dem Kanon in der Kunst des Altertums und Mittelalters Asiens und Afrikas gewidmet ist.26 Die Struktur und die Funktionen des Kanons in der klassischen Malerei des Fernen Ostens (S. Sokolow), im Alten Ägypten (N. Pomeranzewa) und in der altindischen Plastik (S. Tjuljajew), in der indonesischen buddhistischen Baukunst (I. Murían), in den tibetanischen Ikonen (E. Ognewa) und Bronzeskulpturen des mittelalterlichen afrikanischen Stadtstaates Benin (N. Grigorowitsch) werden hier als Ausdruck und Resultat einer komplizierten Verarbeitung ritueller Vorstellungen im jeweiligen Land und der jeweiligen historischen Epoche betrachtet. Dies läßt sich beispielsweise auch vom französischen Klassizismus sagen, dessen ästhetische Kanons auf dem Fundament der streng hierarchisch geordneten, staatlichen, ideologischen und ethischen Regeln der damaligen Zeit ruhten. Wir wollen diese Frage noch aus anderer Sicht untersuchen. Diese Erscheinungen sind natürlich vielgestaltiger Natur, zeigen jedoch als Strukturen beim Vergleich der typologischen Merkmale Züge des Isomorphismus. Sie kommen gerade darin zum Ausdruck, daß hier die beständigen Wiederholungen die wichtigste, ja in einigen Fällen sogar die dominierende Rolle spielen. Wir haben es mit einem künstlerischen Strukturtyp besonderer Art zu tun, dessen allgemeines, doch charakteristisches Merkmal der relativ hohe Invarianzgrad sein dürfte. Zu diesem Typ können außer den vorstehend erwähnten Strukturen noch einige andere gezählt werden, beispielsweise der Versaufbau, der ein kompliziertes System von Relationen wiederkehrender und nicht wiederkehrender Elemente hat. Man braucht dabei nur an den Rhythmus zu erinnern, den Wiktor Shirmunski 190
als „Lautwiederholung" 27 bezeichnete, sowie an die rhythmische, phonologische Ebene usw. Die verstärkte Funktion der Wiederholungselemente verleiht den künstlerischen Strukturen des invarianten Typs eine deutlich ausgeprägte Geordnetheit, führt zu einer höheren Eindeutigkeit der Beschreibung, erhält dadurch Zeichencharakter. Man darf natürlich annehmen, daß gerade in solchen Fällen sich die quantitativen und semiotisch-strukturanalytischen Methoden als die mit maximaler Effektivität erweisen werden. Die wissenschaftliche Praxis bestätigt die Richtigkeit dieser Annahme. Es ist jedoch kein Zufall, daß die meisten der früheren Versuche, in der Literatur quantitative Methoden anzuwenden, sich auf die Poesie bezogen (Arbeiten von Andrej Bely, Georgi Schengeli, B. Tomaschewski28 u. a.). Mit dem Versaufbau beschäftigen sich auch heute am liebsten jene Wissenschaftler, die die Erforschung der Kunst mit Hilfe von Wahrscheinlichkeits- und statistischen Methoden betreiben. Dieses vorrangige Interesse an der Poesie wurde insbesondere von Akademiemitglied Andrej Kolmogorow in dem Vortrag „Kombination, Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie im Versbau" 29 begründet. Kolmogorow und seine Schüler haben eine Reihe von Arbeiten zur Wahrscheinlichkeits- und statistischen Erforschung der Poesie Majakowskis, Bagrizkis und Achmatowas geschrieben. Eine wichtige Rolle spielen die semiotischen Strukturanalysen an poetischem Material in den bekannten Sammlungen der Serie „Arbeiten zum Zeichensystem" aus Tartu sowie die Arbeiten bekannter Vertreter dieser Schule wie Juri Lotman und S. Minz, die sich ebenfalls auf Werke der Poesie stützen.30 Außer dem Versaufbau gelten als Objekte semiotischer Strukturanalysen am häufigsten Mythen (Claude Lévi-Strauss, Wjatscheslaw Ws. Iwanow, Wladimir Toporow), Rituale (W. U. Turner), Sprichwörter (R. Abrahams), Märchen (Wladimir Ja. Propp, A. Dandis), Volkstheater, Riten, Bylinen (Pjotr Bogatyrew), die altrussische Ikonenmalerei (L. Shegin, B. Uspenski) und andere Erscheinungen, deren Systemcharakter deutlich in Form zählbarer Wiederholungseinheiten unterschiedlichster Art ausgedrückt wird. Bedeutend komplizierter gestalten sich semiotische Strukturanalysen der Prosa, insbesondere der Gegenwart, für die man, insgesamt gesehen, einen niedrigen Invarianzgrad als charakteristisch betrachten darf. Kolmogorow zufolge ist die Existenz quantitativer Gesetzmäßigkeiten, die „unabhängig vom Inhalt" feststellbar und nicht unmittelbar mit ihm verbunden sind, eine charakteristische Besonderheit des Verses im Vergleich zur Prosa. Daraus leitet er die Möglichkeit ab, statistische und Wahrscheinlichkeitsmethoden anwenden zu können. Wir wollen diese These nicht weiter erörtern.31 Das Interesse an der mathematischen Poetik, an „inhaltlosen" Gesetzmäßigkeiten, darf uns nicht wundern, denn es geht von der Informationstheorie aus, die sich mit dem Codieren und der Informationsübertragung, unabhängig vom Sinn, befaßt. Wichtig ist Kolmogorows Bemerkung über die prinzipiell unterschied191
liehe Rolle der quantitativen Gesetzmäßigkeiten innerhalb des Versbaus und der Prosa, die - wie es scheint - in vollem Maße auch auf solche Gesetzmäßigkeiten wie die Wiederholungselemente übertragen werden kann. Eines der anschaulichsten Beispiele dürfte hier zwar die rhythmische Wiederholung sein, doch lohnt es kaum, sich ausführlich mit ihrer Bedeutung für die Dichtung zu befassen. Und was die Prosa anbelangt, so haben ihr die zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Autoren unternommen Versuche einer Rhythmisierung keinen wesentlichen künstlerischen Nutzen gebracht. Den in der russischen und ukrainischen Prosa nach der Oktoberrevolution verbreiteten Typ der „lyrisch-rhapsodischen Erzählung . . . mit fließenden Übergängen zum Vers" hat Olexander Bilezky seinerzeit als einen Beweis dafür angesehen, daß die „Natur der echten Prosa" nicht verstanden wurde: „Zwischen Prosa und Vers liegt ein tiefer Abgrund, und je tiefer er ist, um so vollkommener ist die Prosa." 32 Alle seine Hoffnungen auf die Entwicklung der ukrainischen Prosa setzte er damals vor allem auf die Befreiung von der Verssprache. Bilezky erinnert daran, daß die Prosa Goethes und Flauberts, Puschkins und des späten Lermontow keine „Reminiszenzen an den Vers seien", und bezieht sich auf das negative Beispiel eines Andrej Bely, der in seiner Prosa „dem Hexameter" folgt. 33 Diese Einschätzung dürfte ziemlich gerechtfertigt sein. Interessant ist aber, daß gerade von Bely dieser treffende Vergleich zwischen dem prosaischen Rhythmus und dem Klappern der Fensterläden in einer schlaflosen Nacht stammt: Man wartet geradezu auf die regelmäßige Wiederkehr dieses Geräusches. Diese Bemerkung Andrej Belys sowie die Worte des griechischen Dichters Dionysius Longinus, daß das Eindringen „des Versmaßes" in die Prosa „eine gewisse Abneigung gegen sich selbst erzeuge", führt Juri Tynjanow auf die Nichtübereinstimmung des Rhythmus mit dem eigentlichen Charakter der Prosa zurück.34 Man darf natürlich keinesfalls die Tatsache eliminieren, daß man auch in der Prosa durch eine statistische Analyse einzelne rhythmische Wiederholungseinheiten feststellen kann, die eine gewisse ästhetische Funktion erfüllen. Diese Funktion hat hier jedoch viel weniger Bedeutung als im Vers. „Der Rhythmus wird in der Prosa durch das konstruktive Prinzip der Prosa, durch die in ihr vorherrschende semantische Bestimmung der Rede assimiliert" 35 , schreibt Juri Tynjanow. Gerade diese Besonderheit hatte unter anderem Goethe gemeint, als er in seiner paradoxen Manier einmal zu Eckermann sagte: „Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt, und zuletzt etwas herauskommt, das nichts ist, aber doch so aussieht, als wäre es etwas." 36 Hier ist die semantische Rolle einer Wiederholung („Rhythmenwahl") in der Dichtung und die Ungeeignetheit eben dieses Prinzips für die Prosa gemeint. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Wiederholung für die Prosa nicht charakteristisch ist und für sie keinerlei Bedeutung hat. 192
Der Herauslösung von Wiederholungselementen auf grammatischer und syntaktischer Ebene liegen statistische Forschungsmethoden zum Studium von Prosawerken zugrunde. Mehr oder weniger ernsthafte Versuche werden bei uns bereits seit mehreren Jahrzehnten durchgeführt (A. Markow, N. Morosow). Von den Arbeiten aus der jüngsten Vergangenheit möchte ich mich auf die Experimente Boris Golowins berufen, der mit Hilfe von Wahrscheinlichkeits- und statistischen Methoden die Häufigkeit der Verwendung verschiedener Redeteile in der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht hat. Man muß hierbei betonen, daß wir im gegebenen Falle die sozusagen elementarste Form der Wiederholungen vor uns haben, die man eher als Fakt der Literatursprache denn als Fakt der künstlerischen Struktur betrachten darf. Golowin hat beispielsweise bei der Gegenüberstellung der Koeffizienten, mit deren Hilfe er die Beziehungen „Verb: Substantiv" und „Pronomen: Substantiv" in den Werken Turgenjews und Fedins untersuchte, geäußert, daß bei ersterem „die Prosa bedeutend aktiver und dynamischer sei und weniger gegenständlich" als bei letzterem.37 Dies klingt nicht allzu überzeugend. Angenommen, die von Golowin und seiner Gruppe durchgeführten Untersuchungen wären Beweis für die in der modernen Prosasprache anzutreffenden Tendenzen einer abnehmenden Anwendung beispielsweise für Pronomina. Sollte das etwa der ausreichende Beweis für die Feststellung einer gesteigerten „Gegenständlichkeit" der Literatur des 20. Jahrhunderts sein, da die Pronomina nicht die Gegenstände nennen, sondern auf diese nur generell hinweisen? Ist es etwa so, daß sich hier plötzlich die genauen Forschungsmethoden in einer unerwarteten Nachbarschaft mit ausgesprochen unsicheren und willkürlichen Schlußfolgerungen befinden? So etwa verhält es sich auch mit statistischen Untersuchungen der Wiederholungselemente ähnlicher Art, die zwar von empirischem Interesse sind, aber trotzdem keine Grundlage für weitere semiotisch-strukturalistische Verallgemeinerungen bieten. Von größerer Bedeutung sind unter diesem Gesichtspunkt einige andere Arten von Wiederholungen, insbesondere jene, die sich in die metalinguistische Prosaebene einordnen lassen. Gemeint sind verschiedene geschlossene, künstlerisch-sprachliche Einheiten, die, eingestreut in den Text, einen gewissen Einfluß auf den Charakter seiner Struktur ausüben. Es handelt sich dabei vor allem um Elemente einer „fremden Sprache", wie beispielsweise Stilisierung, Parodie, innere Monologe, alle möglichen Abweichungen, Reminiszenzen, feste Wortverbindungen aus anderen Sprachen usw. (z. B. „Ulysses" von James Joyce oder „Schall und Wahn" von William Faulkner). Dazu gezählt werden muß auch jene (nach der Definition Wiktor Shirmunskis) „rein ästhetische" Prosa, in deren Struktur „kompositorisch-stilistische Arabesken, mündliche Erzählweise, manchmal auch embryonale Formen rhythmischer Glie13
Barabasch 6674
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derung" 38 eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Wissenschaftler auf Nikolai Gogol, Nikolai Leskow, Alexej Remisow, Andrej Bely. Hier sind auch Autoren zu nennen wie Wladimir Dahl und Pawel Melnikow-Petscherski, später Michail Sostschenko, Andrej Platonow oder auch Isaak Babel. Obgleich sich die genannten Künstler in vielem, auch in prinzipiellen Fragen, stark voneinander unterscheiden, braucht hier wohl nicht ausführlich erwähnt zu werden, daß für sie alle ein gemeinsamer typologischer Zug charakteristisch ist: Es sind die ihrer Prosa eigenen Stilisierungs- oder Redeelemente, die am allerhäufigsten mit der Folklore, mit der Volkssprache, mit umgangssprachlichen Elementen verknüpft sind. Daher auch der Hang (mehr oder minder deutlich ausgeprägt) zu den vielfältigsten festen Wiederholungselementen in der Art Leskows, die er nach seinen eigenen Worten „Bauern, Halbgebildeten, Schwätzern, Narren in Christo und Heuchlern" ablauschte, oder die sprichwörtlichen Redensarten bei Kasak Luganski (Dahl) und Melnikow-Petscherski 39 oder der kleinbürgerliche Jargon des frühen Sostschenko und die „Odessismen" eines Isaak Babel. Michail Bachtin, der seinerzeit das Problem der „fremden Sprache" formulierte, hat bei der Erforschung von Rabelais' Schaffen die Eigenart seiner Poetik gleichfalls im künstlerischen Volksschaffen, in der „Lachkultur des Volkes" gesucht.40 Der Terminus „Karneval" als kompliziertes, vielschichtiges, invariantes System traditioneller, ritueller und szenischer sowie sprachlicher Formen, Handlungsorte usw. tritt in Bachtins Buch „Das Schaffen François Rabelais' und die Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance" als Code für die Charakterisierung der besonderen Wesenszüge des Rabelaisschen „grotesken Realismus" in Erscheinung. 41 Mit den Traditionen der „karnevalesken" Literatur verbindet Bachtin auch einige Züge des poetischen Schaffens Dostojewskis, insbesondere die für seine Romane so außerordentlich charakteristischen parodistischen Doppelgängergestalten. Ich möchte keine Analyse der Bachtinschen Karnevalskonzeption hinsichtlich ihres Wesens und der Berechtigung zur Anwendung auf das Schaffen Dostojewskis vornehmen, das würde am Thema vorbeiführen. Wie dem auch sei, man kann sich nicht der Treffsicherheit Bachtins erwehren, daß es bei fast „jedem Romanhelden (Dostojewskis - ]u. B.) mehrere Doppelgänger gibt, die auf unterschiedliche Weise parodierten: so für Raskolnikow-Swidrigailow, Lushin, Lebesjatnikow, für Stawrogin-Pjotr Werchowenski, Schatow, Kyrillow und für Iwan KaramasowSmerdjakow, der Teufel und Rakitin" 42 . Es handelt sich also um nichts anderes als um originäre Wiederholungen auf einer ziemlich hohen Sujet- und semantischen Ebene. Wjatscheslaw Iwanow stellte bei Dostojewski Wiederholungen in der Art von „Massenskandalen", in denen der Held gleichzeitig mit zwei Frauen verkehrt, fest (beispielsweise im „Idiot" und in den „Dämonen"). Der von ihm in diesem Zusammenhang geäußerte Gedanke, daß es notwendig sei, „dieses Gemeinsame, das sich in den verschiedenen Werken eines Autors feststellen lasse" 43 , zu enthüllen, ist interessant. 194
Motive, Bilder und Sujetsituationen, die sich wiederholen, sind beispielsweise auch für das Schaffen Olexander Dowshenkos charakteristisch. Auf einige lenkte der Künstler selbst sein Augenmerk. „In allen meinen Filmen", schrieb er in seiner Autobiographie, „gibt es immer wieder ein Abschiednehmen. Die Helden trennen sich, schreiten rasch vorwärts, immer weiter, in ein anderes Leben, in ein unbekanntes, sie faszinierendes und besseres Leben. Sie verabschieden sich hastig, lässig, ohne sich auch nur noch einmal umzuschauen, ob das Herz der anderen dabei bricht, die Zurückgebliebenen weinen. . . . Fragen über das Leben und den Tod haben offenbar meine kindliche Vorstellungswelt, mein ganzes Leben und Schaffen geprägt." 44 Unvergeßlich bleiben uns aus Dowshenkos Werken Abschiedsszenen, Begräbnisszenen oder Szenen im Garten, das triumphierende Leben verkörpernd („Iwan", „Poem vom Meer", „Die Welt soll blühen", „Erde", „Stschors" u. a.). An die Gestalt des Dowshenkoschen Großvaters, der seit „Swenyhora" fast in allen seinen Werken auftaucht, werden wir uns ewig erinnern. Zu den Wiederholungselementen gehören auch alle möglichen Stereotype, traditionellen Motive und Attribute, die für verschiedene Gattungen und Genres der sogenannten Massenliteratur charakteristisch sind. Dazu gehören beispielsweise die üblichen abenteuerlichen Handlungsschemen des alten europäischen Abenteurerromans oder des Detektivromans der Gegenwart. Die stereotypen Wiederholungen in der modernen bürgerlichen Massenliteratur üben eine Doppelfunktion aus: eine kommerzielle und eine ideologische. Michail Chraptschenko hat in seiner Arbeit „Semiotik und künstlerisches Schaffen" überzeugend nachgewiesen, wie in der literarischen Serienproduktion (Cowboy-, Kriminal- und Detektivgeschichten, pornographische Werke, Thriller usw.) diese Dualfunktion über ein System stereotyper Handlungsschemen und standardisierter Pseudohelden zutage tritt, die sich durch „dauerhafte Beständigkeit ihrer Grundmerkmale und Wesenszüge auszeichnen, Helden also, die sich unter geringfügigen Änderungen leicht von einem Werk in das nächste transponieren lassen" 45 . Von Interesse ist eine andere spezifische Art der stereotypen Wiederholungen, die literarische Schablone. Bekannt sein dürften die ironischen Bemerkungen Puschkins, die er an die Schriftsteller richtete, die Begeisterung für die aufgeblähte, pseudoromantische Schablone nährten. „Diese Menschen", schrieb Puschkin in einer Entwurfskonzeption „Über die Prosa", „werden nie Freundschaft sagen, ohne: .dieses heilige Gefühl, dessen edle Flamme' usw. hinzuzufügen. Es gilt zu sagen: früh am Morgen - sie aber schreiben: ,Kaum haben die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den östlichen Rand des azurnen Himmels erhellt'; - ach wie ist das alles frisch und neu! Ist es besser, nur weil es länger ist?" 46 Dieses „Frische, diese Neuheit" als Merkmal der literarischen Schablone veränderte sich seit Puschkin kaum und wurde leider zu einer verbreiteten Erscheinung. Was sind diese literarischen Schablonen, unter semiotisch-strukturanalytischem Aspekt betrachtet? >3
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Es sind relativ feststehende Wiederholungseinheiten, die als Elemente dieses oder jenes ästhetischen Systems betrachtet werden können. Nicht zufällig hat sich die strukturelle Poetik ihnen verstärkt gewidmet. Sie betrachtet es als eine der wichtigsten Aufgaben, die Struktur der „Schablonenmodelle" als Forschungsinstrumentarium für jene Etappen der Entstehung einer künstlerischen Literatur zu untersuchen, in denen sich in erster Line codierte Bilder herausgebildet haben, die einem bestimmten ästhetischen Kanon entsprechen.47 Es darf mit Recht angenommen werden, daß man durchaus positive Ergebnisse mit der Anwendung semiotisch-strukturanalytischer Methoden zur Erforschung der literarischen Schablone auch für die späteren Kunstepochen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein erzielen kann, indem man die besonderen Merkmale der ihrem Wesen nach epigonalen Erscheinungen oder den Seriencharakter der Arbeiten beschreibt. In allen diesen Fällen weist die literarische Schablone ausgeprägte Zeichenmerkmale auf, denn sie spiegeln nicht nur die Prozesse und Erscheinungen der realen Wirklichkeit wider (diese Funktion ist hier auf ein Minimum reduziert), sondern sie substituieren sie und treten in der Rolle eines originären Informationssignals auf. Dies läßt sich jedoch nicht von allen Wiederholungen sagen, die hier als Beispiele erwähnt wurden. So wird verständlich, daß in den für Dowshenko charakteristischen Leitmotiven nicht das Zeichen, sondern das Bild dominiert, „Zeichen" können sie nur bedingt, metaphorisch genannt werden. „Meine Großväter sind vergleichbar mit einem Lebenskaleidoskop", schrieb Dowshenko einmal und unterstrich damit die historische Wandlungsfähigkeit dieser für ihn traditionellen Gestalten. Und in der Tat, die Gestalt des Großvaters wird von Handlung zu Handlung stets mit neuen sozialen und menschlichen Inhalten erfüllt, einzelne konstante Züge des Volkshelden, des Nationalcharakters verbinden sich zu einer dialektischen Einheit mit lebendiger Originalität. Das bestätigt zum Beispiel- der Vergleich zwischen der Gestalt des Großvaters aus „Swenyhora", aus „Erde" und Figuren wie Boshenko und dem alteingesessenen Zimmerman Maxim Fjodortschenko aus dem „Poem vom Meer". Eine synchrone Analyse dieser Gestalten, ihre Identifizierung mit irgendeinem semiotischen System, wo die Großväter als konstante Elemente in Erscheinung treten, wäre wohl kaum fruchtbar. Diese Methode ist nicht geeignet, auch nur annähernd eine Vorstellung vom realen Inhalt und von der Originalität des Schaffens dieses Künstlers zu vermitteln. Nehmen wir als ein weiteres Beispiel Dostojewski: Schließlich entbehrt die von Iwanow festgestellte und bereits erwähnte Identität der Sujetfunktionen bei den „Massenskandalen", wo Stawrogin und Myschkin nicht einfach als unterschiedliche, sondern als diametral entgegengesetzte Helden agieren, nicht einer gewissen Grundlage. Diese Funktionen jedoch als die eines Zeichens interpretieren zu wollen, als sich wiederholende Elemente, ist völlig unbegründet. Die Identität ist hier 196
formaler Natur. Losgelöst vom sozial-ästhetischen und psychologischen Kontext, erzeugt sie eher den Eindruck eines „Texturcasus" denn einer relevanten Gesetzmäßigkeit und vermag damit kaum zum wahren Inhalt der Handlung oder zu den Helden vorzudringen. Bemerkenswert ist unter anderem, daß Wjatscheslaw Iwanow selbst in bezug auf diese Identität der Sujetschemen in Andrej Belys Prosawerken (Gegenüberstellung der beiden Haupthelden Vater-Sohn) für diesen Umstand nicht eine formal-strukturelle, sondern vor allem eine „soziologische und psychologisch-biographische Erklärung sucht"48. In diesem Zusammenhang noch ein anderes Beispiel, das ebenfalls Dostojewskis Schaffen betrifft. Wenngleich Wladimir Toporow in seiner der Poetik des Romans „Schuld und Sühne" gewidmeten Arbeit in den Grenzen von Teilfakten verbleibt, die sich auf die unteren Erzählebenen beziehen (so stellt er beispielsweise fest, daß auf 416 Seiten das Wort „plötzlich" etwa 5 6omal gebraucht wird, das Wort „seltsam" etwa 15omal gebraucht wird und das Verb „flüstern" mehr als 6omal), sind seine Beobachtungen von einem gewissen empirischen Interesse. Der Wissenschaftler geht jedoch noch weiter. E r stellt fest, daß man aus dem Roman „Schuld und Sühne" sowie aus den anderen Werken Dostojewskis „leicht einige offensichtlich allgemeine Schemen, . . . eine Anzahl elementarer Prädikate, lokaltopographischer und temporaler Klassiiikatoren, eine Anzahl metasprachlicher Operatoren und schließlich auch eine gewaltige Anzahl semantisch (häufig symbolisch) markierter Textstücke herauslösen kann, die in verschiedenen Teilen eines oder mehrerer Werke auftreten können (Wiederholungen, Verdopplungen, .Situationsrhythmen', parallele Handlungsabläufe usw.)" 49 . Bei einem nach rein äußeren, formalen Merkmalen durchgeführten Vergleich dieser „Schemen" mit den charakteristischen Zügen invarianter Strukturen, die für das archaische mythologische Denken typisch sind, gelangt Toporow zu dem Schluß, daß die Romane Dostojewskis „analog den mythisch-poetischen Texten" sind. 50 Bei dieser Betrachtungsweise wird die komplizierte Struktur eines Wortes zerpflückt und in Wiederholungselemente zerlegt. Toporow postuliert: „Wenn man den Roman Dostojewskis so beschreiben kann, daß sämtliche äquivalenten (oder Wiederholungs-) Motive in vertikaler Ebene (von oben nach unten), die Motive hingegen, die die Syntagmakette bilden, in waagerechter Ebene (von links nach rechts) liegen, so entspricht, wie beim Mythos oder Ritual, die Lesung in der Zeile der Romandeklaration und die Lesung in senkrechter Spalte - der Romaninterpretation." 51 Der Nutzen einer derartigen Operation ist mehr als zweifelhaft. Die Horizontal-Vertikal-Methode könnte wohl eher bei der Enträtselung von Cross-words (Kreuzklassifikatoren) angebracht sein denn für den „Mythos", der sich wohl kaum auf eine Anzahl von Schemen reduzieren läßt, vor allem nicht dort, wo es sich um die kompliziertesten Strukturen der Dostojewskischen Romane handelt. Der Versuch, synchrone und semiotische Methoden in diesem oder jenem Maße zur Erforschung von Strukturen mit einem hohen Invarianzgrad auch bei der
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Analyse der entwickelten Prosa anzuwenden, wo die Invarianz auf völlig andere Weise zum Ausdruck kommt und auch eine andere Funktion erfüllt - dieser Versuch dürfte in methodologischer Hinsicht nicht effektiv sein.52 Was beweist das alles? Der Zusammenhang zwischen Wiederholungselementen in Kunstwerken und den Erscheinungen semiotischer Art ist um vieles komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Im Prinzip ist ein solcher Zusammenhang durchaus existent. Die Mythologie, Volksdichtung, Ethnographie, die Literatur des Altertums und Mittelalters (einschließlich ihres komplizierten Systems der Kanons, Symbole und Mythen) sowie der Versbau liefern, wie wir feststellen konnten, einiges Beispielmaterial für Wiederholungselemente, die Zeichencharakter tragen. Woraus sich ebenfalls Möglichkeiten für die Synchronanalyse, die Anwendung semiotisch-strukturanalytischer Methoden ableiten lassen. Doch dürften hier Analysen nicht unbegrenzt sein, da der Zeichencharakter, der für die Wiederholungselemente und die festen Wendungen typisch ist, ihre Natur nicht erschöpfend widerzuspiegeln und sie organisch mit der Bildhaftigkeit zu verknüpfen vermag. Daher liefern sogar in bezug auf folkloristische oder Versstrukturen die „rein" semiotischen Methoden, die synchrone ohne die diachrone Beschreibung, in der Praxis nur Teilergebnisse und haben keinen allgemeingültigen Nutzen. Die Konzentration lediglich auf die universelle „Homologie" der strukturellen Mikro- und Makroeinheiten führt bei Mißachtung inhaltlicher, historisch-sozialer Parameter wie beispielsweise die Erfahrungen der bürgerlichen amerikanischen Folkloristik zeigen 53 - unweigerlich zur Enthumanisierung der Folklore, zur verzerrten Auffassung ihrer Genesis, ihrer Entwicklung und ihres künftigen Schicksals. In noch höherem Maße gilt das Gesagte für jene künstlerischen Strukturen, in denen die auf den verschiedenen Ebenen auftretenden Wiederholungen über keinerlei deutlich ausgeprägte semiotische Merkmale verfügen, die keinen Zeichencharakter tragen, sondern bildhafter Natur sind. Daher scheint mir, daß Juri Bondarew der Wahrheit unvergleichlich näher kommt als die Strukturalisten, wenn er die Erscheinung „Wiederholbarkeit" in unmittelbarem Zusammenhang mit Kategorien wie „Weltsicht des Künstlers", seine „Geisteshaltung", „Imperativ seiner moralischen Gesetze" sieht. Gibt es nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Helden Lew Tolstois, Dostojewskis, Turgenjews, Tschechows, Stendhals und Balzacs? - fragt sich Bondarew. Und das bejaht er: „Es gibt den wahrheitssuchenden Helden Tolstois, den durch Lebenskonflikte gequälten Helden Dostojewskis, es gibt jene aufopferungsvollen Frauengestalten bei Turgenjew, jenen habgierigen Balzacschen Helden. . . . Aber alle diese Helden wurden als hyperbolische Charaktere geschaffen, philosophischen Symbolen ähnlich, die in sich eine Vielzahl glühender und vorwärtsstrebender Ideen vereinigen, um deretwillen ein Dichter lebt und schafft." 54 Solche Wiederholbarkeit ist Ausdruck objektiver Gesetzmäßigkeiten des Lebens, die vom Dichter erkannt und durch das Prisma seiner schöpferischen Individualität ausgedrückt werden. 198
An dieser Stelle möchte ich mich wieder dem Werk Lenins „Was sind die ,Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" 55 und den Schlußfolgerungen, bei denen ich die Erörterungen hinsichtlich des Wiederholbarkeitskriteriums unterbrochen habe, zuwenden. Lenin geht darin auf die prinzipielle methodologische Bedeutung der Wiederholung und Regelmäßigkeit in den gesellschaftlichen Erscheinungen verschiedener Länder ein und hebt im Zusammenhang damit auch den zutiefst dialektischen Charakter der marxistischen Behandlung dieses Kriteriums hervor. Erst die Aufdeckung allgemeiner, wiederkehrender Gesetzmäßigkeiten bot die Möglichkeit, von der Beschreibung der gesellschaftlichen Erscheinungen zur streng wissenschaftlichen Analyse überzugehen. Diese ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Ignorieren des Partiellen, Besonderen, des Unwiederholbaren. Eine streng wissenschaftliche Analyse, betont Lenin, hebt hervor, „was das eine kapitalistische Land von einem anderen unterscheidet, und untersucht das, was ihnen allen gemeinsam ist" 56 . Es ist charakteristisch, wie Lenin das „Kapital" beurteilt. Nachdem er aufzeigte, wie Marx auf der Grundlage einer gigantischen Menge Tatsachenmaterials eine Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als definiertes System vornimmt und dies zudem noch, „ohne je zur Erklärung der Sache andere, außerhalb dieser Produktionsverhältnisse liegende Momente heranzuziehen", bemerkt Lenin, daß „dies das Gerippe des .Kapitals'" sei. Wir wollen uns diesem „Gerippe" zuwenden, das Marx „mit Leben erfüllte". „Das .Kapital' hatte ja gerade darum ungeheuren Erfolg zu verzeichnen", schrieb Lenin, „weil dieses Werk eines .deutschen Ökofiomen' dem Leser die ganze kapitalistische Gesellschaftsformation lebendig vor Augen führte - so wie sie im praktischen Leben ist, mit den tatsächlichen Ausdrucksformen des Klassenantagonismus, der den Produktionsverhältnissen innewohnt, mit dem bürgerlichen politischen Überbau, der die Herrschaft der kapitalistischen Klasse schützt, mit den bürgerlichen Ideen von Freiheit, Gleichheit usw., mit den bürgerlichen Familienverhältnissen." 07 Muß man nicht mit dieser dialektisch tiefen Allseitigkeit, mit diesem feinen Verständnis für die Kompliziertheit und Nichteindeutigkeit von Erscheinungen die künstlerischen Strukturen untersuchen, in denen Wiederkehrendes und Einmaliges, Richtiges (in dem von Lenin gebrauchten Terminus) und „Falsches", Normatives und Abweichendes, Soziales und Persönliches, Informatives und Ästhetisches zusammen ein untrennbares, einheitliches Ganzes ergeben? Die sogenannte Globalsemiotik ruft nicht deshalb Einwände hervor, weil sie Semiotik ist, sondern weil sie global ist. Die Tatsache an sich, daß in diesen oder jenen künstlerischen Systemen Zeichenmerkmale vorhanden sein können, dürfte unumstritten sein, über ihren Gehalt hingegen läßt sich streiten. Die Anwendung von semiotisch-strukturanalytischen Methoden als Ergänzung dürfte für die Lösung partieller Aufgabenstellungen in der Literaturwissenschaft berechtigt sein. Der Globalsemiotik genügt das jedoch nicht, denn sie betrachtet die Kunst aus199
schließlich als Zeichensystem. Nach Ansicht der Verfechter dieses Standpunktes ist in einem „literarischen Kunstwerk die Beschreibung verschiedener Situationen (beispielsweise die Beschreibung der Natur und der historischen Ereignisse, des Alltags, der zwischenmenschlichen Beziehungen usw.) nur dann sinnvoll, wenn diese Beschreibungen Zeichen, Ideensymbole, Stimmungen, Emotionen, Willensäußerungen, Sympathien, Antipathien, subjektive Einsichten und Absichten des Autors erfassen" 58 . Bei dieser Verfahrensweise geht die künstlerische Erkenntnisfunktion der Literatur aufgrund der Überbetonung der kommunikativen Funktion verloren, die auf der Basis elementarer Konventionen beruht. Unterbewertet würde gleichzeitig alles Spezifische, Unwiederholbare - das Nationale, das Individuelle, das Historische - alles, was sich nicht formalisieren läßt. Aber ohne dieses alles sind künstlerische Entdeckungen, die die „lebendige Seele" der stets überraschenden, ewig sich erneuernden Kunst bilden, undenkbar. Diese Entdeckungen beziehen sich, wie Michail Chraptschenko treffend bemerkte, auf das „soziale Leben der Menschen, ihre innere Welt, ihre Emotionen und Absichten" 59 . Sie spiegeln die „Eigenschaften und Tendenzen" der Wirklichkeit wider, können aber ihrem Charakter nach keine Zeichen sein. Nicht zufällig mißt die semiotisch-strukturanalytische Methode den Wiederholungselementen, wenn nicht die ausschließliche, so doch zumindest eine gewichtige Bedeutung bei, denn bestätigen nicht in der Endkonsequenz diese Elemente die Anwendung von Methoden, die auf der Formalisierung des Kunstschaffens beruhen? In gewissem Maße ist diese Hoffnung nicht unberechtigt, aber . . . nur in gewissem Maße und auch nur begrenzt. In der Kunst besitzt bei weitem nicht jede Anzahl von Wiederholungselementen Zeicheneigenschaften. Darüber hinaus läßt sich in der Regel die Natur des ästhetischen Phänomens nicht völlig mittels ähnlicher Eigenschaften erfassen. Das läßt von vornherein die Schlußfolgerung zu, daß die semiotische Analyse ebenfalls eine Hilfsfunktion ausübt, als einer der Aspekte der komplexen Erforschung der Literatur, mehr nicht. Der heimliche Traum von einer „präzisen" Literaturwissenschaft, der Traum vom Algorithmus, der einen Universalschlüssel für die Enträtselung der Geheimnisse einer jeglichen künstlerischen Erscheinung liefert, wird immer nur Illusion bleiben. Ich will hier nur kurz auf einen anderen Aspekt hinweisen. Die Wiederholung als solche ist bei weitem nicht die Hauptsache, sondern mehr ein konstitutives Prinzip der Struktur eines literarischen Werkes. Selbst in Strukturen mit erhöhtem Invarianzgrad, wie beispielsweise die Folklore oder die mittelalterliche Literatur, bilden die Wiederholungen nur einen Teil des Textes. Aber besonders auffällig tritt diese Tatsache in der Prosa, vor allem auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe der realistischen Erzählung, in Erscheinung. Wiktor Shirmunski hatte seinerzeit völlig recht, daß die charakteristischen Züge der „folkloristischen" Prosa gerade an solchen Beispielen ablesbar sind, die - wie die Romane Stendhals oder Lew Tolstois - ohne die auffälligen konstruktiven „Stützpfeiler" in Form verschiedener ZOO
Wiederholungen auskommen. Die mechanische Anwendung des Wiederholungskriteriums kann zu keinerlei positiven Ergebnissen führen. Und mir geht es hier gerade um die mechanische Anwendung dieses Kriteriums. Beim Überschreiten der textinternen Strukturen, beim Übergehen vom Einzelwerk zum Gesamtschaffen eines Schriftstellers, zur Poetik der Literaturgattungen und -genres, zu jenen Kategorien also wie Tendenz oder Methode usw., können solche Wiederholungen mit großer Wahrscheinlichkeit auftreten. Dabei werden sich identische und manchmal auch typologische Wiederholungsmerkmale herauskristallisieren und sich allgemeine Gesetzmäßigkeiten formulieren lassen. Berechtigt diese Tatsache, darauf zu hoffen, wie es einige Wissenschaftler tun, adäquat der Maßstabübertragung bei kybernetisch-semiotischen und mathematischstatistischen Methoden „meßbare Resultate" erzielen zu können? 60 Meines Erachtens dürfte diese Erwartung allzu voreilig sein. Alexander Wesselowski stellte seinerzeit die hypothetische Frage: „Beschränkt sich nicht das poetische Schaffen auf gewisse feste Formulierungen, feststehende Motive, die eine Generation von der anderen und jene wiederum von der vorhergehenden übernommen hat? . . . Arbeitet nicht jede Epoche mit seit alters bekannten Vorbildern, bewegt sich innerhalb ihrer Grenzen, läßt lediglich neue Kombinationen des Alten zu?" 6 1 Diesen „festen Formulierungen, feststehenden Motiven", „Vermächtnissen" usw., den Realia der literarischen Entwicklung, dürften, ohne dabei einen Fehlschluß zu ziehen, gewisse Zeichenmerkmale nicht fremd sein. Wie jedoch Wiktor Schklowski richtig bemerkte, wird in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens „nicht die Wiederholung als das Wichtigste gelten, sondern das Nicht-Identische, das durch die Erfahrungswerte neuer Erkenntnisse Geborene" 62 . Erstaunlich, daß Wesselowski zum Teil selbst die Rolle der Wiederholungselemente überbewertet hat. Allerdings hat er dabei den Einfluß anderer Faktoren historischen Charakters nicht ausgeschlossen. Er beendete das vorstehend angeführte - von mir absichtlich unterbrochene Zitat - damit, daß „die neuen Kombinationen" alter Formen mit „jenem neuen Verständnis für das Leben angefüllt seien, das den Fortschritt gegenüber dem Alten, Vergangenen ausdrückt" 63 . Es lohnt nicht, sich mit solchen „Feinheiten" der semiotisch-strukturanalytischen Komparatistik zu beschäftigen, selbst dann nicht, wenn sie in der Tradition eines Wesselowski steht. Die Überbetonung, die universelle Bevorzugung der synchronen Beschreibung und die Unterschätzung - wenn nicht gar Ignoranz - der diachronischen Beschreibung, die Bevorzugung des „Textes", anstelle des Kontextes, insbesondere des historisch-sozialen, mit einer Verabsolutierung des Zeichencharakters und der damit verbundenen flachen, mechanischen Behandlung des Wiederholungskriteriums, kann wohl schwerlich bei der Erforschung der Dialektik des literarischen Prozesses erfolgreich sein.
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Kunstwissenschaft. Suche nach einer Synthese. Zur Methodologie komplexer Forschung
D a s wachsende Interesse der Literatur- und Kunstwissenschaft an Problemen der Methodologie bemerkt jeder, der sich mehr oder weniger systematisch mit ihrer Entwicklung befaßt. Nach längerem Stillschweigen, das auf die stürmischen methodologischen Diskussionen der 20er und 30er Jahre folgte, scheint unser ästhetisches Denken erneut Geschmack an der Methodologie gefunden zu haben. D a s ist bemerkenswert, und es lohnt sich zweifellos, über die Ursachen nachzudenken. Unsere gegenwärtige Situation ist vom konsequenten K a m p f gegen die verschiedensten Schulen der bürgerlichen Wissenschaft gekennzeichnet, gegen alle möglichen, sowohl „rechts"- als auch „links"orientierten Versuche, die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik zu revidieren. Aufmerksamkeit verdient hierbei die Tatsache, daß sowohl die Fragen zur Methodologie als auch zur Methodik wissenschaftlicher Untersuchungen in engem Zusammenhang mit Problemen der Weltanschauung und der Ideologie auftreten und den bekannten Mythos über die strenge Abgrenzung von der sogenannten reinen Methodologie ad absurdum führen. E i n e solche Trennung erweist sich als eine Illusion. V o r einigen Jahren war es bei uns üblich, in ironischer, feuilletonistischer A r t Versuche zur Praktizierung semiotischer, mathematischer, logisch-statistischer und anderer „nichttraditioneller" Methoden der Erforschung des Kunstschaffens abzutun. Man w a r der Ansicht - und einige sind es bis auf den heutigen T a g - , daß es dabei nur um eine vorübergehende Modeerscheinung ginge. Doch es sind diffizilere Dinge. In unserer Literaturwissenschaft existiert eine strukturell-semiotische Schule, die intensiv bemüht ist, ihre Einflußsphäre ständig zu erweitern. Diese Erscheinung verlangt eine eingehende Untersuchung und eine wissenschaftliche Beurteilung, denn es handelt sich um Probleme, die über den Rahmen der engbegrenzten Methodik hinausgehen und das Gebiet der Methodologie, ja sogar der Ideologie berühren. E s wäre absurd, nun jeden Forscher, der strukturell-semiotische oder quantitative Methoden anwendet, als ideologischen Gegner anzusehen. D a s käme einer nicht 202
zu tolerierenden Vulgarisierung gleich, die nur Schaden anrichten würde. Doch darf der nicht immer direkte, eher indirekte, dennoch reale Zusammenhang zwischen der sogenannten globalen Semiotik in der Kunst- und Literaturwissenschaft und den Tendenzen der Entideologisierung, der Enthumanisierung des Kunstschaffens und der neopositivistischen, neoformalistischen Schulen verschiedensten Typus nicht ignoriert werden. Die Methodologie ist also auf die eine oder andere Art in die schärfsten weltanschaulichen Kämpfe der Gegenwart integriert. Diese Tatsache wie auch noch andere Faktoren sollten unsere besondere Aufmerksamkeit ihr gegenüber wecken. Ich denke dabei an die spezifischen Aufgaben der Kunstwissenschaft. Sie entwickeln sich heute in Anbetracht komplizierter ideologisch-künstlerischer Probleme, die mit solchen Faktoren wie die wissenschaftlich-technische Revolution, das Anwachsen der Rolle der Kunst, die Akzentverlagerung ihrer sozial-ästhetischen Funktionen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft u. a. in Zusammenhang stehen. Das erfordert, den methodologischen Fundus der Kunstwissenschaft zu vervollkommnen. Das Leben und die lebensnahe Praxis der Kunst lassen neue methodologische Aufgaben und Probleme entstehen, die nach einer positiven Lösung verlangen. Dazu zählt insbesondere das Problem der komplexen Erforschung der Erscheinungen und Prozesse der gesellschaftlichen Entwicklung. • In diesem Zusammenhang sei erinnert vor allem an die erfolgreiche Arbeit der seit Jahren beim Wissenschaftsrat für Geschichte der Weltkultur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR von Boris Mejlach geleiteten Ständigen Kommission für die komplexe Erforschung des Kunstschaffens. Im wesentlichen wurde dort der Grundstein für eine neue Richtung gelegt, die die Erforschung der Kunst in Zusammenarbeit mit verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen - von der Literatur- und Kunstwissenschaft bis hin zur Kybernetik und Mathematik vorsieht. Das Besondere der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der wissenschaftlichen Erkenntnisse charakterisierte Pjotr Fedossejew so: „Das Kunstschaffen wurde zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung unter den verschiedensten Aspekten. Es ist jetzt nicht mehr nur Gegenstand der Literatur- oder Kunstwissenschaft, sondern auch der Psychologie, Physiologie und sogar der Mathematik, ganz zu schweigen von der Soziologie und dem gesamten Komplex der Sozialwissenschaften." 1 Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang den Aufsatz „Historisch-vergleichende und komplexe Erforschung der Gesellschaftswissenschaften"2 von Dmitri Markow, in dem methodologische und wissenschaftsorganisatorische Fragen zur Geschichte und Kulturgeschichte der Völker Mittel- und Südosteuropas untersucht werden, sowie die Arbeiten Juri Lukins3, die der Leninschen Methodologie der Kunstanalyse gewidmet sind. Diesen und anderen zahlenmäßig bisher noch nicht allzu umfangreichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der komplexen Erforschung der Kunst liegt die 203
Überzeugung zugrunde, daß das systemhafte, komplexe Erforschen der Erscheinungen in Natur und Gesellschaft unter der Berücksichtigung sämtlicher Aspekte und Wechselbeziehungen eines der methodologischen Hauptprinzipien der marxistisch-leninistischen Lehre ist. Von Heraklit bis Hegel reichen die Versuche, die Welt und den Menschen als einheitliches, ganzheitliches System zu betrachten. Aber erst der dialektische und historische Materialismus war in der Lage, eine wissenschaftliche, Systemcharakter tragende Analyse der Kategorien, Begriffe und Gesetze als Widerspiegelung der objektiven Gesetzmäßigkeiten der realen Wirklichkeit zu bieten. Als ein solches kompliziertes, ganzheitliches, dynamisches System, das aus einer Vielzahl auf bestimmte Weise geordneter und in ständiger Wechselbeziehung stehender Komponenten besteht, betrachtete Karl Marx die kapitalistischen Produktionsverhältnisse: „Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andere in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dies organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben [darin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. Das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung."4 Von diesem Standpunkt aus betrachtete Lenin die Erscheinungen in Natur und Gesellschaft und betonte die Notwendigkeit, sie in ihrer objektiven Einheit zu analysieren. Marx' größtes Verdienst sah Lenin darin, daß er, sich auf die Methode des dialektischen Materialismus stützend, als Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus den „Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte als eines einheitlichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit gesetzmäßigen Prozesses" aufzeigte und die „Untersuchung der Gesamtheit der Bestrebungen aller Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder einer Gruppe von Gesellschaften" als Grundlage wählte. „Nur dieses Vorgehen", hebt Lenin hervor, „vermag es, das Resultat dieser Bestrebungen wissenschaftlich zu bestimmen."5 Besondere Bedeutung erlangt die Komplexforschung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens unter den Bedingungen des entwickelten Sozialismus, wo an erster Stelle Probleme und Aufgaben von integralem und allgemeinsystemhaftem Charakter stehen. Der Aufschwung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und ihre komplizierter werdende Struktur, insbesondere im Hinblick auf die gesamte sozialistische Gemeinschaft, die Notwendigkeit der Vervollkommnung des Verwaltungssystems auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Entwicklung, das dringende Bedürfnis nach wissenschaftlicher Prognose ökonomischer und sozialer Prozesse, die die allseitige Berücksichtigung einer großen Anzahl miteinander verbundener Kriterien und die Analyse verschiedener Lösungsvarianten postuliert, das alles sind objektive Faktoren, die ein komplexes Herangehen an 204
die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus erfordern. Sie wurden bekanntlich in den Dokumenten des XXIV. und X X V . Parteitages der KPdSU fixiert.6 . Je komplizierter, je zahlreicher die zu lösenden Aufgaben sind, desto aktueller sind die Fragen ihrer Wechselbeziehungen und die Berücksichtigung ihrer vielgestaltigen Abhängigkeiten untereinander. Das Problem der komplexen Erforschung steht an erster Stelle, gleich ob es sich um die Wirtschaft oder um alle anderen Gebiete des gesellschaftlichen Lebens handeln mag. Der Gedanke, die wichtigsten Entwicklungstendenzen der Gesellschaftswissenschaften komplex zu erforschen, war eines der Leitmotive des im Jahre 1967 gefaßten Beschlusses des Zentralkomitees der KPdSU „Über Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Gesellschaftswissenschaften und die Verstärkung ihrer Rolle beim kommunistischen Aufbau". Gerade mit der Komplexforschung verbindet sich das Problem, verallgemeinernde Arbeiten zu aktuellen Fragen der Gesellschaftsentwicklung, der Steigerung der Qualität und Effektivität der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit zu verfassen.7
In welchem Maße kann das bisher Behandelte auf die Kunstwissenschaft bezogen werden? Allgemein betrachtet, scheint die Antwort auf diese Frage klar zu sein. Sofern es sich um die Komplexforschung auf sämtlichen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, um die Praktizierung komplexer Forschungsmethoden in den Gesellschaftswissenschaften als Ganzes handelt, steht die Komplexforschung selbstverständlich auch in direktem Zusammenhang mit der Kunstwissenschaft als einer gesellschaftswissenschaftlichen Disziplin. Diese Antwort ist, formal gesehen, richtig. Es kommt aber nun darauf an, ihr Wesen zu begreifen: Wird die komplexe Forschungsmethode vom Charakter des Gegenstandes diktiert? Wenn ja, worin besteht dann das Wesen dieser Methode, und welches sind ihre charakteristischen Merkmale, speziell auf das Gebiet der Kunst bezogen? Es ist vor allem notwendig, den Inhalt und die Grenzen des Terminus Komplexität bei der Erforschung der Kunst zu präzisieren sowie eine Reihe mit ihr im Zusammenhang stehender, aus ihr resultierender methodologischer Hauptfragen zu klären. Ein Aspekt ist dabei der Systemcharakter der Kunst und die Vielfalt und Kompliziertheit ihrer Struktur. Die von Dmitri Lichatschow geäußerte Ansicht, daß bis vor kurzem die Literatur als System nicht erforscht gewesen sei und selbst der Terminus System in der Wissenschaft gefehlt habe,8 ist allzu kategorisch. Bereits die alten Griechen kannten ziemlich genau eine Einteilung der Musen, und der dritte Teil der Hegeischen „Ästhetik" trägt die Bezeichnung „Das System der einzelnen Künste" 9 . Man muß jedoch zwischen den innerhalb der einzelnen Epochen vorgenommenen Versuchen zur Systematisierung der Erscheinungsformen der Kunst und dem 205
systemhaften Vorgehen bei ihrer Analyse unterscheiden, das die Betrachtung der Kunst nicht einfach in ihrer gewissen Geordnetheit, sondern die Kunst als vielfältiges dynamisches Ganzes postuliert. Diese Methode spiegelt die heutigen Vorstellungen vom Systemhaften wider und kennzeichnet eine qualitativ neue Etappe im Verständnis der Dialektik des Kunstschaffens. Unter diesem Aspekt gesehen, hat Lichatschow, der auf dem Gebiet der altslawischen Literaturen Bedeutendes geleistet hat, recht. Der organische Zusammenhang zwischen dem systemhaften Charakter der Kunst und dem Problem ihrer komplexen Erforschung tritt offen zutage. Wenn wir die Kunst als ein verzweigtes Mehrkomponentensystem betrachten bestehend aus einer Vielzahl von Einzelelementen, die aufs engste miteinander verbunden sind, sich zueinander in komplizierten, zeitweise in direkten wie auch indirekten, nicht starren, sondern veränderlichen, dynamischen Verhältnissen befinden - , ist die Schlußfolgerung dann nicht selbstverständlich, daß bei der Erforschung dieses Systems die fruchtbarste und effektivste Methode jene sein wird, die ein maximal allseitiges, vollkommenes Erfassen der Prozesse in ihrer Gesamtheit und dialektischen Widersprüchlichkeit, das heißt ein komplexes Vorgehen, vorsieht? Dabei haben Untersuchungen auf vergleichend-historischer und typologischvergleichender Ebene vorrangige Bedeutung. Sie enthüllen mit besonderer Deutlichkeit den Charakter der Beziehungen zwischen den Komponenten des einen oder anderen Systems und forcieren damit die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, auf deren Grundlage sich das gegebene System entwickelt. Als Beispiel wollen wir die Erforschung der multinationalen sowjetischen Kunst untersuchen. Unsere Wissenschaft leistete auf diesem Gebiet nicht wenig. Es erschienen zahlreiche Monographien über hervorragende Künstler der Völker der UdSSR, Forschungsarbeiten über einzelne Perioden der Kulturentwicklung der sozialistischen Nationen, der Herausbildung nationaler Schulen der Kunst sowie neuer Gattungen und Genres. Geschichtsabrisse sowie Arbeiten zur Literatur- und Kunstgeschichte wurden herausgegeben: so beispielsweise die sechsbändige „Geschichte der multinationalen Sowjetliteratur" (Institut für Weltliteratur der AdW der UdSSR), die sechsbändige „Geschichte des sowjetischen dramatischen Theaters" (Institut für Geschichte der Künste des Kulturministeriums der UdSSR), die fünfbändige „Geschichte der Musik der Völker der UdSSR" (Institut für Geschichte der Künste), die vierbändige „Geschichte des sowjetischen Films" (Institut für Geschichte der Künste und Forschungsinstitut für Theorie und Geschichte des Films - „Goskino" - der UdSSR), die neunbändige „Geschichte der Kunst der Völker der UdSSR" (Forschungsinstitut für Theorie und Geschichte der darstellenden Kunst der Akademie der Künste der UdSSR). 10 Diese Werke sind das Ergebnis einer umfangreichen, jahrelangen kollektiven Arbeit und verkörpern gleichzeitig eine im Prinzip neue Etappe dieser Arbeit. 206
In welchem Maße können diese Arbeiten als Komplexforschung gewertet werden? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach. So sind einerseits in den genannten Werken alle Disziplinen der multinationalen sowjetischen Kunst und Kultur vertreten. Diese Werke entstanden zudem in kollektiver Zusammenarbeit von Literatur- und Kunstwissenschaftlern, Ästhetikern aus verschiedenen Republiken. Sie sind ein demonstrativer Beweis für den multinationalen Charakter nicht nur unseres Kunstschaffens, sondern auch unserer Kunstwissenschaft. Andererseits wurde, so wesentlich für unsere Komplexforschung Kennziffern wie Erfassungsbreite, Materialumfang u. ä. auch sein mögen, mit den Arbeiten dazu gerade erst begonnen. Es sind sozusagen erste Anfänge der Komplexmethode, genauer gesagt die Voraussetzungen für diese Methode, vorhanden. Der entscheidende Faktor ist jedoch der Grad der Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der Kunstentwicklung, der Dialektik von Einheit und Vielfalt dieses Prozesses. Ohne diese Erkenntnis ist echte Komplexität nicht realisierbar. Diese Tatsache wird heute von unseren Wissenschaftlern akzeptiert. In den Vorworten der obenerwähnten Werke wird beständig die Notwendigkeit betont, die Geschichte der Kunst der sowjetischen Völker als einen einheitlichen Prozeß zu erfassen. Mehr noch, in einer Reihe von Kapiteln - vor allem in der Einleitung - unternimmt man den mehr oder weniger geglückten Versuch, die Parameter dieser Einheit zu definieren und die für die verschiedenen Nationalkulturen gemeinsamen Tendenzen aufzuzeigen und zu erörtern. Solcherart sind beispielsweise die Aufsätze von Leonid Timofejew, Georgi Lomidse, Leonid Nowitschenko in der „Geschichte der multinationalen Sowjetliteratur", die, wie in dem „Redaktionellen Vorwort" hervorgehoben wird, die charakteristischen Merkmale des „gesamtsowjetischen Literaturprozesses" 11 widerspiegeln. Solche Kapitel sind gut geeignet, das Fundament eines Werkes zu bilden. Aber auch auf die „Fundamentbildung" selbst ist zu achten. Dann erst wird nämlich deutlich, daß hier als dominierendes Prinzip trotz allem das Prinzip der Parallelanalyse der Entwicklungswege der einzelnen Nationalkulturen bestehenblieb. Für die anderen genannten Werke ist diese Methode in noch stärkerem Maße charakteristisch; so werden beispielsweise Besonderheiten des russischen, ukrainischen, belorussischen, grusinischen und usbekischen Theaters (bzw. der Musik, des Films, der darstellenden Kunst usw.) herausgearbeitet. Hierbei handelt es sich bei weitem nicht um eine Aufzählung. Man muß vielmehr schon ein bestimmtes Niveau konstatieren, von dem aus die Erforschung der Kulturen der Völker der UdSSR mittels unserer ästhetischen Anschauungen untersucht werden. Dieses Niveau ist insgesamt gesehen sehr hoch. Im Leben, in der künstlerischen Praxis entstehen ständig neue Aufgaben, und die Wissenschaft sieht sich der zwingenden Notwendigkeit gegenüber, immer wieder eine qualitativ neue Stufe zu erreichen. Bekanntlich wird in den Dokumenten unseres Parteiprogramms hervorgehoben, 207
daß die sowjetische Kultur, die ihrem Inhalt nach und in ihrer Hauptentwicklungstendenz sozialistisch, vielgestaltig in ihren nationalen Formen und internationalistisch im Geist und Charakter ist, nicht die mechanische Summierung, sondern eine organische Verschmelzung der von allen Völkern geschaffenen geistigen Werte darstellt. Das unterstreicht die Einheit und Geschlossenheit unserer multinationalen Kultur und die Untrennbarkeit ihrer Komponenten. Es ist die Kultur eines Volkes, das eine prinzipiell neue, unter den Verhältnissen des Sozialismus entstandene, historische Gemeinschaft darstellt: die Kultur des multinationalen Sowjetvolkes. Wir haben es also mit einem komplizierten Mehrkomponentensystem zu tun, in dem jede Einzelkomponente - die Kultur einer gegebenen Nation oder Völkerschaft - in sich gleichzeitig sowohl unwiederholbar Besonderes als auch Allgemeines birgt. Jede Komponente besitzt relative Selbständigkeit und ist zugleich untrennbar mit den anderen Komponenten verbunden, steht mit ihnen in organischer Wechselbeziehung und kann heute außerhalb dieser Beziehungen nicht verstanden beziehungsweise interpretiert werden. Eine komplexe Erforschung dieses Systems ist verständlicherweise ohne breitgefaßte historisch-beschreibende Prozeßerfassung nicht möglich. Dieses Stadium der Arbeit ist notwendig, aber man darf sich nicht darauf beschränken. Unmittelbar nach der logischen und parallelen Analyse (besser gesagt, konform mit diesen) sollte man systemhaft vorgehen. Das bedeutet, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des multinationalen Kunstprozesses als einen einheitlichen, jedoch unendlich vielfältigen, von den konkreten sozialen Verhältnissen und historischen Umständen determinierten Prozeß zu verstehen. Ohne die Unwiederholbarkeit und die Eigenständigkeit der Nationalliteraturen aus dem Auge zu verlieren, könnten wir z. B. gleichzeitig die typologischen Züge des multinationalen sowjetischen Romans oder des Dramas aufdecken, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der dialektischen Wechselbeziehungen zwischen Tradition und Neuleistung erhellen und zeigen, wie gerade diese Gesetzmäßigkeiten beispielsweise in den verschiedenen Nationalliteraturen in Erscheinung treten.12 Untersuchungen dieser Art würden in Verbindung mit historischen und historisch-vergleichenden Analysen bereits eine höhere Stufe der komplexen Erforschung des multinationalen sowjetischen Kunstschaffens darstellen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir uns der Lösung dieser Aufgabe lediglich genähert. Eine andere Frage ist die Erforschung der Kunst und Kultur der sozialistischen Länder. In den letzten Jahren haben die Wissenschaftler der sozialistischen Länder für die Erforschung der Literatur und der Kunst in ihren Ländern sowie ihrer Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Ländern viel getan. Es erschienen Forschungsarbeiten über die Architektur der Tschechoslowakei und Bulgariens, über die ungarische und rumänische Skulptur, das tschechische und rumänische Musik208
schaffen, das Theater und die Graphik in Polen, die bulgarische Dramaturgie und Malerei, das Filmwesen der D D R und Polens. In gemeinsamer Arbeit entstehen Sammelbände über russisch-tschechoslowakische, russisch-ungarische, russisch-polnische, russisch-deutsche Beziehungen auf dem Gebiet der Kunst und Literatur. Ergebnisse kollektiver Arbeit von Literaturwissenschaftlern der Bruderländer sind ebenfalls die Werke über tschechisch-russische und slowakisch-russische Literaturbeziehungen vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und die Arbeiten über polnisch-russische und ungarisch-russische Literaturbeziehungen. Diese bedeutsame, umfangreiche Arbeit bedarf der Fortsetzung und Vertiefung. Der nächste Schritt wäre die Erforschung der sozialistischen Kunst als eines einheitlichen Organismus, eines vielfältigen, komplizierten und gleichzeitig in sich geschlossenen, eines dynamischen, sich in Übereinstimmung mit bestimmten objektiven Gesetzmäßigkeiten befindenden, sich ständig entwickelnden Systems. Diese Gesetzmäßigkeiten sind aufzudecken, jedoch unter Berücksichtigung des Unwiederholbaren, das für das Antlitz einer jeden sozialistischen Kultur charakteristisch ist. Die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen in der Kunst eines jeden dieser Völker der sozialistischen Länder und in der gesamten sozialistischen Kunst zu verstehen und aufzuzeigen ist unser Anliegen, unsere Aufgabe. Heute, da die sozialistische Kunst immer mehr zu einer schöpferischen Kraft wird, die aktiv die Umgestaltung der Welt auf kommunistischer Basis forciert, gewinnt die Erforschung ihrer Anfänge und ihrer Entwicklung an besonderer Aktualität. Um so mehr ist die bürgerliche Kunstwissenschaft daran interessiert, die Entstehung der sozialistischen Kunst und des sozialistischen Realismus als Ergebnis irgendeines administrativen Beschlusses und nicht als organische Widerspiegelung der objektiven Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Weltkultur hinzustellen. Eine Vorstufe zur Lösung der vor uns stehenden Aufgaben sind die vom Institut für Geschichte der Künste herausgegebenen Sammelbände „Die Kunst der Revolution" 13 , in denen die Einflüsse der Ideen der Oktoberrevolution auf das sozialistische Kunstschaffen einer Reihe europäischer Länder nachgewiesen und die Kunst und Kultur eines jeden dieser Länder in ihrer Dialektik von Einheit und Vielfalt analysiert werden. Die historische Entwicklung der Kunst und Kultur dieser Länder weist viele gemeinsame Züge auf. So führte in vielen Ländern die Herausbildung einer eigenständigen Kultur über die aktive Teilnahme der Kunst am nationalen Befreiungskampf. Für alle diese Länder ist gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein verstärkter Entwicklungsprozeß der proletarischen Literatur und Kunst charakteristisch. Von großer Relevanz waren die komplizierten historischen Beziehungen zwischen ihren Nationalkulturen und dem fortschrittlichen Kulturleben in Rußland, wobei gerade diese Beziehungen in der Entstehungszeit der sozialistischen Kunst besonders aktiviert und gefestigt worden sind. 14
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Ein neuer Typ von Wechselbeziehungen zwischen der Kunst und Kultur der Bruderländer hat sich in der gegenwärtigen Etappe auf der Grundlage gemeinsamer politischer Prinzipien und Ziele herausgebildet. So sind die objektiven Voraussetzungen für eine historisch-vergleichende Untersuchung der Genesis und Entwicklung der sozialistischen Kunst und Kultur gegeben. Auf dieser Grundlage bieten sich vielfältige Möglichkeiten zur Aufdeckung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert an. Der nächste Schritt sollte darin bestehen, eine problemorientierte Arbeit über die sozialistische Kunst der Gegenwart als ein prinzipiell neues, ideologiscb-ästhetisches Phänomen, als eine qualitativ neue Etappe der Entwicklung der Weltkultur zu verfassen. Der Bedarf an typologisch-vergleichenden Arbeiten dieser Art ist zweifellos gestiegen. Der Entwicklungsstand des ästhetischen Denkens bei uns und in den Bruderländern, der Grad der Erforschung von einzelnen Aspekten einer gegebenen Problematik ist heute derart, daß Hoffnungen auf Erfolg derartiger Forschungen berechtigt sind. Ich möchte noch etwas eingehender eine mögliche Richtung komplexer Forschung betrachten: die Erforschung des Musikschaffens des 20. Jahrhunderts. Das Musikschaffen war gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Weltmaßstab gesehen so vielfältig, daß trotz der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur der Sowjetunion und des Auslands auf diesem Gebiet noch immer viele „weiße Flecke" vorhanden sind. Die Arbeiten sollen und müssen meines Erachtens in dieser Richtung ebenfalls fortgesetzt werden. Immer deutlicher spürbar wird die Notwendigkeit, die Fakten der Musikentwicklung in unserer Epoche unter Berücksichtigung der historisch entstandenen Beziehungen, Wechselwirkungen und Antagonismen zu analysieren. Auf der Grundlage der Leninschen Theorie über die zwei Kulturen ist das Musikschaffen des 20. Jahrhunderts als ein kompliziertes, zutiefst widersprüchliches, aber in der Endkonsequenz ganzheitliches System zu verstehen, dessen Erforschung der organischen Verbindung verschiedener Aspekte, verschiedener „Schnittpunkte" und Ebenen bedarf. Und das wiederum bedarf einer komplexen Erforschung des Materials. Diese Methode stellt komplizierte und in einer Reihe von Fällen prinzipiell neue Aufgaben. Sie hängen damit zusammen, daß einerseits die Musik im Kontext der Geschichte, des Kunst- und Kulturschaffens gesehen werden muß und andererseits die inneren Gesetzmäßigkeiten der Musik, die Besonderheiten der schöpferischen Methoden ihrer berühmten Meister, die Fragen der Entwicklung des Genres, der Kompositionstechnik, der musikalischen Ausdrucksweise usw., nicht außer acht gelassen werden dürfen. Vieles hängt insbesondere von der Wahl der Struktur der Forschungstätigkeit ab, die dazu beitragen muß, das Material gleichermaßen unter verschiedenen Blickwinkeln analysieren zu können. Als Hauptkomponenten dieser Struktur sollten ausgereifte, historisch-theoretische Arbeiten, Übersichten zu den Genres, Mo210
nographien über einzelne Komponisten und komprimierte Kurzberichte über Hauptprobleme dienen. Eine besondere Rolle spielen bei dieser Forschungsmethode die Synchrontafeln, die illustrativ eine Vorstellung von den Beziehungen zwischen den Fakten des Musikschaffens und den wichtigsten Ereignissen des sozialen und gesellschaftspolitischen Lebens sowie den Prozessen, die in dieser oder jener Periode in angrenzenden Gebieten des Kunstschaffens vor sich gegangen sind, vermitteln. Solch eine Struktur könnte helfen, die historische, die theoretische und die typologisch-vergleichende Methode miteinander zu verknüpfen, um dadurch einen hohen Grad an Komplexität bei der Erforschung eines so komplizierten Mehrkomponentensystems, wie es das Musikschaffen unseres Jahrhunderts darstellt, erreichen zu können. Dieses System wie auch das multinationale Musikschaffen oder die sozialistische Kunst gehören zu den Erscheinungen der makro struktur eilen Ebene. Bei der Erwähnung der Vielfalt und Kompliziertheit der Kunst und Kultur muß jedoch auch die mikrostrukturelle oder morphologische Ebene, die zur inneren Struktur der Kunst gehört, berücksichtigt werden. Ich habe dabei eine so allgemein bekannte Besonderheit der Kunst im Auge wie ihre Differenziertheit nach Gattungen, Genres usw. Letztere dürfen - obgleich relativ eigenständig - nicht voneinander isoliert betrachtet werden, sondern müssen im Gegenteil als kontinuierliche Bewegung, Entwicklung, in ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung, als ein einheitliches, dynamisches System aufgefaßt werden, dessen Charakter sich unter den verschiedenen historischen Bedingungen, in verschiedenen Epochen und auf verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Zivilisation verändert. Wenn wir die Erforschung der Kunst als Ganzes anstreben, darf ein Umstand nicht ignoriert werden. Die innere Differenziertheit der Kunst wurde von der Ästhetik bereits vor undenklichen Zeiten klar erkannt. Offenbar hat Moissej Kagan recht, wenn er die Genesis der morphologischen Methode auf das althellenistische Mythos über Apollo Musagetes und die von ihm angeführten Musen zurückführt.14 Über die Beziehungen zwischen der Poesie und Malerei berichteten bereits Aristoteles, Apelles, Horaz sowie andere Dichter und Denker der Antike, später auch Leonardo da Vinci. Das klassische Beispiel für die Analyse komplizierter Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Kunstgattungen ist bis auf den heutigen Tag „Laokoon", das.berühmte Werk Lessings. Den bedeutendsten Schritt zum systemhaften Verständnis der Morphologie der Kunst tat Hegel. „Diese reale Kunstwelt ist das System der einzelnen Künste"15, schrieb Hegel in der Einführung des dritten Bandes seiner „Vorlesungen über Ästhetik". Die Hervorhebung einzelne Künste stammt von Hegel. Wir indessen würden den Akzent lieber auf das Wort „System" legen. Denn es ist Hegels Verdienst, die Morphologie der Kunst nicht als eine statische Struktur, sondern als dynamische, historischen Veränderungen unterliegende, systemhafte Relation bestimmter und ihrerseits ebenfalls veränderlicher Formen betrachtet zu haben. 14*
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Diese ihrem Wesen nach zutiefst dialektische Methode war für die von der marxistischen Ästhetik unternommenen Versuche, das System der Kunstgattungen zu erforschen, ein nützlicher Ansporn. In diesem Zusammenhang sei vor allem erinnert an die Arbeiten von Fjodor Schmitt und Jeremija Joffe aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die aber leider schwerwiegende methodologische Fehler enthalten, an Arbeiten von Juri Borew, W. Gussew, Nina Dmitrijewa, Wadim Koshinow, Gennadi Pospelow, W. Skaterstschikow und das bereits erwähnte Werk Kagans, 16 in dem das wissenschaftliche Vorhaben mit der Diskussion einer Reihe von Standpunkten verbunden wurde. Ohne auf diese oder jene Versuche näher eingehen zu wollen, möchte ich lediglich auf die Hinwendung zur systemhaften Erforschung der Morphologie der Kunst und zu dem Problem der Wechselbeziehungen zwischen ihren Gattungen und Genres hinweisen. Diese Tendenz bahnt sich immer zielstrebiger ihren Weg sowohl hinsichtlich der Erforschung der einzelnen Aspekte des künstlerischen Prozesses während verschiedener Epochen als auch der Erforschung der Kunst verschiedener Völker. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Dmitri Lichatschows Buch „Der Mensch in der altrussischen Literatur" 17 sowie an die Monographie von Grigori Bojadshijew „Das ewig schöne Renaissance-Theater. Italien-Spanien-England" 18 . Sowohl Lichatschow als auch Bojadshijew analysieren in ihren Arbeiten vielschichtige, direkte und indirekte Beziehungen zur darstellenden Kunst, für sie sind das gleichsam Dominanten des Kunstlebens jeder dieser Epochen. Lichatschow konstatiert ein bemerkenswertes Verschmelzen der künstlerischen Prinzipien der Darstellung des Menschen in der Literatur des n . bis 13. Jahrhunderts: „So kommt es zu einer für diese Zeit (gemeint ist der Monumentalstil des 1 1 . - 1 3 . J h s . - Ju. B.) eigentümlichen Synthese der Künste: Die Monumentalmalerei (Mosaik, Fresken) fügt sich ein in die künstlerische Formgebung der Baukunst. Diese bietet ihrerseits mit ihren einfachen, glatten Flächen die passende Grundlage für die Monumentalmalerei. Das Schrifttum, das vorwiegend für das Vorlesen in den Refektorien der Klöster und im Gottesdienst bestimmt ist (Predigten, Heiligenleben) oder der prunkvollen Ausgestaltung des höfischen Lebens zu dienen hat, entspricht genau den gleichen Forderungen wie Architektur und Malerei und hat teil an der Hervorbringung eines gemeinsamen Monumentalstils der Menschengestaltung."19 Bojadshijew beginnt seine Analyse des italienischen, spanischen und englischen Renaissance-Theaters ebenfalls mit der Bestimmung der Position des Theaters innerhalb der anderen Kunstgattungen dieser Epoche. Er nennt Ursachen für das Zurückstehen der Theaterkunst hinter der Dichtung, Architektur, Malerei und Bildhauerei. Eine solche Methode hat prinzipielle methodologische Bedeutung. Bojadshijew widerlegt die metaphysischen Auffassungen von der Hierarchie, den unterschiedlichen künstlerischen Werten der einzelnen Kunstgattungen und bestätigt die ihrem Wesen nach dialektischen Kategorien wie ungleichmäßige Entwick212
lung der Dominanten, ständige Veränderung ihrer Beziehungen usw. In der für die Renaissance charakteristischen Bewegung des ästhetischen Denkens von der Dichtung zur Malerei und Bildhauerei und noch weiter bis zum Theater repräsentiert sich für Bojadshijew der Kunstprozeß nicht nur als eine einfache Zickzacklinie, sondern als „tiefe Gesetzmäßigkeit des historischen Wechsels der Dominanz einzelner Kunstgattungen" 20 . Gerade von diesem Streben, die objektiven Gesetzmäßigkeiten aufklären zu wollen, wird die Haltung des Wissenschaftlers diktiert, so zum Beispiel in der Betrachtung der Werke E l Grecos „Ansicht von Toledo" und „Begräbnis des Grafen Orgaz" (die Komposition des letzten erinnert ihn an eine eigenartige Theaterinszenierung) oder bei den kühnen Vergleichen von Shakespeare und Rembrandt. Eine völlig andere Etappe in der russischen Kunst und Kultur ist das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor einigen Jahren erschien ein Werk 2 1 zur Schauspielkunst, Musik, Architektur, zur darstellenden und angewandten Kunst der Zeit zwischen 1895 und 1907, dessen Forschungsgegenstand diese außerordentlich bedeutsame, in vieler Hinsicht ungewöhnlich fruchtbare, jedoch bisher nur relativ wenig erforschte Etappe der Geschichte der russischen Kunst und Kultur war. Den Wert dieser Arbeit macht der Versuch einer komplexen Erforschung der verschiedenen Kunstgattungen aus. Die Berechtigung - und mehr noch - , die Notwendigkeit einer derartigen Betrachtungsweise wird von der realen Wirklichkeit des damaligen russischen Kunstlebens diktiert. Eine der wesentlichsten Besonderheiten bestand gerade darin, daß die Wechselwirkung zwischen den Künsten aktiviert wurde. Das führte einerseits zur Bereicherung jedes einzelnen Gebietes des Kunstschaffens und andererseits zu ein^m „Aufeinanderstoßen" dieser Gebiete mit den neuen ästhetischen Erscheinungen. Man braucht nur an die schöpferische Zusammenarbeit des Künstlertheaters mit Tschechow und Gorki, an die enge Verbindung einer ganzen Reihe angesehener Maler mit dem Theater (W. Simow, M. Dobushinski, A . Benua, N . Rerich, B. Kustodijew: Moskauer Künstlertheater; M. Wrubel, W. Wasnezow, W. Polenow: Privatoper; S. Mamontow, K . Korowin und A . Golwin: MarienTheater) und an die Versuche Mejerholds und Skrjabins einer Synthese der Künste, an die ersten Schritte der russischen Kinematographie zu erinnern. Die russische Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende repräsentiert sich uns - sofern man nur den morphologischen „Querschnitt" wählt - schon als ein äußerst kompliziertes, vielschichtiges System, das der Komplexforschung bedarf. Was über die Aktivierung und gegenseitige Durchdringung der Künste um die Jahrhundertwende gesagt wurde, kann in noch höherem Maße auf die gegenwärtigen Verhältnisse bezogen werden. Gewaltig entfalten sich jene Kunstgattungen, insbesondere der Film, in denen Wort, Mimik, Musik, Farbe usw. organisch miteinander verschmolzen sind. Das Fernsehen als jüngstes, kapriziösestes und nicht immer liebstes Kind des 20. Jahrhunderts „verschlingt" voller Leidenschaft alle traditionellen Kunstgattungen. Es 213
nimmt sie nicht nur mechanisch auf, sondern führt sie zu einer Synthese und ist dabei bemüht, eine gewisse neue ästhetische Qualität, neue Formen - Fernsehfilme, Fernsehspiele, musikalische Fernsehrevuen u. a. - zu schaffen, ob in jedem Falle gekonnt, bleibe dahingestellt. Die traditionellen Formen als solche bleiben ebenfalls nicht starr erhalten. Sie unterliegen dem Einfluß anderer Gattungen und beeinflussen diese wiederum ihrerseits. So konstatieren die Literaturwissenschaftler in der Prosa unserer Zeit die Tendenz, Elemente der Filmsprache zu verwenden. 22 Sie dringen ebenfalls in das Bühnengeschehen ein. Noch aktiver aber tritt im Theater des 20. Jahrhunderts das Streben nach einer Synthese von Musik und Sprache in Erscheinung. 23 Noch tiefgehender und stärker ineinander verschmelzend, gestalten sich in unserer Zeit die Beziehungen zwischen Musik und Literatur. 24 Dieser Prozeß ist mit der wissenschaftlich-technischen Revolution, insbesondere mit der stürmischen Entwicklung der Massenmedien, verbunden. Man muß dabei jedoch auch klar den sozialen Aspekt dieses Prozesses sehen. Wie recht hat Anatoli Jegorow mit seiner Ansicht, die er in dem Buch „Ästhetik und gesellschaftliches Leben" formuliert, daß im Sozialismus die wissenschaftlich-technische Revolution sowohl „die Integration und die gegenseitige Bereicherung der Kunstarten, Kunstgattungen und Genres" forciert als auch „zur vertieften Ausprägung ihrer Spezifik führt, indem sie über die gesellschaftlichen Verhältnisse, über die Vergesellschaftung der Arbeit und über die Arbeitsteilung auf die künstlerische Kultur in ihrer Gesamtheit wie auf deren einzelne Bestandteile Einfluß nimmt" 20 . Nicht grundlos tritt die Tendenz zur Synthese der Künste mit besonderer Deutlichkeit in jenen Sphären in Erscheinung, die organisch mit den sozialen Aspekten des Lebens der Gesellschaft, mit den Aufgaben der geistigen und ästhetischen Erziehung des Menschen-verknüpft sind. So zum Beispiel bei Baudenkmälern, in der Architektur der öffentlichen Gebäude, im Städtebau, in der Monumentalkunst usw., das heißt dort, wo „gerade diese Wechselwirkung zwischen den Künsten erlaubt, die Einheit und Komplexität der in Atome zerlegten Welt, den Platz, den der Mensch innerhalb des gesetzmäßigen Aufbaus unserer materiellen Welt einnimmt, hervorzuheben" 26 . Wie wir sehen, liegen in der Natur der Kunst selbst, in ihrer komplizierten, verzweigten, mehrschichtigen Struktur die Voraussetzungen für die komplexe E r forschung begründet. Diese muß über die flexible Verbindung historischer Forschung mit den Forschungen vergleichenden und typologischen Charakters realisiert werden. Das bietet die Gewähr, wenn auch nicht auf allen, so doch zumindest auf den Hauptebenen, sowohl die Besonderheiten als auch die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des künstlerischen Prozesses herausarbeiten zu können. An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, daß eine solche Methode in der Literaturwissenschaft immer breitere Anerkennung finden und interessante wissenschaftliche Ergebnisse bringen wird. Ich erinnere nur daran, daß in Michail Chraptschenkos Buch „Schriftsteller, Weltanschauung, Kunstfortschritt" 27 große 214
Aufmerksamkeit der typologischen Literaturforschung gewidmet wird. Eine weitere Arbeit widmete dieser Autor aktuellen Fragen der Systemanalyse der Literatur.28 Den Arbeiten „Historische Schicksale des Realismus" 29 Boris Sutschkows und „Genesis des sozialistischen Realismus" 30 Dmitri Markows lag das Prinzip der komplexen Praktizierung der Methoden der historisch-vergleichenden und typologischen Analyse zugrunde. Ich beziehe mich gleichfalls auf die in einem Sammelband erschienenen Materialien über eine wissenschaftliche Konferenz zur vergleichenden Forschung in den slawischen Literaturen, die im Mai 1971 vom Institut für Slawistik und Balkanistik und vom Institut für russische Literatur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR veranstaltet wurde. Der bürgerlichen Komparatistik setzte man nicht den traurigen und unfruchtbaren Negativismus entgegen, sondern das konstruktive Prinzip einer objektiv-wissenschaftlichen, sich auf die marxistische Methodologie der Erforschung des literarischen Prozesses stützende Methode. Das galt nicht nur für die Literatur, sondern gleichfalls für die „komplexe Erforschung der Kultur der neuen und neuesten Zeit" 3 1 . In einer Reihe von Aufsätzen - in erster Linie in der diesen Sammelband einleitenden Arbeit Dmitri Markows - werden zum Beispiel solche methodologischen Hauptprobleme behandelt wie das Verhältnis zwischen historisch-vergleichender und typologischer Methode, wie die vergleichende, insbesondere typologische Erforschung der revolutionären sozialistischen Literaturen, die den Weg zur Entdeckung bedeutender Gesetzmäßigkeiten des künstlerischen Prozesses im 20. Jahrhundert bahnen, wie der vielseitige Prozeß der Herausbildung des sozialistischen Realismus als neues ästhetisches System u. a. Diese und ähnliche Fragen gehen weit über den Rahmen der Slawistik hinaus. Was die Kunstwissenschaft anbelangt, so hat man hier bei der historisch-vergleichenden und typologischen Erforschung von Erscheinungen und Prozessen lediglich erste Schritte unternommen. Zweifellos ist inzwischen das Bedürfnis nach Forschungsmethoden dieser Art gestiegen. Zum Gegenstand könnten werden: einzelne Epochen, Richtungen, Tendenzen, grundlegende Gesetzmäßigkeiten, typologische Charakteristika beispielsweise der Kunst der Völker der UdSSR, der sowjetischen Kunst und Kultur, der sozialistischen Kunst der Bruderländer u. ä. oder das System der Wechselbeziehungen zwischen den Kunstgattungen unter verschiedenen konkret-historischen Bedingungen, Prozesse der Genrebildung und -entwicklung. Sollen Arbeiten dieses Typus unsere traditionellen ein- oder mehrbändigen Ausgaben, historischen Überblicke, Monographien über große Künstler, Themensammlungen u. ä. „verdrängen"? Natürlich nicht. Das wäre nicht zum Nutzen der Wissenschaft, da es gleichbedeutend wäre mit einer Einengung des Forschungsbereiches und einer Verarmung der Methoden. Es geht nicht darum, eine Methode durch eine andere zu ersetzen, sondern es kommt auf die richtige Verknüpfung der Methoden an, die es gestattet, die Möglichkeiten für die Erforschung der Kunst zu erweitern und dieser Erforschung Systemchaiaktei zu verleihen.
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Was ist Kunst? Jeder, der es kühn wagt, eine Antwort auf diese sakramental erscheinende, jahrtausendealte Frage geben zu wollen, wird vor allem damit konfrontiert, daß er nie mit einer, selbst der umfassendsten, Charakteristik auskommen kann. Spricht man von Kunst, so hat man in der Regel sowohl materielle Werte unterschiedlichen Charakters als auch das ganze komplizierte System geistiger Werte vor Augen. Kunst - das ist eine Form der Widerspiegelung der realen Welt und somit Mittel zu ihrer Umgestaltung. Kunst - das ist ein soziales, Klassencharakter tragendes Phänomen, berührt sowohl die Sphäre der Ideologie als auch die des Schönen, ist Quelle ästhetischen Genusses. Kunst - das ist eine Informationsquelle, ein „Kommunikationsmittel" eigener Art für die Menschen, ein mächtiger Stimulator emotionaler Energie und unersetzliches Instrumentarium für die Erziehung des Menschen. Kunst - das ist ein relativ autonomes, „mobiles" System, das nach ihm eigenen, spezifischen, inneren Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Kunst - das ist aber auch gleichzeitig ein System, das ständig dem Einfluß äußerer, nicht-ästhetischer Faktoren unterliegt. Nicht eine der hier angeführten Definitionen der Kunst, nicht eine einzige ihrer Funktionen kann imstande sein, einzeln, isoliert betrachtet, eine erschöpfende und gleichermaßen vollständige Vorstellung von der Kunst zu vermitteln. Etwas anderes ist es, wenn unter konkreten Bedingungen die eine oder andere Funktion in den Vordergrund tritt und sich als dominierend erweist. Lenin hat in seinem Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur" die soziale Klassenfunktion der Kunst und Kultur im Kontext des politischen Kampfes in der Periode der ersten russischen Revolution an die erste Stelle gesetzt.32 Nach der Oktoberrevolution, als die Partei Kurs auf die Kulturrevolution genommen hatte, verlegte Lenin den Akzent auf die Aufklärungsfunktion, sich daran erinnernd, wie er in jungen Jahren Tschernyschewski eingehend studierte, wie sein Bruder und er von ihm begeistert waren. 33 Er wies vor allem auf die gewaltige erzieherische Bedeutung des Romans von Tschernyschewski „Was tun?" hin. Wie wir wissen, war Kunst für Lenin Quelle ästhetischen Genusses, die ihm Freude bei der Begegnung mit dem Schönen und gleichermaßen Entspannung bot. Alles das soll jedoch die Hauptsache nicht in den Hintergrund treten lassen: Ihrer Natur nach hat die Kunst einen polyfunktionalen Charakter. Sie richtig zu verstehen, ihre Rolle und ihren „Mechanismus" richtig interpretieren zu können, ist nur unter Berücksichtigung aller ihrer Funktionen im Rahmen ihrer komplizierten, dialektischen Wechselwirkung möglich. Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus dieser in methodologischer Hinsicht überaus wichtigen These für unsere Wissenschaft? Vor allem die Schlußfolgerung, daß die Polyfunktionalität der Kunst eine der 216
objektiven Voraussetzungen für ihre komplexe Erforschung ist, als einer Methode, die sich auf die Integration der Wissenschaften, vor allem der Gesellschaftswissenschaften, stützt. Die Idee ist nicht neu, obgleich sie in jüngster Vergangenheit mit besonderem Nachdruck von der marxistischen Ästhetik verfochten wird. Der ungarische Wissenschaftler Ferenc Tökei schreibt, daß die erfolgreiche Entwicklung der marxistischen Kulturtheorie „nur durch vereintes Bemühen von Soziologie und Ethnographie, Psychologie und Philosophie, Historiographie und Ästhetik und wahrscheinlich noch einer ganzen Reihe von Wissenschaften, möglich ist"37'. Béla Köpeczi begründet in seinem Buch „Ideen, Geschichte, Literatur" 3 5 ebenfalls die Notwendigkeit komplexer Forschung, die Soziologie, Politik, Wirtschafts- und andere Sozialwissenschaften in die Literatur- und Kunstforschung einbeziehen müßte. Gleiche Gedanken äußerte der bulgarische Forscher Alexander Lilow, der den Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Kunst untersuchte. 36 Von den Arbeiten sowjetischer Autoren möchte ich mich auf das bereits erwähnte Buch von Anatoli Jegorow „Ästhetik und gesellschaftliches Leben" 3 7 beziehen, in dem die Frage nach der Kooperation zwischen Ästhetikern, Kunstwissenschaftlern und Vertretern anderer Gesellschaftswissenschaften erörtert wird. Wir haben also allen Grund festzustellen, daß die Integration der Gesellschaftswissenschaften im Interesse einer allseitigen, vertieften Erforschung der Kunst in Theorie und in Praxis heute immer größere Verbreitung findet. Die traditionellen, seit undenklichen Zeiten bereits bestehenden Beziehungen zwischen Kunstwissenschaft, Geschichte und Philosophie werden heute durch neue Kontakte ergänzt. Besondere Aktualität erlangt so die Zusammenarbeit zwischen Ästhetikern, Literatur- und Kunstwissenschaftlern sowie Ökonomen. Die Idee von der Zusammenarbeit wurde seinerzeit von der vulgärsoziologischen Kritik ziemlich diskreditiert, oberflächlich interpretiert. Boris Arwatow, ein Theoretiker der sogenannten formal-soziologischen Schule (Forsozi), trat für die direkte „Übernahme der Methoden aus einer der präzisesten Gesellschaftswissenschaften - der politischen Ökonomie - in die Kunstwissenschaft" 38 ein. Wie einer der Kritiker jener Jahre scharfsinnig bemerkte, würde dadurch der Künstler unmittelbar zum Motor der Produktion. Die primitive Soziologisierung beiseite lassend, wollen wir heute die Zusammenarbeit zwischen Ästhetik und Ökonomie zu einer vorrangigen Aufgabe unter den Verhältnissen des entwickelten Sozialismus werden lassen. Im Zusammenhang mit den Veränderungen in der Produktionsstruktur, der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und der Freizeit, mit dem allmählichen Verschwinden des Unterschieds zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und anderen objektiven Prozessen wird hier der ästhetische Charakter der produktiven Tätigkeit und des wissenschaftlich-technischen Schöpfertums immer offensichtlicher. Die Fragen der Ästhetik der Arbeit erlangen eine immer größere Bedeutung. Die Zusammenhänge zwischen Literatur-, Kunstwissenschaft und Soziologie werden in zunehmendem Maße erkannt. 217
Hier zeichnen sich deutlich zumindest zwei Aspekte ab: Der erste betrifft die Nutzung von Daten aus konkreten soziologischen Analysen zur Einschätzung von Literatur und Kunst, die Einbeziehung dieser Daten in ein System von Kriterien zur Beurteilung von Erscheinungen und Tendenzen der Kunst. Bemerkenswert ist die aktive Beteiligung der Soziologen an den Diskussionen der letzten Jahre über Kunst. Ich möchte nur an die Diskussionen um solche Stücke wie „Der Mann von außerhalb" von Ignati Dworezki oder „Tag der Ankunft - Tag der Abreise" von W. Tscherny erinnern, in denen neue soziale und ethische Fragen aufgeworfen wurden, die mit der wissenschaftlich-technischen Revolution zusammenhängen. Immer häufiger widmet sich die soziologische Forschung solchen Problemen wie beispielsweise dem Bild des Zeitgenossen, insbesondere des Arbeiters der Gegenwart in Literatur und Kunst (unter solchen Gesichtspunkten wie Struktur der Arbeiterklasse, Bildungsstand u. ä.). Diese Beziehungen der Soziologie zur Kunstwissenschaft sind insgesamt als nützlich anzusehen. Die Kunstwissenschaft sieht nicht ohne Grund in dieser Zusammenarbeit eines der zuverlässigsten Mittel für die Überwindung fachlicher Isoliertheit und die Festigung ihrer Beziehungen zur gesellschaftlichen Praxis.-59 Man darf jedoch die Augen nicht vor den diesen Prozeß begleitenden Mängeln verschließen. Es geht hier um das überaus „soziologisierte Analysieren" der Kunst, einerseits als Folge einer überhöhten Vorstellung gewisser Soziologen hinsichtlich der realen Möglichkeiten ihrer Wissenschaft und andererseits wegen der ungenügenden analytischen Einstellung zu den soziologischen Daten seitens der Kunstwissenschaftler. In beiden Fällen handelt es sich um eine Unterschätzung der tatsächlichen gesellschaftlichen und sozialen Funktion der Kunst und ihrer Spezifik. Ein weiterer Aspekt der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kunstwissenschaft und Soziologie ist die Soziologie der Kunst. Dabei lassen sich wiederum zwei Ebenen aufzeigen: a) Die empirische Ebene: sie umfaßt vor allem die konkreten soziologischen Forschungen auf dem Gebiet der Kunst und Literatur, die bei uns in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine besonders weite Verbreitung erfahren haben. Es ist nicht möglich und auch nicht notwendig, darauf näher einzugehen. Unumstritten ist jedoch die Tatsache, daß eine große Menge Material gesammelt worden ist, so zum Beispiel über den ästhetischen Geschmack und das ästhetische Bedürfnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, über den Platz, den die Kunst in der Freizeit der Werktätigen, besonders der Jugend, einnimmt, über einige sozialökonomische Seiten der Entwicklung der Kunst und Kultur u. a. Dieses Material bietet bereits heute die Möglichkeit - wenn auch nur zur Orientierung - , ein soziales Porträt der Leser-, Zuschauer- und Hörerschaft anzufertigen, in dem Kennziffern wie Altersstruktur, Bildungsstufe, Differenzierung des künstlerischen Interesses innerhalb von sozialen Gruppen, Interesse an den verschiedenen Kunstgattungen u. a. Berücksichtigung finden. 218
Es ist an der Zeit, über Möglichkeiten zur Schaffung erster Varianten eines typologiscben Modells der Kunstinteressierten nachzudenken. Das kann in erster Linie selbstverständlich nur als Anfangsstufe gelten, weil solche Untersuchungen bisher in noch unzureichendem Maße zielgerichtet, ja fast spontan durchgeführt werden, und zweitens, weil wir aus diesem Grund bisher mit quantitativen Ziffern operierten, die nur für die Beschreibung allgemeinsoziologischer Tendenzen ausreichend sind, aber keine qualitativen Merkmale des künstlerischen Prozesses berühren. b) Die theoretische Ebene: mit der vordringlichen Aufgabe, auf der Basis empirischer, angewandter konkreter soziologischer Forschung ein komplexes soziologisches Modell zur Funktionsweise der Kunst und Kultur in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft aufzustellen. Neben der angewandten Forschung sollte sich dieses Modell auf die methodologischen Grundprinzipien der marxistischleninistischen Wissenschaft über die Gesellschaft, die Daten der Sozialpsychologie usw. stützen. Es handelt sich hier strenggenommen um zwei Modelle, das reale und das sogenannte ideale Modell. Diese bieten die notwendigen Kriterien sowohl für die Einschätzung der tatsächlichen Sachlage als auch für eine bestimmte Einwirkung auf den Prozeß, für seine Prognose. Daher auch der Kontakt, die Zusammenarbeit, die engen Wechselbeziehungen zwischen der Literatur- und Kunstwissenschaft - sofern sie sich die Aufgabe der komplexen Erforschung der Kunst stellen - und den anderen Gesellschaftswissenschaften. Ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit ist die immer stärker spürbar werdende gegenseitige Annäherung der Kunst- und der Naturwissenschaft. Ich sage bewußt „gegenseitige" Annäherung, da sie tatsächlich wechselseitiger Natur ist. Das weisen auch die von der Kommission für Komplexforschung auf dem Gebiet der Kunst bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR durchgeführten Symposien und von ihr herausgegebenen Sammelbände anschaulich nach. An diesen Symposien nahmen neben Künstlern Repräsentanten der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen - sowohl der Gesellschafts- als auch der Naturwissenschaften - teil. 40 Die These vom steigenden Interesse der Naturwissenschaftler an der Kunst veranschaulicht man in der Regel mit solchen Beispielen wie Einsteins Liebe zur Geige oder seine Begeisterung für Dostojewski. Man sollte sich aber nicht nur darauf beschränken. Es gibt wesentlichere Merkmale - eines davon ist das Eindringen ästhetischer Kriterien in die exakten Wissenschaften, die Hinwendung zur Kunst auf der Suche nach neuen, schöpferischen Impulsen, Assoziationen und neuem Material. Über die „Ästhetik des mathematischen Schöpfertums" berichtet Norbert Wiener in seinem Buch „Mathematik, mein Leben" 41 . Werner Heisenberg war bestrebt, in der Mathematik die Harmonie als qualitatives Kriterium herauszustellen. Niels Bohr ging bei der Aufstellung seines Atommodells in nicht geringem Maße von 219
dem von Einstein herausgestellten Kriterium der „höchsten Vollkommenheit" aus, und nicht ohne Grund ordneten die Experten bereits seinem Modell in der ersten Phase „höchste Musikalität" zu. Diese eigenartige Faszination von der Kunst als Beispiel für höchste Vollkommenheit interpretiert Niels Bohr mit ihren besonderen, unikalen Eigenschaften, deren die Wissenschaft entbehrt. „Die Bereicherung, die die Kunst uns geben kann", schreibt der Wissenschaftler, „beruht auf ihrer Fähigkeit, uns Harmonien zu vermitteln, die jenseits systematischer Analyse bestehen. Man kann sagen, daß Dichtung, bildende Kunst und Musik eine Folge von Ausdrucksformen darstellen, in der ein immer weitergehender Verzicht auf die die wissenschaftliche Mitteilung kennzeichnende Forderung nach Definition der Phantasie freieren Spielraum läßt." 4 2 Ein gleiches Interesse am Kunstschaffen als der Sphäre, die der Erkenntnis neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, besteht unseres Erachtens auch bei den bekannten Experimenten Andrej Kolmogorows, der die Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die Versanalyse anwendet. In diesem Zusammenhang werden die Bestrebungen immer stärker spürbar, Erkenntnisse der Naturwissenschaft zu nutzen, ihre Methoden zur Erforschung der Kunst anzuwenden. Eines dieser Anwendungsgebiete ist die Psychologie des Kunstschaffens. Betrachtet man das ästhetische Denken im Weltmaßstab, so ist zu erkennen, daß hier die bürgerlichen philosophisch-intuitiven Ansichten, die verschiedenen Modifikationen der Freudschen Psychoanalyse noch immer stark verbreitet sind. Was die diesen Ansichten entgegenstehende, wahrhaft wissenschaftliche marxistische Erforschung der Probleme künstlerisch-schöpferischer Tätigkeit und ästhetischer Wahrnehmung anbelangt, so ist heute wie nie zuvor klar, daß sie sich auf die neuesten Ergebnisse der Psychologie, Physiologie und Biophysik stützen muß. In diesem Zusammenhang sei an Lenins Worte erinnert, daß man in das Gebiet der Wissenschaften, aus denen die Erkenntnistheorie und Dialektik hervorgehen, die Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane einbeziehen muß. 43 Ein weiterer Problemkreis ist die Anwendung von Methoden verschiedenster Art in der Kunst- und Literaturwissenschaft, die man bedingt als quantitative bezeichnen kann. Das gilt auch für die Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik sowie die Analyse künstlerischer Erscheinungen unter dem Aspekt strukturell-semiotischer Verfahren, die Versuche ihrer Interpretation unter dem Blickwinkel und in der Terminologie der Informationstheorie (Kodierung, Signal, „Black-box" usw.). Ich habe meinen Standpunkt zu diesen Dingen bereits dargelegt. 44 Deshalb möchte ich mich darauf beschränken, auf die besorgniserregende Tendenz zur Überbetonung der Bedeutung der exakten Wissenschaften für die Kunstforschung hinzuweisen. Die inneren Gesetzmäßigkeiten und Wechselwirkungen im Bereich von Kunst und Kultur werden so ausschließlich als Kommunikationsbeziehungen 220
interpretiert, wobei letztere unter dem Aspekt der mathematischen Informationstheorie Claude Shannons behandelt werden. Besonders charakteristisch sind in dieser Hinsicht beispielsweise die Arbeiten M a x Benses „Einführung in die Informationsästhetik" und die Werke Abraham Moles „Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung", „Soziodynamik der Kultur". 4 5 Man braucht nicht zu erwähnen, daß diese Überbetonung in der Kunstwissenschaft zu einem Verlust des Historismus, einer Unterbewertung und sogar vollständigen Ignoranz des sozialen Kontextes und - in der Endkonsequenz - zum Neoformalismus führt. Das hier Kritisierte bedeutet jedoch nicht, d a ß jene Methoden, die aus den exakten Wissenschaften hervorgegangen sind, überhaupt nicht für die Kunstwissenschaft genutzt werden können. Wenn wir über die zunehmende Bedeutung sprechen, „die der Suche nach Formalisierung von Wissen - selbstverständlich in bestimmten, zulässigen Grenzen in einer Reihe von Gebieten der Gesellschaftswissenschaft und das Interesse an den Methoden der Systemanalyse zukommt" 46 , so gilt das ebenfalls für die Kunstwissenschaft. Die Aufgabe besteht lediglich darin, die „Angriffspunkte" dieser Methode und die Anwendungsbereiche und -grenzen zu präzisieren. Sehr eingehend wurde dieses Problem in den vorangegangenen Kapiteln behandelt. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß meines Erachtens die Anwendung statistischer Methoden bei der Analyse rhythmisch-metrischer, lexikalisch-stilistischer Elemente usw. von praktischem Interesse sein könnte. Von Nutzen ist bekanntlich die strukturell-semiotische Analyse einer künstlerischen Struktur mit einem relativ hohen Grad an Invarianz, das heißt solcher Strukturen, in denen den sich wiederholenden, ihrer Natur nach als Zeichen geltenden Elementen eine wichtige Rolle zukommt (Folklore, Riten und Brauchtum des Volkes, traditionelle Schaustellungen auf Jahrmärkten usw.). Ich stimme jenen Forschern zu, die der Meinung sind, daß die Nutzung von Informationssuch- und -erkennungssystemen für die Rationalisierung der Arbeiten der Literatur- und Kunstwissenschaftler - insbesondere im Informations- und bibliographischen Dienst, bei der Sammlung, Speicherung und Verarbeitung von Erstinformation über verschiedene Objekte und in Einrichtungen des Kunst- und Kulturschaffens - Perspektive hat. 47 In nicht geringem Maße können sich mathematische Methoden auch für die Arbeit zur Attribution von Texten oder Kunstdenkmälern als nützlich erweisen. So werden bei uns und in anderen sozialistischen Ländern interessante - und wie man hofft - , perspektivreiche Forschungsarbeiten zum Einsatz der E D V für die Entzifferung und Analyse einer graphischen Information durchgeführt. Die Experten - sowohl Kunstwissenschaftler als auch Kybernetiker und Datenverarbeitungsfachleute - schließen die Möglichkeit einer breiten Anwendung der E D V auch auf logisch-informatorischer Ebene bei der Attribution von Werken der Malerei nicht aus. 221
Wie wir sehen, stellt sich die Frage nicht so, als seien mathematische, kybernetische oder strukturell-semiotische Methoden überhaupt nicht für die Kunstforschung geeignet. Diesen Methoden darf man lediglich keinen universellen Charakter beimessen. Die sogenannte Globalsemiotik führt zur Einseitigkeit, und jede Einseitigkeit, aber auch jede, läuft der Kunst zuwider. Ein Kunstwerk kann nicht analysiert werden, wenn man seine Entstehungsgeschichte, die Biographie des Künstlers ignoriert. Wir wissen aber auch, daß sich Versuche als nicht fruchtbar erwiesen haben, ein Kunstwerk nur nach der historischbiographischen Methode zu analysieren. Es gibt keine Kunst außerhalb des sozialen Kontextes, dies ist ein Axiom der marxistischen Ästhetik. Dieses Kriterium birgt jedoch auch die Gefahr des Vulgärsoziologismus in sich, wenn es zu einem einheitlichen und universellen Kriterium erklärt wird, was die Praxis beweist. Notwendig und wichtig ist die Erforschung der formalen Aspekte, der inneren Struktur eines Kunstwerkes. Sich jedoch darauf beschränken zu wollen hieße, die Kunst und den Menschen unweigerlich einer Verarmung entgegenzuführen. Dem tschechoslowakischen Ästhetiker Sava Sabouk ist zuzustimmen, wenn er in seiner Polemik gegen den französischen Strukturalisten Todorow hervorhebt, d a ß der Strukturalismus, sofern er aus der Literatur- und Kunstwissenschaft die Erforschung ihrer Beziehungen zur objektiven Realität, die Analyse der Biographie und Psychologie des Künstlers sowie die Psychologie des Lesers oder Betrachters eliminiere, die soziologische und philosophische Analyse ausschließe und in der Endkonsequenz auch die Wissenschaft selbst vernichte. 48 Die marxistische Methodologie setzt der Einseitigkeit die dialektische, ihrer Natur nach komplexe Erforschung sowohl der Kunst in ihrer Gesamtheit als auch des einzelnen Kunstwerks entgegen. Gerade deshalb, weil ein Kunstwerk vielschichtigen Charakter hat, ist es angezeigt, die Versuche, einen einheitlichen, universellen Schlüssel anzuwenden, um so mehr zu verwerfen, als es hier - will man diese Metapher gebrauchen - eher angebracht wäre, ein ganzes Schlüsselbund zur Verfügung zu haben, da sich das Geheimnis des Schöpfertums hinter mehr als sieben Türen verbirgt. Gerechtfertigt und perspektivreich scheint unter dem Aspekt einer kunstwissenschaftlichen Systemanalyse die Herauslösung verschiedener Forschungsebenen (oder Aspekte bzw. Querschnitte) aus einem Kunstwerk auf einer bestimmten Etappe, wobei jede einzelne ihre eigene Analyse, ihre Methode, verlangt. Das eine ist die historisch-biographische Ebene (die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen ein Kunstwerk entstand, und seine Entstehungsgeschichte, biographische Besonderheiten des Künstlers, die irgendwie mit dem jeweiligen Kunstwerk verbunden sind etc.) oder, sagen wir, die ideologisch-philosophische Ebene (der Platz, den das Kunstwerk im gegenwärtigen Kampf der Ideen einnimmt, die philosophischen Ansichten des Autors und ihre Widerspiegelung im jeweiligen Kunstwerk, der objektive philosophische Gehalt der Konzeption des Autors usw.). 222
Auf diesen Ebenen bedient sich der Kunst- und Literaturwissenschaftler in breitem Maße der Verfahren und Methoden aus den Disziplinen Geschichte, Philosophie, Soziologie. Zu einer weiteren Ebene gehört das System der Ausdrucksmittel der gegebenen Kunstgattung, ihre „Sprache", wo solche Kategorien auftreten wie Symbolhaftigkeit, Berechenbarkeit usw. und wo sich gerade deshalb Möglichkeiten eröffnen, „nichttraditionelle" Methoden anzuwenden. Stellt sich der Forscher die Aufgabe, vor allem soziologische Aspekte eines Kunstwerkes (die sozialökonomischen Bedingungen seiner Entstehung und die Reflexion dieser Bedingungen im Kunstwerk, sozial-ästhetische Funktionen des Werkes und die Dynamik der Veränderung dieser Funktionen usw.) zu untersuchen, so sollte in diesem Falle der Kunstwissenschaftler mit dem Soziologen Hand in Hand arbeiten. Dabei kann er nicht nur, sondern muß sich sogar bei der Analyse auf die Daten konkreter, soziologischer Forschungen stützen oder sogar als ihr Initiator in Aktion treten. Dem Wissenschaftler, der ein Kunstwerk auf Sujet- und Kompositions- oder Genre-Ebene analysieren möchte, stehen in erster Linie vergleichende typologische Charakteristika, Verfahren aus dem Erfahrungsschatz der Komparatistik u. a. zur Verfügung. Ist die Geschichte eines Einzelwerkes Forschungsgegenstand, sind wiederum verschiedene Methoden möglich: Es kann ein rein historischer Querschnitt gewählt werden, bei dem das informatorisch-beschreibende Element dominieren wird. Ein weiterer Aspekt ist die Psychologie des Schöpfertums des Autors. Dabei ist das Hinwenden zur Methodik einer Wissenschaft, wie sie der Psychologie eigen ist, völlig natürlich. Berührt man dabei noch die Psychologie der Wahrnehmung, so benötigt man die Daten der Sozialpsychologie und die Ergebnisse konkreter soziologischer Forschung. Schließlich kann die Geschichte eines Kunstwerkes in seinen textologischen Aspekten repräsentiert werden, und auf dieser Ebene ist wie die Praxis beweist - eine ziemlich effektive Anwendung quantitativer Methoden möglich. -"Ich möchte betonen, daß ich mir nicht die Aufgabe gestellt habe, ein mehr oder minder geschlossenes „Modell" für die Analyse eines Kunstwerks vorschlagen zu wollen. Im Prinzip ist es wohl möglich, aber es wäre erstens Gegenstand einer besonderen Diskussion, und zweitens gibt es mindestens zwei Schwierigkeiten: Es ist vor allem überaus schwierig, sofern man eine möglichst vollständige Erfassung aller Seiten eines Kunstwerks anstreben möchte, die Zahl der möglichen Ebenen, die oben erwähnt wurden, einzuschränken. In jedem Falle ist es hier unmöglich, mit einer streng festgelegten Zahl entweder diachroner oder synchroner Ebenen auszukommen, die den von Ferdinand de Saussure vorgeschlagenen Koordinatenachsen entsprechen sollen. De Saussure führte diese Begriffe in die Linguistik ein, und man unternimmt Versuche, dieses Prinzip auch auf das Kunstschaffen auszudehnen. 223
Ich möchte betonen, daß es nicht einfach um Quantität geht. Diese oder jene Ebene kann nicht rein spekulativ definiert werden, sondern sollte jeweils mit der gegebenen künstlerischen Erscheinung verknüpft sein und von den Besonderheiten ihrer Struktur, ihrer unwiederholbaren Spezifik, diktiert werden. Möglich wäre aller Wahrscheinlichkeit nach - zwar nur sehr relativ - ein analytisches Modell etwa für eine Sinfonie Mozarts, für „Krieg und Frieden" von Tolstoi oder für den „Panzerkreuzer .Potemkin'" von Eisenstein. Es wäre mit Sicherheit unnütz, ein verallgemeinerndes, universelles Modell dieser Art zu schaffen. Jedes Modell muß neu geschaffen werden. Außerdem muß hier noch eine andere Seite berücksichtigt werden. Strenggenommen erhalten wir - selbst bei größter Sorgfalt und Akribie - beim Herauslösen einer Reihe von Ebenen aus einem Kunstwerk und ihrer Einzelanalyse unter Anwendung der entsprechenden Methoden eigentlich noch kein Modell für das gegebene Kunstwerk. Es kann sich hierbei im besten Falle nur um eine erste, vorbereitende Etappe der Erarbeitung eines derartigen Modells handeln. Eine Zergliederung ist stets eine Teilung. Darüber hinaus ist zu beachten, daß ein Kunstwerk nicht nur vielschichtig ist, sondern gleichzeitig ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt. Außerhalb dieses ideell-ästhetischen Ganzen ist ein Kunstwerk undenkbar. Bei der „Zergliederung" eines Kunstwerkes zu analytischen Zwecken ist es wichtig, dieses Ganze nicht zu zerstören, um die Kunst nicht in einen für anatomische Zwecke aufbereiteten Corpus zu verwandeln, wie der Puschkinsche Salieri das mit der Musik tat. Das Wesen einer wahrhaft systemhaften, komplexen Erforschung der Kunst besteht darin, nach Anwendung verschiedener Forschungsmethoden und der Analyse bestimmter Etappen nicht auf der Ebene empirischer Zergliederung stehenzubleiben. Das bedeutet nichts anderes, als eine Stufe zur nächsthöheren Ebene der Forschungssynthese - anzustreben. Deshalb ist es notwendig, mit aller Bestimmtheit eine genaue Abgrenzung zwischen der vorgeschlagenen komplexen Erforschung eines Kunstwerkes und dem Verfahren vorzunehmen, das seiner Natur nach monistisch ist, und dem methodologischen Pluralismus, der in der bürgerlichen Literatur- und Kunstwissenschaft weit verbreitet ist. Für die bürgerliche Wissenschaft von heute ist immer noch der methodologische Eklektizismus charakteristisch, den der englische Wissenschaftler Ivor Ä. Richards schon vor einem halben Jahrhundert als „Chaos der kritischen Theorien" bezeichnete. Wenn der amerikanische Literaturwissenschaftler Wilber Scott49 in der Literaturkritik fünf verschiedene Methoden - die moralische, psychologische, soziologische, formalistische, arcKäotype oder morphologische - unterscheidet50, so geht er von der Vorstellung der „Reinheit" und Geschlossenheit dieser Methoden aus und stellt lediglich die Frage nach einer möglichen Koexistenz, eines „offenen Dialogs" zwischen ihnen, aber bei weitem nicht nach ihrer Synthese. 224
Selbst diejenigen, die den Pluralismus verwerfen und von der Synthese träumen, sehen keinen realen Weg, der zu ihr hinführen könnte. 51 Nur die ihrer Natur nach monistische marxistisch-leninistische Theorie ist in der Lage, einen solchen Weg zur Synthese zu eröffnen. Zum Unterschied vom methodologischen Pluralismus analysiert sie nämlich einzelne Ebenen, Aspekte, Komponenten eines Kunstwerkes nicht in imaginärer Isoliertheit, sondern berücksichtigt die komplizierten Wechselbeziehungen und ihre dialektische Einheit. Sie untersucht ein Kunstwerk nicht als Summe, sondern als Komplex. Der Vielzahl an Methoden und chaotischen Vermischung aller Ebenen der Analyse setzt die marxistische Methode ein wissenschaftlich begründetes System verschiedener Methoden und Verfahren entsprechend der Spezifik des zu analysierenden Objekts entgegen, in dem der Methode der materialistischen Dialektik die entscheidende Rolle zukommt. Die angeführten Bemerkungen konnten nur einige methodologische Fragen der komplexen Erforschung der Literatur und Kunst anreißen, das heißt die Voraussetzung für diese Forschungstätigkeit. Insbesondere erschien es mir wichtig, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß a) die systemhafte komplexe Erforschung insgesamt aus der marxistisch-leninistischen Methodologie zur Erforschung gesellschaftlicher Erscheinungen hervorgeht, sich auf diese Methodologie stützt, b) die Aktualität dieser Methode in unseren Tagen mit wichtigen Aufgaben der Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften, vor allem mit der wachsenden Rolle bei der Steuerung sozialer Prozesse verknüpft ist, sie im Zusammenhang damit objektive, qualitative und strukturelle Veränderungen widerspiegelt, die innerhalb der Gesellschaftswissenschaften selbst stattfinden (Differenziertheit und Integration der Disziplinen, die Bereicherung des Forschungsinstrumentariums durch die Methoden der Naturwissenschaften und Elemente der Systemanalyse, Entstehung neuer Richtungen usw.), c) die Komplexforschung nicht im Widerspruch zur Natur und Spezifik der Kunst steht, sondern von ihr diktiert wird. Ein Moment wäre noch zu beachten, dessen Relevanz meines Erachtens die Grundlage dafür bietet, es an den Schluß zu setzen. Die komplexe Erforschung der Kunst kann nicht auf höheren Befehl - oder auf andere Weise - eingeführt werden. Es liegt nicht in unserem Interesse, sie einfach zu banalisieren und zu einem Spiel mit moderner Terminologie zu machen. Die von den gegenwärtigen Bedingungen der Entwicklung von Gesellschaft und Kunst diktierte Forderung nach dieser Forschungsmethode bedarf zusätzlich der Bereitschaft der Kunstwissenschaft, in entsprechendem Maße die im Zusammenhang mit den gegebenen Anforderungen auftretenden Aufgaben auch lösen zu wollen. Diese beiden Faktoren sind voneinander nicht zu trennen, und wenn man von Komplexität spricht, so sollte es stets unter Berücksichtigung der Tatsache i J
Barabasch 6674
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geschehen, nicht hinter den Forderungen der Zeit zurückzustehen, aber sich auch nicht imaginären Vorstellungen hinzugeben. Die Tatsache, daß sich unsere Kunstwissenschaft insgesamt heute auf einer Stufe befindet, wo die komplexe Erforschung der Kunst nicht nur zu einer notwendigen, sondern auch zu einer realen Angelegenheit wurde, bedeutet jedoch nicht, daß dieses für alle Gebiete und alle Ebenen zutrifft. Das ästhetische Denken und gleichermaßen auch die Kunst selbst entwickeln sich ungleichmäßig. Der Übergang zur komplexen Erforschung in dem einen oder anderen Bereich stellt einen bedeutenden Qualitätssprung dar. Dieser Sprung aber bedarf einer fundamentalen Vorbereitung. Er ist erst nach einer grundlegenden Erarbeitung einer maximal großen Zahl von Einzelaspekten, der Erörterung und Präzisierung der methodologischen Schlüsselfragen möglich. Diese Arbeit sollte kontinuierlich fortgesetzt werden, so daß zum Beispiel die komplexe Erforschung der multinationalen sowjetischen Kultur oder der sozialistischen Kunst oder der Musik des 20. Jahrhunderts oder eines anderen Objekts nicht gleichbedeutend mit dem Abbruch der Forschungsarbeiten nach einer anderen, nicht-komplexen Methode ist. Andernfalls wäre das Prinzip der Komplexität gerade zerstört, deren Hauptgedanke und Hauptinteresse in der Erweiterung und Bereicherung liegt und nicht in der Einengung der Möglichkeiten der Kunstwissenschaft.
Die revolutionäre Erneuerung der Welt und die Literatur von heute
Keine Erscheinung des politischen, ökonomischen, sozialen oder geistigen Lebens der Gegenwart kann unabhängig von ihren Beziehungen zu den revolutionären Veränderungen der Welt analysiert und wissenschaftlich gewertet werden. Von dieser Tatsache muß heute jeder realistisch denkende Politiker und jeder unvoreingenommene Wissenschaftler ausgehen. Literarische Erscheinungen bilden hier keine Ausnahme. „Um Prozesse, die sich in der Weltliteratur in der Epoche der sozialistischen Revolution vollziehen, richtig zu verstehen", betonte ein bekannter sowjetischer Literaturwissenschaftler zu Recht, „muß man sie im Lichte jener .gewaltigen Beschleunigung der Weltentwicklung' betrachten, auf die Lenin uns hinwies." 1 Natürlich darf man die Wechselbeziehungen zwischen der Literatur — wie übrigens auch den anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins - und dem revolutionären Prozeß nicht vereinfacht sehen. Die spezifischen, inneren Gesetzmäßigkeiten der literarischen Entwicklung wiederholen keineswegs nur mechanisch die gesellschaftlich-historische Entwicklung. Innere, indirekte Zusammenhänge realisieren sich über ein kompliziertes, flexibles „Übertragungssystem". Diese realen Beziehungen sind zu berücksichtigen, wenn man das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der gegenwärtigen Literaturentwicklung sowie die ideologischinhaltlichen und formbildenden Faktoren des künstlerischen Schaffens verstehen will. In unserer Epoche, da die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen unumkehrbar sind, da die sozialpolitischen und ökonomischen Umwälzungen an Dynamik, Tiefe und Ausmaß alle jene revolutionären Umwandlungen weit übertreffen, welche die Menschheit je gekannt hat, wird immer deutlicher, daß die Weltliteratur ein organischer Teil der Weltgeschichte ist. Die „gewaltige Beschleunigung der Weltentwicklung" setzt sich mit wachsender Kraft fort. „Die ganze Welt ist heute in Bewegung. Stürmische Ereignisse spielen sich bald auf dem einen, bald auf dem anderen Kontinent ab. Diese Ereignisse sind ihrem Charakter nach unterschiedlich, mitunter sogar widersprüchlich. Die Hauptlinien der Entwicklung in der Welt sind jedoch klar. Kontinuierlich wachsen
die Macht des sozialistischen Weltsystems und sein Einfluß auf das Schicksal der ganzen Welt." 2 Diese Hauptlinien bestimmen auch die Richtung der heutigen Literaturentwicklung, die Besonderheiten der gegenwärtigen Etappe in der Geschichte der Weltliteratur. Die Literatur existiert in einer sich verändernden, erneuernden Welt, 3 sie ist ein wichtiger Faktor der gesellschaftlichen Veränderungen (sogar dann, wenn sie versucht, sich der progressiven historischen Bewegung zu widersetzen oder abseits von ihr zu bleiben) und verändert sich gleichzeitig selbst mit der revolutionären Erneuerung der Welt, gewinnt neue Qualitäten. Diese stehen vor allem im Zusammenhang mit dem immer stärker werdenden Einfluß des revolutionären Kampfes und der sozialistischen Ideen auf den weltliterarischen Prozeß, mit der Entwicklung der Literaturen der sozialistischen Gemeinschaft, der Festigung der Positionen des sozialistischen Realismus, mit der Aktivierung der progressiven, demokratischen, realistischen Richtungen und mit der wachsenden Bedeutung der Literaturen der sich befreienden Länder. Angesichts der sich vertiefenden geistigen Krise der bürgerlichen Gesellschaft werden diese Tendenzen besonders deutlich. Im folgenden einige Besonderheiten des gegenwärtigen Literaturprozesses: Ich möchte vorausschicken; daß ich keinerlei Anspruch erhebe, eine allumfassende, detaillierte Karte der Weltliteratur zu zeichnen oder gar einen Abriß aller bedeutenden Erscheinungen in den Literaturen der verschiedenen Länder und Regionen zu geben, ganz zu schweigen von einer detaillierten Analyse dieser Erscheinungen. Der gewaltige Umfang des Materials läßt das nicht zu. In jeder Wissenschaft, so auch in der Literaturwissenschaft, ist man bei der Untersuchung großer Objekte auf einer bestimmten Stufe der Verallgemeinerung häufig gezwungen, wie Dmitri Lichatschow bemerkt, „die Detailliertheit der Information zu opfern", sich nicht auf einzelne „Mikroobjekte", sondern auf „Ensembles von Mikroobjekten", auf vergrößerte „MakroCharakteristika" zu konzentrieren.4 Im vorliegenden Fall lag der Auswahl der Fakten und Erscheinungen nicht das Bemühen um maximal vollständiges Erfassen zugrunde, was ein methodologischer Fehler wäre, sondern vor allem die Frage, in welchem Maße sie die wesentlichen Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten der Literaturentwicklung, die mit der heutigen Etappe des revolutionären Weltprozesses verbunden sind, zum Ausdruck bringen. Auf dem XXV. Parteitag der KPdSU betonte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der USA Gus Hall: „Die Erfolge der Gesellschaft des entwickelten Sozialismus werden von den Massen zunehmend als Maßstab für den sozialen Fortschritt bzw. für sein Fehlen betrachtet." 5 Man kann mit vollem Recht behaupten, daß die Erfolge der sozialistischen Literatur, vor allem der multinationalen Sowjetliteratur, in der heutigen Welt ebenso von allgemeiner Bedeutung sind. Das Niveau unserer Literatur wird im weltliterarischen Prozeß immer mehr zum Maßstab für den künstlerischen Fortschritt, für hohen Ideengehalt und Humanismus. 228
Ich kenne keine andere Literatur, die im 20. Jahrhundert so viele prinzipiell neue geistige Werte geschaffen und einen so starken Einfluß auf den weltliterarischen Prozeß gehabt hätte. Die gesamte gegenwärtige literarische Weltkarte ist eine Folge der tiefgreifenden revolutionären Wandlungen im Ergebnis der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und des Sieges des Sowjetvolkes über den Faschismus, der Umwandlung des Sozialismus in ein Weltsystem und der historischen Erfolge der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Zu Beginn unseres Jahrhunderts schrieb Alexander Block im Vorgefühl großer revolutionärer Veränderungen: „In den Fragmenten russischer Literatur von Puschkin und Gogol bis Tolstoi, in den Seufzern der gemarterten russischen Demokraten des 19. Jahrhunderts, in den hellen und unbestechlichen . . . Blicken der russischen Bauern ist uns eine gewaltige . . . Konzeption eines lebendigen, mächtigen und jungen Rußlands vermacht... Und wenn wo ein solches Rußland .heranreift', dann natürlich - nur im Herzen der russischen Revolution . . ," 6 Mit dem jahrhundertealten Traum von einem neuen Rußland ist alles Herausragende, alles Belebende und Bleibende in der russischen klassischen Literatur verbunden: ihre Treue zum Realismus und zur Wahrheit, ihr politisches Engagement und ihr moralischer Maximalismus, der leidenschaftliche Drang nach Gerechtigkeit, Freiheit und Menschlichkeit, ihre tiefe Volksverbundenheit, ihr Patriotismus und ihr allgemeinmenschlicher, internationalistischer Charakter. Diese Eigenschaften der fortschrittlichen russischen Literatur wurden im 20. Jahrhundert, als Rußland zum Wegbereiter der Weltgeschichte wurde, auf neue Weise weiterentwickelt. Die Erneuerung der Welt und des Menschen auf sozialistischer Grundlage bildete ihren Hauptinhalt, ihr Hauptanliegen; darauf beruhte ihre historische Bedeutung als neue Stufe in der künstlerischen Entwicklung der Menschheit. Heute entdeckt der Wissenschaftler in den literarischen Werken der letzten Jahre nicht nur Eigenschaften, die von einer Entwicklung und Bereicherung der großen Traditionen zeugen, sondern auch immer mehr neue ideologisch-künstlerische Eigenschaften, die organisch mit der heutigen Etappe des kommunistischen Aufbaus verbunden sind. Die heutige Sowjetliteratur verteidigt konsequent die neue Konzeption vom Menschen - einem sich entwickelnden, tätigen, schöpferischen Menschen. Sie bekräftigt aktiv und künstlerisch überzeugend die moralischen und geistigen Werte des entwickelten Sozialismus. Die heutige Welt verändert sich stürmisch, immer klarer enthüllt die bürgerliche Weltordnung ihr antihumanistisches Wesen. Das Beispiel des realen Sozialismus, der sowjetischen Lebensweise wird zur konkreten historischen Alternative. Die Sowjetliteratur schildert eindrucksvoll die gewaltige Anziehungskraft dieser Alternative und leistet damit einen unschätzbaren Beitrag zur revolutionären Umgestaltung der Welt auf sozialistischer Grundlage. Mißt man die Sowjetliteratur an so hohen Kriterien, so zeigen sich einige charakteristische Merkmale des literarischen Prozesses der letzten Jahre in einem beson229
deren Licht, so auch das zunehmende Interesse der Schriftsteller für Probleme der kommunistischen Moral, für die Bekräftigung der „einfachen Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit" 7 , für solche Kategorien wie Pflicht und Gewissen, persönliche Verantwortung und Selbstvervollkommnung. Es ist schon fast zu einem Gemeinplatz geworden, diese Erscheinung in der Kritik zu konstatieren. Doch wo liegen ihre Wurzeln? W o ist die Quelle dieser gewaltigen moralischen „Eruption", die in der multinationalen sowjetischen Prosa solche Namen wie Wassili Schukschin und Tschingis Aitmatow, Wiktor Astafjew und Juri Trifonow, Wassil Bykau und Jewgeni Nossow, Walentin Rasputin und Nodar Dumbadse hervorgebracht hat? Darauf kann es nur eine Antwort geben: Die Quelle liegt in den realen Erfolgen des entwickelten Sozialismus, der die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit zu einer höchst aktuellen Aufgabe macht und zugleich neue Möglichkeiten für deren Lösung schafft. Das spürbar gestiegene Interesse für das innere Wesen des Menschen trägt letztlich (bei aller Umstrittenheit und zuweilen Begrenztheit bestimmter künstlerischer Lösungen) aktiv zur Festigung unserer weltanschaulichen Grundlagen, der geistigen Werte des Sozialismus bei. Es geht darum, das humanistische Potential der Literatur zu stärken und zu bereichern, die Front zu erweitern und den -Kampf für den neuen Menschen, gegen Konsumdenken, geistige Leere und Amoralität zu verstärken. Bei der Behandlung solcher aktueller Themen wie „Der Mensch und seine Arbeit", „Der Mensch und die wissenschaftlich-technische Revolution", „Der Mensch und die Natur", die heute in vielen Literaturen verbreitet sind, gehen die sowjetischen Schriftsteller von den Prinzipien der kommunistischen Moral aus, die sich in der sozialistischen Lebensweise herausgebildet und gefestigt haben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Werke wie „Zar Fisch" von Wiktor Astafjew, „Der weiße Dampfer" von Tschingis Aitmatow, „Die Brigantine" von Oles Hontschar, „Auf Goldsuche in Sibirien" von Oleg Kuwajew, die Erzählung „Mahomed-Mamed-Mamisch" von Tschingis Hussejiiow, die Werke von Daniii Granin und Gawril Trojepolski, Wassili Below und Mykolas Sluckis, W i l Lipatow und Pawel Sagrebelny, Ion Drufä, Gennadi Bokarjow und Alexander Gelman. Die Aktivierung des moralischen Elements, die starke Konzentration auf den Menschen, auf seine innere Welt, sein moralisches Suchen und manchmal auch Schwanken verbinden sich in unserer Sowjetliteratur mit einem vertieften Historismus, mit einer verstärkten Neigung der Schriftsteller, das Leben des Volkes in epischer Breite zu erfassen. Solche Werke wie „Brüder und Schwestern" von Fjodor Abramow, die „Polessje-Chronik" von Iwan Melesh, „Sibirien" von Georgi Markow, „Republik Salzschlucht" und „Die Kommission" von Sergej Salygin, „Die Wege der Saweljews" von Anatoli Iwanow, „Schicksal" und „Geheiligt sei er, dein Name" von Pjotr Proskurin, „Fenja, Weide ohne Trauer" von Michail Alexejew, „Mittags auf der Sonnenseite" von W a d i m Koshewnikow entsprechen dem Verlangen des Volkes, seine schwierige, aber schöne, heroische Geschichte zu be230
greifen, und widerspiegeln das reife gesellschaftliche Bewußtsein. Dies gilt in vollem Maße auch f ü t die Bücher, in denen das künstlerische Gedächtnis immer wieder die „verhängnisvollen vierziger" Jahre vergegenwärtigt und unentwegt Antwort auf die Frage sucht, wie es geschehen konnte: für Juri Bondarews „Heißer Schnee" und Konstantin Simonows Trilogie, „Die Blockade" von Alexander Tschakowski und „Der Krieg" von Iwan Stadnjuk, „Zeit der verödeten H ö f e " von Jonas Avyzius und „August 44" von Wladimir Bogomolow. Diese Werke sind ein künstlerisches und daher besonders eindrucksvolles Zeugnis für die Richtigkeit des vom Sowjetvolk gewählten Weges. Sie sind eine lebendige Verkörperung des sozialistischen Ideals in - wie Lenin sagte - seiner ganzen „Erhabenheit und seiner ganzen Schönheit" 8 . Und - ich gestatte mir hinzuzufügen - in seiner ganzen welthistorischen, humanistischen Bedeutung; denn die multinationale Sowjetliteratur sucht und findet Antworten auf die wahrhaft allgemeinmenschlichen philosophischen und sozialen Grundfragen der Gegenwart. Diese Antworten sind um so überzeugender, als sie sich aus der künstlerischen Praxis heraus entwickeln, aus dem ständigen Suchen nach neuen Möglichkeiten realistischer Bewältigung des Lebens, ohne das eine Weiterentwicklung der Kunst undenkbar ist. Das Streben unserer Sowjetliteratur, tief in Geschichte und Gegenwart einzudringen, die innere Welt der Persönlichkeit in ihrem ganzen Reichtum und ihrer Kompliziertheit zu erfassen, ihre vielfältigen Beziehungen zur umgebenden Wirklichkeit zu begreifen und das Werden des neuen Menschen darzustellen, ist begleitet vom intensiven Suchen und Finden neuer ästhetischer Horizonte, neuer künstlerischer Ausdrucksmittel, neuer Typisierungsprinzipien, Genre- und Erzählstrukturen, kompositioneller Lösungen vom schöpferischen Umgang mit jahrhundertealten, wenn nicht tausendjährigen Formen, beispielsweise des Mythos, der Legende, der Parabel. Kennzeichnend sind in diesem Zusammenhang einige Prozesse in der epischen Prosa. Ihre wachsende Bedeutung sieht die Kritik nicht ohne Grund im Zusammenhang mit dem vertieften Historismus der Literatur. Das Epische äußert sich heute nicht nur im Umfang der objektiv erzählenden Bilder, in der „Panoramahaftigkeit", sondern auch in anderen bisher manchmal ungewohnten Formen. „Die Kommission" von Sergej Salygin erinnert äußerlich wenig an das traditionelle historische Revolutionsepos. Es ist eine dem allgemeinen, tiefen Grundgedanken des Autors untergeordnete Verkettung von Szenen, Geschichten, Parabeln, Dialogen und Streitgesprächen. Diese Gestaltung beeinträchtigt zwar in gewisser Weise den Sujetaufbau und die Kontinuität der Darstellung, gestattet es aber dem Schriftsteller, die Zusammenhänge zwischen den Problemen des Klassenkampfes und den ewigen Fragen menschlichen Seins, des Lebens der Persönlichkeit, ihre Wechselbeziehungen mit Natur und Gesellschaft auf neue Weise zu sehen und zu interpretieren. In dem Roman „Das Ufer" von Juri Bondarew spiegelt sich die Ge231
schichte gleichsam im individuellen Bewußtsein und Gedächtnis des Helden. In seiner persönlichen Erfahrung verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart. Das gibt der Erzählung einen besonderen emotionalen Gehalt. Die Bejahung der geistigen Werte, die sich in der sozialistischen Wirklichkeit herausgebildet haben, ist hier untrennbar verbunden mit dem leidenschaftlichen Interesse für die innere Welt der Persönlichkeit. In dem Gewebe der Erzählung verflechten sich die Prosa des inneren Monologs, das Gespräch des Helden mit der Welt und mit sich selbst. In diesem „Spiegel" erkennt man nicht nur das geistige und moralische Antlitz des Bondarewschen Helden, sondern auch die allgemein bedeutsamen Merkmale der Epoche. Es geht hier durchaus nicht um spezielle Fragen der schriftstellerischen „Technik". Die neuartigen künstlerischen Versuche der Sowjetliteratur tragen dazu bei, ihren revolutionären Einfluß zu erhöhen und noch besser an der Umgestaltung der Welt auf sozialistischer Grundlage mitzuwirken. Es gibt noch einen weiteren Aspekt dieses Problems. In unserer Epoche des sich vertiefenden revolutionären Weltprozesses sind viele neue Völker, Nationen und Völkerschaften mit ihren besonderen Schicksalen und ihren Kulturen historisch aktiv geworden. Sie alle sind bestrebt, sich selbst zu erkennen und ihren Platz in der Kunst der Welt zu bestimmen. Die Literatur als eine Kraft, die das gesellschaftliche und nationale Selbstbewußtsein der Völker formt, spielt heute eine große Rolle. Gerade deshalb sind die Erfahrungen der künstlerischen Kultur der Völker der UdSSR, der von ihr beschrittene Weg, ihr Suchen und ihre Erfolge für die Literaturen des Auslands, vor allem der Entwicklungsländer, in methodologischer Hinsicht von unschätzbarer Bedeutung. Die sowjetischen Nationalliteraturen überwanden seinerzeit sowohl die „lokale" Beschränktheit einer in sich abgekapselten kulturell-künstlerischen Tätigkeit und die hemmende Abhängigkeit von regionalen oder nationalen archaischen Traditionen als auch die Begeisterung für moderne avantgardistische Extreme linksradikaler Richtungen - Tendenzen, die sich heute mehr oder weniger in den Kulturen der befreiten Länder bemerkbar machen. Mit der Methode des sozialistischen Realismus erlangten unsere Literaturen einen vorderen Platz in der heutigen Weltkultur, trugen und tragen dadurch zu ihrem Reichtum bei. Die Gewähr für diesen Erfolg liegt in der Leninschen Nationalitätenpolitik und in der Kulturpolitik der UdSSR. Die nationalen Literaturen haben sich gestützt auf die Prinzipien der kommunistischen Parteilichkeit und Volksverbundenheit - den ganzen Reichtum der Weltliteratur und der russischen und sowjetischen Klassik angeeignet. Auf dieser Basis konnten sie die besten nationalen Traditionen schöpferisch entwickeln und die revolutionäre Entwicklung des nationalen Lebens in der Epoche des Aufbaus des Sozialismus, das Entstehen einer neuen historischen Gemeinschaft, des Sowjetvolkes, darstellen. Die multinationale Literatur des sozialistischen Realismus ist in der Weltkultur 232
eine einzigartige und zugleich zutiefst gesetzmäßige Erscheinung. Sie ist eine anschauliche Verwirklichung der Ideen der internationalen Einheit im Leben der sozialistischen Nationen und Völkerschaften, ihrer gegenseitigen geistigen Beeinflussung und Bereicherung. Gerade in dieser ihrer Eigenschaft greift die Sowjetliteratur aktiv in den Kampf für den proletarischen Internationalismus ein, der wie auf dem XXV. Parteitag der KPdSU unterstrichen wurde - den brüderlich verbundenen kommunistischen und Arbeiterparteien bisher immer als erprobte Waffe gedient hat. Sie ist ein starkes einigendes Element sowohl in der sozialen, politischen und ökonomischen als auch in der kulturellen Entwicklung der V ö l ker. Der Internationalismus wurde für die sowjetischen Schriftsteller zu einer künstlerischen Weltsicht, zu einem geistigen und schöpferischen inneren Bedürfnis. E r äußert sich vor allem in der Weltanschauung und in der ideologisch-ästhetischen Position des Schriftstellers. Zu seiner inneren Überzeugung geworden, durchdringt der Internationalismus jedes seiner Worte, jedes Bild, sein ganzes ästhetischesSuchen. Zweifellos prägen auch die Individualität und das allgemeine Kulturniveau des Schriftstellers sowie die Besonderheiten seiner nationalen Umwelt sein Denken. D a er jedoch in einer Atmosphäre lebt und arbeitet, in der die Völkerfreundschaftlich und brüderlich verbunden sind, in der die nationalen Literaturen eine Einheit bilden und ein ständiger, anregender Austausch von künstlerischen Werten und internationalen Ideen erfolgt, bewegt sich das Denken des sowjetischen Schriftstellers nicht nur im Rahmen seiner Nationalkultur, sondern der gesamten multinationalen Kultur unseres Landes und der ganzen Welt. Deswegen bergen die besten Werke der sowjetischen Schriftsteller, wie Tschingis Aitmatow sagte, „große allgemeinmenschliche Ideale in sich, Probleme, die von den ideologischen Positionen des Sowjetmenschen aus durchdacht sind, von unserem Standpunkt zum sozialen Kampf, zur Geschichte und Gegenwart, zu Persönlichkeit und Gesellschaft" 9 . Bekanntlich begann der Aufbau des neuen Lebens und damit der neuen Kultur in den früheren nationalen Randgebieten des russischen Reiches unter sehr verschiedenen Voraussetzungen. Es ist wohl noch in Erinnerung, wie unterschiedlich die historischen und ästhetischen Erfahrungen der einzelnen Nationalkulturen w a ren, welch große Diskrepanz es zwischen ihnen gab. Die vergangenen Jahrzehnte führten zu einer kontinuierlichen Angleichung des Niveaus der Literaturen der Völker unseres Landes durch enge schöpferische Kontakte und eine ständige gegenseitige Beeinflussung und Bereicherung. Jede Literatur nahm an diesem Prozeß teil und löste ihre Aufgaben auf eigene Weise. Die einen stützten sich auf die reichen nationalen Traditionen, entwickelten sie weiter und suchten nach zeitgemäßen Formen, die den neuen, von der sozialistischen Wirklichkeit hervorgebrachten Inhalt auszudrücken vermochten. Für andere ging es vor allem darum, die ästhetische Aneignung der Welt und des Menschen zu erweitern und in Bereiche des sozialen und geistigen Lebens vorzustoßen, die 233
ihnen früher verschlossen waren; dabei erweiterte sich auch die Palette der künstlerischen Ausdrucksmittel, und es entwickelten sich früher unbekannte Gattungen - Roman, Novelle und Drama. Es gab auch Literaturen, die erst nach der Oktoberrevolution mit einem einzigartigen historischen „Sprung" von der Schaffung einer Schriftsprache, von folkloristischen Formen zur Kunst des sozialistischen Realismus gelangten. Diese Angleichung der Literaturen, ihre Herausbildung als unendlich vielfältige, an unwiederholbarem, nationalem Kolorit reiche und zugleich ideologisch und künstlerisch einheitliche multinationale Sowjetliteratur ist eine objektive Gesetzmäßigkeit des Sozialismus, eine wichtige qualitative Besonderheit, die die grundlegenden revolutionären Veränderungen in der Welt, die neue Stufe in der künstlerischen Entwicklung der Menschheit widerspiegelt. Die Erfahrung der multinationalen Sowjetliteratur hat unwiderlegbar bewiesen, daß gerade der Sozialismus und nur der Sozialismus das nationale Selbstbewußtsein und die schöpferischen Potenzen früher unterdrückter Völker freisetzt, daß er die nationalen Kulturen vor dem Aussterben, vor der Beschränktheit und dem Verlust der Eigenständigkeit bewahrt und ihnen den Weg zur Weltkultur eröffnet. Wenn wir von der Rolle der Sowjetliteratur bei der revolutionären Erneuerung der Welt sprechen, betrachten wir sie als wichtige Komponente eines einheitlichen, vielgestaltigen, dynamischen ideologisch-künstlerischen Systems: der sozialistischen Literatur der Gegenwart. Die Möglichkeit, mehr noch, die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise widerspiegeln die bedeutungsvollen sozialen Veränderungen der Epoche. Die Tendenz zur allmählichen Annäherung der sozialistischen Länder, die „heute mit aller Deutlichkeit als gesetzmäßige Erscheinung zutage tritt" 10 , wirkt sich natürlich auch auf die literarische Entwicklung aus. Zwischen den Literaturen der Länder der sozialistischen Gemeinschaft reifen, festigen und vertiefen sich organische Wechselbeziehungen, beruhend auf der Gemeinsamkeit der Gesellschaftsordnung, die diese Literaturen hervorgebracht hat, auf der Einheit der Ziele, der politisch-ideologischen und weltanschaulichen Grundprinzipien und künstlerischer Bestrebungen. Unter diesen Bedingungen treten die gemeinsamen Züge der Literaturen der Bruderländer, ihr internationalistisches Wesen immer deutlicher hervor. Es ist durchaus nicht mehr einfach die Summe einzelner Literaturen, die sich lediglich in einigen wesentlichen Punkten berühren. Im Verlauf und unter dem Einfluß des revolutionären Weltprozesses, der Herausbildung und Festigung des sozialistischen Weltsystems entsteht eine neue ideologisch-künstlerische Einheit, die stabile Kennzeichen aufweist und eine prinzipiell neue Etappe im geistigen Leben der Menschheit und in der Entwicklung der Weltliteratur kennzeichnet. Dabei führt die Festigung der gemeinsamen Züge in den sozialistischen Literaturen keineswegs zur Eintönigkeit. Die Praxis beweist, daß dabei jede der Literaturen aufblüht und ihre besonderen, unwiederholbaren Züge, ihre besten nationa• 2 34
len Traditionen entwickelt. Das „Allgemeine" findet in unseren Literaturen seinen Ausdruck im „Besonderen", das Spezifische, Individuelle geht organisch in das „Allgemeine" ein. Das ist die Dialektik des Prozesses, und diese Dialektik macht die Literatur nicht ärmer, sondern reicher, sie ist die vorwärtstreibende K r a f t ihrer Entwicklung und die Gewähr für neue künstlerische Erfolge. 1 1 Der sozialistische Realismus, der sich als künstlerische Hauptmethode der sozialistischen Literaturen bewiesen hat, entwickelt sich in jeder Nationalliteratur auf spezifische Weise. In der außergewöhnlichen stilistischen und genremäßigen Vielfalt, die alle Erfindungen von einer „Nivellierung" der Kunst in den sozialistischen Ländern anschaulich widerlegt, zeichnen sich zugleich deutlich bestimmte „Linien" ab, treten allgemeine Eigenschaften der Methode hervor, die sich bei der Lösung der gemeinsamen Aufgabe, die sozialistische Wirklichkeit darzustellen und an der revolutionären Umgestaltung der Welt mitzuwirken, herausgebildet haben. Eine dieser Eigenschaften ist der historische und soziale Optimismus, der im Gegensatz zur politisch-ideologischen und geistigen Krise der bürgerlichen Gesellschaft steht. E r stützt sich mit zunehmender Entwicklung der Literaturen der sozialistischen Gemeinschaft, mit ihrer wachsenden Reife immer mehr auf die wahrheitsgetreue, eingehende und allseitige Darstellung des Lebens des Volkes in der Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit seines historisch neuen Weges. Deutlich zeichnen sich Probleme ab, die mit der Vergangenheit des betreffenden Landes, den Umbruchsereignissen verbunden sind, durch die der sozialistische Weg eröffnet wurde. Das führt gesetzmäßig dazu, daß sich in der Literatur das Gewicht breiter epischer Werke erhöht, die in einigen Literaturen eine Zeitlang „zurückgedrängt" waren. Es ist jedoch keine einfache Neuauflage des Vergangenen, denn in diesem traditionellen Genre zeigen sich qualitativ neue Momente, vor allem das Bestreben der Schriftsteller, die Zusammenhänge zwischen dem historischen Prozeß und dem individuellen Schicksal dialektisch zu sehen. Es ist nicht unbedingt ein Bild des Menschen über das Ereignis, sondern häufiger eine Darstellung des Ereignisses durch den Menschen. Dieser Wechsel der Perspektive reflektiert wesentliche Wandlungen im gesellschaftlichen und ästhetischen Bewußtsein. Die Geschichte realisiert sich in der Lebensbeschreibung, die Lebensbeschreibung fügt sich in den Kontext der Geschichte. Kennzeichnend ist in dieser Hinsicht der Roman des polnischen Schriftstellers Jerzy Broszkiewicz „Lange und glücklich". Der Roman (er ist im Stil der traditionellen polnischen mündlichen Erzählung geschrieben, voll Volkshumor und Selbstironie), in Form von Bekenntnissen, Erinnerungen aufgebaut, gibt über das Schicksal des Helden eine ganze Epoche Polens, vom Beginn des Jahrhunderts bis zur Mitte der sechziger Jahre, wieder. Der Held ist ein typischer Mensch aus dem Volke, der nicht nur durch die Wirren seines abenteuerlichen Lebens, sondern vor allem durch die Logik der Geschichte in den Strudel der revolutionären Ereignisse des Jahrhunderts hineingezogen wird. Als Soldat, Teilnehmer an zwei Weltkriegen, am Krieg 1920 und am Bürgerkrieg in Spanien, kämpft er an vielen Fron-
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ten „für eure und unsere Freiheit" und wird im bürgerlichen Polen illegaler revolutionärer Kämpfer. Ohne Familie lebend, nimmt er im Alter einen Jungen zu sich, der ein schweres Schicksal hat, und hilft ihm, im Leben zurechtzukommen. Auf sein Leben zurückblickend, kann der Held mit tiefer Befriedigung sagen, daß er „lange und glücklich" gelebt hat, denn er hat zusammen mit seiner Heimat und seinem Volk gelebt. Eine lange Zeitspanne aus der Geschichte der polnischen Gesellschaft, vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum Jahre 1944, erfaßt die Epopöe von Maria Dqbrowska „Die Abenteuer eines Nachdenklichen". Es ist eine Art künstlerische Chronik der Entwicklung und des Kampfes der Ideen, des geistigen Suchens der polnischen demokratischen Intelligenz, die die Erkenntnis der Wahrheit unserer Epoche, der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Sieges der Volksmacht mit Opfern und schweren Prüfungen bezahlen mußte. Die Schriftstellerin konzentriert sich vor allem auf das „Drama des Gedankens", bemüht, in den Bereich der Psychologie, der Gefühle, des Erlebens und der Stimmungen des „Nachdenklichen" einzudringen. Deshalb greift sie häufig zur Form des „persönlichen Dokuments" - Tagebuchnotizen, Erinnerungen, Briefen und zahlreichen Assoziationen und Überlegungen, hinter denen sich, ungeachtet ihres bruchstückhaften, teilweise scheinbar intimen Charakters, die Umrisse der Hauptereignisse der Zeit, ihre gesellschaftlichen, politischen Koordinaten abzeichnen (vielleicht nicht immer mit der Genauigkeit und Vollständigkeit, die qian sich wünschte, doch man darf nicht vergessen, daß die Schriftstellerin die Arbeit an dem Roman nicht beenden konnte). In diese Koordinaten fügt sich auch das Schicksal des Helden eines Buches des slowakischen Schriftstellers Andrej Plävka, „Der leidenschaftlich Verliebte", dem der Autor den Untertitel „Ganz wie ein Lebensroman" gab. Die Autobiographie des Erzählers verknüpft sich mit der „Biographie" des Jahrhunderts, des Landes und des Volkes. Gleiches läßt sich auch über das Buch des tschechischen Schriftstellers Josef Rybak „Die Wünschelrute" sagen. In der tschechischen und slowakischen Literatur ist die „Renaissance" der epischen Formen in bedeutendem Maße mit der Überwindung der bekannten krisenhaften Erscheinungen und der Entstellungen der jüngsten Vergangenheit verbunden. Zum Unterschied von der eine Zeitlang vorherrschenden (richtiger müßte man wohl sagen, der Literatur aufgedrängten) Tendenz, das Individuum so darzustellen, als wäre es von der Gesellschaft, der Geschichte und der Zeit isoliert und auf die enge kleine Welt der eigenen Reflexionen begrenzt, ist der Held der tschechoslowakischen Literatur der letzten Jahre Teilnehmer und Schöpfer des historischen Prozesses. E r erkennt den organischen Zusammenhang zwischen individuellen und gesellschaftlichen Werten. Die Rückkehr zum Kollektivdenken, das, wie die tschechoslowakische Kritikerin Hana Hrzalovä schreibt, „gegen die kleinbürgerliche, spießerhafte Weltsicht, gegen Besitzstreben und Konsumdenken gerichtet ist" 1 2 , steht in engem Zusammenhang mit der verstärkten „epischen" Sicht der Gesellschaft und des Menschen. 236
Dies findet seinen Ausdruck unter anderem in dem Bestreben, die Vergangenheit tiefer zu erfassen, sowohl die ältere Vergangenheit („Beug' das Knie vor mir" von Bohumil Riha, „Als Europa Walzer tanzte" von Milos Kratochvil, „Königinnen haben keine Beine" von Vladimir Neff) als auch die relativ junge, die Zeit des zweiten Weltkrieges, zum Beispiel in den Romanen von Jiri Kfenek „Wildlinge" und von Zdenek Pluhaf „Ein Silberling", die vom Geist des antifaschistischen Kampfes, von Solidarität und Kollektivität durchdrungen sind. Auch in der Literatur Jugoslawiens zeichnet sich eine qualitativ bedeutende, ermutigende Tatsache ab: eine Hinwendung zum episch breiten Roman, zur realistischen Erkundung verschiedener Etappen des Kampfes für nationale und soziale Befreiung, zu vielen Mitteln der sozialen und psychologischen Analyse. Kennzeichnend ist in dieser Hinsicht der Roman von Miroslav Krleza „Flaggen". Die fünf Bände des Romans erfassen eine Zeitspanne, die solche Ereignisse wie den ersten Weltkrieg, die Große Sozialistische Oktoberrevolution, den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und die Gründung des Königreichs Jugoslawien einschließt. Der Ideenstreit in der Welt nach der Oktoberrevolution, der Kampf verschiedener politischer Bewegungen und nationaler Konzeptionen, das geistige Suchen der Intelligenz, die Auseinandersetzung um den Sinn des Lebens und die Mission der Kunst, in die Krleza die Politik immer einbezieht - all das läßt ein monumentales, kompliziertes Bild der Zeit entstehen. Der Schriftsteller verurteilt schonungslos die bürgerliche Weltordnung und den Nationalismus, zeigt die alles besiegende Kraft der Ideen des Leninismus, zu dessen Anhänger der Hauptheld des Romans wird. In diesem Helden sind die neuen, progressiven Kräfte der Epoche verkörpert, und der Inhalt der Epopöe konzentriert sich in seinem Schicksal, beschränkt sich aber nicht darauf. Krleza läßt seinen Helden an weltbedeutenden Ereignissen teilnehmen, konstatiert damit aber nicht nur den Einfluß der Geschichte auf die Persönlichkeit. Aufmerksam erforscht er die individuellen Eigenschaften des Helden, die diesen für die progressiven Ideen und Tendenzen der Zeit empfänglich machten. Das „Keimen" des Neuen wird im Roman durch die Persönlichkeit gezeigt, die die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, die Dialektik des Volkslebens begreift. Doch die Entwicklung des Bewußtseins der Persönlichkeit bedeutet auch, daß sich die Persönlichkeit aus einem Objekt in ein Subjekt der Geschichte verwandelt. Im Roman wird besonders unterstrichen, daß die Persönlichkeit mit fortschrittlichem Bewußtsein nicht nur zum Mittler der historischen Bewegung der Zeit wird, sondern auch diese Bewegung beeinflußt. Das Erscheinen von thematisch ähnlichen Werken (man könnte in diesem Zusammenhang auch die Romane „Zeit des Todes" von Dobrica Cosic und „Kriegsglück" von Mihailo Lalic nennen) und ihr großer Erfolg bei Kritik und Lesern beweisen mit aller Deutlichkeit die Lebenskraft der realistischen Richtungen. Das ist im gegenwärtigen Leben Jugoslawiens besonders wichtig.13 Einige wesentliche neue Momente in der Literatur der Länder der sozialistischen 237
Gemeinschaft stehen im Zusammenhang mit der Behandlung sozialer, philosophischer und ethischer Probleme der Gegenwart. Eine allgemeine Tendenz ist das Bestreben, ein vielschichtiges Bild vom neuen Menschen zu schaffen, mit maximaler Tiefe und Glaubwürdigkeit das Wesen der revolutionären Umgestaltung der Welt auf sozialistischer Grundlage, den Prozeß der Herausbildung neuer geistiger Werte zu enthüllen, Sinn und Bedeutung des Sozialismus als der großen historischen Alternative zu zeigen. Besondere Beachtung verdienen die Bemühungen und Erfolge der Schriftsteller in der D D R , ihr geschärftes Interesse für sozialphilosophische und moralische Aspekte des Lebens, für Probleme, die mit dem „Bewußtwerden" und der „Selbstverwirklichung" der Persönlichkeit beim sozialistischen Aufbau, mit ihrem Streben nach gesellschaftlicher Aktivität, schöpferischem Denken und zielstrebiger, verändernder Tätigkeit verbunden sind. Ein eindrucksvolles Beispiel ist hier das Schaffen von Hermann Kant, insbesondere sein Roman „Das Impressum". Held des Buches ist ein Vertreter der neuen Intelligenz, hervorgegangen aus der Arbeiterklasse und geformt unter der Volksmacht, ein Mensch, der mit allen seinen Ansichten und Bestrebungen untrennbar mit dem sozialistischen System verbunden ist. Bei der Suche nach Antworten auf für sein persönliches Schicksal lebenswichtige Fragen verfolgt er gedanklich den zurückgelegten Weg, getrieben von dem inneren Bedürfnis, die durchlebten Jahre kompromißlos zu analysieren und Bilanz zu ziehen. Die Stärke dieses Romans sieht die Kritik in der künstlerischen Überzeugungskraft, mit der die Dialektik von Persönlichem und Gesellschaftlichem, von Individuellem und Kollektivem gezeigt wird, die Wechselbeziehungen zwischen individuellen Entscheidungen und Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaft, zwischen Erziehung und Selbsterziehung der Persönlichkeit enthüllt werden. Das Begreifen der Verantwortung wird zum Kriterium für die politische Reife des Helden: Wenn man gegenüber Mängeln in der umgebenden Wirklichkeit unversöhnlich ist, muß man auch lernen, die eigene Unvollkommenheit zu sehen und zu überwinden, muß man Kritik annehmen, selbstkritisch sein und aus der Vergangenheit überkommene Vorurteile, Erscheinungen des Individualismus und Egozentrismus überwinden (nicht umsonst hat der Schriftsteller selbst betont, daß sein Roman stark „antiegozentrisch" ausgerichtet ist). Das Motiv der moralischen Verantwortung der Persönlichkeit für alles, was ringsum geschieht, bildet auch den ideellen Kern von Günter de Bruyns „Preisverleihung", ebenfalls eine bemerkenswerte Erscheinung in der Literatur der D D R . Wie schon bei Kant verwandeln sich hier die Überlegungen des Helden, Theo Overbeck, über seine bevorstehende Rede zur Verleihung des Literaturpreises an seinen ehemaligen Freund in eine scharfe, schonungslos kritische Analyse der eigenen Lebenspraxis. Es ist ein Gespräch über Ehrlichkeit und Heuchelei, Pflicht und Verantwortung, über die Wahl der persönlichen Position im Leben und über die gesellschaftlichen Folgen dieser Entscheidung. 238
An einem anderen Stoff, doch - was außerordentlich wichtig ist - in derselben ideologischen und philosophisch-moralischen Weise wird das Problem der Verantwortung des Menschen angesichts der scharfen Konfrontation zweier Welten, zweier Ideologien in dem Roman des tschechoslowakischen Schriftstellers B. Nohejl „Das große Wasser" behandelt. Die Darstellung der Ereignisse von 1968 im zweiten Teil des Romans verleiht dem Buch besondere Brisanz. Politische Doppelzüngler und Konterrevolutionäre bemühen sich unter Ausnutzung der Krisensituation, den Bauern eines mährischen Dorfes „die Ordnung und den Geist des Westens" aufzudrängen, zersetzende individualistische Ideen einzuschleusen und ihren „Herdenkollektivismus" zu verunglimpfen. Jedoch alle Provokationsversuche sind vergeblich. Es siegen der Kollektivgeist, die Überzeugung der Bauern von der historischen Richtigkeit des sozialistischen Systems, ihr Verantwortungsgefühl für das Schicksal ihres Dorfes, für die durch ihre Arbeit geschaffene Kooperative und für das Schicksal des ganzen Landes. Der Roman von B. Nohejl ist ein Beispiel aus einer ganzen Reihe von Werken, die von dem aktiven Interesse der tschechoslowakischen Literatur der letzten Jahre für das Leben der Bauernschaft zeugen. Vermutlich wird dieses Interesse dadurch stimuliert, daß die Krisenerscheinungen der jüngsten Vergangenheit das tschechoslowakische Dorf nur unbedeutend berührten. Die eingehende Analyse der Vergangenheit hilft den Schriftstellern, die Wurzeln der Lebenskraft der sozialistischen Gesellschaftsordnung besser zu verstehen und die Faktoren zu erfassen, die die Konsolidierung der tschechoslowakischen Gesellschaft fördern. Das schließt die Beachtung negativer Erscheinungen und ungelöster Probleme im Leben des Dorfes natürlich keineswegs aus, wovon solche Werke wie „Der heilige Michael" von Jan Kozäk und „Doktor Meluzin" von Bohumil Riha zeugen. Das für die tschechoslowakische Literatur Charakteristische darf nicht die prinzipiell wichtigen Momente des Allgemeinen verdecken, die deutlich werden, wenn man die obengenannten Bücher (oder beispielsweise „Das Storchennest" von Jan Kozäk und „Das 1 1 . Gebot" von Jan Jonas) mit solchen Werken vergleicht wie „Du durchschwimmst den Fluß" von Julian Kawalec, „Die Teufel" und „Die Z w ö l f " von Tadeusz Nowak (Polen), „Alle und niemand" von Jordan Raditschkow (Bulgarien), „Tigersprung" von G . Räkosy (Ungarn). Bei aller Unterschiedlichkeit der Konflikte, Sujets und Helden, der Handschriften und der künstlerischen Lösungen spürt man doch deutlich äas gemeinsame Bestreben, die sozialen Veränderungen im Leben des Dorfes, den tiefen Umbruch in der dörflichen Lebensweise darzustellen und zu zeigen, wie sie untrennbar mit den Veränderungen im Bewußtsein, in der Mentalität des heutigen Bauern, mit der Evolution des Nationalcharakters und dem schwierigen Prozeß verbunden sind, in dem sich das in Jahrhunderten entstandene Verhältnis des Menschen zur Natur verändert. Die gesellschaftlichen Errungenschaften erscheinen in organischem Bezug zu den Erfolgen des Sozialismus im geistigen Leben, zur Durchsetzung einer neuen Moral, des Kollektivdenkens. Die Realität der sozialistischen Lebensweise „zermahlt" die 239
konservativen, religiösen und patriarchalischen Elemente im bäuerlichen Weltempfinden. All das jedoch, was fest mit der Poesie der schöpferischen Arbeit auf dem Lande, mit den Traditionen des bäuerlichen Gemeinschaftslebens verbunden ist, das durch die Normen der sozialistischen Moral bereichert wird, muß bewahrt werden. Diesen Problemen, die auf natürliche Weise mit der Problematik der wissenschaftlich-technischen Revolution, mit ihren sozialen und moralischen Folgen verbunden sind, widmen sich solche sowjetische Schriftsteller wie Wassili Schukschin, Fjodor Abramow, Wiktor Astafjew, Jewgeni Nossow, Walentin Rasputin, Hrant Matewosjan und Wladimir Litschutin. Gegenwärtig vertieft sich in den sozialistischen Literaturen das realistische Erfassen der Wirklichkeit, verstärkt sich ihr Erkundungscharakter, werden Pseudoaktualität, Schematismus und Oberflächlichkeit überwunden, ebenso übrigens auch Tendenzen einer billigen Krittelei und fremde modernistische Neigungen. Das trägt wesentlich dazu bei, daß in den besten Werken dieser Literaturen unsere Zeit in ihren wesentlichen Erscheinungsformen erschlossen wird und die geistige Erfahrung der Persönlichkeit zur Erfahrung des Volkes, die Praxis des sozialistischen Aufbaus zum allgemeinen Gang der Geschichte in Beziehung steht. Dieser positive Prozeß ist - anders kann es gar nicht sein - vom Suchen nach neuen realistischen Formen künstlerischer Ausdruckskraft begleitet. Eine bemerkenswerte Besonderheit dieses Suchens ist die Tendenz zu immer freieren Erzählstrukturen, zur Umformung traditioneller Genres, zum freien Wechsel der Zeitebenen, zu den verschiedenartigsten Verbindungen von Tatsache und Fiktion, Dokument und Phantastik, Publizistik und „Spiel". Der ungarische Schriftsteller Lajos Mesterhazi schrieb den allegorischen Roman „Das Rätsel des Prometheus", in dem die genaue, im Geist objektiver Forschung gehaltene Erzählung über das Schicksal des Prometheus, den Herakles vom Felsen befreit, von sehr aktuellen und ironischen Assoziationen und Repliken durchwoben ist. In den Büchern von Tadeusz Nowak verbindet sich das Reale mit dem Märchen, die Wirklichkeit mit dem Traum und der Phantastik. Der Roman „Mein Junge und ich" der tschechischen Schriftstellerin Jaromira Kolärovä ist in Tagebuchform geschrieben, wobei der lyrische Monolog der Heldin bald durch Erinnerungen an die Vergangenheit, bald durch Kommentare ihres halbwüchsigen Sohns unterbrochen wird. Der rumänische Schriftsteller Alexandru Ivasiuc schrieb den Roman „Die Vögel", der gleichsam zwei relativ selbständige Werke in sich vereint. Erwin Strittmatter modernisiert im zweiten Teil seines „Wundertäters" die Mittel des klassischen deutschen Erziehungsromans und des Schelmenromans und führt nicht nur eine Erzählerfigur ein, die die Erzählung über die Vergangenheit von der Position der Gegenwart aus kommentiert, sondern auch solche symbolischen Mittel wie die Gespräche des Helden mit seinem „zweiten Ich" oder die Notizen in ein „Groschenheft" usw. Derartige Versuche, wenn sie sich innerhalb der Poetik des sozialistischen Rea240
lismus entwickeln, bereichern unsere schöpferische Methode, erweitern ihre Möglichkeiten und erhöhen die revolutionär-umgestaltende Wirkung der Literatur. Selbstverständlich darf man nicht die realen Schwierigkeiten und die Heterogenität des Prozesses übersehen. Die literarische Entwicklung verläuft in einigen sozialistischen Ländern mitunter überaus widersprüchlich, geht in verschiedene „koexistierende", aber manchmal auch einander bekämpfende Richtungen; da sind Rückschläge und Einbußen unterschiedlicher Natur unvermeidlich. Trotzdem ist die Hauptsache unbestreitbar: Die sozialistische Literatur, die die, fortschrittlichsten Ideale der Epoche, den ganzen Reichtum, die Vielfalt der neuen Gesellschaft erschließt und die Anziehungskraft des realen Sozialismus zeigt, erringt in der heutigen Welt eine immer größer werdende Bedeutung. Mit der Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus Anfang der 70er Jahre wurde „einer der Hauptmythen, die von den Reformisten und bürgerlichen Ideologen in die Welt gesetzt wurden, der Mythos, daß sich der heutige Kapitalismus von Krisen frei halten könne" 1 4 , widerlegt. Die Erkenntnis, daß „der Kapitalismus eine Gesellschaft ohne Zukunft" 1 5 ist, wurde für viele Schriftsteller, die entweder in kapitalistischen oder in den jungen unabhängigen Ländern wirkten, zu einem wichtigen Faktor bei der Bestimmung ihrer Position. Die Krise des Kapitalismus, die Intensität der revolutionären Prozesse und der ideologische Kampf der letzten Jahre hatten einen so starken Einfluß auf die Kultur, daß bei aller Spezifik der Literaturentwicklung in den einzelnen Ländern und Regionen - Europa, USA, Lateinamerika, Afrika, Asien - einige gemeinsame Tendenzen klar erkennbar sind. Dazu gehört, daß sich die Literatur heute intensiv mit höchst aktuellen politischen Problemen der Zeit befaßt, wobei diese Wende (natürlich die positiven Erscheinungen, nicht linksextremistische oder sonstige spekulative Entstellungen) von bemerkenswerten ideologisch-ästhetischen Wandlungen begleitet war. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich die progressive Literatur Europas und Amerikas vor allem darauf konzentriert, die Ideale der bürgerlichen „Prosperität" zu entlarven und das Konsumdenken, den Kult der Dinge und die Verwandlung des Menschen in einen gedankenlosen Automaten schonungslos zu sezieren (vielsagend sind schon die Titel einiger Bücher jener Jahre: die Geschichte von Georges Perec „Die Dinge" und der Erzählungsband von Alberto Moravia „Der Automat"). Anfang der 70er Jahre ging diese Literatur einen prinzipiell wichtigen Schritt weiter und analysierte den in der kapitalistischen Gesellschaft wachsenden aktiven Protest gegen den falschen Mythos vom „allgemeinen Wohlstand", bemüht, jene Kräfte zu erkennen und zu verstehen, die diesen Protest nähren. Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die früher von den Schriftstellern kaum beachtet worden waren, jene gesellschaftliche Schichten und Gruppen, jene „Massen", die in den letzten Jahren so machtvoll und für viele im Westen so unerwartet ihre K r a f t und ihre Bereitschaft demonstrierten, gegen die kapitalistische 16
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Ordnung zu kämpfen, werden in die künstlerische Darstellung einbezogen. Gegenstand intensiven Interesses und tiefgründiger Überlegungen werden immer mehr der Begriff der Revolution selbst und mögliche Wege ihrer Verwirklichung. Ausländische Kritiker und einige unserer Forscher schreiben, wenn sie das Wesen dieses Prozesses charakterisieren, von einer Rückkehr zum Realismus, einer Wende zum Realismus usw. Wahrscheinlich sind solche Formulierungen hier doch zu kategorisch; man sollte vielleicht besser von einer Verstärkung des Vertrauens Zur Realität sprechen. Wie dem auch sei, die Fachleute sind sich darin einig, daß die vermerkte Tendenz mit einer Aktivierung des gesellschaftlichen Denkens der Schriftsteller zusammenhängt, mit ihrem Bestreben, sich in den komplizierten gesellschaftspolitischen Ereignissen, deren Zeugen und manchmal Teilnehmer sie wurden, zurechtzufinden. Immer häufiger beschränkt sich der Schriftsteller nicht mehr darauf, die Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung zu konstatieren, sondern ist bemüht, bis zu ihren Wurzeln, zu den Zusammenhängen zwischen Ursachen und Folgen vorzudringen. Ein besonders wesentliches und vielversprechendes Symptom der qualitativ wichtigen Wandlungen in den Literaturen des Westens der letzten Jahre ist wohl der spürbare Aufschwung des Themas „Arbeit". Dabei geht es nicht einfach um die Erhöhung der Anzahl der Werke, in denen die werktätigen Massen, vor allem das Proletariat, im Mittelpunkt der künstlerischen Aufmerksamkeit stehen. Die Schriftsteller versuchen zu verstehen, welche revolutionären Potenzen die Arbeiterklasse in sich birgt, wie sich ihre Interessen zu den Interessen der ganzen Nation verhalten und welchen Platz das Proletariat in der sozialen Struktur der Gesellschaft einnimmt. Dieses Bemühen, die Arbeiterklasse im Kontext gesamtnationaler ! Probleme zu betrachten, zeigt sich, wenn auch durchaus nicht in gleichem Maße, in verschiedenen Literaturen und unterschiedlichen Gattungen. Charakteristisch ist es für eine Reihe amerikanischer Schriftsteller. Wachsendes Interesse für den arbeitenden Menschen ist auch in der englischen Prosa zu bemerken - in den Romanen von Alan Sillitoe „Ein Start ins Leben", John Wain „Ein Winter in den Bergen", Raymond Williams „Die zweite Generation" und dem jüngeren Melvyn Bragg, der über Landarbeiter und Knechte schreibt. In der BRD, wo eine Vielzahl von Werkkreisen oder Zirkeln der Arbeiterliteratur die Traditionen der bekannten Dortmunder „Gruppe 6i" 1 6 fortsetzt, wird das Thema der Arbeit, der Solidarität der Werktätigen in den Büchern von Max von der Grün, Martin Walser, Günter Wallraff und Christian Geißler sowie in den Werken der Schriftsteller, die sich um die Zeitschrift „Kürbiskern" 17 gruppieren, gestaltet. Aktiv im Geiste der Tradition, die mit den Namen von Jean Fréville, André Stil und Jean-Pierre Chabrol verbunden ist, arbeitet in Frankreich heute Roger Chateauneu ; er schuf in dem Roman „Durch die höchste Tür" das Bild eines alten Kommunisten und Widerstandskämpfers, der die jungen Arbeiter kämpfen lehrt, um die Welt zu verändern. Der große Problemkreis, der mit dem Leben und 242
Kampf des Proletariats verbunden ist, wird in den besten Werken der demokratisch gesinnten japanischen Schriftsteller (Nakadzato Kise), im Gesellschaftsroman Italiens, Spaniens, Finnlands und in der schwedischen Publizistik und Dramatik (Sara Lidman) berührt. Offensichtlich reagiert die progressive Literatur feinfühlig auf den neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern, auf das Wachsen der politischen Reife, der Kraft und Autorität der Arbeiterklasse. Der Held dieser Literatur, der Arbeiter, „will nicht stummes Anhängsel einer Maschine sein, das gedankenlos die Güter der Konsumgesellschaft nutzt", er „wird reif für künftige Kämpfe" 1 8 . Man kann in diesem Zusammenhang von verstärkten Tendenzen des sozialistischen Realismus sprechen, die in der allgemein wachsenden Anziehungskraft der sozialistischen Ideen, in der Radikalisierung breiter Schichten der westlichen Intelligenz und in der erhöhten gesellschaftlichen Aktivität der Kunst wurzeln. Zweifellos zeigen sich gerade in dieser Richtung mit besonderer Deutlichkeit Berührungspunkte zwischen der progressiven westlichen Literatur und den revolutionären Prozessen in der Welt, obwohl man davor warnen muß, Bedeutung und Einfluß der erwähnten Tendenzen zu überschätzen: Noch gibt es hier zuviel Unausgeformtes, Keimhaftes, Zufälliges, und selbst die Vorstellungen vom sozialistischen Realismus sind sehr häufig entweder unklar oder vereinfacht und schematisch. Deswegen wäre es falsch, die Tatsachen zu unterschätzen, die davon zeugen, daß der kritische Realismus nach wie vor hohe schöpferische Potenzen in sich birgt, daß sich seine Positionen in den Literaturen einiger Länder festigen und daß sich was das wichtigste ist - diese Richtung immer reicher entwickelt. Allerdings sind die politischen und die ideologisch-ästhetischen Positionen der Vertreter des kritischen Realismus durchaus nicht homogen und nicht immer fehlerfrei. Unter den komplizierten Bedingungen des ideologischen Kampfes kommt es vor, daß sich einige große realistische Schriftsteller, der Logik des eigenen Schaffens zuwider, im gemeinsamen Lager mit Entspannungsgegnern und ungebetenen Verteidigern der „Menschenrechte" und der „Demokratisierung" des Sozialismus befinden. Nicht allen gelingt es, dem Einfluß modernistischer „Neuerungen" oder kommerzieller Versuchungen zu entgehen. Derartige Tatsachen sind mehr als bedauerlich, sie dürfen jedoch nicht die objektive gesellschaftliche und ästhetische Bedeutung des Schaffens dieser Schriftsteller verdecken. In den besten, besonders tieflotenden Werken von Robert Penn Warren und Alberto Moravia, Kurt Vonnegut und Graham Greene, Hervé Bazin und Wolfgang Koeppen, Robert Merle und Charles P. Snow, Heinrich Boll, Miguel Delibes, Juan Goytisolo und Max Frisch wird eindrucksvoll gezeigt, daß das kapitalistische System den Interessen des Menschen und der Menschheit von Grund auf feindlich ist. Die Schriftsteller veranschaulichen die geistige Unfruchtbarkeit und den moralischen Verfall der bürgerlichen Welt und bestätigen folgerichtig den Gedanken, 243
daß sie ohne Perspektive und zum Untergang verurteilt ist. Viele realistische Schriftsteller fällen ein kompromißloses Urteil über die Konsumgesellschaft mit ihren falschen Werten, lehnen den bürgerlichen Konformismus entschlossen ab und suchen (das ist ein wesentliches neues Merkmal der westlichen Literaturentwicklung der letzten Jahre) beharrlich und in den verschiedensten Richtungen nach einer sozialen und moralischen Alternative, die bei der Überwindung des alles vernichtenden Skeptizismus und und Pessimismus einen Halt geben könnte. Wenn sich John Gardener („Nickelberg"), Heinrich Boll („Die verlorene Ehre der Katharina Blum") oder Pascal Lainé („Die Spitzenklöpplerin") bei der Suche nach den wahren Werten dem gewöhnlichen, „einfachen", arbeitenden Menschen zuwenden und John Updike seinen Helden Harry Angstrom („Hasenherz") mit jungen Rebellen und Extremisten zusammenführt, so bemüht sich Siegfried Lenz in dem Roman „Das Vorbild", die heroische Gestalt eines kommunistischen Antifaschisten zu schaffen. Wenn Graham Greene sich dem flammenden lateinamerikanischen Kontinent zuwendet („Der Honorarkonsul"), wenn Jean-Pierre Chabrol auf die Erfahrungen der Pariser Commune zurückgreift („Die Kanone .Fraternité'"), so sucht Robert Merle in dem utopischen Roman „Malevil" den Antipoden der bürgerlichen Demokratie in einem von seiner Phantasie erschaffenen Kommunemodell, das nach einer thermonuklearen Weltkatastrophe entstanden i s t . . . Und in dem Buch des italienischen Schriftstellers Romano Bilenchi „Der Knopf von Stalingrad" wird der Mantelknopf eines sowjetischen Soldaten, der bei Stalingrad gefallen ist, zum Symbol des Sieges der Menschheit über die finsteren Kräfte des Faschismus . . . Es ist eine andere Frage, daß diese Versuche bei weitem nicht immer ihr Ziel erreichen. Für Graham Greene beispielsweise endet der Konflikt zwischen dem revolutionären Elan und der christlichen Moral hoffnungslos, tragisch, und bei John Updike und seinem „Hasenherz" können der Grausamkeit der kapitalistischen Wirklichkeit „nur die zeitlosen christlichen Ideale der Demut und des Mitgefühls" 19 entgegengestellt werden, allerdings ohne den Helden aus der ausweglosen Situation herauszuführen. Und trotzdem, bereits das Bestreben der Schriftsteller, über die bloße Kritik hinauszustoßen und die Entfremdung zu überwinden, weckt Hoffnung. Man muß darin den Einfluß (ob direkten oder indirekten, bewußten oder unbewußten, ist eine andere Frage) jener tiefgreifenden revolutionären Wandlungen unserer Epoche sehen. In einigen Fällen kann man zu Recht von einem direkten Einwirken der sozialistischen Ideen auf die Denkweise und das Weltempfinden des Schriftstellers sprechen. „Ich bin so überzeugt von der sozialistischen Zukunft der Welt", bekennt Hervé Bazin, „daß ich sie überhaupt nicht in Frage stelle." 20 Die Aktivierung der progressiven Kräfte der Literatur des Westens wurde durch die demokratische Massenbewegung gegen den Krieg in Vietnam gefördert. Einige bedeutende Schriftsteller, besonders der USA, des Aggressorlandes, nahmen an dieser Bewegung teil, und das blieb nicht ohne Folgen sowohl für die öffent244
liehe Meinung als auch für das künstlerische Schaffen. Das Thema des „schmutzigen Krieges", der mit tragischer Deutlichkeit die schrecklichen Züge des Imperialismus enthüllte, ernüchterte die einen, weckte die anderen aus sentimental-liberaler Erstarrung und veranlaßte die dritten, die kleine Welt formalistischer E x perimente und existentialistischer Reflexionen zu verlassen. Ein eindrucksvolles literarisches Dokument, das diesen politischen Aufschwung fixiert, war die unter der Redaktion des amerikanischen kommunistischen Dichters Walter Lowenfels herausgegebene Anthologie „Wo ist Vietnam? Amerikanische Dichter antworten". Das „Vertrauen zur Realität", von dem bereits die Rede war, findet seinen Ausdruck in den verschiedensten Formen und Tendenzen der westlichen Literatur der letzten Jahre. So werden im Schaffen der afroamerikanischen Schriftsteller allmählich jene extremistischen, nationalistischen Überspitzungen überwunden, die sich bei einigen Vertretern der „neuen Welle" der 6oer Jahre gezeigt hatten, so bei John Oliver Killens, der in dem Roman „Sippy" die Einheit von Vertretern verschiedener Rassen im Kampf für Freiheit absolut verneinte, oder bei Eldridge Cleaver, einem Führer der „Schwarzen Panther", der die Idee der biopsychologischen Überlegenheit der Schwarzen gegenüber den Weißen propagiert hatte. Gleichzeitig wächst der Drang, die Konflikte und Tragödien im täglichen Leben der Negerviertel vertieft zu analysieren und lebensvolle, realistische Bilder der Wirklichkeit zu schaffen. Diese Tendenz zeigt sich besonders klar im Schaffen von James Baldwin, dem bedeutendsten Negerschriftsteller der U S A , vor allem in seinem Roman „Beale Street Blues". Die französische Kritik konstatierte ein gewisses Nachlassen der Begeisterung für symbolische, phantastische Formen und für Experimente im Geiste des „nouveau roman". Offenkundig erhöht sich in der Literatur der 70er Jahre das Gewicht von Werken, die Merkmale des „traditionellen" Realismus aufweisen und die Neigung zu einem strengen, geschliffenen Stil, zu psychologischer Analyse und Detailtreue erkennen lassen. Letzteres gilt übrigens nicht nur für Frankreich. Der neue soziale Reifegrad der progressiven Literatur, die Vertiefung ihres wissenschaftlichen Elements, das Streben nach demokratischer Breite, nach Erweiterung des Bereichs der künstlerischen Erkenntnis und des ideologischen Einflusses und schließlich das Nachlassen neoavantgardistischer Pseudoneuerungen führten zu erhöhter Glaubwürdigkeit. Weite Verbreitung finden soziologische und soziographische Genres, vielfältige Formen des Dokumentarischen, denen manchmal eine umfassende Bedeutung beigemessen wird. 2 1 Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Richtung der sogenannten neuen Glaubwürdigkeit in der schweizerischen Literatur, deren Vertreter unter Verwendung des Prinzips der zielgerichteten Auswahl und Montage von Fakten die bürgerliche stereotype Denkweise und Interpretation zu zerstören und die Wirklichkeit in ihrem wahren Inhalt gleichsam neu zu entdecken suchen. Selbstverständlich sind die kognitiven und ästhetischen Möglichkeiten eines solchen Vorgehens sehr begrenzt, doch
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insgesamt spiegelt auch das auf seine Weise den Drang der Literatur nach Glaubwürdigkeit und Wahrheitstreue der Darstellung. Einen neuen Aufschwung nahm in vielen Ländern der historische Roman, der auf dokumentarischer (oder scheinbar dokumentarischer) Grundlage aktuelle Probleme unserer Zeit berührt: die geistige Verkümmerung der bürgerlichen Welt, die politische Korruption, die Amoralität „der da oben", die tragische Entfremdung der Massen von den Machtinstitutionen usw. Breiten Widerhall fand in der Kritik und bei den Lesern der Roman des amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal „Burr", ein Roman über den Unabhängigkeitskrieg in Amerika und die ersten Schritte der jungen Republik, das heißt jene Periode in der Geschichte der USA, die in der offiziellen Geschichtsschreibung und Propaganda als „Goldenes Zeitalter" der amerikanischen Demokratie gewertet wird. Vidal zeigt diese Epoche in einem anderen Licht. Die zentrale Gestalt des Romans ist eine reale historische Persönlichkeit, Aaron Burr, der einige Zeit Vizepräsident des Landes war. Vidal legt dem Roman tatsächliche Ereignisse zugrunde. Damit schuf Vidal nicht einfach einen historischen Roman, sondern ein historisch-politisches Werk mit einer starken kritischen Tendenz. Die Geschichte wird entmythologisiert: Krieg ohne Heldentaten, Politik ohne hohe Ziele, Gründerväter ohne Nimbus. Die Hauptschlußfolgerung, zu der der Leser des Romans objektiv gelangt, besteht darin, daß sich die politische Praxis in den USA fast schon am Tage nach der feierlichen Deklaration der Unabhängigkeit von den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lossagte. Unweigerlich schwindet das Vertrauen zu den Grundlagen der amerikanischen Demokratie, zu ihren fundamentalen Prinzipien, zu den nach diesen Prinzipien geschaffenen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, und dieser Vertrauensschwund ist in „Burr" wohl offener und stärker als bei anderen amerikanischen Schriftstellern der 70er Jahre ausgedrückt. Im übrigen durchdringt tiefe Enttäuschung vom „amerikanischen Traum" eine ganze Reihe von Büchern der letzten Zeit. Zu den besonders bemerkenswerten gehören die Romane von Joseph Heller „Was geschah mit Slocum" und von Joyce Carol Oates „Tu mit mir, was du willst". Wenn man verfolgt, wie in dem Gerichtsprozeß gegen Burr seine politischen Gegner die eben erst verkündeten demokratischen Rechte und Gesetze frech mißachten, zieht man unweigerlich Parallelen zu dem, was im heutigen Amerika geschieht, zur Krise der gepriesenen amerikanischen Demokratie, die in der Watergate-Affäre so deutlich zum Ausdruck kam. Dieser Skandal hat übrigens nicht nur in der amerikanischen Literatur Werke verschiedener Genres und unterschiedlicher künstlerischer Bedeutung ausgelöst. Herauszuheben sind der bissige satirische Kurzroman der katholischen englischen Schriftstellerin Muriel Spark „Die Äbtissin von Crewe" und der bekannte Dokumentarband der amerikanischen Journalistin C. Bernstein und B. Woodward „Alle Männer des Präsidenten". 246
Im übrigen wird das Interesse für das historisch-dokumentarische Genre bisweilen auch zu diametral entgegengesetzten Zwecken ausgenutzt: um den wankenden Glauben an den berüchtigten „amerikanischen Traum" zu retten. Gleichsam eine direkte Polemik gegen „Burr" ist der Roman des produktiven und in den U S A recht populären Belletristen James Michener „Centennial". Michener imitiert das Prinzip des Dokumentarischen, das sich auf reiches Faktenmaterial und wissenschaftlich überprüfte Berichte stützt, und will am Beispiel der kleinen Stadt Centennial (Die Hundertjährige) einen Querschnitt durch die Geschichte der U S A bis in unsere Tage geben. Hinter der äußerlich objektiven Erzählung ist mühelos die Hauptidee des Autors zu erkennen: Die Vereinigten Staaten, suggeriert er dem Leser, sind trotz allem das beste aller Länder; in der amerikanischen Gesellschaft gibt es keinerlei akute Probleme, und kleine Mißverständnisse wie die Watergate-Affäre sind im Rahmen der amerikanischen Verfassung, der demokratischsten der Welt, leicht zu überwinden. Das Buch von Michener ist von einer Vielzahl von Gestalten bevölkert, die durch ihre Tugenden - Arbeitsliebe, Fleiß, Sparsamkeit und Findigkeit - den Gedanken von der kapitalistischen Gesellschaft als „Gesellschaft gleicher Möglichkeiten für alle" illustrieren sollen. Die ideologische Tendenz des Buches „Centennial", das man im Hinblick auf die Regeln der bürgerlichen „Massenbelletristik" in vieler Hinsicht als beispielhaft bezeichnen kann, ist also äußerst klar. Werke dieser Art zeigen besonders anschaulich, wie verschieden solche Begriffe wie Politisierung der Literatur interpretiert werden. Ganz offensichtlich kommt dieser Prozeß nicht nur in einer Linksorientierung, einer Radikalisierung der progressiv eingestellten Intelligenz und Jugend, nicht nur im wachsenden sozialen Verantwortungsgefühl einer Reihe von Kulturschaffenden zum Ausdruck, sondern löst auch eine Gegenreaktion derjenigen literarischen Kräfte aus, die auf der Seite der Reaktion stehen. Es erfolgt eine Art „Politisierung von rechts". Gerade zu Beginn der 70er Jahre (1973) findet in Rom unter der Losung „Die Jugend von den Fesseln des Verfalls und des Marxismus befreien" der sogenannte Erste Internationale Kongreß zur Verteidigung der Kultur statt, dessen Organisatoren einen solchen Modernisten wie Eugène Ionesco, der durch sein politisches Dunkelmännertum berüchtigt ist, auf ihr Banner schrieben. Zur gleichen Zeit erscheint ein Strom von Büchern, deren Ziel darin besteht, die gesellschaftliche Entwicklung von 1968 bis 1969 zu diskreditieren: Nicht nur Extremisten und Abenteurer, von denen es in dieser Bewegung tatsächlich viele gab, sondern jeder aufbegehrende junge Mensch wird hier als ein Luddit hingestellt, der der Gesellschaft nur Zerstörung und Nihilismus bringt; nicht nur die provokatorischen Ausfälle von Linksradikalen, sondern jegliche Versuche gemeinsamer Aktionen geraten unter Verdacht. Dieser Typ des bürgerlichen politischen Romans fügt sich organisch in die allgemeinen Umrisse militant konformistischer, konservativer Literatur - von den Werken desselben James Michener, in denen jungen anarchistischen Vertretern des Landes „Hippland" ein „vernünftig denkender" Amerikaner 247
gegenübergestellt wird, der Träger aller bürgerlichen Tugenden ist, bis zu antikommunistischen Ausfällen des ehemaligen „zornigen jungen Mannes" Kingsley Amis oder verfälschenden Interpretationen der Ulster-Tragödie als „spannendes Spiel mit der Gewalt" („Grausame Zeit" von J . Higgins, „Satans grüne Insel" von Sh. Herron). Spekulativen politischen Verzerrungen wird auch die Arbeitsthematik unterworfen. So erklärte die konservative Kritik in Japan als beispielhaft für den modernen Roman über die Arbeiterklasse die Bücher von Shiina Rinzo, Kuroi Senji und Izumi Dahoji, in denen der arbeitende Mensch entweder in einer Atmosphäre totaler existentialistischer Verzweiflung oder in völliger „Harmonie" mit dem kapitalistischen Unternehmer lebt; weder in dem einen noch in dem anderen Fall wird die Frage nach einem Protest oder gar Kampf gestellt. Die gesellschaftspolitischen Erschütterungen der 6oer und 70er Jahre wirkten sich auch auf die avantgardistische Kultur der westlichen Länder aus, die in dieser Zeit eng mit der stürmischen Bewegung linksextremistischer Färbung verbunden war. Es ist kennzeichnend, daß eine der Formen, in denen sich die „linke Explosion" im Bereich der Kultur äußerte, der Versuch war, die Konzeption des ästhetischen Elitarismus zu negieren und das künstlerische Schaffen unmittelbar in die Sphäre des politischen Kampfes einzuschalten. Doch sehr bald zeigte sich niit aller Deutlichkeit, daß sich hinter den ultrarevolutionären, äußerlich antibürgerlichen Deklarationen, mit denen die Anhänger der sogenannten Gegenkultur nicht geizten, ein kleinbürgerlicher, anarchistischer Inhalt verbarg. Die Vorstellungen über Sinn und Ziele der verkündeten Revolution, über Rolle und Berufung des Künstlers in der heutigen Welt waren bei den Anhängern der Neoavantgarde in der Regel entweder - im besten Falle - äußerst verschwommen, verworren und subjektivistisch oder offen linksradikal, deutlich vom Maoismus und von Marcuse beeinflußt. Das waren auf dem Gebiet der Kultur Erscheinungsformen jenes kleinbürgerlichen Revolutionarismus, der nach den Worten von Lenin „dem Anarchismus ähnelt oder manches von ihm entlehnt und der in allem, aber auch allem Wesentlichen von den Bedingungen und Erfordernissen des konsequenten proletarischen Klassenkampfes abweicht" 22 . Sie zeugten sowohl von den tiefen Widersprüchen der revolutionären Bewegung in den kapitalistischen Ländern als auch von dem ideologischen Wirrwarr in den Köpfen vieler Vertreter der westlichen künstlerischen Intelligenz. Die neoavantgardistische Literatur ist, unabhängig von den lautstarken „revolutionären" Losungen und den subjektiven antibürgerlichen Absichten bestimmter Schriftsteller, ein leibliches Kind - das Enfant terrible - der bürgerlichen Kultur, auch wenn sie in nicht geringerem Maße als der elitäre Modernismus oder die offen kommerzielle „Massenliteratur" dazu angetan ist, den Niedergang dieser Kultur zu verkünden. Unsere Kritik hat auf die Annäherung dieser scheinbar polar entgegengesetzten Erscheinungen bereits hingewiesen. 248
Tatsächlich zeigt die modernistische Kunst in den letzten Jahren eine deutliche Tendenz zur „Vermassung". Immer häufiger erweist es sich, daß sie - sogar in ihren besonders elitären Beispielen - in die „Massenkultur" integriert ist. In der Praxis äußert sich das in einer breiten Verwendung der ästhetischen Klischees der „Massenkultur", in einer zunehmenden Erotisierung, die sich nicht selten mit pseudopolitischen Spekulationen verbindet, in immer häufigeren Erscheinungen von grobem Naturalismus, Primitivismus und „schwarzem Humor", was sich im Schaffen einiger modernistischer Schriftsteller, die sich immer mit ihrem literarischen Snobismus und übertriebener Intellektualisierung gebrüstet haben (zum Beispiel Wladimir Nabokow, Thomas Pynochon), zeigte. Sogar einige frühere Apologeten des Modernismus sprechen ganz offen von dieser Tendenz. So gaben in einer von der amerikanischen Zeitschrift „Commentary" geführten Diskussion über die Zukunft des Avantgardismus Kritiker wie Lionel Trilling oder Hilton Kramer zu, daß die schöpferischen Möglichkeiten der modernistischen Ästhetik abnehmen, daß sie immer mehr kommerzialisiert wird und bestrebt ist, sich den Forderungen des bürgerlichen Marktes anzupassen, der die künstlerischen Mittel des Modernismus legalisiert und sie zu barer Münze, zu Kitsch und Durchschnittskultur macht. 23 War man früher im Westen der Meinung, daß der Modernismus „aus der Krise Werte schafft" 24 , so ist heute sehr deutlich geworden, daß er vor allem Waren produziert... Die „Massenliteratur" wiederum ist bemüht, sich zu „intellektualisieren", sich einige Formen, die traditionell der elitären Literatur zugerechnet werden, anzueignen und sie den kommerziellen Klischees anzupassen. Nicht selten erscheinen Bücher, in denen beispielsweise die Schilderung der Abenteuer eines hochbezahlten Mädchens, das sich bei den arabischen Scheichs und griechischen Millionären großer Erfolge erfreut, und Bilder des „schönen Lebens" mit Luxuslimousinen und Jachten, modernen Hotels und Restaurants vermischt sind mit „wissenschaftlichen" Erörterungen über die Tiefenpsychologie von Freud und Jung und mit modischen strukturalistischen Termini. Mystische große Leidenschaften werden „gestützt" durch Hinweise auf die neuesten Errungenschaften der Physik und Parapsychologie... Was die Anhänger der Neoavantgarde betrifft, die sich für ultralinke politische Konzeptionen begeistern und in Worten den Modernismus als elitär und sozial indifferent ablehnen, so sind sie objektiv, in ihrer schöpferischen Praxis, von ihm nicht allzuweit entfernt. Mit der Erklärung, das „Sprengen der Sprachstrukturen" sei die einzig würdige Mission des Künstlers, sagen sich die Neoavantgardisten im Grunde genommen vom Inhalt der Literatur los. Ästhetische Erkenntnis und ästhetischer Ausdruck werden nach den Worten des Führers der französischen Gruppe „Tel Quel" Philippe Sollers durch den Kampf um die „Aneignung und Kodifizierung der Sprache" 25 ersetzt, der nach Meinung der Neoavantgardisten direkt in den Kampf gegen die bürgerliche Ideologie hinüberwächst. „Indem ich das Normative der bürgerlichen ästhetischen Sprache verwerfe", schrieb der bekannte 249
Theoretiker und Praktiker der italienischen Neoavantgarde Edoardo Sanguineti, „lehne ich das Normative der bürgerlichen Ideologie ab, anders gesagt, den Anspruch der bürgerlichen Ideologie, zur Norm der Interpretation der Wirklichkeit zu werden." 2 6 Doch das ist es ja gerade, daß es in Wirklichkeit keinerlei Absage an die bürgerliche Ideologie gegeben hat. Es gab etwas anderes: eine Absage an das künstlerische Erfassen der Realität, nichtssagende Sprachexperimente, Selbstzerstörung der Poesie durch „Konkretheit", des Theaters durch Happening und des Romans durch eine Sprache, die „nicht informiert, nicht überzeugt... nicht darstellt" 27 . All das zeigt klar genug die enge Verwandtschaft der heutigen Avantgarde mit einigen extremen Formen des Modernismus. Die Neoavantgarde war eine Art Vorbote der sogenannten Revolution der Jugend vom Anfang der 6oer Jahre und wurde dann ihrerseits stark von den linksradikalen, destruktiven Ideen dieser Bewegung beeinflußt. Im Ergebnis fielen viele Vertreter der Neoavantgarde sowohl in Europa als auch in den U S A aus dem Extrem inhaltlosen Formenschaffens ins andere Extrem: die völlige Identifikation von Kunst und „Aktion", die unmittelbare Unterordnung des künstlerischen Schaffens unter die „revolutionäre" (im Sinne des Maoismus) Umgestaltung der Gesellschaft. Die Literatur wurde zu jener Sphäre der Tätigkeit erklärt, die bestenfalls „politisch unschädlich", weit öfter jedoch einfach reaktionär und der Revolution von Grund auf „feindlich" sei, da sie vom bürgerlichen System hervorgebracht und diesem System völlig untergeordnet sei.28 „Das Sterbeglöckchen für die Literatur", wie sich Hans Magnus Enzensberger ausdrückte,29 ertönte aus den neoavantgardistischen Veröffentlichungen ununterbrochen bis Mitte der 70er Jahre; der Nachklang ist noch heute zu hören. Der Linksextremismus kam also in der künstlerischen Praxis in zwei Formen zum Ausdruck: erstens in der Liquidierung des Ästhetischen selbst, als berge diese die fatale Gefahr der Bürgerlichkeit in sich, und seinem Ersatz durch „Texte" ohne Bedeutung (so die „konkrete Poesie", die „Texte" von Philippe Sollers und seinen Nachfolgern, der ästhetische Nihilismus von John Barth und den amerikanischen Neoavantgardisten, die in ihren letzten Arbeiten einfach zufällige Bruchstücke aus Zeitungsmeldungen montieren); zweitens in der primitiven Illustration linksradikaler, pseudorevolutionärer Losungen (ein klares Beispiel dafür ist der Roman „Wir wollen alles" des italienischen Neoavantgardisten Nanni Balestrini). Dem Anschein nach forderte die „neue Linke" von der Kunst den entschiedenen Frontalangriff auf die Bastionen des bürgerlichen Bewußtseins und der bürgerlichen Weltordnung. Letztlich lief jedoch das Wesen des neoavantgardistischen Schaffens vom Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre auf die Zerstörung des Ästhetischen und die Propagierung der „Gegenkultur" hinaus, wobei jegliche Extreme und Verzerrungen, bis hin zur Apologie der Grausamkeit, der Narkotika und der schmutzigsten Erotik, mit „revolutionären" Erwägungen gerechtfertigt wurden. 250
Wenn sich in der Tätigkeit der Neoavantgardisten auch in gewissem Maße die revolutionären Prozesse der Gegenwart widerspiegelten, so war diese Widerspiegelung doch verzerrt, übertrieben und entstellt. Die Verbindung der Kunst mit den „revolutionären Bestrebungen der Epoche beweist sich nicht daran, wie oft die Wörter .Revolution', ,Redner', .Klasse' wiederholt werden - wie in den Texten von Philippe Sollers - oder wie zahlreich Schilderungen von Barrikaden und Waffen sind - wie in dem Roman-Manifest von Alain Jouffroy. Die Kunst spricht dann die Sprache der Zeit, wenn sie Ursachen und Folgen berührt, wenn sie die Wurzeln der Illusionen und die Größe der Ziele erkennen läßt, wenn sie den Zeitgenossen helfen will, die schwierigsten, akuten Probleme ihrer Zeit zu lösen." 30 Die Neoavantgarde konnte, ja wollte die Kunst nicht in den Kampf für eine wahrhaft revolutionäre Umgestaltung der Welt führen. Trotz aller äußerlich radikalen Herausforderung an die bürgerliche Gesellschaft blieb sie jene künstlerische (richtiger: offen und bewußt ««¿¿künstlerische) Bewegung, die von dieser Gesellschaft selbst hervorgebracht wurde und ihr ganz und gar angehört. Es ist nicht verwunderlich und heute schon ganz offensichtlich, daß die Neoavantgarde keine einzige wirklich bedeutende künstlerische Erscheinung hervorgebracht hat. Im Gegenteil, die linksradikalen, pseudorevolutionären Tendenzen, mit denen sie verbunden ist, wirkten sich zweifellos schädlich auf einige literarische Strömungen Westeuropas, der U S A und Lateinamerikas aus. Von einer positiven, wenn auch sozusagen indirekten Wirkung linksradikaler Aktivitäten auf den Literaturprozeß kann man wohl nur in dem Sinne sprechen, daß sie einige interessante Bücher ins Leben riefen, die verschiedene Aspekte der radikalen Jugendbewegung der letzten beiden Jahrzehnte, ihre Stärken und ihre Abscheulichkeiten, ihren Aufschwung und ihren Zusammenbruch künstlerisch darstellten und analysierten. In der französischen Literatur verdient neben dem Roman von Robert Merle „Hinter Glas", der in der russischen Übersetzung breite Anerkennung fand und von der sowjetischen Kritik hoch bewertet wurde, die Erzählung „Irrevolution" des jungen Schriftstellers Pascal Laine Aufmerksamkeit. Ihr Held, Teilnehmer an den berühmten Mai-Ereignissen, wird im Herbst ebendieses Jahres 1968 Lehrer an der Fachschule einer kleinen Provinzstadt. E r muß Bilanz ziehen, sich Klarheit über sich selbst schaffen, doch das ist offenbar nicht so einfach. Wie viele seiner Altersgefährten haßt er das Bürgerliche und ist gleichzeitig mit bürgerlichen Vorurteilen infiziert. E r spricht von seiner Liebe zum Proletariat, doch im Grunde genommen kennt er die Arbeiter nicht, und insgeheim fürchtet er sie ein bißchen, hatte man ihn doch schon in der Kindheit mit den „Roten" geschreckt. Der Held von Laine ist ein typischer Revolutionär den Worten nach; der gestrige Teilnehmer an den Mai-Ereignissen wird morgen sicherlich ein durchschnittlicher Konformist sein. Ein interessantes Buch über die linksradikale amerikanische Jugend - „Die Tochter des Professors" - schrieb der junge englische Schriftsteller Piers Paul Read. 251
Hier wird nicht nur die Taktik des Terrors entschieden verurteilt und die schädliche pseudorevolutionäre Konzeption von den „Stadtpartisanen" entlarvt, sondern auch dem liberalen Reformismus der Nimbus genommen. Read entwickelt den Gedanken, daß die Notwendigkeit grundsätzlicher Veränderungen in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft herangereift ist. Der Schriftsteller rechtfertigt zwar nicht den Aufruhr der Jugend, erklärt aber die Ursachen ihrer tiefen Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen System. Eine solche Betrachtungsweise des „Aufstands der Jugend" ist überhaupt charakteristisch für die meisten progressiv gesinnten Schriftsteller, die zu diesem Thema arbeiten. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß es allen gelingt, die Quellen der linksradikalen Bewegung, ihr Wesen und ihre Widersprüche tiefreichend und objektiv genug zu analysieren. Doch wichtig ist, daß sich sowohl John Gardener („Sonnenscheindialoge") als auch James Jones („Mai in Paris"), Charles P. Snow („Die Unzufriedenen"), der schwedische Schriftsteller Sivar Arner („Ein anderer Mensch werden") und viele andere zu den jungen Rebellen prinzipiell anders verhalten als die Literatur der reaktionär-konservativen Richtung. Ihre Ablehnung des Linksradikalismus und des zerstörerischen Anarchismus stützt sich auf die humanistische, demokratische Tradition; nicht gesellschaftliche Veränderungen als solche schrecken sie, sondern die Art dieser Veränderungen und der Preis, der dafür gezahlt werden soll. Es bleibt die Tatsache: Schriftsteller verschiedener Länder und unterschiedlicher Generationen und politischer Überzeugungen stellten fest, daß Theorie und Praxis des Linksradikalismus gescheitert sind, daß die linksradikale Bewegung ohne Perspektive und mit dem gesellschaftlichen Fortschritt unvereinbar ist. Jedoch diese Wahrheit wird nicht von allen anerkannt. Es gibt Schriftsteller, die mehr oder weniger mit der linken Bewegung verbunden sind und noch immer an ihren linksradikalen, neoavantgardistischen Konzeptionen festhalten. Das gilt zum Beispiel für Hans Magnus Enzensberger, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Vor relativ kurzer Zeit, 1974, erschien das Buch „Die Aufrührer sind im Recht", das aus Gesprächen zweier junger Linksradikaler mit Sartre zusammengestellt wurde. Sartre ruft auf, die illegale linksradikale Tätigkeit zu aktivieren, erklärt sich selbst zu einem „klassischen Intellektuellen" und predigt eine „Kulturrevolution" unverhohlen maoistischer Prägung. Die gleichen Ideen entwickelt Sartre im zehnten Buch seiner Reihe „Situationen" 31 . Gleichzeitig setzte er seine Arbeit an einer mehrbändigen wissenschaftlichen Abhandlung über Flaubert fort, die - nach seinen Worten - ein Musterbeispiel „wahrhaft marxistischer" Methodologie in der Literaturwissenschaft werden soll, obwohl die erschienenen Bände davon zeugen, daß der Autor zu einer „exklusiven", formalistischen und dabei in beträchtlichem Maße freudistischen Interpretation des Schaffens von Flaubert neigt. Man braucht nicht zu betonen, wie weit das von Marxismus und wahrhaft revolutionären Ideen entfernt ist. 252
Im Zusammenhang mit der allgemeinen Erneuerung und sozialen Aktivierung der gegenwärtigen Literatur, bedingt durch den mächtigen Faktor der revolutionären Umgestaltung, durch das Erwachen des Bewußtseins des Volkes, ist auch die Entwicklung der Literaturen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas zu betrachten, ihre stürmisch wachsende Bedeutung im weltliterarischen Prozeß. „Die revolutionäre Situation", schreiben namhafte Erforscher der Literaturen dieser Region, „die sich auf dem lateinamerikanischen Kontinent herausgebildet hat, führte zu tiefgreifenden Wandlungen im Bewußtsein der lateinamerikanischen Völker, auch im künstlerischen Bewußtsein. Die erhöhte Aktivität des künstlerischen Bewußtseins äußert sich in dem Bestreben, grandiose künstlerische Modelle der lateinamerikanischen Welt zu schaffen, im Suchen nach synthetischen bildhaften Formen für den historischen Weg Lateinamerikas. Sowohl im Bereich des künstlerischen Schaffens als auch in der gesellschaftlichen Praxis erklärt sich Lateinamerika immer überzeugter zum Subjekt des schöpferischen Prozesses. Diese Tatsache läßt uns besonders aufmerksam die Ereignisse in allen Lebensbereichen der Völker Lateinamerikas - den politischen, sozialen und geistigen - verfolgen." 3 2 Die Besonderheiten der neuen Etappe in der Geschichte der lateinamerikanischen Literatur begannen sich in den 50er und 60er Jahren herauszubilden, als unmittelbar nach den Romanen des Guatemalteken Miguel Angel Asturias, des Kubaners Alejo Carpentier und des Brasilianers Jorge Amado fast gleichzeitig die Romane von Gabriel García Márquez (Kolumbien), Carlos Fuentes (Mexiko), Julio Cortázar (Argentinien), Mario Vargas Llosa (Peru) und Augusto Roa Bastos (Paraguay) erschienen. Verglichen beispielsweise mit dem französischen „nouveau roman", war das Neuartige dieser Werke von prinzipiell anderer Art: Kennzeichen des lateinamerikanischen Romans war nicht die für die Neoavantgarde charakteristische Neigung zur Spaltung von Wirklichkeit und Bewußtsein, sondern vielmehr das Bestreben, die Erfahrungen der Geschichte in geschlossenen künstlerisch-philosophischen Konzeptionen von epischer Größe zusammenzufassen, die das Wachsen des nationalen Selbstbewußtseins und der auf dem Kontinent entstandenen revolutionären Situation widerspiegeln. Die historische Besonderheit, daß sich das künstlerische Bewußtsein in Lateinamerika unter den Bedingungen der antiimperialistischen Befreiungsbewegung und der revolutionären Erschütterungen formte, führte zu einem besonderen Typ des kritischen Realismus, der von Elementen einer ihrem Charakter nach sozialistischen Weltanschauung günstig beeinflußt wird. Die Literatur, die zu diesem Typ des Realismus tendiert, bestimmt die Grundrichtung und die Perspektive der Entwicklung. Das ist jedoch kein Grund, von einer Einheit in den ideologisch-künstlerischen und politischen Positionen der Schriftsteller zu sprechen, von denen viele dem Einfluß linksradikaler politischer und ästhetischer Konzeptionen, modernistischer und formalistischer Richtungen und manchmal auch der antikommunistischen Propaganda unterliegen. Die literarischen Ergebnisse der ersten Hälfte der 70er Jahre zeugen davon,
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daß sich dieser Typ des Realismus in Lateinamerika weiterentwickelt. Den zentralen Platz in der Literatur der letzten Jahre nehmen die Werke von Schriftstellern ein, die bereits breite Anerkennung gefunden haben: Alejo Carpentier, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Augusto Roa Bastos, Julio Cortázar und Miguel Otero Silva; unter den relativ neuen Namen ist der des peruanischen Schriftstellers Manuel Scorza hervorzuheben. Die kritische Untersuchung der lateinamerikanischen Wirklichkeit gründet sich auf die Erkenntnis, daß die bürgerliche Gesellschaft, die individualistische Moral und das ganze System der gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus historisch überlebt sind. Zum wichtigsten Kriterium der Beurteilung der Wirklichkeit wird die Position des arbeitenden Menschen und bei einigen besonders bedeutenden Künstlern das sozialistische Ideal der künftigen Lebensordnung. Immer spürbarer wird der positive Einfluß, den die kubanische Revolution und der Aufbau einer neuen Gesellschaft im ersten sozialistischen Land der westlichen Hemisphäre auf das gesellschaftliche Bewußtsein und die Kultur Lateinamerikas ausüben. So aktuell wie noch nie klingt das schon 1929 geprägte Wort des bekannten marxistischen Philosophen Lateinamerikas José Carlos Mariátegui aus Peru: „Nordamerika ist es beschieden, Apogäum und Abschluß der kapitalistischen Zivilisation zu werden; Lateinamerikas Zukunft ist der Sozialismus." 33 Eine weitere charakteristische Besonderheit des lateinamerikanischen Realismus, die in den bedeutendsten neuen Werken weiterentwickelt wird, besteht darin, daß Objekt der kritischen Untersuchung hier nicht nur die Wirklichkeit eines einzelnen Landes des Kontinents ist, sondern auch die Wirklichkeit Lateinamerikas insgesamt, mehr noch, die ganze kulturhistorische Gemeinschaft, die als „Westen" bezeichnet wird und mit der Lateinamerika sowohl historisch als auch durch die Ketten neokolonialistischer Abhängigkeit verbunden ist. Unter dem Aspekt der antiimperialistischen und sozialistischen Entwicklungsperspektive des Kontinents werden die Grundlagen der westlichen bürgerlichen Kultur, der philosophischen Traditionen und des bürgerlichen Humanismus kritisch überprüft (es ist eine andere Frage, daß das von unterschiedlichen, nicht selten auch nationalistischen Positionen aus erfolgt). Daher sind die Problematik des lateinamerikanischen Romans und die von ihm geschaffenen künstlerischen Modelle der Welt, die verallgemeinerten Bilder vom Leben des Volkes und der älteren und heutigen Geschichte so umfassend und reichen nicht nur weit über dieses oder jenes Land, sondern auch über den ganzen Kontinent hinaus. Stilistisch entspricht der realistische lateinamerikanische Roman der großen Kompliziertheit und der Neuheit der Aufgabe, die sich die Autoren stellen. Die Erforschung der Schicksale der Völker und die Darstellung des Lebens vom Standpunkt des Volkes, in erster Linie der Bauern, führen dazu, daß nach einer Synthese von modernen und traditionellen künstlerischen Mitteln gesucht wird und daß Folkloremotive, Legenden und Mythen der Urbevölkerung Lateinamerikas organisch in das System des lateinamerikanischen Realismus einbezogen werden.
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Deshalb bezeichnet man diesen Realismus bekanntlich auch als „mythologisch" oder „magisch". Das Gemeinsame in der gegenwärtigen Entwicklung des Romans äußert sich jedoch weniger im Stil als vielmehr im Inhalt. Das bestätigen die Romane von Carpentier, García Márquez und Roa Bastos, die sich mit dem Phänomen der lateinamerikanischen Diktatur und, umfassender, der Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die den Faschismus gebiert, befassen. Carpentier, der in den Mittelpunkt seines Romans „Der Rekurs der Methode" die verallgemeinerte Gestalt eines „aufgeklärten" Diktators stellt, schuf ein breites Bild des lateinamerikanischen Lebens in seinen Widersprüchen und seiner revolutionären Entwicklung in engem Zusammenhang mit dem Schicksal Europas. Zeitlich ist die Handlung auf die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts beschränkt. Da jedoch in den Roman auch dem Leser bekannte Ereignisse, Gestalten und Tatsachen aus früheren oder späteren Zeitabschnitten (bis hin zur Gegenwart) einbezogen werden und die traditionell-analytische Erzählweise mit symbolisch-verallgemeinernden Mitteln bei der Zeichnung der revolutionären Helden verbunden wird, erreicht der Schriftsteller den Effekt einer historischen Synthese. Mit dem Hinweis auf Descartes im Titel des Romans erklärt Carpentier seinen Grundgedanken, dessen Kern die Kritik des westeuropäischen Rationalismus und des bürgerlichen Humanismus ist, der sich völlig erschöpft hat. Gleichzeitig lehnt er entschieden die weitverbreiteten Ideen des Lateinamerikazentrismus, der Messiasrolle Lateinamerikas gegenüber der europäischen Zivilisation ab und bejaht den Gedanken von der Einheit und Allgemeingültigkeit der historischen Entwicklung durch revolutionäre Umgestaltung der Wirklichkeit. Der Roman von García Márquez „Hundert Jahre Einsamkeit" ist ein poemhaftes Buch (im Gogolschen Sinne des Begriffs), das sich im Stil von dem analytischen, ironischen Roman Carpentiers unterscheidet, ihm jedoch in der Problematik ähnlich ist. Sein Stil beruht, konsequent im Sinne des „magischen" Realismus gehalten, auf einer Vermischung von realen und phantastischen Elementen, auf Mitteln der Groteske, der direkten Realisierung von Metaphern, der Überhöhung von Erscheinungen des Bewußtseins und der Wirklichkeit, um ihre innersten Eigenschaften zu enthüllen, auf einer Verschiebung der historischen und zeitlichen Ebenen. In dem Roman wird gleichsam ein gewaltiges Konzentrat der politischen Geschichte des Kontinents gegeben, wird die phantasmagorische und trotzdem auf ihre Weise glaubwürdige, überzeugende Logik des völligen Verfalls des „Übermenschlichen" verfolgt - ein Symbol für das Scheitern einer Weltordnung, die sich auf die Apologie des Individualismus und Totalitarismus gründet. Dasselbe Thema, das Thema der Sackgasse, in die die bürgerlich-rationalistische Tradition geraten ist, des Scheiterns der Philosophie des Individualismus, bildet die Grundlage des Romans von Roa Bastos „Ich, der Allmächtige", aufgebaut als Collage von historischen Dokumenten, Notizen und Reden, die anschaulich den Verfall der Persönlichkeit, die völlige innere Haltlosigkeit des Diktators demonstrieren soll. 255
In allen drei Romanen über Diktatoren steht das Historische in ganz unmittelbarer Beziehung zur Gegenwart, zur heutigen gesellschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas. Von Manuel Scorza werden die schöpferischen Erfahrungen der Vertreter der älteren Schriftstellergeneration übernommen und weiterentwickelt. Mit dem Roman „Garabombo, der Unsichtbare" (der erste Teil dieses Romans trägt den Titel „Trommelwirbel für Raneas") schuf der Schriftsteller ein episches Gemälde vom Kampf des Volkes um sein Land. Reale Lebenskonflikte werden mit phantastischen Bildern künstlerisch verknüpft: Jahrhundertealte Folkloremotive, mythologische Symbolik stehen neben rein informativen Einschüben in Form von historischer Chronik oder Zeitungsmeldungen. Von prinzipieller Bedeutung für die heutige lateinamerikanische Literatur und ihre Annäherung an die revolutionäre Wirklichkeit ist das Schaffen Julio Cortázars, eines der größten Schriftsteller des Kontinents, der die Gestalt des „neuen Menschen" Lateinamerikas, des Revolutionärs, zu gestalten sucht. Bereits in den 6oer Jahren schrieb Cortázar eine Erzählung, die durch die berühmten „Episoden aus dem Revolutionskrieg" von Ernesto Che Guevara angeregt worden war. Der nächste Schritt war das „Album für Manuel", das von einer illegalen Jugendorganisation erzählt, die in Paris die Entführung eines Diplomaten organisiert, um die Freilassung von lateinamerikanischen politischen Gefangenen zu erreichen. Dieses Ereignis spielt im Buch nur eine Nebenrolle. Der Schriftsteller sieht in der von ihm geschilderten illegalen Jugendorganisation eine Art poetisches Modell der lateinamerikanischen Revolution. Ihn interessieren nicht die Dynamik der Handlung, nicht einmal die Verteilung der politischen Kräfte, sondern vor allem philosophische und moralische Aspekte, das Problem der Entscheidung, vor das die Revolution jeden Menschen, auch den Intellektuellen, unerbittlich stellt. Die Position Cortázars in dieser Frage ist klar: E r sieht in der Revolution, im Sozialismus, die einzige Kraft, die fähig ist, den tragischen Bruch zwischen der „falschen und ungeheuerlichen" heutigen Situation des Individuums und den Forderungen des historischen Fortschritts zu beseitigen. Dieser Ansicht sind auch die Helden des „Albums für Manuel", die sich davon im Verlauf des schweren Kampfes für die Verwirklichung ihrer Ideale durch eigene Erfahrung überzeugt haben. Allerdings sind ihre Vorstellungen von den konkreten Formen dieses Kampfes unklar und stark von linksextremistischen Konzeptionen bis hin zur Anerkennung terroristischer Methoden beeinflußt. Man kann nicht sagen, daß der Autor des „Albums für Manuel" diese Ansichten teilt, er wertet sie aber auch nicht gebührend, und das muß sich natürlich negativ auf seine Positionen auswirken. D a s Buch Cortázars enthält keine allseitige, tiefgründige Analyse der berührten politischen Problematik, jedoch bereits das Interesse des Schriftstellers dafür, die Richtung seiner ideologisch-künstlerischen und philosophischen Entwicklung sind symptomatisch. Zur bedeutendsten Erscheinung der lateinamerikanischen Literatur der letzten Jahre wurden die postum erschienenen Memoiren Pablo Nerudas „Ich bekenne, 2,6
ich habe gelebt." Sie sind das politische und künstlerische Bekenntnis des hervorragenden Dichters der Gegenwart, des Künstlers und Kommunisten, in dessen Leben und Kunst sich die Hauptlinie der literarischen Entwicklung Lateinamerikas maximal verkörpert. Hoher revolutionärer Ideengehalt, organische Verbindung mit den nationalen Wurzeln und dem Leben des Volkes, Gefühl für den Zusammenhang der Zeiten, Breite im Aufgreifen und Losen der Grundfragen von Geschichte und Gegenwart, kühnes Neuerertum, das die Palette der realistischen künstlerischen Ausdrucksmittel bereichert - all das ergibt die allgemeine Bedeutsamkeit der lateinamerikanischen Literatur, das Wesen jenes Neuen, das sie in den heutigen weltliterarischen Prozeß einbringt. Dynamik und Ausmaß der in den befreiten Ländern Asiens und Afrikas erfolgenden sozialen Veränderungen bestimmen die Entwicklung der Literatur in diesen Regionen. Als „Prozeß von historischer Bedeutung" 34 bezeichnete Leonid Breshnew die tiefgreifenden historischen Wandlungen in diesem Teil der Welt. Das Zerbrechen des Kolonialsystems, eine der wichtigsten revolutionären Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, die Befreiung der früheren Kolonien und ihre Umwandlung aus Stützpunkten des Imperialismus in eine selbständige Kraft, die das sozialpolitische Klima der Welt beeinflussen kann und real beeinflußt, die Überwindung der alten gesellschaftlichen Beziehungen und das Suchen nach neuen Entwicklungswegen, der Aufschwung des Selbstbewußtseins der Völker und das Erwachen ihrer schöpferischen Energie - all das hatte einen gewaltigen revolutionierenden Einfluß auf die Literatur. Unter diesen Bedingungen wird für die künstlerische Intelligenz der befreiten Länder kennzeichnend, daß sie die in den 60er Jahren spürbare Enttäuschung über die Ergebnisse der Entkolonialisierung überwindet und sich der Tatsache bewußt wird, daß der Kampf für die völlige Unabhängigkeit und die wirkliche soziale Gerechtigkeit in eine neue, entscheidende Phase eintritt. Heute sind die Literaturen dieser Länder von der ersten Etappe ihrer Entwicklung - der Mobilisierung der nationalen Kräfte und der internationalen öffentlichen Meinung für den Kampf gegen das schändliche Kolonialsystem - zur zweiten Etappe übergegangen, deren Inhalt die Festigung und Entwicklung der durch revolutionäre Aktionen erzielten Erfolge und vor allem die richtige ideologische und soziale Orientierung bilden. Dieses Problem ist um so komplizierter, als imperialistische und neokolonialistische Kreise die Versuche nicht aufgeben, mit allen Mitteln die befreiten Länder an das System des Weltkapitalismus zu binden, dessen gegenwärtige Krise sich in nicht geringem Maße aus dem Verlust der früheren ökonomisch-politischen Positionen in den ehemals abhängigen Ländern erklärt. Andererseits spielen in den hegemonistischen Plänen des Maoismus die Versuche, Zwietracht zwischen den Entwicklungsländern und den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft zu säen, faktisch die entscheidende Rolle, wodurch die Politik der Pekinger Führer „ihrem 17
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Wesen nach auch zu einer wichtigen Reserve des Imperialismus in seinem Kampf gegen den Sozialismus" 35 geworden ist. In ihrer schädlichen ideologischen Tätigkeit stützen sich die imperialistischen und die linksextremistischen, vor allem die maoistischen Kreise auf jene sozialen Schichten in den Entwicklungsländern, deren Interessen denen der breiten Massen objektiv feindlich sind. Es vollzieht sich ein komplizierter Prozeß, in dem sich die Klassen polarisieren und der Mythos von der Einheitlichkeit der Gesellschaft in den Ländern Asiens und Afrikas zerstört wird. Auf dem Gebiet der Kultur, wo demokratische Kräfte mit antidemokratischen Elementen zusammenstoßen, die ihre Privilegien und ungerechtfertigten Ansprüche verteidigen, wird die Klassentrennung immer deutlicher. In diesem stürmischen Prozeß bilden sich Züge einer gewissen typologischen Ähnlichkeit zwischen den Literaturen der Entwicklungsländer heraus, was die Wissenschaftler veranlaßt, sie als eine neue, selbständige Komponente im System der Weltliteratur zu betrachten. Einer dieser Züge ist für Afrika die ungewöhnliche Intensivierung der literarischen Entwicklung. Sehr stark macht sich das Bestreben bemerkbar, in extrem kurzer Zeit, manchmal einzelne Stadien überspringend, die jahrhundertealte Rückständigkeit zu überwinden und zur Weltkultur vorzustoßen. Dies gilt nicht nur für die Länder des tropischen Afrikas, die noch vor kurzem keine Schriftsprache besaßen, sondern beispielsweise auch für die Länder des arabischen Westens, wo jahrhundertealte Literaturtraditionen über einen langen Zeitraum hinweg unterbrochen waren. 36 Charakteristisch für die Literaturen Afrikas - wie überhaupt für die Literaturen der Entwicklungsländer - sind heute innere qualitative Veränderungen, die die neuen Momente in der politischen und sozialen Entwicklung widerspiegeln. Neben dem mächtigen traditionellen Strom der Literatur des antikolonialen Protestes entstand und erstarkte eine Literatur mit neuer Problematik, eine Literatur, die den Weg für die weitere soziale Entwicklung sucht und vielen tief verwurzelten Vorurteilen sehr kritisch gegenübersteht, die leidenschaftlich gegen die Kräfte der inneren Reaktion kämpft und für die Erziehung eines neuen Menschen- eintritt, der frei ist sowohl von den Überbleibseln des Stammesdenkens, von Nationalismus und „schwarzem Rassismus" als auch von der sklavischen Nachahmung westlicher Vorbilder. Die fortschrittlichen Schriftsteller der Entwicklungsländer Asiens und Afrikas führen heute einen Kampf an zwei Fronten: erstens gegen die Rückständigkeit der Massen und für die Überwindung archaischer Relikte in den gesellschaftlichen Beziehungen (Stammesvorurteile, feudalistisches Kastendenken usw.) und des ethnischen Separatismus, der die Stabilität der jungen Staaten untergräbt; zweitens gegen die sich in einigen Ländern herausbildenden bürgerlichen Verhältnisse, gegen den unheilvollen Geist des Individualismus und der Habgier, gegen die räuberische bürgerliche „Moral". Die progressiven Literaturschaffenden der Entwick258
lungsländer zeigen, daß der kapitalistische Weg in eine Sackgasse führt; gleichzeitig wenden sie sich auch gegen die reaktionäre Idee von der Exklusivität der sogenannten dritten Welt, der prinzipiellen Unterschiedlichkeit ihrer Entwicklungswege von denen der industriell entwickelten Länder. Angesichts des Erwachens der breiten Volksmassen und der Freisetzung ihrer sozialen und schöpferischen Aktivität gewinnen der historische Optimismus der Literatur und ihr konsequenter Glaube an die Vernunft und Zweckmäßigkeit menschlichen Handelns, an die Realität der revolutionären Ideale und an die Kraft der Einheit der arbeitenden Menschen immer größere Bedeutung. In dem Bestreben, die komplizierten sozialen Prozesse, das Wesen und die weitere Perspektive der grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltungen zu begreifen, werden die afro-asiatischen Literaturen „hellhöriger" gegenüber den neuen Fakten, Erscheinungen und Problemen der sich schnell verändernden Wirklichkeit. Das führt zu einer Aktivierung des analytischen Elements, einer verstärkten Neigung zur wahrheitsgetreuen, lebensvollen Darstellung der Welt in ihrer Vielfalt, in der Dynamik des Kampfes, in der Dialektik der realen Widersprüche. Immer breitere Teile der fortschrittlichen Künstlerkreise überzeugen sich davon, daß sowohl die von Europa und Amerika kommenden modernistischen und formalistischen Modeeinflüsse als auch die Vorherrschaft überkommener ästhetischer Normen, das Abkapseln in einen engen, exotischen afro-asiatischen Bereich die Weiterentwicklung der Literatur hemmen, ihr schöpferisches Potential und ihren revolutionär verändernden Einfluß verringern. Die Alternative zu diesen anachronistischen, aber auf beiden Kontinenten noch immer recht starken und einflußreichen Tendenzen sehen die fortschrittlichen Schriftsteller in einer Verstärkung der sozial aktiven Formen der realistischen Kunst, in der Aneignung der fortschrittlichen ideologischen und ästhetischen Erfahrungen der Weltkultur. Letzteres ist in wachsendem M a ß e mit den Erfolgen der multinationalen Sowjetliteratur und der Literaturen der anderen sozialistischen Staaten verbunden. Ein Beispiel des selbstlosen Dienstes an der Revolution ist für die fortschrittlichen Kulturschaffenden Asiens und Afrikas die in harten Prüfungen erstarkte Literatur der Sozialistischen Republik Vietnam. Wenn man die literarische Situation in den afro-asiatischen Entwicklungsländern charakterisiert, darf man die den progressiven Kräften aktiv entgegentretenden antidemokratischen Tendenzen verschiedenster Art nicht übergehen. Eine von ihnen bildet sich unter starkem Einfluß neokolonialistischer Ideen heraus und bekräftigt direkt oder verschleiert die These, daß die westliche Anwesenheit in den Ländern der sogenannten dritten Welt unumgänglich sei. In der Regel von im Westen lebenden Auswanderern aus Asien und Afrika geschaffen und sich vorrangig auf den europäischen und amerikanischen Büchermarkt orientierend, basiert diese Literatur auf leicht modernisierten Mitteln des alten westlichen Kolonialromans und den Stereotypen der bürgerlichen „Massenkultur", die ihrerseits von den modernistischen Modekonzeptionen „befruchtet" werden. Mit naturalistischer Genauigkeit und betonter Leidenschaftslosigkeit wiedergege17*
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bene sexuelle Szenen, Bilder der Gewalt und der pathologischen Grausamkeit, exotische Beschreibungen im Geiste von Claude Farrère und Pierre Loti, scheinphilosophische Exkurse in die unergründlichen Tiefen des afrikanischen (oder asiatischen) „Geistes", Episoden, die die „Hinterhältigkeit" und Primitivität der Volksmassen illustrieren - all dies soll die Atmosphäre eines unkultivierten Chaos schaffen, vor dem nur die Kolonialverwaltung und die christliche Kirche retten können... Zum Unterschied von derartigen Werken, die in den Entwicklungsländern selbst nicht populär sind, wendet sich die Literatur, die die Ideologie des linksradikalen Extremismus und des Nationalismus widerspiegelt und die maoistischen Ideen von der „totalen Revolution" predigt, in erster Linie an den Leser in dem jeweiligen Entwicklungsland, meistens an die aufrührerisch gestimmte, doch in politischer und ideologischer Hinsicht noch ungenügend reife Jugend. Unter dem Deckmantel pseudorevolutionärer Losungen negieren die Schriftsteller dieser Richtung das ganze kulturelle Erbe, rufen zur Anarchie und zur allgemeinen Zerstörung auf und führen die Literatur damit weg von der Lösung der wirklich revolutionären Aufgaben. Leider machen sich linksradikale Neigungen und neoavantgardistische Einflüsse nicht selten auch im Schaffen progressiver, wirklich revolutionärer Künstler bemerkbar, was die ideologisch-künstlerische Ausdruckskraft ihrer Werke spürbar beeinträchtigt.37 Schließlich sind ein wesentlicher Faktor des ideologischen Kampfes, der den literarischen Prozeß in den Ländern Asiens und Afrikas spürbar beeinflußt, verschiedene traditionalistische Richtungen, die sich bei dem harten Zusammenstoß von neuen Tendenzen und Überbleibseln aus der Vergangenheit und dem intensiven Suchen nach dem weiteren Weg für die Entwicklung der Nationalkultur verstärkt haben. Die Vertreter dieser Richtung verteidigen weiter die Rassenexklusivität und die nationale Abgeschlossenheit, rufen zur Erhaltung aller, selbst der archaischsten Elemente der eigenen Kultur auf und erklären die traditionellen geistigen Werte (der Neger, des Islam, des Hinduismus usw.) zum einzigen Garanten für die Wahrung der nationalen Selbständigkeit und jener „Harmonie", die der afro-asiatischen Welt seit jeher eigen seien. Die heftigen Diskussionen um die Konzeption der Négritude sind nicht verstummt. Die Négritude als spezifische philosophisch-literarische Bewegung geht auf jene Zeit zurück, in der Afrika sich erst von den Fesseln des Kolonialismus zu befreien begann und sich vor der afrikanischen Intelligenz die Aufgabe erhob, eine neue Kultur zu entwickeln. Natürlich rückte damals in den Vordergrund das Suchen nach der „Unterschiedlichkeit", der Eigenart, die aktive Abkehr vom kulturellen Einfluß der Kolonialmächte. Damit verbunden war das verstärkte Interesse für die Geschichte, die Sprachen, Mythen und rituelle Kultur des Kontinents. Ende der 40er Jahre und in dem folgenden Jahrzehnt spielte diese Erscheinung, die Teil des 260
allgemeinen antikolonialen Befreiungskampfes war, eine gewisse progressive Rolle als Gegengewicht zu den Postulaten der imperialistischen Ideologie, die viele Jahre lang in den afrikanischen Kolonien verbreitet worden war. In den Ideen der Négritude sahen viele eine Möglichkeit, für Schwarzafrika Unabhängigkeit im ideologischen und kulturellen Bereich zu erlangen. Anders verhält es sich unter den heutigen Bedingungen. Die Négritude gerät immer spürbarer in Widerspruch zu den Aufgaben der revolutionären Umgestaltung in den Entwicklungsländern, zur Realität des sich in ihnen verschärfenden Klassenkampfes. Die auf der Grundlage der Négritude entstandene Konzeption des „afrikanischen Sozialismus" offenbart klar ihren bürgerlich-apologetischen Charakter und widerspricht dem wissenschaftlichen Sozialismus. Die sich unter dem Banner der Négritude entwickelnde Literatur ist von jener Kampfansage an die Welt des fruchtlosen bürgerlichen Profitstrebens, mit der sie einst begonnen hatte, weit abgerückt. Kennzeichnend für sie ist heute das Streben nach einem System „ewiger" Werte Schwarzafrikas, die angeblich berufen seien, „in der heutigen Welt eine Messiasrolle zu spielen" 38 und Elemente der westeuropäischen, vor allem der französischen Kultur - sowohl der elitären und modernistischen als auch der „Massenkultur" - zu integrieren. Es ist kein Zufall, daß die Ideologen des Neokolonialismus mit der Négritude die Hoffnung auf „eine gute Nutzung der Entkolonialisierung", auf Beibehaltung der „Kooperation" zwischen den afrikanischen Ländern und den früheren Besitzern der Kolonien verbinden. 39 Wie man sieht, ist die literarische Entwicklung in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens außerordentlich kompliziert. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß sich hier sowohl der Kampf der Ideen als auch das Scheitern veralteter Konzeptionen und die Geburt des Neuen stärker, klarer und umfassender bemerkbar machen als in den „alten" europäischen und amerikanischen Literaturen, was sich aus der Intensität und Tiefe der revolutionären Prozesse erklärt. Es erhebt sich natürlich die Frage, wie, mit welchen Mitteln, unter Anwendung welchen literaturwissenschaftlichen Instrumentariums die objektiven Zusammenhänge zwischen der heutigen Literatur und dem revolutionären Prozeß der Epoche zu ermitteln sind. Wo liegt der methodische Schlüssel zur Erkenntnis des „Mechanismus" dieser komplizierten, .vielschichtigen, durchaus nicht immer an der Oberfläche liegenden Zusammenhänge? Einige Schulen der bürgerlichen Wissenschaft bestreiten allein schon die Rechtmäßigkeit einer solchen Fragestellung. „Wenn wir uns entschließen, das literarische Werk als Dokument der Epoche zu betrachten, wird dadurch seine besondere ästhetische Funktion entstellt..." In seinem Kommentar zu dieser Äußerung des französischen Strukturalisten Roland Barthes bemerkt der DDR-Wissenschaftler Robert Weimann zu Recht, daß diese Methode „vielleicht ,die immanente Analyse' eines systembestimmenden Strukturbegriffs, welche das Werk zu nichts anderem als ihm selbst in Beziehung 261
setzt", erleichtert, aber „am Ende steht nicht die Integration von Ästhetik und Historie, sondern jene zweideutige Alternative, die Barthes . . . Literatur oder Geschichte benennt" 40 . Für ebenso unhaltbar hält Weimann auch den Anspruch des belgischen Wissenschaftlers Lucien Goldmann, daß seine „strukturgenetische Methode" die Beschränktheit einer immanenten Analyse überwinde. In Wirklichkeit aber - und das weist der Literaturwissenschaftler aus der D D R überzeugend nach - verneint er jegliche Verbindung der Literatur zu „dem kollektiven Bewußtsein der sozialen Gruppen" und kann dadurch „die historisch-ideologischen Bestimmungen seines Gegenstandes mühelos durch strukturale Homologien ersetzen, welche vielleicht erklärend wirken, aber keine Funktion im Verwandeln und Verändern dieser Welt besitzen" 41 . Hier ist eine der empfindlichsten Stellen des Strukturalismus getroffen: Seine Beschränkung auf die inneren Eigenschaften des Kunstwerkes, losgelöst von ihrer realen Bedingtheit durch ideologische und sozial-gesellschaftliche Faktoren, macht es unmöglich, die Literatur in Beziehung zur Dynamik des historischen Prozesses, zur revolutionär umgestaltenden Tätigkeit des Menschen zu befrachten, das heißt, sie läßt die objektiven Gesetzmäßigkeiten der literarischen Entwicklung nicht erkennen. Übrigens bringt der Strukturalismus nur in zugespitzter Form die allgemeinen Tendenzen der verschiedenen Richtungen der bürgerlichen Philosophie und Ästhetik zum Ausdruck. Immer beharrlicher wird versucht, den Ideen der revolutionären Umgestaltung der Welt, der marxistischen monistischen Geschichtsbetrachtung die Konzeption von der Unveränderlichkeit des menschlichen Daseins, eine relativistische Sicht der Weltgeschichte und Kultur entgegenzustellen, die objektiven Gesetzmäßigkeiten und die Vorwärtsentwicklung in allen Lebenssphären der Gesellschaft und damit auch in der Sphäre des künstlerischen Schaffens zu verneinen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht das Buch des westdeutschen Soziologen Wilhelm Mühlmann „Bestand und Revolution in der Literatur", in dem davon die Rede ist, daß die „engagierte" Literatur in der Welt von heute sinnlos sei. In der marxistischen These von der Notwendigkeit, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, sieht Mühlmann „Voluntarismus", der, wie er meint, jedem revolutionären Denken immanent ist. Mühlmann meint: „Die Dichter verändern nicht die Welt. Die Resignation . . . ist eine unausbleibliche Folge der marxistischen Zusammenleimung von Praxis und Theorie, übertragen auf die Literatur." 42 Es ist nicht verwunderlich, daß der militante Antihistorismus die bürgerlichen Autoren veranlaßt, das Leninsche Prinzip der Parteilichkeit des künstlerischen Schaffens abzulehnen, denn in diesem Prinzip kommt besonders umfassend die Idee von der zielgerichteten, bewußten Teilnahme der Literatur und Kunst an der revolutionären Umgestaltung der Welt zum Ausdruck. So wird in der Interpretation der amerikanischen Sowjetologen Victor Erlich und Edward Brown in der achtbändigen antikommunistischen Enzyklopädie 262
„Marxismus, Kommunismus und westliche Gesellschaft" 4 3 das Prinzip der Parteilichkeit als ein „propagandistischer Monismus" behandelt, der der Spezifik der Kunst widerspreche. E i n deutliches Zeichen für die „Zurückgebliebenheit" und „theoretische Voreingenommenheit" der marxistischen Ästhetik sehen die Sowjetologen darin, daß sie die ideologischen Funktionen der Kunst und den objektiv-historischen Inhalt der Literatur untersucht und konsequent die Prinzipien der Parteilichkeit, der Volksverbundenheit und des sozialistischen Internationalismus verteidigt. Ein anderer Autor der erwähnten antimarxistischen Enzyklopädie, der westdeutsche Sowjetologe Jürgen Rühle, verbindet den heuchlerischen Versuch, die Autonomie der Kunst gegenüber der Politik durchzusetzen, mit hemmungslosen Ausfällen gegen die Prinzipien der leninistischen Kulturpolitik. D a s positive Programm für die „Befreiung" der Kunst vom sozialistischen „Totalitarismus" sieht Rühle in der „künstlerischen und ökonomischen Freiheit" (natürlich in seiner, Rühles, Auslegung des Wortes) sowie in der „Konkurrenz" und der „pluralistischen Ordnung" in der Gesellschaft. Sowohl die respektabel-.akademischen" Theorien als auch die offen propagandistischen Studien aus der sowjetologischen „vergleichenden" Enzyklopädie zeugen ganz offensichtlich nur von einem: von der Ohnmacht der bürgerlichen Literaturwissenschaft, von ihrer Unfähigkeit, die heutige literarische Situation zu erklären, sie zum objektiven Lauf der Geschichte, zum revolutionären Weltprozeß in Beziehung zu setzen. D i e Tendenz zu einer Annäherung der verschiedenen Schulen und Richtungen der bürgerlichen Wissenschaft, eine Tendenz, die in den letzten Jahren deutlich durch den äußeren Pluralismus methodologischer Deklarationen hindurchschimmert, beruht auf der allen diesen Schulen und Richtungen gemeinsamen Vorstellung vom in sich abgeschlossenen, immanenten Charakter der literarischen Entwicklung. Nicht zufällig folgt die bürgerliche Literaturwissenschaft immer öfter dem antimarxistisch orientierten Formalismus in seinen strukturalistischen und neostrukturalistischen Modifikationen. In der Kulturologie der 70er Jahre treten die strukturalistischen Ideen in Verbindung mit dem Behaviorismus a u f ; in der Folkloristik verwandeln sie sich in einen „Superdynamismus", der das Volksschaffen auf einen „kommunikativen A k t " reduziert; im „sowjetologischen" Z w e i g macht sich die Literaturwissenschaft zum Apologeten des russischen Formalismus; in der literaturanthropologischen Richtung verbindet sie sich mit mytho-jungianischen Konzeptionen. Diese methodologische Konvergenz erfolgt unter der Flagge des Szientismus und mit dem Anspruch, komplex zu untersuchen und in neue Tiefen der Weltkultur vorzustoßen. Man braucht wohl nicht zu betonen, daß diese Ansprüche jeder Grundlage entbehren und die Konvergenz keineswegs zu der gewünschten theoretischen Synthese führt. Diese kann nur die marxistisch-leninistische Ästhetik erreichen, deren unbestreitbarer methodologischer Vorzug darin besteht, daß sie sich auf eine ganz263
heitliche, monistische Konzeption von Kunst und Gesellschaft stützt und die Erscheinungen des geistigen Lebens in einem Koordinatensystem betrachtet, das durch die objektive Entwicklung des revolutionären Weltprozesses bestimmt wird. Gerade dadurch werden in der Literaturentwicklung in all den Widersprüchen, all der Fülle und Kompliziertheit deutlich die Hauptrichtungen und Gesetzmäßigkeiten, ihre historische Dynamik erkennbar. Gerade dadurch wird es möglich, wie Lenin sagte, daß „der Prozeß als Ganzes dargestellt . . . alle Tendenzen berücksichtigt und ihre Resultate oder ihre Summe, ihr Ergebnis ermittelt werden" 4 ''. Natürlich ist diese Aufgabe außerordentlich schwierig. Lenins Bemerkungen in der zitierten Arbeit („Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft", 1915) über die „komplizierten, verschiedenartigen, verwickelten und widerspruchsvollen Tendenzen" in der Ökonomik der damaligen Landwirtschaft können in vollem Maße auf das Bild der heutigen literarischen Entwicklung bezogen werden. Hier kann man ebenso „jederzeit Beispiele für die Erhärtung gegensätzlicher Auffassungen finden"45. Für die bürgerliche Literaturwissenschaft ist dies ein bequemer Anlaß, über „Undeterminiertheit" und „Vielfalt" zu reden und die Notwendigkeit des Relativismus zu begründen. Die marxistisch-leninistische Literaturwissenschaft sieht hier eine Widerspiegelung der realen Kompliziertheit und Vielschichtigkeit der gesellschaftlich-historischen Prozesse, was es unbedingt notwendig macht, daß man „die Äußerung der Grundgesetze im scheinbaren Chaos der Erscheinungen zeigt" 46 . Aber wie widersprüchlich und kompliziert die literarische Entwicklung heute auch sein mag, wir betrachten sie trotzdem nicht als amorphe Anhäufung von Zufälligkeiten, sondern als Prozeß, der von den objektiven inneren Gesetzmäßigkeiten und gleichzeitig von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Weltgeschichte bestimmt wird. Die gegenwärtige Etappe der Weltliteratur bildet ein vielschichtiges, dynamisches Ganzes im System des einheitlichen welthistorischen Prozesses, der von den Positionen der marxistischen Wissenschaft, des Leninschen Prinzips der Parteilichkeit aus erfaßt wird. Diese Betrachtungsweise, die sich in unserer Literaturwissenschaft immer mehr durchsetzt, steht im Gegensatz zum empirischen Beschreiben und zum Pluralismus, sie eröffnet weite Möglichkeiten für eine Systemanalyse der gegenwärtigen literarischen Etappe und gestattet es, deren charakteristische, historische, strukturelle und funktionelle Besonderheiten zu untersuchen. Sie steht auch im Gegensatz zu den Theorien vom „einheitlichen Strom", zu den Ideen von einer „Universalisierung" des kulturellen Weltprozesses in der sogenannten postindustriellen Gesellschaft, die einigen neuen futurologischen Projekten zugrunde liegen (Daniel Bell, Zbigniew Brzezinski). Die sowjetische Wissenschaftlerin I. Neupokojewa hat mit ihren letzten Arbeiten einen prinzipiell wichtigen Beitrag zur Klärung der methodologischen Grundlagen für eine Systemanalyse des Literaturprozesses geleistet. Sie betont die Notwendigkeit, bei der Betrachtung der literarischen Etappe als ganzheitlichem System nicht zu übersehen, daß in diesem 264
System „vielfältige Kräfte einer literarischen .Reihe' - künstlerische Methoden, literarische Richtungen und Strömungen, künstlerische Stile - aufeinander einwirken (sowohl im Zusammenwirken als auch in offenem Kampf)- Dieser Kampf ist nicht anonym: In ihm wirken die Künstlerpersönlichkeit und ihr Gesamtwerk, ihre gesellschaftliche und moralische Aktivität, ihre sozialphilosophische und ästhetische Position.'"' 7 Zuverlässige methodologische Orientierung in diesem Kampf und Kern der marxistischen Konzeption von der Weltliteratur unserer Zeit war und bleibt die Leninsche Theorie von den zwei Kulturen. Die Jahrzehnte, die vergangen sind, seit Lenin diese Theorie formulierte und begründete, brachten der Weltkultur viel Neues. Heute tobt der Kampf der zwei Kulturen unter einem sich rigoros verändernden Kräfteverhältnis. Jene „Riemente der demokratischen und sozialistischen Kultur", von denen Lenin seinerzeit sprach, entwickeln und festigen sich immer schneller, stimuliert'durch das machtvolle Anwachsen der Kultur des sozialistischen Weltsystems. Die „herrschende" Stellung der bürgerlichen Kultur in der kapitalistischen Welt bleibt zwar insgesamt erhalten, aber sie ist heute keineswegs mehr unangefochten. Die Krisenzeichen verstärken sich, und die fortschrittlichen Elemente der Kultur, die in den revolutionären Tendenzen der Zeit eine Stütze finden, werden immer aktiver. Diese Veränderungen, die man natürlich beachten muß, will man ein wahrheitsgetreues Bild der gegenwärtigen Literatur zeichnen, ändern nichts an der Aktualität der Theorie von den zwei Kulturen. Man kann auf keinen Fall jenen Wissenschaftlern beipflichten, die Lenin in dieser Frage zu „korrigieren" versuchen und behaupten, daß es heute „in einigen entwickelten kapitalistischen Ländern schon drei Kulturen" 4 8 gebe. Die Teilung der progressiven Kultur in der kapitalistischen Welt in zwei autonome Ströme - einen sozialistischen und einen allgemeindemokratischen - ist wohl kaum begründet und förderlich. Es ist nicht gerechtfertigt, die demokratischen Elemente von den sozialistischen Elementen abzugrenzen und die höchst komplizierten Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen außer acht zu lassen. Die Konzeption von den „drei Kulturen" macht unsere Vorstellung vom literarischen Prozeß nicht reicher, sondern ärmer und verflacht sie; seine Hauptwidersprüche, die die ideologisch-ästhetischen Gegensätze der Epoche bestimmen, werden verdeckt. Die Praxis der literarischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte spricht dagegen; sie bestätigt anschaulich, daß das von Lenin entdeckte Gesetz vom Kampf zweier Kulturen im Kapitalismus (für eine bestimmte historische Etappe) allgemeingültig und unumgänglich ist. Auch die Befürchtungen, daß wir durch die Anwendung der Theorie von den zwei Kulturen auf den gegenwärtigen literarischen Weltprozeß unsere Vorstellungen von der Ganzheitlichkeit dieses Prozesses in Frage stellten, entbehren jeglicher ernsthafter Grundlage. Die These vom Kampf zweier Kulturen widerspricht wohl lediglich einer metaphysisch verstandenen, scheinbaren Einheit. Die dialektische Methode versteht Ganzheitlichkeit in dem Sinne, daß sie den Kampf der Gegen265
sätze einschließt und die konkreten historischen Bedingungen, die nationale Spezifik usw. in Betracht zieht. Man muß nur hinter diesen Gegensätzen und Widersprüchen die innere Logik des Prozesses, seinen Zusammenhang mit dem objektiven Gang der Geschichte sehen. N. Konrad, der die Periode des Mittelalters als „eine Ganzheitlichkeit", als „ein bestimmtes Weltsystem" analysiert, ging davon aus, daß es dort Anzeichen eines Systems gibt, wo „alle Teile, wie verschieden sie auch sein mögen, einem bestimmten Element untergeordnet sind, und nur dieses bildet das führende Element des sozialökonomischen und kulturellen Prozesses in seinem allgemeinhistorischen Maßstab" 49 . In unserer Epoche ist dieses führende Element der wachsende Einfluß des Leninismus, der Ideen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der durch sie entstandenen sozialistischen Gesellschaft, jener grundlegenden Veränderungen, die das Ergebnis welthistorischer revolutionärer Wandlungen waren und den Charakter aller Seiten der gesellschaftlichen Praxis der Menschheit bestimmen, darunter auch den Charakter und die Richtung des literarischen Weltprozesses. Die Uneinheitlichkeit dieses Prozesses, die Vielfalt an Bedingungen, unter denen er verläuft, der Unterschied im Niveau, der unendliche Reichtum an Formen und einmaligen schöpferischen Individualitäten, der Kampf der Ideen und Konzeptionen - all das kann und darf uns nicht den Blick nehmen für die allgemeinbedeutsamen, grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der gegenwärtigen Etappe in der Geschichte der Weltliteratur, für jene qualitativ neuen Züge, jene Haupttendenzen und ideologisch-künstlerischen „Dominanten", die ihm die Merkmale der Ganzheitlichkeit, eines Systems geben. Besonders deutlich zeigt sich die neue, für unsere Epoche kennzeichnende Qualität der dialektischen und sich immer mehr vertiefenden Zusammenhänge zwischen dem revolutionären Prozeß und der literarischen Entwicklung in der Welt am Beispiel der sowjetischen Literatur. Ihre Leistungen sind heute einer der wichtigsten Faktoren des positiven Einflusses auf das geistige Klima der Welt, auf jene sozialen, ideologischen und politischen Tendenzen, die in bedeutendem Maße das Antlitz der Weltliteratur insgesamt formen und bestimmen. Seinerzeit wurde die Weltbedeutung der sowjetischen Literatur bei uns häufig in beschreibender, im Grunde genommen „quantitativer" Form nachgewiesen; man zählte vor allem solche Faktoren auf wie die Intensität der Übersetzungen bestimmter Werke im Ausland, ihr Echo in der Weltpresse, bei den Kritikern und Lesern, die Äußerungen ausländischer Schriftsteller darüber, welche Rolle in ihrem Schaffen die Erfahrungen der sowjetischen Klassik spielten. Natürlich sind diese Momente auch heute noch sehr wesentlich, aber sie genügen nicht. Über Scholochow beispielsweise sagten, worauf P. Palijewski kürzlich hinwies, 50 viele große Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nichts oder fast nichts, aber wer will heute die Weltgeltung seines genialen Schaffens bezweifeln! Es gibt also noch andere Kriterien, neue Wege zur Erforschung der bei weitem nicht homogenen Hierarchie geistig-künst266
lerischer Werte, des feinen Mechanismus typologischer Ähnlichkeiten, Unterschiede, Einflüsse, Wechselwirkungen, die im allgemeinen System der geistigen Kultur der Menschheit, des gegenwärtigen Ideenkampfes, des revolutionären Weltprozesses zu betrachten sind. Wir haben noch nicht viel erreicht, aber das steigende methodologische Niveau unserer Literaturwissenschaft läßt hoffen. Es ist bemerkenswert, daß auch in den Arbeiten einiger realistisch denkender westlicher Wissenschaftler die sowjetische Literatur immer häufiger im Kontext der Weltliteratur betrachtet wird. Von diesen Publikationen sind beachtenswert: die 1974 in Frankreich veröffentlichten Materialien der Diskussion „Die Geschichte der Kunst und der Marxismus", die Sondernummern der westdeutschen Zeitschriften „Kürbiskern" (Nr. 1/1973) und „Akzente" (Nr. 6/1974) über die sowjetische Literatur, das Buch des englischen Professors W. James „Der sowjetische sozialistische Realismus. Entstehung und Theorie", die Arbeiten japanischer Wissenschaftler „W. I. Lenin und die Literatur" und „Lenin und Fragen der Literatur". In einigen Untersuchungen zeigt sich der Einfluß von Bewertungen und Schlußfolgerungen, die aus der sowjetischen Wissenschaft stammen, wird den bürgerlichen „Sowjetologen" der Kampf angesagt. So beispielsweise in dem Buch des westdeutschen Slawisten Rolf-Dieter Kluge „Vom kritischen zum sozialistischen Realismus. Studien zur literarischen Tradition in Rußland 1880-1925". Einzelne Thesen dieser Arbeit lassen zwar den Einfluß von Stereotypen der bürgerlichen Literaturwissenschaft erkennen, aber ihr allgemeiner Geist zeugt von dem Bemühen des Autors, den geistig-ästhetischen Beitrag der Literatur des sozialistischen Realismus zur künstlerischen Weltkultur zu erfassen. Vor der marxistischen Literaturwissenschaft steht die dringliche Aufgabe, die Literatur der europäischen sozialistischen Länder als ein dynamisches ideologischkünstlerisches System, das durch die historisch neue Etappe des revolutionären Prozesses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht worden ist und sich auf die objektiven Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses stützt, unter dem Aspekt des Allgemeinen und des Besonderen zu erforschen. Hier liegt noch ein weites Arbeitsfeld. Vorläufig sind nur die ersten Schritte zur Bestimmung der methodologischen Ausgangspositionen getan. Nun geht es um die Konkretisierung und detaillierte Erarbeitung einer ganzen Reihe von Schwerpunktaufgaben im Zusammenhang mit der realen Dialektik der Herausbildung und Festigung der ideologisch-ästhetischen Gemeinsamkeiten zwischen den sozialistischen Literaturen und der sorgfältigen Bewahrung und Entwicklung der spezifischen Besonderheiten und nationalen Traditionen dieser Literaturen. Die kollektiven Bemühungen sind vor allem darauf zu richten, die Struktur des gegenwärtigen literarischen Prozesses im System der sozialistischen Länder insgesamt und selbstverständlich in jedem einzelnen Land umfassend zu charakterisieren, die Probleme des Neuerertums und die Rolle der progressiven nationalen Traditionen bei der Herausbildung jeder sozialistischen Literatur zu erforschen und ihren ästhetischen Reichtum, ihre künstlerische Eigenart sowie ihren Beitrag zum allgemeinen 267
Prozeß aufzudecken. Die typologischen Kennzeichen der Literaturen der sozialistischen Länder in thematischer, genretnäßiger und stilistischer Hinsicht sind zu bestimmen und dabei die Momente der genetischen und ideologisch-ästhetischen Gemeinsamkeit und die Spezifik konkreter künstlerischer Lösungen zu ermitteln. Man muß die ganze Fülle der Kontakte und Verbindungen und die Besonderheiten der neuen Etappe der Wechselwirkung und gegenseitigen Bereicherung zwischen den Literaturen bei der allseitigen Annäherung der sozialistischen Länder verfolgen. Dabei darf man jene komplizierten, vielfältigen Beziehungen nicht vergessen, die die sozialistische Literatur mit der künstlerischen Entwicklung in der Welt verbinden: gegenseitige Beeinflussung, Anziehung und Widerstand. Man kann diese Literatur nicht als starres, auf sich beschränktes System erforschen, losgelöst von dem lebendigen Kontakt mit anderen ideologisch-künstlerischen Systemen, vor allem natürlich mit der ganzen breiten Front der progressiven, realistischen Literatur der Welt, jedoch in bestimmtem Maße auch mit nichtrealistischen Strömungen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es besonders aktuell, die konkreten Formen zu erfassen, in denen die Zusammenhänge zwischen der Literaturentwicklung in den kapitalistischen Ländern und den Entwicklungsländern und dem revolutionären Prozeß sowie den realistischen Grundtendenzen zum Ausdruck kommen, wobei die ganze Kompliziertheit und Vielfalt dieser Zusammenhänge beachtet werden muß. Der scharfe ideologische und ästhetische Kampf, die komplizierte revolutionäre Umgestaltung der Welt und des Menschen, die Spaltung und Transformierung modernistischer Schulen und Strömungen lassen in der westlichen Kunst nicht selten künstlerische Erscheinungen entstehen, die ihrem Wesen nach Übergangsoder Grenzcharakter haben. Es wäre offensichtlich eine ungerechtfertigte Vereinfachung, wollte man alle nichtrealistischen Werke in der heutigen Kunst ohne Ausnahme vorbehaltlos dem Modernismus zuordnen. Ebenso ist es schwerlich möglich, jede Erscheinung einer ihrer politischen Tendenz nabh progressiven, manchmal von spontanen sozialistischen Sympathien gefärbten künstlerischen Kultur als realistisch zu bezeichnen. Heterogenität des ideologisch-ästhetischen Wesens bestimmter Tendenzen und Kompliziertheit des künstlerischen und geistigen Suchens sind charakteristische Merkmale der Kunst in einer Zeit großer revolutionärer Veränderungen. Es ist kein Geheimnis, daß das Schaffen, zuweilen auch einzelne Werke, einiger bekannter Künstler der Gegenwart, die in der bürgerlichen Gesellschaft leben nennen wir in diesem Zusammenhang nur Tennessee Williams oder Alberto Moravia, John Updike oder Kobo Abe - , ein kompliziertes Bild widerstreitender realistischer und nichtrealistischer, mehr oder weniger von existentialistischen, freudistischen und anderen Einflüssen geprägter Elemente bietet. Das widerspiegelt die tiefe Widersprüchlichkeit nicht nur der ideologischen und künstlerischen Positionen der betreffenden Schriftsteller, sondern der ganzen heutigen kul268
turellen Situation in der kapitalistischen Welt. Deshalb muß man differenzieren. Man muß nachweisen, daß die dogmatischen, aushöhlenden Postulate der modernistischen Ästhetik mit wahrer Kunst unvereinbar sind, und zugleich im Schaffen der Künstler, die der „Verlockung" des Modernismus ausgesetzt sind, auch deutlich jene Tendenzen zum Realismus sehen, die den fortschrittlichen Bestrebungen der Zeit entsprechen und häufig, wenn auch leider durchaus nicht immer, ihre ideologisch-ästhetische Entwicklung bestimmen. Ohne eine solche Analyse sind die reale Dialektik und die Dynamik des literarischen Prozesses, der durch die verschiedensten Faktoren und unterschiedlich ausgerichteten Kräfte beeinflußt wird, nicht zu erfassen. Unsere Literaturwissenschaft hat schon lange den Mythos zerstört, die bedeutendsten Erfolge der Kunst des 20. Jahrhunderts seien mit der Tätigkeit von Künstlern modernistischer Orientierung verbunden, und überzeugend nachgewiesen, daß sich die Einflußsphäre des Realismus erweitert hat und seine schöpferischen Möglichkeiten reicher geworden sind. Gestützt auf die Leninsche Widerspiegelungstheorie, haben die sowjetischen Wissenschaftler gezeigt, daß die realistischen Prinzipien darauf gerichtet sind, die Wahrheit des Lebens in all seiner Kompliziertheit, Widersprüchlichkeit und Vielfalt, in der historischen Entwicklung seiner wesentlichsten Seiten zu erfassen. Das gibt dem Künstler die Möglichkeit und das Recht, die verschiedensten Formen künstlerischer Verallgemeinerung zu nutzen, wenn die Idee des Künstlers es erfordert, auch phantastische, hyperbolische und stilisierte Formen. Es ist wenig überzeugend und für die Literatur kaum förderlich, wenn hin und wieder versucht wird, diese Formen in Frage zu stellen, sie aus dem Arsenal der realistischen Kunst auszuschließen und diese auf die Darstellung des Lebens „in den Formen des Lebens selbst" zu reduzieren. Eine solche Position wirkt anachronistisch. Sie steht im Widerspruch zum ästhetischen Wesen des Realismus, der die Fülle und Vielfalt künstlerischer Formen verlangt, und zur Praxis der realistischen Kunst. Es ist eine andere Frage, daß im Realismus die Erweiterung und Bereicherung der künstlerischen Palette nicht durch subjektivistische Deformierungen, durch Verzicht auf das Darstellerische, Objektive erfolgt, nicht durch ästhetische Wahllosigkeit und durch Pluralismus der Methoden und Mittel des Formschaffens, die mechanisch wesensfremden ideologisch-künstlerischen Quellen entnommen sind. Das wäre eine mehr als zweifelhafte Bereicherung. Es geht um das Suchen nach immer neuen Mitteln zur maximal umfassenden, vielschichtigen und allseitigen realistischen Widerspiegelung der heutigen Wirklichkeit, um das Erkennen ihrer historischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten. In den letzten Jahren sind in der sowjetischen Literaturwissenschaft interessante und in vieler Hinsicht förderliche Diskussionen über die Eigenart der Literatur des sozialistischen Realismus von heute geführt worden. 51 In diesen Diskussionen •wird nachgewiesen, daß sich die Kunst des sozialistischen Realismus historisch entwickelt. Die Zukunft der Kunst gehört dem sozialistischen Realismus, doch 269
auch er selbst gehört der Zukunft. Das aber bedeutet, daß er nicht unbeweglich bleibt, sondern sich ständig verändert, ständig reicher wird. Wenn wir diesen gesetzmäßigen Prozeß aufmerksam betrachten und das Neue, das in die Literatur des sozialistischen Realismus eingeht, unvoreingenommen untersuchen, gehen wir davon aus, daß die Bereicherung unserer schöpferischen Methode vor allem durch den revolutionären Inhalt der gegenwärtigen Epoche und durch die Entwicklung alles wahrhaft Bedeutenden in der Weltliteratur der Vergangenheit und Gegenwart bedingt ist. In diesem Sinne kann man den sozialistischen Realismus als historisch offenes künstlerisches System bezeichnen, offen für das Leben, für die sich unaufhörlich verändernde Wirklichkeit, für alles Neue, was im Verlauf der revolutionären Veränderungen in der Welt entsteht und was ganz natürlich dazu führt, daß die unserer Methode zugrunde liegenden Prinzipien weiter vertieft werden, neue ästhetische Formen entstehen und die Mittel der realistischen künstlerischen Ausdruckskraft ständig vervollkommnet werden. Man muß jedoch unterstreichen, daß von einem offenen System eben in diesem und nur in diesem Sinne gesprochen werden kann. Wenn man nicht berücksichtigt, daß in der Wirkungsweise der künstlerischen Mittel innerhalb des sozialistischen Realismus der Inhalt dominiert, führt die Auffassung vom sozialistischen Realismus als einem offenen System zu einer Aufweichung seiner Grenzen, zu Eklektizismus und letztlich nicht zur Bereicherung, sondern vielmehr zur Beschränkung der künstlerischen Möglichkeiten der Literatur. Sieht man in der Definition „offen" ein Synonym für „offene Türen" für alle, auch fremdartige Einflüsse, die dem Wesen unserer Methode nicht entsprechen, weicht man dann nicht vom Prinzip des Systemcharakters in seiner marxistischen Auffassung ab? Systemcharakter setzt doch eine organische Einheit voraus, die Zuordnung und- Wechselwirkung der Komponenten innerhalb des Systems, sein Wirken entsprechend den objektiven inneren Gesetzmäßigkeiten und eine exakte Vorstellung von ihrer historischen Motiviertheit. Das aber bedeutet, daß eine „Verletzung der Wechselwirkung, der Einheit der Elemente . . . das System als solches zerstört" 52 , es in ein Konglomerat verschiedenartiger Erscheinungen verwandelt, wodurch es die Merkmale des Systemcharakters verliert. Natürlich bildet das künstlerische System eine Struktur, die nicht so starr festgelegt ist, daß die geringste Veränderung in irgendeinem Teilbereich sie ihrer Besonderheiten berauben könnte. Sie ist jedoch auch nicht so unabhängig, daß jede beliebige Veränderung möglich wäre. Die Prinzipien des sozialistischen Realismus und die ihm entsprechenden wissenschaftlichen Begriffe, bemerkt A. Jegorow zu Recht, „sind flexibel genug, um die Bewegung in der Kunstpraxis verfolgen zu können. Sie haben jedoch auch ihre Grenzen, die es nicht erlauben, alles, was in der Kunstpraxis entsteht, als Werke des sozialistischen Realismus anzusehen . . . Es reicht auch nicht aus, die Entwicklung der Kunst des sozialistischen Realismus lediglich zu sehen, man muß sich auch darüber im klaren sein, daß sie sich auf der Grundlage bestimmter stabiler und allgemeingültiger Prinzipien vollzieht." 53 270
Meines Erachtens muß die Dialektik der Wechselbeziehungen zwischen „Konstanten" und „Variablen" innerhalb des sozialistischen Realismus eingehend erforscht werden, wollen wir wirklich unsere Methode als eine Kategorie mit Systemcharakter betrachten. Zweifellos werden sich die Formen des Realismus in der Kunst auch weiterhin entwickeln, werden reicher und komplizierter werden, wie sich das Leben selbst in seinem Fortschreiten und seiner revolutionären Erneuerung entwickelt und reicher und komplizierter wird. So unerschöpflich wie die historischen Kräfte der sozialistischen Revolution, so wahrhaft unerschöpflich sind die schöpferischen Möglichkeiten der Literatur, die sich für immer mit dieser Revolution verbunden hat. Wohin führt denn nun der Weg der Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts? In eine ausweglose Sackgasse, wie jene schreiben, die die tiefe Krise der bürgerlichen Kunst mit dem Untergang der menschlichen Zivilisation überhaupt zu verbinden suchen? Oder zur völligen Selbstzerstörung, zur Verwandlung in Nichts, in die „Gegenkultur", was die pseudorevolutionären Totengräber aller Schattierungen laut prophezeien? Oder zu jenen üppigen, aber giftigen pluralistischen „Blüten", die die Revisionisten, die Apologeten der „Uferlosigkeit" und die verschiedenen „Erneuerer" des Marxismus ankündigen? Wir sehen andere Wege für die Literatur, und wir beurteilen sie von den Positionen der Leninschen Parteilichkeit, von den Positionen des historischen Optimismus aus. „Buchstäblich vor unseren Augen", sagte Leonid Breshnew auf dem X X V . Parteitag der K P d S U , „verändert sich die Welt, und sie verändert sich zum Besseren." 54 Gerade diese revolutionären Veränderungen bestimmen auch die Hauptrichtung für die Weltliteratur von heute. Das bedeutet nicht, daß man die Widersprüche und die Kompliziertheit der gegenwärtigen literarischen Entwicklung - jene, die existieren, und jene, die sogar schwer vorauszusehen sind - nicht zu beachten brauche. Es bedeutet auch nicht, daß man die Augen vor den Krisenerscheinungen verschließen, Stillstand und Rückschläge ausschließen solle. Die lebendige Geschichte der Literatur ist - wie die Geschichte überhaupt - tatsächlich kein Spaziergang auf dem Newski-Pros p e k t . . . Doch wir glauben an die Macht des Fortschritts, an die geistige Gesundheit der Menschheit und daher auch an die Zukunft der Literatur. Und diese Zukunft verbinden wir mit der realistischen Perspektive ihrer Entwicklung, mit der Festigung der Positionen und der weiteren Bereicherung des sozialistischen Realismus und mit dem wachsenden positiven Einfluß des revolutionären Weltprozesses auf die Literatur.
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Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis Lenin, Werke
Wladimir I. Lenin, Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D . Übertragen nach der 4. russischen Ausgabe. Band 1-40. Berlin 1959-1968.
Marx/Engels, Werke
Karl Marx/Friedrich Engels. Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der K P d S U . Besorgt nach der 2. russischen Ausgabe. Band 1 - 3 9 . Berlin 1958 bis 1971.
Kunst, Ideologie, Politik Übersetzt von Ursula und Klaus Kantorczyk, ab S. 44 von Christel Schmidt. 1
X X I V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. 30. März bis 9. April 1971. Dokumente. Moskau 1971, S. 165. 2 Vgl. Anatoli Jegorow, Ästhetik und gesellschaftliches Leben. Berlin 1976, S. 75. 3 Vgl. Richard V. Allen, Peace or Peaceful Coexistence? Chicago 1966. 4 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Band 3. Berlin 1954, S. 108. 5 Georgij D. Gulia, Sobranie socinenij v 4 - x tomach. Band 3. Moskau 1975, S. 5 54. 6 D . S. Izevbaye, Polities in Nigerian Poetry. In: Présence Africaine, 1971, Nr. 78, S. 143-144. 7 Ebenda. 8 Vgl. Vatsayan in: Alotschan, 1969. 9 Vgl. Leo Gurko, Krizis amerikanskogo ducha. Moskau 1958, S. 189, 190. 10 Ebenda. 11 Vgl. Evergreen, Juli 1969. 272
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Bogomil Rajnov, Kultura, polukultura i 1-zekultura. In : Literaturen front vom 28. 10. 1971. 13 Ebenda. 14 V . E . Golovanov, Osobennosti idejnoj bor'by v amerikarrskom kino 60-ch godov. Avtoreferat dissertacii na soiskanie ucenoj stepeni kandidata iskusstvovedenija. Moskau 1971, S. 14. 15 Ebenda. 16 Vgl. Robert Ginsberg, The aestetics of destruction: War. In: Actes du sixième congrès international d'esthétique. Uppsala 1968, S. 1 3 9 - 1 4 1 . 17 Ebenda. 18 Vgl. Romain Rolland, Der freie Geist. Berlin 1966. 19 Vgl. Romain Rolland, Adieu au Passé. In: Quinze ans de combat (1919 bis i9}4). Paris 1935. 20 Ebenda, S. 187. 21 Thomas Mann, Gesammelte Werke in 12 Bänden. Band 12. Berlin 1955, S. 831. 22 Ebenda, S. 830. 23 Ebenda, S. 828. 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 830. 26 Ebenda. 27 Ebenda, S. 831. 28 Vgl. Boris Suckov, Politika i literatura. In: Literaturnaja gazeta vom 3. 2. 1971. 29 Vgl. dazu G . D'jakonov, Literatura „osvobozdenija" ili literatura nepristojnosti? In: Moskva 1974, Nr. 1 1 . 30 Vgl. Theo Pirker, Die metaphysische Revolution Herbert Marcuses, ihre Nachfolger und Kritiker. In : Permanente Revolution von Marx bis Marcuse. München 1969. 31 Herbert Marcuse, An Essay on Liberation. Boston 1969. 32 Vgl. Giselher Schmidt, Hitlers und Maos Söhne. N P D und neue Linke. Frankfurt/Mai 1969, S. 157. 3 ® Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Neuwied 1968, S. 79. 34 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Palaver. Politische Überlegungen (1967 bis 1973). Frankfurt am Main 1974, S. 43. 35 Evgenija Knipovic, Cita ja Lenina. In: Sovremennaja literatura za rubezom. Band 3. Moskau 1971, S. 61. 36 V g l . Zbigniew Brzezinski/S. Huntington, Political Power: USA/USSR. Similarities and Contrasts. Convergence or Evolution. New York 1964; Zbigniew Brzezinski, Alternative to Partition. New York 1965. 37 Vgl. Robert Steigerwald, Herbert Marcuses „dritter Weg". Berlin 1969. 38 Der erwähnte Sammelband, ein klassisches Beispiel von politischer Provokation, enthält eine Einführung, in der, der Gedanke geäußert wird, daß „Politik und Literatur zwei getrennte Sphären menschlicher Tätigkeit sind". 18 Barabasch 6674
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Diese Zeitschrift ist für ihren antikommunistischen Charakter hinlänglich bekannt.
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Vgl. The United States and Eastern Europe. N e w Y o r k 1967. Vgl. Atañas N a t e v , Estetika i ideologija. In: Izkustvo i kulturna konfekcija. Sofia 1974. 42 Vgl. Herman Ermolaev, Soviet Literary Theories. 1 9 1 7 - 1 9 3 4 . T h e Genesis of Socialist Realism. California 1 9 6 3 ; I. S. Cernoucan, 2 i v a j a sila leninskich idej. In: R o l ' mirovozzrenija v chudozestvennom tvorcestve. Moskau 1966; A . Beljaev, Ideologiceskaja bor'ba i literatura. Moskau 1 9 7 5 ; Erhard Hexelschneider/ Wladimir Borstschukow, Sowjetliteratur in bürgerlicher Sicht. Kritik der Kritik. Berlin 1980. 43 Vgl. Roger Garaudy, L e Problème chinois. Paris 1967, S. 265 f. 44 Roger G a r a u d y , Pour un modèle français du socialisme. Paris 1968, S. 144, 147. 45 Ebenda. 46 Vgl. Aleksandr Metcenko, K r o v n o e , zavoevannoe. Iz istorii sovetskoj literatury. Moskau 1 9 7 1 , S. 1 8 - 2 1 . 41
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Ebenda. Vgl. Michail Pokrovskij, Pamjati tov. Frice. I n : Marksistskoe iskusstvoznanie i. V . M. Frice. Moskau 1 9 3 1 , S. 29. 49 K a r l M a r x und Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur. B a n d 1. Berlin 1967, S. 450. 50 Michail A . Lifsic, Voprosy iskusstva i filosofii. Moskau 1935, S. 1 4 4 - 1 4 5 . 51 Jules Destrée, Socializm i iskusstvo. St. Petersburg 1906, S. 14. 52 Ebenda, S. 24. 53 Ebenda. 54 Ebenda, S. 1 4 - 1 5 . 55 A n a t o l i j Lunacarskij, Vorwort in: K a r l Kautsky, N a drugoj den' posle social'noj revoljucii. Petrograd 1 9 1 7 , 8 . 10. 56 K a r l Kautsky, A m Tage nach der sozialen Revolution. I n : D i e soziale R e v o lution. Band 2. Berlin 1902, S. 42. 57 Ebenda, S. 45. 58 Vgl. E d u a r d Bernstein, D i e Voraussetzungen des Sozialismus und die A u f g a ben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899. 59 K a r l Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. Stuttgart 1 9 1 0 , S. 1 3 3 - 1 3 4 . 60 Ebenda, S. 144. 61 J a . S. Barkan, Leninskij princip partijnosti i nekotorye problemy formirovanija socialisticeskogo realizma v latysskoj literature. Avtoreferat dissertacii na soisskanie ucenoj stepeni kandidata filologiceskich nauk. Moskau 1 9 7 1 . Vgl. auch Vasil Kolevski, Lenin i chudozestvennata literatura. Sofia 1970. 62 Vgl. V . G . A f a n a s ' e v , Naucnoe upravlenie obscestvom (Opyt sistemnogo issledovanija). 2. ergänzte A u f l a g e . Moskau 1973. 48
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Lenin, Werke. Band 10. Berlin 1970, S. 31. Ebenda, S. 34. 65 Vgl. Marx/Engels/Lenin, Über Kultur, Ästhetik, Literatur. Berlin 1969, S. 378. 66 Lenin, Werke. Band 10. Berlin 1970, S. 34. 67 Hans Koch, Marxismus und Ästhetik. Berlin 1961, S. 612. 68 Die Rolle dieser Parteidokumente für die schöpferische Konsolidierung der Schriftsteller des Landes wird vor dem breiten Hintergrund der Geschichte der russischen Sowjetliteratur und anderer Bruderliteraturen in den Arbeiten von V. Ivanov, V. Ivasin, S. Krzyzanowski, L. Novicenko, N. Perkin, L. Timofeev, A. Trostjaneckij u. a. untersucht. 69 Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU. Referat von Leonid I. Breshnew. Moskau-Berlin 1974, S. 1 1 8 , 1 2 1 . 70 Vgl. Mario Alikata in: Rinascita, Dezember 1965. 71 Vgl. Jules Destree, Socializm i iskusstvo. St. Petersburg 1906. 72 Vgl. Rinascita, Dezember 1965. 73 Antonio Gramschi, O literature i iskusstve. Moskau 1967, S. 58-59. Vgl. auch Sabine Kebir, Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis. Auf dem Wege zur antifaschistischen Volksfront. Berlin 1979; Antonio Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur. Berlin 1980. 74 Vgl. Antonio Gramschi, O literature i iskusstve. Moskau 1967. 75 Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten. Hrsg. von Eva Kosing und Edel Mirowa-Florin. Berlin und Weimar 1970, S. 272. 76 Maksim Gorkij, Sobranie socinenij v 30-ti tomach. Band 30. Moskau 1955, S. 303. 77 Wladimir I. Lenin, Briefe 1919-1920. Band 6. Berlin 1969, S. 25. 78 Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten, S. 265. 79 Ebenda. 80 Ebenda, S. 265-266. 81 Vgl. ebenda, S. 195, 200. 82 Marx/Engels, Werke. Band 28. Berlin 1970, S. 475. 83 Vgl. Franz Mehring, Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Leipzig 1966, S. 249. 84 Vgl. Aleksandr L. Dymsic, Marks, Engel's i Gejne - vozvrascenie k teme. In: Karl Marks i aktual'nye voprosy estetiki i literaturovedenija. Moskau 1969. 85 Vgl. Franz Mehring, Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Leipzig 1966. -86 Franz Mehring, Sozialistische Lyrik. G. Herwegh - F. Freiligrath - H. Heine. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Hrsg. von Carl Grünberg. 4. Jg. Leipzig 1914, S. 191-221. 87 Die Diskussion zu diesem Thema erstreckte sich 1971 in dem italienischen Wochenblatt „Rinascita" über mehrere Monate. 88 Vgl. Rinascita, 1971, Nr. 21. 89 Antonio Gramschi, O literature i iskusstve, S. 3. 64
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Eine solche Vorstellung liegt beispielsweise der Konzeption von L . Pazitnov zugrunde, die er in seiner Rede auf dem 1966 in Leningrad stattgefundenen Symposium zur Soziologie der Kunst formuliert hat. L . Pazitnov trennt mit Entschiedenheit den Künstler vom gesellschaftlichen Kampf, wobei er unterstreicht, daß das Bewußtsein des Künstlers kein gesellschaftliches Bewußtsein sei, sondern der Künstler lediglich „seine individuelle, persönliche Beziehung zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt", und zwar immer „vom Standpunkt der Persönlichkeit als besonderen Mikroorganismus" (vgl. Voprosy filosofii, 1967, Nr. 7, S. 144-145). In seinem Buch: Vladimir I. Lenin o roli mirovozzrenija v chudozestvennom tvorcestve. Kiew 1970, S. 1 6 1 - 1 6 9 , polemisiert Abram Kogan zu dieser Frage überzeugend gegen L. Pazitnov. 91 Lenin, Werke. Band 7. Berlin 1968, S. 266-267. 92 Ebenda. 93 Nikolaj S. Samota, O svobode tvorcestva. Moskau 1966, S. 106-107. 94 Ebenda. 95 Vgl. Albert Camus, Kleine Prosa. [Hamburg] 1961, S. 5, 13. 96 Ebenda, S. 1 5 - 1 6 . 97 Ebenda, S. 28. Eine breite Polemik zu Albert Camus finden wir in: Aleksandr Cakovskij, Blazenny Ii niscie duchom? Moskau 1970. 98 Ernst Fischer, Kunst und Koexistenz. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik. Hamburg 1966, S. 58. - Fischer entwickelte diese Idee auch in einem seiner letzten Bücher: Überlegungen zur Situation der Kunst. Und 2 andere Essays. Zürich 1971 (Fischerstarb 1972). 99 Ernst Fischer, Kunst und Koexistenz, S. 172. 100 Vgl. Wolfgang Rothe, Schriftsteller und totalitäre Welt. Bern und München 1966. 101 Vgl. Ernst Fischer in: Marxism today, 1964, Nr. 2, S. 51. 102 Vgl. A. Lim in: Quinzaine littéraire, Februar 1970. 103 Ein scharfsinniger Mensch bemerkte einstmals nicht ohne Bitterkeit, daß in jener Zeit jemand versucht hatte, die Tschechoslowakei in einen eigenwilligen Wettbewerb um „die Anzahl der herausgegebenen Werke von Robbe-Grillet pro Kopf der Bevölkerung" zu verwickeln. lO'i Y g i m Jodl, Kritik. In: Literârni noviny, 1965, Nr. j. 103 Ebenda. 106 Ebenda. 107 Vgl. dazu Jan Kozâk, Za socialisticeskuju literaturu, za novogo celoveka. In: Inostrannaja literatura, 1972, Nr. 9. Vgl. hier die im Text folgenden Aussagen über E . Goldstücker, M. Jungmann, A . Lim, L . Vaculik u. a. 108 Vgl. A . Lim in: Literârni listy, 1968, Nr. 16. 109 Vgl. Rudolf Cerny, Jak se delà kontrarevoluce. Prag 1970. 110 Vgl. Politika vom 13., 20. März und 3. April 1971. 111 Vgl. I. M. Nadeev, „Kul'turnaja revoljucija" i sud'ba kitajskoj literatury. Mös276
kau 1969; I. M. Nadeev, Kritika teoreticeskich koncepcij Mao Czè-duna. Moskau 1970. 112 Marietta S. Schaginjan, Sobranie socinenij v 9-ti tomach. Band 6. Moskau 1974, S. 642. Hervorhebung - ]u. B. 113 Nikolaj K. Gej/Vladimir M. Piskunov, Gumanizm i iskusstvo. In : Lenin i iskusstvo. Moskau 1969. 114 Vgl. Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten, S. 265. 115 Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin. Berlin 1975, S. 16. 116 Vgl. Roger Garaudy, Pour un modèle français du socialisme. Paris 1968. 117 Osaf S. Litovskij, Tak i bylo. Ocerki, vospominanija, vstreci. Moskau 1958. 118 Vgl. Abram Ja. Kogan, Vladimir I. Lenin pro roi' svitogljadu v chudoznij tvorcosti. Kiew 1970, S. 254-255. O. Litovskij hat in einigen seiner letzten Arbeiten seine Definition präzisiert. 119 Emil V. Kardin, Dostoinstvo iskusstva. Moskau 1967, S. 116. 120 Abram Ja. Kogan, Vladimir I. Lenin pro rol' svitogljadu v chudoznij tvorcosti, S. 259. 121 Zum 100. Geburtstag W. I. Lenins. Thesen des Zentralkomitees der KPdSU. Berlin 1970, S. 30. 122 Anatolij V. Lunacarskij, Lenin i literaturovedenie. In: Sobranie socinenij v 8-mi tomach. Band 8. Moskau 1967, S. 456. 123 Penco Dancev, Kritika i estetika. Sofia 1970, S. 192. 124 Lenin, Briefe. Band 7. Berlin 1970, S. 181. 125 Ebenda. 126 Vgl. Vittorio Strada in: Rinascita vom 3. April 1970. 127 Vgl. meinen Artikel in: Moskva, 1970, Nr. 8. 128 Vgl. Vittorio Stradas Antwort in: Rinascita vom 18. September 1970. 129 Ebenda. 130 Vgl. dazu „Iskusstvo kommijny", 1918, Nr. 4. - Die Anhänger des Proletkults führten einen beharrlichen Kampf gegen die Verwirklichung der Leninschen Ideen. Sie machten keinen Hehl daraus, sich die alleinige Herrschaft auf kulturellem Gebiet sichern zu wollen, träumten davon, einen Staat im Staate zu gründen. Dabei sei zu erwähnen, daß dergleichen ehrgeizige Bestrebungen auch den Vertretern des Futurismus nicht fremd waren. Auch sie tendierten unmißverständlich in Richtung Alleinherrschaft bzw. Führungsmonopol. Nicht umsonst nannten sie eines ihrer Arbeitsprogramme „Futurizm - gosudarstvennoe . iskusstvo". 131 Vgl. Roger Garaudy in: Caillé du socialisme, 1966, Nr. 5-6. 132 Ebenda. 133 Zitiert nach: Roger Garaudy, O realizme bez beregov. Moskau 1966, S. 196 bis 197. Siehe auch: Roger Garaudy, D'un Réalisme sans rivages. Paris 1963. 134 Vgl. Ernst Fischers Rezension in: Weg und Ziel, 1963, Nr. u , S. 736. 135 Ernst Fischer, Kunst und Koexistenz. Hamburg 1966, S. 131. 277
Georgi I. Kunicyn, Klassovost' v literature. In: Znamja, 1968, Nr. 2, S. 217. Vgl. Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten, S. 175-176. 138 Georgi I. Kunicyn, Puti i formy vozdejstvija politiki na razvitie chudozestvennoj literatury. Avtoreferat dissertacii na soiskanie ucenoj stepeni doktora filologiceskich nauk. Moskau 1968, S. 18. 139 Vgl. Roger Garaudy, O realizme bez beregov, S. 190-192. 140 Ebenda. 141 Ebenda. 142 Evgenija Knipovic, Chudoznik i istorija. Moskau 1968, S. 414-415. 143 Vgl. Boris Suckov, Liki vremeni. Moskau 1969, S. 21. 144 Georgi I. Kunicyn, Politika i literatura. Moskau 1973, S. 320. 145 Es bleibt zu hoffen, daß der Leser aufmerksamer ist als A. Galanow, jener professionelle Kritiker, der es fertigbrachte, in seiner Rezension über die Bücher „Politika i literatura" und „Voprosy estetiki i poetiki" die prinzipiell unterschiedlichen Ansichten der Autoren über Kafka und den Modernismus geflissentlich zu übersehen. Vgl. Literaturnaja gazeta vom 11. Dezember 1974. 146 Horst Redeker, Abbildung und Aktion. Halle 1967. 147 Ebenda, S. 133. 148 Ebenda, S. 155-156. 149 Vgl. Jurij Kuz'menko, Mera istiny. Moskau 1971, S. 35-36. 150 Horst Redeker, Abbildung und Aktion, S. 15 5-156. 151 Ebenda, S. 148. 152 Ebenda, S. 152. 153 Ebenda, S. 146. 154 Aleksandr V. Kukarkin, Burzuaznoe obscestvo i kul'tura. Moskau 1970, S. 79. 155 Insbesondere betrifft das folgende Arbeiten von Raymond Aron: Die industrielle Gesellschaft - menschlich oder unmenschlich? Referent: Prof. Dr. Raymond Aron. Hamburg 1965; La Lutte de classes, Paris 1964, aber auch andere. 156 Vgl. Cavadar Dobrev, Revoljucionnost', klassovoe soznanie, partijnost* v literature. In: Septemvri, 1970, Nr. 2-3. 157 Ebenda. 158 Der Begriff „Erweiterung der Zone des Realismus" wurde von I. Cvetkov im Laufe der Diskussion geprägt. 159 Vgl. dazu die Diskussion in: Literaturen front, insbesondere vom 3. Dezember 136
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1970.
160 Vaclav V. Vorovskij, Literaturno-kriticeskie stat'i. Moskau 1956, S. 175, 178, 179.
Michail A. Lifsic, Modernism kak javlenie burzuaznoj ideologii. In: Kommunist, 1969, Nr. 16; vgl. dazu ebenfalls V. Ivanov, Chudozniceskij anarcho-individualizm v leninskoj ocenke. In: Znamja, 1970, Nr. 1. 162 Vgl. Angelo Guglielmi, Avanguardia e sperimentalismo. Milano 1964. Eine ausführliche Darstellung des gesamten Fragenkomplexes findet der Leser in den
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Aufsätzen von G . Brejtburd „Ital'janskij ,novyj ávangard'" („Novyj mir", 1967, Nr. 3) und „Belaja polosa v pustyne" („Novyj mir", 1971, Nr. 2), die ausführlich in der italienischen Presse dér verschiedensten Richtungen kommentiert wurden. Einige Autoren, die teilweise in den Zeitungen „Unita" (M. Rago) und im Wochenblatt „Rinascita" (M. Spinella, D . Ferretti, E . Siciliano) zu Worte kamen, akzeptierten zwar die Richtigkeit einer Reihe von Ansichten G . Brejtburds, warfen ihm aber gleichzeitig „Einseitigkeit" und Unterbewertung des „Nutzens" der Neoavantgarde, insbesondere der „Gruppe 63", vor. 163 Vgl. Rinascita, Dezember 1965. 164 Vgl. Contemporáneo, 1968, Nr. 13. 165 Im italienischen Wochenblatt „L'Espresso" polemisiert Sanguineti (am 20. September 1970) gegen den Versuch, seine Ansichten hinsichtlich der „asiatischen" Entwicklung des Marxismus-Leninismus als kleinbürgerlich abzutun. Ohne überzeugende Argumente vorzubringen, hat sich mein Opponent lediglich auf eine deklarative Bestätigung seines Standpunktes beschränkt. „Wir können nicht. . . " - schreibt Sanguineti - „die Gedanken Maos als Erscheinung kleinbürgerlichen Extremismus betrachten. Wenn wir auf diesem Standpunkt weiterhin beharren wollen, so bin ich bereit, mich als unheilbaren Kleinbürger zu bezeichnen." 166 Vladimir A . Bazarov, O. Spengler i ego kritiki. In: Krasnaja nov', 1922, Nr. 2, S. 227. 167 Wladimir I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin 1972, S. 100. 168 Vgl. Krasnaja növ', 1922, Nr. 2, S. 227. 169 N. Suchanov, V ijune 1917 goda. In: Novyj mir, 1964, Nr. 12. 170 Vgl. Prozektor, 1925, Nr. 6, S. 19. 171 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Band 1 und 2. München 1923. 172 Oswald Spengler, Pessimismus? Berlin 1921, S. 19. 173 Nikolai Ja. Danilewsky, Rußland und Europa. Stuttgart-Berlin 1920. 174 Konstantin N . Leontev, Vostok, Rossija i slavjanstvo. Moskau 1885-1886. 175 Nikolaj A . Berdjajev, Sub specie aeternitatis. In: Fakely. St. Petersburg 1907. 176 Georgi I. Kunicyn, Politika i literatura, S. 302. 177 Boris A . Suckov, Mir Kafki. In: Franc K a f k a . Roman, novelly, pritci. Moskau 1965, S. 64. 178 Maxim Gorki. Über Weltliteratur. Berlin 1969, S. 265. 179 Ebenda, S. 306, 308. 180 Lenin, Werke. Band 34. Berlin 1962, S. 368-381. 181 Ebenda, S. 372. 182 Vgl. Iz opyta ideologiceskoj raboty. 2. Auflage. Moskau 1974, besonders: A k tual'nye voprosy partijnogo rukovodstva razvitiem literatury i iskusstva. 183 Zum 100. Geburtstag W. I. Lenins. Thesen des Zentralkomitees der K P d S U . Berlin 1970, S. 5.
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Alpha und Omega Übersetzt von Christel Schmidt. 1 2 3
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Vissarion G . Belinskij, Polnoe sobranie socinenij. Band 5. Moskau 1954, S. 654. Ebenda. Siehe: Alexander S. Puschkin, Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. von Marianne Schmidt, Konrad Schmidt und Gerhard Ziegengeist. Weimar 1958, S. 446. Vgl. dazu Vladimir Orlov, Predislovie. In: Dekabristy. Poezija. Dramaturgija. Proza. Publicistika. Literaturnaja kritika. Moskau-Leningrad 1951. Vgl. Vissarion G . Belinskij, Polnoe sobranie socinenij. Band 1. Moskau 1953,
s. 295. 6
t
Vgl. Nikolaj G . Cernysevskij, Polnoe sobranie socinenij v pjatnadcati tomach. Band 3. Moskau 1947, S. 19. 7 Vgl. Nikolaj Dobroljubov, Polnoe sobranie socinenij v sesti tomach. Moskau 1934-1941. • 8 Vgl. Vissarion G . Belinskij, Polnoe sobranie socinenij. Band 1, S. 283 f. 9 V g l . A . N. Stepanov, Kritika lagerja „oficial'noj narodnosti". In: Istorija russkoj kritiki. Band 1. Moskau-Leningrad 1958. 10 Michail E . Saltykov-Scedrin, O literature. Moskau 1953, S. 24. 11 Ebenda, S. 87. 12 Mit diesem Problem haben sich in den letzten Jahren sowohl die Literaturwissenschaft als auch die Literaturkritik wieder verstärkt beschäftigt, weil sich im Verlauf der Diskussionen - die übrigens teilweise mit ungewöhnlicher, jedoch nicht immer berechtigter Schärfe geführt wurden - herausstellte, daß Fragen, die seit langem als gelöst gelten, wieder mit unterschiedlichen Akzenten gestellt wurden. Vgl. dazu die Diskussionsmaterialien „Literaturnaja kritika rannich slavjanofilov", in: Voprosy literatury, 1969, Nr. 5 - 1 2 . 13 Vgl. Läszlo Revesz, Ideologie und Praxis in der sowjetischen Innen- und Außenpolitik. Mainz 1966. 14 Lenin, Werke. Band 1. Berlin 1965, S. 123 f. 15 Vgl. Lenin, Werke. Band 16. Berlin 1967, S. 327-332. 16 Vgl. Lenin, Werke. Band 17. Berlin 1967, S. 33-37. 17 Vgl. Lenin, Werke. Band 16, S. 1 1 7 - 1 2 5 . 18 Oswal'd Spengler i zakat Evropy. Hrsg. von N . A . Berdjaev, J a . M . Bukspan, F. A . Stepun, S. L . Frank. Moskau 1922, S. 65-66. 19 Ebenda. 20 Vgl. Lenin, Werke. Band 16, S. 118. 21 Vgl. ebenda. 22 Lenin, Werke. Band 10. Berlin 1950, S. 31. 23 Ich möchte in diesem Zusammenhang an die in den letzten 10 bis 15 Jahren erschienenen Arbeiten von B. Mejlach, V . Scerbina, B. Rjurikov, M. Ovsjanni280
kov, Ju. Lukin, A. Mjasnikov, A. Volkov, I. Dzeverin, Ja. Él'sberg, L. Plotkin, A. Jezuitov u. a. erinnern. 24 Vgl. Antonio Gramschi, O literature i iskusstve. Moskau 1967. 25 Maxim Gorki, Über Literatur. Berlin 1969, S. 434-435. 26 Alexander S. Puschkin, Ein Lesebuch für unsere Zeit, S. 259. 27 Vgl. Henri Lefèbvre in: La nouvelle Nouvelle Revue française vom Oktober 1958. 28 Zur Polemik der erwähnten und auch anderer Arbeiten Henri Lefèbvres vergleiche insbesondere: M. Gus, Literatura i ëpocha. Moskau 1963. 29 Pantelej Zarev, Strukturaliz-m literaturoznanie i esteticeski ideal. Sofia 1969, S. 39. 30 Roger Garaudy in: l'Humanité vom 5. Dezember 1963. 31 Aleksandr S. Puskin, Polnoe sobranie socinenij v desjati tomach. Band 7. Moskau 1958, S. 404. 32 Anton P. Cechov, Polnoe sobranie socinenij i pisem. Band 15. Moskau 1949, S. 446. Hervorhebung - Ju. B. 33 Vgl. L. Rozenbljum, Soprikosnovenie s krasotoju idéala. Iz zäpisnych knizek F. M. Dostoevskogo. In: Literaturnaja gazeta vom 10. 11. 1971, S. 5. 34 Lenin, Werke. Band 10, S. 33. 35 Vgl. XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. 30. März bis 9. April 1971. Dokumente. Moskau 1971. 36 Aleksandür Atanasov, Krasota i partijnost. Sofia 1970, S. 219. 37 Lenin, Werke. Band 10, S. 29-34. 38 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Fritz Bergemann. Leipzig 1968, S. 569. 39 Vgl. Nikolaj A. Dobroljubov, Polnoe sobranie socinenij v sesti tomach. Band 6. Moskau 1939, S. 458. ^Maksim Ril'skij, Nasa krovna sprava. Statti pro literaturu. Kiew 1959, S. 1 1 . 41 Aleksandr A. Fadeev, Za tridcat' let. Izbrannye stat'i, reci i pis'ma o literature i iskusstve. Moskau 1957, S. 216. 42 Lenin, Werke. Band 38. Berlin 1968, S. 53. 43 Aleksandr I .Gerzen, Socinenija v deyjati tomach. Band 2. Moskau 1955, S. 89. 44 Gestalt aus Ivan A. Goncarovs Roman „Oblomov". 45 Vgl. A. G. Meyer, The soviet political system. An interpretation. New York 1965. 46 Aleksandr P. Dovzenko, Sobranie socinenij v 4-x tomach. Band 3. Moskau 1968, S. 695. 47 Aleksandr Ovcarenko, Esce o socialisticeskoj literature i teoreticeskich osnovach socialisticeskogo relizma. In: Inostrannaja literatura, 1970, Nr. 7, S. 217. 48 Vgl. Dmitrij V. Starikov, Svjaz' vremen. Moskau 1970, S. 336. 49 Anatolij V. Lunacarskij, Sobranie socinenij. v 8-mi tomach. Band 2. Moskau 1964, s. 324-32519
Barabasch 6674
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Vgl. Nikolaj S. Samota, O svobode tvorcestva. Moskau 1966, S. 124. Feliks G . Svetov, O remeslennoj literature. In: Novyj mir, 1966, Nr. 7. 52 Ebenda. 53 Lenin, Werke. Band 38, S. 352. 54 Vissarion G . Belinskij, Mysli i zametiki o russkoj literature. In: Belinskij, Sobranie socinenij v trech tomach. Band 3. Moskau 1948, S. 55. 55 Vgl. Vasilij V . Novikov, Chudozestvennaja pravda i dialektika tvorcestva. Moskau 1971. 56 Georgi I. Kunizyn, Iskusstvo i politika. In: Iskusstvo kino, 1968, Nr. 4. 57 Vasilij V. Novikov, Chudozestveilnaja pravda i dialektika tvorcestva, S. 386 bis 388. 58 Ebenda. 59 In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß von einigen Kritikern die Romantik mit diametral entgegengesetzten Tendenzen verbunden wurde, wie Pessimismus, Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit usw. Vgl. dazu I. GrossmanRoscin, Tezisy ob upadocnosti v chudozestvennoj literature. In: N a literaturnom postu, 1927, Nr. 1. 60 Vladimir F. Ognev, O romanticeskoj poézii. In: Literaturnaja gazeta vom 14. Februar 1961. Siehe dazu auch V . Ognev, U karty poézii. Stat'i i ocerki o poézii nacional'nych respublik. Moskau 1968. 61 Vgl. Vladimir J a . Laksin in: Aktual'nye problemy socialisticeskogo realizma. Moskau 1969. 62 Vgl. Andrejs Upits, Voprosy socialisticeskogo realizma v literature. Riga 1959. 63 Aleksandr A . Fadeev, Za tridcat' let, S. 110. 64 Die Probleme der revolutionären Romantik und des romantischen Stils standen in den Diskussionen der letzten Jahre im Mittelpunkt. Ohne das Wesen dieser Diskussionen hier referieren zu wollen, möchte ich auf die Arbeiten von L . Novicenko, A . Ovcarenko, A . Él'jasevic, L . Egorova, E . Ljubareva u. a. aufmerksam machen sowie auf mein Buch „Dovzenko", Moskau 1968. 65 Vgl. Roger Garaudy, L e Problème chinois. Paris 1967. 66 Vgl. Nicolas Boileau-Despréaux : Bualo, Poéticeskoe iskusstvo. Moskau 1957. S. 81. 67 Boris Michalkov, Esteticeskoto samocuvstvie na pobedilata klasa. Sofia 1970. 68 Ebenda. 69 Ebenda. 70 Anatolij K . Dremov, Dejstvitel'nost' - ideal - idealizacija. In: Oktjabr', 1964, Nr. 1/2. 71 In Dremovs später erschienenem Buch „Ideal i geroj" sind die Bestrebungen des Autors zu verspüren, diese Schwächen zu überwinden. 72 Vgl. Anatolij G . Bocarov in: Literaturnaja gazeta vom 20. Februar 1964. 73 Vgl. ebenda. 74 Vgl. Michail N. Parchomov in: Voprosy literatury, 1965, Nr. 5. 51
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L. Lazarev, Pjad' nasej zemli. In: Literaturnaja gazeta vom 18. Juni 1959. Pavel M. Toper, Radi zizni na zemle. O voennoj teme v literature. Moskau i97i,S. 401. 77 Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß Baklanov in einigen seiner letzteren Werke, insbesondere im Roman „Ijul* 41 goda", bestrebt war, die dem Werk „Pjad' zemli" anhaftenden Mängel nicht zu wiederholen. 78 Vgl. L. Lazarev, Pjad' nasej zemli. In: Literaturnaja gazeta vom 18. Juni 1959. 79 Vgl. dazu Novyj mir, Nr. 1, 1964; Nr. 4, 1965; Nr. 8, 1966. 80 Vissarion G. Belinskij, Sobranie socinenij v trech tomach. Band 3. Moskau 1948, S. 503. 81 Vgl. Michail N. Alexejew, Brot ist ein Hauptwort. Berlin 1964. 82 Gestalt aus Nikolaj V. Gogol's „Mantel". 76
Algebra und Harmonie Übersetzt von Brigitta Schröder. Der vorliegende Artikel wurde entnommen aus: Kontext. Sowjetische Beiträge zur Methodendiskussion in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Rosemarie Lenzer und Pjotr Palijewski. Berlin 1977. 1
Stanislaw Lern, Filozofja przypadku. Krakow 1968, S. 383. Vgl. A. I. Moskovskij/Al'bert Éjnstejn, Besedy s Éjnstejnom o teorii otnositel'nosti i obscej sisteme mira. Moskau 1922, S. 200-202; B. G. Kuznecov, Ejnstejn. Moskau 1963, S. 86. 3 Niels Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Band 1. Braunschweig 1964, S. 80. 4 Zit. nach: A. M. Kondratov, Matematika i poézija. Moskau 1962, S. 48. 5 Vgl. Voprosy filosofii, 1968, Nr. 6. 6 Claude Lévi-Strauss, Criteria of science in the social and human disciplines. In: International Social Science Journal, Jg. 16, 1964, Nr. 4, S. 550. 7 Dieser Aspekt der Frage wird eingehend untersucht in: B. S. Burjak, Nauka, Literatura, Geroj. Kiev 1969. 8 A . S. Busmin, Metodologiceskie voprosy literaturovedceskich issledovanij. Leningrad 1969, S. 81 f. 9 Vertreter einer strukturalistischen Richtung in der sowjetischen Literaturwissenschaft sind: Jurij M. Lotman: Professor an der Universität Tartu (Estn. SSR), bekannt durch seine Arbeiten: Lekcii po struktural'noj poétike (1964); Struktura chudozestvennogo teksta (1970); Analiz poéticeskogo teksta (1972). Lotman hat entscheidenden Anteil an der Herausbildung einer der allgemeinen Semiotik ver2
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pflichteten Betrachtungsweise in der sowjetischen Literaturwissenschaft. E r geht u. a. davon aus, die traditionellen Kategorien Form-Inhalt durch Struktur und Idee zu ersetzen. E r ist Initiator dèr Serie: Trudy po znakovym sistemam, hrsg. v. der Universität Tartu 1964. Bisher sind sechs Bände erschienen. B. A. Uspenskij: Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Moskau. Im Werk „Poétika kompozicii" (Moskau 1970) untersucht er auf struktureller Basis die Spezifik der Komposition an Werken der Literatur und Malerei. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem „point of view" sowie der Wechselbeziehung von Kunst und Literatur. Andrej N . Kolmogorov: Bekannter sowjetischer Mathematiker, hat mit den Linguisten Ju. K . Sceglov und A . K . Zolkovskij die Einführung statistischer und informationstheoretischer Methoden in die Literaturwissenschaft vorgeschlagen (siehe: Konferencija po izuceniju poéticeskogo jazyka, 1961 in Gor'kij). V . V. Ivanov und V . N. Toporov: Besonders bekannt durch Arbeiten zur strukturellen und kulturtypologischen Analyse mythischer und folkloristischer Texte (siehe besonders: Issledovanija po slavjanskim drevnostjam, Moskau 1974)10 Robert Weimann, „New Criticism" und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. Halle 1962, S. 364. 11 Russische Formale Schule: Theoretisch-methodologische Richtung der sowjetischen Literaturwissenschaft (insbesondere der zwanziger Jahre), deren Vertreter (Viktor Sklovskij, Jurij Tynjanov, Boris Éjchenbaum, Roman Jakobson u. a.) sich mit der technisch-formalen Seite des literarischen Kunstwerks beschäftigten. Die Formale Schule ging aus den linguistischen Zirkeln in Petersburg und Moskau hervor. Die Richtung zerfiel gegen Ende der 20er Jahre. Vgl. auch: Ideologie-Literatur-Kritik. Hrsg. v. K.-H. Barck und B. Burmeister. Berlin 1977, Text 3, Anm. 1. 12 O P O J A S vereint eine Gruppe junger Literatur- und Sprachwissenschaftler in Petersburg. Ihre Vertreter (V. Sklovskij, B. Éjchenbaum, E . Polivanov, O. Brik, R. Jakobson, später auch Ju. Tynjanov u. a.) veröffentlichten ihre Arbeiten in Sammelbänden, die zwischen 1916 und 1919 erschienen. Diese Vertreter wurden später Anhänger des russischen Formalismus. Vgl. auch: Ideologie-Literatur-Kritik. Hrsg. v. K.-H. Barck und B. Burmeister. Berlin 1977, Text 3, Anm. 37. 13 Vgl. Michail B. Chrapcenko, O razrabotke problem poétiki i stilistiki. In: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Otdelnie literatury i jazyka. Band 20, 1961, Nr. 5, S. 398. 14 Roman Jakobson, Novejsaja russkaja poézija. Nabrosok pervyj. Prag 1921, S. n . 15 Roman Jakobson in: L a Pensée, 1967, Nr. 135, S. 114. 16 Vgl. u. a. S. J . Masinskij, Bor'ba s formalizmom i vu'lgarnoj sociologii v sovetskoj kritike i literaturovedenie. In : Iz istorii sovetskoj ésteticeskoj mysli. Moskau 1967; A . K . 2olkovskij/Ju. K . Sceglov, Iz predistorii sovetskich rabot po strukturnoj poétike. In: Ucenye Zapiski Tartuskogo gosudarstvennogo universiteta, 284
Jg. 198, 1967; A . A . Leont'ev, Issledovanija po'éticeskogo reci. In: Teoreticeskie problemy sovetskogo jazykoznanija. Moskau 1968; S. I. Suchich, O sud'bach russkoj formalizma (russkij formalizm v ocenke zarubeznoj kritiki). In : Ucenye zapiski Gor'kovskogo gosudarstvennogo universiteta, Jg. 79, 1968; V . B . Sklovskij, Tetiva. O neschodstve schodnogo. Moskau 1970; B. L . Pasternak, Kritika „formal'nogo metoda". In: Ucenye zapiski Tartuskogo gosudarstvennogo universiteta, Jg. 284, 1971; R. Jakobson, Vers une science de l'art poetique. In: Les lettres françaises, 1966, 10.-16. Februar; Krystyna Pomorska, Russian formalist theory and its poetic Ambience. The Hague - Paris 1968; René Wellek/Austin Warren, Information on Russian formalism. In : Theory of Literature. New York 1962; F. Jameson, The Prison-House of Language. A critical account of structuralism and Russian formalism. Princeton 1972. 17 Vgl. Jurij N. Tynjanov, Pisatel' i ucenyj. Moskau 1966, S. 54. - Nach dem Zeugnis Sklovskijs sagte man in dem O P O J A S : „Wir nehmen sie zur Analyse auseinander." 18 Viktor Zirmunskij, Voprosy teorii literatury. Stat'i 1916-1926. Leningrad 1928, S. 8. - Es ist angebracht, auch die Neigung einiger Theoretiker der Formalen Schule zum Akmeismus (B. Êjchenbaum) und insbesondere zum Futurismus (V. Sklovskij, R. Jakobson, O. Brik) zu erwähnen. 19 V g l . zum russischen Symbolismus u . a . : Literaturen der Völker der Sowjetunion. Hrsg. v. Harri Jünger. Leipzig 1967, S. 37. 20 Roman Jakobson, Brjusovskaja stichologija i nauka o Stiche. In: Naucnye izvestija. Sbornik vtoroj. Filosofija, Literatura, Iskusstvo. Moskau 1922, S. 223 bis 224. 21 Vgl. bei V . V . Ivanov „Mythos" und „Hieroglyphe", bei K . D . Bal'mont „Zauberei", bei F. K . Sologub „Magie" u. a. m. 22 Andrej Belyj, Simvolizm. Kniga statej. Moskau 1910, S. 237. 23 Vgl. u. a. die Arbeiten Belyjs : Opyt charakteristiki russkogo cetyrechstopnogo jamba; Sravnitel'naja morfologia ritma russkich lirikov v jambiceskom dimetre; „ N e poj, krasavica, pri mne . . . " A . S. Puskina (Opyt opisanija). 24 Viktor B . Sklovskij, O teorii prozy. Moskau 1929, S. 209. 25 Andrej Belyj, Simvolizm. Kniga statej. Moskau 1910, S. 239. 26 Semen A . Vengerov (1855-1920): Russischer Literaturhistoriker und Bibliograph. Als Literaturwissenschaftler war er Vertreter der Kulturhistorischen Schule. Seine gesellschaftlichen Ansichten tendierten zum Volkstümlertum. Vengerov war Organisator und erster Direktor der Russischen Bücherkammer. 27 D . J . Ovsjaniko-Kulikovskij (1853-1920): Russischer Literaturwissenschaftler, Linguist und Kulturhistoriker. Nach seinem Studium in Petersburg, Prag und Paris, Professor an der Universität Charkov. Fortsetzer der Psychologischen Schule von A . A . Potebnja. - Ovsjaniko-Kulikovskij spricht von zwei Schriftstellertypen: dem beobachtenden Künstler, der eine vollständige, vielseitige Zusammenstellung der Lebenserscheinungen (Shakespeare, Puskin, Turgenev) 285
schafft, und dem experimentierenden Künstler, der eine einseitige Auswahl gibt (Gogol', Dostoevskij, Cechov). 28 R. V . Ivanov-Razumnik (1878-1946): Russischer Literaturwissenschaftler und Soziologe. In seinen Büchern über Belinskij und Herzen urteilt er über die G e schichte der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts von subjektiv idealistischen Positionen aus. E r charakterisiert sie als Geschichte der russischen Intelligenz, einer außerhalb der Klassen stehenden Gruppe, die mit dem Spießbürgertum kämpft. D i e Geschichte der russischen Gesellschaft ist für Ivanov-Razumnik eine Geschichte heldenhafter Persönlichkeiten. Ivanov-Razumnik starb 1946 in Westdeutschland und veröffentlichte in seinen letzten Lebensjahren antisowjetische Bücher. 29 P . D . Boborykin ( 1 8 3 6 - 1 9 2 1 ) : Russischer Schriftsteller. Vertreter des russischen Naturalismus. Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften, so auch der liberalen Volkstümlerzeitschrift „Vestnik Evropy". E r schrieb mehr als hundert Romane, Erzählungen, Dramen und Arbeiten über die Geschichte der russischen und westeuropäischen Literatur. In seiner Darstellung der verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen sich Elemente einer kritischen Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft. 30 Vladimir M. Frice (1870-1929): Russisch-sowjetischer Literatur- und Kunstwissenschaftler. 1894 beendete er sein Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät in Moskau. Ende der neunziger Jahre stieß er zur sozialdemokratischen Bewegung, seit 1 9 1 7 Mitglied der R S D A P (B). Nach der Oktoberrevolution Leiter der Literaturabteilung des Instituts „Krasnaja professura". 1928 bis 1929 war er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Literatura i Marksizm", 1929 von „Pecat' i revoljucija". In den 20er Jahren erforschte Frice Probleme der Kunstsoziologie. Seine Werke u. a.: G . V . Plechanov i naucnaja estetika (1922), Sociologija iskusstva (1926). - Frice ist bestrebt, eine neue Literaturund Kunstmethodologie, die sich auf den Marxismus stützt, zu begründen. D a bei knüpft er an die ästhetischen Ansichten Plechanovs an. Frice betont die soziologische Dominante im literarischen Prozeß. In seiner Behandlung zeitgenössischer Literaturprozesse ist eine vulgärsoziologische Methodologie zu spüren. 31 Andrej Belyj, Simvolizm. Kniga Statej. Moskau 1910, S. 598f. 32 V . A . Zajcev (1842-1882): Russischer Publizist und Literaturkritiker, einer der bedeutendsten Mitarbeiter der Zeitschrift „Russkoe slovo". D i e sozialpolitischen Ansichten Zajcevs widerspiegelten die Hoffnungen der revolutionären Demokraten auf die Volksrevolution in den Jahren 1861 bis 1863. 1869 emigrierte er ins Ausland und arbeitete in der italienischen Sektion der Ersten Internationale mit. Von 1877 bis 1882 war er Mitarbeiter und Redakteur der Zeitschrift „Obscee delo" (Genf). 33 N . K . Michajlovskij (1842-1904): Russischer Publizist, Soziologe und Literaturkritiker, Theoretiker der Volkstümlerbewegung. - Michajlovskij vertritt die Ansicht, daß die Geschichte von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten ge286
macht wird. Vor allem überschätzt er die Intelligenz. Große Aufmerksamkeit schenkt er Lev Tolstoj (vor allem seinem historischen Fatalismus), Uspenskij, Garsin u. a. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nahm Michajlovskij an der Polemik der Volkstümler mit dem Marxismus und der Sozialdemokratie teil. 34 A . M. Skabicevskij (1838-1910): Russischer Literaturkritiker und -historiker. Das gesellschaftliche und literarische Leben schätzt er von der Position der liberalen Volkstümlerbewegung ein, im Geiste demokratischer Ideen, so auch das Schaffen Gor'kijs und Cechovs. Plechanov bestimmte seine Position als kleinbürgerlichen Demokratismus. 35 Petr S. Kogan (1872-1932): Russisch-sowjetischer Literaturhistoriker und -kritiker. Seit 1910 Privatdozent am Lehrstuhl Deutsch-Romanische Philologie an der Petersburger Universität; nach der Oktoberrevolution Professor an der Moskauer Universität. - Kogan, der progressive Positionen vertritt, bekennt sich, noch vor der Oktoberrevolution zum Marxismus und führt einen Kampf gegen die idealistische Kritik (Merezkovskij u. a.). Kogan schrieb Arbeiten zur Literaturgeschichte. 36 Vasilij L'vov-Rogacevskij (eigtl. Vasilij L'vovic Rogacevskij) (1873-1930): Russisch-sowjetischer Kritiker und Literaturwissenschaftler. Seit 1898 Mitglied des „Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse", nach dem II. Parteitag der SdAPR Menschewist. Als Literaturkritiker trug L'vov-Rogacevskij zur Popularisierung von Arbeiter- und Bauernschriftstellern bei: Raboci-krest'janskie pisateli. Bibliograficeskij Ukazatel', 1926. Hrsg. v. R. S. Mandel'stam, Ocerki proletarskoj literatury (1927). Die Arbeiten L'vov-Rogacevskijs sind reich an Fakten und bibliographischem Material. Seine Versuche, die Literatur von marxistischer Position aus zu werten, führten oft zu vulgärsoziologischen Einschätzungen. 37 Viktor B. Sklovskij, Sentimental'noe putesestvie. Vospominanija 1918-1923. Leningrad 1924, S. 75-76 u. 1 3 1 . 38 Boris V. Tomasevskij (1890-1957): Russisch-sowjetischer Philologe und Literaturwissenschaftler. E r gehörte in der Zeit von 1910 und in den zwanziger Jahren dem O P O J A S an, gründete eine neue Schule der Textologie und entwickelte Methoden zur Erforschung des poetischen Schaffens. Tomasevskij ist besonders als Puskinforscher bekannt. Eine seiner bekanntesten Arbeiten ist „ A . S. Puskin, Gavriliada" (1922)? 39 Boris V . Tomasevskij, Teorija literatury. Poetika. Moskau-Leningrad 1930, S. 154. 40 Boris fijchenbaum, Literatura. Teorija, kritika, polemika. Leningrad 1927, S. 120. 41 Vgl. P. N. Medvedev, Formalizm i formalisty. Leningrad 1934, S. 136. 42 Es wird hier auch keine Geschichte des O P O J A S oder ein Abriß der Entwicklung der russischen Formalen Schule geschrieben, dieser Hinweis ist wichtig, um möglichen Vorwürfen in bezug auf Unvollständigkeit u. ä. vorzubeugen. 287
43
N. Setnickij, Statistika, literatura i poézija. K voprosu o plane issledovanija. Odessa 1922, S. 18. 44 Als solche Arbeiten sind zu erwähnen: Ja. Denisov, Osnovanija metriki u drevnich grekov i rimljan (Moskau 1888) oder von F. E. Kors: Razbor voprosa o podlinnosti okoncanija „Rusalki" A . S. Puskina po zapisi D. P. Zueva (Band 1. und 2. St.-Petersburg 1898-1899), eine in ihrem Charakter nicht statistische, sondern durch und durch textologische Untersuchung. 45 S. M. Luk'janov, „Angel smerti" gr. A. A. Golenisceva-Kutuzova. In: Zurnal ministerstva narodnogo prosvescenija. Neue Serie. Teil 49, 1914, Februar, S. 329. 40 N. A . Morozov, Lingvisticeskie spektry. Sredstvo dlja otlicija plagiatov ot istinnych proizvedenij togo ili drugogo avtora. In: Izvestija otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti Rossijskoj Akademii nauk, Jg. 20, 1915, Buch 4, S. 101 u. 105. Morozov stellt z. B. fest, daß die Negation „ne" bei Tolstoj auf tausend Wörter „gewöhnlich etwas weniger als zwanzigmal, bei Puskin und Gogol' zwanzigmal, bei Turgenev jedoch bedeutend mehr als bei ihnen, manchmal über dreißigmal begegnet". Die Präposition „ v " wiederholt sich auf tausend Wörter „bei Gogol' in ,Taras Bul'ba' dreiundzwanzigmal, in der .Majskaja noc' fünfzehn, in der .Strasnaja mest" sechzehnmal", während bei Puskin ebenfalls auf tausend Wörter ein starkes Vorherrschen der Präposition „ v " vor den Präpositionen „na" und „s" zu finden ist. 4 ' A. A . Markov, Ob odnom primenenii statisticeskogo metoda. In: Izvestija Imperatorskoj akademii nauk. Serie 6, 1916, Nr. 4, S. 239. 48 Adolf von Hildebrand, Gesammelte Schriften zur Kunst. Köln-Opladen 1969, S. 199. 49 W. Setschkareff, Einige neuere Werke zur allgemeinen Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für slavische Philologie. Jg. 23, 1955, Heft 2, S. 356. 50 Oskar Walzel, Die künstlerische Form des Dichtwerks. Berlin 1916, S. 10, 14 und 37. 51 Aleksandr Belezkij, Neskol'ko slov o razrabotke naucnoj poétiki v Rossii i na Zapade. In: R. Mjuller-Frejenfel's: Poétika. Charkow 1923, S. 5 f. 52 V. N. Peretc, Kratkij ocerk metodolgii istorii russkoj literatury. Petrograd 1922, S. 19. - Auf diese Thesen von V . Peretc macht V . Zirmunskij in dem Buch „Voprosy teorii literatury" (1928) aufmerksam. 5:1 Boris Éjchenbaum, Skvoz' literaturu. Leningrad 1924, S. 189. 54 Roman Jakobson, Novejsaja russkaja poézija. Nabrosok pervyj. Prag 1921, S. 16. 33 Boris Éjchenbaum, Nekrasov. (1922). In: O poézii. Leningrad 1969, S. 55. 56 Osip M. Brik, Tak nazyvaemyj „formal'nyj metod". In: Lef, 1923, Nr. 1, S. 214. 37 Boris V. Tomasevskij, Formal'nyj metod. (V mesto nekrologa). In: Sovremennaja literatura. Sbornik statej. Leningrad 1925, S. 148. 38 Viktor B. Sklovskij, O teorii prozy. Moskau 1929, S. 5 f. 39 Ebenda, S. 216. 288
Über Roland Barthes und insgesamt über die französische Nouvelle Critique vgl. auch Rita Schober, „Im Banne der Sprache". Strukturalismus in der Nouvelle Critique, speziell bei Roland Barthes. Halle 1968. Vgl. auch die Darstellung der Barthesschen Position in: Gesellschaft-Literatur-Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin-Weimar 1973, Kapitel 3. Prager Schule (Prager Linguistenkreis): 1926 sich konstituierende Vereinigung (Cercle linguistique de Prague), der zunächst Wilhelm Mathesius, Roman J a kobson, Bohuslav Havrânek u. a., dann auch Jan Mukarovsky, Nikolaj S. Trubeckoj, René Wellek angehörten. In vielem an den russischen Formalismus anknüpfend und ihn erweiternd, bildete der Zirkel die erste Schule des Strukturalismus, der von ihm als „poetisches Prinzip" (Mukarovsky) aufgefaßt wurde. Die Zusammensetzung des Kreises entsprach seinem Postulat der untrennbaren Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaft (Problem der „ästhetischen Funktion der Sprache"). Literaturwissenschaftliche Impulse gingen von der den formalistischen „Kunstseparatismus" (Jakobson) sprengenden, auf den Nachweis einer relativen ästhetischen Autonomie zielenden Analyse der Dichtersprache als eigenartiger Funktionssprache, des Verhältnisses von Automatisation, Aktualisation und deren Domänen in der dynamischen Struktur, der Beziehungen von formellem und semantischem Plan des Werkes als semiologischer E r scheinung aus. Vgl. Petr Palievskij in: Znamja, 1963, Nr. 12. Sich selbst genügende „poetic wholes" (R. S. Crane) ; „in sich geschlossenes sprachliches Gefüge" (W- Kayser) ; „Technique as Discovery" (M. Schorer) ; Prinzip des „close reading", das, wenn es verabsolutiert wird, im Grunde eine Wertung des Textes unmöglich macht (übrigens ist in der Vorstellung von R. P. Blackmur allein die Notwendigkeit einer solchen Wertung eine schwere „Bürde" für die Kritik), „sich selbst als Inhalt setzendes Wort" (F. Martini) alles das sind nur verschiedene Seiten, Hypostasen einer einzigen Konzeption. " I suggest that any poetry which is 'technically' notable is in part a work of abstractionist art, concentrating upon the structure and the texture, and the structure-texture relation, out of a pure 'speculative interest'." Zit. nach Robert Weimann, „New Criticism" und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. Halle 1962, S. 133. 3 Signifikant und Signifikat : Von dem Begründer der modernen Linguistik, Ferdinand de Saussure ( 1 8 5 7 - 1 9 1 3 ) , der die Sprache als System sich wechselseitig bedingender Zeichen definiert, eingeführte Begriffe, die die beiden Komponenten des sprachlichen Zeichens bezeichnen. Nach de Saussure setzt sich ein sprachliches Zeichen aus dem Bezeichnenden (signifiant), der Lautform der Phoneme und dem Bezeichneten (signifié), dem Begriff oder der Vorstellung einer Sache, zusammen. Beide Komponenten des Zeichens sind psychischer Natur. Vgl. Ideologie-Literatur-Kritik. Hrsg. von K.-H. Barck und B. Burmeister. Berlin 1977, Text 5, Anm. 14. 289
66
M i k e l Dufrenne, Strukture et sens. In: Revue d'Esthethique, J g . 20, 1967, N r . 1.
67
Thomas Mann, Gesammelte Werke. Band 6. B e r l i n - W e i m a r 1965, S. 329.
68
Jurij M . Lotman, Lekcii po struktural'noj poetike. In: Trudy po znakovym sistemam. Ucenye zapiski Tartuskogo gosudarstvennogo universiteta 1 , 1 9 6 4 , S. 1 0 , 1 3 .
69 70
Jurij M . Lotman, Struktura chudozestvennogo teksta. Moskau 1970, S. 46. Ebenda.
71
Jurij M . Lotman, O probleme znacenija vo vtoricnych modelirujuscich systemach.
72
Jurij M . Lotman, Struktura, S. 65.
In: Trudy II, 1965, S. 22. 73
Ebenda, S. 167.
74
Ebenda, S. 53.
7o
Zum Beispiel: D i e Beziehung des Begriffs „ V o l k " bei Rousseau zu den Begriffen „Mensch", „Vernunft", „Sittlichkeit", „Macht" u. a. bei demselben Autor.
76
Jurij M . Lotman, Struktura, S. 54.
77
Ebenda, S. 256.
78
V g l . dazu z. B . Rudolf Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissen-
79
Jurij L . Lotman, Struktura, S. 258.
schaft. München 1969, S. 1 7 7 f. 80
Georg Klaus, Kybernetik in philosophischer Sicht. Berlin 1965, S. 266.
81
Horst Redeker, Abbildung und Aktion. Versuch über die Dialektik des Realis-
82
Ebenda, S. 21 u. 23.
83
V g l . Rita Schober, D a s literarische Kunstwerk - Symbol oder Modell. In: Wei-
84
Jurij M . Lotman, Struktura, S. 256.
mus. Halle 1966, S. 39.
marer Beiträge, J g . 1 7 ; 1 9 7 1 , H e f t n , S. 1 5 5 - 1 6 3 . 85
Ebenda, S. 342.
86
Jurij M . Lotman, Stichotvorenija rannego Pasternaka i nekotorye voprosy struk-
87
V g l . A . V . Kukarkin, Burzuaznoe obscestvo i kul'tura. Moskau 1970.
88
Michail B. Chraptschenko, Schriftsteller, Weltanschauung, Kunstfortschritt. Ber-
turnogo izucenija teksta. In: Trudy I V , 1969, S. 222, 223.
lin 1975, S. 58. 89
Hierbei sind zu nennen: P. Lubbock, Mark Schorer, Allen Täte, N . Friedman.
90
B . A . Uspenskij, Poetika kompozicii. Moskau 1970.
91
V g l . Jan Mukarovsky, Estetickd, funkce, norma a hodnota jako sociälni fakty
92
V g l . Jurij M . Lotman, O razgranicenii lingvisticeskogo i literaturovedceskogo
93
V g l . Sympozium po strukturnomu izuceniju znakovych sistem. Tezisy dokladov.
94
J u r i j M . Lotman, Literaturovedenie dolzno byt' naukoj. In: Voprosy literatury,
(Ästhetik, Funktion, N o r m und W e r t als soziale Faktoren), o. O. 1936. ponjatija struktury. In: Voprosy jazykoznanija; 1963, N r . 3. Moskau 1962, S. 1 2 5 . 1967, N r . 1, S. 92 u. 96. 95
Zit. nach Jurij M . Lotman, Lekcii. In: Trudy I, S. 47.
290
96
G . O. Vinokur, Poétika, Lingvistika, Sociologija. In: L e f , 1923, Nr. 13, S. 109. Viktor B. Sklovskij, Rozanov. Petrograd 1921, S. 4. 98 Viktor B. Sklovskij, Svjaz' priemov sjuzetoslozenija s obscimi priemami stilja. In: Poétika. Folge 3, 1919, S. 143. 99 Ferdinand de Saussure, Cours de Linguistique générale. Paris 1922, S. 43. 100 Viktor B. Sklovskij, Svjaz' priemov sjuzetoslozenija s obscimi priemami stilja. In: Poétika, S. 143. 101 Viktor B. Sklovskij, Rozanov. Petrograd 1921, S. 8. 102 Lev S. Vygotskij (1896-1934): Sowjetischer marxistischer Psychologe. Befaßte sich vom historischen Standpunkt aus mit dem Entstehungsprozeß der menschlichen Psyche und auch mit der Psychologie der Kunst. Seine Forschungen zu dem zuletzt genannten Problem sind für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Vygotskij reagiert auf den Antipsychologismus, wie er sich im russischen Formalismus darstellt, auf den Versuch, die künstlerische Form als etwas Objektives von dem im Werk enthaltenen subjektiven Faktor abzulösen. Gleichzeitig richten sich seine Untersuchungen zur Psychologie der Kunst gegen subjektivistische Auffassungen, die besagen, daß allein die Psychologie des Autors oder das Erleben des Lesers von Bedeutung ist. E r versucht eine „objektiv-analytische" Methode zu entwickeln. (Vgl. dazu Lew S. Wygotski, Das psychologische Problem der Kunst. In: Kunst und Literatur, 1966, Nr. 9.) Seine bedeutendste Arbeit auf literaturwissenschaftlichem Gebiet „Psichologija iskusstva" (Moskau 1968) erschieh postum. Sie wurde in dt. Sprache in der Fundus-Reihe herausgegeben: Lew S. Wygotski, Psychologie der Kunst. Dresden 1976. Eine Auswahl seiner Schriften wurde ebenfalls in dt. Sprache publiziert: Denken und Sprechen, Berlin 1962. 103 Vgl. L e v S. Vygotskij, Psichologija iskusstva. Moskau 1968, S. 79 f. 104 Viktor M. Zirmunskij, Voprosy, S. 12. 105 Zit. nach I. A . Vinogradov, Bor'ba za stil'. Leningrad 1937, S. 410. 106 Vgl. M. Girsman, Literaturovedceskij analiz (metodologiceskie voprosy). In: Voprosy filosofii, 1968, Nr. 10. 107 A . K . 2olkovskij/Ju. K . Sceglov, O vozmoznostjach postroenija strukturnoj poétiki. In: Simpozium po strukturnomu izuceniju znakovych sistem. Tezisy dokladov. Moskau 1962, S. 139. 108 A. K . Zolkovskij, Ob usilenii. In: Strukturno-tipologiceskie issledovanija. Moskau 1962, S. 168. 109 P. Zarev, Strukturaliz-m literaturoznanie i esteticeski ideal. Sofia 1969, S. 12. 110 Vgl. Viktor B. Sklovskij, Iskusstvo kak priem. In: Poétika. Folge 2, 1917, S. 12. 111 Vgl, Simpozium po strukturnomu izuceniju znakovych sistem. Tezisy dokladov. Moskau 1962, S. 33. 112 A . Mol', Teorija informacii i ésteticeskoe vosprijatie. Moskau 1966, S. 208. 113 Za um' oder Zaumnyj jazyk = transmentale Sprache, als poetologischer Begriff von dem Futuristen A . E . Krucenych 1922 eingeführt, im Zusammenhang mit 97
291
dem Gebrauch metalogischer Sprachkonstruktionen in der Poesie im Zuge einer Revolutionierung der poetischen Sprache. 11,1 Viktor B. Sklovskij, O poézii i zaumnom jazyke. In: Poétika. Folge 3. 1919, S. 24. 115 Vgl. L. P. Jakubinskij, Skoplenie odinakovych plavnych v prakticeskom i poéticeskom jazykach. O zvukach stichotvornogo jazyka. O poéticeskom glossemosocetanii. In: Póétika. Folge 1, 1916, Folge 2, 1917, Folge 3, 1919. 116 Jurij N. Tynjanov, Problema stichotvornogo jazyka. Moskau 1965, S. 288 u. 292. 117 Vgl. B. Uspenskij in: Simpozium po strukturnomu izuceniju znakovych sistem. Tezisy dokladov. Moskau 1962, S. 127-128. 118 L. P. Jakubinskij, O zvukach stichotvornogo jazyka. In: Poétika. Folge 3, 1919, S. 49. 119 Victor Erlich, Russian Formalista. History-Doctrine. The Hague - Paris 1969, S. 211. 120 R. Zaripov/V. V. Ivanov, Posleslovie redaktorov russkogo izdanija. In: A. Mol', Teorija informacii i ésteticeskoe vosprijatie. Moskau 1966, S. 343. 121 A. K. 2olkovskij(Ju. K. Sceglov, Strukturnaja poética - porozdajuscaja poétika. In: Voprosy literatury, 1967, Nr. 1, S. 75. 122 Vgl. Trudy IV, S. 5. 123 M. G. Sokoljanskij, O strukturalizme v literaturovednii. In: Voprosy filosofii, 1969, Nr. 7, S. 116. 124 Jurij M. Lotman, Lekcii. In: Trudy IV, S. 158-159. 125 Boris Éjchenbaum, Skvoz' literaturu. Leningrad 1924. S. 188, 190ff. 126 Viktor B. Sklovskij, Tetiva. O neschodstve schodnogo. Moskau 1970. S. 22. 12/ Viktor B. Sklovskij, Razvertyvanie sjuzeta. Petrograd 1921, S. 34. 128 Jurij N. Tynjanov, O literaturnom fakte. In: Lef, 1924, Nr. 2, S. 104. - Dt. in: Juri Tynjanow, Der Affe und die Glocke. Berlin 1975. S. 222. 129 Vgl di e Abhandlungen von Boris Éjchenbaum über Aleksandr S. Puskin, Michail Ju. Lermontov, Nikolaj A. Nekrasov und Lev Tolstoj; die Abhandlungen Jurij Tynjanovs über V. K. Kjuchel'beker u. a. 130 Boris Éjchenbaum, Molodoj Tolstoj. Petersburg-Berlin 1922, S. 99. 131 Jurij N. Tynjanov, Dostoevskij i Gogol'. (K teorii parodii). Petrograd 1921, S. 6 u. 22. - Dt. in: Juri Tynjanow, Der Affe und die Glocke. Berlin 1975, S. 261, 276 u. 281. 132 B. Éngel'gardt, Formal'nyj metod v istorii literatury. Leningrad 1927, S. 104II. 133 Viktor M. Zirmunskij, Voprosy, S. 162-163. m Boris Éjchenbaum, Nekrasov. 1922). I n : O poézii. Leningrad 1969, S. 38. 135 Anatolij V. Lunacarskij, Sobranie socinenij v vos'mi tomach. Band 7. Moskau 1967, S. 417. 13G p j\f_ Medvedev, Formalizm i formalisty. Leningrad 1934, S. 153. 13' Ferdinand de Saussure, Cours de Linguistique Générale. Paris 1922, S. 115. 138 Ebenda, S. 43. 292
139
Ebenda, S. 1 1 7 . Hugo Schuchardt-Brevier, Ein Vademecum der allgemeinen Sprachwissenschaft. Halle 1928, S. 330. 141 É . Koseriu, Sinchronija, diachronija i istorija. In dem Sammelband: Novoe v lingvistike. Folge 3. Moskau 1963, S. 148 u. 154. 142 A . A . Potebnja, Mysl' i jazyk. 4. Aufl., Odessa 1922, S. 182. 143 Zit. n. Michigan Slavic Materials. Readings in Russian Poetics. Department of Slavic Languages and Literatures. The University of Michigan 1962, Nr. 2, S. 4. 144 N. S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie. Prague 1939, S. 30. 145 Vgl. Roman Jakobson, O cesskom Stiche preimuscestvenno v sopostavlenii s russkim. Gosudarstvennoe izd. R S F S R 1923. 146 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Anthropologie structurale. Paris 1958. 147 Vgl. dazu Jean-Paul Sartre, Jean-Paul Sartre répond. In: L'Arc, 1966, Nr. 30, S. 89. 148 Vgl. Roman Jakobson, Linguistics and Poetics. Style in Language. New Y o r k London i960. 149 Vgl. dazu Petr V. Palievskij, Vnutrennjaja struktura obraza. In: Theórija literatury. Moskau 1962; V . V . Kozinov, Chudozestvennaja rec' kak forma iskusstva slova. In: Teorija literatury. Moskau 1965; V . N. Toporov, Annotacija na rabotu R. Jakobsona „Lingvistika i poétika". In: Strukturno-tipologiceskie issledovanija. Moskau 1962; V . P. Grigor'ev, Slovar' russkoj sovetskoj poézii. Moskau 1965; V. P. Grigor'ev, O zadacach lingvisticeskoj poétiki. In: Izvestija A N SSSR. Serija literatury i jazyka. Band 25, 1966, Folge 6 und andere Arbeiten. 150 Roman Jakobson, Novejsaja russkaja poézija. Nabrosok pervyj. Prag 1921. S. 1 1 . 151 Vgl Roman Jakobson, Poézija grammatiki i grammatika poézii. In: Poetics, Poetyka, Poétika. Band 1. Warszawa 1961, S. 405. - In diesem Werk gibt es siebenundvierzig Wörter, davon vierzehn Pronomen, zehn Verben und nur fünf Substantive abstrakten, spekulativen Charakters, es enthält kein einziges A d jektiv, zehn Adverbien. Nicht ohne Interesse sind die Korrelationen zwischen dem Pronomen „ich", das einzig im Nominativ auftritt, und dem Pronomen „Sie", das im Akkusativ und Dativ erscheint, wobei ersteres viermal, das zweite sechsmal im Text begegnet usw. 152 Viktor B. Sklovskij, Poézija grammatiki i grammatika poézii. In: Inostrannaja literatura, 1969, Nr. 6, S. 218, 221 u. 223. 153 Roman Jakobson, Strukturata na poslednoto Botevo stichotvorenie. In: Ezik i literatura, 1961, Nr. 2, S. 3-4, 7 u. 14; - vgl. dazu die Analyse von Charles Baudelaires Sonett „Les chats" durch Roman Jakobson und C. Lévi-Strauss in „L'Homme", 1962, Januar-April. 154 Jurij M. Lotman, Stichotvorenija rannego Pasternaka i nekotorye voprosy strukturnogo izucenija teksta. In: Trudy IV, S. 236. 155 Ebenda, S. 235. 156 Vgl. Boris Éjchenbaum, Nekrasov (1922). In: O poézii. Leningrad 1969, S. 160. 140
293
157
Jurij M. Lotman, Stichotvorenija rannego Pasternaka i nekotorye voprosy strukturnogo izucenija teksta. In: Trudy I V , S. 218. 158 Ebenda, S. 235. 159 Jurij N. Tynjanov/R. Jakobson, Problemy izucenija literatury i jazyka. In: Novyj Lef, 1928, 12, S. 36. 160 Jurij N. Tynjanov, Vopros o literaturnoj évoljucii. In: N a literaturnom postu, 1927, Nr. 10, S. 46. 161 Boris Êjchenbaum, Moj vremennik. Slovestnost', nauka, kritika, smes'. Leningrad 1929, S. 51. 162 Diesen Ausspruch B. Êjchenbaums 1933 in einer Schriftstellerversammlung zit. P. N. Medvedev in dem Buch: Formalizm i formalisty. Leningrad 1934, S. 196. 163 Nach dem eigenen Bekenntnis der Anhänger der strukturellen Literaturwissenschaft war auch die „traditionelle" Textologie dazu in der Lage. 164 Rita Schober, Das literarische Kunstwerk - Symbol oder Modell. In: Weimarer Beiträge, Jg. 17, 1971, Heft 1 1 , S. 157. 165 Ebenda; vgl. auch Rita Schober, Werten oder Beschreibung? In: Von der wirklichen Welt in der Dichtung. Berlin 1970, S. i9ff. 166 Jurij M. Lotman, Literaturovedenie dolzno byt' naukoj. In: Voprosy literatury, 1967, Nr. i. 167 Michel Foucault, Les mots et les choses. Paris 1966, S. 353-354 u. 398. 168 Jean Marie Domenach, L e système et la personne. In: Esprit, 1967, Nr. 5, S. 778. - Domenach tritt allerdings von der Position des christlichen Personalismus auf. 169 G i Bess, Rol' marksistsko-leninskoj filosofa v sovremennoj ideologiceskoj bor'be. In: Kommunist, 1968, Nr. 8, S. 25. 170 Über Sartres heutige Position vgl. B. L . Suckov, Politika i literatura. In : Literaturnaja gazeta vom 3. 2. 1972. 171 Vgl. Maurice Godelier, Rationalité et irrationalité en économie. Paris 1966. 172 Vgl. Louis Althusser/Jacques Rancière/Pierre Macherey, Lire le Capital. Band 1 ; Louis Althusser/Etienne Balibar/Roger Establet, Lire le Capital. Band 2, Paris 1965. 173 Vgl. La Pensée, 1967, Nr. 135. 174 Vgl. z. B. M. G . Sokoljanskij, O strukturalizme v literaturovedenii. In: Voprosy filosofii, 1969, Nr. 7. 175 Zeitschrift „ L e f " (1923 bis 1925 unter Leitung von Majakovskij in der SU erschienen). In dieser Zeitschrift veröffentlichten die Mitglieder des Lef (Linke Front der Künste) ihre Ansichten. Zur Position dieser literarischen Gruppe vgl. Anm. 184. 176 A . G. Cejtlin, Marksisty i „formal'nyj metod". In: L e f , 1923, Nr. 3, S. 1 1 5 , 130 bis 1 3 1 . 177 Boris Êjchenbaum, 5 = 100. In: Kniznyj ugol, 1922, Nr. 8, S. 39 u. 41. 178 Boris Êjchenbaum, Moj vremennik. Slovesnost', nauka, kritika, smes'. Leningrad 1929, S. 58. 294
179
V . Sklovskij in: Iskusstvo kommuny vom jo. 3. 1919, Nr. 17. Zit. nach dem Artikel: Ol. Poltorac'kij, Kriz' formal'nu metodu. In: Nova generacija, 1927, S. 40. 181 Viktor B . Sklovskij, Tret'ja fabrika. Moskau 1926, S. 88. 182 Aleksandr I. Metcenko, Krovnoe, zavoevannoe. Iz istorii sovetskoj literatury. Moskau 1971, S. 187. 183 G . Majfet, Materiali do Charakteristik! tvorcosti P. Ticini. Charkow 1926, S. 4. 184 L e f : Literarische Gruppe in Moskau (1922 bis 1929). An ihrer Spitze stand M a jakovskij, zu ihren Mitgliedern gehörten u. a. S. M. Tret'jakov, O. M. Brik, B . I. Arvatov, P. B. Pasternak. Ziel der Gruppe war die Sammlung linker Kräfte, um einen kommunistischen Weg der Kunstentwicklung zu finden. D i e Gruppe spielte insbesondere durch ihre Forderung nach einer „Literatur der Fakten" und durch die von Majakovskij entwickelte Theorie des „sozialen Auftrags" eine produktive Rolle. Auch Vertreter der Formalen Schule - so Sklovskij u. a. - schlössen sich der Lef an. 185 Letztere wurde nicht nur als „sogenannte Geisteshaltung" bezeichnet. 186 B. I. Arvatov, Sociologiceskaja poétika. Moskau 1928, S. 8. Vgl. auch S. 30-138. 187 Diese Worte P. N . Sakulins sind zit. nach M. S. Grigor'ev, Literatura ideologija, o. O., o. J., S. 65. 188 Boris Éjchenbaum, Vokrug voprosa o „formalistach". In: Pecat' i revoljucija. Band 5, 1924, 5, S. 2. 189 S. M. Brejtburg, „Sdvig" v formalizme. In: Literatura i marksizm. Band 1, 1929, S. 4 5 . 190 Vgl. dazu I. M. Nusinov, Zapozdalye otkrytija, ili kak V . Sklovskomu nodoelo est' golymi formalistskimi rukami i on obzavelsja samodel'noj marksistskoj lozkoj. In: Literatura i marksizm. Band 5, 1929. 191 Wiktor Schklowski/J. Tynjanow, Sprache und Stil Lenins. Berlin 1970, S. 32. Im russ. Original zit. der Autor nach Lef, 1924, Nr. 1, S. 56. 192 Der durch alle Artikel als Leitmotiv gehende Gedanke von Lenins Kampf gegen die pseudorevolutionäre Phrasendrescherei wird - ebenso wie bei Sklovskij — vom Standpunkt der Theorie der „Automatisierung" des Wortes und seiner nachfolgenden „Wiedererweckung" auf dem Wege der „Verschiebung", der „Veränderung", der „Zerstörung des Kanons" interpretiert. Dieses Herangehen brachte z. B. Boris Éjchenbaum (Artikel „Stilistische Grundtendenzen in Lenins Sprache") auf den Vergleich des Leninschen Stils mit den sprachschöpferischen Experimenten der Futuristen insofern, als wir es angeblich in beiden Fällen mit der „Zerstörung des traditionell .Poetischen'" zu tun haben. Boris Kasanskij untersuchte die Anordnung der Themen in einer Arbeit Lenins und bezeichnete sie mit der Formel: abcc2, bd, b 2 , b 3 , b-ef, e-e-e~ef. ab 1 ecd. Wie wir sehen, wird Lenins Stil hier vorwiegend unter Verwendung des Instrumentariums des OPOJ A S analysiert. Vgl. dazu Lef, 1924, Nr. 1, S. 70 u. 122 (dt. in: W. Schklowski/ J . Tynjanow, Sprache und Stil Lenins. Berlin 1970, S. 54 u. 137). 180
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193 Vgl l Jakubinskij in : Izvestija Akademii nauk SSR. Serija literatury i jazyka. Band 24, 1970, Folge 2, S. 132. 194
V . O. Percov, Lenin-polemist. In: Literaturnaja Rossija, 1970, Nr. 22 (386). 1 . A . Vinogradov, Bor'ba za stil*. Leningrad 1937, S. 395. 196 Anatolij V . Lunacarskij, Sobranie socinenij v vos'mi tomach. Band 7. Moskau 1967, S. 416. 197 Viktor M. Zirmunskij, Voprosy, S. 166. 198 Anatolij V. Lunacarskij, Sobranie socinenij v vos'mi tomach. Band 7, S. 420. 199 1 . Leznev, Zapiski sovremennika. Band 1. Istoki. 3. berichtigte Aufl. Moskau 1936, S. 226. 200 Anatolij V. Lunacarskij, Sobranie socinenij v vos'mi tomach, Band 7, S. 415. 201 Boris Éjchenbaum, Moj vremennik. Slovesnost', nauka, kritika, smes'. Leningrad 1929, S. 36. 202 Petr V . Palievskij, Mera naucnosti. In: Znamja, 1966, Nr. 4, S. 235. 203 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948, S. 387. 20/ ' Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften. Band 6. Berlin 1962, S. 260. 205 Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie. Band 3. Heidelberg 1920, S. 14. - Vgl. auch L. Lopatin, Lejbnic. Ênciklopediceskij slovar'. F. A . Brokgauza i I. A . Efrona. Band 17 a. St. Petersburg 1896, S. 487. 206 Norbert Wiener, The human use of human beings. Cybernetics and Society. New York 1954, S. 19. 207 Rudolf Carnap, Logische Syntax der Sprache. Wien 1934, S. 261. 208 Glossematik: Von dem dänischen Linguisten Louis Hjelmslev (1899-1965; Hauptwerk: Grundlagen einer Sprachtheorie, 1943) ausgearbeitete Theorie, in der die Sprache zum ersten Mal ausdrücklich als algebraische Struktur aufgefaßt wurde, deren Elemente und Relationen zu einer mathematischen Theorie formiert werden können. Hjelmslev verallgemeinert die Gegenüberstellung von Inhalt und Ausdruck des Zeichens (Saussure: Signifié und signifiant) in den Termini: Inhaltsebene und Ausdrucksebene der Sprache. In Weiterentwicklung der Saussureschen Dichotomie „Form" als „Substanz" sowie dessen These „Sprache ist Form, nicht Substanz" unterscheidet Hjelmslev zwischen Form (als der aus Relationen zwischen reinen „Werten", im Sinne Saussures, konstituierten abstrakten, eigentlichen Sprachstruktur) und Substanz (als dem außersprachlichen Korrelat, in dem sich die Form manifestiert). Somit ergeben sich auf der Ausdrucksebene die Strata=Ausdruckssubstanz (physikalisch-materieller, d.h. phonetischer bzw. graphischer Aspekt der Sprache) und Ausdrucksform (geistig-psychische Vorstellung von der Ausdruckssubstanz), auf der Inhaltsebene die Strata Inhaltssubstanz (Gegenstandsbereiche der außersprachlichen Realität) und Inhaltsform (Art der Strukturierung der ungegliederten Realität durch die sprachlichen Bedeutungseinheiten). Während Ausdrucks- und Inhaltssubstanz für alle natürlichen Sprachen gleich sind, sind Ausdrucks- und Inhaltsform sprachspezi195
296
fisch bedingt. Sie bilden das Objekt der linguistischen Analyse. Ihre invarianten phonologischen und semantischen Minimaleinheiten oder Grundelemente faßte Hjelmslev unter dem Terminus Glosseme (griechisch: glossa = Sprache; sema = Zeichen) zusammen und hat seiner Theorie danach den Namen Glossematik gegeben : Kombinatorik der Glosseme. Vgl. Manfred Bierwisch, Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden (1966). In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 1 , Frankfurt/M. 1971, S. 32-38. 209 Vgl. dazu Hervé Bazin, O semioticeskoj teorii iskusstva. In : Kritika osnovnych napravlenij sovremennoj burzuaznoj éstetiki. Moskau 1968. 210 Charles W. Morris, Foundations of the Theory of Signs. International Encyclopedia of Unified Science. Band 1. Chicago-Illinois 1938, S. 42. 211 Vgl. L'Arc, 1966, Nr. 30, S. 94. 212 Abraham Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln 1971, S. 14. 2i3petr Palievskij, O strukturalizme v literaturovedenii. In: Znamja, 1963, Nr. 12, S. 198. 214 Fedor M. Dostoevskij, Sobranie socinenij v desjati tomach. Band 4. Moskau 1956, S. 152. 215 Mortimer Taube, Der Mythos der Denkmaschine. Hamburg 1966, S. 22 f. 216 Gruppe 63 : Eine inhomogene Gruppe von Schriftstellern und Kritikern, die sich 1963 in Italien konstituierte. Einzige gemeinsame Grundlage der Gruppe war das Prinzip des Experimentierens („sperimentalismo"). Nur wenige Mitglieder (z. B. E . Sanguineti) verfochten noch eine Verbindung der Literatur mit dem gesellschaftlichen Leben. Die Mehrzahl der Mitglieder vertrat neo-avantgardistische Konzeptionen. Sie standen unter Einfluß des französischen Nouveau Roman. 217 T e l Quel: Titel einer i960 gegründeten literarischen und theoretischen Zeitschrift und Name für die um diese Zeitschrift versammelte Gruppe von Schriftstellern und Wissenschaftlern (Philippe Sollers, Julia Kristeva, Marcelin Pleynet, Jean-Louis Baudry, Jean Ricardou, Jean Thibaudeau u. a.), die während der sechziger Jahre in Frankreich den am meisten exponierten, distanzierten und auch geschlossensten Versuch unternahm, eine revolutionäre Literaturpraxis zu konstituieren. Mit der Kritik an der herrschenden bürgerlichen Literaturideologie (verstanden als Mystifikation des literarischen Produktionsprozesses zugunsten des fertigen Produkts bzw. seines Autors) verband Tel Quel die Entwicklung eines eigenen Konzeptes der „Produktivität" der Schreibpraxis bzw. des „Textes", unter Berufung - u. a. - auf den Marxismus und mit dem Ziel der Weiterentwicklung des dialektischen Materialismus. Nach vorübergehenden Kontakten (1968 bis 1970) zu der kommunistischen Zeitschrift „ L a Nouvelle Critique" vollzog die Gruppe - in der kulturrevolutionäre Ansichten und Zielstellungen stärker hervortraten - im Sommer 1971 ihre maoistische Wende (Ricardou und 20
Barabasch 6674
297
Thibaudeau trennten sich von Tel Quel). Einen Einblick in die Position der Gruppe gibt u. a. der Sammelband: Theorie d'ensemble (Paris 1968). 218 Herbert Marcuse, Versuch über Befreiung. Frankfurt/M. 1969, S. 65, 74-76. 219 É . P. Juròvskaja, Problemy chudozestvennoj kritiki v sovremennoj francuzskoj burzuaznoj éstetike. In: Naucnye doklady vyssej skoly. Filosofskie nauki, 1967, Nr. 4, S. 88. 220 Vgl. Romano Luperini, La critica marxista y la crítica es strutturalista (Die marxistische Kritik und die strukturalistische Kritik). In: Casa de las Americas, 1967, Nr. 44. 221 Vgl. G. Brejtburd, Ital'janskij „novyj avangard". In: Novyj mir, 1967, Nr. 3. 222 Einer der Leiter der „Gruppe 63", Edoardo Sanguineti, polemisiert in der Beilage zu der Wochenschrift „L'Espresso" (20.9.1970) gegen meinen Artikel: Jurij J . Barabas: Cast' obscepartijnogo dela. In: Moskva 1970, und versucht, die Charakterisierung dieses Extremismus als kleinbürgerlich zu bestreiten. D a mein Opponent jedoch keinerlei überzeugende Argumente findet, begnügt er sich damit, seine Treue zur „Idee Maos" zu bekräftigen. 223 Bertrand Russell, Human knowledge. Its Scope and Limits. London 1948, S. 273. ' 224 Rudolf Carnap, Empiricism, Semantics and Onthology. Semantics and the Philosophy of Language. The University of Illinois. Press at Urbana 1952, S. 2 1 1 . 225 L . El'mslev, Prolegomena k teorii jazyka. In: Novoe v lingvistike, i960, Folge 1 , S. 283. 226 Ch. I. Ul'dall', Ocerk glossematiki. In: Novoe v lingvistike, i960, Folge 1, S. 400. 227 Arthur March, Das neue Denken der modernen Physik. Berlin-Darmstadt-Wien 1957, S. 154-156. 228 Vgl_ s. G . Borscov, Kategorija „struktury" i ee primenenie k opisaníju dialekticeskich protivorecij. In: Materialy dokladov na naucnych konferétìcijach 1967 goda. Balasovskij gosudarstvennyj pedagogiceskij instituí. Balásov 1968. 229 O. S. Zel'kina, Matematiceskie analogii kak vyrazenie odnoj iz form razvitija v nezivoj prirode. In: Problemy struktury v naucnom poznanii. Saratov 1965, S. 4. 230 V g l . dazu T. A . Sacharova, Francuzskie marksisty o „Kapitale" Marksal In: Voprosy filosofii, 1967, Nr. 9. 231 Vgl. Jean-Paul Sartre in: L'Are, 1966, 30, S. 88. 232 Claude Lévi-Strauss in: L e nouvel Observateur, 1967, Nr. 1 1 5 , S. 32. 233 Y g j Forschungsarbeiten von V . Ja. Propp, „Po morfologie russkoj volsebnoj skazki", die Bücher P. G. Bogatyrevs, „Magiceskie dejstvija, obrjady i verovanija Zakarpat'ja" und „Narodnyj teatr Cechov i Slovakov"; M. Bachtins über Dostoevskij, eine Reihe von Arbeiten Sergej Éjzenstejns, „Cetvertoe izmerenie v kino, Montaá 1938", „Vertikal'nyj montaz" u. a. 234 V g l . A. N. Kolmogorov/A. M. Kondratov, Ritmika poém Majakovskogo. In: Voprosy jazykoznanija, 1962, Nr. 3; A . N. Kolmogorov, K izuceriiju ritmiki 298
Majakovskogo. In: Voprosy jazykoznanija, 1963, Nr. 4; A . N. Kolmogorov, Zamecanija po povodu analiza ritma „Stichov o sovetskom pasporte" Majakovskogo. In: Voprosy jazykoznanija, 1965, Nr. 3; A . N . Kolmogörov/A. V . Prochorov, O dol'nike sovremennoj russkoj poezii (obscaja Charakteristika). In: Voprosy jazykoznanija, 1963, Nr. 6; A . N . Kolmogorov/A. V . Prochorov, O döl'riike sovremennoj russkoj poezii. In: Voprosy jazykoznanija, 1964, Nr. 1. Dol'nik ist ein akzentuierter Vers, dessen rhythmische Einheiten (Strophen) hauptsächlich nach der Anzahl der betonten Silben bemessen werden, während Anzahl und Platz der unbetonten Silben zweitrangige Bedeutung haben. 235 A . N . Kolmogorov, Tri podchoda k opredeleniju ponjatij „kolicestvo informacii". In: Problemy peredaci informacii, 1965, Nr. 1, Folge 1, S. 4. 236 Vgl. V . V. Ivanov/V. N . Toporov, Slavjanskie jazykovye modelirujuscie semioticeskie sistemy (drevnij period). Moskau 1965. 237 Hierzu sind wohl auch die „seltsamen Annäherungen" Puskins und der „Montageeffekt" Ejzenstejns zu rechnen. 238 Jurij M. Lotmari, Struktura, S. 237. 239 Ebenda, S. 303 f. 240 Boris V . Tomasevskij. Teorija literatury. Poetika. Moskau-Leningrad 1930, S. 152. 241 Novyj mir, 1971, Nr. 5, S. 241. 242 Jurij M. Lotman, Struktura, S. 274. 2/ 3 ' B. M. Mar'ev, Gorizönty dialektiki i sory lingvostilistiki. In: fistetiku - v zizn'. Sbornik vtoroj. Ucenye zapiski ural'skogo gosudarstvennogo universiteta im. A . M. Gor'kogo, Nr. 68, serija filosofskaja, Folge 1. Swerdlowsk 1967, S. 118 bis 120. 244 Niels Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Braunschweig 1964, S. 68. 245 1 . Gurvic, Zamysel i smysl issledovanija. In: Voprosy literatury, 1971, Nr. 2, S. 199-200. 246 Vgl. Jurij M. Lotman, O razgranicenii lingvisticeskogo i literaturoVedceskogo . ponjatija struktury. In: Voprosy jazykoznanija, 1963, Nr. 3, S. 47. 247 Ohne näher hierauf einzugehen, verweise ich den Leser auf das bereits erwähnte Buch von A . S. Busmin, „Metodologiceskie voprosy literaturovedceskich issledovanij" sowie auf den Artikel von A . Begiasvili, „Predely strükturnogo literaturovedenija". In: Voprosy literatury, 1970, Nr. 6. 248 Vgl. z. B . G . A . Lesskis, O razmerach predlozenij v russkoj naucnoj i chudozestvennoj proze. In: Voprosy jazykoznanija, 1962, Nr. 2; G . A. Lesskis, O zavisimosti mezdu razmerom predlozenija i charakterom teksta. In: Voprosy jazykoznanija, 1963, Nr. 3; B. N . Golovin, Opyt verojatno-statisticeskogo izucenija nekotorych javlenij istorii russkogo literaturnogo jazyka. In: Voprosy jazykoznanija, 1965, Nr. 3. 249 Vgl. A . N. Veselovskij, Sobranie socinenij. Band 2, H. 1. St. Petersburg 1913, S. 2. - Ursache hierfür sind teils Besonderheiten des künstlerischen Denkens 20'
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unserer fernen Vorfahren, teils der Einfluß der Zeit, dieser „großen •Vereinfacherin", wie Veselovskij sie nennt. 250 1. Revsin in: Voprosy literatury, 1965, Nr. '6, S. 81. 251 A . K . 2olkovskij/Ju. K . Sceglov, Strukturnaja poëtika - porozdajuscaja poëtika. In: Voprosy literatury, 1967, Nr. 1, S. 82. 252 Vgl. Strukturno-tipologiceskie issledovanija. Moskau 1962, S. 292, sowie L . O. Reznikov, Gnoseologiceskie voprosy semiotiki. Leningrad 1964, S. 32. 253 V. V . Ivanov, O primenenii tocnych metodov v literaturovedenii. In : Voprosy literatury, 1967, Nr. 10, S. 126. 254 Jurij M. Lotman, Lekcii, in: Trudy I, S. 12. 255 Jurij M. Lotman, Struktura, S. 365. 256 O. Bilez'kij, Zibrannja prac' u p'jati tomach. Band 3. Kiew 1966, S. 491. 257 Sovremennaja filosofija i sociologija v stranach Zapadnoj Evropy i Ameriki. Istoriko-filosofskie ocerki. Moskau 1964, S. 317. 258 Vgl. P. S. Novikov, Ob algoritmiceskoj nerazresimosti problemy tozdestva slov v teorii grupp. In: Trudy matematiceskogo instituía im. V . A . Steklova. X L I V . Moskau 1955. 259 M . N. Andrjuscenko/M. G . Djukova/Ju. M. Lotman, Lekcii. In: Naucnye doklady vyssej skloy. Filosofskie nauki, 1967, Nr. i, S. 149. ^ L u c i e n Sève, Méthode structurale et méthode dialectique. In: L a Pensée, 1967, Nr. 135, S. 189. 261 Wladimir I. Lenin in: Leninskij sbornik. Band 1 1 . Moskau-Leningrad 1929, S. 384. 262 Vgl. I. Novik, Kibernetika. Filosofskie i sociologiceskie problemy. Moskau 1963, S. 15 f. u. 95. 263 Marx/Engels, Werke. Band 23, S. i6ff. 264 Vgl. Lucien Sève in: Problemy mira i socializma, 1971, Nr. 5, S. 87; Nr. 6, S. 82 f. 265 Anknüpfend an die Arbeiten von Jean Piaget, versuchte der französische Soziologe Lucien Goldmann (1913-1970) die Konzeption vom „genetischen Strukturalismus" auf die Literaturwissenschaft anzuwenden. Goldmann entwickelte eine Methode, die eine Verbindung zwischen „Strukturalismus" und „Marxismus" anstrebt. Indem Goldmann von der Ermittlung der Textstrukturen - von ihm „Verstehen" genannt - zu deren Eingliederung in übergeordnete Struktureinheiten (die Weltanschauung einer bestimmten sozialen Gruppe, die sozialökonomische Realität) weitergeht - von ihm „Erklären" genannt - , will er sowohl einen unhistorischen formalistischen Strukturbegriff als auch die vulgärsoziologische Suche nach Äquivalenten auf der Ebene der manifesten Inhalte überwinden. Vgl. Lucien Goldmann, Pur une sociologie du roman. Paris 1964. Zur Kritik am genetischen Strukturalismus vgl. u. a. Robert Weimann, Historische „Bedeutungskritik" (Lucien Goldmann). In: Literaturgeschichte und Mythologie. Berlin-Weimar 1972, S. 297 ff. 5 co
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Jean Piaget, L e structuralisme. Paris 1968, S. 1 2 1 . Vgl. Lucien Sève in: Problemy mira i socializma, 1971, Nr. 6, S. 82. 268 Vgl. Les lettres françaises vom 14. 2. 1968. 269 L . Dolezel, Verojatnostnyj podchod k teorii chudozestvennogo stilja. In: Voprosy jazykoznanija, 1964, Nr. 2, S. 29. 2,0 Boris S. Mejlach, Predmet i granicy literaturovedenija kak nauki. In: Voprosy metodologii literaturovedenija. Moskau-Leningrad 1966, S. 1 3 7 - 1 3 8 . 271 Vgl. A . A . Michajlov, Est' o cem posporit'. In: Voprosy literatury, 1970, Nr. 1 1 , _ S. 32. 272 Sergej Êjzenstejn, Izbrannye proizvedenija v sesti tomach. Band 3. Moskau 1964, 267
S- 33 fViktor B. Sklovskij, Tetiva. O neschodstve schodnogo. Moskau 1970, S. 44. 274 A . Gornfel'd, Mocart i Sal'eri. In: A . S. Puskin, Sobranie socinenij. Band 3. St. Petersburg 1909, S. 126.
273
Z u Problemen der semiotischen Strukturanalyse Übersetzt von Christel Schmidt 1
Il'ja Êrenburg, Ljudi, gody, zizn'. Band 5 und 6. Moskau 1966, S. 636. Vgl. zum Beispiel Jurij S. Stepanov, Semiotika. Moskau 1971. 3 Ferdinand de Sossjur, Kurs obscej lingvistiki. Moskau 1933, S. 81. 4 Vgl. I. I. Revzin, K razvitiju analogii mezdu jazykom kak znakovoj sistemoj i igroj v sachmaty. In: Tezisy dokladov I V Letnej skoly po vtoricnym modelirujuscim sistemam. Tartu 1970. 5 Michail B . Chrapcenko, Semiotika i chudozestvennoe tvorcestvo. Stat'ja pervaja. Iii: Voprosy literatury, 1971, Nr. 9, S. 81. 6 Lenin, Werke, Band 1. Berlin 1965, S. 110-338. 7 Ebenda, S. 130. 8 Ebenda, S. 1 3 0 - 1 3 1 . 9 Ebenda. 10 Fedor I. Buslaev, Istoriceskie ocerki russkoj narodnoj slovesnosti i iskusstva. Teil i. St. Petersburg 1861, S. 224. 11 Ebenda, S. 225. 12 Aleksandr N. Veselovskij, Istoriceskaja poétika. Leningrad 1940, S. 494, 500. 13 Vladimir Ja. Propp, Morfologija skazki. 2. Auflage, Moskau 1969, S. 18. 14 Petr G . Bogatyrev, Fol'klor kak osobaja forma tvorcestva. In: Petr G. Bogatyrev, Voprosy teorii narodnogo iskusstva. Moskau 1971, S. 381. 15 Ebenda. 16 Vgl. Petr G . Bogatyrev, Funkcie kroja na Moravskom Slovensku, o. O. 1937. 17 Vgl. unter anderem die Arbeiten von Petr Bogatyrev: Magiceskie dejstvija, ob2
301
rjady i verovanija Zakarpat'ja; Rozdestvenskaja elka v Vostocnoj Slovakii; Narodnyj teatr Cechov i Slovakov; Chudozestvennye sredstva v jumoristiceskom jarmarocnom fol'klore. - Ich möchte darauf hinweisen, daß der Terminus Spielmethode in der weitverbreiteten mathematischen Spieltheorie verwendet wird, die im Westen, besonders in den U S A , zur Modellierung sozialer Prozesse, vor allem außenpolitischer Beziehungen, zum Einsatz kommt (vgl. Arbeiten von A . Rappoport, H. Gatzkov, L . Bloomfield). 18 Vgl. Petr G . Bogatyrev, Funkcii lejtmotiva v russkoj byline. In: Petr G . Bogatyrev, Voprosy teorii narodnogo iskusstva, S. 432. 19 Ebenda. 20 Vgl. Jurij A . Filip'ev, Signaly ésteticeskoj informacii. Moskau 1971, S. 38 bis 39. 21 Dmitrij S. Lichacev, Poétika drevnerusskoj literatury. 2. ergänzte Ausgabe. Leningrad 1971, S. 95. 22 Neben diesen Namen sei der Vollständigkeit halber noch F. I. Buslaev genannt, der die interessante Arbeit über den Bart in der altrussischen Kunst verfaßte: Istoriceskie ocerki russkoj narodnoj slovesnosti i iskusstva. 2. Teil. St. Petersburg 1861. 23 Dimitrij S. Lichacev, Poétika drevnerusskoj literatury, S. 95. 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 95. 26 Vgl. Problema kanona v drevnem i srednevekovom iskusstve Azii i Afriki. Sbornik statej. Moskau 1973. 27 Viktor M. Zirmunskij, Rifma, ee istorija i teorija. Petrograd 1923, S. 9. 28 Dieser Autor hat vor einer unvernünftigen Einbeziehung der Statistik gewarnt und betont, daß eine Zahl „nur die Quantität einer Erscheinung, aber bei weitem nicht deren Qualität charakterisiere". Vgl. dazu Literaturnaja mysl'. Teil 2. Petrograd 1923, S. 139-140. 29 Von Andrej N. Kolmogorov gehaltener Vortrag: Kombinatorika, statistika i teorija verojatnostej v stichoslozenii. Vgl. dazu E . Ermilova, Poézija i matematika. In: Voprosy literatury, 1962, Nr. 3; 1 . 1 . Revzin, Sovescanie v g. Gor'kom, posvjascennoe primeneniju matematiceskich metodov k izuceniju jazyka chudozestvennoj literatury. In: Strukturno-tipologiceskie issledovanija. Sbornik statej. Moskau 1962. 30 Vgl. auch die Serie: Trudy po znakovym sistemam. Tartu seit 1964; sowie Jurij M. Lotman, Analiz poéticeskogo teksta. Struktura sticha. Leningrad 1972; sowie die Arbeit von Z. G . Mine über die Lyrik Aleksandr Bloks. 31 Vgl. dazu insbesondere Strukturno-tipologiceskie issledovanija. Sbornik statej. Moskau 1962, S. 286. 32 Oleksandr I. Bilec'kyj, Zibrannja prac'. U 5-i tomach. Teil 3. Kiew 1966, S. 36. 33 Ebenda, S. 16. 3/ 'Vgl. Jurij N . Tynjanov, Problema stichotvornogo jazyka. Moskau 1965. S. 71 bis 72. 302
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Ebenda, S. 70. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. v. Fritz Bergemann. Leipzig 1968, S. 203. 37 Vgl. Boris N. Golovin, Opyt verojatnostno-statisticeskogo izucenija nekotorych javlenij istorii russkogo literaturnogo jazyka X I X - X X w . In: Voprosy jazykoznanija, 1965, Nr. 3. Vgl. auch Dmitrij D. Blagoj, Ot Kantemira do nasich dnej. Teil 2. Moskau 1973, S. 348-359. - Blagoj wies darauf hin, daß Fet' und vor ihm bereits Puskin zu den verblosea poetischen Konstruktionen (schon äußerste „Gegenständlichkeit"!) tendierten. 38 Viktor M. Zirmunskij, Voprosy teorii literatury. Stat'i 1916-1926. Leningrad 1928, S. 48. 39 Vgl. M. V. Kankava, O vlijanii V. I. Dalja na stil* pisatelej etnograficeskoj skoly; V. F. Sokolova, Esce raz o fol'klornych istocnikach romana P. I. Mel'nikovaPecerskogo „V lesach". In: Poetika i stilistika russkoj literatury. Pamjati akademika Viktora Vladimirovica Vinogradova. Sbornik statej. Leningrad 1971. 40 Vgl. Michail M. Bachtin, Tvorcestvo Fransua Rable i narodnaja kul'tura Srednevekov'ja i Renessansa. Moskau 1965. 41 Ebenda. 42 Michail M.'Bachtin, Problemy poetiki Dostoevskogo. 2. überarb. und ergänzte Auflage. Moskau 1963, S. 170. 43 Vjaceslav Vs. Ivanov, O primenenii tocnych metodov v literaturovedenii. In: Voprosy literatury, 1967, Nr. io, S. 120. 44 Aleksandr P. Dovzenko, Sobranie socinenij v 4-x t. Teil 1. Moskau 1966, S. 33 bis 34. 45 Michail B. Chrapcenko, Semiotika i chudozestvennoe tvorcestvo. In: Voprosy literatury, 1971, Nr. 10, S. 71-72. ^Alexander S. Puschkin, Ein Lesebuch für unsere Zeit. Von Marianne Schmidt, Konrad Schmidt und Gerhard Ziegengeist. Weimar 1958, S. 441. 47 Vgl. I. I. Revzin, O celjach strukturnogo izucenija chudozestvennogo tvorcestva. In: Voprosy literatury, 1965, Nr. 6. 48 Vjaceslav Vs. Ivanov, O primenenii tocnych metodov v literaturovedenii, S. 120 bis 121. 49 V. N. Toporov. Poetika Dostoevskogo i archaicnye schemy mifologiceskogo myslenija. („Prestuplenie i nakazanie"). In: Problemy poetiki i istorii literatury. Saransk 1973, S. 104-105. 50 Ebenda. 51 Ebenda. 32 So gelang es dem französischen Strukturalisten Claude Bremond niefit, die morphologische Methode Wladimir Propps auf die „literarische Erzählkunst insgesamt" auszudehnen. Vgl. dazu: Semiotika i iskusstvometrija. Moskau 1972. 53 Lidija M. Zemljanova, Sovremennaja amerikanskaja fol'kloristika. Teoreticeskie napravlenija i tendencii. Moskau 1975. 36
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Juríj V. Bondarev, Celovek. Vojna. Podvig. In: Literaturnaja gazeta vom 14. März 1973. 53 Lenin, Werke. Band 1, S. 110-338. 56 Ebenda, S. 131. 57 Ebenda, S. 132. 58 D . P. Gorskij, Ot opisatel'noj semiotiki k semiotike teoreticeskoj. In: Voprosy filosofii, 1969, Nr. 10, S. 80. 59 Michail B. Chrapcenko, Semiotika i chudozestvennoe tvorcestvo. In: Voprosy literatury, 1971, Nr. 9, S. 82. 00 Diese Meinung vertritt beispielsweise Mossej S. Kagan, siehe dazu seinen Beitrag in: Voprosy literatury, 1969, Nr. 2, S. 131. E. Meletinskij ist im Gegensatz dazu der Ansicht, daß sich Schwierigkeiten ernsterer Natur für die semiotischstrukturanalytische Methode „gerade auf den höheren, spezifisch literarischen Ebenen und nicht auf den rein linguistischen ergeben würden". Vgl. E. Meletinskijs Beitrag in: Inostrannaja literatura, 1973, Nr. 1, S. 210. 01 Aleksandr N. Veselovskij, O metode i zadacach istorii literatury kak nauki. In: Aleksandr N. Veselovskij, Istoriceskaja poétika, S. 51. 62 Viktor B. Sklovskij, Tetiva. O neschodstve schodnogo. Moskau 1970, S. 326. Im wesentlichen gelangte auch Jurij M. Lotman zu diesem Ergebnis. Er schlug vor, die „Nichtreproduzierbarkeit" in der Kunst als „Funktion bestimmter Reproduzierbarkeiten" zu betrachten. Vgl. dazu: Jurij M. Lotman, Struktura chudozestvennogo teksta. Moskau 1970. S. 101. - Der Wissenschaftler will mit dieser Formulierung die Bedeutung des Wiederkehrenden, Sich-Wiederholenden anheben, um damit die Unwiederholbarkeit zu betonen, da die Wiederholung in ihrer neuen Funktion bereits nicht mehr sich selbst adäquat ist und strenggenommen aufhört, Wiederholung zu sein. 63 Aleksandr N. Veselovskij, O metode i zadacach istorii literatury kak nauki. In: Aleksandr N. Veselovskij, Istoriceskaja poétika, S. 51.
Kunstwissenschaft. Suche nach einer Synthese. Zur Methodologie komplexer Forschung Übersetzt von Christel Schmidt 1
Petr N. Fedoseev, Plodotvornaja iniciativa. In: Chudozestvennoe i naucnoe tvorcestvo. Sbornik statej. Leningrad 1972, S. 6. 2 Dmitrij F. Markov, Sravnitel'no-istoriceskie i kompleksnye issledovanija v obscestvennych naukach. In: Voprosy istorii, 1973, Nr. 10. 3 Vgl. Jurij A. Lukin, Lenin i teorija socialisticeskogo iskusstva. Moskau 1973; Jurij A. Lukin, Leninskie principy analiza chudozestvennych javlenij i sovremennost*. Moskau 1975. 304
4
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D . Berlin 1974, S. 189. 5 Lenin, Werke. Band 21. Berlin 1968, S. 45-46. 0 Vgl. V . Kuz'min, Nekotorye problemy upravlenija socialisticeskim obscestvom. In: Kommunist, 1974, Nr. 8. 7 Vgl. K P S S v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i Plenumov C K . 8. Auflage. Band 9. Moskau 1972. 8 Dmitrij S. Lichacev, Drevneslavjanskie literatury kak sistema. In: Slavjanskie literatury. V I Mezdunarodnyj s-ezd slavistov (Praga, avgust 1968). Doklady sovetskoj delegacii. Moskau 1968, S. 5. 9 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik. Band Stuttgart 1953, S. 245. 10 Istorija sovetskoj mnogonacional'noj literatury. 6 Bände. Moskau 1 9 7 0 - 1 9 7 4 ; Istorija sovetskogo dramaticeskogo teatra. 6 Bände. Moskau 1 9 7 1 ; Istorija muzyki narodov SSSR. 5 Bände. Moskau 1970; Istorija sovetskogo kino. 1917 do .1957. 4 Bände. Moskau 1969; Istorija iskusstva narodov SSSR. 9 Bände. Moskau 1971. 11 Redaktionelles Vorwort in: Istorija sovetskoj mnogonacional'noj literatury. Band 1. Moskau 1970, S. 5. 12 Vgl. Nina S. Nad-jarnych, Tipologiceskie osobennosti realizma. Moskau 1972. 13 Vgl. Iskusstvo, revoljuciej prizvannoe. 2 Bände. Moskau 1972. 14 Moissej S. Kagan, Morfologija iskusstva. Istoriko-teoreticeskoe issledovanie vnutrennego stroenija mira iskusstva. Teil 1 - 3 . Leningrad 1972, S. 1 1 - 1 3 . 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, S. 244. 16 Moissej S. Kagan, Morfologija iskusstva, S. 1 1 - 1 3 . 17 Dmitri S. Lichatschow, Der Mensch in der altrussischen Literatur. Dresden 1975. 18 Grigorij N. Bojadziev, Vecno prekrasnyj teatr epochi Vozrozdenija. Italija, Ispanija, Anglija. Leningrad 1973. 19 Dmitri S. Lichatschow, Der Mensch in der altrussischen Literatur, S. 9. 20 Grigorij N. Bojadziev, Vecno prekrasnyj teatr epochi Vozrozdenija, S. 15. 21 Vgl. Russkaja chudozestvennaja kul'tura konca X I X - nacala X X veka (1895 do 1907). Band 1. Moskau 1968; Band 2. Moskau 1969. 22 Vgl. dazu beispielsweise Vasiiij V. Novikov. Dvizenie zizni - razvitie iskusstva. In: Voprosy literatury, 1974, Nr. 7. 23 Vgl. Anna G . Obrazcova, Bernard Sou i evropejskaja teatral'naja kul'tura na rubeze X I X - X X vekov. Kapitel: „Muzykal'naja partitura" spektaklja Bernarda Sou. Moskau 1964. 24 Vgl. Vera A. Vasina-Grossman, Muzyka i poeticeskoe slovo. Moskau 1972. 25 Vgl. Anatoli Jegorow, Ästhetik und gesellschaftliches Leben. Berlin 1976, S. 147-148. 26 O. Svidkovskij, Iskusstvo vzaimodejstvija. In: Sintez iskusstv i architektura obscestvennych zdanij. Sbornik statej. Moskau 1974, S. 12.
305
21
Michail B. Chraptschenko, Schriftsteller, Weltanschauung, Kunstfortschritt. Berlin 1975. 28 Vgl. Michail B. Chrapcenko, Razmyslenija o sistemnom analize literatury. In: Voprosy literatury, 1975, Nr. 3. 29 Boris L. Sutschkow, Historische Schicksale des Realismus. Berlin 1972. 30 Dmitri F. Markow, Zur Genesis des sozialistischen Realismus. Erfahrungen und Leistungen süd- und westslawischer Literaturen in den zwanziger und dreißiger Jahren. Berlin 1975. 31 Dmitrij F. Markov, Voprosy teorii i metodologii sravnitel'nogo izucenija slavjanskich literatur. In: Sravnitel'noe izucenie slavjanskich literatur. Sbornik statej. Moskau 1973, S. 39. 32 Lenin, Werke. Band 10. Berlin 1959, S. 31 f. ^ W l a d i m i r I. Lenin o literature i iskusstve. 3. ergänzte Auflage. Moskau 1967, S. 653. Vgl. auch Lenin, Über Kunst und Literatur. Moskau 1977, S. 289f. 34 Ferenc Tökei, Lenin i osnovnye voprosy kul'turnoj revoljucii. In: Voprosy filosofii, 1970, Nr. 10, S. 23. 35 Béla Köpeczi, Ideen, Geschichte, Literatur. Berlin 1979. 36 Izkustvo, partija, narod. Hrsg. von A . Obretenov und A . Lilov. Sofia 1971. 37 Anatoli Jegorow, Ästhetik und gesellschaftliches Leben. Berlin 1976. 38 Boris I. Arvatov, Sociologiceskaja poétika. Moskau 1928, S. 16. 39 Es existiert übrigens auch ein „umgekehrter Zusammenhang", und zwar; wenn die Soziologie nach allgemeinen theoretischen Verallgemeinerungen strebt (in welchem Maße und mit welchem Erfolg, sei dahingestellt), stützt sie sich auf Fakten, die nicht direkt aus dem Leben gegriffen sind, sondern als mittelbare Reflexion der Kunst gelten. 40 Vgl. Simpozium po kompleksnomu izuceniju chudozestvennogo tvorcestva. Leningrad 1963; Tvorcestvo i sovremennyj naucnyj progress. Leningrad 1966; Chudozestvennoe i naucnoe tvorcestvo. Leningrad 1962; Ritm, prostranstvo i vremja v literature i iskusstve. Leningrad 1974. 41 Norbert Wiener, Mathematik, mein Leben. Düsseldorf-Wien 1962. 42 Niels Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Teil 1. 2. Aufl. Braunschweig 1964, S. 80. 43 Vgl. Lenin, Werke. Band 38. Berlin 1968, S. 335. 44 Vgl. den Artikel „Algebra und Harmonie" im vorliegenden Band. 45 Vgl. auch Max Bense, Semiotik, Allgemeine Theorie der Zeichen. Baden-Baden 1967; Abraham Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln 1971. 4G Vladislav Z. Kelle, Rol' obscestvennoj nauki v upravlenii social'nymi processami. In: Kommunist, 1974, Nr. 7, S. 56. 47 Vgl. Boris S. Mejlach, V. P. Socivko, Ob ispol'zovanii élektronnych informacionno-logiceskich masin v literaturovedenii i iskusstvoznanii. In : Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka, 1966, Nr. 4; Boris V . Birjukov, 306
Efim S. Geller, Kibernetika v gumanitarnych naukach. Kapitel : Kibernetika v issledovanijach chudozestvennoj kul'tury. Moskau 1973. 48 Vgl. Sava Sabouk, Strukturalistická taktika. In: Estetika, 1972, Nr. 3. 49 Wilber S. Scott, Five Approaches of Literary Criticism. New York 1972. 50 Eine dieser Klassifikation der Tendenzen und Methoden ähnelnde Einteilung schlägt in der englischen Literaturkritik Allan Rodway vor. Vgl. dazu: Allan Rodway, The Truths of Fiction. London 1970. 51 Vgl. Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren. München 1966.
Die revolutionäre Erneuerung der Welt und die Literatur von heute Übersetzt von Birgit Mai. Dieser Artikel wurde entnommen aus: Kunst und Literatur, 1979, Nr. 1 und 2, und redaktionell bearbeitet. Die russische Fassung erschien in: Moskva, 1978, Nr. 4. I
Ivan I. Anisimov, Sovremennye problemy realizma. Moskau 1977, S. 61. Leonid I. Breshnew, Auf dem Wege Lenins. Band 4. Berlin 197$, S. 428. 3 Literaturwissenschaftler Bulgariens, Ungarns, der D D R und der UdSSR nannten ihr gemeinsames Werk „Literatura v izmenjajuscemsja mire" (Moskau 1975)4 Dmitrij S. Lichacev, Razvitie russkoj literatury X - X V I I vekov. Épochi i stili. Leningrad 1973, S. 6. 5 Presse der Sowjetunion, 1976, Nr. 13, S. 293. 6 Alexander A. Block, Ausgewählte Werke. Band 3. Berlin 1978, S. 109 f. 7 Programm und Statut der KPdSU. Berlin 1961, S. 113. 8 Lenin, Werke. Band 9. Berlin 1966, S. 103. 9 Tschingis Aitmatow, Über die Natur des Nationalen in der modernen Literatur und Kunst. In: Tschingis Aitmatow, Abschied von Gülsary. Der weiße Dampfer. Über Literatur. Berlin 1974, S. 340 f. 10 X X V . Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU. Berlin 1976, S. 9. II Zu einigen theoretisch-methodologischen Aspekten dieses Problems siehe das Kollektivwerk des Gor'kij-Instituts für Weltliteratur „Obscee i osobennoe v literaturach socialisticeskich stran Evropy", Moskau 1977. Vgl. auch das Kollektivwerk des Instituts für Slawistik und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR „Novye javlenija v literature evropejskich socialisticeskich stran", Moskau 1975, in dem speziell Prosawerke der sozialistischen Länder Europas der 70er Jahre untersucht werden. 12 Hana Hrzalová in: Rudé pravo vom 14. 8.1976. 13 Obwohl ein bedeutender Teil der jugoslawischen Kritik die „Wiederbelebung 2
307
des Realismus" mit Befriedigung hervorhebt, sind noch immer die Stimmen jener laut, die das Streben der Schriftsteller, sich den modernistischen Einflüssen zu entziehen, ablehnen. Vgl. dazu den Artikel von D . Nedl'kovic in: Sovremennik, 1975, Nr. 12, in dem die Nachkriegsliteratur Jugoslawiens im Kontext der, so der Autor, „Tragödie der gegenwärtigen Kunst" betrachtet wird. 14 X X V . Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht des Z K der K P d S U , S. 36. 15 Ebenda, S. 37. 16 Vgl. I. Mlecina, Literatura i „obscestvo potreblenija". Zapadnogermaskij roman 60-ch - nacala 70-ch godov. Moskau 1975. 17 In dieser Zeitschrift wurde übrigens eine Diskussion über den Realismus durchgeführt, der als „im besten Sinne des Wortes demokratische und teilweise sozialistische" Richtung in der Literatur, als „besonders aussichtsreiches Element" ihrer Entwicklung betrachtet wird. Vgl. Kürbiskern, 1973, Nr. 4. 18 Georgij Andzaparidze, Vsmatrivajas' v ocevidnoe. In : Molodye o molodych. Moskau 1976, S. 217. 19 A . S. Muljarcik, Sud'by molodeznógo dvizenija i amerikanskij roman pervoj poloviny 70-ch godov. In: Amerikanskaja literatura i obscestvenno-politiceskaja bor'ba. 60-e - nacalo 70-ch godov X X veka. Moskau 1977, S. 87. 20 Harvé Bazin, Ce que je crois. Paris 1977, S. 200. 21 Vgl. Michail B. Chrapcenko, Literatura i iskusstvo v sovremennom mire. In: Novyj mir, 1977, Nr. 9. 22 Lenin, Werke. Band 31. Berlin 1966, S. 16. 23 Vgl. A. Zverev, N a puti k gorodu celoveka. In: Inostrannaja literatura, 1976, Nr. 6. 24 Encyclopaedia Universalis. Band 1 1 . Paris 1971, S. 137. 25 Philippe Sollers in: L a Nouvelle Critique, 1967, Nr. 8-9, S. 51. 26 Edoardo Sanquineti, zitiert nach: Neoavangardistskie t eceni ja v zarubeznoj literature 1950-1960 gg. Moskau 1972, S. 228. 27 Philippe Sollers, Logiques. Paris 1968, S. 229. 28 Vgl. E . Mascitelli, Il marxismo e la funzione della cultura. Mailand 1972. 29 Hans Magnus Enzensberger in: Kursbuch, 1968, Nr. 15, S. 176. 30 T. V . Balasova, Dvizenie francuzskogo romana. In : Sovremennyj revoljucionnyj progress i progressivnaja literatura (1960-1970-6 gody). Moskau 1976, S. 48. 31 Vgl. Jean-Paul Sartre, Situations. X. Politique et autobiographie. Paris 1976. 32 V. Kutejscikova/I. Terterjan, Vvedenie. In: Chudozestvennoe svoeobrazie literatur Latinskoj Ameriki. Moskau 1976, S. 3-4. 33 José Carlos Mariàtegui, Obras completas. Band 3. Lima 1959, S. 164. 34 X X V . Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht des Z K der K P d S U , S. 16. 33 Ebenda, S. 15. 36 Vgl. Sovremennye literatury Afriki. Severnaja i Zapadnaja Afrika. Moskau 1973 ; Sovremennye literatury Afriki. Vostocnaja i Juznaja Afrika. Moskau 1974. 37 Dieser komplizierte, vielschichtige Prozeß wird am Schaffen der bedeutenden 308
algerischen Gegenwartsschriftsteller Kateb Yacine und Mohammed Dib in der Monographie von G . Ja. Dzugasvili „Alzirskij frankojazycnyj roman" (Moskau 1976) untersucht. 38 1 . D . Nikiforova, Afrikanskij roman. Genezis i problemy tipologii. Moskau 1977, S. 539 Vgl. Sovremennye literatury Afriki. Severnaja i Zapadnaja Afrika. Moskau 1973, S. 188. 40 Robert Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie. Leipzig 1972, S. 294 f. 41 Ebenda, S. 304, 309. 42 Wilhelm E . Mühlmann, Bestand und Revolution in der Literatur. Ein Versuch. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973, S. 110. 43 Vgl. Marxism. Communism and Western Society. A Comparative Encyclopedia. E d . by C.-D. Kernig. Band 1-8. New York 1972-1973. 44 Lenin, Werke. Band 22. Berlin i960, S. 67. 45 Ebenda. 46 Lenin, Werke. Band 20. Berlin 1968, S. 196. 47 1 . G . Neupokoeva, Istorija vsemirnoj literatury. Problemy sistemnogo i sravnitel'nogo analiza. Moskau 1976, S. 296. 48 Georgi I. Kunicyn, Politika i literatura. Moskau 1973, S. 333. 49 N . I. Konrad, Zapad i Vostok. Stat'i. Moskau 1972, S. 432. 50 Petr V . Palievskij, Putì realizma. Literatura i teorija. Moskau 1974, S. 197. 51 Vgl. Sovremennye problemy socialisticeskogo realizma. Ésteticeskaja suscnost' metoda. Moskau 1976. 52 Dmitrij Markov, Istoriceski otkrytaja sistema pravdivogo izobrazenija zizni. In: Voprosy literatury, 1977, Nr. 1, S. 40. 53 Anatoli G . Jegorow, Ästhetik und gesellschaftliches Leben. Berlin 1976, S. 357. 54 X X V . Parteitag der K P d S U . Rechenschaftsbericht des Z K . Berlin 1976, S. 5.
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Paris 1935 Erster Internationaler Schrifistellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936
Einleitung und Anhang von Wolfgang Klein 1982. 524 Seiten - 29 Abbildungen auf 16 Tafeln - 8° 32,- M ; Ausland 48,- M Bestell-Nr. 753 933 7 (6545) Unter der Losung „Verteidigung der Kultur" fand vom 21. bis 25. Juni 1935 in Paris ein großer internationaler Schriftstellerkongreß statt. Drohende faschistische Gefahr und antiimperialistische Massenaktionen in vielen Ländern bewogen auch Schriftsteller und Kulturschaffende zur Positionsbestimmung und Parteinahme. E s trafen sich bürgerliche Demokraten und Kommunisten, Avantgardisten und proletarische Autoren, um im Zeichen der Volksfrontpolitik die Kräfte im Kampf gegen den Imperialismus und für eine menschliche Gesellschaft zu sammeln. Diese Dokumentation stellt die auf dem Pariser Schriftstellerkongreß gehaltenen Reden vor. Sie will den historischen Platz des Kongresses und die Auseinandersetzungen um ihn verdeutlichen und damit Materialien für die umfassendere Erforschung der internationalen revolutionären Literatur unseres Jahrhunderts bereitstellen. Deren Traditionen sind inzwischen selbst zu einem Ort der ideologischen Auseinandersetzung geworden. Die Kongreßreden werden ergänzt uurch zeitgenössische Zeitschriftenund Archivdokumente, insbesondere durch Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz, die im Jahre 1936 stattfand.
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Hans Kolbe Wilhelm Raabe Vom Entwicklungs- zum Desillusionierungsroman 1981. 240 Seiten - 8 Tafeln - 8° - 1 8 , - M ; Ausland 28,- M Bestell-Nr. 753 918 5 (6608) Der Autor setzt sich mit Mißdeutungen und Verzerrungen Raabes in der bürgerlichen Literaturwissenschaft auseinander und stellt dem ein marxistisches Raabe-Bild entgegen. Von besonderer Bedeutung ist die unter marxistischer Sicht geleistete Neuinterpretation wesentlicher Seiten des Raabeschen Spätwerkes, wie z. B. der Wandel im Heldentyp, die Auseinandersetzung mit Raabes sogenannten Sonderlingen, die Rolle vom Idyll als Fluchtort oder das Problem der Innerlichkeit. Es wird deutlich, daß Raabe scharfsichtig die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Reichsgründung 1871 erfaßte und in seinem Werk reflektierte.
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In diesen Aufsätzen untersucht der Autor die Spezifik der Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Politik und Ideologie. Er sondiert das Phänomen „Volksverbundenheit", setzt sich kritisch mit Strukturalismus, Formalismus und „New criticism" auseinander, erläutert Möglichkeiten und Grenzen semiotischer, kybernetischer und statistischer Analysemethoden in der Literaturwissenschaft und macht Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit der Literaturwissenschaftler mit Philosophen, Historikern, Soziologen und Psychologen.
JURI JAKOWLE WITSCH BAR AB ASCH, geb. 10. 8. 1931 in Charkow. Doktor der philologischen Wissenschaften, Professor. 1973—1975 Direktor des Instituts für die Geschichte der Künste, 1975—1977 Direktor des Gorki-Instituts für Weltliteratur der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, seit 1977 Erster Stellvertreter des Ministers für Kultur der UdSSR. Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Problemen der marxistischen Ästhetik, des sozialistischen Realismus und zur Geschichte der multinationalen Sowjetliteratur. Monographien u. a.: ,,,Für' und ,wider'. Polemische Bemerkungen", „Über Volksverbundenheit der Literatur", „Dichter und Zeit", „Dowshenko". Für sein hier vorgelegtes Buch „Fragen der Ästhetik und Poetik" erhielt er 1976 den Staatspreis der RSFSR.