Finanzwissenschaft [10., überarb. Aufl.] 9783486709605

Dieses Standardwerk der Finanzwissenschaft stellt die Ökonomie des öffentlichen Sektors umfassend und verständlich dar.

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Finanzwissenschaft [10., überarb. Aufl.]
 9783486709605

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Lehr- und Handbücher der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften Lieferbare Titel: Bamberg, Baur, Krapp: Statistik, 16. A. Brümmerhoff: Finanzwissenschaft, 10. A. Bühner: Betriebswirtschaftliche Organisationslehre, 10. A. Domschke: Logistik: Rundreisen und Touren, 5. A. Domschke, Drexl: Logistik: Standorte, 4. A. Domschke: Logistik: Transport, 4. A. May: Ökonomie für Pädagogen, 15. A. Oechsler: Personal und Arbeit – Einführung in die Personalwirtschaft, 9. A. Peters: Betriebswirtschaftslehre – Einführung, 12. A.

Finanzwissenschaft von

Dieter Brümmerhoff

Universität Rostock

10. Auflage

Oldenbourg Verlag München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Thomas Ammon Herstellung: Constanze Müller Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-70261-3 eISBN 978-3-486-70960-5

Vorwort zur 10. Auflage Die neue Auflage der Einführung in die Finanzwissenschaft stellt wieder eine wesentliche Überarbeitung dar, mit der neueren Entwicklungen in der Theorie und den Veränderungen der Institutionen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung getragen wird. Zunächst wird präzisiert und ergänzt, wie der Staat rechnerisch erfasst wird. Die Theorie des Marktversagens, des staatlichen Entscheidungsprozesses und des Staatsversagens wurden ausgebaut, die Haushaltsdarstellung ergänzt. Probleme der Konsolidierung öffentlicher Haushalte und der Begrenzung staatlicher Aktivität, aber auch Aufgabenerweiterung des Staates werden vertieft behandelt. Bei den Einnahmen wurden die Abschnitte zur Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Unternehmensbesteuerung und der Steuern im internationalen Zusammenhang sowie des Steuerwettbewerbs teilweise größeren Änderungen unterzogen. Überarbeitet wurde der Abschnitt zur Stabilisierung vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007. Aktualisiert wurde der Abschnitt zur öffentlichen Verschuldung, darunter der finanzpolitischen Nachhaltigkeit und der neuen verfassungsmäßigen Regelung der Schuldengrenze im deutschen föderalen System. Im Bereich finanzpolitischer Verteilungspolitik wurde insbesondere die Darstellung der sozialen Sicherung überarbeitet. Ferner wurde die Praxis des Finanzausgleichs in Deutschland auf den aktuellen Stand gebracht. Der Verfasser dankt Marion Hesse für die vielfältige technische Unterstützung. Einzelne Kapitel wurden, wie auch bei den vorhergehenden Auflagen, von Kollegen und Mitarbeitern durchgesehen. Ihre Kommentare und Vorschläge sind in die endgültige Fassung des Textes eingeflossen. Rostock, im Januar 2011

Dieter Brümmerhoff

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 10. Auflage Inhaltsverzeichnis Einleitung Literatur zur Finanzwissenschaft

V VII XXI XXV

Erster Teil: Grundlagen

1

1. Kapitel: Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft

1

1. 2. 3. 4.

1 2 3 4 4 6 8 9

Gegenstand Fragestellungen Die Abgrenzung des Staates Ziele und Mittel der Finanzpolitik a) Allgemeine Eigenschaften von Zielen und Mitteln b) Ziele der Finanzpolitik c) Finanzpolitische Instrumente d) Optimale Finanzpolitik

Literatur zum 1. Kapitel

9

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

10

1. Vorbemerkung 2. Der Staat in den VGR und in der Finanzstatistik a) Der Staat im einfachen Kreislaufbild b) Die Abgrenzung des Staates in den VGR c) Die Einnahmen und Ausgaben des Staates in den VGR d) Produziert der Staat überhaupt? e) Die Bewertung der Nichtmarktproduktion des Staates f) Unentgeltliche staatliche Leistungen: Zwischen- oder Endprodukte? g) Die Investitionen und die Abschreibungen des Staates h) Die Unterscheidung zwischen Einkommen- und Vermögensteuern sowie Produktions- und Importabgaben i) Abschließende Beurteilung der Verbuchung des Staates. Ansätze zur Ausweitung und Ergänzung der VGR j) Vergleich des Staates in VGR und Finanzstatistik 3. Indikatoren der staatlichen Aktivität a) Grundsätzliche Probleme der Indikatorenauswahl b) Ausgaben- und Einnahmenquoten als Indikatoren staatlicher Aktivität

10 10 10 12 13 19 19 21 23 24 25 26 28 28 29

VIII

Inhaltsverzeichnis

c) Verschiedene Ausgabenquoten d) Staatliche Einnahmenquoten und Defizitquote e) Reale versus nominale Staatsquoten f) Was zeigen VGR und Finanzstatistik nicht (richtig) über den Staat? 4. Die Entwicklung der Staatsquoten

30 32 33 35 37

Literatur zum 2. Kapitel

40

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

41

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

42

1. Pareto-Optimalität a) Das Allokationsziel b) Die Bedingungen optimalen Tauschs (Tauscheffizienz) c) Die Bedingungen optimaler Produktion (Produktionseffizienz) d) Das Gesamtoptimum 2. Die Hauptsätze der Wohlfahrtstheorie 3. Zusammenfassung

42 42 44 46 49 51 54

Literatur zum 3. Kapitel

55

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

56

1. Überblick: Rechtfertigung staatlicher allokativer Maßnahmen 2. Unvollkommener Wettbewerb a) Das Referenzmaß bei vollkommener Konkurrenz b) Monopolistisches Verhalten c) Sinkende Durchschnittskosten 3. Externe Effekte a) Interdependenz und Externalität b) Formen und Wirkungen externer Effekte c) Das Coase-Theorem d) Staatliche Handlungsalternativen 4. Öffentliche Güter a) Begriff des öffentlichen Gutes b) Optimale Bereitstellung c) Unterversorgung bei privater Bereitstellung d) Verfahren zur optimalen Bereitstellung e) Mischgüter 5. Einige Bedenken gegen das Konzept öffentlicher Güter 6. Meritorische Güter 7. Moralisches Risiko, Negativauslese und weitere Marktversagenstatbestände 8. Transaktionskosten privater und staatlicher Aktivität

56 57 57 58 60 63 63 64 69 70 79 79 80 84 86 93 96 96 97 102

Inhaltsverzeichnis

IX

9. Die Problematik der Maßnahmen zur Korrektur von Allokationsmängeln 10. Warum ist die staatliche Aktivität tatsächlich hoch?

103 106

Literatur zum 4. Kapitel

107

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

109

1. Einleitung 2. Modelle der direkten Demokratie a) Verschiedene Abstimmungsverfahren b) Die Wahl der Entscheidungsregel c) Entscheidungen über ein Programm bei Mehrheitswahl d) Entscheidungen über mehrere Programme 3. Die repräsentative Demokratie a) Elemente für Modelle der repräsentativen Demokratie b) Die Parteien und Politiker c) Die Bedeutung von Institutionen und institutionellen Regeln d) Die Wähler e) Die Bürokratie f) Die Interessengruppen g) Die Kosten von Regulierungen h) Korruption i) Weitere Akteure j) Politischer Prozess und Gleichgewicht 4. Zur Kritik an der Politischen Ökonomie

109 110 110 111 113 116 122 122 126 132 133 136 141 144 146 147 150 151

Literatur zum 5. Kapitel

151

6. Kapitel: Der Haushaltsplan und andere finanzwirtschaftliche Entscheidungsinstrumente

153

1. Der Haushaltsprozess in Deutschland a) Einleitung b) Kennzeichen und Bedeutung eines Haushaltsplans c) Der Haushaltsplan des Bundes d) Der Haushaltskreislauf 2. Flexibilisierung des Haushalts und überjährige Perspektiven a) Probleme kurzfristiger, isolierter Entscheidungen b) Besondere Gestaltungsmöglichkeiten und Reformen des Haushaltswesens c) Die Finanzplanung d) Folgewirkungen staatlicher Aktivität, insbesondere der Investitionen e) Die Programmplanung f) Die Nutzen-Kosten-Analyse g) Die Kosten-Wirksamkeits-Analyse

153 153 154 155 159 168 168 169 171 174 177 182 204

Literatur zum 6. Kapitel

205

X

Inhaltsverzeichnis

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

207

1. Würdigung der Theorie des Marktversagens 2. Elemente einer Theorie des Staatsversagens a) Die Bestimmung kollektiver Präferenzen b) Die Delegation von Entscheidungsbefugnissen c) Fehlende Messbarkeit staatlicher Leistungen und staatliches Monopol 3. Wahlentscheidungen versus Marktentscheidungen 4. Fazit 5. Ursachen wachsender Staatstätigkeit a) Erklärungsansätze b) Ergebnis 6. Modelle der Ausbeutung durch den Staat a) Marxistische Auffassungen b) Der Staat als Leviathan c) Unterschiedliche Beurteilung der staatlichen Aktivität 7. Möglichkeiten der Begrenzung und Reduzierung staatlicher Aktivität a) Konstitutionelle Reform b) Dezentralisierung c) Privatisierung d) Reformen, Strategien zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen 8. Das Beispiel „Subventionsabbau“ a) Der Subventionsbegriff b) Rechtfertigung von Subventionen c) Allokative Wirkungen von Subventionen d) Verteilungs- und beschäftigungspolitische Wirkungen von Subventionen e) Subventionen im deutschen Steinkohlenbergbau f) Politische Ökonomie der Subventionen g) Möglichkeiten des Abbaus von Subventionen h) Subventionen im Europäischen Rahmen

207 208 208 209 209 211 212 212 212 222 223 223 224 225 226 226 227 227 234 236 237 240 242 241 246 248 251 254

Literatur zum 7. Kapitel

255

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

257

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

257

1. Vorbemerkung 2. Die Vermögensverteilung a) Die Bedeutung des Vermögensbegriffs b) Die Bewertung der Vermögensobjekte 3. Die Einkommensverteilung a) Die Beziehung Einkommen – Vermögen b) Der Einkommensbegriff c) Verteilung zwischen wem? Die Frage der Bezugsgröße

257 257 257 260 261 261 261 262

Inhaltsverzeichnis

XI

d) Die Einkommensperiode 4. Die Verteilung sonstiger Größen: Konsum, Nutzen, Macht und Chancen 5. Anmerkungen zur Beurteilung einer (un)gleichen Verteilung (von Einkommen und Vermögen)

266 267

Literatur zum 8. Kapitel

269

9. Kapitel: Maßstäbe und praktische Ziele der (Um-)Verteilungspolitik, Inzidenz staatlicher Einnahmen und Ausgaben

270

268

1. Maßstäbe und ihre Realisierungschancen durch den Markt a) Ethische Grundpositionen (Interpretationen von Gerechtigkeit) b) Rechtfertigung der Verteilungspolitik mit konkretisierbaren Prinzipien 2. Praktische Ziele finanzpolitischer Verteilungspolitik 3. Verteilungswirkungen staatlicher Einnahmen und Ausgaben a) Inzidenzkonzepte b) Wirkungen auf die personelle Verteilung (empirische Ansätze der formalen Inzidenz)

270 270 272 281 282 282 283

Literatur zum 9. Kapitel

294

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte zur Beeinflussung der personellen Verteilung von Einkommen und Vermögen, Grenzen der Umverteilung

295

1. Finanzpolitische Ansatzpunkte 2. Vermögenspolitische Maßnahmen a) Überblick b) Umverteilung vorhandenen Vermögens c) Beeinflussung der Wirkung von Vermögensübertragungen d) Umverteilung über den Vermögenszuwachs e) Beeinflussung des Arbeitsvermögens (Bildungspolitik) 3. Einkommenspolitische Maßnahmen a) Der Staat als Arbeitgeber und Auftraggeber b) Veränderung des verfügbaren Einkommens: Einsatz mehrerer Instrumente c) Negative Einkommensteuer und Bürgergeld als Verteilungsinstrumente 4. Beurteilung und Grenzen der Umverteilung

295 297 297 298 298 300 301 303 303 304 309 315

Literatur zum 10. Kapitel

318

11. Kapitel : Theorie und Politik der sozialen Sicherung

320

1. Umfang und Struktur der sozialen Sicherung in Deutschland 2. Gestaltungsprinzipien der sozialen Sicherung 3. Sozialversicherung und private Versicherung

320 320 323

XII

Inhaltsverzeichnis

4. Begründungen für die Sozialversicherung 5. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) a) Formen der Alterssicherung in Deutschland b) Die GRV in Deutschland c) Analyse der gesetzlichen Rentenversicherung d) Die politische Ökonomie der GRV 6. Die gesetzliche Krankenversicherung a) Die Regelungen b) Analyse der GKV c) Die politische Ökonomie der GKV 7. Die Arbeitslosen- und die Pflegeversicherung a) Die Arbeitslosenversicherung b) Die gesetzliche Pflegeversicherung 8. Die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II a) Die Regelungen b) Wirkungen und Probleme 9. Die politische Ökonomie der sozialen Sicherung: Abschließende Bemerkungen 10. Die soziale Sicherung der Beamten 11. Soziale Sicherung im EU-Rahmen

325 329 329 329 332 342 343 343 345 352 354 354 357 359 359 360 364 365 366

Literatur zum 11. Kapitel

367

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

369

12. Kapitel: Soll der Staat stabilisierend eingreifen?

369

1. Das Stabilisierungsziel 2. Arbeitslosigkeit und Inflation: Folge von Politikversagen oder politisches Kalkül?

369 370

Literatur zum 12. Kapitel

374

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

375

1. Finanzpolitische Konzepte und Strategien a) Vorbemerkung b) Automatische Stabilisierungswirkungen c) Diskretionäre Fiskalpolitik d) Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007: Is Keynes back? 2. Maßstäbe zur Beurteilung der konjunkturellen Wirkungen öffentlicher Haushalte a) Der gesamte Budgetsaldo b) Das konjunkturelle und das strukturelle Defizit

375 375 375 379 383 384 384 385

Inhaltsverzeichnis

XIII

3. Institutionen a) Das Stabilitätsgesetz (StabG) b) Der Stabilitäts- und Wachstumspakt

387 387 388

Literatur zum 13. Kapitel

391

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

393

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

393

1. 2. 3. 4.

393 396 397 402 402 403 406 408 409 411 411 412 414 420

5. 6. 7. 8.

Begriff und Abgrenzung der Steuern Steuertechnische Begriffe Steuertariflehre Die Klassifizierung von Steuern a) Verschiedene Klassifizierungsmöglichkeiten b) Die Klassifikation nach dem Steuerobjekt Die Struktur des deutschen Steuersystems Die Steuerschätzung Anforderungen an ein gutes Steuersystem Steuerverteilungsprinzipien a) Verschiedene Steuerverteilungsprinzipien b) Das Äquivalenzprinzip c) Das Leistungsfähigkeitsprinzip d) Abschließende Beurteilung beider Prinzipien

Literatur zum 14. Kapitel

420

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

422

1. Die Wirkungen der Besteuerung und die Analysemethoden im Überblick 2. Preis- und Mengeneffekte der Besteuerung auf dem Gütermarkt a) Preis- und Mengeneffekte verschiedener Steuern bei Gewinnmaximierung b) Preis- und Mengeneffekte bei anderen unternehmerischen Zielsetzungen c) Preis- und Mengeneffekte von Sozialbeiträgen auf dem Arbeitsmarkt d) Würdigung der Partialanalyse der Besteuerung 3. Überwälzung in makroökonomischer und totalanalytischer Sicht a) Kreislaufmodell b) Allgemeine Gleichgewichtsmodelle c) Ergebnis 4. Effizienzeinbußen der Besteuerung a) Überblick b) Die Zusatzlast im Ein-Güter-Modell c) Wirkungen von Steuern auf die Konsumstruktur: Zwei-Güter-Fall d) Wirkungen auf die Konsum-Sparentscheidungen

422 425 426 434 437 439 440 440 443 452 452 452 453 454 459

XIV

5. 6.

7. 8. 9.

Inhaltsverzeichnis

e) Wirkungen auf das Arbeitsangebot f) Allokative Beurteilung von Steuern: Ergebnis Optimale Besteuerung a) Indirekte Besteuerung b) Direkte Besteuerung Die Wirkungen von Steuern auf private Investitionen a) Die Kapitalwertmethode ohne Besteuerung b) Die Berücksichtigung einkommensteuerlicher Maßnahmen c) Die Berücksichtigung von Investitionsprämien d) Abschließende Bemerkungen Steuern bei Risiko und Unsicherheit Steuerhinterziehung a) Theoretische Grundlagen b) Bedeutung der Steuerhinterziehung Transaktionskosten der Besteuerung

462 468 468 470 473 475 475 475 477 478 478 479 479 482 483

Literatur zum 15. Kapitel

485

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

487

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

487

1. Einleitung 2. Drei Einkommensteuerkonzepte a) Die synthetische Einkommensteuer b) Die Schedulensteuer, insbesondere Duale Einkommensteuer c) Die konsumorientierte Einkommensteuer 3. Merkmale einer Einkommensteuer vom SHS-Typ und ihre Umsetzung in der deutschen Einkommensteuer a) Gesamteinkommen als Gegenstand der Einkommensbesteuerung b) Einkommen als Nettogröße c) Keine Differenzierung nach Quellen und Bedingungen der Einkommenserzielung und nach Formen der Einkommensverwendung d) Besteuerung des Ist-Einkommens e) Die Einkommensperiode 4. Die Berechnung des steuerpflichtigen Einkommens in der deutschen Einkommensteuer a) Das Verfahren b) Was nicht zum Einkommen rechnet c) Die Ermittlung der Einkünfte d) Die Berücksichtigung bestimmter Arten von Einkommensverwendungen: Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen e) Die Berücksichtigung von Verlusten und Wertsteigerungen des Vermögens f) Beurteilung der Einkommensberechnung

487 487 488 490 491 492 492 493 493 494 494 495 495 497 497 500 503 505

Inhaltsverzeichnis

XV

5. Die steuerpflichtige Einheit (Berücksichtigung des Familienstandes) a) Alternativen b) Individualbesteuerung c) Haushaltsbesteuerung d) Ehegatten-Splitting e) Die Berücksichtigung von Kindern 6. Die Erhebungsformen der Einkommensteuer 7. Der Tarif der deutschen Einkommensteuer a) Der Aufbau b) Begründungen für den progressiven Tarif c) Progressiver Tarif, Wachstum und Inflation 8. Die Einkommensteuer als Teil der Unternehmensbesteuerung 9. Ergebnisse der Einkommensteuerstatistik 10. Abschließende Beurteilung der deutschen Einkommensteuer

506 506 507 507 508 509 510 512 512 513 515 516 517 520

Literatur zum 16. Kapitel

521

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer als Teil der Unternehmensbesteuerung

523

1. 2. 3. 4.

Die Unternehmensbesteuerung Alternativen der Körperschaftsbesteuerung Formen der steuerlichen Behandlung von Gewinnen der Kapitalgesellschaften Die deutsche Körperschaftsteuer a) Frühere Verfahren b) Die geltende Körperschaftsteuer 5. Beurteilung der Körperschaftsteuer

523 523 524 527 527 528 530

Literatur zum 17. Kapitel

536

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

537

1. Anknüpfungspunkte 2. Die Grundsteuer a) Der Aufbau der Grundsteuer b) Die Beurteilung der Grundsteuer 3. Die Gewerbesteuer a) Der Aufbau der Gewerbesteuer b) Die Beurteilung der Gewerbesteuer c) Reformvorschläge: Ersatz oder Revitalisierung der Gewerbesteuer

537 538 538 540 541 541 543 546

Literatur zum 18. Kapitel

549

XVI

Inhaltsverzeichnis

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

550

1. Begriff und Anknüpfungspunkte 2. Die deutsche Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) a) Der Steuergegenstand b) Vorumsatz- oder Vorsteuerabzug c) Steuersätze, -befreiungen und -ermäßigungen d) Die Beurteilung der Umsatzsteuer

550 552 552 553 554 556

Literatur zum 19. Kapitel

562

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

563

1. Allgemeines 2. Umweltsteuern (Ökosteuern) a) Begriff und Merkmale von Umweltsteuern b) Die Aufkommensverwendung der Ökosteuern c) Ökosteuern in einem allgemeinen Gleichgewichtsmodell d) Verteilungseffekte e) Die CO2-Steuer und die allgemeine Energiebesteuerung f) Kfz- und Mineralölsteuer als umweltpolitische Instrumente g) Ökologische Steuern in Deutschland 3. Die politische Ökonomie der Umweltsteuern, insbesondere bei globalen öffentlichen Gütern

563 565 565 566 567 571 571 572 573

Literatur zum 20. Kapitel

578

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

579

1. Der internationale Steuervergleich 2. Einige steuerpolitische Konsequenzen der internationalen Wirtschaftsverflechtung 3. Güterbesteuerung a) Steuern nach dem Ursprungsland- und dem Bestimmungslandprinzip b) Gerechtigkeitsaspekte beider Prinzipien c) Allokative Wirkungen beider Prinzipien d) Die Harmonisierung indirekter Steuern in der EU 4. Die Besteuerung internationaler Faktoreinkommen a) Das Wohnsitz- und das Quellenprinzip b) Beurteilung der Prinzipien hinsichtlich der Gerechtigkeit c) Beurteilung der Prinzipien unter weltweiter und nationaler Effizienz: Ein einfaches Modell d) Die Abstimmung der internationalen Besteuerung von Bruttoeinkommen e) Harmonisierung der direkten Steuern in der EU

579

576

580 581 582 583 583 587 592 592 592 594 597 599

Inhaltsverzeichnis

XVII

5. Steuerwettbewerb a) Begründungen für Steuerwettbewerb b) Nationalstaatliche optimale Politiken im Steuerwettbewerb c) Die Beurteilung der Modelle d) Internationale Steuerbelastungsvergleiche

599 599 601 605 606

Literatur zum 21. Kapitel

609

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

610

1. Politische Ökonomie der Besteuerung a) Bedeutung und Möglichkeiten von Steuerreformen b) Sind Steuerreformen nötig? c) Kriterien für Steuerreformen 2. Die Wahl der Bemessungsgrundlagen und Steuertarife a) Die Flat Tax b) Die persönliche Konsumsteuer (Ausgabensteuer) c) Die Duale Einkommensteuer 3. Keine systemneutrale Reform der Unternehmensbesteuerung

610 610 613 614 616 618 620 624 625

Literatur zum 22. Kapitel

626

Siebter Teil: Staatsverschuldung

627

23. Kapitel: Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung

627

1. 2. 3. 4. 5. 6.

627 627 629 631 632 634

Einleitung Formen, Struktur und Entwicklung der öffentlichen Verschuldung Indikatoren zur kurz- und mittelfristigen Analyse der Staatsverschuldung Die Staatsverschuldung im internationalen Vergleich Implizite Staatsschulden Hilfen und Bürgschaften aufgrund der Finanzkrise

Literatur zum 23. Kapitel

634

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

635

1. Einige Verschuldungstheorien a) Das klassische Paradigma b) Das keynesianische Paradigma c) Das neoklassische Paradigma d) Das ricardianische Paradigma e) Erweiterungen

635 635 636 637 638 641

XVIII

Inhaltsverzeichnis

f) Die falsche Sicht Staatlichen Sparens 2. Verschiedene Begriffe der Last der Verschuldung 3. Die langfristigen Wirkungen öffentlicher Investitionen 4. Finanzwirtschaftliche Langzeitfolgen der Staatsverschuldung a) Problemstellung b) Das Modell von Domar c) Differenzierungen der Ergebnisse des Domar-Modells 5. Interpersonelle Verteilungswirkungen

643 643 645 647 647 647 649 650

Literatur zum 24. Kapitel

651

25. Kapitel: Staatsverschuldung und Nachhaltigkeit

653

1. Politische Bestimmungsgründe der Staatsverschuldung 2. Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grenzen der Staatsverschuldung a) Die Begrenzungen der Verfassung vor der Reform des Art. 115 GG b) Die Maastricht-Kriterien und der Stabilitäts- und Wachstumspakt c) Die neue Schuldengrenze nach Art. 109, 115 GG d) Weitere Begrenzungsvorschläge e) Fazit 3. Eine wichtige Determinante der Nachhaltigkeit: die demographische Entwicklung 4. Die Messung des laufenden Defizits, der Nachhaltigkeitsansatz und die Generationenkonten a) Berechnung und Beurteilung des Defizits b) Die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik c) Dauerhafte Traglasten d) Generationenbilanzierung (Generational Accounting)

653 656 656 657 659 660 661

666 666 667 667 672

Literatur zum 25. Kapitel

677

Achter Teil: Der Rahmen eines föderativen Staates

679

26. Kapitel: Theoretische Grundlagen des Föderalismus

679

1. Einleitung 2. Föderalismus und Allokation a) Ein einfaches Modell b) Die erforderliche Finanzierung c) Skalenerträge der Bereitstellung öffentlicher Güter und Ballungskosten d) Interregionale Spillovers e) Das Tiebout-Modell f) Steuerwettbewerb

679 680 680 683 684 687 689 691

662

Inhaltsverzeichnis

3. 4.

5. 6. 7.

g) Allokationspolitische Konsequenzen des Tiebout-Modells und des Steuerwettbewerbs Föderalismus, Verteilung und Stabilisierung a) Die Zuweisung der Verteilungsaufgabe b) Die Zuweisung der Stabilisierungsaufgabe Die Theorie der Zuweisungen a) Formen der Zuweisungen b) Wirkungen verschiedener Zuweisungen c) Finanzkraftunterschiede Abschließende Beurteilung des normativen Modells Politische Ökonomie des Föderalismus Weitere Aspekte der (De) Zentralisierung

XIX

693 694 694 696 697 697 697 699 700 700 702

Literatur zum 26. Kapitel

703

27. Kapitel: Die Praxis des Föderalismus in Deutschland

704

1. Die deutsche Finanzverfassung a) Vorbemerkungen b) Die Aufgabenverteilung zwischen den Gebietskörperschaften c) Verteilung der Ausgaben auf die Gebietskörperschaften (Grundsatzregelung und Ausnahmefälle) d) Die Verteilung der Einnahmen nach der Finanzverfassung e) Die Stellung der Gemeinden in der deutschen Finanzverfassung f) Interregionale Kooperationen, Landkreise 2. Beurteilung des deutschen Föderalismus, politökonomische Aspekte a) Entscheidungsspielraum der einzelnen Länder und der Ländergemeinschaft b) Probleme der Mischfinanzierung im Besonderen c) Die Problematik des Finanzausgleichs d) Das bündische Prinzip und die Verschuldungsgrenzen des Grundgesetzes

704 704 704 705 707 715 720 721 721 722 724 726

Literatur zum 27. Kapitel

727

28. Kapitel: Föderalismus in der Europäischen Union (EU)

728

1. Begründungen für eine supranationale Ebene 2. Institutionen der EU 3. Der EU-Haushalt a) Überblick über den Haushalt b) Die Einnahmen c) Die Ausgaben 4. Die tatsächliche Aufgabenerfüllung 5. Eine eigene EU-Steuer, EU-Kreditaufnahme und insbesondere Gemeinschaftsanleihe

728 729 730 730 731 732 733 734

XX

Inhaltsverzeichnis

6. Das Europäische No-Bailout 7. Die deutsche Nettozahlerposition 8. Politökonomische Aspekte der EU

736 737 738

Literatur zum 28. Kapitel

741

Literaturverzeichnis

743

Stichwortverzeichnis

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Einleitung Der Staat greift auf vielfältige Weise in das Wirtschaftsgeschehen ein. Er gewährleistet wesentlich – direkt oder indirekt – die Versorgung mit Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialleistungen, trägt zur inneren und äußeren Sicherheit bei, erfüllt viele andere Aufgaben und beeinflusst durch seine Ausgaben, Steuern und anderen Einnahmen sowie durch Regulierungen die Entscheidungen der privaten Wirtschaftssubjekte. Angesichts der Komplexität und Interdependenz moderner Volkswirtschaften bleibt kein privater Bereich, der nicht von staatlichen Maßnahmen mehr oder weniger intensiv betroffen ist. Der Staat gibt Anreize für private Aktivitäten, indem er beispielsweise durch eine bestimmte Infrastruktur für die Ansiedlung von Unternehmen sorgt. Er kann aber auch etwa durch Subventionen Fehlentscheidungen von Unternehmen begünstigen oder durch Transfers das Arbeitsangebot beeinträchtigen, mit Steuern nicht nur Einnahmen erzielen sondern auch Verzerrungen herbeiführen oder sogar kriminelle Handlungen (z.B. Steuerhinterziehung) erleichtern. Positive und negative Anreize stärken oder behindern flexible Reaktionen auf Änderungen der Wirtschaftsdaten. Richtung und Dynamik der Volkswirtschaft werden also vom Staat wesentlich mitbestimmt. Vor diesem Hintergrund hat sich die Finanzwissenschaft (treffender in der Bezeichnung „Public Economics“) als ein Gebiet etabliert, das alle Aspekte der wechselseitigen Beziehungen zwischen Staat und Volkswirtschaft analysiert. Die Möglichkeiten des Staates, die Allokation der Ressourcen, die Einkommensverteilung und die konjunkturelle Entwicklung zu beeinflussen, beruhen insbesondere darauf, dass die öffentliche Hand Zwang ausüben kann. Im Folgenden wird untersucht, wann staatliches Handeln erforderlich bzw. nicht von Vorteil für die Volkswirtschaft ist. Es geht darum, ob und wie die staatliche Macht eingesetzt werden kann und wird, um die Ziele der Gesellschaft zu erreichen, wie Maßnahmen wirken und wie die empirisch nachgewiesenen staatlichen Aktivitäten nach Umfang, Struktur und Entwicklung erklärt werden können. Das vorliegende Lehrbuch behandelt die Grundlagen für die Analyse der Ursachen und Wirkungen staatlicher Entscheidungen in verschiedenen Bereichen ökonomischer Aktivität. Hierbei stehen die öffentlichen Finanzen, d.h. die Einnahmen und Ausgaben des Staates, im Vordergrund. Im ersten Teil werden Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft dargelegt. Die Finanzwissenschaft verbindet in der Regel die normative und die positive ökonomische Analyse. Nach Fragen der Abgrenzung des Staates werden die Ziele und Mittel der Wirtschaftspolitik allgemein und der Finanzpolitik im Besonderen behandelt. Traditionell werden drei Zielbereiche der Finanzpolitik – Allokation, Verteilung, Stabilisierung – unterschieden. Hier stehen die beiden ersten im Vordergrund. Der Stabilisierungsbereich wird kürzer behandelt, weil die Auseinandersetzung mit Stabilisierungspolitik mittlerweile vornehmlich in der Makroökonomie stattfindet. Abschließend werden statistische Rechnungen (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Finanzstatistik) erörtert, die über Umfang und Struktur staatlicher Aktivität Auskunft geben. Die Erfassung des Staates im volkswirtschaftlichen Rechnungswesen wird hier

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Einleitung

ausführlicher als üblich behandelt, u.a. weil daraus wichtige Eigenschaften des öffentlichen Sektors und die Schranken für empirisches Arbeiten deutlich werden. Im zweiten Teil geht es um die ökonomische Rolle des Staates unter allokativen Gesichtspunkten: Wie sollen die volkswirtschaftlichen Ressourcen auf den privaten und den öffentlichen Sektor, wie in beiden verteilt werden? Zunächst werden wohlfahrtstheoretische Grundlagen und das Konzept allokativer Effizienz des Marktmechanismus behandelt. Unter der Voraussetzung einer individualistisch ausgerichteten Gesellschaft wird die Rechtfertigung für allokative ökonomische Aktivitäten des Staates zunächst (a priori) darin gesehen, dass der Marktmechanismus bestimmte Optimalbedingungen verfehlt (Marktversagen). Anschließend werden Regeln untersucht, wie der Staat die aus Externalitäten und anderen Marktunvollkommenheiten verursachte Fehlallokation der Ressourcen korrigieren kann. Das gilt auch für die effiziente Versorgung mit öffentlichen Gütern. Von großer Bedeutung ist die Analyse des staatlichen Entscheidungsprozesses. Es werden theoretische Grundlagen, die Eigenschaften einfacher Abstimmungsmodelle und alternative Methoden der Entscheidungen u.a. über öffentliche Güter dargestellt. Nach Einzelabstimmungen in der direkten Demokratie werden Eigenschaften des staatlichen Entscheidungsprozesses in einer repräsentativen Demokratie behandelt. Dem folgt eine Darstellung des Haushaltsprozesses in Deutschland. Auch einige Verfahren (Mittelfristige Finanzplanung, Folgekostenrechnungen, Nutzen-KostenAnalyse, Planning-Programming-Budgeting-System), die zu mehr Rationalität der Haushaltsplanung beitragen sollen, werden behandelt. Analog zur Theorie des Marktversagens werden Argumente zur Beurteilung staatlicher Aktivität entwickelt: Der Staat verfügt häufig nicht über die erforderlichen Informationen, und ein Mechanismus fehlt, um die zuvor abgeleiteten Regeln zu realisieren. Staatliche Entscheidungen sind auch nicht kostenlos, und der Staat reagiert nicht optimal auf Marktversagen, weil die Entscheidungsträger in den politischen Prozess und seine Institutionen eingebunden sind. Häufig ist es eine empirische Frage, ob der Staat bessere allokative Ergebnisse als der Markt erzielt bzw. erzielen kann. Stets sind die Kosten des jeweiligen Prozesses zu vergleichen. Die Entscheidung zwischen staatlicher Versorgung und Marktmechanismus ist daher in der Regel eine Entscheidung zwischen unvollkommenen Alternativen. Die Mängel des staatlichen Allokationsprozesses sind die Basis einer Theorie des Staatsversagens. Der Staat kann durch seine Maßnahmen letztlich die Wohlfahrt der Bürger erhöhen, aber auch verschlechtern. Langfristig gesehen hat die staatliche Aktivität – gemessen an den öffentlichen Einnahmen- und Ausgabenquoten, wohl aber auch an den Regulierungen – zugenommen. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungen. Die tatsächliche Zunahme legt auch nahe zu prüfen, ob staatliche Aktivitäten zurückgefahren werden sollen und können. Daher werden Alternativen zu ihrem Abbau, darunter die Privatisierung öffentlicher Tätigkeiten behandelt. Das Beispiel der Subventionen zeigt, warum selbst umstrittene Aufgaben und Ausgaben so schwer zu beenden sind. Es ist aber in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob die mit Effizienzmängeln erfolgende Bereitstellung, Produktion

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und/oder Finanzierung durch den Staat jeweils privaten Lösungen – ggf. mit Regulierungen – vorzuziehen sind. Im dritten Teil werden verteilungspolitische Aspekte der staatlichen Aktivität untersucht. Im Hintergrund stehen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Je nachdem, wie sie definiert wird, fallen die den einzelnen Individuen zugewiesenen Gewichte unterschiedlich aus. Zunächst geht es um den Gegenstand der Verteilungspolitik: Was soll zwischen wem umverteilt werden? Dem werden einige Daten zur Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Bundesrepublik angefügt. Dann wird der Frage „Warum Verteilungspolitik?“ wieder im Sinne einer Suche nach a priori-Argumenten nachgegangen. Hier wird die Unsicherheit über verteilungspolitische Ziele, die fast nie explizit genannt sind (bei gleichzeitiger Vielfalt der existierenden und eingesetzten, vor allem finanzpolitischen Instrumente), deutlich. Wie kann eine gerechte Verteilung definiert und erreicht werden? Anschließend geht es um Möglichkeiten einer rationalen (Um-)Verteilungspolitik mit finanzpolitischen Mitteln. Was kann beeinflusst werden, und welche Mittel sind hierzu einzusetzen? Die staatlichen Einnahmen und Ausgaben können beabsichtigt oder unbeabsichtigt Auswirkungen auf die Verteilung haben. Die Kenntnis dieser Wirkungen der öffentlichen Finanzen ist Voraussetzung für eine rationale Verteilungspolitik. Die Wirkungen finanzpolitischer Maßnahmen werden unter der Bedingung der formalen Inzidenz und in einfachen Modellen hinsichtlich der materiellen Inzidenz untersucht. Dann geht es um mögliche Ansatzpunkte staatlicher Verteilungspolitik. Im letzten Kapitel dieses Teils werden Grundzüge der Theorie und Politik der sozialen Sicherung und hier speziell der Sozialversicherung behandelt. Einige Aspekte werden auch bei der Analyse der Wirkung finanzpolitischer Instrumente und der staatlichen Verteilungspolitik berührt. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Einnahmen und Ausgaben bei den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung werden die Sozialbeiträge nicht in einem gesonderten Teil (wie bei Steuern und öffentlicher Verschuldung) behandelt. Sie sind hier zusammen mit den sozialen Leistungen Gegenstand der Betrachtung. Auch wegen ihrer erheblichen finanziellen Bedeutung und institutioneller Besonderheiten werden die Sozialversicherungen gesondert behandelt. Der vierte Teil behandelt kurz die Frage, ob der Staat stabilisierend eingreifen soll. Sie wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet, sieht man von massiven weltweiten Einbrüchen wie der jüngsten Banken- und Wirtschaftskrise ab. Die knappen Ausführungen zu finanzpolitischen Stabilisierungsstrategien machen deutlich, worauf sich die Skepsis gegen eine Fiskalpolitik bezieht. Sie wird stärker, wenn die Theorie staatlicher Entscheidungen angewandt wird, um zu klären, inwieweit ein stabilitätsgerechtes Verhalten des Staates überhaupt erwartet werden kann. Der fünfte Teil stellt grundsätzliche Fragen der Besteuerung. Neben steuertechnischen Fragen geht es um die Ausgestaltung des Steuersystems: Wie sollen die Steuern auf die Bürger verteilt werden? Im Rahmen dieser normativen Problematik werden traditionell das Äquivalenz- und das Leistungsfähigkeitsprinzip behandelt. Dem schließt sich die (positive) Analyse der Wirkungen der Steuern auf die Preise und auf

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Einleitung

die Allokation der Ressourcen an. Die Preiseffekte verschiedener Steuern werden in mehreren mikroökonomischen Partialmodellen untersucht. Dann geht es um die Auswirkungen verschiedener Steuern auf die Entscheidungen der einzelnen Haushalte und Unternehmen bei ihrem Angebot und der Nachfrage nach Gütern und Faktoren. Steuern verursachen stets Wohlfahrtseinbußen. Da diese aber je nach Steuer unterschiedlich sein dürften, wird auch untersucht, welche Steuern diese Verluste möglichst gering halten (optimale Besteuerung). Im sechsten Teil geht es im die Darstellung und Analyse einzelner Steuern. Hier werden mit Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer die wichtigsten Steuern in Deutschland behandelt. Auch einzelne Gütersteuern, insbesondere Ökosteuern werden untersucht. Da die europa- und weltweiten Rahmenbedingungen die Besteuerung immer stärker bestimmen, wird dann in die Grundzüge der internationalen Besteuerung eingeführt. Abschließend geht es um die politische Ökonomie der Besteuerung und um Steuerreformen. Der siebte Teil beginnt mit einer Darstellung von Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung. Dem schließen sich die Theorie der Staatsverschuldung und die politische Ökonomie der öffentlichen Verschuldung an. Immer bedeutsamer wurde in den letzten Jahrzehnten die Frage der Nachhaltigkeit staatlicher Haushaltspolitik, darunter ihrer Messung und ihrer Durchsetzung. Schließlich wird die jüngst beschlossene und nach einem Übergang ab 2020 vollständig in Kraft tretende künftige Verschuldungsgrenze erläutert. Im achten Teil werden Grundlagen des Föderalismus zunächst auf nationaler Ebene behandelt. Es geht um die Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen auf verschiedene staatliche Ebenen und um Probleme der Mobilität. Im Mittelpunkt stehen allokative Aspekte, andere Zielbereiche werden nur kurz behandelt. Der Föderalismus ist ein wesentlicher Aspekt des Staates und führt in der Analyse der ökonomischen Wirkungen staatlicher Tätigkeiten zu Komplikationen, weil anstelle eines Gesamtstaates mehrere staatliche Ebenen berücksichtigt werden müssen. Nach der allgemeinen theoretischen Behandlung wird die in Deutschland bestehende Aufgaben-, Einnahmen- und Ausgabenverteilung auf verschiedene staatliche Ebenen (= Finanzausgleich) und die Umverteilung von Steuern zwischen Gebietskörperschaften verschiedener und gleicher Ebenen dargestellt. Abschließend wird der Föderalismus in der Europäischen Union behandelt. Das Buch konzentriert sich möglichst auf allgemeine Prinzipien, es bezieht sich aber speziell auf die Wirtschaft und insbesondere auf die institutionellen Bedingungen in Deutschland. Um Problembereiche deutlicher zu machen, ist die strenge Systematik an einzelnen Stellen durchbrochen. So werden etwa im Anschluss an die diskutierten verschiedenen Formen des allokativen Marktversagens bereits Möglichkeiten staatlicher Allokationspolitik behandelt, obwohl z.B. die Instrumente der Steuerpolitik erst später ausführlich dargestellt werden. Entsprechend wird bei der Verteilungspolitik und der Stabilisierungspolitik verfahren. Auch ist die Untersuchung der Wirkungen in mikroökonomischer Analyse weitgehend auf Steuern (und Transfers/Subventionen)

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beschränkt. Makroökonomische Aspekte werden nur kurz und vor allem im vierten Teil behandelt. Dieses Vorgehen lässt sonst nötige Wiederholungen vermeiden und erlaubt ein stärkeres Konzentrieren auf die angesprochenen Fragen. Die verwendeten Modelle sind in der Regel recht einfach, umfangreiche theoretische Erörterungen werden weitgehend vermieden. Literaturhinweise werden im Anschluss an die einzelnen Kapitel gegeben. Literatur zur Finanzwissenschaft a) Einige Lehrbücher Bei den folgenden Lehrbüchern handelt es sich um mehr oder weniger umfassende Gesamtdarstellungen der Finanzwissenschaft: Andel (1998), Atkinson/Stiglitz (1980), Blankart (2008), Cansier/Bayer (2003), Connolly/Munro (1999), Cullis/Jones (1998), Graf (2005), Hillman (2009), Hindriks/ Myles (2006), Iha (1998), Leach (2004), Musgrave/Musgrave/Kullmer (1-3, 1992/94), Myles (1995), Nowotny/Zagler (2009), Rosen (2007), Scherf (2009), Stiglitz (2000), Tresch (2002), Wellisch (2000a, I-III; 2000b) und Zimmermann/Henke/Broer (2009). Ein Lehrbuch, das sich auf die Staatsausgaben beschränkt, ist Corneo (2009). Auf die öffentlichen Einnahmen ausgerichtet sind Keuschnigg (2005) und Bohley (2003), auf die Steuern Homburg (2010) und Cansier (2004). b) Handbücher u.ä. Einschlägiges Werk ist das Handbuch der Finanzwissenschaft (HdF), das in vier Bänden in 3. Auflage (1977-1983) erschienen ist. Auch die früheren Auflagen sind gelegentlich von Bedeutung. Im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW) sind zahlreiche Artikel finanzwissenschaftlichen Problemen gewidmet. Es ist das Nachfolgewerk des Handbuchs der Sozialwissenschaften (HdSW), das viele auch jetzt noch interessante Artikel enthält. Als kürzeres Nachschlagewerk ist das Lexikon der Staats- und Geldwirtschaft von Recktenwald (1983) zu empfehlen. Ferner ist auf die Bände des von Auerbach/Feldstein (1985, 1987, 2002) herausgegebenen Handbook of Public Economics zu verweisen. c) Einige Zeitschriften Die älteste Zeitschrift, die insbesondere finanzwissenschaftlichen Themen gewidmet ist, ist das „Finanzarchiv“. Weitere Zeitschriften mit finanzwissenschaftlichem Schwerpunkt sind „Journal of Public Economics“, „Public Finance Review“, „National Tax Journal“, „International Tax and Public Finance“ und „Journal of Public Economic Theory“.

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Steuerwissenschaftliche Fragen mit Betonung des Steuerrechts und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, aber vielen Berührungspunkten zur Finanzwissenschaft, behandelt „Steuer und Wirtschaft“.

Erster Teil Grundlagen l. Kapitel Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft l. Gegenstand Finanzwissenschaft ist die ökonomische Analyse staatlichen Handelns (Public Economics oder Public Sector Economics). Es geht um die öffentliche Finanzwirtschaft und alle Aspekte der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Wirtschaft. Hierbei stehen Einsatz bzw. Verwendung der Einnahmen und Ausgaben des Staates im Mittelpunkt. Sie finden ihren rechnerischen Niederschlag (weitgehend) in den öffentlichen Haushaltsplänen. Die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben werden als – finanzpolitische – Instrumente eingesetzt, um bestimmte Ziele z.B. in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu erreichen. Eine Beschränkung auf die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben ist allerdings in vielen Fällen problematisch: S So wirkt die Erfüllung der Aufgaben des Staates je nach Instrumentenwahl (z.B. Steuern oder Auflagen) verschieden auf seine Budgets und kann mit unterschiedlichem Aufgaben- und Ausgabenzwang für den privaten Sektor einhergehen (Beispiele: Mitwirkungspflichten bei der Besteuerung oder bei der Erstellung von Statistiken). S In einigen Fällen führt eine Maßnahme nicht unmittelbar zu Einnahmen bzw. Ausgaben der öffentlichen Haushalte, wohl aber zu Mindereinnahmen (z.B. bei Freibeträgen) oder potenziellen Ausgaben (z.B. Bürgschaften), die geschätzt werden müssen. S Finanzpolitische Instrumente sind ferner Teil eines Spektrums unterschiedlicher Formen der Einflussnahme, die ineinander übergehen: direkte Kontrollen (Rationierung, zentrale Planung), Regulierung (z.B. von Preisen, Mengen, Qualitäten, Zugangsrechten u.a.), Betrieb öffentlicher Unternehmen, Gesetzgebung (Kartell-, Verschmutzungs-, Sicherheitsrecht) und Geldpolitik. Diese Instrumente können Alternativen zu den finanzpolitischen Mitteln sein. So stehen z.B. zur Verwirklichung umweltpolitischer Ziele u.a. die Festlegung zulässiger Standards der Luftverschmutzung, die Versteigerung von Verschmutzungsrechten oder die Einführung vom Verschmutzungsgrad abhängiger Steuern zur Verfügung. Infolge institutioneller Beschränkungen kann der Einsatz bestimmter Instrumente ausgeschlossen sein (z.B. keine deutsche Geldpolitik wegen Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank). S Zwischen Finanz- und Geldpolitik besteht ein so enger Zusammenhang, dass man trotz – grundsätzlich – institutioneller Unabhängigkeit im Euro-Raum Geldpolitik und Finanzpolitik nicht als unabhängig voneinander verstehen kann: Geldpolitik beeinflusst direkt die Zinsausgaben des Staates, was durch Veränderungen anderer Ausgaben oder Einnahmen ausgeglichen wird. Änderungen der Zinssätze beeinflussen den Nominalwert dieser Ausgaben, Inflation senkt den Realwert.

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Erster Teil: Grundlagen

2. Fragestellungen Die Finanzwissenschaft sucht, wie auch andere ökonomische Teilgebiete, zu verstehen, wie und warum etwas geschieht sowie welche Entscheidungen getroffen werden sollten. Entsprechend werden die bei der Analyse staatlichen Handelns auftretenden Fragestellungen in zwei Kategorien eingeteilt: S Fragen der positiven Theorie Die positive Ökonomik sucht zu erklären, was war oder ist, auch um vorherzusagen, was sein wird. Sie sucht Ursachen und Ursachenkomplexe (warum und wodurch) aufzudecken (Kausalanalyse). Es wird aber auch gefragt, welche Wirkungen von bestimmten Handlungen ausgehen (Wirkungsanalyse). In beiden Fällen geht es um generalisierende Aussagen. Finanzwissenschaftliche Fragestellungen im Rahmen der positiven Ökonomik sind etwa: Inwieweit ist eine empirisch feststellbare Einkommensverteilung Folge einer bestimmten Finanzpolitik? Ist diese Finanzpolitik ihrerseits auf ganz konkrete gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen? Wie wirken bestimmte finanzpolitische Maßnahmen auf die Einkommensverteilung? Warum sind die Staatsausgaben im Sozialbereich stärker als das Bruttoinlandsprodukt gestiegen? Wie lässt sich erklären, dass die Einkommensteuer durch vielfachen Einbau von Sonderregelungen immer komplizierter geworden ist? Warum lassen sich Subventionen so leicht einführen, aber nur schwer abschaffen? S Fragen der normativen Theorie Die normative Ökonomik ,,befasst sich mit dem, was sein soll“. Zur Lösung wirtschaftspolitischer Probleme müssen Kriterien (Normen) gesetzt oder explizite Zielsysteme zugrunde gelegt werden, die auf Werturteilen beruhen. Es werden dann Vorschläge (Empfehlungen) für die Politik entwickelt, die diesen Kriterien genügen. Um alternative Maßnahmen bewerten zu können, muss festgelegt werden, wie wichtig verschiedene Ziele sind. Auswahl und relative Bewertung der Ziele stellen „auf das Wirtschaftsleben angewandte Ethik“ (Giersch 1961) dar. Beispiele für Fragen der normativen Theorie sind etwa: Soll der Staat überhaupt in die Allokation der Ressourcen eingreifen? Was ist eine gerechte Verteilung? Wieviel Umverteilung (von Einkommen, Vermögen, Macht u.a.) soll stattfinden? Zu den Fragen der normativen Theorie rechnet auch, was in der angewandten Ökonomik (Theorie der Wirtschaftspolitik) untersucht wird: Mit welchen Mitteln kann die Aufgabe, die sich aus dem Unterschied zwischen dem Sein und dem Seinsollen ergibt, am besten gelöst werden? (Giersch 1961, S. 27). Dieses Seinsollen konkretisiert sich in Zielsetzungen, die einen bestimmten Mitteleinsatz zu ihrer Realisierung verlangen. Die theoretische Wirtschaftspolitik ist also eine Teleologie, eine Zweck-MittelAnalyse der Ökonomik. Normative Fragestellungen sind hier etwa: Sind Studiengebühren ein effizientes Instrument der Hochschulfinanzierung? Wäre es zweckmäßiger, zusätzliche Sparprämien zu gewähren oder die Steuerprogression zu verschärfen, um

1. Kapitel: Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft

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eine gleichmäßigere Vermögensverteilung zu erreichen? Soll Konjunkturstabilisierung betrieben werden, und wenn ja, mit Steuern und/oder Staatsausgaben? Die Trennung zwischen den Fragestellungen ist allerdings fließend. Es gibt eine Fülle von Beispielen ökonomischer Analyse, in denen sich normative und positive Aspekte vermengen. Bereits die Auswahl der zu behandelnden positiven Fragen stellt ein normatives Problem dar. Als Beispiel für die Verknüpfung der Antworten auf beide Fragestellungen denke man an eine Steuerreform. Die relative Effizienz einer neuen Steuer im Vergleich zu einer bestehenden Steuer hängt wesentlich davon ab, welche Auswirkungen jeweils auf Risikobereitschaft, Investitionen oder beispielsweise Arbeitsangebot erwartet werden. Ohne die Kräfte hinter den Entwicklungen zu kennen, lassen sich weder die Wirkung der aktuell durchgeführten Politik noch einer alternativen Politik beurteilen. Auch ist zu prüfen, ob sich in einem demokratischen System wie in Deutschland effiziente Lösungen überhaupt durchsetzen lassen. Die beiden Fragestellungen liegen den einzelnen Teilen dieses Buches mit unterschiedlichem Gewicht zugrunde. 3. Die Abgrenzung des Staates Die öffentliche Finanzwirtschaft oder der Staat als Träger der Finanzpolitik können unterschiedlich gegenüber dem privaten (= nichtstaatlichen) Bereich abgegrenzt werden. Einigkeit besteht darüber, dass Bund, Länder und Gemeinden einschließlich Gemeindeverbände zum Staat rechnen. Die Zuordnung anderer Institutionen wie Deutsche Bundesbank, Volkswagenwerk (Landesbeteiligung), Kreditanstalt für Wiederaufbau, städtischen Versorgungsunternehmen, Parafiski und Europäische Union kann aber je nach Fragestellung unterschiedlich erfolgen. So sind beispielsweise Parafiski mehr oder weniger vom Haushalt der Gebietskörperschaften getrennte Einrichtungen, in denen die Mitgliedschaft auf Zwang beruht und von deren Mitgliedern Zwangsbeiträge erhoben werden. Hierzu rechnen die Sozialversicherung, ferner Industrie- und Handelskammern, Handwerks- und Ärztekammern, aber auch Kirchen. Teilweise werden auch die öffentlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten hierzu gezählt. Für die Zuordnung bedarf es eines einheitlichen Kriteriums. So lassen sich der öffentliche und der private Bereich z.B. nach Art der bereitgestellten Güter, nach typischerweise vom Staat erfüllten Aufgaben, nach institutionellen Gesichtspunkten oder im Grenzbereich zu den Unternehmen häufig nach Eigentumsverhältnissen als ergänzendem Kriterium abgrenzen. Das entscheidende Merkmal staatlicher Aktivität ist, dass der Staat mit hoheitlicher Gewalt ausgestattet ist, also Zwangsmaßnahmen wie Gebote oder Verbote einsetzen und zur Finanzierung seiner Leistungen Zwangsabgaben (Steuern und andere Abgaben) erheben kann. Er ist hierzu durch die Verfassung und durch Gesetze legitimiert. Der Staat ist aber nicht nur hoheitlich tätig, sondern beteiligt sich auch am (markt-) wirtschaftlichen Austausch. Zwar wird auch im priva-

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Erster Teil: Grundlagen

ten Sektor der Zwang als Mittel angewendet, der Staat hat allerdings die letzte, höchste Kompetenz. Der Übergang zwischen privatem und staatlichem Bereich ist regelmäßig fließend. Jeder Abgrenzungsversuch ist daher in gewisser Weise willkürlich bzw. nur mit einer gewissen Unschärfe vorzunehmen. Das gilt auch für die im 2. Kapitel behandelten Abgrenzungen des Staates in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und in der Finanzstatistik, die auf Konventionen beruhen. 4. Ziele und Mittel der Finanzpolitik a) Allgemeine Eigenschaften von Zielen und Mitteln Ziele und Instrumente werden im Rahmen der allgemeinen Theorie der Wirtschaftspolitik behandelt. Verstanden als rationale Wirtschaftspolitik geht es dort um die bestmögliche Realisierung vorgegebener Ziele. Hierbei stellt die Finanzpolitik einen Teilbereich der gesamten Wirtschaftspolitik dar, der von der übrigen Wirtschaftspolitik durch seine Instrumente abgegrenzt wird. Angenommen ein Wirtschaftssystem werde durch die Gleichungen beschrieben (1-1)

F( y i , x j ) ) 0 ,

i ) 1 ... n, j = 1 ... m .

Hierbei sind zwei Arten von Variablen zu unterscheiden. Die Variablen xj sind außerhalb des Systems bestimmte Parameter (exogene Variable). Sie beeinflussen die endogenen Variablen yi, ohne selbst von diesen größenmäßig verändert zu werden. Es wird hier angenommen, dass die xj direkt vom Staat kontrolliert (z.B. Staatsausgaben, Steuersätze) und als wirtschaftspolitische Instrumentvariablen (oder Aktionsparameter) eingesetzt werden können 1. Wenn der Staat darüber entschieden hat, welchen Wert er seinen Instrumentvariablen gibt, bestimmen die als unabhängig und widerspruchsfrei vorausgesetzten n Gleichungen (1-1) eindeutig die Werte der yi. Letztere werden nicht direkt vom Staat festgelegt, sie hängen aber von den xj ab. Das System kann dadurch gelöst werden, dass yi in Form von xj formuliert wird: (1-2)

yi ) yi (x j ) .

Die endogen bestimmten Variablen yi sollen als Zielvariablen bezeichnet werden, wenn sie einen bestimmten numerischen Wert bekommen, z.B. (1-3) 1

yi ) yi

Hier wird von jenen nicht-steuerbaren (exogenen) Variablen abgesehen, deren Werte durch die Natur, durch das Ausland oder andere Kräfte außerhalb des Modells festgelegt werden. Sie beeinflussen die Werte der yi ohne Instrumente zu sein.

1. Kapitel: Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft

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In diesem Fall spricht man von fixierten Zielen. Daneben gibt es aber auch flexible Ziele, wenn zwar die Zielvariablen und bestimmte funktionale Beziehungen zwischen diesen, nicht aber auch die Zielwerte festgelegt werden. Die Lösung von (1-2) hängt nun davon ab, wie die Ziele von den Entscheidungsträgern formuliert werden. Das Entscheidungsproblem ist relativ einfach, wenn es darum geht, eine Zielsetzung mit Hilfe eines Instruments zu verwirklichen. Die gleichzeitige Realisierung mehrerer fixierter Ziele ist in ihrer Planung und Durchführung wesentlich komplizierter und steht häufiger vor kaum lösbaren Konsistenzproblemen. Die Gleichungssysteme (1-2) und (1-3) implizieren eine Reihe von Anforderungen an die Instrumente: S Wenn genauso viele Unbekannte wie Gleichungen vorliegen, gibt es in der Regel nur eine Menge von Werten für die Unbekannten, die die Gleichungen erfüllen. Das heißt: Um eine bestimmte Menge von Zielen zu erreichen, bedarf es wenigstens der gleichen Anzahl von Instrumenten. Mit n Instrumenten ist aber noch nicht gewährleistet, dass die m = n Ziele erfüllt werden. Hierzu müssen n unabhängige Instrumente vorliegen 1. Es kann allerdings sein, dass bei Einsatz eines Instruments automatisch mehr als ein Ziel beeinflusst wird. S Wenn mehrere Ziele angestrebt und verschiedene Instrumente eingesetzt werden, muss der Einsatz der Instrumente koordiniert werden. S Instrumente müssen Variablen sein, konstante Größen eignen sich nicht als Instrumente. Sie müssen nicht nur technisch, sondern auch politisch variierbar sein, d.h. von den Trägern der Wirtschaftspolitik autonom fixiert werden können. Fragen der Kompetenz, der politischen Durchsetzbarkeit, der Kontrollierbarkeit usw. treten hier auf. Der Grad der Erfüllbarkeit mehrerer tatsächlicher und potenzieller Ziele hängt von den Zielbeziehungen ab. Diese können, abgesehen von Neutralität (= Unabhängigkeit voneinander), in Komplementarität oder in Konkurrenz bestehen. Die grafische Darstellung der Zielbeziehungen erfolgt in sog. Transformationskurven; sie haben bei Komplementarität (Substitutionalität) eine positive (negative) Steigung. Bei komplementären Zielen ruft die Realisierung des einen Ziels nur erwünschte Auswirkungen auf andere Ziele hervor. Die Erfüllung (Nichterfüllung) eines Ziels trägt also gleichzeitig zur Erfüllung (Nichterfüllung) eines anderen Ziels bei. Für die praktische Wirtschaftspolitik ist vor allem die Konkurrenz der Ziele ein wesentliches Problem. Sie hat zur Folge, dass Zielkonflikte auftreten, d.h. die Realisierung eines Ziels geht zu Lasten anderer Ziele. Ein Beispiel für meist kaum vermeidbare Trade-Offs besteht etwa darin, mehr Gerechtigkeit in der Wirtschaft ohne Effizienzeinbußen zu erzielen. Die Ziele können aber auch logisch nicht vereinbar sein (z.B. Konkurrenz – keine Konkurrenz).

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Die Unabhängigkeit kann in verschiedenen Fällen aufgehoben sein. Wenn z.B. die Zentralbank der einzige Weg der Finanzierung öffentlicher Defizite wäre, gäbe es keine von der Finanzpolitik unabhängige Geldpolitik.

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Erster Teil: Grundlagen

Inkonsistente Zielformulierungen resultieren überwiegend aus der Eigenart von Partialbetrachtungen: Die verschiedenen Teilziele werden isoliert verfolgt. Widerspruchsfrei (konsistent) können die Teilziele nur formuliert werden, wenn die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen durch Rückbesinnung auf höherrangige Ziele erkannt und in ihrer Bedeutung transparent gemacht werden. Diese Durchdringung erleichtert es, Zielkonflikte zu entschärfen, indem man Prioritäten setzt oder die Partialziele relativiert (Pohmer 1981, S. 262). Innerhalb von Zielhierarchien sind Ziele meist Mittel für höhere Ziele und Mittel ihrerseits (Unter-) Ziele. Daher stellt sich häufig das Problem, zu entscheiden, was eigentlich das Ziel ist. Um Ziel-Mittel-Systeme zu erhalten, in denen sich die meisten Variablen möglichst aus wenigen obersten Zielen ableiten lassen, oder die obersten Ziele die gesamte Politik umfassen, müssen oberste Ziele sehr weit formuliert werden. Dann fehlt ihnen aber die Operationalisierbarkeit. Operationalisierbarkeit setzt Messbarkeit sowie räumliche und zeitliche Fixierbarkeit voraus. Die genaue Messvorschrift ist Teil der Zieldefinition. Es ist fraglich, in wieweit sich überhaupt konsistente Zielsysteme formulieren lassen (vgl. das 5. Kapitel) und ob diese politisch relevant sind. Mit Zielhierarchien geht einher, dass bestimmte Ziele nicht unmittelbar, sondern erst (mittelbar) über andere Größen beeinflussbar sind. So sind ein angestrebter hoher Beschäftigungsstand oder eine bestimmte Inflationsrate nicht unmittelbar, sondern z.B. erst über die Veränderung der Gesamtnachfrage zu erreichen. Weitere Probleme: S Die Wirkungen der Instrumente auf die endogenen Variablen (Ziele) können nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Bei verschiedenen angestrebten Zielen müssen dann jeweils die Erwartungswerte und Risiken gewichtet werden. S Beobachtete Regelmäßigkeiten können dann verschwinden, wenn die Entscheidungsträger sie ausnutzen wollen. So können festgestellte Korrelationen zwischen Instrument- und Zielvariablen das Verhalten der Entscheidungsträger und nicht der Wirtschaft wiedergeben. S Es ist möglich, dass die strukturellen oder Verhaltensgleichungen makroökonomischer Modelle bei Änderung der Entscheidungsregeln nicht stabil bleiben, weil die privaten Wirtschaftssubjekte ihr Verhalten dem der staatlichen Entscheidungsträger anpassen. Folglich lässt sich nicht vorhersagen, ob und wie Politiken die Modellparameter ändern. Simulationen bestehender Modelle können sich daher – bei richtigen Erwartungen – als ungeeignete Hilfe für die Wirtschaftspolitik erweisen. b) Ziele der Finanzpolitik Seit Musgrave (1959) ist es üblich, die staatliche Finanzpolitik nach drei großen Zielbereichen zu gliedern: Allokation, Distribution und Stabilisierung. Beim Allokationsziel geht es um die effiziente Verwendung knapper Ressourcen. Durch Allokationspolitik soll die Verwendung der volkswirtschaftlichen Ressourcen mit dem Ziel beeinflusst werden, zu einem anderen Ergebnis zu kommen, als es die privaten Aktivitäten im marktwirtschaftlichen Abstimmungsprozess hervorbringen würden. Letztlich ver-

1. Kapitel: Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft

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langt das Allokationsziel als theoretische Norm die Verwirklichung eines Höchstmaßes an gesellschaftlicher Wohlfahrt. Das Verteilungsziel besteht in einer „als gerecht empfundenen“ Verteilung. Diese kann unterschiedliche Dimensionen haben, d.h. auf Personen und Haushalte, innerhalb eines Jahres oder auf Generationen bezogen. Weicht die tatsächlich sich ergebende Verteilung insbesondere von Einkommen und Vermögen von den Zielgrößen ab, sind die Voraussetzungen und Ergebnisse der sich (vor allem) marktmäßig einstellenden Verteilung zu verändern; Zielgrößen der Verteilungspolitik können neben Einkommen und Vermögen Chancen, Konsum und Nutzen sein. Die Stabilisierungspolitik hat die Aufgabe, die mit der marktwirtschaftlichen Ordnung verbundenen Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität, d.h. Konjunktur- und Wachstumsschwankungen, zu glätten und speziell für eine normale Auslastung des Produktionspotentials und ein stabiles Preisniveau zu sorgen. Zahlungsbilanzausgleich und angemessenes Wachstum werden gelegentlich dem Stabilitätsziel, das Wachstumsziel auch dem Allokationsziel (als intertemporale Dimension) untergeordnet. Die o. g. drei Ziele können nicht als typisch für die Finanzpolitik angesehen werden. Sie gelten für die Wirtschaftspolitik allgemein. Daher lässt sich die Finanzpolitik auch nicht von den Zielen, sondern nur von ihren Mitteln her gegenüber anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik abgrenzen. Darüber hinaus wird auch von einem fiskalischen Ziel gesprochen, womit zunächst die Bereitstellung der notwendigen Mittel zur Durchführung der genannten Ziele gemeint ist. Das fiskalische Ziel ist jedoch den anderen Zielen untergeordnet; es gleicht einem Instrument, mit dessen Hilfe die gewünschten Aufgaben und Ausgaben erfüllt werden können 1. Die theoretische Abgrenzung der drei Ziele dient methodisch der klaren Analyse. In der Realität gibt es keine ähnlich scharfe Trennungslinie. Zwischen den Zielen bestehen wechselseitige Beziehungen, und Maßnahmen in einem Bereich wirken sich regelmäßig auf andere Ziele aus. So führt etwa die unentgeltliche Bereitstellung bestimmter Leistungen durch den Staat zu einer anderen Versorgung als bei reiner marktwirtschaftlicher Bereitstellung von Gütern. Dies ändert auch die gesamtwirtschaftliche Produktionstätigkeit. Ferner rufen die öffentlichen Leistungen je nach Umfang und Struktur verschiedene Verteilungswirkungen hervor. Schließlich beeinflussen neben den Leistungen bzw. Ausgaben auch ihre Finanzierungsformen die einzelnen Zielbereiche. Die Allokation ist abhängig von der Stabilisierungspolitik, u.a. weil erst ein voll (bzw. normal) ausgelastetes Produktionspotenzial eine effiziente Ressourcenverwendung gewährleistet. Die Stabilisierungspolitik kann aber auch durch Mängel in der Allokation begründet sein, auf die sie immer durch Änderungen in der Zusammensetzung des gesamtwirtschaftlichen Outputs (z.B. privat – staatlich) einwirkt. 1

Auf der Ausgabenseite hätte das fiskalische Ziel in der wirtschaftlichen und effizienten Verwendung der Mittel seinen entsprechenden Ausdruck.

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Erster Teil: Grundlagen

c) Finanzpolitische Instrumente Während die genannten Ziele nicht als charakteristisch allein für die Finanzpolitik gelten können, gibt es typische finanzpolitische Instrumente. Diese bestehen in den verschiedensten Formen öffentlicher Einnahmen und Ausgaben. Sie werden später ausführlich behandelt. Zu solchen Einnahmen und Ausgaben zählen nicht nur kassenmäßig erfasste Ströme, sondern auch Größen, die sich nicht oder nur teilweise rechnerisch (in den öffentlichen Haushalten) niederschlagen: das gilt speziell für unterbliebene Einnahmen in Form von Steuervergünstigungen (Tax Expenditures) und für Gewährleistungen (Bürgschaften, Exportgarantien, Zusagen von Verlustübernahmen), die man als potenzielle Ausgaben bezeichnen könnte. Im Prinzip liegen Instrumente nur dann vor, wenn der Staat eine direkte Kontrolle über bestimmte Variablen hat. In vielen Fällen haben die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben keinen unmittelbaren Instrumentcharakter, das Volumen finanzpolitischer Aktivitäten kann nicht absolut bestimmt werden. So sind die Steuereinnahmen für den Staat nur Erwartungsparameter. Aktionsparameter sind hingegen die Abgrenzung der Steuerpflicht, die Gestaltung der Bemessungsgrundlagen und die Festlegung der Steuertarife und -zahlungsmodalitäten 1. Ähnliches gilt für einige vom Staat geleistete Übertragungen (Subventionen, Transfers an Haushalte). Die Effizienz finanzpolitischer Instrumente hängt also von den Reaktionen der betroffenen Wirtschaftssubjekte ab. Bei den öffentlichen Ausgaben für Käufe von Sachgütern und Dienstleistungen können ferner die bewilligten von den verausgabten Mitteln abweichen. Soweit im Folgenden Veränderungen der Steuern und der Staatsausgaben untersucht werden, handelt es sich daher um mehr oder weniger grobe Vereinfachungen. Die Beziehungen zwischen finanzpolitischen und anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten sind eng. Einmal kann zur Verfolgung der Ziele in vielen Fällen auf verschiedene Instrumentalternativen zurückgegriffen werden 2. Zum anderen sind die Grenzen z.B. zur Geldpolitik fließend. Ferner ist zu beachten, dass vom Einsatz finanzpolitischer (wie auch anderer) Mittel in der Regel nicht nur ein Impuls ausgeht. Außer den beabsichtigten sind auch unbeabsichtigte Effekte (Nebenwirkungen) möglich, die im Hinblick auf die verschiedenen angestrebten Ziele erwünscht oder unerwünscht sein können. In einem globalen Umfeld ist die Fähigkeit des Staates zum Teil erheblich eingeschränkt, durch den nationalen Einsatz finanzpolitischer Instrumente bei den drei Zielen erfolgreich handeln zu können. Das folgt aus der weltwirtschaftlichen Verflechtung (Globalisierung) in Produktion und Handel sowie der internationalen Vernetzung der Finanzmärkte und wird speziell bei weltwirtschaftlichen Krisen (Öl, Finanzmärkte, 1

2

Daher bietet z.B. die Einkommensteuer viele Instrumentalternativen. Werden diese allerdings eingesetzt, wird die Steuer kompliziert, und die Frage entsteht, ob die so entworfenen Instrumente im Hinblick auf die Ziele effektiv sind. So wird z.B. bei erhöhtem Zwang zum Budgetausgleich verstärkt auf Regulierungen, also auf nichtausgabenwirksame Programme zurückgegriffen, wenn (zusätzliche) Ausgaben nicht durchgesetzt werden können.

1. Kapitel: Gegenstand und Fragestellungen der Finanzwissenschaft

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Weltkonjunktur) sichtbar. Die nationalen Spielräume sind zudem weitgehend durch EU-Recht eingeengt. d) Optimale Finanzpolitik Aus den Ziel-Mittel-Beziehungen können Kriterien für den finanzpolitischen Instrumenteneinsatz abgeleitet werden. Immer wenn eine Abweichung von einem als gewünscht eingeschätzten Zustand diagnostiziert wird, müssen die Ursachen hierfür erforscht, geeignete Mittel ausgewählt und bewertet sowie in richtiger sachlicher und zeitlicher Dosierung eingesetzt werden. Eine optimale Finanzpolitik besteht dann in den Entscheidungsregeln für finanzwirtschaftliche Staatsaktivitäten, „die aus gesamtwirtschaftlichen Modellen über die Maximierung bzw. Minimierung einer Zielfunktion unter Nebenbedingungen abgeleitet werden. Die Zielfunktion ist der quantifizierte Ausdruck der auf bestimmte Variablen bezogenen Präferenzen einer finanzpolitischen Entscheidungsinstanz. Solche Variablen können z.B. die Höhe, die Verteilung oder die Zusammensetzung des Sozialprodukts sein. Die Zielsetzung der optimalen Finanzpolitik ist darauf gerichtet, die Werte der Zielvariablen im gesamtwirtschaftlichen Optimum zu ermitteln (Zielidentifizierungsproblem) und Realisierungsvorschriften für den Einsatz der finanzwirtschaftlichen Instrumente zu entwickeln (Zielrealisierungsproblem), so dass sich hierüber die Optimalwerte der Zielvariablen verwirklichen lassen“ (Rose/Wenzel/Wiegard 1981, S. 1). In der Praxis sind allerdings die Ziele selten klar formuliert, so dass es schwierig ist, die Präferenzen einer finanzpolitischen Entscheidungsinstanz mit der Optimierung einer Zielfunktion in Übereinstimmung zu bringen. Ferner liegt in der Regel eine Vielzahl nur schwer zu erfassender Beschränkungen vor, die die Umsetzung theoretischer Vorstellungen schwierig und sogar unmöglich machen. Literatur zum 1. Kapitel Als Einführung in Problemstellung und Methoden der heutigen Finanzwissenschaft ist Littmann (1977b) zu empfehlen. Die Fragestellungen der positiven und der normativen Ökonomik behandelt Giersch (1961, Kap. II-IV). Abgrenzungsprobleme des Staates diskutiert Littmann (1975, Kap. I). Einen Überblick über Ziele, Zielbeziehungen und Instrumente im Rahmen der Theorie der Wirtschaftspolitik liefern Baumgarten/Mückl (1969) weitgehend im Anschluss an Tinbergen (1963, 1968), siehe ferner Hansen (1958). Zu den drei großen Zielbereiche der Finanzpolitik siehe Musgrave (1959, 1969), ferner Albers (1977b), kritisch zum fiskalischen Ziel Rose (1973). Die finanzpolitischen Instrumente behandelt Zimmermann (1981).

2. Kapitel Die Aktivität des Staates im Überblick 1. Vorbemerkung Der Staat (öffentliche Sektor) ist mit seinen vielfältigen Aktivitäten ein wichtiger Teil des Wirtschaftsprozesses. Er beeinflusst Produktivität, Konjunktur und Wachstum durch seine Tätigkeit als Produzent von Verwaltungsleistungen und als Investor. Der Staat trägt so direkt und (insbesondere durch seine umfassende Normsetzung) indirekt zur Entstehung und Verwendung des Inlandsprodukts bei. Ferner wirkt er auf der Verteilungsseite des Volkseinkommens durch seine Rolle bei der Verteilung und Umverteilung von Einkommen und Vermögen. Staatliche Aktivitäten finden ihren Niederschlag in den speziellen Darstellungen der öffentlichen Haushalte (Finanzplan, Haushaltsplan, Haushaltsrechnung, Kassenrechnung, Vermögensrechnung, teils zusammengefasst in der Finanzstatistik) und in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Es wird gezeigt, wie der Staat in den VGR erfasst wird, und Unterschiede zur Finanzstatistik werden kurz behandelt. Ferner werden Indikatoren zur Beurteilung der staatlichen Aktivität diskutiert. 2. Der Staat in den VGR und in der Finanzstatistik a) Der Staat im einfachen Kreislaufbild Der Kreislauf ist ein System von Definitionen gesamtwirtschaftlicher Ströme, die die in einer Periode von Wirtschaftssubjekten durchgeführten Transaktionen zum Ausdruck bringen. Hierbei ergibt sich das in Abb. 2-1 dargestellte Bild der Güter- und Faktorleistungsströme. Abb. 2-1 Der Staat im „realen“ Kreislauf Konsumgüter Unternehmen

Haushalte Faktorleistungen

öffentlich bereitgestellte Güter

Sachleistungen

Faktorleistungen

öffentlich bereitgestellte Güter

Staat

Die Haushalte stellen auch dem Staat Faktorleistungen zur Verfügung. Sie empfangen hierfür die im Einnahmen-/Ausgabenkreislauf dargestellten Einkommen (YStH). Der

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

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Staat bezieht von den Unternehmen Sachgüter und Dienstleistungen, die Vorleistungen seiner Produktion sind. Vorleistungskäufe (VLSt) sind hier z.B. die Ausgaben für die Kreide des Lehrers, Kampfflugzeuge oder das Reinigen öffentlicher Gebäude durch private Firmen 1. Die staatlichen Inputs können relativ einfach über die monetären Gegenströme (VLSt, YStH) erfasst werden. Die in Abb. 2-1 gezeigten staatlichen Leistungen (öffentlich bereitgestellte Güter) lassen sich hingegen nicht so einfach ermitteln. Sie sind zwar in vielen Fällen (beispielsweise bei Schulen) denen ähnlich, die Unternehmen auf dem Markt anbieten. Nur werden sie vom Staat weitgehend unentgeltlich bereitgestellt, so dass für diese von Haushalten und Unternehmen genutzten Leistungen keine monetären Gegenströme im Einnahmen-/Ausgabenkreislauf existieren. Sie können nur unterstellt werden. Anders ist es bei den in Abb. 2-2 gezeigten Transfers (Steuern), die Unternehmen (TU) bzw. Haushalte (TH) an den Staat leisten. Sie stellen kein spezielles Entgelt für Leistungen des Staates dar, hier fehlen also die realen Gegenströme für Abb. 2-1. Das gilt auch für die vom Staat geleisteten Übertragungen (Subventionen an Unternehmen Z, Transfers an Haushalte Tr). Die Parallelität des realen und monetären Kreislaufs fehlt also beim Staat. Abb. 2-2 Der Staat im Einnahmen-/Ausgabenkreislauf Cpr Haushalte

Unternehmen YHU

Tr

Z TU

VLSt

YHSt

TH

Staat

Die Unentgeltlichkeit der Leistungen des Staates bewirkt unvermeidbare Nebenfolgen. So ist es empirisch schwierig oder überhaupt nicht zu überprüfen, S ob ein bestimmtes öffentliches Gut von den Staatsbürgern nachgefragt wird, S inwieweit das öffentliche Gut den privaten Wirtschaftssubjekten Nutzen stiftet, S was eigentlich die Leistungen (Output) des Staates und wie seine Produktivität sind, S in welchem Verhältnis das öffentliche Gut als Vorleistung in die private Produktion eingeht oder als Endnachfrage von den privaten Haushalten verbraucht wird und S welche Relation zwischen dem Wert eines öffentlichen Gutes und dem Wert eines privaten Gutes anzusetzen sind. Diese und weitere Fragen sowie ihre Behandlung in den VGR werden im Folgenden dargestellt.

1

Von öffentlichen Investitionen, d.h. weitgehend Käufen dauerhafter Güter durch den Staat, wird hier abgesehen.

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Erster Teil: Grundlagen

b) Die Abgrenzung des Staates in den VGR Die VGR sind ein mit empirischen Daten ausgefülltes System von Definitionen gesamtwirtschaftlicher Ströme und Bestände. Das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995) 1 unterscheidet die Sektoren nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften, finanzielle Kapitalgesellschaften 2, Staat, private Haushalte sowie private Organisationen ohne Erwerbszweck und legt Kriterien für ihre Abgrenzung fest. Diese Sektoren bilden die gesamte Volkswirtschaft, der die übrige Welt als Sammelkonto aller Transaktionen mit dem Ausland gegenübersteht. Die volkswirtschaftlichen Sektoren werden aus institutionellen Einheiten nach dem Schwerpunkt ihres wirtschaftlichen Interesses gebildet. Im Einzelnen gilt: S Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften (AG, GmbH, OHG, KG) sind durch marktbestimmte Produktion von Waren und nichtfinanziellen Dienstleistungen definiert. Hier werden auch die Krankenhäuser der öffentlichen und frei-gemeinnützigen Träger erfasst 3. S Finanzielle Kapitalgesellschaften stellen Bank- und Versicherungsdienstleistungen und damit verbundene Nebenleistungen bereit. Hier werden die Zusatzversorgungseinrichtungen der Gebietskörperschaften wie die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) einbezogen. S Die privaten Haushalte schließen auch jene institutionellen Einheiten ein, bei denen die Trennung der Unternehmensphäre von den Eigentümerhaushalten kaum möglich ist. Der Sektor ist durch Konsum sowie Produktion marktbestimmter Güter und von Gütern für die Eigenverwendung beschrieben. Zu den privaten Haushalten als Marktproduzenten rechnen alle Selbständigen. S Private Organisationen ohne Erwerbszweck produzieren und stellen nichtmarktbestimmte Güter bereit. Hierzu rechnen Organisationen, Verbände, Vereine, Institute, deren Leistungen vorwiegend privaten Haushalten dienen und die sich zu einem wesentlichen Teil aus freiwilligen Zahlungen (Beiträgen, Spenden) von privaten Haushalten und nur zu einem geringen Teil aus öffentlichen Zuwendungen finanzieren (Gewerkschaften, Fachverbände, politische Parteien, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Forschungseinrichtungen und wissenschaftliche Gesellschaften, kulturelle und soziale Einrichtungen, Sport- und Freizeitvereine, gemeinnützige Organisationen). S Die übrige Welt entspricht aus nationaler Sicht dem Ausland. Hierzu rechnen auch die Institutionen der EU und die Europäische Zentralbank (EZB). S Der Staat umfasst alle Institutionen, deren Aufgabe überwiegend in der Produktion

und Bereitstellung nichtmarktbestimmter Güter sowie in der Umverteilung von Einkommen und Vermögen besteht. Er finanziert sich hauptsächlich aus Zwangsabgaben. Nicht zum Sektor Staat rechnen die in seinem Eigentum befindlichen Unternehmen

1 2

3

Die Ausführungen legen das in allen EU-Staaten anzuwendende ESVG (1995) zugrunde, das auf dem System of National Accounts der Vereinten Nationen (SNA 1993) beruht. Einen Unternehmenssektor wie in Abb. 2-1 und 2-2 gibt es im ESVG nicht. Die entsprechenden Tätigkeiten werden bei den Kapitalgesellschaften bzw., soweit es sich um die Produktion von Selbständigen handelt, bei den privaten Haushalten verbucht. Die Krankenhäuser müssen u.a. aufgrund des Krankenhaus-Finanzierungsgesetzes ein spezielles und umfassendes Buchhaltungssystem anwenden. Auch besitzt das Krankenhausmanagement weitgehende Entscheidungsautonomie in der Wirtschaftsführung.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

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(wie z.B. Deutsche Bahn), unabhängig von ihrer Rechtsform. Eingeschlossen sind die Bruttobetriebe 1. Die Europäische Union (EU) rechnet nicht zum Staat. Zum Staat rechnen Gebietskörperschaften und Sozialversicherung. Die Gebietskörperschaften umfassen Bund einschließlich Sondervermögen, Länder und Gemeinden einschließlich der Gemeindeverbände (Ämter, Kreise, Bezirks-, Landschaftsverbände usw.) sowie der kommunale Zweckverbände 2, ferner öffentliche Einrichtungen der Sozialhilfe und der Jugendhilfe, Vieh- und Schlachthöfe, Markthallen, Feuerwehren, Bestattungseinrichtungen. Nicht zum Staat zählen die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, die Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, kommunale Versorgungs- und Verkehrsunternehmen mit mindestens 50%-iger Kostendeckung aus Verkäufen. Die Wohnungsbauförderungsanstalten der Länder rechnen zu den Kreditinstituten. Zur Sozialversicherung rechnen die Rentenversicherungen, die Alterssicherung für Landwirte, die gesetzliche Kranken-, Unfall-, Pflege- sowie Arbeitslosenversicherung. In der Praxis umfasst der Staat in den VGR also sehr heterogene Institutionen (Gebietskörperschaften, Sozialversicherung, Markthallen und Feuerwehren). „Die Schwächen eines hohen Aggregationsgrades sind offenkundig. Ein Sammelkonto ,Staat‘ verleitet leicht zu der Vorstellung, die Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben aller zusammengefassten Einzelhaushalte ... seien auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet und von einem gemeinsamen Willen geleitet“ (Bombach 1977, S. 58). Tatsächlich kann aber in einem föderalen Staat mit vielen Institutionen kaum von einem gemeinsamen Handeln seiner verschiedenen Teile ausgegangen werden. Ob die Abgrenzung des Staates in den VGR zweckmäßig ist, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. So könnte man Teile der privaten Organisationen dem Staat zuzurechnen, wenn sie (direkt oder indirekt) erheblich von ihm finanziert werden oder finanzielle Kapitalgesellschaften, wenn sie – wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau – staatliche Aufgaben erfüllen oder wenn sie, wie die Kirchen, bei ihrer Finanzierung und Leistungsabgabe dem Staat ähneln. Staatliche Krankenhäuser und Universitätskliniken mit eigenem Rechnungswesen werden nicht dem Staat zugerechnet. In der Praxis ergeben sich durch Auslagerung, Bildung von Public Private Partnerships u.ä. vielfältige neue Institutionen, deren Zuordnung erhebliche Probleme aufwirft. c) Die Einnahmen und Ausgaben des Staates in den VGR Vor der Diskussion weiterer grundsätzlicher Fragen zur Behandlung des Staates in den VGR sind einige Begriffe zu erläutern. 1 2

Bei Bruttobetrieben erscheinen sämtliche Einnahmen und Ausgaben unsaldiert im Haushalt des Trägers. Bei den zuletzt genannten Institutionen und den ihnen gleichgestellten Organisationen zwischengemeindlicher Zusammenschlüsse handelt es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts, denen mindestens eine Gemeinde oder ein Gemeindeverband als Mitglied angehört und die den Zweckverbandsgesetzen und entsprechenden Landesgesetzen unterliegen.

Erster Teil: Grundlagen

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(1) Überblick: Einnahmen, Ausgaben, Finanzierungssaldo und Sparen Die Einnahmen und Ausgaben des Staates in den VGR sind Teil eines detaillierten Kontensystems. Einnahmen sind summarisch die in Tab. 2-1 dargestellten Positionen. Entsprechendes gilt für die Ausgaben. Die Abschreibungen rechnen nicht zu den Einnahmen und Ausgaben 1. In Tab. 2-1 beruht die Struktur der Einnahmen und Ausgaben auf einer bestimmten Kontenabfolge, die den Prozess der Produktion, der primären und sekundären Einkommensverteilung und der Vermögensänderung beschreibt: Einnahmen fallen im Zusammenhang mit der Produktion an, danach werden die der Einkommensverteilung zugerechneten Ströme (z.B. empfangene Produktions- und Importabgaben, empfangene Zinsen), dann die der Einkommensumverteilung zugerechneten Transfers an den Staat gebucht. Den bis dahin aufgezeichneten laufenden Transaktionen folgen die vermögenswirksamen Transaktionen (empfangene Vermögenstransfers) 2. Entsprechend ist die Abfolge bei den Ausgaben.

Die Differenz aus den gesamten Einnahmen (ESt) und den gesamten Ausgaben (ASt) des Staates ist der Finanzierungssaldo. Für die Berechnung sind die Verbuchungsregeln maßgeblich, die festlegen, ob ein Vorgang zu einer Einnahme oder Ausgabe des Staates führt und damit „defizitwirksam“ ist. Der Saldo entspricht der Differenz aus Sparen (SSt) und Investitionen (ISt) des Staates einschließlich Nettozugang an nichtproduzierten Vermögensgütern und Saldo der Vermögenstransfers (NVSt). Bei ESt < ASt bzw. ISt + NVSt > SSt liegt ein Finanzierungsdefizit, bei ESt > ASt bzw. ISt + NVSt < SSt ein Finanzierungsüberschuss vor. Sparen wird als Differenz der laufenden Einnahmen und laufenden Ausgaben definiert 3. Anzumerken ist, dass Sparen in den VGR – wie die Investitionen – brutto (einschließlich Abschreibungen) und netto (ohne Abschreibungen) nachgewiesen wird. (2) Die Einnahmen des Staates Wichtigste Einnahmenquellen des Staates sind Steuern und Sozialbeiträge. Steuern als Zwangsabgaben an den Staat oder die EU sind Geldleistungen, für die keine spezielle Gegenleistung erbracht wird. Bei den Steuern ist anzumerken: S Steuern rechnen in den VGR weitgehend zu den laufenden Transfers, ein geringer Teil (Erbschaftsteuer) wird aber als Vermögenstransfers interpretiert. S (Laufende) Steuern werden aufgeteilt in Produktions- und Importabgaben einerseits und Einkommen- und Vermögensteuern andererseits. Produktions- und Importabgaben werden auf die Produktion und die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen, 1 2 3

Das überzeugt insofern nicht, als bei der Berechnung der Konsumausgaben des Staates die Abschreibungen enthalten sind (vgl. unten). Beides ist aus dem Gruppierungsplan des Haushalts bekannt (vgl. 6. Kapitel). Die Höhe von SSt hängt davon ab, welche Staatsausgaben CSt oder ISt (entsprechend bei den laufenden und Vermögenstransfers) zugerechnet werden. Der Begriff „Sparen“ ist daher beim Staat problematisch, weil er z.B. suggeriert, dass der Staat einen Konsumverzicht leistet, wenn er statt kurzlebiger langlebige Güter kauft.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

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Tab. 2-1 Einnahmen und Ausgaben des Staates nach VGR in Mrd. Euro und %

+ + + + + + =

Verkäufe Empfangene sonstige Subventionen Empfangene Vermögenseinkommen Steuern2 Sozialbeiträge Empf. sonstige laufende Transfers Empfangene Vermögenstransfers Einnahmen

+ + + + + + + + + + =

Vorleistungen Arbeitnehmerentgelt Gel. sonstige Produktionsabgaben Geleistete Vermögenseinkommen Subventionen3 Monetäre Sozialleistungen Soziale Sachleistungen Gel. sonstige laufende Transfers Geleistete Vermögenstransfers Bruttoinvestitionen Nettozugang nichtprod. Verm.güter Ausgaben Finanzierungssaldo (= Einnahmen – Ausgaben)

nachrichtlich: Konsumausgaben des Staates Mittel an die EU aus den Staatseinnahmen (BNE-Abgabe) direkte Einnahmen der EU Einnahmen von der EU Subventionen der EU EU Fonds (empf. sonst. lfd. Transfers) EU Fonds (empf. Vermögenstransfers)

2000 Mrd. € %1 40,8 4,3 1,0 0,1 16,5 1,7 499,0 52,1 378,4 39,5 13,8 1,4 8,0 0,8 957,5 100,0

2005 Mrd. € %1 45,0 4,6 0,5 0,1 13,7 1,4 493,2 50,5 396,5 40,6 17,6 1,8 9,6 1,0 976,1 100,0 95,5 168,9 0,1 62,6 27,3 429,6 167,4 35,5 34,6 30,3 - 1,4 1050,3

9,2 16,0 0,0 5,9 2,6 41,0 16,0 3,4 3,3 2,9 -0,1 100,0

2009 Mrd. € %1 48,7 4,6 0,6 0,1 19,7 1,8 564,5 53,0 409,9 38,5 13,3 1,2 9,5 0,9 1066,0 100,0

82,4 166,1 0,0 65,1 34,8 379,7 153,0 35,3 30,1 36,2 - 52,2 930,4

8,9 17,9 0,0 7,0 3,7 40,8 16,4 3,8 3,2 3,9 -5,6 100,0

111,3 177,6 0,1 62,2 31,5 433,5 196,6 45,2 32,8 39,3 -1,4 1138,7

9,8 15,6 0,0 5,5 2,8 38,9 17,3 4,0 2,9 3,5 -0,1 100,0

+ 27,14

-

-74,2

-

-72,7

-

391,9 21,6 8,9 5,9 9,0 5,9 1,3 1,3

-

419,6 19,8 15,1 6,7 10,7 6,1 1,6 3,0

-

472,1 20,5 14,9 5,7 9,7 6,4 0,2 2,9

-

1

% der Einnahmen bzw. Ausgaben; 2 ohne Steuern inländischer Sektoren an die EU; 3 ohne Subventionen der EU an inländische Sektoren; 4 einschl. einmaliger Effekt (UMTS-Lizenzen).

Quelle: Angaben des Statistischen Bundesamtes, Stand 10/2010.

die Beschäftigung von Arbeitskräften oder das Eigentum an oder den Einsatz von Grundstücken, Gebäuden oder anderen im Produktionsprozess eingesetzten Aktiva erhoben. Diese Steuern (z.B. Mehrwertsteuer) sind ohne Rücksicht darauf zu zahlen, ob Betriebsgewinne erzielt worden sind oder nicht. Einkommen- und Vermögensteuern werden auf Einkommen und Vermögen von institutionellen Einheiten erhoben. Eingeschlossen sind einige regelmäßig zu entrichtende Steuern, die weder auf das Einkommen noch auf das Vermögen erhoben werden (z.B. Grundsteuer der privaten Haushalte, Kopfsteuern, Ausgabensteuern, Kfz-Steuern der privaten Haushalte). S Während die von Inländern gezahlten sonstigen Produktionsabgaben, Einkommenund Vermögensteuern sowie vermögenswirksamen Steuern bei den Sektoren gebucht

16

Erster Teil: Grundlagen

werden, erscheinen die Gütersteuern nur im gesamtwirtschaftlichen Güterkonto, berühren die Sektoren also überhaupt nicht. S Die von den Produzenten an die EU abzuführenden Steuern (EU-Eigenmittel in Form von Abschöpfungsbeträgen, Zöllen, Umsatzsteueranteil – aber ohne die BNEEigenmittel) gelten nicht als Zahlungen an den Sektor Staat des entsprechenden Mitgliedslandes und werden nicht über diesen an die EU geleitet, sondern sind direkt bei der übrigen Welt (dort: EU) zu buchen. Man spricht hier von Umleitung (Rerouting), die Transaktionen werden anders gebucht, als sie stattfinden. Die unmittelbar an die EU geleisteten Produktions- und Importabgaben werden wie an die übrige Welt geleistete Erwerbs- und Vermögenseinkommen behandelt. Sie rechnen also zur Verteilung (und nicht zur Umverteilung) und mindern das Bruttonationaleinkommen (BNE) als Summe der inländischen Primäreinkommen 1. Sozialbeiträge sind zwangsweise an den Staat geleistete Transfers im Rahmen kollektiver Versorgungssysteme. Auch hier sind Besonderheiten zu vermerken. S Sozialbeiträge werden tatsächlich gezahlt (wie z.B. die Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten), aber auch unterstellt. Unterstellte Transaktionen haben nicht (wie gebucht) stattgefunden. Sie werden für die Altersversorgung, für Beihilfen und Unterstützungen der Beamten gebucht, um deren Einkommen mit dem anderer Arbeitnehmergruppen möglichst vergleichbar darstellen zu können, d.h. um die dem Produktionsfaktor Arbeit zuzurechnenden Kosten möglichst vollständig sichtbar zu machen. Bei der Bemessung der Höhe wird von einem Prozentsatz der Bezüge der aktiven Beamten ausgegangen. S Die gesamten Sozialbeiträge rechnen zum Arbeitnehmerentgelt 2, das rechnerisch zunächst vollständig den privaten Haushalten zufließt, die die Sozialversicherungsbeiträge an den Staat (Sozialversicherung) abführen. Auch hier liegt ein Beispiel für unterstellte Transaktionen vor. Sie haben zwar „tatsächlich“ stattgefunden, doch anders als in der gebuchten Form. S Durch die Erfassung der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst beim Versicherungssektor werden die Beiträge (und Leistungen hieraus) nicht mehr bei den staatlichen Einnahmen (und Ausgaben) gebucht 3. Zu den Einnahmen aus Verkäufen 4 rechnen Mieteinnahmen des Staates, Konzessionsabgaben und Gebühren. Die gegen Benutzungsgebühren abgegebenen Leistungen werden vollständig, Teile der Verwaltungsgebühren immer dann den Verkäufen zugerechnet, wenn mit dem Verwaltungsakt wesentliche Prüfungen u.ä. und damit ein Dienstleistungsverkauf ver1 2 3

4

Wie die Erwerbs- und Vermögenseinkommen erhöhen die aus der übrigen Welt empfangenen Subventionen das BNE. Das Arbeitnehmerentgelt setzt sich aus den Bruttolöhnen und -gehältern (einschließlich Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung) und den Arbeitgeberbeiträgen zusammen. Sie gehen in die von den privaten Haushalten geleisteten sonstigen Transfers an Versicherungen (finanzielle Kapitalgesellschaften) ein und stellen entsprechend auf der Einnahmenseite von diesen empfangene Transfers dar, berühren also den Staat rechnerisch nicht. Die Verkäufe schließen mit der Nichtmarktproduktion für die Eigenverwendung die selbsterstellten Anlagen ein, die entsprechend in die Investitionsausgaben des Staates eingehen. Erwerbe und Verkäufe von nichtfinanziellen Vermögensgegenständen werden (im Gegensatz zur Finanzstatistik) saldiert und auf der Ausgabenseite nachgewiesen.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

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bunden sind. Allerdings haben Verwaltungsgebühren stärker als Benutzungsgebühren Zwangscharakter und die Gegenleistung ist fast durchweg allenfalls vage dem einzelnen Gebührenpflichtigen zuzurechnen. Empfangene sonstige Subventionen sind Zuschüsse, die an den Staat fließen, soweit er Nichtmarktproduzent ist (praktisch ausschließlich ABM-Mittel). Vermögenseinkommen umfassen Erträge aus staatlichen Beteiligungen, Nettopachten und Zinsen auf gewährte Darlehen. Zu den Vermögenseinkommen rechnen auch die Gewinnausschüttungen der Deutschen Bundesbank, soweit sie nicht als realisierte Kapitalgewinne aus Devisen- und Goldgeschäften angesehen werden 1. Zu den empfangenen sonstigen laufenden Transfers des Staates rechnen u.a. die von den privaten Haushalten geleisteten Verwaltungsgebühren, Strafen und Schadensversicherungsleistungen der Versicherungsunternehmen sowie die von den Unternehmen gezahlten Verwaltungsgebühren – soweit sie nicht den Verkäufen von Dienstleistungen der Verwaltungen zugerechnet werden. Als empfangene Vermögenstransfers gelten Erbschaftsteuern, Lastenausgleichsabgaben 2, Anliegerbeiträge und Beitragsnachentrichtungen an die Rentenversicherung. Vermögenstransfers setzen den Zugang oder Abgang eines oder mehrerer Vermögenswerte bei mindestens einem der Transaktionspartner voraus. Die Unterscheidung zu den laufenden Transfers erfolgt rein formal und ist ökonomisch fragwürdig.

Die öffentliche Kreditaufnahme rechnet in den VGR nicht zu den Einnahmen. Kreditvorgänge sind rein finanzielle Transaktionen, die in gleicher Höhe die Forderungen und Verbindlichkeiten, nicht aber ihren Saldo (Nettogeldvermögen) verändern. (3) Die Ausgaben des Staates In Tab. 2-1 messen die Vorleistungen den Wert der im Produktionsprozess verbrauchten, verarbeiteten oder umgewandelten Waren und Dienstleistungen. Das sind im Wesentlichen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Brenn- und Treibstoffe, Post- und Telekommunikationsgebühren, gewerbliche Mieten usw. Zu den Vorleistungen des Staates rechnen auch die „harten“ militärischen Güter (außer auch zivil nutzbare militärische Ausrüstungen und Bauten). Das Arbeitnehmerentgelt schließt die erwähnten unterstellten Sozialbeiträge ein, die somit ohne Einfluss auf den Saldo aus Einnahmen und Ausgaben des Staates sind. Bei den geleisteten sonstigen Produktionsabgaben des Staates handelt es sich um an sich selbst gezahlte Kfz-Steuern. Die geleisteten Vermögenseinkommen bestehen in Zinsen des Staates für seine Kreditaufnahme. Sie werden – wie Zinsen generell – der Einkommensverteilung, nicht aber der Produktion zugerechnet. Zinsen werden im Üb-

1

2

Dann gehen sie nämlich nicht auf „normale“, vorrangig aus der Geldschöpfung resultierende Zentralbanktätigkeit zurück und gelten nach den Regeln des ESVG als finanzielle Transaktionen, stellen also keine Einnahmen des Bundes dar. Erbschaftsteuern und Lastenausgleichsabgaben gelten als vermögenswirksame Steuern, d.h. Zwangsabgaben, die in unregelmäßigen und sehr großen Abständen auf den Wert der Vermögensgegenstände oder des Reinvermögens der institutionellen Einheiten bzw. auf Vermögenswerte erhoben werden, die zwischen institutionellen Einheiten aufgrund von Vermächtnissen, Schenkungen und anderen Transfers übertragen werden.

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Erster Teil: Grundlagen

rigen nach dem Grundsatz der periodengerechten Zuordnung entsprechend ihrem Auflaufen verbucht. Subventionen sind laufende Zahlungen ohne Gegenleistung, die der Staat oder Institutionen der Europäischen Union an gebietsansässige Produzenten leisten. S Subventionen stellen also laufende Übertragungen dar, die Abgrenzung gegen Vermögenstransfers ist systembedingt (Trennung von Einkommensphäre und Transaktionen von Vermögen) 1. Grundsätzlich werden nur die tatsächlichen Leistungen verbucht, d.h. Subventionen schließen keine Steuervergünstigungen ein. Eine Ausnahme von dieser Regel stellen die gewährten Umsatzsteuervergünstigungen (einbehaltene Umsatzsteuer) im Rahmen der pauschalierten Besteuerung in der Landwirtschaft dar. S Subventionen aus EU-Mitteln sind als Direktzahlung von der übrigen Welt (EU) zu verbuchen und nicht zunächst über den Staat zu leiten. S Wie bei den Produktions- und Importabgaben werden Gütersubventionen sowie sonstige Subventionen unterschieden. Gütersubventionen werden von Produzenten erhoben und pro Einheit einer produzierten oder eingeführten Ware oder Dienstleistung geleistet. Sonstige Subventionen sind nicht auf Produktionseinheiten bezogen. Monetäre Sozialleistungen stellen laufende Übertragungen an Haushalte in Form von Renten, Pensionen, Unterstützungen, Krankengeldern, Beihilfen im öffentlichen Dienst 2 dar 3. Soziale Sachleistungen fallen an, wenn private Haushalte Waren bzw. Dienstleistungen kaufen und deren Kosten dann z.B. von der Sozialversicherung erstattet werden. Die geleisteten sonstigen laufenden Transfers des Staates bestehen in den Zahlungen aus der BNE-Eigenmittelquelle der EU. Die von den übrigen Eigenmitteln abweichende Verbuchung ist ökonomisch fragwürdig. Vermögenstransfers gelten als einmalig, sie stellen für die jeweils kleinere an dem Transfer beteiligte Einheit eine Vermögensänderung dar. Es ist aber selten festzustellen, ob und in welchem Umfang Vermögenstransfers das Vermögen der Empfänger erhöht wird (z.B. Investitionszuschüsse an die Landwirtschaft oder Spar- und Wohnungsbauprämien an private Haushalte). Auch liegt der Vermögenseffekt nicht beim Staat, sondern u.a. beim privaten Haushalt. Andererseits wird die Vermögensveränderung nur unvollständig dargestellt, weil steuerliche Maßnahmen mit dem gleichen Ziel nicht erfasst werden. (Sie könnten auch nur durch besondere Schätzung ermittelt werden.)

Die Bruttoinvestitionen des Staates bestehen praktisch nur in Bruttoanlageinvestitionen, d.h. in Käufen neuer Anlagegüter sowie Käufen von gebrauchten Anlagen nach Abzug der Verkäufe von Anlagen. Dazu rechnen auch die Anschaffung und eigene Produktion von immateriellen Vermögensgegenständen (z.B. die gekaufte und selbsterstellte Software) sowie der Erwerb zivil nutzbarer militärischer Ausrüstungen und Bauten (Fahrzeuge, Kasernen, Flugzeuge, Straßen, Hafenanlagen, Krankenhäu1 2 3

Sie ist aber insbesondere bei der sektoralen Beurteilung der Subventionen fragwürdig (vgl. Kapitel 7.2 und Fritzsche 2002). Die entsprechenden Ausgaben der privaten Haushalte, für die Beihilfen gewährt werden, gelten als Privater Konsum. Das seit 1996 gewährte steuerliche Kindergeld wird im vollen Umfang als monetäre Sozialleistung gerechnet.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

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ser). Der Erwerb von militärischen Waffen und Waffensystemen gilt als Vorleistungskauf 1. Der staatliche Wohnungsbau wird bei den nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften gebucht. Eine eigenständige Ausgabenkategorie (und nicht Teil der Bruttoinvestitionen) ist der Nettozugang an nichtproduzierten Vermögensgütern; d.h. beim Staat der Saldo aus dem Kauf und dem Verkauf von unbebauten Grundstücken 2. Bürgschaften (Garantien) gelten als Eventualverbindlichkeiten und nicht als Ausgaben. Sie werden in der Regel erst bei Inanspruchnahme gebucht 3. d) Produziert der Staat überhaupt? Die Auffassung, dass der Staat produziert, war umstritten. In dem auf Karl Marx zurückgehenden Konzept der materiellen Produktion werden die Dienstleistungen, darunter die des Staates, grundsätzlich nicht der Produktion zugerechnet, weil nur auf Sachgüter abgestellt wird 4. Viele Sachgüter sind aber ohne Dienstleistungen zwecklos. Nach einem anderen Konzept besteht Produktion nur in marktbestimmten Aktivitäten. Dann gelten zumindest die unentgeltlich vom Staat bereitgestellten Leistungen nicht als Produktion. Für ein weiter gefasstes Konzept spricht, dass diese Leistungen meist gleichzeitig oder zu anderen Zeiten und in anderen Ländern zumindest teilweise vom privaten Sektor verkauft oder vom Staat entgeltlich abgegeben wurden bzw. werden. Gelten sie nicht als Produktion, bleibt offenbar ein erheblicher Teil der Versorgung mit Leistungen z.B. in Verkehrswesen, Rechtspflege oder Ausbildung unberücksichtigt. Auch setzt der Staat Produktionsfaktoren ein, konkurriert um diese und nimmt so einen Teil des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials in Anspruch. Dabei entstehen Einkommen. Nach den Regeln der VGR umfasst die Produktion alle Sachgüter und Dienstleistungen des Staates. e) Die Bewertung der Nichtmarktproduktion des Staates (1) Die Abgrenzung Nichtmarkt- und Marktproduktion Die VGR erfassen Markt- und Nichtmarktproduktion. Marktproduktion liegt vor, wenn Güter für den Markt hergestellt und zu wirtschaftlich signifikanten Preisen verkauft werden 5. Die Verkäufe des Staates stellen beim Empfänger der Leistungen 1 2 3

4 5

Mit der nächsten Revision der VGR in 2014 werden diese als Investitionen verbucht. Diese Position ist nur sektoral von Bedeutung, sie gleicht sich gesamtwirtschaftlich praktisch aus. Ausnahme sind z.B. staatliche Garantien an Unternehmen in finanzieller Schieflage, bei denen der Zugang zum Kapitalmarkt ohne solche Stützung versperrt wäre und bei denen eine (Teil-)Inanspruchnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wird. Mit gegebenen Garantien können auch Einnahmen aus Gebühren verbunden sein. Die Ausnahme wurde angesichts der Größe des Rettungsschirms als Folge der Finanzkrise von Eurostat – wohl auf politischen Druck – nicht angewandt. Das von den Vereinten Nationen als System der Materiellen Produktion bezeichnete Rechnungswesen wurde auch in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern verwendet. Hierzu müssen Verkaufserlöse über die Hälfte der Produktionskosten decken (50 %-Kriterium).

20

Erster Teil: Grundlagen

Vorleistungen dar (so bei den Kapitalgesellschaften), oder sie gehen in den Privaten Konsum ein 1. Bedeutsamer sind beim Staat die der sonstigen Nichtmarktproduktion zugerechneten unentgeltlich abgegebenen Dienstleistungen. (2) Die Bewertung der sonstigen Nichtmarktproduktion Weil Marktpreise fehlen, könnte man zur Bewertung der Nichtmarktproduktion 2 Pseudo-Marktpreise wählen, die bei einer entgeltlichen Abgabe dieser Leistungen erzielt würden. Das mag theoretisch überzeugend sein, ist aber nur selten praktikabel, weil vergleichbare private Güter fehlen. Auch Ansätze, die auf die Zahlungsbereitschaft der potenziellen Nutzer öffentlicher Leistungen abstellen, sind nur bei einzelnen Projekten Erfolg versprechend. In der Praxis der VGR wird die sonstige Nichtmarktproduktion des Staates mit den angefallenen Kosten bewertet und als Konsumausgaben des Staates (CSt) bezeichnet. Es wird also unterstellt, dass die Leistungen der Gemeinschaft gerade soviel wert sind, wie sie in Gestalt von Vorleistungen, Arbeitnehmerentgelt und Abschreibungen gekostet haben. Allerdings sind die so gemessenen Kosten unvollständig erfasst, weil etwa die Kapitalkosten nur mit den Abschreibungen berücksichtigt werden. Allerdings sind die Kapitalkosten nur wenig empirisch fundiert zu schätzen. Das gilt auch für die Nutzung der Gebäude in staatlichem Eigentum. Wichtiger ist hier, dass Kosten ein anderes Bewertungsmaß als Marktpreise darstellen, weil die Nutzer der unentgeltlich abgegebenen staatlichen Leistungen nicht wie bei Marktgütern mit Anpassungen reagieren (können). Kosten können den Wert der Leistungen für die Gemeinschaft, d.h. für die Nutzer, über- oder unterschreiten. Die fehlende Marktbewertung staatlicher Leistungen und der Rückgriff auf die Kosten bedeuten, dass Mengen und Preise der Inputs, nicht aber der Outputs geplant und beschlossen werden. So besteht die Gefahr, dass wachsende Ausgaben beispielsweise im Gesundheits- oder im Bildungsbereich als Leistungszunahmen oder -verbesserungen interpretiert werden. Aber welche Schlüsse sind zu ziehen, wenn gleichzeitig der Gesundheitsstatus oder die Pisa-Ergebnisse sich verschlechtern? Werden die Leistungen nur teurer oder werden sie weniger effizient bereitgestellt? Die Bereitstellung öffentlicher Güter bildet zwar „die Antriebsfeder der staatlichen Aktivität, aber über die öffentlichen Güter selbst stehen kaum Informationen zur Verfügung, schlimmer noch über öffentliche Güter wird diskutiert geplant und beschlossen, indem allein ihre Reflexe, eben just die Ausgaben zur Beschaffung der Ressourcen in das Entscheidungskalkül eingehen“ (Littmann 1976, S. 74). 1 2

Nichtmarktproduktion schließt die Nichtmarktproduktion für die eigene Verwendung (beim Staat nur die selbsterstellten Anlagen) ein. Für die Inputseite staatlicher Produktion, also für die vom Staat aufgenommenen Leistungen (VLSt, YStH ) ist die Marktpreisbewertung möglich. Allerdings „erfolgt diese Marktpreisbewertung oftmals unter besonderen Bedingungen, z.B. sind die Preise eingekaufter Rüstungsgüter im Zweifelsfalle nicht das Resultat von Wettbewerbskonstellationen. Zuweilen liegen sogar überhaupt keine Marktpreise vor, wie u.a. bei der Besoldung von Wehrpflichtigen“ (Littmann 1975, S. 43).

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

21

f) Unentgeltliche staatliche Leistungen: Zwischen- oder Endprodukte? (1) Lösungsversuche Je nach Zuordnung der unentgeltlich abgegebenen staatlichen Leistungen ändert sich die Höhe des BIP. Für andere Produzenten stellen sie (unentgeltlich bezogene) Vorleistungen dar, die zu Doppelzählungen führen können: staatliche Nichtmarktproduktion wird dann selbst ausgewiesen und nochmals in der Produktion der anderen Sektoren, zu deren Zustandekommen sie beiträgt. Sind die privaten Haushalte (in ihrer Eigenschaft als nichtmarktproduzierende Einheiten) Nutzer, gehen sie in ihren Endverbrauch ein und erscheinen nicht mehr an anderer Stelle im Produktionsprozess. Die Diskussion um die richtige Zurechnung ist schon alt. Sie hat zu praktisch möglichen, aber theoretisch unbefriedigenden bzw. zu theoretisch korrekten, aber praktisch undurchführbaren Lösungsvorschlägen geführt. So könnte man einfach unterstellen, dass die Sektoren jeweils soviel staatliche Leistungen empfangen, wie sie Steuern zahlen. Bei sektoraler Gültigkeit des Äquivalenzprinzips 1 würden demnach die von den Produzenten gezahlten Steuern als Entgelt für ihre vom Staat empfangenen Vorleistungen interpretiert. Steuern sind aber kein spezielles Entgelt für staatliche Leistungen. Auch lässt das Verfahren die übrigen nichtsteuerlichen Einnahmen und die vom Staat geleisteten Übertragungen unberücksichtigt. Haushaltsüberschüsse und -defizite bringen weitere Probleme. Nach einer anderen Annahme kommt die staatliche Nichtmarktproduktion voll den Produzenten zugute, geht in ihren Produktionswert ein und spart diesen eigene Aufwendungen. In diesem Fall wird zwar eine Doppelzählung vermieden. Allerdings wird das Inlandsprodukt zu niedrig ausgewiesen, weil ein Teil der unentgeltlich abgegebenen Leistungen sicher den privaten Haushalten zufließt. Für eine überzeugende Lösung muss jede einzelne unentgeltlich abgegebene staatliche Leistung untersucht und danach zugeordnet werden, wem sie zugute kommt. Dieser spezifizierende Ansatz ist aber praktisch nur eingeschränkt anwendbar, da befriedigende Aufteilungsschlüssel allenfalls für einzelne Bereiche zu finden und aus Kostengründen auch nur im Wege der Konvention für Leistungsblöcke anwendbar sind.

Wegen der praktischen Schwierigkeiten der Zurechnung wird in den VGR die gesamte sonstige Nichtmarktproduktion des Staates als Konsumausgaben des Staates (CSt) und damit als Endverwendung behandelt. Mangels besserer Lösungen werden so Doppelzählungen in Kauf genommen 2. Die Höhe des BIP verändert sich auch, wenn der Staat die vorher mit Preisen angebotenen Dienstleistungen unentgeltlich abgibt (und umgekehrt). Der Staat verbraucht diese Leistungen nicht selbst bzw. erbringt

1 2

Das Äquivalenzprinzip verlangt, dass den Leistungen entsprechende Gegenleistungen gegenüber stehen (vgl. Kapitel 14). Horz/Reich (1982) haben unter Zugrundelegung der Classification of the Functions of Government (COFOG) geschätzt, dass die intermediären Leistungen des Staates etwa 15 % des staatlichen Konsums und 3 % des BIP ausmachen. Bei der Interpretation dieser Zahlen ist auch die problematische Bewertung von CSt zu beachten.

Erster Teil: Grundlagen

22

sie nicht für eigene Zwecke, allerdings fällen politische und administrative Kollektive die Entscheidungen über die Versorgung mit diesen Leistungen 1. (2) Definitorische Zusammenhänge zwischen Produktionswert und Konsumausgaben des Staates Tab. 2-2 zeigt die staatliche Produktionstätigkeit. Die Marktproduktion ist relativ gering. Der Produktionswert des Staates besteht praktisch nur in den Vorleistungen, Abschreibungen und dem geleisteten Arbeitnehmerentgelt. Zu CSt gelangt man, indem von der sonstigen Nichtmarktproduktion des Staates seine Verkäufe aus Nichtmarktproduktion (selbsterstellte Anlagen) abgezogen und die Sozialen Sachleistungen zugerechnet werden. Da Abschreibungen nicht zu den Ausgaben des Staates rechnen, ist auch CSt nicht Teil der staatlichen Ausgaben und wird in Tab. 2-1 nur nachrichtlich aufgeführt. Tab. 2-2 Produktion und Einkommensentstehung beim Staat, Mrd. Euro 2000

2005

2009

Marktproduktion + Sonstige Nichtmarktproduktion

14,1 265,6

12,5 284,7

12,4 311,8

= Produktionswert - Vorleistungen

279,7 82,4

297,2 95,5

324,2 111,3

= Bruttowertschöpfung - Abschreibungen

197,3 34,8

201,7 35,9

212,9 39,8

= Nettowertschöpfung - Arbeitnehmerentgelt - Sonstige Nettoproduktionsabgaben1

162,5 166,1 - 1,0

165,9 168,9 -0,4

173,1 177,6 -0,5

- 2,6

-2,6

-4,1

+ Sonstige Nichtmarktproduktion - Verkäufe aus Nichtmarktproduktion + Soziale Sachleistungen

264,8 25,9 153,0

284,0 31,8 167,4

310,9 35,4 196,6

= Konsumausgaben des Staates

391,9

419,6

472,1

= Betriebsüberschuss2

1 2

Sonstige Produktionsabgaben abzüglich sonstige Subventionen. Aus Marktproduktion.

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.4, 2005 und 2010, Tab. 3.4.3.1.

(3) Das Ausgaben- und das Verbrauchskonzept CSt wird nach dem Ausgabenkonzept und nach dem Verbrauchskonzept dargestellt. Im zweiten Fall werden die individualisierbaren Teile von CSt („individuell zurechen1

Das vom Staat bereitgestellte, nicht marktbestimmte Güterangebot wird auch als Realtransfer bezeichnet. Dazu kann auch die unentgeltliche Nutzung des staatlichen Sachvermögens (z.B. Straßen, Verwaltungsgebäude) rechnen. Sie wird in den VGR insoweit (in CSt) erfasst, wie die laufenden Ausgaben für die Instandhaltung der Straßen und die Abschreibungen als Ausdruck dieser Nutzung angesehen werden können.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

23

bare Sachleistungen“) auf Basis einer Klassifikation der Aufgabenbereiche des Staates zum Teil dem Individualkonsum der privaten Haushalte zugerechnet 1. Der Rest wird als Kollektivkonsum des Staates bezeichnet. Durch diese Aufspaltung von CSt wird der Bereich der Leistungen mit Doppelzählungscharakter auf den Kollektivkonsum eingeengt – soweit der Zuordnungsschlüssel zutreffend ist. g) Die Investitionen und die Abschreibungen des Staates Investitionen des Staates sind der Teil der Güter, die nicht unmittelbar im Produktionsprozess untergehen (verbraucht werden). Die Höhe von CSt hängt davon ab, wie weit ISt definiert ist 2. ISt ist nicht auf den Wert des Zuwachses an dauerhaften Sachgütern (Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude usw.) beschränkt, einbezogen werden auch Anschaffung und eigene Produktion immaterieller Vermögensgegenstände (z.B. von Software). Die Bildung von Humankapital (auch soweit es mit Hilfe des öffentlichen Sektors erzeugt wurde) gilt in den VGR nicht als Investition. Der Zweck der Abgrenzung von ISt und CSt kann sein, die Rolle des öffentlichen Sektors bei der Infrastrukturentwicklung deutlich zu machen. ISt gelten als wichtig für die Entwicklung des Wachstumspotenzials der Wirtschaft. Zwar kann bezweifelt werden, dass die Abgrenzung in den VGR 3 dieser Aufgabe gerecht wird. Allerdings ist eine überzeugende Lösung schwierig. So können öffentliche Investitionen das Wachstum stimulieren, indem sie die materielle Infrastruktur verbessern (z.B. Straßenbau) und längerfristig eine konsumtive Nutzung (z.B. Parks) ermöglichen. Beides trifft aber auch auf die CSt zugerechneten Personalausgaben zu. FuE-Ausgaben können wie Sachinvestitionen das Einkommenserzielungspotenzial erhöhen und ein wichtiger Wachstumsfaktor sein, gelten aber nicht als ISt. In die Verwendungsrechnung des Bruttoinlandsprodukts (2-1)

BIP ) C priv 9 C St 9 I 9 Ex 5 Im

geht der Staat mit CSt und ISt (als Teil der gesamten Investitionen) ein. Wie Abb. 2-3 zeigt, wirkt sich die Abgrenzung zwischen CSt und ISt nicht unmittelbar auf die Höhe des BIP aus:

1

2 3

In der Klassifikation des Staates nach Aufgabenbereichen (COFOG) nennt das ESVG 1995 (Tz. 3.85) explizit Unterrichtswesen, Gesundheitswesen, soziale Sicherung, Sport und Erholung, Kultur, ferner teilweise Bereitstellung von Wohnungen, Hausmüll- und Abwasserentsorgung und Betrieb von Verkehrsnetzen. Wenn Ausgaben nicht als Konsumausgaben sondern als Investitionen behandelt werden, steigt rechnerisch das Sparen. Entsprechendes gilt für die Finanzstatistik; vgl. Abschnitt j) unten.

Erster Teil: Grundlagen

24

Abb. 2-3 BIP und Ausgaben des Staates Cpriv

Ex – Im

Ipriv

I

ISt

ISt + CSt

Tr + R

BIP

Die Bruttoinvestitionen I umfassen hier Ipriv und ISt. In der (vor allem kurzfristigen) makroökonomischen Theorie wird I in der Regel auf Ipriv beschränkt und die staatliche Nachfrage durch Staatsausgaben (meist kurz: G) ohne Transfers (Tr) und Zinsen (R) dargestellt, die dann wie CSt behandelt werden. Rechnerisch werden so die Investitionen und in gleicher Höhe das Sparen der Volkswirtschaft verringert. Der staatliche Finanzierungssaldo bleibt unverändert. Auf staatliche Anlagegüter, darunter der öffentliche Tiefbau und militärischen Ausrüstungen und Bauten, werden Abschreibungen berechnet. Diese beeinflussen die Höhe der CSt und darüber das BIP. h) Die Unterscheidung zwischen Einkommen- und Vermögensteuern sowie Produktions- und Importabgaben Je nach Zuordnung der einzelnen Steuern auf die Einkommen- und Vermögensteuern (Td; früher direkte Steuern) bzw. auf die Produktions- und Importabgaben (Tind; früher indirekte Steuern) können die Nachweise von Produktion und Einkommen unterschiedlich ausfallen. Beispiele: Rechnet man anders als bisher (Tind) die Gewerbesteuer zu Td, bleibt das BIP über die nichtstaatlichen Verwendungsgrößen unverändert. In der Entstehungsrechnung steigen allerdings bei gleichem BIP die Erwerbs- und Vermögenseinkommen und daher die Bruttowertschöpfung der Volkswirtschaft und das Volkseinkommen. Die Wirkung einer geänderten Zuordnung auf CSt und die Bruttowertschöpfung des Staates ist anders; diese Größen steigen und damit nimmt auch das BIP zu. Die unterschiedliche Wirkung im privaten und öffentlichen Bereich erklärt sich daraus, dass eine geänderte Verbuchung der Steuern im privaten Bereich die Erwerbs- und Vermögenseinkommen tangiert (in dem Beispiel steigen die Unternehmenseinkommen als Restgröße!), aber nicht im staatlichen Bereich, soweit die Rechnung über die Kostenseite erfolgt.

Die Zuordnung beeinflusst also die Höhe von BIP und Volkseinkommen 1. Maßgeblich hierbei ist, wer die Steuern zahlt (Produzenten bzw. Nichtproduzenten) und ob eine steuerliche Abzugsfähigkeit (als Betriebsausgaben oder Werbungskosten) bei der Gewinnermittlung vorliegt. Dahinter steht letztlich die Vorstellung, dass Produkti1

Das Volkseinkommen ergibt sich, wenn vom BIP ausgehend durch Abzug des Saldos der Primäreinkommen aus der übrigen Welt das BNE berechnet wird, von dem ferner die Abschreibungen sowie die Nettoproduktionsabgaben an den Staat abgezogen werden. Letztere stellen EUEigenmittel dar und beeinflussen die Höhe des BNE.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

25

ons- und Importabgaben im Preis überwälzt werden und einfach einen durchlaufenden Posten darstellen, Einkommen- und Vermögensteuern hingegen nicht. Denn ohne diese Hypothese wäre es sinnlos, zwischen beiden Gruppen von Steuern zu unterscheiden 1. Die Abgrenzung ist aber rein rechnungsmäßig oder formal und ökonomisch fragwürdig, weil die steuerliche Abzugsfähigkeit verschieden regelbar ist und einzelne Steuern (z.B. Gewerbesteuer) hinsichtlich der Wirkungen auf die Gewinne kaum anders zu beurteilen sind als die Einkommensteuer. Auch die Aufgliederung der Produktions- und Importabgaben (entsprechend Subventionen) in Gütersteuern und sonstige Produktionsabgaben ist rein formal. Sie ermöglicht es Produktionswert, Bruttowertschöpfung und Nettowertschöpfung zu Herstellungspreisen zu bewerten, also ohne Nettogütersteuern (Differenz aus Gütersteuern und Gütersubventionen). Das ist für sektorale und regionale Analysen hilfreich. Zu den Gütersteuern zählen alle Steuern und ähnliche Abgaben, die pro Einheit einer produzierten oder gehandelten Ware oder Dienstleistung zu entrichten sind 2. Sie umfassen die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) und Importabgaben (Zölle, Verbrauchsteuern und Abschöpfungsbeträge auf eingeführte Güter) sowie sonstige Gütersteuern (z.B. Verbrauchsteuern, Versicherungsteuer, von Unternehmen gezahlte Grund- und Kfz-Steuer). Entsprechend werden Gütersubventionen bei produzierten oder eingeführten Gütern geleistet. Beide sind in der Regel zahlbar, wenn die Ware oder Dienstleistung produziert, verkauft oder eingeführt wird. i) Abschließende Beurteilung der Verbuchung des Staates. Ansätze zur Ausweitung und Ergänzung der VGR Die Erfassung des Staates im Rahmen der VGR weist die folgenden Merkmale auf: statt Bewertung zu Marktpreisen der Rückgriff auf die Kosten; statt Verbuchung ohne Doppelzählungen Darstellung von CSt als Endverwendung; statt Outputangaben Inputdaten; Verbuchung zum Zeitpunkt des Entstehens von Forderungen/Verbindlichkeiten statt Kassenwirksamkeit; neben tatsächlichen unterstellte und umgeleitete Transaktionen. Beim ungelösten Outputproblem stellt sich die Frage nach den Ergebnissen staatlichen Handelns. Das führte zu Vorschlägen einer Revision oder Ergänzung der VGR. Vorgeschlagen wurde insbesondere das Produktionskonzept der VGR um ein Nettowohlfahrtskonzept zu ergänzen und Systeme sozialer Indikatoren zu entwickeln. Zur Entwicklung eines Maßes für die Nettowohlfahrt einer Gesellschaft könnten zuerst sog. Regrettable Necessities vom Inlandsprodukt in Abzug gebracht werden. Dazu rechnen Nordhaus/Tobin (1973) gerade auch staatliche Leistungen etwa in den Bereichen Verteidigung und Gesundheit. Zweifellos würden solche Ausgaben unter anderen Umständen gerne aufgegeben; das gilt auch für Heizung, Umzugskosten usw. Solange die Umstände aber bestehen, werden die Güter auch nachgefragt. Vom Outputkonzept 1 2

Hintergrund der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Steuern war eine theoretische Auseinandersetzung um die Marktpreis- oder Faktorkostenbewertung der Produktion. Bei den sonstigen Produktionsabgaben als der anderen Komponente der Produktions- und Importabgaben ist kein Bezug zur Einheit der Güter herzustellen.

26

Erster Teil: Grundlagen

der VGR bliebe wenig übrig, wenn man die Abzugsposten sehr weit fassen würde. In einem engen Konzept wird versucht ein Ökoinlandsprodukt zu schätzen, bei dem vom traditionell gemessenen BIP die Kosten (warum nur Berücksichtigung der Kosten?) der Umweltnutzung abgezogen werden. Es gibt auch Versuche staatliche Outputs zu definieren und zu bewerten. Dies erfolgt ansatzweise im Rahmen der Programmplanung (siehe 7. Kapitel), der Erstellung sozialer Indikatoren und anderer Indikatoren (z.B. nach dem Lissabonprotokoll) sowie jüngst in den VGR bei dem Versuch der Volumensmessung zur Berechnung von Preisindizes auch für den Staat. Allerdings sind diese Ansätze nicht unumstritten und haben eine grundlegende Schwäche: Sie können nicht sinnvoll so verknüpft werden, dass ein analytisch widerspruchsfreies System entsteht, insbesondere lassen sich die Elemente nicht zu Gesamtgrößen aggregieren bzw. konsolidieren 1. j) Vergleich des Staates in VGR und Finanzstatistik Die Finanzstatistik vermittelt einen umfassenden Überblick über Stand und Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft. Sie enthält Angaben über Ausgaben, Einnahmen, Schulden, Personal und Versorgungsempfänger der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherung. Die Finanzstatistik übernimmt die haushaltsrechtlichen Definitionen und Abgrenzungen, die der Darstellung der Haushaltspläne und -rechnungen zugrunde liegen. Die Positionen werden allerdings verschieden und unter anderen Oberbegriffen zusammengefasst. Die Finanzstatistik spiegelt relativ budgetgetreu die öffentlichen Haushalte wider und knüpft damit weitgehend an die tatsächlichen Zahlungsvorgänge an. Das Quellenmaterial über die öffentlichen Einnahmen und über die Ausgaben in den VGR wird vor allem der Finanzstatistik entnommen. Es wird durch mehr oder weniger umfangreiche Umformungen, die zum Teil aufgrund von Schätzungen vorgenommen werden müssen, in die Abgrenzungen und Definitionen der VGR überführt und durch weitere Größen ergänzt. Das gilt beispielsweise für die in den VGR gebuchten Abschreibungen und unterstellten Sozialbeiträge. Bei anderen Größen muss die Periodisierung geändert werden. Die Finanzstatistik versteht unter öffentlichen Ausgaben im Prinzip alle von öffentlichen Kassen vorgenommenen Auszahlungen an Empfänger außerhalb des Staatssektors, und zwar unabhängig vom zeitlichen Entstehen der jeweiligen Forderungen bzw. Verbindlichkeiten. In den VGR erfolgt der Nachweis der Ströme hingegen nach dem Grundsatz der periodengerechten Zuordnung („Accrual Basis“), d.h. zu dem Zeitpunkt, zu dem ein wirtschaftlicher Wert geschaffen, umgewandelt oder aufgelöst wird bzw. zu dem Forderungen oder Verbindlichkeiten entste-

1

Schließlich, und teilweise unter Rückgriff auf diese Ansätze, kann das Kernsystem der VGR um Satellitensysteme ergänzt werden.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

27

hen, umgewandelt oder aufgehoben werden 1. Daher muss zwischen Auszahlungen und Ausgaben einer Periode unterschieden werden, wobei Ausgaben in den VGR eine Verminderung der Nettopositionen (= Forderungen – Verbindlichkeiten) darstellen. Die Unterschiede in der Periodisierung zeigen sich beispielsweise bei den staatlichen Bruttoanlageinvestitionen. Sie werden in der Finanzstatistik im Wesentlichen zum Zeitpunkt der Bezahlung nachgewiesen. In den VGR gilt dagegen der Zeitpunkt der Produktionswirksamkeit, also der Wirkung auf den Einkommenskreislauf. Korrekturen werden auch bei Steuern vorgenommen. Für sie ist der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Tätigkeiten, Transaktionen oder sonstigen Ereignisse stattfinden, durch die die Steuerverbindlichkeiten entstehen. So weisen z.B. die Lohnsteuereinnahmen in der VGR ein gegenüber der Finanzstatistik phasenverschobenes Aufkommen 2 auf. Entsprechend wird bei den Ausgaben für Schlechtwetter- und Wintergeld verfahren. Auch die empfangenen und geleisteten Zinsen werden nicht wie in der Finanzstatistik nach ihrer Kassenwirksamkeit verbucht, für die VGR gilt der Grundsatz der periodengerechten Zuordnung entsprechend ihrem Auflaufen. Es wird also davon ausgegangen, dass Zinsen auf den ausstehenden Kapitalbetrag dem Gläubiger kontinuierlich bis zum jeweiligen Fälligkeitstermin als Einnahmen zufließen. In gleicher Höhe entsteht kontinuierlich eine Forderung bzw. Verbindlichkeit, die mit der tatsächlichen Zahlung der Zinsen bei Fälligkeit erlischt. Das hat auch Wirkungen für die Verbuchung von Schuldübernahmen. Neben der Phasenverschiebung wird bei den Zinsen auch das Disagio bei Wertpapieren als Zinsausgabe berücksichtigt 3. Der Trend der Einnahmen und Ausgaben zwischen beiden Rechnungen kann auch abweichen, weil die VGR bestimmte Vorgänge brutto erfassen: Während in der Finanzstatistik etwa das Kindergeld zu Lasten der Lohnsteuereinnahmen verbucht wird, weisen die VGR es als monetäre Sozialleistung nach 4. Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied zwischen den beiden Statistiken bei der Behandlung von staatlichen Darlehen an andere Sektoren und bei Schuldenerlass bzw. -übernahme. In der Finanzstatistik sind Darlehen und Beteiligungen, die zweifellos Auszahlungen der öffentlichen Kassen darstellen, öffentliche Ausgaben. In den VGR

1 2

3

4

So werden Mindereinnahmen infolge von Erstattungen, die auf Entscheidungen des Verfassungsgerichts beruhen, im Zeitpunkt des Urteils erfasst. So werden u.a. Zölle, Umsatz-, Tabak-, Strom-, Lohn-, Kapitalertrag- und Zinsabschlagsteuer mit einmonatiger Phasenverschiebung, Kaffee-, Brantwein- und Mineralölsteuer sogar mit zweimonatiger Phasenverschiebung dargestellt. Die Phasenverschiebung der Zinseinnahmen und –ausgaben hat auch zur Folge, dass in Fällen der Schuldenübernahme die vom übernehmenden Sektor bei Fälligkeit zu zahlenden Zinsen anteilig dem abgebenden Sektor anzulasten sind und die bis zur Schuldenübernahme auflaufenden Zinsverbindlichkeiten den zu buchenden Vermögenstransfer erhöhen. „Eine Kindergelderhöhung schlägt sich somit in den VGR als Ausgabenanstieg und in der Finanzstatistik als Einnahmenverkürzung nieder, ohne dass es zu einem unterschiedlichen Defizitausweis kommt“. Ähnliches gilt für die Behandlung von Steuervergünstigungen wie der Eigenheimzulage oder von Investitionszulagen (Deutsche Bundesbank 2003, S. 17).

28

Erster Teil: Grundlagen

gelten hingegen diese Vorgänge 1 wie auch die Tilgung aufgenommener Kredite gerade nicht als öffentliche Ausgaben; sie sind eben nur Auszahlungen, zu denen als Gegenposten gleichzeitig Schuldverpflichtungen oder Forderungsänderungen der Privaten entstehen (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 1976, S. 853/854). Bei Einnahmen und Ausgaben im Sinne der VGR muss also die Höhe der Nettoposition tangiert sein: reine Finanzvorgänge sind defizitneutral. Andererseits werden bestimmte fiktive Transaktionen hier (wie Schuldübernahme, -erlass, oder der Kaufpreis bzw. die erwartete Rendite sind nicht marktgerecht) in den VGR als defizitwirksamer Vermögenstransfer gebucht. Die Finanzstatistik berücksichtigt jeden kassenwirksamen Vorgang, solche Vermögenstransfers folglich nicht 2, 3. Für die finanzpolitische Diagnose sind die Ergebnisse der Rechenwerke je nach Schwerpunkt der Fragestellung unterschiedlich aussagekräftig (Sachverständigenrat, JG 1994/1995, Tz. 158): „Richtet sich diese eher auf die direkte Beeinflussung gesamtwirtschaftlicher Vorgänge wie auf die Entwicklung der gesamtstaatlichen Ausgabenstruktur im volkswirtschaftlichen Kontext, dann ist der Rückgriff auf die VGR sinnvoll. Freilich wirkt der Staat auch durch seine Darlehensgewährung auf die Dispositionen der privaten Wirtschaft ein, so dass in diesem Zusammenhang die ergänzende Betrachtung der finanzstatistischen Daten geboten ist. Für die konsolidierungspolitische Bewertung der Finanzpolitik und der konkreten Entwicklung der öffentlichen Haushalte auf den verschiedenen Ebenen sowie die Frage nach der Kapitalmarktbelastung durch das staatliche Finanzgebaren liefern die Daten der Finanzstatistik die relevanten Informationen“. 3. Indikatoren der staatlichen Aktivität a) Grundsätzliche Probleme der Indikatorauswahl Die Beurteilung von Art und Umfang der staatlichen Aktivität fällt je nach den zu ihrer Charakterisierung gewählten Größe unterschiedlich aus. So kann auf absolute Größen, auf ihre Änderungsraten oder auf das Verhältnis verschiedener Größen und seine Entwicklung abgestellt werden. 1

2

3

Erlöse aus dem Verkauf öffentlicher Grundstücke verringern das Defizit, nicht aber der Erlös aus dem Verkauf von Aktien oder anderen Wertpapieren (die Forderungen darstellen). Die Grenzziehung zwischen einer Umschichtung im Finanzvermögen und einer defizitwirksamen Transaktion ist nicht immer klar. So können Kapitalzuführungen an öffentliche Unternehmen Beteiligungserwerb und damit defizitneutral sein („finanzielle Transaktionen“), oder aber als Verlustausgleich gelten und (damit eine Ausgabe und) defiziterhöhend sein. Für die Finanzstatistik liegt stets eine Ausgabe vor. Die Differenz der in den beiden Statistiken nachgewiesenen Finanzierungssalden kann beachtlich sein; sie betrug z.B. in den Jahren 1993 und 1994 ca. 2 % der öffentlichen Ausgaben im Sinne der VGR. Zusätzliche Probleme ergeben sich durch den Begriff Nettokreditaufnahme. Hier handelt es sich um den Betrag, der zur Finanzierung eines Defizits (laut Finanzstatistik) am Kapitalmarkt aufgenommen werden muss. Soweit öffentliche Haushalte ihren Finanzbedarf über Rücklagenentnahme und Münzeinnahmen befriedigen, ist die Nettokreditaufnahme geringer als das Defizit.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

29

Absolute Zahlen z.B. der gesamten Staatsausgaben geben zwar einige Hinweise auf die Bedeutung staatlicher Aktivität. Sie sind aber zur Beurteilung der staatlichen Aktivität in der Regel insofern wenig aussagekräftig, als S Entwicklungstendenzen und strukturelle Veränderungen – z.B. beim Vergleich privater vs. staatlicher Sektor – nicht sichtbar gemacht werden können; S bei regionalen oder internationalen Vergleichen das Inlandsprodukt ganz unterschiedlich sein kann. Verhältniszahlen zur Beschreibung staatliche Aktivität sind zwar häufig aussagekräftiger als absolute Zahlen. Aber bereits mit der nach subjektiven Gesichtspunkten erfolgten Auswahl der Beziehungszusammenhänge, also mit der Bestimmung der Größen, die in Zähler und Nenner der Verhältniszahlen eingehen sollen, kann das Ergebnis der Betrachtung beeinflusst werden. Es gibt keine zwingenden Regeln für eine objektive, materiell richtige Festlegung der Beziehungszusammenhänge (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 1976, S. 850): Der Umfang der Staatstätigkeit kann mit einer Ausgabenquote und möglicherweise ebenso zutreffend mittels einer Einnahmenquote dargestellt werden, aber auch der Anteil der öffentlich Bediensteten an der Zahl der insgesamt Erwerbstätigen kann zweckmäßig sein. Im Regelfall ergeben sich recht unterschiedliche Werte. Neben Quoten, zu deren Berechnung Daten der VGR oder der Finanzstatistik herangezogen werden können, werden auch andere staatswirtschaftliche Beziehungszahlen (z.B. Staatsausgaben pro Kopf der Bevölkerung) gebildet. Übersicht 2-1 enthält eine Synopse zur Systematisierung finanzstatistischer Kennzahlen, die weitgehend auch mit den VGR-Daten aufgefüllt werden kann. b) Staatswirtschaftliche Ausgaben- und Einnahmenquoten als Indikatoren staatlicher Aktivität Bei der Bildung und Beurteilung von staatswirtschaftlichen Quoten geht es zunächst um die Abgrenzung der Teilmenge (z.B. Staatsausgaben) und der Gesamtmenge (z.B. Bruttoinlandsprodukt) 1. So können die gesamten Staatsausgaben zum Inlandsprodukt in Beziehung gesetzt werden (allgemeine Staatsquote) oder nur Teile der Staatsausgaben (z.B. Verteidigungsausgaben). Im letzteren Fall spricht man von speziellen staatswirtschaftlichen Quoten (oder Strukturquoten). Entsprechendes gilt für die Einnahmen insgesamt oder für Teile hieraus (z.B. Steuern). Die üblicherweise verwendeten staatswirtschaftlichen Quoten und Beziehungszahlen hängen im Einzelnen davon ab, (1) wie der Staat abgegrenzt ist, (2) was als Einnahmen bzw. Ausgaben nachgewiesen wird und (3) wie die Ströme periodisiert werden.

1

Im Folgenden werden sämtliche Angaben den VGR entnommen.

Erster Teil: Grundlagen

30

Übersicht 2-1 Synopse zur Systematisierung finanzstatistischer Kennzahlen Kennzahlen zur öffentlichen Finanzwirtschaft

Gesamtwirtschaftliche Kennzahlen z.B. Staatsquote, Steuerquote, Sozialleistungsquote

Haushaltswirtschaftliche Kennzahlen z.B. Haushalts-, Manövriermasse

Finanzstatistische Kennzahlen

Absolute Zahlen z.B. Finanzierungssaldo, Nettokreditaufnahme, freie Spitze

Verhältniszahlen

Gliederungszahlen (echte Quoten in Prozent)

Übrige Kennzahlen z.B. Korrelations-, Regressionskoeffizienten Streuungsmaße

Beziehungszahlen (unechte Quoten in Prozent oder DM)

Ausgabenquoten 2 z.B. Personalausgabenquote, Sachaufwandsquote, Zinsquote, Investitionsquote, Sachinvestitionsquote

Finanzierungs-, Deckungsquoten z.B. Gesamtdeckungsquote Steuerdeckungsquote, Kreditfinanzierungsquote, Ausgaben-/Kostendeckungsgrade

Einnahmenquoten z.B. Steuerquoten

Belastungsquoten z.B. Zinslastquote, Schuldendienstbelastungsquote

Quoten für die Gesamtbevölkerung z.B. Schulden Steuerkraft, Ausgaben für Bildung, Kultur, Gesundheit, soziale Sicherung pro Kopf der Bevölkerung

Schuldenquoten z.B. Anteil der Kreditmarktmittel der Auslandsschulden, der Schulden bei Verwaltungen

Übrige Prozent-Quoten z.B. Schuldenstand in Prozent des Haushaltsvolumens, Schuldendienstausgaben in Prozent der Steuereinnahmekraft

Quoten für Personengruppen z.B. Ausgaben je Schüler, je Student und Fachrichtung, je Sozialhilfeempfänger

1 2

1

Personenbezogene Quoten

Sachbezogene Quoten ("Kosten"-Kennzahlung) z.B. Unterhaltungsaufwand je Straßen-Kilometer, Investitionsaufwand je Autobahn-Kilometer, laufende und investive Ausgaben je Kindergartenplatz, Studienplatz, Altenwohnheimplatz, Krankenhausbett Kosten eines Studiengangs oder der Behandlung bestimmter Krankheiten

Gesetzlich oder vertraglich nicht gebundene Ausgaben. Für den Gesamthaushalt oder einzelne Aufgabenbereiche – z.B. Anteil der Personlausgaben eines Aufgabenbereichs an den gesamten Personalausgaben einer Körperschaft(sgruppe) bzw. an den gesamten Ausgaben für diesen Aufgabenbereich.

Quelle: Essig (1984b), S. 798.

c) Verschiedene Ausgabenquoten Die Einnahmen und Ausgaben können zu zahlreichen Größen sinnvoll in Beziehung gesetzt und so für Vergleiche normiert werden. Meist wird das BIP als Bezugsgröße gewählt. Der Staat kann aus verschiedenen Perspektiven gezeigt werden – als Institution, die Ausgaben tätigt, die produziert, die Güter bereitstellt (oder verwendet), die Einnahmen erhebt oder umverteilt, die Arbeitgeber oder Kreditnehmer bzw. -geber ist. Die allgemeine Staats(ausgaben)quote (2-1)

q1 = ASt/BIP

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

31

enthält die gesamten Staatsausgaben (ASt) für Güter und Transfers im Zähler. q1 zeigt, in welchem Ausmaß bestimmte Kreislaufströme über den öffentlichen Sektor laufen, nicht hingegen wie stark der Staat Güter oder Ressourcen einer Volkswirtschaft in Anspruch nimmt. Durch den Einschluss der geleisteten Transfers wird auch die Bedeutung der Umverteilung sichtbar (allerdings fehlen weitgehend die Steuervergünstigungen). Problematisch ist, dass zwar CSt und ISt, nicht aber die Gesamtausgaben des Staates Teilmenge des BIP sind. q1 ist daher eine unechte Quote, die zusammen mit der privaten Ausgabenquote einen Wert von über 100% ergibt. ASt enthält in q1 nicht die Aktivitäten öffentlicher Unternehmen (soweit diese den Kapitalgesellschaften zugerechnet werden). q1 geht aber über reine Ausgaben hinaus, weil unterstellte Transaktionen eingeschlossen werden. Um den Anteil der vom Staat beanspruchten Güter an der Verwendung des Inlandsprodukts zu beschreiben, oder anders formuliert: um das Ausmaß der kollektiv getroffenen Entscheidungen anstelle privater oder individueller Entscheidungen über die Allokation der Güter einer Volkswirtschaft zu bestimmen, ist (2-2)

b q 2 ) (CSt 9 ISt ) / BIP

geeignet. q2 und die Quote „private Ausgaben für Güter zu BIP“ beschreiben (zuzüglich Außenbeitragsquote) die gesamte Verwendung des Bruttoinlandsprodukts. Zeigt man nur CSt oder ISt in Relation zum BIP, sind bei deren Interpretation Berechnungsund Abgrenzungsprobleme beider Größen zu beachten. Die von den Vorleistungen bereinigte Leistung des Staates wird in der staatlichen Bruttowertschöpfung (BWSSt) zum Ausdruck gebracht. BWSSt zeigt, was der Staat – ohne öffentliche Unternehmen und ohne von ihm finanzierte private Produktion – selbst produziert. BWSSt wird sinnvollerweise statt zum BIP zur gesamtwirtschaftlichen BWS in Relation gesetzt. Die Quote sagt nichts darüber aus, in welchem Umfang der Staat Leistungen an die übrigen Sektoren abgibt (da BWSSt in der Entstehungsrechnung verbucht wird). Funktionsbezogene Staatsausgabenquoten – z.B. für Verteidigung, Bildung, Entwicklungshilfe – liefern grobe Informationen über die staatliche Aktivität im jeweiligen Aufgabenbereich: Öffentliche Ausgaben dienen häufig mehreren Zwecken, ihre Zuordnung ist dann problematisch. Rechnen z.B. die Ausgaben für Bundeswehrkrankenhäuser dem Aufgabenbereich ,,Verteidigung“ oder ,,Gesundheitswesen“, Ausgaben der Arbeitsförderung zum Bildungs- oder Sozialbereich? Intertemporale und internationale Vergleiche werden erschwert, wenn staatliche Aktivitäten verschieden abgegrenzt sind oder teils privat bzw. teils vom Staat bereitgestellt werden. Wenn die einzelnen Staaten Entwicklungsausgaben hinsichtlich Militärausgaben und privaten Hilfen unterschiedlich abgrenzen, ist eine schlüssige Aussage über die Verteilung der internationalen Finanzlasten für die Entwicklungshilfe nicht möglich. Die einzelnen Quoten sagen vor allem nichts darüber aus, ob bestimmte Aufgaben effizient erfüllt werden. Die Staatsausgaben bringen nur Inputs und nicht die Leistungen selbst (Out-

Erster Teil: Grundlagen

32

puts) zum Ausdruck (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 1976, S. 857) 1. Daher kann eine hohe Bildungsausgabenquote hohe Lehrergehälter bedeuten, aber über die Qualität der Bildung wenig aussagen. Eine Besonderheit ist die Sozialausgabenquote des Sozialberichts, in der die Sozialausgaben nicht nach VGR und Finanzstatistik abgrenzt sind. Sie enthält neben den Sozialausgaben auch manche Arten von Steuerermäßigungen und private Aktivitäten. d) Staatliche Einnahmenquoten und Defizitquote Staatliche Einnahmenquoten zeigen, in welchem Umfang dem privaten Sektor Mittel entzogen und auf den Staat (sowie die EU) übertragen wurden. Da jedoch regelmäßig ein Teil der Einnahmen in Form von Transfers wieder an die Privaten zurückfließt, ist aus der Einnahmenquote nicht zu erkennen, in welchem Umfang Einkommensteile endgültig aus der privaten in die öffentliche Verwendung übergegangen sind (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 1976, S. 860). Mit einzelnen Einnahmen (z.B. Verkäufe, Vermögenseinkommen) ist eine Gegenleistung verbunden. Die bei der Bildung von Ausgabenquoten auftretenden Probleme finden sich auch bei der Konstruktion von Einnahmenquoten. Zur besseren Vergleichbarkeit liegt das BIP als Bezugsgröße nahe. Bei der Abgrenzung der Größe im Zähler geht es darum, ob und welche Einnahmen neben den Steuern berücksichtigt werden sollen, die im übrigen in VGR und Finanzstatistik abweichend abgegrenzt sind. Die umfassendste Quote ist die Einnahmenquote (2-3)

]1 ) Ein / BIP .

Sie setzt die gesamten (nichtkreditären) Einnahmen im Sinne der VGR zum BIP in Beziehung. Enger abgegrenzt ist die Steuer- und Abgabenquote. (2-4)

] 2 ) (T 9 SB) / BIP

Sie ist um die Erbschaften, Mehrwertsteuer-Eigenmittel, Zölle und Einnahmen aus Verkäufen kleiner als ]1. Schließlich wird die Steuerquote (2-5)

1

] 3 ) T / BIP

Allerdings ist die Darstellung der Ausgaben des Staates nach Aufgabenbereichen (siehe Stache u.a. 2007) die Grundlage für eine Diskussion um die Qualität der staatlichen Ausgaben, mit der Umfang, Effizienz und Effektivität des öffentlichen Sektors untersucht werden sollen (vgl. Deerose/Kastrop 2008; EZB 2009, Monatsberichte, April). Hierbei ist wieder zu beachten, dass Ausgaben und Einnahmeminderungen (z.B. Steuervergünstigungen) ökonomisch gleichwertig sein können.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

33

verwendet. Sie enthält nicht die Sozialbeiträge (SB), die den Steuern (T) weitgehend vergleichbare Belastungen des privaten Sektors sind. Für internationale Vergleiche 1 ist auch wegen der unterschiedlichen Abgrenzung und Bedeutung von Steuern und Sozialbeiträgen die beide Einnahmen einschließende Quote zweckmäßiger. Auch die häufigen Umfinanzierungen zwischen T und SB sprechen gegen die Verwendung von ]3. Bei der Interpretation von Steuer- bzw. Abgabenquoten ist zu berücksichtigen, dass sie Durchschnitte darstellen 2. Bei speziellen Steuerquoten wird das Aufkommen einzelner Steuern oder Steuergruppen auf das BIP bezogen. Die Aussagefähigkeit solcher Verhältniszahlen (insbesondere in der Finanzstatistik) ist eingeschränkt, weil die Abgrenzung zu anderen Steuerarten fast nur mit rechtlichen Kriterien erfolgt. Bezieht man den Finanzierungssaldo, d.h. die Differenz aus den staatlichen Einnahmen und Ausgaben, auf das BIP, erhält man die Finanzierungsquote. In der Vergangenheit lag meist eine staatliche Defizitquote vor. e) Reale versus nominale Staatsquoten Bisher wurden Staatsausgabenquoten behandelt, in denen die Größen im Zähler und Nenner in jeweiligen Preisen ermittelt werden. Man spricht deshalb auch von nominalen Staatsquoten. Nun kann eine Veränderung der nominellen Staatsquote sowohl auf volumenmäßige wie auf preismäßige Veränderungen zurückzuführen sein. Um diese beiden Ursachenkomplexe voneinander zu trennen, um also etwas über die ,,realen“ Verhältnisse aussagen zu können, müssen die nominellen Reihen jeweils deflationiert werden. Auf diese Weise erhält man reale Staatsquoten. In diesem Zusammenhang sind die bei einer Deflationierung im allgemeinen und der staatlichen Ströme im Besonderen auftretenden Probleme zu beachten. Zunächst soll die Quote (2-2) deflationiert werden, wobei die Ausgaben für (CSt + ISt) als G bezeichnet werden 3. Der gesamte Output BIPr setzte sich zusammen aus dem staatlichen Output Gr und dem privaten Output Or mit den Preisen PG und PO und P für das BIP. Die Änderung der Ausgaben G und des BIP können geschrieben werden als (2-6)

dG = PGWdGr + GrWdPG

(2-7)

dBIP = PWdBIPr + BIPrWdP.

1

2 3

und

Die von der OECD (2008) veröffentlichten Steuer- und Abgabenquoten beruhen auf der Finanzstatistik und weichen daher erheblich von den VGR-Ergebnissen ab. So wird bei der OECD das Kindergeld nicht als Mindereinnahme bei der Lohnsteuer verbucht. Ferner schließen die Abgaben nicht die Sozialbeiträge für Empfänger sozialer Leistungen, die freiwilligen Sozialabgaben an den Staat und die unterstellten Sozialbeiträge an den Staat ein. Für die einzelnen Haushalte können die Abgabenbelastungen des verfügbaren Einkommens in einer Spannweite von etwa 10 bis 60 % liegen. Vgl. zum Folgenden Gemmel (1993).

Erster Teil: Grundlagen

34

Werden alle Preise konstant gehalten (dPG = dP = 0), ist die Änderung der realen Staatsquote (2-8)

P W dG r dG . ) G dBIP P W dBIPr

Unterstellt man im Durchschnitt konstante Preise (dP = 0), lässt aber die Änderung der relativen Preise zu (dPG > 0, dPO < 0), ergibt sich (2-9)

P W dG r G r W dPG dG . ) G 9 dBIP P W dBIPr P W dBIPr

Ein Vergleich von (2-9) und (2-10) zeigt, dass sich die nominale Staatsquote (2-2) anders als die reale Staatsquote verändern kann, selbst wenn das allgemeine Preisniveau unverändert ist (dP = 0). Dieser relative Preiseffekt ist allerdings statistisch nur schwer zu ermitteln. Soweit nämlich keine Leistungen (Output) bestimmt werden können, ist eigentlich auch keine Deflationierung der nominellen Staatsausgaben möglich. In der statistischen Praxis nimmt man anstelle der Preisbereinigung der Leistungsseite von CSt meist eine Preisbereinigung der Inputseite vor – analog zur Bewertung von CSt mit den Kosten. Schwierig ist insbesondere die Deflationierung der Personalausgaben, die in eine Mengen- und in eine Preiskomponente aufzuspalten sind und für die ein Maßstab für die Entwicklung der Qualität der Leistungen der öffentlich Bediensteten gefunden werden muss. Die Produktivitätsentwicklung beim Staat ist maßgeblich dafür, wie stark sich der Verlauf der deflationierten Zeitreihen der staatlichen Inputs vom Verlauf der deflationierten Zeitreihen seiner Outputs unterscheidet. Die international übliche Konvention besteht in der Annahme eines Produktivitätszuwachses von null bei den für den Staat erbrachten Arbeitsleistungen. Informationen über die Produktivitätsentwicklung werden zumindest in einzelnen staatlichen Bereichen, insbesondere Gesundheit und Bildung, gesucht 1. Zur Messung der realen Komponente wird hier von einem Output-Ansatz ausgegangen. Die eigentliche Frage, wie sich die staatlichen Leistungen entwickelt haben, kann solange nicht beantwortet werden, wie geeignete Volumenindikatoren fehlen. Folglich bilden reale Staatsquoten, bei denen im Zähler deflationierte und ggf. und im Hinblick auf den Produktivitätszuwachs korrigierte Kostengrößen stehen, keine zuverlässigen Indikatoren. Noch problematischer ist die Rechnung bei der Staats(ausgaben)quote q1. Hier ist auch eine Deflationierung rein monetärer Ströme (Transfers an Haushalte bzw. Unter1

Der Versuch wurde schon bei der Programmplanung in den 70er Jahren oder bei den Sozialen Indikatoren seit den 70/80er Jahren unternommen, teils abgebrochen und jüngst bei der Programmplanung (Eurostat) und im New Public Management (insbesondere Gemeinden) wieder aufgegriffen.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

35

nehmen) erforderlich. Eine hilfsweise Rechnung geht von der – allerdings unterschiedlich möglichen – Verwendung dieser Geldleistungen aus: Transfers an private Haushalte können z.B. für Konsum und Sparen verwendet werden. Steuern entziehen dem privaten Sektor Verwendungsmöglichkeiten. Je nachdem, welche Ausgaben betroffen sind (Cpr oder Ipr), werden die zu wählenden Preisindizes anders ausfallen 1. f) Was zeigen VGR und Finanzstatistik nicht (richtig) über den Staat? Anlass für fehlerhafte Interpretationen der Indikatoren staatlicher Aktivität gibt zunächst ein Problem, dass nicht befriedigend gelöst ist. Der Staat kann verschiedene auf das gleiche Ziel gerichtete Maßnahmen einerseits über Ausgaben- oder andererseits über entgegengerichtete Einnahmenänderungen durchführen. Beispiele: Sparprämien oder Sparförderung über Sonderausgaben, Kindergeld oder Kinderfreibeträge. Jeder Wechsel im Instrument hat quotenverändernde Wirkungen, die intertemporale Vergleichbarkeit ist gestört, wenn Steuervergünstigungen nicht (als Einnahmen und Ausgaben) nachgewiesen werden. Um trotz solcher institutioneller Veränderungen zu einem gleichbleibenden Ausweis staatlicher Aktivität zu gelangen, müssten für verschiedene Zwecke letztlich auch die Steuermindereinnahmen (Tax Expenditures) rechnerisch erfasst werden. Teilweise wird so verfahren: Das seit 1996 gewährte steuerliche Kindergeld wird in vollem Umfang als monetäre Sozialleistung gebucht (insoweit erhöht sich das nachgewiesene Steueraufkommen um diesen Betrag). Ferner bringen die einzelnen Quoten die staatliche Aktivität nur soweit zum Ausdruck, wie sie in öffentlichen Einnahmen und Ausgaben einen direkten Niederschlag findet. Staatliches Handeln manifestiert sich aber in unterschiedlicher Weise: In Rechtsnormen (z.B. Gebote und Verbote), die Bürger zu einem bestimmten Verhalten veranlassen sollen; in Subventionen an die Landwirtschaft, in der Festsetzung von Mindestpreisen für Agrarprodukte und andere Eingriffe in die Preis- und Mengengestaltung der Unternehmen; in Transfers an private Haushalte (z.B. Kindergeld), in Bürgschaften, über öffentliche Unternehmen usw. Der Staat hat meist die Wahl zwischen mehreren Instrumenten, so beispielsweise zwischen Subventionierung der Wohnungsausgaben armer Leute oder Mietpreisbindung (und Wohnungskontrolle). Die Regulierung wirkt wie eine Subvention der Mieter und Besteuerung der Vermieter (Quasi Fiscal Regulation) ohne Niederschlag im Budget. Die Ausgabenintensität (oder Budgetwirksamkeit) der öffentlichen Aufgabenerfüllung ist daher sehr unterschiedlich und kann in einer einzigen statistischen Kennziffer wie der Staatsquote nur unzureichend erfasst werden. Das gilt auch für den weiten Bereich der durch staatliche Maßnahmen veranlassten oder erzwungenen privaten Aktivitäten. Sie werden selten als quasistaatliches Handeln gekennzeichnet, gehen nicht in die öffentlichen Haushalte ein und werden daher nicht als solches statistisch erfasst. So sind alle Leistungen unberücksichtigt, die Priva1

Das ESVG schreibt vor, alle Gütersteuern und Gütersubventionen auch in konstanten Preisen zu berechnen. Hierbei soll die Bemessungsgrundlage (in konstanten Preisen) mit den Steuersätzen des Basisjahres bewertet werden.

Erster Teil: Grundlagen

36

te aufgrund gesetzlicher Bestimmungen und Verwaltungsanordnungen dem Staat (weitgehend oder vollständig) unentgeltlich zu erbringen haben: Militärdienst, Ehrenämter (Vormund, Beisitzer), Räum- und Streupflichten der Grundstückseigentümer auf öffentlichen Straßen, Angaben für statistische Zwecke und auf Unternehmen verlagerte Bürokratieaufgaben wie z.B. Lohnsteuerabzug und Auszahlung des Kindergeldes für Arbeitnehmer. Immer umfassendere steuerliche und sozialrechtliche Gesetze machen auch Aufwendungen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer usw. erforderlich. Bei diesem versteckten öffentlichen Bedarf werden also Leistungen privater Stellen gefordert, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben benötigt werden (Schmölders 1970, S. 176ff.). Es handelt sich hier um private Folgekosten öffentlicher Entscheidungen 1. Rechnet man solche Effekte als nichtbudgetwirksame Kosten staatlichen Handelns, darunter der Regulierung, den bereits erfassten Staatsausgaben ASt hinzu, ist die Staatsquote (2-10)

q1* ) (A St 9 A *St ) / BIP .

Mit A *St werden die Ausgaben geschätzt, die auf Steuervergünstigungen, versteckten Subventionen bei öffentlichen Verkäufen u.ä. beruhen bzw. zur Erfüllung der staatlichen Regulierungen, darunter auch in Form von Entrichtungskosten der Besteuerung (vgl. Kapitel 15.9) anfallen. Diese Kosten werden sehr hoch eingeschätzt, sind aber schwer belegbar (Borcherding u.a. 2002, S. 96). Ein allgemein akzeptierter Indikator für Regulierung liegt bisher nicht vor 2. Gelegentlich werden die Zahl der Gesetze, Verordnungen usw. oder die Zahl der in der staatlichen Verwaltung Beschäftigten, die diese Regulierungen durchzusetzen haben, oder die entsprechenden Budgetausgaben als grobes Maß vorgeschlagen. Kann der Staat allerdings immer mehr Verwaltungsaufgaben auf die Privaten abwälzen, überzeugt dieser Indikator nicht. Ferner werden Indizes erwogen, die in einer Skalierung von 1 bis 10 eine hohe bis niedrige Regulierung ausdrücken 3. Übernimmt man die Schätzung der Steuerentrichtungskosten 4, die von Löffelholz/Rappen (2003) für das Jahr 1995 durchgeführt haben, und schätzt die 1

2

3

4

Zu Schätzungen des versteckten öffentlichen Bedarfs für eine „unsichtbare Staatsquote“ siehe Kroker (1981), S. 32-40 und CDU-Dokumentation (1979). Quantifizierungsversuche beruhen auf Befragungen der Betroffenen. Sie sind wegen fehlender Überprüfungsmöglichkeit wenig gesichert. Als Beispiel einer empirischen Schätzung durch Befragung siehe Täuber (1984), wo auch andere Studien genannt werden. In den USA wurde die Einführung eines Regulatory Budget vorgeschlagen, in dem die der Wirtschaft auferlegten Kosten staatlicher Regulierungen zu erfassen sind. Es bestehen allein aus Bundes- und Europarecht knapp 10.000 Informationspflichten der Wirtschaft mit daraus resultierenden geschätzten Bürokratiekosten von rund 2 % des BIP (Vorgrimler/Blasch 2009, S. 117). Zu Messung und Ausmaß der Regulierungen in OECD-Staaten siehe Pryor (2002). Einen Eindruck von den vielfältigen Eingriffen des Staates liefern Donges/Schatz (1986), insbesondere mit Tab. 4. Borcherding/Ferris/Garzoni (S. 98/99) weisen darauf hin, dass die Annahme Steuern (T) und Regulierungen ( A *St ) seien Substitute nicht zutreffen muss. A *St und ASt können auch komplementär sein. Für Umsatz-, Einkommen-, Körperschaft-, Gewerbe- und Kfz-Steuer.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

37

sonstigen Kosten ähnlich hoch ein, kommt man auf versteckte Staatsausgaben von 20 Mrd. Euro und damit auf eine um ca. einen Prozentpunkt höhere Staatsausgabenquote q1* . Da umfassende Daten über den Umfang nichtbudgetwirksamer staatlicher Aktivitäten („Off-budget-activities“) fehlen, werden Versuche zur Erklärung der staatlichen Aktivität in der Regel auf öffentliche Einnahmen und Ausgaben, d.h. auf jene Aspekte beschränkt, deren Messung und Vergleich die geringsten Probleme bereitet. Dann besteht aber die Gefahr, dass wesentliche Aspekte der Staatstätigkeit unberücksichtigt bleiben. Das gilt auch im Hinblick auf Auslagerungen an den privaten Sektor oder Rücknahmen von Privatisierungen, für die vom Staat übernommenen Risiken (etwa als Folge von Garantien und Bürgschaften) und die Aktivitäten öffentlicher Unternehmen. Vor allem aber bleibt unsichtbar, welche Leistungen werden erbracht, was der Output und schließlich, was das Ergebnis staatlicher Aktivität ist. Man erfährt nichts darüber, ob z.B. die innere und äußere Sicherheit zugenommen haben oder die Versorgung mit Verkehrsleistungen besser wurde 1 und wie effektiv und effizient der Staat gehandelt hat. 4. Die Entwicklung der Staatsquoten Die verschiedenen Quoten werden für den internationalen Vergleich von Volkswirtschaften und für die zeitliche Entwicklung innerhalb einzelner Länder herangezogen. Abb. 2-4 Anteil der Ausgaben und Steuern der Gebietskörperschaften1 am Volkseinkommen

1

In der Abgrenzung der Finanzstatistik; Gebietsstand Deutsches Reich bzw. Bundesrepublik Deutschland.

Quelle: Recktenwald (1983), S. 570.

1

Für die Versorgung mit bestimmten Leistungen ist u.a. auch von Bedeutung, ob sinkende öffentliche Investitionen durch verstärkte private Bereitstellung von Infrastruktur substituiert werden.

Erster Teil: Grundlagen

38

Eine von Recktenwald vorgenommene Berechnung zeigt in Abb. 2-4, dass die Anteile der Ausgaben und Steuern der Gebietskörperschaften am Volkseinkommen 1 im Deut- schen Reich bzw. in der Bundesrepublik Deutschland langfristig, aber nicht kontinuierlich gegenüber dem Ausgangsjahr 1821 gestiegen sind. Der Berechnung lagen die Angaben über die Staatsausgaben in der Finanzstatistik und ohne Sozialversicherung zugrunde. Abb. 2-5 zeigt die jüngere Entwicklung der staatlichen Aktivität gemessen an VGRDaten in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war in den 80er Jahren rückläufig, stieg nach der Wiedervereinigung in den 90er Jahren, ging 2000-2005 leicht zurück und stieg 2009 als Folge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Ausgabenquote lag seit 1991 zwischen 40 und 50 %. Die Einnahmenquote bewegte sich – bei einer Steuerquote von ca. 22-24% – zwischen 36 und 47 %. Die Investitionsquote sank zuletzt auf etwa 1,5 %. Die quotenerhöhenden Größen sind offensichtlich im sozialen Bereich zu finden. Seit 1975 lagen fast durchweg negative Finanzierungssalden und damit Defizitquoten vor. Abb. 2-5 Einnahmen, Ausgaben und Finanzierungssaldo des Staates in % des Bruttoinlandsprodukts 1970-20091 60

Ausgaben

50

40

Übertragungen

Einnahmen

30

Steuern

Konsumausgaben

20 Sozialbeiträge 10 Bruttoinvestitionen 0 1970

1975

1980

1985

1990

1993 1995

1998 2000

2003 2005

2008

0 -10

1

Finanzierungssaldo

Bis 1991 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland.

Quelle: Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.4, 2010 (Stand 8/2010), Reihe 1.5, 2005.

1

Das Volkseinkommen ergibt sich aus dem BIP durch Abzug der Primäreinkommen gegenüber dem Ausland sowie der Abschreibungen und der Nettoproduktionsabgaben.

2. Kapitel: Die Aktivität des Staates im Überblick

39

Der starke Anstieg der Staatsausgaben 1995 ist auf einen einmaligen Sondereffekt, die Übernahme der bis Ende 1994 aufgelaufenen Schulden der Treuhandanstalt und einen Teil der Altschulden der Wohnungswirtschaft der ehemaligen DDR zurückzuführen 1. Ohne diese rein rechnerischen Sondereffekte betrüge die Staatsquote 50,6 (statt 56,1) %. Starke Auswirkungen auf die Einnahmen und den Finanzierungssaldo hat in 2000 der Verkauf der UMTSLizenzen in Höhe von 50,8 Mrd. Euro. Der Finanzierungssaldo ohne diese Einnahmen würde negativ ausfallen (- 1,4 % statt +1,2 %) 2.

Die Einnahmen- und Steuerquoten unterzeichnen die Bedeutung des Mittelentzugs ab 1991 insofern leicht, als ein Teil des in Deutschland erzielten Steueraufkommens nicht als Einnahme des Staates, sondern unmittelbar der EU gebucht wird. Das machte zuletzt knapp einen Prozentpunkt des BIP aus. Die direkt an inländische Sektoren gebuchten EU-Subventionen sind ab 1991 nicht in die Staatsausgaben einbezogen. Die Sozialbeiträge, die Abgaben und die Einnahmen sowie die Ausgaben des Staates enthalten unterstellte Sozialbeiträge, die etwa einen Prozentpunkt ausmachten 3. Anmerkung: Bei einem Vergleich der Quoten von Abb. 2-4 und 2-5 ist zu beachten, dass u.a. die Staatsausgaben (z.B. mit bzw. ohne Abschreibungen) unterschiedlich abgegrenzt sind und die Bezugsgrößen (Volkseinkommen und BIP) verändert wurden. Stellt man die Daten nach verschiedenen Rechnungsständen der VGR zusammen, zeigt sich, dass sie als Folge der VGR-Revisionen, die stets zu höheren BIP-Angaben geführt haben, die Staatsquoten geringer geworden sind (außer beim Staatsverbrauch) 4. Diese Problematik ist auch im internationalen Vergleich zu beachten. Tab. 2-3 zeigt die langfristige Entwicklung der Staatsquote im internationalen Vergleich seit 1880. Als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise steigen die Staatsquoten seit 2009, was die Tabelle noch nicht zeigt.

1 2

3

4

Andererseits wurde die Quote geringfügig durch Übernahme des Kapitals der Deutschen Kreditbank AG (= empfangene Vermögensübertragungen des Staates von Unternehmen) gesenkt. Wegen ihres temporären Charakters und Umfangs werden solche Sondereffekte u.U. aus den VGR-Ergebnissen herausgerechnet – allerdings mit Folgewirkungen (auf Schuldenstand, Zinsen, Steuereinnahmen, Abschreibungen usw.). Die Deutsche Bundesbank (2003) weist die Transaktionen des Inlands mit dem EU-Haushalt im Sektor Staat nach. Damit führt die mittelfristig abnehmende Bedeutung der Mehrwertsteuerumlage und der umgekehrt entsprechend steigende Anteil der BNE-Mittel nicht zu einer verzerrten Tendenz der Steuer- und der Ausgabenquote im Zeitablauf. Ohne eine solche statistische Bereinigung würden diese Quoten steigen, obwohl sich an der tatsächlichen Abgabenbelastung der Steuerpflichtigen bzw. den deutschen Gesamtbeiträgen zur Finanzierung des EU-Haushalts faktisch nichts ändert. Zur Problematik steigender BIP-Angaben siehe Brümmerhoff/Grömling (2010).

Erster Teil: Grundlagen

40

Tab. 2-3 Total public expenditures as a percentage of GDP – selected countries Austria Belgium France Germany* Italy Netherlands Spain Sweden UK USA Japan

1880

1913

1920

1937

1960

1968

1974

1987

1995

2004

2008

n.a. n.a. 11,2 10,02 n.a. n.a. n.a. n.a. 9,9 n.a. 9,03

n.a. 13,84 17,0 14,8 11,14 9,04 11,04 10,4 12,7 7,5 8,3

14,74 22,14 27,6 25,0 22,54 13,54 8,34 10,9 26,2 12,1 14,8

14,8 21,84 29,0 34,1 24,54 19,04 13,24 16,5 30,0 19,7 25,4

35,7 34,5 34,6 32,4 30,1 33,7 18,8 31,0 32,2 27,0 17,5

40,6 41,7 40,3 39,1 34,7 43,9 21,3 42,8 39,3 30,3 19,2

41,9 45,0 39,3 44,6 37,9 47,9 23,1 48,1 44,8 31,7 24,5

52,4 58,1 50,9 47,3 50,8 62,4 40,5 59,4 42,9 36,3 32,7

53,2 53,4 54,4 57,1 52,3 59,6 46,0 66,8 45,2 35,7 36,3

50,6 49,3 53,4 46,8 48,5 48,6 38,6 57,3 43,9 36,55 38,26

48,9 50,1 52,7 43,8 48,7 37,7 41,1 51,8 47,5 38,8 37,1

* West Germany for 1960–1987; 1 1881; 2 1885; 3 central government; 4 2003; 5 2002. Because the table is aggregated from various sources, slight differences in the definition across years can appear.

Quelle: Nach Maddison, Tanzi/Schuhknecht und OECD zusammengestellt von Carone/Nicodème/Schmidt (2007), S. 3; ergänzt für 2008 nach OECD.

Literatur zum 2. Kapitel Eine grundlegende Einführung in die VGR auf der Grundlage des ESVG 1995 geben Brümmerhoff/Grömling (2011). Zum Staat im Wirtschaftskreislauf grundsätzlich siehe Bombach (1977) und Littmann (1975), die konkrete Verbuchung des Staates nach ESVG 1995 erläutert Essig (2000). Definitionen und Erläuterungen bietet auch das von Brümmerhoff/Lützel (2002) herausgegebene „Lexikon der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen“. Aktuelle Zahlen stellt das Statistische Bundesamt unter anderem in seiner Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“ und in der Fachserie 18, Reihe 1 bereit. Das ESVG 1995 wird ergänzt durch ein Handbuch von Eurostat (2004), das sich speziell mit Defizit und Schuldenstand des Staates beschäftigt, entsprechend die Veröffentlichungen des International Monetary Fund (2001) und der OECD (2009). Zu den OECD-Statistiken des Staates siehe auch Giovannini (2008, ch. 4.4). Zur theoretischen Diskussion der Verbuchung des Staates siehe Vanoli (2005, ch. 6) und Musgrave (1959, S. 184-201). Die nach dem Finanz- und Personalstatistikgesetz vom Statistischen Bundesamt erhobene Finanzstatistik allgemein stellen Freund (1977) und Essig (1984a, b) und die Sozialversicherung in der Finanzstatistik Dietz (1984, 2002) dar. Grundsätzliche Probleme der Staatsquote behandeln Littmann (1975, 1990) und Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (1976). Zu den Steuer- und Abgabenquoten in den Revenue Statistics der OECD und in den Taxation trends der EU siehe den Monatsbericht des BMF, März 2010. Probleme der Produktivitätsmessung des Staates behandeln Brümmerhoff (1976) und Reding (1985). Zu den der Deflationierung zugrundeliegenden Fragestellungen und den Folgen hieraus für das jeweils zu wählende Verfahren siehe Neubauer (2002). Die Messung staatlicher Regulierung behandelt Pryor (2002). Zu den Bürokosten siehe Bundesregierung (2007) und die Jahresberichte des Normenkontrollrats. Die Ausweitung und Ergänzung der VGR behandeln Brümmerhoff/Grömling (2011).

Zweiter Teil Effizienz, Markt und Staat Im zweiten Teil geht es um die theoretischen Grundlagen für eine ökonomische Begründung staatlicher Aktivität. Ob und wie soll der Staat auf die Allokation einer Volkswirtschaft, d.h. den Einsatz und die Verwendung knapper Ressourcen (Produktionsfaktoren und Güter) auf die Produktions- und Verbrauchsprozesse, Einfluss nehmen? Grundsätzlich können der Markt oder der Staat die Allokation besorgen. Ausgangspunkt einer auf der Wohlfahrtstheorie aufbauenden allokativen Begründung staatlicher Aktivität ist die Frage, welche Bedingungen für die effiziente Allokation der volkswirtschaftlichen Ressourcen in einer bestimmten Modellwirtschaft erfüllt sein müssen. Sie kennzeichnen ein Referenzsystem, in dem staatliches Handeln zu Effizienzverlusten führen würde und daher unerwünscht ist. Dann wird untersucht, ob das tatsächlich bestehende System die Bedingungen für eine effiziente Wirtschaft erfüllt oder verfehlt. Es zeigt sich, dass regelmäßig Situationen vorliegen, in denen ein marktwirtschaftliches System keine effiziente Allokation hervorbringt. Dies kann freilich nur als ein a priori-Argument für staatliche Allokationspolitik gelten – a priori in einem einschränkenden Sinne deshalb, weil zunächst offen bleibt, ob mit staatlichen Eingriffen die Tendenz zur Verfehlung der Optimalbedingungen aufgehoben werden kann, ob also (und unter welchen Bedingungen) bessere Allokationen möglich sind. Wenn dies bejaht wird, können die Grundsätze effizienter Ressourcenverwendung auf den öffentlichen Sektor übertragen werden. Es geht dann darum, welche Instrumente – im Rahmen der Finanzwissenschaft speziell von Interesse: Einnahmen und Ausgaben – der Staat einsetzen kann, um die festgestellten allokativen Mängel des Marktsystems zu beseitigen oder zumindest abzuschwächen. Staatliche Aktivität wird bei diesem Ansatz also mit Marktversagen (Market Failure) begründet. Allerdings lebt der Markt von Bedingungen, die er nicht selbst herstellen kann. Daher ist ein gewisser Ordnungsrahmen erforderlich. Das setzt zunächst einen Staat voraus, der Eigentumsrechte und eine Rahmenordnung für den Wettbewerb so festgelegt hat, dass ein Markt überhaupt entstehen kann (Breyer 2008, S. 126). Die wohlfahrtsökonomische Betrachtung gibt einen Rahmen für mögliche Aufgaben des Staates. Die Frage bleibt allerdings offen, ob das Marktmodell unmodifiziert als Referenzmodell verwendet werden kann. Darüber hinaus ist die Argumentation auch noch nicht abgeschlossen, weil sie nichts darüber aussagt, ob der Staat überhaupt eine bessere Allokation als der Markt realisieren kann. Sie sagt auch nichts über die tatsächliche Situation und insbesondere darüber aus, wie sich die staatlichen Entscheidungsträger verhalten. Dies zu klären ist die weitere Aufgabe, nämlich die als unbefriedigend angesehenen Marktergebnisse mit den voraussichtlichen Ergebnissen staatlicher Aktivität zu vergleichen. Hierzu wird der staatliche Entscheidungsprozess untersucht, dann erfolgt eine Bewertung beider Allokationsmechanismen.

42

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

3. Kapitel Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft 1. Pareto-Optimalität a) Das Allokationsziel Um bei knappen alternativ verwendbaren Ressourcen die effiziente Allokation zu bestimmen und zu erreichen, muss geklärt werden, wodurch diese charakterisiert ist, und welche Bedingungen ein Wirtschaftssystem erfüllen muss um dieses Ziel zu erreichen. Zur Beantwortung dieser Fragen wird im Rahmen der Wohlfahrtstheorie eine stilisierte Ökonomie zugrunde gelegt. Die volkswirtschaftliche Wohlfahrt wird in einem strikt individualistischen Konzept von den Nutzeneinschätzungen (vom Wohlbefinden) der einzelnen Bürger determiniert, die selbst am besten ihr Wohlbefinden beurteilen können. Es gibt kein „höheres Interesse“, keine Staatsraison, es sei denn, diese würde von den einzelnen Bürgern gewünscht 1. „Das wesentliche Merkmal einer individualistischen Wohlfahrtsfunktion ist das Postulat, dass jede Änderung der Datenkonstellation das Wohlfahrtsniveau der Gesellschaft nur auf dem Umweg über die Nutzenempfindungen einzelner Individuen beeinflussen darf. Durch welche Vorgänge das individuelle Nutzenniveau von Menschen beeinflusst wird, ist dagegen völlig unerheblich“ (Sohmen 1976, S. 21/22).

Es gilt außerdem die soziale Wohlfahrtsfunktion (3-1)

W ) W ( U i ) mit

(3-2)

dW / dU i ' 0 .

Die volkswirtschaftliche Wohlfahrt ist also nach den individuellen Nutzen differenzierbar und steigt monoton mit jedem zunehmenden individuellen Nutzen bzw. fällt bei abnehmendem individuellen Nutzen. Hierbei ist es unerheblich, welches Individuum einen Nutzenzuwachs erfährt. Aus dem Ansatz folgt zunächst unmittelbar, dass der Übergang von einer Allokation A zu einer Allokation B dann eine höhere Wohlfahrt (Pareto-Verbesserung) liefert, wenn der Nutzen mindestens einer Person hierdurch steigt, ohne dass der Nutzen einer anderen Person durch die Maßnahme sinkt. Eine Allokation ist folglich effizient (Pareto-optimal), wenn es nicht möglich ist, mindestens eine Person durch eine Änderung der Allokation besser zu stellen, ohne eine andere Person schlechter zu stellen.

1

Dem individualistischen Ansatz stehen die organische Staatsauffassung und vor allem die des Marxismus gegenüber, der Klassen als Agenten der geschichtlichen Entwicklung ansieht und die Individuen nur in Funktion ihrer Klassenzugehörigkeit begreift.

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

43

Diese Anforderung an eine effiziente Allokation ist plausibel und ermöglicht es Allokationen zu bewerten. Allerdings existieren viele verschiedene Pareto-effiziente Allokationen. Eine Allokation, die einem Individuum alle verfügbaren Güter zuweist und allen anderen Personen nichts, kann ebenso Pareto-effizient sein wie eine Allokation, die die Gesamtgütermenge zwischen den Haushalten gleichverteilt. Der Übergang von der ersten zur zweiten Allokation ist keine Pareto-Verbesserung, da sich ein Individuum durch den Übergang verschlechtert 1. Es wird angenommen, dass in der stilisierten Ökonomie I Individuen (Haushalte) agieren. Das Wohlbefinden einer Person i (i = 1, ..., I) wird durch seine Nutzenfunktion (3-3)

U i ) U i ( x ji ) ) U i ( x 1i , ... , x Ji )

dargestellt, wobei xji die i zur Verfügung stehende Menge von Gut j (j = 1, ..., J) bezeichnet 2. Der individuelle Nutzen steigt mit der Menge jedes einzelnen Gutes, das der Person zur Verfügung steht (Sättigung ist ausgeschlossen), der Grenznutzen sinkt hingegen. Es gilt daher: (3-4)

/ 2Ui /U i ' 0; +0 /x ji /x 2ji

Der einem Gütervektor Xi = (xli, ..., xJi) zugeordnete Wert der Nutzenfunktion dient lediglich als Rangzahl (ordinale Nutzenmessung). Ein Individuum zieht ein Güterbündel mit einer höheren Rangzahl allen Güterbündeln mit niedrigeren Rangzahlen vor. Die Produktion der Güter j (j = 1, ..., J) in der Ökonomie erfolgt unter Verwendung der Produktionsfaktoren k (k = 1, ..., K). Die Produktionsfunktion für das Gut j laute (3-5)

X j ) X j (f kj ) ) X j (f1 j , ..., f Kj )

wobei fkj die Menge des k-ten Produktionsfaktors (Inputs) wiedergibt, der zur Produktion des Gutes j eingesetzt wird. Die Produktionsfaktoren sind voll teilbar, die Grenzproduktivitäten jedes Faktors sollen bei konstanten übrigen Inputs positiv sein und sinken:

1

2

Da der Nutzen annahmegemäß ordinal gemessen wird, kann der Nutzenverlust einer Person nicht mit den Gewinnen anderer verglichen werden. Unterstellt man hingegeben, dass die Nutzen interpersonell vergleichbar sind, existieren weitergehende Effizienzkriterien (u.a. von Kaldor, Hicks, Scitovsky). Diese Kriterien basieren auf der folgenden Grundanforderung: die Verlierer müssten durch die Gewinner kompensiert werden können, ohne dass das tatsächlich zu geschehen hätte. Auch Faktorleistungen der Haushalte (insbesondere Arbeit) können zu den Gütern gezählt werden, die dann mit negativem Vorzeichen in die Nutzenfunktion eingehen. Zur Vereinfachung wird jedoch in diesem Abschnitt ein konstantes Faktorangebot unterstellt.

44

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

(3-6)

/X j /f kj

' 0,

/ 2X j /f kj2

+0

Aus den Produktionsfunktionen für die einzelnen Güter folgt eine gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion, die in impliziter Schreibweise durch (3-7)

T (X, F) ) T (X1 , ..., X J ; F1 , ..., FK ) ) 0

mit X = (X1, ..., XJ) und F = (F1, ..., FK) gegeben ist, wobei FK die in der Ökonomie insgesamt eingesetzte Menge von Produktionsfaktor k ist ( Fk ) 4 Jj)1 f kj ). Weiterhin wird unterstellt, dass sich die Ökonomie in einem gleichgewichtigen Zustand befindet. Übereinstimmung von Nachfrage und Angebot ist gegeben, wenn die Produktion des j-ten Gutes dem gesamten Konsum durch die I Haushalte entspricht. (3-8)

I

X j ) 4 x ji i )1

Die folgende Analyse beruht noch auf weiteren Annahmen: sie ist statisch, Mobilität und vollkommene Information sind gegeben, die Eigentumsrechte klar definiert. Externalitäten und Transaktionskosten gibt es nicht. Der Staat fehlt in dem Modell. Auf der Grundlage dieser vereinfachenden Annahmen wird nun untersucht, bei welcher Allokation die Wohlfahrt maximal ist, d.h. es werden die Bedingungen für Pareto-Effizienz im Rahmen der dargestellten Ökonomie hergeleitet. b) Die Bedingungen optimalen Tausches (Tauscheffizienz) Eine effiziente Allokation gegebener Gütermengen auf die Verbraucher ist dann erreicht, wenn durch Tausch dieser Güter niemand besser gestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechter gestellt wird (Tauscheffizienz). Hierzu müssen die Grenzraten der Substitution im Konsum (Steigungen der Indifferenzkurven) für alle Wirtschaftssubjekte übereinstimmen: (3-9)

GRSijh ) GRSdjh

Ergebnis (3-9) erhält man durch Maximierung der Nutzenfunktion der i-ten Person unter den Nebenbedingungen, dass die Nutzenfunktionen der d anderen Personen auf #9113%=19E;A! +96A08< Fd festgehalten werden und die Gütermengen gegeben sind: (3-10)

L ) U i ( x ji ) 9 C d [ U d ( x jd ) 5 U d ] 9 , j (4 x ji 5 X j )

Die Bedingungen erster Ordnung lauten

j

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

(3-11)

/U i /L = + ,j ) 0 /x ji /x ji

(3-12)

/U d /L = Cd + ,j ) 0 /x jd /x jd

45

/U i /L = + ,h ) 0 /x hi /x hi /U d /L = Cd + ,h = 0 /x hd /x hd

Daraus folgt: (3-13)

/U d /U i ) Cd /x jd /x ji

/U d /U i ) Cd /x hi /x hd

und

und damit: (3-14)

GRSijh ) 5

/U i / /x ji /U i / /x hi

)5

/U d / /x jd

) GRSdjh

/U d / /x hd

mit 7i,d = 1, ..., I; d L i. Die Grenzrate der Substitution entspricht dem (negativen) Verhältnis der Grenznutzen zwischen den Gütern. Das veranschaulicht Abb. 3-1 für eine Ökonomie mit zwei Individuen und zwei Gütern anhand einer Edgeworth-Box: Abb. 3-1 Tauscheffizienz

xhi

Individuum d 0d

xhd D

B U1i

C

A U

0i Individuum i

1 d

U

0 d

U i0

xji xjd

Allokation A ist nicht Pareto-effizient, weil GRSi ( 574d. Eine Pareto-Verbesserung stellt B dar, weil sich Individuum i verbessert und Individuum d nicht verschlechtert. Entsprechendes gilt für C. Solche Pareto-Verbesserungen lassen sich für jede Allokation nachweisen, bei der die Grenzraten der Substitution nicht übereinstimmen. Trotz eigennütziger Ziele können alle Individuen vom Tausch profitieren.

46

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Bei allen Punkten auf der Kontraktkurve 0i0d ist keine Pareto-Verbesserung möglich. Für jede beliebige (ineffiziente) Ausgangsverteilung in der Box (etwa Punkt A) und gegebenem Nutzenniveau eines Individuums (beispielsweise U d ) kann eine andere Verteilung bestimmt werden, mit der eine effiziente Allokation (gleiche Steigungen der Indifferenzkurven beider Individuen) einhergeht. Eine Bewegung auf der Kontraktkurve von 0i nach 0d und umgekehrt verändert den Nutzen des Individuums jeweils auf Kosten des anderen. Allerdings lässt sich wenig über den Verlauf der Nutzenmöglichkeitskurve (Abb. 3-2) und über den Punkt maximaler Wohlfahrt sagen, weil die Nutzen nicht kardinal interpretiert werden. Nur das negative Vorzeichen der Steigung dUi/dUd ist bekannt. Geht man von Punkt A aus (er soll dem Punkt A bei gegebener Ausgangsverteilung von Abb. 3-1 entsprechen und liegt abseits der effizienten Tauschpunkte), sind wohlfahrtserhöhende Maßnahmen im Dreieck ABC möglich. Eine Bewegung AD verbessert die Wohlfahrt nicht, weil sie auf Kosten von Wirtschaftssubjekt i geht. D ist aber dann eine potenzielle Verbesserung gegenüber A, wenn Individuum d das Individuum i entschädigen kann und i auf eine Position oberhalb von C gelangt 1. Um die Punkte B und C vergleichen zu können, bedarf es einer sozialen Präferenzfunktion, die Gerechtigkeitsvorstellungen zum Ausdruck bringt 2. Abb. 3-2 Bewegung auf der und zur Nutzengrenze Ui 0d B

A

C D 0d Ud

c) Die Bedingungen optimaler Produktion (Produktionseffizienz) Im Produktionssektor ist der optimale Faktoreneinsatz erreicht, wenn die Grenzraten der technischen Substitution der Faktoren k durch die Faktoren v in allen Produktionsprozessen gleich sind, in denen sie eingesetzt werden: (3-15)

1 2

j GRTS kv ) GRTS hkv

Diese in Fußn. 1, S. 43 erwähnte Effizienznorm von Kaldor und Hicks wird der Nutzen-KostenAnalyse zugrunde gelegt (vgl. Kapitel 6.2f). Siehe Kapitel 4.2.

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

47

Zur Bestimmung der Produktionseffizienz wird die Produktionsfunktion hinsicht¯¯ lich des Outputs Xj bei gegebenen übrigen Outputs (X h) und gegebenen in der Produktion eingesetzten Ressourcen maximiert. Aus (3-16)

L ) X j (f1 j ,..., f Kj ) 9 4 C h [X h (f1h ,..., f Kh ) 5 X h ] 9 4 , k (4 f kj 5 Fk ) hL j

k

j

folgt (3-17)

/X j / /f kj /X j / /f vj

)

/X h / /f kh /X h / /f vh

7j, h ) 1, ... , J; h L j

Demnach muss das Verhältnis der Grenzproduktivitäten der Faktoren in den verschiedenen Produktionsprozessen übereinstimmen. Da die linke Seite von (3-17) die Grenzrate der technischen Substitution von Input * für Input k bei der Produktion von Gut j (GRTSkvj ) ist und die rechte Seite von (3-17) die Grenzrate der technischen Substitution zwischen den Faktoren bei der Produktion h, folgt das Ergebnis (3-15). Abb. 3-3 Produktionseffizienz

fhk

Faktoreinsatzmenge des Gutes h 0h

fjv D

B 1

C

A 0

1

0j Faktoreinsatzmenge des Gutes j

Xh

Xj

0

Xj

Xh

fjk fhv

In Abb. 3-3 sind die Isoquanten für die Produktion von Gut j und h eingezeichnet. Dabei bezeichnet die Grenzrate der technischen Substitution die Steigung einer Isoquante, also der Menge aller Produktionsfaktorkombinationen, mit denen die gleiche Menge Xj hergestellt werden kann. GRTSkv ist also die Menge eines Faktors k, die aufgegeben werden kann, wenn bei gleicher Produktionsmenge eine zusätzliche Einheit v eingesetzt wird. In A werden die beiden Inputs so auf die Produktionsprozesse aufgeteilt, dass von Gut j die Menge X 0j und von Gut h die Menge X 0h produziert werden. Weil GRTj ( 572h, ist die Faktorallokation ineffizient. Eine Reallokation der Ressourcen (Übergang zu Punkt B) würde eine erhöhte Produktion von Gut j ( X1j statt

X 0j ) bei gleichbleibender Produktion von Gut h bedeuten. In D könnte von beiden Gü-

48

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

tern mehr als zuvor produziert werden. Geht man aber von B (effiziente Produktion) aus, ist keine Erhöhung der Produktion eines Gutes ohne Einschränkung des anderen möglich. Die Punkte aller effizienten Faktorallokationen (Kurve der effizienten Produktion) 0j0h bilden die Transformationskurve, auf der bei gegebenen Ressourcenbeschränkungen die Produktion von Xj bei gegebener Produktion von Xh maximiert ist. Die Volkswirtschaft befindet sich dann auf der gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeitskurve. Abb. 3-4 Transformationskurve

Xh Q

C D

A

0

B

P

Xj

Die Transformationskurve wird in Abb. 3-4 für den 2-Güter-Fall dargestellt, wobei die eingezeichneten Punkte den Outputkombinationen aus Abb. 3-3 entsprechen. Die Steigung der Transformationskurve (Grenzrate der Transformation) gibt an, wieviele Einheiten von Gut h aufgegeben werden müssen, um die gesamtwirtschaftliche Produktion von Gut j um eine Einheit zu steigern. Formal gilt für eine Transformationsfunktion (3-18)

T(X, F) ) 0

(3-19)

/T /T dX h ) 0 und damit dX j 9 /X h /X j

(3-20)

GRTjh ) 5

dX h /T / /X j ) dX j /T / /X h

Die Veränderung der Outputmengen erfolgt durch eine Reallokation der Produktionsfaktoren zwischen den beiden Gütern. Da jeder Produktionsfaktor k in vollem Umfang eingesetzt wird, muss gelten:

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

(3-21)

49

df kh ) 5df kj

Die Wirkungen einer solchen Reallokation sind (3-22)

dX h =

/X j /X h df kh und dX j ) df kj /f kh /f kj

Daraus folgt (3-23)

GRTjh ) 5

dX h /X h / /f kh /X h / /f vh ) ) dX j /X j / /f vj /X j / /f kj

Die Grenzrate der Transformation GRTjh zweier Güter h und j ist gleich dem (negativen) Verhältnis der Grenzerträge eines Faktors in beiden Verwendungen. GRTjh gibt an, wie viel zusätzliche Einheiten an Gut h bei Verzicht auf eine Einheit von Gut j bei gegebener Faktorausstattung produziert werden können. d) Das Gesamtoptimum Für ein Optimum in Produktion und Verbrauch (Overall optimality) müssen die notwendigen Bedingungen für Effizienz in Produktion und Verbrauch simultan erfüllt sein. Formal wird es als Optimierungsproblem gelöst, in dem der Nutzen eines Haus¯¯ halts i unter den Nebenbedingungen maximiert wird, dass der Nutzen (U d) der anderen Haushalte d und die Produktionsfunktion gegeben sind. Für die Lagrange-Funktion (3-24)

L ) U i ( x i ) 9 4 C d [ U d ( x d ) 5 U d ) 9 $T (X, F)] 9 4 , j (4 x ji 5 X j ) d

j

i

sind Bedingungen erster Ordnung für ein Maximum (3-25)

/L / Ui = + ,j = 0 / x ji / x ji

/U d /L /T /L 9,j ) 0 )$ 5,j ) 0 ) Cd /x jd /X j /X j /x jd

Daraus folgt für zwei Outputs j und h (3-26)

/ Ui / /T = Cd Ud = - $ / x ji / x jd /Xj

(3-27)

/ Ui / /T = Cd Ud = - $ / x hi / x hd / Xh

und damit

50

(3-28)

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

/U i / /x ji /U i / /x hi

)

/U d / /x jd /U d / /x hd

)

/T / /X j /T / /X h

Demnach ist das allokative Gesamtoptimum bestimmt gemäß (3-29) und in Abb. 3-5 dargestellt. (3-29)

GRT jh ) GRSijh ) GRSdjh

Abb. 3-5 Gesamteffizienz

Xh Q

N

L

G

D

U

C 1 d

U U i0 S

0 d

M F

R 0

U d2

K

U i2 U1i H E

P

Xj

Bei einer Produktion der Gütermengenkombination G ist die Aufteilung der Mengen in F Pareto-effizient. Gemäß (3-24) entsprechen die Grenzraten der Substitution der Grenzrate der Transformation (gleiche Steigung von CH und LK). Eine Paretoeffiziente Allokation bestimmt in der Volkswirtschaft simultan die Produktionshöhe und die Güterverteilung. Beispielsweise S ist hingegen bei einer Aufteilung der Gesamtproduktion G ineffizient, weil dort GRSijh ( GRSdjh ( 572jh. Bei einer Produktionsaufteilung G würde die vermehrte Produktion von Gut j eine Pareto-Verbesserung darstellen. In der Ökonomie wird mehr von Gut h produziert als für eine Kompensation der Haushalte nötig wäre. Dieser Überschuss stellt mindestens einen Haushalt besser als zuvor. Damit kann eine Pareto-Verbesserung durch Übergang zu F erreicht werden. Aber auch nicht alle Punkte auf der Linie 0G stellen ein Gesamtoptimum dar. Beispielsweise bei R ist GRSijh ) GRSdjh L GRTjh . Zwar stimmen die Steigungen der Indifferenzkurven überein und signalisieren Tauscheffizienz – aber bei falscher Produktionsstruktur (angezeigt durch die Steigung von LK). Würde hingegen das Güterbündel N produziert, könnte die Wohlfahrt steigen.

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

51

2. Die Hauptsätze der Wohlfahrtstheorie Unter den Bedingungen vollkommenen Wettbewerbs, bestimmter privater Verhaltensweisen und technischer Bedingungen wird im Gleichgewicht die oben gezeigte effiziente Allokation realisiert: Unterstellt man Nutzenmaximierung bei den Verbrauchern und Gewinnmaximierung bei den Produzenten, Konvexität der Isoquanten und Indifferenzkurven und vollkommene Information, dann erfüllen die Maxima der individuellen Zielfunktionen zugleich die Pareto-Optimalbedingungen 1. Im Gleichgewicht vollkommener Konkurrenz bringen alle Wirtschaftssubjekte die von ihnen kontrollierten Grenzraten der Substitution und die Grenzraten der Transformation mit den Preisrelationen zum Ausgleich und machen sie dadurch untereinander gleich. Im Einzelnen gilt: Die Unternehmen maximieren ihren Gewinn (G), der sich aus Verkaufserlös (p = Preis des Gutes) und Kosten der eingesetzten Produktionsfaktoren bestimmt (q = Faktorpreis). Für ein Unternehmen, das Gut j produziert, lautet die Gewinnfunktion (3-30)

G (X j ; f1 j ,..., f Kj ) ) p j X j (f1 j , ..., f Ki ) 5 4 q k f kj k

Die Bedingungen für den gewinnmaximalen Einsatz der Inputs k und v sind: (3-31)

pj

/X j /f kj

) qk

und

pj

/X j /f vj

) qv

Entsprechend ergibt sich für ein Unternehmen, das Gut h produziert (3-32)

ph

/X h /X h ) q k und p h ) qv /f kh /f vh

Das Wertgrenzprodukt (der Erlöszuwachs aus einer marginalen Erhöhung des Einsatzes eines Produktionsfaktors) entspricht im Optimum für jeden Faktor seinem Faktorpreis. Bei vollständiger Konkurrenz wird produziert, bis pj den Grenzkosten GKj entspricht. Die Grenzkosten einer Outputeinheit entsprechen den Faktorkosten, geteilt durch die Faktorproduktivität, so dass gilt (3-33)

GK j =

qv qk = = pj /X j / /f kj /X j / /f vj

(3-34)

GK h =

qv qk = ph = /X h / /f kh /X h / /f vh

1

Diese Bedingungen müssen auch bei Pareto-Effizienz erfüllt sein.

52

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Die Zusammenführung dieser Gleichungen liefert: (3-35)

/X j / /f kj /X j / /f vj

)

q k /X h / /f kh ) q v /X h / /f vh

Das entspricht der Bedingung (3-15) für Produktionseffizienz. Da die Grenzrate der Transformation zwischen zwei Gütern dem negativen Verhältnis der Grenzerträge eines Faktors in beiden Verwendungen entspricht, folgt (3-36)

GRT jh )

/X h / /f kh q k / p h p j ) ) /X j / /f kj qk / p j ph

Die Haushalte maximieren ihren Nutzen aus dem Konsum der Güter j und h unter der Nebenbedingung, dass die Summe der Ausgaben für diese Güter ihr exogen gegebenes Einkommen mi nicht übersteigen darf (3-37)

L ) U i ( x ij ) 5 C(4 p j x ij 5 m i ) i

Dies führt zu (3-38)

/U i /U i 5 Cp j ) 0 und 5 Cp h ) 0 /x hi /x ji

Daraus folgt, dass die Grenzrate der Substitution eines Haushaltes zwischen beiden Gütern dem Preisverhältnis dieser Güter entspricht (3-39)

pj ph

)

/U i / /x ji /U i / /x hi

)5

dx hi dx ji

bzw. für alle Haushalte i und d (entsprechend: Unternehmen) koordiniert das Preisverhältnis. (3-40)

GRSijh ) GRSdjh ) GRTjh )

pj ph

Dies muss für jeden Haushalt i = 1, ..., I gelten. Da die Preise auf dem vollkommenen Markt für alle Verbraucher gleich sind, müssen auch die GRS im Gleichgewicht für alle gleich 1 und die Bedingung der Tauscheffizienz (3-9) erfüllt sein.

1

Gleichung (3-39) gilt entsprechend, wenn man das Arbeitsleid als ein negatives Gut in der Nutzenfunktion berücksichtigt. Die Arbeitsleistungen lassen sich aber auch explizit in (3-37) als Argument der Nutzenfunktion von i und in der Nebenbedingung einführen.

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

53

Aus (3-31) und (3-39) wird ersichtlich, dass bei vollkommenem Wettbewerb auf Güter- und Faktormärkten auch die Bedingung der Overall optimality (3-20) erfüllt ist. Das Preisverhältnis sorgt für GRS = GRT. Dieser Sachverhalt wird im Ersten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie zusammengefasst: S Das Gleichgewicht in einer Wirtschaft mit überall vollkommenen Märkten ist eine Pareto-effiziente Allokation. Ein dezentral organisiertes Wirtschaftssystem führt also zu Pareto-Effizienz als Ergebnis der individuellen Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung der einzelnen Wirtschaftssubjekte. Ein zentraler Planer wird nicht benötigt. Theoretisch könnte auch ein staatlicher Planer für Pareto-Effizienz sorgen, indem er die Preise für alle Güter entsprechend (3-35) und (3-36) festsetzt. Hierzu müssten aber die GRS und GRT für alle Wirtschaftssubjekte und alle Güter seitens einer staatlichen Behörde berechnet werden (können). Mit einer solchen Aufgabe wäre jede Behörde überfordert. Das Marktsystem besitzt – unter anderem – gegenüber dem zentralwirtschaftlichen System (Planwirtschaft) den Vorteil der informationellen Sparsamkeit. Jedes Wirtschaftssubjekt braucht nur die auf dem Markt vorherrschenden Preise zu kennen und seine Nachfrage- bzw. Angebotsmengen gemäß dieser Preise zu bestimmen. Herrscht bei diesen Preisen ein Ungleichgewicht (Überangebot einiger Güter und Übernachfrage nach anderen), so werden sich auf voll funktionierenden Märkten die Preise solange anpassen, bis ein Gleichgewicht und damit ein Pareto-effizientes Ergebnis erreicht ist. Welcher der vielen Pareto-effizienten Zustände durch das marktwirtschaftliche System erreicht wird, ist abhängig von der Ausgangsverteilung der Ressourcen. Ist sie extrem ungleich, kommt es auch zu einer Ungleichverteilung im Marktgleichgewicht. Das Pareto-Kriterium trifft keine Aussagen über die Wünschbarkeit einer bestimmten Verteilung der Güter 1, sondern beschäftigt sich nur mit der effizienten Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Zur Lösung des Verteilungsproblems bedarf es eines weitergehenden gesellschaftlichen Werturteils. Nach dem Zweiten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie können das Effizienzproblem der Ökonomie und das Verteilungsproblem voneinander getrennt werden: S Unter den oben gemachten Annahmen (also insbesondere vollständige Märkte, keine Externalitäten und Informationsasymmetrien) kann jeder Pareto-effiziente Zustand ein Marktgleichgewicht sein. Jede mögliche gewünschte Verteilung von Gütern, die Pareto-effizient ist, kann durch eine Marktwirtschaft, also dezentral erreicht werden. Der Staat muss hierzu die passende Ausgangsverteilung durch Umverteilung in nichtverzerrender Weise herbeiführen. Er benötigt also Instrumente (Pauschalsteuern, -transfers), die die relativen 1

Hierzu müsste eine spezielle Wohlfahrtsfunktion z. B. vom Typ Bergson/Samuelson gewählt werden, in der die einzelnen Nutzen der Individuen mit einem Gewicht 0i versehen werden, so dass zwischen den Individuen diskriminiert werden kann.

54

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Preise nicht verändern und daher (marginal) allokationsneutral sind 1. Das wird in Abb. 3-6 gezeigt. Abb. 3-6 Der zweite Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie

xhi

Individuum d 0d

xjd A' B' xhiA = xhiB 0i Individuum i

B

A

B ji

A ji

xji x

x

xhd

Bei einer ursprünglichen Güterverteilung A ergibt sich als Marktgleichgewicht A'. Gesellschaftlich erwünscht sei die Allokation B', die durch Umverteilung der Ausgangsausstattung mit Gut j von Individuum i zu d im Umfang ( x Aji - x Bji ) erreicht werden kann. Von der neuen Ausgangsallokation B wird der gewünschte Zustand B' erreicht. Mit einer Pauschalsteuer oder einer Pauschalsubvention würde im Maximierungsproblem der Haushalte (3-25) lediglich die Höhe des Einkommens mi verändert. Die Entsprechung des Preisverhältnisses mit der Grenzrate der Substitution (3-39) bliebe davon unberührt 2. Pauschalsteuern (Lump-sum Taxes) spielen in der Finanzwissenschaft eine wichtige Rolle, weil mit ihnen verteilungspolitische Ziele erreicht werden können, ohne die allokative Effizienz zu stören. Durch Pauschalsteuern wird die Gesamtausstattung nicht verändert. Die Wirtschaftssubjekte können durch ihr Verhalten die Höhe der Steuern nicht verändern, daher rufen sie keine verzerrten Entscheidungen hervor. 3. Zusammenfassung Üblicher Ausgangspunkt der wohlfahrtsökonomischen Begründung staatlicher Aktivität ist das Problem der Maximierung der sozialen Wohlfahrt. Es wird auf individueller Basis formal gelöst als Max W = W (Ui) unter den Nebenbedingungen U i ) U i ( x ij ) , xj = xj (fkj) und

Fk ) 4 f kj . 1 2

Diese Bedingung ist in Wirklichkeit nie erfüllt (siehe den 3. Teil). Entsprechendes gilt für die Unternehmen, wenn sie mit einem Pauschalbetrag belastet werden.

3. Kapitel: Optimum und Gleichgewicht in einer Marktwirtschaft

55

Das Problem ist für die erstbeste Ökonomie formuliert. Es gibt also keine Beeinträchtigung der Effizienz und eine gegebene Verteilung der Ressourcenausstattung bestimmt das effiziente Ergebnis. Wird die Verteilung als nicht optimal angesehen, kann eine Umverteilung mit nichtverzerrenden Maßnahmen ergriffen werden. Tatsächlich lässt sich die hier angenommene mögliche Trennung zwischen Effizienz- und Gerechtigkeitsüberlegungen nicht generell durchführen. Es wird später gezeigt, dass Vorschläge für eine bestimmte Politik zum Erreichen der Nutzengrenze nicht reichen, wenn der Prozess offen bleibt, wie man einen bestimmten Punkt auf dieser Grenze bestimmen soll. Literatur zum 3. Kapitel Aus der umfangreichen Literatur können zur Vertiefung Boadway/Bruce (1984, Kapitel 2-4), Ng (1983, chs. 1/2), Sohmen (1976, Kapitel 3/4), Tresch (2002, ch. 1) oder Weimann (2006, 3. Kapitel) empfohlen werden. Zu einer knappen Darstellung verschiedener Effizienzkriterien siehe Just u. a. (1982, chs. 1-3).

4. Kapitel Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen 1. Überblick: Rechtfertigung staatlicher allokativer Maßnahmen Der Marktmechanismus führt zu Pareto-effizienten Ergebnissen nur unter der Bedingung einer erstbesten, d.h. verzerrungsfreien Wirtschaft. Hier erübrigen sich staatliche Aktivitäten unter dem Ziel allokativer Effizienz, die ja bereits besteht. Allerdings kann staatliche Verteilungspolitik zweckmäßig sein, wenn die Anfangsausstattung oder die Verteilungsergebnisse als ungerecht empfunden werden. In der Realität werden die Bedingungen für eine effiziente Marktlösung regelmäßig nicht erfüllt, was angesichts der Bedingungen für eine erstbeste Wirtschaft nicht überrascht. Zu solchen Fällen des allokativen Marktversagens können rechnen S Beeinträchtigungen des vollkommenen Wettbewerbs wie monopolistische Situationen oder sinkende Durchschnittskosten (zunehmende Skalenerträge); S externe Effekte; S öffentliche Güter; S unvollständige und asymmetrische Informationen; S Transaktionskosten privater Handlungen; SVersagen von Haftungsprinzipien des Vertragsrechts; so kann die Insolvenz von Unternehmen, insbesondere Banken, unübersehbare Risiken für Dritte verursachen („systemisches Risiko“). Weil Märkte in diesen Fällen nicht existieren oder nur unzureichend funktionieren1, können die Preise ihre Koordinationsaufgabe nicht oder nur unvollkommen wahrnehmen. Die Wohlfahrtsmaximierung einer zweitbesten Wirtschaft ist dann eine potenzielle Aufgabe für den Staat. Unter den Annahmen vollständiger Information und keiner Transaktionskosten kann er Korrekturmaßnahmen ergreifen, die an den Ursachen des Marktversagens anknüpfen (Allokationspolitik). Tatsächlich beruhen aber auch staatliche Interventionen2 auf unvollständiger oder verzerrter Information und sind nicht

1

2

Die Marktergebnisse können aber auch als Folge von Steuern, vom Staat geleisteten Übertragungen, Garantien und Regulierungen ineffizient sein. So können die fehlerhafte Regulierung und die unzureichende Kontrolle Ursachen für die (Wirtschafts- und) Bankenkrise seit 2008 sein, weil sie den Banken die Gewissheit gaben, nie in Konkurs gehen zu können. Durch die (bei umfassender Rettungspolitik) fehlende Konkursdrohung wird die Informationsfunktion des Kapitalmarktes eingeschränkt. In diesem Fall liegt allerdings kein oder nicht nur Marktversagen vor. Die Nichtmarktlösungen, d.h. die kollektiven Entscheidungen bei Marktversagen, müssen aber nicht vom Staat getroffen werden. „There is a wide variety of social institutions, in particular generally accepted social norms of behavior, which serve in some means as compensation for failure or limitation of the market, though each in turn involves transaction costs of its own“ (Arrow 1970, S. 60).

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

57

kostenlos durchzuführen. Der Staat ist keineswegs eine allwissende und auch keine wohlwollende Institution, die Instrumente so einsetzen kann bzw. einsetzt, dass eine Pareto-effiziente Allokation erreicht wird. Das führt zu Staatsversagen (vgl. das 5. und 7. Kapitel). Es kann sich daher zeigen, dass trotz der genannten Mängel das Marktsystem in konkreten Fällen ökonomische Entscheidungen besser organisiert und koordiniert und somit relativ effizienter ist als alle bekannten Alternativen (Lipsey 2006). Eine Forderung nach genereller Beseitigung von Marktunvollkommenheiten, wo immer sie auch gefunden werden, ist daher in diesem Rahmen nicht haltbar. Umgekehrt ist eine Forderung nach umfassender Reduzierung der Staatstätigkeit ebensowenig begründet, wenn diese effizienter als privates Handeln ist. Im Übrigen ruft Allokationspolitik stets Verteilungswirkungen hervor, die berücksichtigt werden müssen. 2. Unvollkommener Wettbewerb a) Das Referenzmaß der vollkommenen Konkurrenz Die Allokation effizienter Märkte setzt funktionierenden Wettbewerb voraus. In statischer Sicht entspricht das dem Konzept der vollkommenen Konkurrenz. Hier liegt die gewinnmaximale Produktionsmenge der einzelnen Unternehmen bei GK = p. Das Ergebnis des Wettbewerbsmarktes lässt sich mit einem Wohlfahrtsmaß beurteilen. Abb. 4-1 Sozialer Überschuss p GK

C

p0

D

B

N x

In Höhe von p0BC kommt es zu einem Wohlfahrtsgewinn für die Nachfrager (= Konsumentenrente), die bereit sind, mehr für das Gut zu zahlen als sie bei einem Preis p0 einheitlich zahlen müssen. Weil der Gleichgewichtspreis p0 über dem Preis liegt, zu dem die einzelnen Anbieter verkaufsbereit sind, ist ihr Wohlfahrtsgewinn p0BD (Produzentenrente). Der soziale Überschuss insgesamt beträgt DCB1.

1

Die Verteilung der Nutzen und Kosten bleibt hierbei unberücksichtigt.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

58

b) Monopolistisches Verhalten Anders sieht der Fall aus, wenn das Gut nur von wenigen Unternehmen angeboten wird. Im Extremfall des Monopolisten ist der Marktpreis nicht exogen. Als alleiniger Anbieter bezieht er die Rückwirkungen einer Erhöhung seines Angebots auf den Gleichgewichtspreis in das Kalkül ein. Sein Maximierungsansatz ist daher (4-1)

max

X j , f ij

G ( X j , f1 j ,..., f Kj ) ) p j ( X j ) W X j ( f1 j ,..., f Kj ) 5 4 q k f kj k

und daher die folgende Bedingung für gewinnmaximale Produktion (4-2)

GK j )

/p j qk ) p j (X j ) 9 X j ) p j[1 9 1 / E x , p ] /X j / /f kj /X j

für alle Inputs k = 1,...,K, wobei /p j / /X j + 0 und E x , p die Preiselastizität der Nachfrage des Gutes ist. Die Grenzkosten der Produktion stimmen hier nicht wie bei vollkommener Konkurrenz mit dem Preis überein und die Pareto-Optimalitätsbedingung (3-20) wird nicht mehr erfüllt. Wenn Gut j unter Monopol- und beispielsweise Gut h unter Wettbewerbsbedingungen angeboten wird, liegt das Gleichgewicht für die Konsumenten weiter bei pj/ph = (/U//Xj)/(/U//Xh), auf der Produktionsseite gilt aber pj/ph L GKj/GKh: /p j pj 9 WXj /X j pj / X h / /f kh q k / GK h GRTjh ) + ) GRS jh . ) ) (4-3) q k / GK j /X j / /f kj ph ph Abb. 4-2 Wirkung des Monopols p D C

p2 p1

A

E

B

N

GE x1

GK=DK

x2

x

In Abb. 4-2 sind N die Nachfrage nach Gut x, GE der Grenzerlös des Monopolisten sowie GK und DK die zur Vereinfachung als konstant und identisch angenommenen Grenz- bzw. Durchschnittskosten der Produktion1. Anders als der Anbieter bei voll1

Bei steigenden Grenzkosten wäre noch die Veränderung der Produzentenrente zu berücksichtigen.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

59

kommener Konkurrenz (GK = p) versucht der gewinnmaximierende Monopolist GK = GE und so den Cournot’schen Punkt zu realisieren und bietet so eine suboptimale Menge an (x1 statt x2). Der soziale Überschuss, der sich bei einem Grenzkostenpreis p1 in Höhe von p1BD ergeben würde, sinkt beim Monopolpreis p2 um ABC auf p1ACD (= Konsumentenrente p2CD und Produzentenrente p1ACp2). Die Marktlösung im Monopolfall ist in der Regel nicht effizient1, es sei denn, der Monopolist betreibt vollständige Preisdiskriminierung (Optionsfixierer). Bei vollkommener Information über die Wertschätzung jedes einzelnen Konsumenten für das Gut (genauer: für jede Einheit des Gutes) muss er in der Lage sein, für jeden einzelnen Nachfrager (bzw. für die jeweilige Mengeneinheit) einen eigenen Preis zu vereinbaren. Dann stimmen die Grenzerlös- und die Nachfragekurve überein, der Optionsfixierer schöpft die Konsumentenrente vollständig ab. Diese Möglichkeit erscheint jedoch als unrealistisch, weil der Monopolist beide Bedingungen erfüllen muss2. Nun könnte der Staat zur Verbesserung der Allokation den Monopolisten zwingen x2 bereitzustellen. Diese Regulierung führt aber zu keiner Pareto-Verbesserung, denn die Begünstigung der Verbraucher durch höhere Konsumentenrente geht auf Kosten des Monopolisten. Zur Bereitstellung der Menge x2 ist auch eine Stücksubvention in Höhe von p-GK möglich, die zu GK = p1 führt. Die Lösung wäre Pareto-effizient, weil sich die Konsumenten im Vergleich zu x1 um E + A verbessern und der Monopolist sich nicht verschlechtern würden. Voraussetzungen: Kenntnis der Nachfrage- und der (Grenz-) Kostenfunktion zur Festlegung des Subventionstarifs. Auch dürfen die Kosten der Subventionierung nicht größer als die Zunahme an Renten sein. Die Subventionierung dürfte aber geradezu einen Anreiz zur Monopolisierung eines Marktes schaffen. Weil die Subventionierung der Produktion des Monopols auch dessen Gewinn erhöhen würde, wäre zudem die allokationstechnische Verbesserung „mit einer Verteilungswirkung kombiniert, die den vorherrschenden Vorstellungen über den Verteilungsaspekt von Marktmacht in Verbindung mit egalitären Werturteilen diametral widerspricht“ (Sohmen 1976, S. 116). Als Starthilfen können auch Subventionen für neue Anbieter konzipiert werden, um so eine Zunahme der Konkurrenz zu bewirken. Auch hier wäre der geeignete Umfang der Subventionen zu bestimmen und die Finanzierung der Subventionen müsste durch verzerrungsfreie Abgaben erfolgen. Für den Einsatz von Steuer-TransferInstrumenten spricht, dass er indirekt über den Preismechanismus und weniger über direkten Zwang wirkt. Allerdings ist der Übergang von einer wenig realistischen an (p - GK) anknüpfenden steuerlichen Lösung und der Vorschrift fließend, eine bestimmte Menge zu produzieren, für die p = GK gilt. Relevanter als das statische Modell mit „als-ob-Marktpreisen“ ist das dynamische Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs. Es zielt auf eine an den Voraussetzungen 1 2

Zu beachten ist, dass die Analyse statisch ist. So kann ein Monopol seine Gewinne in FuE investieren und langfristig als Folge davon Produktivität, Produktion und Gesamtwohlfahrt erhöhen. Wohlfahrtsmäßig ist das Ergebnis nur eindeutig, wenn Konsumenten- und Produzentenrente gleich gewichtet werden.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

60

und weniger an den Ergebnissen ausgerichtete Politik. In der Regel werden die Chancen für eine erfolgreiche Allokationspolitik im Falle des monopolistischen Marktversagens beim Einsatz wettbewerbspolitischer Instrumente höher als bei finanzpolitischen Instrumenten eingeschätzt. Sie erfolgen meist in Form regulierender Eingriffe und sollen insbesondere Marktzutrittsschranken beseitigen, Kartelle verhindern und so eine Vielzahl von Anbietern und Nachfragern gewährleisten. c) Sinkende Durchschnittskosten

Real bestehende Wirtschaftssysteme führen nicht zu effizienten Lösungen, wenn die langfristigen Durchschnittskosten einzelner Produzenten (bis zur Kapazitätsgrenze) sinken1. Eine Ursache können steigende Skalenerträge sein; eine andere die Unteilbarkeit des Kapitaleinsatzes bei der Produktion (hohe Fixkosten)2. Ein Gleichgewicht mit einer größeren Zahl von Mengenanpassern ist nicht aufrecht zu erhalten. Bei sinkenden Durchschnittskosten verdrängen die kostengünstigeren die schlechteren Anbieter vom Markt, weil ihre Kostenfunktion subadditiv ist (die Kosten für die Produktion von Teilmengen sind für das Gut höher als bei der Produktionsmenge in einer Hand). Wegen der Größenvorteile im relevanten Bereich konvergiert das Gleichgewicht zu einem natürlichen Monopol und ruft spezielle Preisbildungs- und Defizitprobleme hervor. Abb. 4-3 Sinkende Durchschnittskosten

p

D

p0

H F

p1 p2

E

C x0

x1

x2

DK GK x

In Abb. 4-3 sinken die Durchschnittskosten auch noch bei Überschneidung mit der Nachfragekurve. Wegen DK > GK produziert der verbleibende Anbieter nicht die Menge x2. Bei p2 = GK würden die gesellschaftlichen Grenzkosten und die gesellschaftlichen Wertschätzungen übereinstimmen, es käme aber zu einem Stückverlust EF (= DK – p2). Langfristiger Mindestpreis ist daher p1. Der verbleibende Anbieter 1 2

Hierbei geht es um anhaltend sinkende Durchschnittskosten im Gegensatz zum vorübergehend sinkenden, später wieder steigenden – U-förmigen – Verlauf der Durchschnittskosten. Beispiele für Dienstleistungen, die wegen Unteilbarkeit des Kapitaleinsatzes zu sinkenden Stückkosten pro Nachfrager produzieren können, liefern z.B. Transportwesen, Krankenhäuser oder Versorgungsunternehmen. Kennzeichnend ist in allen Fällen, dass sie Mindestkapazitäten mit hohem Kapitaleinsatz erfordern.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

61

kann sich als Monopolist verhalten, solange kein Zutritt anderer Unternehmen droht1. Dann bietet er x0 zum Preis p0 an. x0 ist kleiner als die kostendeckende Menge x1. Die effiziente Allokation wird verfehlt, obwohl die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager für die nicht mehr produzierten Mengen (x0 bis x2) größer als deren Grenzkosten ist. So entsteht bei einem Preis p0 gegenüber p2 ein Verlust an Konsumentenrente in Höhe von p2EDp0. Der Produzent macht beim Preis p0 einen Stückgewinn in Höhe von (DH)2. Die effiziente Produktion x2 kann auch bei Preisdiskriminierung verwirklicht werden, die zu Abweichungen vom Einheitspreis führt. Bei Abschöpfung der Konsumentenrente wird die Produktion erhöht und der Wohlfahrtsverlust verringert. Statt einer vollständigen Preisdiskriminierung pro Einheit oder einem unterschiedlichen Preis für jedes Individuum ist auch eine Variante möglich. Wenn bei allen, die mehr als p1 zu zahlen bereit sind, der Preis p1 durchgesetzt werden kann, sind die Durchschnittskosten von x1 gedeckt. Weitere Konsumenten mit einer Zahlungsbereitschaft, die kleiner als p1 aber mindestens p2 ist, brauchen dann nur noch den Grenzkostenpreis p2 zu entrichten, so dass die variablen Kosten der Menge (x2 – x1) gedeckt sind. Bei einer Preisgestaltung mit zwei Komponenten kann man auch einen von der Ausbringungsmenge abhängigen Preis in Höhe der Grenzkosten festsetzen und die (infolge der Fixkosten auftretenden) Verluste durch einen Pauschalbetrag (Grundbetrag) für jeden Nutzer decken: Strom, Wasser oder Parken werden meist durch Verwendung gespaltener Tarife finanziert. Auch diese Form der Diskriminierung erfordert Informationen über die marginale Zahlungsbereitschaft der Konsumenten, und es darf keine Ausweich- und Wiederverkaufsmöglichkeit für die Konsumenten geben. Eine andere Möglichkeit ist die zeitliche Preisdifferenzierung (Peak Load-Pricing). Sie ist dann zweckmäßig, wenn z.B. im Verkehrsbereich in der Spitzenlastzeit die Nachfrage die Kapazität eines Unternehmens übersteigt, außerhalb der Spitzenlastzeit aber ungenutzte Plätze bestehen. Bei höheren Preisen in der Spitzenlastzeit sollen diejenigen das Angebot nutzen, die es am höchsten bewerten. Niedrigere Preise können zu Fahrten außerhalb der Spitzenlastzeit anregen. Eine abgeschwächte Form der Preisdifferenzierung sind Ramsey-Preise3. Sie kommen in Betracht, wenn eine Aufteilung der Gesamtnachfrage in mehrere Gruppen 1

2

3

Diese Drohung existiert dann, wenn potentielle Konkurrenten relativ schnell in den Markt eintreten können und die durch den Markteintritt anfallenden Fixkosten vernachlässigbar klein sind. Der neue Konkurrent kann dann den Monopolpreis des bereits vertretenen Anbieters unterbieten und trotz des sich dann entwickelnden Preiskampfes kurzfristige Gewinne erzielen. Um diese Drohung abzuwehren, wird der Etablierte seine Produktion auf x2 ausdehnen und einen niedrigeren als den Cournot-Preis wählen. Bei identischer Kostenfunktion des Nebenanbieters kann dieser den sich dann ergebenden Preis p2 nicht mehr unterbieten, ohne Verluste zu machen. Liegt eine solche Situation vor, so spricht man von einem bestreitbaren Markt. Neben den statischen Wohlfahrtsverlusten ist auch die Gefahr des Auftretens dynamischer Wohlfahrtsverluste zu erwähnen, der eine Folge fehlenden Konkurrenzdrucks und relativ geringer Innovationsanreize sein kann. Vgl. auch Kapitel 5.4.

62

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

möglich ist. Die Preise sind dann so weit oberhalb der Grenzkosten festzusetzen, dass die Durchschnittskosten gedeckt werden, der dadurch verursachte Verlust an Konsumentenrente durch Ausweichverhalten der Konsumenten auf den Teilmärkten insgesamt aber so gering wie möglich bleibt. Hierzu müssen die Preise auf den Märkten mit relativ elastisch reagierender Nachfrage verhältnismäßig geringfügig angehoben werden, während auf den Märkten mit unelastischer Nachfrage (im Verhältnis zu den Grenzkosten) relativ höhere Preise verlangt werden. Preisdiskriminierung kann über den Markt erfolgen, aber auch die Folge staatlicher Regulierung sein. Setzt der Staat nach der Grenzkosten-Preisregel x2 und p2 fest, müssen die auftretenden Verluste z.B. durch eine Stücksubvention in Höhe von EF bei x2 ausgeglichen werden. Das trifft auch zu, wenn der Staat das Effizienzproblem durch eigene Produktion von x2 bei GK = p2 beheben will. Die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln darf keine Effizienzeinbußen hervorrufen. Daher kommt nur eine Pauschalsteuer in Betracht. Sie verändert keine Marginalbedingung1 und verhindert so nicht den Ausgleich der Grenzraten der Substitution und der Transformation. Pauschalsteuern sind allerdings unrealistisch. Die praktische Umsetzung der Grenzkosten-Preisregel erfordert wieder Informationen über Nachfrage und Kostenstruktur. Fehlenden Informationen eröffnen den Unternehmen Gestaltungsspielräume, die dazu führen können, dass zu höheren Grenzkosten als erforderlich produziert wird, die Konsumentenrente entsprechend sinkt2. Bei nicht kostendeckenden Preisen fehlen die Informationen über den gesamten Wert der Produktion. Der Staat deckt durch Subventionen und nicht der Markt über den Preis die Durchschnittskosten. Das lässt kein effizientes Handeln erwarten: Anders als für den gewinnmaximierenden Anbieter besteht kein Anreiz, eine kostenminimale Faktorkombination zu realisieren3. Der Staat könnte auch den Preis p1 (Abb. 4-3) vorschreiben, der die langfristigen Durchschnittskosten deckt. Ziel wäre hier die Maximierung des sozialen Überschusses unter der Nebenbedingung, dass das Unternehmen keinen Verlust macht. x1 ist kleiner als die optimale Menge x2, die die Wettbewerbsregel GK = p erfüllt. Hier sind keine Verluste mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Auch bei öffentlicher Produktion besteht ein Problem bei den Kosten, die sogar höher als die für Monopole typischen Kosten ausfallen können. Zur Einschränkung der durch Monopole zu erwartenden Allokationsmängel ist also der Einsatz verschiedener Instrumente möglich. Dabei ist im Einzelnen zu prüfen, ob 1 2

3

Die Pauschalsteuer ist ein rein theoretisches Konstrukt, das als Referenzgröße herangezogen wird. Dieser Fall der X-Ineffizienz wird in Kapitel 5e) behandelt. Bei höheren Grenzkosten kann die produzierte Menge sogar kleiner als x0 werden. Statt Preis- ergibt sich so Kostenineffizienz. Allerdings wird auch im privaten Monopol X-Ineffizienz angenommen. Allgemein bewirken Subventionen eine Begünstigung derjenigen, die das subventionierte Gut nachfragen, zu Lasten der Gesamtheit der Steuerzahler. Das kann verteilungspolitisch problematisch sein.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

63

wohlfahrtsmäßig ein durch Preisdifferenzierung, staatliche Preisregulierung oder staatliche Produktion erzieltes höheres Versorgungsniveau günstiger als das private Monopolangebot ist. Außerdem fallen bei den einzelnen Alternativen Transaktionskosten an, die hier vernachlässigt werden. 3. Externe Effekte a) Interdependenz und Externalität

In der im 3. Kapitel unterstellten erstbesten Welt ohne Verzerrungen treffen die Wirtschaftssubjekte ihre Entscheidungen unabhängig voneinander, es bestehen aber Interdependenzen. So ist durch den Kauf einer Einheit von Gut 1 diese Einheit für ein anderes Wirtschaftssubjekt nicht mehr verfügbar. Die kostenlose Nutzung einer Brücke verringert die Nachfrage nach Fährtransporten und das Einkommen ihrer Betreiber. Solche in marktwirtschaftlichen Systemen allgegenwärtigen Interdependenzen sind allokativ unbeachtlich, weil sie über das Preissystem wirken. Zwar führen sie zu anderen Allokationen, diese sind aber ebenfalls Pareto-effizient. Es kommt (bei nicht vollkommen elastischem Angebot) nur zu Transfers von Renten1. Externalitäten (oder Spillovers) sind aus der Aktivität (Produzieren oder Verbrauchen) eines Wirtschaftssubjekts bei anderen Wirtschaftssubjekten resultierende Wirkungen (Vor- oder Nachteile), die nicht durch den Preismechanismus gesteuert werden. Die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftssubjekten sind allokativ unerheblich, wenn sie sich in Preisen niederschlagen2. Externalitäten wirken direkt über den Gewinn oder Nutzen anderer Wirtschaftssubjekte, weil die Verursacher externer Vorteile nicht (oder nicht voll) entschädigt, Verursacher externer Nachteile nicht (voll) belastet werden. Externalitäten erfüllen also zwei Merkmale: Interdependenz (direkte Abhängigkeit) zwischen Wirtschaftssubjekten und keine marktmäßige Entschädigung hierfür. Beispiele hierfür sind die Emissionen eines Kohlekraftwerks. Die Schadstoffe beeinträchtigen die Luftqualität und schädigen die Gesundheit der Anwohner sowie die Landwirtschaft. Sie tragen zur Erderwärmung und Zerstörung der Ozonschicht bei. Keine dieser Kosten werden den Kraftwerken angelastet.

Voraussetzung für eine effiziente Einbeziehung in den Preismechanismus (Internalisierung) ist die Existenz von Märkten für alle Güter. Effiziente Märkte setzen Eigentumsrechte (Property Rights) und Haftung voraus. Gütertausch stellt praktisch die Übertragung von Eigentumsrechten dar, mit denen andere Wirtschaftssubjekte von der Nutzung eines Gutes ausgeschlossen werden können (z.B. durch Errichten von Zäunen). Wäre saubere Luft ein genau zuteilbares und handelbares Gut (wie Kleidung oder Nahrung), würde jede Beeinträchtigung der Luft durch das Kraftwerk zu einem Nutzungsentgelt führen. Der Verschmutzer müsste für die Konsequenzen seines Ver1 2

Solche Transfers können verteilungspolitisch bedeutsam sein. Sie werden als monetäre oder pekuniäre im Unterschied zu den hier relevanten technologischen Externalitäten bezeichnet. Also außerhalb („extern“) freiwilliger Marktbeziehungen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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haltens haften. Dem Staat käme dann allenfalls die Aufgabe zu, Sanktionen zum Schutz des Privateigentums durchzusetzen. Tatsächlich fehlen Eigentumsrechte, sind nicht durchsetzbar oder können nicht sinnvoll definiert werden. Soweit der Staat es versäumt hat, Eigentumsrechte und eine Rahmenordnung für den Wettbewerb so festzulegen, dass der Markt überhaupt erst entstehen kann, liegt das Versäumnis beim Staat und ist daher kein Marktversagen (Breyer 2008, S. 126). Ohne Eigentumsrechte kommt z.B. ein Preis für saubere Luft nicht zustande, selbst wenn die Wirtschaftssubjekte bereit sind, andere Güter für eine zusätzliche Einheit sauberer Luft aufzugeben. Die Luft hat dann zwar einen „Schattenpreis“ (z.B. die Wirkung auf die Grundstückspreise), nur realisiert dies kein Markt unmittelbar für Luft. Die Existenz von Externalitäten ist ein wichtiger Fall des Marktversagens und zur Rechtfertigung von Nichtmarktlösungen. Bedeutsam ist das Problem der Umweltbelastung, das in der Ökonomie als Externalitätenproblem aufgefasst wird. Die marktwirtschaftliche Internalisierung versagt hier, weil kein effizienter Markt für das Gut „Umweltqualität“ insbesondere wegen fehlender Eigentumsrechte entsteht. Das Umweltproblem hat aber auch eine intertemporale Dimension. Die heutige Umweltbelastung schädigt neben den gegenwärtig Lebenden auch die nachfolgenden Generationen. Diese können nicht auf heutigen Märkten agieren und so die Interdependenzen zwischen den Generationen über das Preissystem internalisieren – selbst wenn heute Märkte für Umweltqualität existierten. b) Formen und Wirkungen externer Effekte

Externalitäten können zwischen verschiedenen Gruppen auftreten. Abb. 4-4 zeigt mehrere Wirkungen. Abb. 4-4 Beziehungen bei Externalitäten Wirkung auf

Verursacher externer Effekte

Produzenten - private - öffentliche - ausländische

Produzenten - private - öffentliche - ausländische

Konsumenten - private - öffentliche - ausländische

Konsumenten - private - öffentliche - ausländische

Bei externen Effekten zwischen Produzenten hängt beispielsweise die Produktion eines Gutes h nicht nur von den kontrollierten Variablen fkh seines Produzenten, sondern auch von den Variablen fvj ab, die sich unter der Kontrolle des Produzenten des Gutes j befindet:

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

(4-4)

65

x h ) x h (f1h , ! , f Kh , f vj ) mit /x h / /f vj L 0 .

Je nachdem, ob /x h / /f vj '+ 0 liegt eine von j ausgelöste positive oder negative Externalität vor. Externe Effekte können, je nach Ursachenzusammenhang, durch die Faktoreinsatzmenge fvj direkt, durch die Produktmenge xj oder durch zusammen mit xj erstellte Nebenprodukte zj ausgelöst werden. Neben den üblichen Beispielen für negative Externalitäten gibt es auch positive Externalitäten zwischen Produzenten: Durch Aufforsten einer Region wird die Niederschlagsmenge und dadurch die landwirtschaftliche Produktion begünstigt. Agglomerationsbildungen können die Produktionskosten der einzelnen Produzenten senken. Ein Nebenprodukt kann auch gleichzeitig positiv und negativ wirken: So fördern warme Abwässer von Kraftwerken die Möglichkeit der Fischzucht und die Algenbildung in den Flüssen. Bei externen Effekten zwischen Konsumenten hängt der Nutzen der Person i vom Umfang ihrer Aktivitäten (Güter) und jenen der Person d ab. Die Nutzenfunktion kann das gleiche Gut j oder ein anderes (h L j) enthalten. Sie lautet im letzteren Fall (4-5)

U i ) U i ( x1i ,! , x Ji , x hd )

statt der Nutzenfunktion ohne Externalitäten U i ) U i ( x1i ,! , x Ji ) . Die Externalität ist

positiv oder negativ bei /U i / /x hd '+ 0. Beispiele: Der gepflegte Garten erfreut den Nachbarn oder verursacht Neid; Rauchen beeinflusst Wohlbefinden und Gesundheit der Nichtraucher.

Externe Effekte zwischen Produzenten und Konsumenten sind dadurch gekennzeichnet, dass der Nutzen der Haushalte von den Aktivitäten der Produzenten beeinflusst und/oder die Produktion durch Aktivitäten der Haushalte verändert wird. Im ersten Fall bestehen die Externalitäten in der Regel in Neben- oder Abfallprodukten der Produktion. Es gilt etwa (4-6)

U i ) U i ( x1i ,!, x Ji , z h ) mit z h ) z h ( x h ) ,

wenn der Konsum von Person i durch den Einsatz des bei der Produktion des Gutes h anfallenden Zwischenprodukts betroffen wird. Beispiel: Die Produktion der chemischen Industrie zerstört die natürliche Landschaft, gefährdet die Gesundheit, verschmutzt die Wäsche und schädigt künftige Generationen. Ein anderes Beispiel: Lastfahrzeuge führen Verkehrsstaus herbei und behindern so den Privatverkehr. Zudem können Externalitäten einseitiger oder reziproker Art sein. Wenn die von Wirtschaftssubjekten i hervorgerufenen externen Effekte nur in eine Richtung verlaufen, spricht man von einseitigen Externalitäten. Sind die beiden Wirtschaftssubjekte d und i wechselseitig betroffen, liegen reziproke Externalitäten vor; klassisches Beispiel: Bienenzucht und Baumpflanzung.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

66

Zur Darstellung des allokativen Marktversagens werden die Produzenten der Güter j und h betrachtet, wobei die Produktion von j mit Nebenprodukten zj verbunden ist. (4-7) (4-8) (4-9)

x j ) x j (f1 j ,! , f Kj ) mit z j ) z j ( x j ) mit /z j / /x j ' 0 x h ) x h (f1h ,!, f Kh , z j ) .

Um die Bedingungen für die optimale Produktion unter der Nebenbedingung gegebener Faktormengen F k, und gegebenem Output x h zu ermitteln (Pareto-effiziente Allokation), wird die Lagrange-Funktion gebildet (4-10)

L ) x j [f1 j ,!, f Kj ) 9 C h ( x h (f1h ,!, f Kh , z j (f kj )) 5 x h ] 9 4 , k (4 f kj 5 Fk ) . k

j

Aus der Maximierung von (4-10) bezüglich v und k ergibt sich die Bedingung für ein Optimum (4-11)

/x j / /f kj

/x h /x h /z j 5 /f kh /z j /f kj

)

/x j / /f vj /x h / /f vh

.

Die Optimalbedingung (4-11) weicht um die externe Wirkung /x h / /z j W /z j / /f kj von der Bedingung der gleichen Grenzraten der technischen Substitution (3-17) ab. Bewirkt das Gut j direkt die Externalität, muss in der Optimalbedingung (4-11) nur /z j durch /x j ersetzt werden. Gleichung 4-11 sagt also, dass bei Externalitäten für ein Optimum die um die Externalitäten korrigierten Grenzraten der Substitution beliebiger Faktoren in allen Produktionsprozessen gleich sein müssen. Ein entsprechendes Ergebnis erzielt man bei interdependenten Nutzenfunktionen. Hier müssen die um die Externalitäten korrigierten Grenzraten der Substitution beliebiger Güter bei allen Individuen gleich sein, die diese Güter verbrauchen. Kann der Markt die in (4-11) abgeleiteten Optimalbedingungen unter Einbeziehung der Externalitäten realisieren? Wenn das einzelne Wirtschaftssubjekt nicht für die von ihm empfangenen externen Vorteile (External Economies) bzw. die von ihm verursachten externen Nachteile (External Diseconomies) belastet wird, richtet es sein Verhalten allein an der individueller Rationalität aus. Bei Externalitäten sind die von Konkurrenzmärkten hervorgebrachten Gleichgewichtssituationen gesamtwirtschaftlich nicht optimal. Die Preise geben die mit Produktion und Konsum verbundenen Kosten und Erträge verzerrt wieder: Die Unternehmen produzieren bei Konkurrenz und Gewinnmaximierung die Menge, bei der ihre privaten Grenzkosten GKpriv dem Preis entsprechen. Die von ihnen hervorgerufenen negativen Externalitäten gehen nicht in ihre privaten Grenzkosten ein, also p < GKsoz, wobei GKsoz = GKpriv + GExt. Die private (Produktions- und) Kostenfunktion enthält nur (für die einzelnen Produzenten) knappe Faktoren. Solange z.B. Luft von den Verursachern einer Verschmutzung als freies Gut behandelt werden kann, liegen außermarktmäßige Kostenbestand-

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

67

teile vor. Entsprechend gehen die positiven Externalitäten nicht in den Marktpreis ein, so dass p + GExt > GKpriv. In Abb. 4-5 ist der Fall negativer Externalitäten dargestellt. Die privaten Grenzkosten der umweltbelastenden Produktion des Gutes x werden als konstant angenommen, die marginalen Externalitäten und daher die sozialen (oder volkswirtschaftlichen) Grenzkosten steigen. Hintergrund könnte folgende Funktion der Externalität sein: Ext = S[E(x)]. Demnach gehen mit der Produktion von x Emissionsmengen (E) einher, die – aus der Sicht der Betroffenen – einen Schaden S bewirken. Nimmt man vereinfachend an, dass pro Gütereinheit eine Schadenseinheit anfällt (x = E), lässt sich von x unmittelbar auf die marginale Externalität schließen1. Die angebotene Menge x1 ist zu groß, der Preis p1 des belasteten Gutes zu niedrig. Die gesamten externen Kosten im Gleichgewicht zeigt die Fläche AHF. Die gesellschaftliche Wohlfahrtseinbuße ist CHF. Der Grenzschaden der Produktion ist GKsoz – GKpriv = HF. Als Schaden gilt der Betrag, den alle Betroffenen zahlen würden, um die Verschmutzung zu beseitigen (oder – nach einer anderen Fragestellung – als Entschädigung akzeptieren würden, wenn die Verschmutzung nicht verändert wird). Der einzelne Anbieter sieht sich ohne Entschädigung nicht veranlasst, die mit seiner Produktion einhergehenden Externalitäten zu reduzieren oder zu beseitigen. Abb. 4-5 Marktgleichgewicht und Optimum bei negativer Externalität p K

p2 p* p1

C

A

D

H

F

E x*

0

x1

GKsoz (=GKpriv+ GExt)

GKpriv N xmax x

Dies wird wieder formal unter der Annahme gezeigt, dass auf den Güter- und Faktormärkten vollkommene Konkurrenz herrscht. Im Konkurrenzgleichgewicht ohne Externalitäten gilt (4-12)

1

pj

/x j /f kj

) q k und p h

/x h ) qk /f kh

Vgl. Cansier/Bayer (2003), S. 143.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

68

und daher (4-13)

pj ph

)

/x h / /f kh /x j / /f kj

Die privaten Grenzwertprodukte sind also gleich den Faktorpreisen. Die Werte dieser Grenzprodukte, die ein Faktor in den betrachteten Produktionsbereichen erbringt, müssen übereinstimmen. Effiziente Produktion bedingt, dass der gesamte soziale Grenzertrag aus dem Einsatz des Produktionsfaktors seinem Preis entsprechen muss: (4-14)

pj

/x j /f kj

9 ph

/x h /z j ) qk /z j /f kj

Auch das indirekte Grenzwertprodukt p h

/x h /z j , nämlich der Wertverlust aus der /z j /f kj

Verringerung der Produktion von h als Folge einer marginalen Erhöhung der Produktion von j ist zu berücksichtigen. Im Optimum muss daher das Verhältnis der Güterpreise gleich dem Verhältnis der Grenzprodukte einschließlich der indirekten Grenzprodukte sein:

(4-15)

pj ph

)

/x h /x h /z j 5 /f kh /z j /f kj /x j / /f kj

Im Verhältnis zur Pareto-effizienten Produktion ist der Preis von Gut j relativ zu Gut h zu niedrig. Die Produktion von Gut j ist daher ineffizient hoch. Abb. 4-6 Die Wirkungen einer positiven Externalität p

D

p*

B

p2

GKpriv

C

x2

x1

GEsoz (=N+GExt) x*

N

x

Für positive Externalitäten gilt Entsprechendes: Beispiel sind Unternehmen, die FuE-Investitionen vornehmen, deren Forschungsresultate aber auch von anderen Unternehmen oder der Gesellschaft insgesamt (unentgeltlich) genutzt werden können.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

69

Abb. 4-6 zeigt für ein Gut, dass bei positiven Externalitäten der Produktion die Gleichgewichtsmenge x1 zu gering ist, effizient wäre x* unter Einschluss der externen Erträge1. Bei x1 tritt ein Wohlfahrtsverlust gegenüber x* in Höhe der Fläche CDB auf. Die Unternehmen wählen aber nicht den die Externalität einschließenden optimalen Preis p*, weil sie dann nur x1 und nicht die optimale Menge x* absetzen können. Es besteht weitgehend Konsens, dass insbesondere im Bereich der Grundlagenforschung die FuE-Investitionen ohne staatliche Interventionen wegen der unzureichenden Internalisierung der Erträge (fehlende Appropriierbarkeit) und Risiken zu gering ausfallen. c) Das Coase-Theorem

Pareto-Effizienz erfordert die vollständige Internalisierung der externen Effekte2, also ihre Einbeziehung in den Preismechanismus. Das Coase-Theorem stellt die Voraussetzungen hierfür dar, nämlich (1) festgelegte Eigentumsrechte, (2) vollständige Informationen, (3) Nichtexistenz von Transaktionskosten, (4) kostenlose Koalitionsbildung und Überwachung der Vereinbarungen, (5) die Agenten müssen bei mehreren Beteiligten auf beiden Seiten jeweils deren ökonomische Interessen vollkommen repräsentieren und (6) die Beteiligten stimmen darin überein, wie sie den Überschuss aus den Verhandlungen aufteilen. Das Coase-Theorem besagt, dass unter diesen Bedingungen die von einer Externalität betroffenen Wirtschaftssubjekte sich über eine Ressourcenverwendung einigen können, die optimal und unabhängig von der Verteilung der Eigentumsrechte ist. Abb. 4-7 verdeutlicht dieses Ergebnis bei nur einem Schädiger und einem Geschädigten. Die mit der Produktion des Gutes x anfallende Schadstoffmenge (E) eines Unternehmens3 führt zu einem überproportional ansteigenden gesamtwirtschaftlichen Grenzschaden der Umweltverschmutzung. Die marginale Schadens- (oder externe Grenzkosten-) Funktion soll der von AH in Abb. 4-5 entsprechen. Die marginalen Vermeidungskosten des Schädigers stellen die Differenz aus der Zahlungsbereitschaft der Nachfrager und den privaten Grenzkosten dar (z.B. CD bei der Menge x* in Abb. 4-5). Die zwischen 0 und E* bzw. zwischen Em und E* liegenden Schadstoffabgaben erlauben eine Pareto-relevante Veränderung in Richtung E*, d.h. eine Verbesserung für beide Seiten: Ohne Umweltgesetzgebung liegen die Eigentumsrechte faktisch beim Verschmutzer. Dann zeigt Em das Gewinnmaximum des Unternehmens und damit das Marktgleichgewicht an. Der Geschädigte unterbreitet dem Verschmutzer ein Angebot4 zur Schadstoffverringerung auf E*. Der Schädiger wird dem Angebot zustimmen, 1 2 3 4

Die positive Externalität kann auch dazu führen, dass GKpriv < GKsoz. Wodurch sie definitionsgemäß aufhören zu existieren. Je geringer E, desto besser ist die Umweltqualität, wobei wieder S[E(x)] zugrunde gelegt wird. Als praktisches Beispiel dafür, dass der Geschädigte dem Verursacher eine Entschädigung für die Einstellung oder Reduzierung der Belastung leistet und beide Seiten eine Verbesserung erfahren, können die Zahlungen der Bundesrepublik an die ehemalige DDR und an Frankreich zur Reduzierung der Salzbelastungen von Werra und Rhein gelten.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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wenn er für diesen Verlust (Fläche E*AEm) mindestens kompensiert wird. Die Kompensation ist möglich, da von Em bis E* der Wert der Schadensminderung stets größer als die marginale Gewinneinbuße ist. Durch private Verhandlungen und damit über einen Markt kann folglich die Internalisierung des externen Effekts gelingen. Abb. 4-7 Internalisierung durch Verhandlungen Grenzkosten der Schadstoffverringerung

marginale Schadensfunktion

A Gewinnmaximum

0

E*

Em

E

Auch links von E* sind Allokationsverbesserungen möglich. Liegen die Eigentumsrechte bei den Geschädigten, so ist das Marktgleichgewicht zunächst im Punkt 0. Da bis zum Punkt E* der Grenzgewinn des Unternehmens größer als mögliche Grenzausgleichszahlungen ist, stellen sich beide Seiten durch Verhandlungen besser. So gelingt einem Markt die Internalisierung. Nimmt man an, dass die Einkommenseffekte null sind1, kommt es in beiden Fällen zur gleichen Schadensmenge E*. Ist kostenlose Koalitionsbildung2 möglich, kann eine der zwei Verhandlungsparteien ein Angebot unterbreiten. Die Koalitionsbildung ist aber schwierig, da es sich bei Umweltqualität um ein öffentliches Gut handelt. Bei mehreren Betroffenen auf beiden Seiten profitiert jeder von der Produktionseinschränkung, und zwar unabhängig davon, ob er selbst oder ein anderer durch eine Zahlung zu dieser Einschränkung veranlasst hat. Für jeden einzelnen (Produzenten oder Haushalt) ist es daher rational, auf eine Zahlung der anderen zu hoffen und selbst nichts beizutragen. Verhalten sich alle als Schwarzfahrer, kommen Verhandlungen gar nicht erst zustande. d) Staatliche Handlungsalternativen

Die Voraussetzungen vor das Coase-Theorem sind so restriktiv, dass sie kaum Leitlinien für staatliches Handeln bieten. Die am engsten an die Argumentation des CoaseTheorems angelehnte Maßnahme besteht in der Schaffung eines funktionsfähigen Marktes durch Festlegung von Eigentumsrechten. Wenn z.B. die Betroffenen die Ver1 2

Die Verteilung der Rechte muss ohne Einfluss auf die jeweilige Nachfrage sein, sonst ändern sich die Kurven. Hier geht es um eine Form von Transaktionskosten, andere sind etwa informelle Sanktionen, relative Macht (Einkommen, Vermögen, Zahl der Betroffenen, politischer Rahmen) auf beiden Seiten.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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ursacher externer Kosten feststellen und Schäden nachweisen, können sie die Verursacher verklagen. So kann die Belastung durch negative Externalitäten reduziert werden, indem der Staat das Eigentumsrecht den Geschädigten zuweist. Weitere konkrete Lösungen können durch Bestechung der jeweils anderen Seite (abhängig von den Eigentumsrechten), Übernahme des jeweils anderen Unternehmens oder Bildung eines neuen gemeinsamen Unternehmens erreicht werden. Die Festlegung von Eigentumsrechten ermöglicht im Coase-Fall keine intertemporale Effizienz. Die Eigentumsverhältnisse beziehen sich regelmäßig auf die gegenwärtig lebende und entscheidungsfähige Generation. Alle anderen, insbesondere die noch nicht geborenen künftigen Generationen sind aber von den gegenwärtigen Entscheidungen betroffen, ohne selbst Eigentumsrechte durchsetzen zu können. Märkte für ihre zukünftig zu erbringenden Leistungen/Gegenleistungen existieren nicht. Auch sind die Voraussetzungen des Coase-Theorems nur selten erfüllt. So fallen bei Definition, Durchsetzung und Tausch von Eigentumsrechten regelmäßig Kosten der Institutionalisierung und der Durchführung von Transaktionen1 an. (1) Die Pigou-Steuer

Steuern und Subventionen gelten seit Pigou (1932) als die klassischen Instrumente der Internalisierung. Die Externalitäten werden neutralisiert, wenn durch ihren Einsatz die Entscheidungskalküle so geändert werden, dass gemäß (4-14) die Gleichheit von sozialem Grenzwertprodukt und Faktorpreis hergestellt wird. Das Gut j produzierende Unternehmen beachtet jedoch nur sein privates Grenzwertprodukt, welches durch die proportionale Besteuerung des Faktoreinsatzes verändert wird: (4-16)

pj

/x j /f kj

) q k (1 9 ] * ) .

Der Steuersatz muss also so bestimmt werden, dass das „korrigierte“ private Grenzwertprodukt dem sozialen entspricht: (4-17)

q k (1 9 ] * ) ) q k 5 p h

/x h /z j . /z j /f kj

Der optimale Steuersatz ]* auf den Einsatz von k bei Verursacher j beträgt daher

1

Zu den Transaktionskosten rechnen die Kosten der Information über Angebots- und Nachfrageverhältnisse, der Organisation des Tausches, der Kontrolle über die Einhaltung abgeschlossener Verträge u.ä. Transaktionen liegen vor, wenn Eigentumsrechte übertragen werden. Später werden staatlich veranlasste Transaktionskosten berücksichtigt, die weiter gefasst sind und mit dem gesamten Bereich staatlichen Handelns und auch Unterlassens zusammenhängen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

72

(4-18)

]* ) 5

p h /x h /z j . q k /z j /f kj

Die optimale Steuer („Pigou-Steuer“) internalisiert eine Externalität. Bei einer direkt von einem Gut ausgehenden Externalität /xh//xj < 0 wäre das Preisverhältnis p h / p j zugunsten des Gutes j verzerrt: Der Preis von j wäre zu niedrig und müsste so / GK soz gilt1. erhöht werden, dass p h / p j ) GK priv h j Abb. 4-8 Die Pigou-Steuer p N

B

p* p1

C

H G

A

D

F

GKsoz GKpriv + ]*

GKpriv

E 0

x*

x1

xmax x

Abb. 4-8 verdeutlicht die Wirkungsweise der Pigou-Steuer. Sie wird mit einem Satz ]* = CD eingeführt und zwingt die Unternehmen, die von ihnen bei der Produktion des Gutes x verursachten, aber vernachlässigten externen Kosten in ihrer privaten Kalkulation zu berücksichtigen. So wird nach dem Verursacherprinzip derjenige, der Knappheitsfolgen verursacht, in Höhe des Knappheitspreises selbst belastet. Die Grenzsteuerbelastung müsste der auszugleichenden marginalen Externalität CD entsprechen. Die Abgabe („Umweltsteuer“) gilt als Pareto-optimal. Die Wirtschaftssubjekte bringen die richtigen volkswirtschaftlichen Grenzkosten und -erträge zum Ausgleich. Statt der Bedingung GK soz L GK priv ) p , die der Marktmechanismus ohne Eingriff hervorbringt, gilt nun im neuen Gleichgewicht (4-19)

GK soz ) GK priv 9 ]* ) p *

Eine effiziente Lösung verlangt nicht die Beseitigung der negativen Externalitäten, weil bei GExt = 0 die Kosten (Sinken der Konsumentenrente) den Nutzen aus der Emissionsverringerung übersteigen. Die Steuer gibt den Verschmutzern einen Anreiz, die Emissionen u.ä. zu reduzieren, indem die Güter nicht weiter angeboten, die Produktionsmengen verringert und/oder die Produktionsprozesse (z.B. durch Filter zur 1

) GK soz Hierbei ist GK priv h h .

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

73

Abgasminderung) geändert werden. Um solche Anpassungen zu ermöglichen, muss die Steuerbemessungsgrundlage genau die Quelle der Externalität treffen. Sonst kann die Maßnahme die Allokationsfehler noch vermehren. Wettbewerb zwingt die Unternehmen zur Wahl der kostenminimierenden Kombination. Internalisierung verlangt, dass die Verursacher die vollen volkswirtschaftlichen Kosten berücksichtigen. Hierbei sind nicht die Kosten der Vermeidung umweltschädigender Aktivitäten, als vielmehr die entstehenden Einbußen an gesellschaftlicher Wohlfahrt „für die Steuerbemessung heranzuziehen. Zwischen den beiden Kostenarten kann ein erheblicher Unterschied bestehen: es mag z.B. wenig kosten, eine Gewässerverunreinigung zu vermeiden (indem etwa ein Speicher für giftige Stoffe sorgfältiger abgedichtet wird), die Auswirkungen auf die Umweltqualität können dennoch sehr weitreichend sein (indem z.B. der Trinkwasservorrat einer gesamten Region erhalten wird)“ (Frey 1992, S. 116). Tatsächlich lässt sich eine nach individuell verursachten Schäden differenzierende Abgabe bei Märkten mit mehreren Anbietern nicht konzipieren. Daher spricht vieles für einen einheitlichen Steuersatz je Emissionsmenge. Dann sind die Grenzkosten der Emissionsvermeidung für alle Anbieter gleich und die Gesamtkosten minimal. Die Pigou-Steuer bewirkt einen (Netto-) Wohlfahrtseffekt in Höhe von CHF, der sich aus der Reduzierung der negativen Externalität DCHF abzüglich der Einbuße an Konsumentenrente DCF (in Abb. 4-8) ergibt. Die Wohlfahrtserhöhung CHF wird als erste Dividende („Umweltdividende“) der Pigou-Steuer bezeichnet. Darüber hinaus erzielt der Staat ein Steueraufkommen ABCD. Es kann unterschiedlich verwendet werden (zweite Dividende). Allokativ neutral könnte es als Pauschbetrag zurückgegeben werden. Es lässt sich auch zum Abbau anderer bestehender Verzerrungen einsetzen. Ferner wird die Verwendung des Aufkommens zur Realisierung beschäftigungsoder verteilungspolitischer Zwecke vorgeschlagen1. Das Steueraufkommen darf aber nicht so zurückfließen, dass die neuen relativen Preise und ihre Anreizsituation verändert werden. Die anderen Wirkungen sind unabhängig davon, ob ein Steueraufkommen erzielt wird. So können nichtaufkommenswirksame Regulierungen oder haushaltsbelastende Subventionen die gleichen ökonomischen Effekte bringen. Die Entscheidung für den Einsatz des jeweiligen Instruments hängt dann nicht vom Ökosteueraufkommen ab als vielmehr davon, welche Politik besser durchführbar ist. Die Umweltsteuer erlaubt, etwa im Gegensatz zu Verboten, den Wirtschaftssubjekten zu entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie die Aktivität noch durchführen wollen. Sie gewährleistet ein effizientes Ausbalancieren der Nutzen und Kosten und gewährleistet Produktionseffizienz im Hinblick auf die Umwelt. Die Überwälzung ist allokativ unerheblich, es kommt nur auf die richtigen sozialen Grenzkosten an. Bei einer Veränderung der relativen Preise können die Konsumenten auf das teurer gewordene Gut verzichten. Deckt der Preis die Grenzkosten nach Besteuerung nicht mehr, 1

Vgl. Kapitel 20.2, in dem Ökosteuern behandelt werden.

74

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

wird das Gut zumindest marginal nicht mehr angeboten oder neue Technologien kommen zum Einsatz. Das Instrument der Pigou-Steuer scheitert in der Realität daran, dass die erforderlichen Informationen über technologische Bedingungen und über Präferenzen nicht beschafft werden können1. So muss der Wert der marginalen Externalität für die betroffenen Wirtschaftssubjekte im endgültigen Optimum (CD in Abb. 4-8), also bei der allokationseffizienten Lösung, bekannt sein. In der Praxis lässt sich aber auch bei beträchtlichem Verwaltungsaufwand der Nutzen aus verhinderten bzw. beseitigten Schäden nur schwer erfassen und bewerten. Auch sind die Verursacher von Externalitäten nach Art und Ausmaß nicht immer identifizierbar. Das ist häufig wegen vielfältiger Interdependenzen nicht möglich. Beispielsweise fallen im Transportbereich Externalitäten auf mehreren unterschiedlich strukturierten Märkten an und hängen von vielen technologischen Faktoren und Verhaltensweisen ab, die wiederum durch andere Daten (darunter Steuern, Subventionen, Auflagen) beeinflusst werden. Auch sind Externalitäten nur eine Form der ökonomischen Ineffizienz. Die Internalisierung durch Steuern ist dann nicht möglich, wenn Umweltschäden aus der Vergangenheit stammen (Altlasten) oder der Verursacher (z.B. weil er sich im Ausland befindet) nicht dingfest gemacht werden kann. Ferner kann die Maßnahme aus rechtlichen Gründen (z.B. EU-Recht) nicht durchsetzbar sein oder politisch auf Widerstand stoßen, weil zwei Gruppen negativ betroffen sind: diejenigen, die die Steuer (für x*) zahlen und diejenigen, die auf das Gut (in Höhe von x1 - x*) verzichten müssen. (2) Die Pigou-Subvention

Mit einer Subvention kann grundsätzlich das gleiche Ergebnis wie durch Besteuerung negativer Externalitäten erzielt werden. Das zeigt sich, wenn man (4-19) umformt in (4-20) GKpriv = p* – s*, wobei s* (= – ]*) der für die optimale Vermeidung negativer Externalitäten erforderliche Subventionssatz ist. In Abb. 4-7 ist zu sehen, dass bei einem Subventionsbetrag CD pro vermiedener Schadenseinheit der Grenzschaden wie bei der Pigou-Steuer auf CD bei einem Produktionsumfang x* reduziert wird. Eine Wohlfahrtsverbesserung ist möglich, solange die eingesparte marginale Externalität größer als die Grenzsubvention ist. Die Wirkung von Steuer und Subvention ist dabei symmetrisch: Die PigouSteuer erhöht die Kosten einer Outputeinheit um ]* (= CD) ebenso wie die Subvention, da in diesem Fall die Produktion einer zusätzlichen Outputeinheit einen Verzicht auf die Subvention CD bedingt.

1

Von Fragen der politischen Umsetzbarkeit und den dabei anfallenden Transaktionskosten einmal abgesehen.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

75

Die Subventionierung könnte damit begründet werden, dass die Umweltverbesserung allen zugute kommt (ein öffentliches Gut ist). Das gilt allerdings auch für die steuerliche Lösung, die dem Verursacherprinzip Rechnung trägt. Durch Subventionen (einschließlich Steuervergünstigungen) werden hingegen die Kosten entsprechend der allgemeinen Steuerverteilung auf die Gesamtheit der Steuerpflichtigen verteilt (Gemeinlastprinzip)1. Das ist verteilungspolitisch bedeutsam: den Verursachern wird praktisch das Recht z.B. auf Verschmutzung zuerkannt2. Subventionen sind aber auch allokativ bedenklich, weil sie die Verursacher nicht zur Kalkulation mit den „richtigen“ sozialen Kosten zwingen. Vielmehr verzerren sie die Preisstrukturen und setzen den marktwirtschaftlichen Preismechanismus partiell außer Kraft. Ein Verzerrungseffekt kann durch die Finanzierung der Subventionen entstehen. Steuern und Subventionen dürften aber auch nicht zum gleichen Ergebnis führen, weil Bemessungsgrundlage der Steuern die (Schadenswerte bzw. die allein praktikablen) emittierten Schadstoffmengen sind, Bemessungsgrundlage der Subventionen ist hingegen die Verringerung der Schadstoffmengen. Für die Emittenten könnte sogar ein Anreiz bestehen, vor Einführung der Subventionen das Verschmutzungsniveau zu erhöhen. Weil die Verursacher mehr Mittel bei höheren Schadstoffemissionen erhalten, kann trotz Subventionen die Gesamtbelastung noch steigen. Um dies zu vermeiden, muss die Umweltsubvention auf den ursprünglichen Verschmutzungsgrad und nicht auf die Vermeidung zusätzlicher Externalitäten bezogen sein. Die Schadensvermeidungen ist bei mehreren potenziellen Schädigern schwer zu bestimmen, weil Rückgänge der Gesamtbelastung nicht auf einzelne Schädiger zurechenbar sind. Die Subventionen können direkt an der Ursache der Externalitäten ansetzen oder auch in Form von öffentlich finanzierter oder geförderter Forschung umweltfreundlicher Technologien bestehen, wodurch aber die Zielgenauigkeit in der Regel verringert werden dürfte. In der Praxis kann es zu einer Kombination beider Instrumente kommen, z.B. wenn die Technologie zum Abbau der Belastungen beschleunigt werden soll. Die Wahl der Bemessungsgrundlage hat (wie bei steuerlichen Maßnahmen) wichtige Implikationen für die Produktionsentscheidungen.

1

2

Wenn die Kosten der Vermeidung von Umweltbelastungen auf die Nutznießer der Maßnahme umgelegt werden, spricht man vom Nutznießerprinzip. Die Kosten werden den Nachfragern bzw. den betreffenden Produkten (z.B. Trinkwasser) angelastet. Hierzu müssen die Nutznießer klar identifiziert werden können. Die Begründung, dass die Vorteile einer Maßnahme allen zugute kommen, ist hier bedenklich. Sie kehrt im Prinzip das existierende Rechtssystem um und gebietet unausgesprochen, jedem Kriminellen (bis hin zum Mörder) nicht mit Strafe zu drohen, sondern ihn mit einer Entschädigung zum Unterlassen seiner Tat zu bewegen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

76

(3) Der Preis-Standard-Ansatz

Im Gegensatz zu Pigou-Lösungen verfolgen andere Instrumente der Umweltpolitik nicht das Ziel der Pareto-Effizienz. Wegen der Informationsprobleme wird als zweitbeste Lösung angestrebt, exogen (über den Prozess der politischen Willensbildung) bestimmte Belastungsgrenzen oder Umweltstandards1 mit den geringstmöglichen Kosten für die Unternehmen insgesamt (Kosteneffizienz) durchzusetzen2. Kosteneffizienz liegt dann vor, wenn die Grenzkosten der Vermeidung negativer Externalitäten für alle Unternehmen gleich sind3. Abb. 4-9 Der Preis-Standard-Ansatz p GK

GKsoz

E

A

0

F GKpriv + ]ˆ

D B

x1

GKpriv

G



x2

x

Beim Preis-Standard-Ansatz4 wird zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Umweltstandards eine Steuer erhoben, die wie ein Preis die Emissionsmengen auf das gewünschte Maß reduzieren soll. In Abb. 4-9 wird die zulässige Umweltbelastung auf einen Schaden ABE festgelegt. Sie ist hier zufällig das Optimum, was aber unerheb1 2

3

4

Die Standards sind meist auch willkürlich angesichts der Unsicherheit über Belastungswirkungen von Schadstoffen. Bei Festsetzung eines Umweltniveaus sind Rückwirkungen auf andere staatliche Ziele zu beachten. Internalisierungsmaßnahmen verteuern die Produktion. Sie setzen damit (bei isolierten Maßnahmen) die nationale und internationale Konkurrenzfähigkeit herab. In Regionen mit einer Konzentration verschmutzungsintensiver Wirtschaftszweige trägt dies u.U. zu länger anhaltender Arbeitslosigkeit bei. Umweltschutzaktivitäten können auch zu unerwünschten Verteilungswirkungen führen. Daher sind stets politische Widerstände der von den Maßnahmen betroffenen Unternehmen, der Gewerkschaften und der Bevölkerung zu erwarten. Widerstände sind bei allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wahrscheinlich, die die Preisstruktur zuungunsten einzelner Branchen, Gruppen usw. verändern. Regionen mit relativ geringem durchschnittlichen Einkommen werden ihre Position weiter verschlechtert sehen. Die Bewertung negativer Externalitäten weicht in solchen Gebieten in der Regel von der in relativ „reicheren“ Gebieten ab, weil die Schadensbewertung von der Einkommens- (bzw. Kaufkraft-) Verteilung abhängt. Ist das nicht der Fall, kann eine bestimmte Umweltbelastung mit geringeren Kosten realisiert werden; hierzu verringert ein Unternehmen mit höheren Kosten seine Emission um den gleichen Umfang, wie ein Unternehmen mit niedrigeren Kosten seine Emission ausdehnt. Es handelt sich hierbei um eine von Baumol/Oates (1971) vorgeschlagene pragmatische Politikkonzeption.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

77

lich ist. Es wird (fälschlicherweise) angenommen, dass das dazugehörige Produktionsniveau xˆ und durch eine Steuer mit ]ˆ ) BD zu erreichen sei. Dabei wird ]ˆ durch ein Trial-and-error-Verfahren ermittelt: Der Staat legt willkürlich ]ˆ fest und beobachtet den anfallenden Schaden. Ist der Schaden (wie hier) höher als gewünscht, so wird ]ˆ erhöht; ist er zu niedrig, wird die Steuer gesenkt. Das „Ausprobieren“ führt darüber hinaus zu Transaktionskosten für Unternehmen und Staat. Gegenüber der PigouLösung hat der Standard-Preis-Ansatz den Vorteil, dass die verhinderten Schäden nicht gemessen und bewertet werden müssen. Kosteneffizienz ist mit dem Preis-Standard-Ansatz nicht zu erreichen, wenn mehrere Unternehmen gemeinsam für die Schadstoffbelastung verantwortlich sind und unterschiedliche Diffusionskoeffizienten, d.h. für gegebenen Output unterschiedliche Schadstoffmengen, aufweisen. Dann wäre für jedes einzelne Unternehmen ein eigener Steuersatz erforderlich. Wird gleichzeitig eine räumliche Differenzierung der Belastung angestrebt, so wächst die Zahl der Steuersatzkombinationen zur Aufrechterhaltung des Standards erheblich (vgl. Weimann 1995, S. 211 ff.). (4) Umweltzertifikate

Umweltnutzungsrechte können auch dadurch verknappt werden, dass der Staat nach dem gewünschten (z.B. Luft-) Standard die Menge der Verschmutzungsrechte – handelbarer Umweltzertifikate – festlegt. Die Zuteilung kann mit Hilfe von Preisen auf Märkten erfolgen. Im Gegensatz zur Pigou-Lösung werden hier der ökologische Rahmen festgelegt und private Eigentumsrechte an bisher freien Umweltgütern geschaffen. Die Nutzer der Umweltgüter zahlen den Eigentümern (Staat oder Erwerber schon veräußerter Verschmutzungsrechte) einen Preis. Die Verschmutzer können die jeweils günstigere Alternative – Reduzierung der Verschmutzung oder Kauf von Umweltzertifikaten – wählen. Die begrenzten Rechte werden letztlich von den Produzenten gekauft, die die größten Kosten der Verschmutzungskontrolle haben. Es bildet sich ein einheitlicher Preis für Verschmutzungsrechte, so dass die Grenzvermeidungskosten überall gleich sind. Die allokative Effizienz der Zertifikatslösung hängt von der Existenz eines kompetitiven Marktes für die Verschmutzungsrechte ab. Gibt es nur wenige Anbieter und Nachfrager auf diesem Markt, eröffnen sich strategische Aspekte. Großunternehmen sind zum Beispiel dann in der Lage, den Zertifikatspreis künstlich in die Höhe zu treiben, um kleinere Unternehmen vom Markt zu verdrängen. Eine solche Gefahr besteht beim Preis-Standard-Ansatz nicht. Die Rechte zur CO2-Belastung werden im Rahmen der EU unterschiedlich verteilt. In Deutschland werden Unternehmen bestimmter Branchen (insbesondere Kraftwerke) und Größe unentgeltlich mit einem bestimmten Zertifikatsvolumen ausgestattet, das sie über den Markt ergänzen oder verkaufen können.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

78

(5) Weitere Möglichkeiten der Umweltpolitik

Das erste in Deutschland angewandte Instrument der Umweltpolitik waren Auflagen beispielsweise über die Produktionsmenge oder die -bedingungen. Die Unternehmen können dann ihren optimalen Verschmutzungsgrad nicht selbst wählen1. Wie schon beim Preis-Standard-Ansatz festgestellt, werden die Umweltbelastungen nicht effizient vermieden. In Abb. 4-10 werden ohne Regulierung mit x11 und x21 ineffiziente Mengen produziert2, optimal wären x12 und x22. Durch den gleichen Standard für beide Produzenten in Höhe von xR muss der zweite Anbieter seine Menge auf xR reduzieren. Die Ineffizienz zeigt sich hier mit einer Zahlungsbereitschaft, die größer als GKsoz ist, während sie beim ersten Anbieter kleiner ist, so dass dieser die zulässige Menge nicht nutzt (x11 < xR). Abb. 4-10 Ineffizienter Standard Unternehmen 1

Unternehmen 2

p

p

GKsoz

GKsoz p1

GKpriv

p1

GKpriv N2

N1 0

x12 x11 xR

x

0

xR x22

x21

x

Wenn andererseits bei der konkreten Ausgestaltung der Auflagen mit den staatlichen Behörden verhandelt werden kann, ist die Wirksamkeit der Maßnahmen eingeschränkt. Ferner kann der Staat durch Gebote oder Verbote die Einstellung der Aktivitäten verlangen, die bestimmte negative Externalitäten verursachen. Verbote können schnell wirksam werden und sind vorteilhaft, wenn die Schädigungen gravierend sind und ein bestimmtes Ausmaß (insbesondere von null) nicht überschreiten dürfen. Zwangsmaßnahmen schließen jede Abweichung von der gesetzlichen Norm aus, für einzelwirtschaftliche Entscheidungen besteht kein Ermessensspielraum. Verbote (eingeschränkt auch Standards und Zertifikate) können daher Aktivitäten auch über ein ökonomisch erwünschtes Maß hinaus reduzieren.

1

2

Die praktische deutsche Umweltpolitik setzte traditionell überwiegend das Ordnungsrecht ein, d.h. mit Auflagen oder Verboten soll der Schadstoffausstoß vermindert werden. So müssen z.B. Anwender umweltgefährdender Herstellungsverfahren ihre Anlagen mit Filtern versehen. Vereinfachend werden hier gleiche konstante marginale und soziale Grenzkosten angenommen.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

79

(6) Transaktionskosten staatlicher Lösungen

Bei Einsatz aller Instrumente muss die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen gewährleistet sein. Werden beispielsweise die bestehenden Vorschriften über die Reinhaltung von Luft und Wasser nicht durchgesetzt, sind faktisch die Schädiger wieder die Eigentümer der Umwelt. Staatliche Entscheidungen rufen regelmäßig Transaktionskosten hervor, so auch die Entscheidung über die geeignete Methode zur Internalisierung bzw. zur Reduzierung (negativer) Externalitäten. Die gesamten Kosten jeder Maßnahme müssen folglich ins Verhältnis zu den Ergebnissen der Maßnahme gesetzt werden. Es kann also nicht darum gehen, Pareto-Optimalität unabhängig von den Kosten zu erreichen. Darauf wird an anderer Stelle ausführlicher eingegangen. 4. Öffentliche Güter a) Begriff des öffentlichen Gutes

Bei der Herleitung der beiden Hauptsätze der Wohlfahrtstheorie im 3. Kapitel wurde eine Ökonomie nur mit rein privaten Gütern (Individualgüter) unterstellt. Die Nutzung solcher Güter durch ein Wirtschaftssubjekt i schließt die gleichzeitige Nutzung dieser Güter durch alle anderen Wirtschaftssubjekte d  i aus. Reine private Güter stellen einen Extremfall dar, denn es gibt nur wenige Güter ohne irgendwelche Externalitäten. Übersicht 4-1 Klassifizierung der Güter

ja Rivalität nein

Ausschließbarkeit ja nein Reines Unreines privates öffentliches Gut Gut Reines Klubgut öffentliches Gut

Klassifiziert man Güter nach den Kriterien der Rivalität in der Nutzung und der Ausschließbarkeit (vgl. Übersicht 4-1), stellt ein rein öffentliches Gut (Kollektivgut) den anderen Extremfall dar, wobei gilt: S Sobald das Gut bereitgestellt wird, ist es gemeinschaftlich nutzbar (= nicht rival), d.h. die Nutzung durch Wirtschaftssubjekt i erlaubt die gleichzeitige Nutzung durch alle anderen Wirtschaftssubjekte. Die Nutzung durch zusätzliche Konsumenten verursacht Opportunitätskosten von null. Nicht-Rivalität im Verbrauch ist nur eine Bedingung für das Vorliegen eines rein öffentlichen Gutes, eine zweite kommt hinzu:

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

80

S Niemand kann von der Nutzung aus ökonomischen oder technischen Gründen ausgeschlossen werden. Mit der Möglichkeit des Ausschlusses kooperations- und zahlungsunwilliger Mitglieder der Nutzergruppe des öffentlichen Gutes ist zugleich ein durchgreifender Sanktionsmechanismus gegeben. Zahlung und Nutzung können miteinander verknüpft werden: Nur derjenige, der einen Beitrag leistet, kommt in den Genuss des Gutes. Bei fehlender Ausschlussmöglichkeit wird die Verbindung jedoch gekappt. Dies eröffnet Anreize zum Schwarzfahren (Trittbrettfahren): Jeder ist bestrebt, das öffentliche Gut zu konsumieren ohne sich selbst finanziell zu belasten. Beispiele für öffentliche Güter sind Verteidigungsleistungen zur Sicherung gegen äußere Bedrohungen, Leistungen im Bereich der inneren Sicherheit oder des Brandschutzes. Zwar können beispielsweise Schutzmaßnahmen auch privat gekauft und die Einhaltung von Kontrakten durch bestimmte Netzwerke bewirkt werden. Die private Bereitstellung läuft aber Gefahr in nicht von außen zu kontrollierenden mafiösen Strukturen zu enden. Formal entspricht die Gesamtmenge eines privaten Gutes Xj der Summe der von den Wirtschaftssubjekten i kontrollierten Teilmengen (4-21)

X j ) x j1 9 x j2 9 ! 9 x jI ) 4 x ji . i

Für ein öffentliches Gut Xö gilt hingegen (4-22)

X ö ) X ö1 ) X ö 2 ) ! ) X öI ) X öi

für alle i.

Öffentliche Güter können auch als Grenzfall privater Güter mit externen Effekten und einer Individualgutskomponente von null aufgefasst werden. Externalitäten verbinden Elemente des öffentlichen und des privaten Gutes. Die beiden in der Übersicht 4-1 enthaltenen Fälle des Klubgutes und des unreinen öffentlichen Gutes (Mischgutes) werden später behandelt. b) Optimale Bereitstellung (1) Das Samuelson-Modell

Wie sehen die Bedingungen für Pareto-Effizienz aus, wenn die Produktionsfaktoren entweder zur Produktion eines privaten Gutes Xj oder eines öffentlichen Gutes Xö eingesetzt werden können? Hier wird ein Modell von Samuelson (1954, 1955, 1969) zur Bestimmung der gesamtwirtschaftlich optimalen Bereitstellung eines öffentlichen Gutes dargestellt. Der individuelle Nutzen der Individuen sei bestimmt als (4-23)

U i ) U i ( x 1i , ..., x Ji , X ö )

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

81

Die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten seien durch die Transformationsfunktion (4-24)

T ( X j , X ö , F) ) 0

beschrieben. Xj stellt den Sektor der gesamten Produktion des privaten, Xö die Produktion des öffentlichen Gutes dar, F die gegebenen Faktoren. Ein Pareto-Optimum liegt vor, wenn sich der Nutzen des Individuums i bei vorgegebenem Nutzen Šd aller anderen Individuen d L i und gegebenen Produktionsmöglichkeiten nicht erhöhen lässt. Zur Lösung des Optimierungsproblems wird die Lagrange-Funktion gebildet L ) U i ( x1i ,!, x Ji , X ö ) 9 4 C d ( U d ( x1d ,!, x Jd , X ö ) 5 U d )

(4-25)

d Li

9 $T (X j , X ö , F) 9 4 , j (4 x ji 5 X j ). j

i

Die Bedingungen erster Ordnung sind

(4-26)

/U i /L ) 9 ,j ) 0 /x ji /x ji /L /T )$ 5 ,j ) 0 /X j /X j

Nach Eliminierung Optimalbedingungen (4-27)

/U d /L ) 9 ,j ) 0 /x jd /x jd /U d /U i /L /T 9$ ) 9 4 Cd ) 0. /X ö /X ö d L i /X ö /X j

der

Lagrange-Multiplikatoren

erhält

man

als

/U i / /X ö /U d / /X ö /T / /X ö 9 4 ) . /U i / /x ji d Li /U d / /x jd /T / /X j

Es seien GRS iöj )

/U i / /X ö die Grenzraten der Substitution zwischen dem öffent/U i / /x ji

lichen und einem privaten Gut j. Ferner gilt, dass GRTöj )

/T / /X ö . Gleichung /T / /X j

(4-27) ist dann gleichbedeutend mit (4-28)

i 4 GRS öj ) GRTöj . i

Für die optimale Bereitstellung öffentlicher Güter muss die Summe der Grenzraten der Substitution zwischen öffentlichen und beliebigen privaten Gütern der Grenzrate der Transformation dieser Güter entsprechen. Das leuchtet unmittelbar ein: Der Grenznutzen einer Zusatzeinheit des öffentlichen Gutes stellt Nutzen für i und d dar, bei privaten Gütern kommt eine Zusatzeinheit entweder i oder d zugute.

82

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Im Zwei-Personen-Zwei-Güter-Modell wird dies grafisch verdeutlicht. Abb. 4-11 zeigt im unteren Teil eine Indifferenzkurve U2 von Person 2 und die Produktionsbeschränkung T. U2 ist Teil einer Schar von Indifferenzkurven. Unter welchen Kombinationen beider Güter kann Person l wählen, und welche ist die beste, wenn Person 2 willkürlich auf die Indifferenzkurve U2 festgelegt wird? Die Konsummöglichkeiten des l gibt die Kurve F als vertikale Differenz von T und U2 im oberen Teil der Abbildung wieder. Für ein Pareto-Optimum muss die Grenzrate der Substitution des l zwischen beiden Gütern der Steigung von F entsprechen (Punkt M). Es gilt also GRS1 = GRT - GRS2 oder (4-29)

GRS1öj 9 GRS 2öj ) GRTöj .

In M verbraucht l OD Einheiten Xj; l und 2 verbrauchen die gleiche Menge OE von Xö. Von M aus kann l sich nur auf Kosten von 2 verbessern. Daher sind M, N und G Pareto-optimal. Für jeden Punkt auf der F-Kurve gilt, dass ihre Steigung die Differenz aus der Steigung der T-Kurve und der Steigung der U2-Kurve ist. (4-29) sagt genau das. Im Gegensatz hierzu gilt bei rein privaten Gütern (4-30)

GRS1hj ) GRS 2hj ) GRThj .

Abb. 4-11 Effiziente Versorgung mit öffentlichen Gütern im Zwei-Personen-Modell

xj T G

xj1 IH

N

F

xj2

I H F

U2 U'2

E

0



R

xj1 Q D

F 0

M E

U'1 U1 Xö

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

83

Die Menge des privaten Gutes entspricht im Modell jeweils dem verfügbaren Einkommen, das Mengenverhältnis stellt daher die Einkommensverteilung dar. G in Abb. 4-11 zeigt nur ein mögliches Pareto-Optimum, weil von einer bestimmten Indifferenzkurve der Person 2 ausgegangen wurde. Bei einer anderen Indifferenzkurve (etwa U2' ) verändert sich auch die Nettotransformationskurve der Person l. Daher bleibt die optimale Aufteilung zwischen privaten und öffentlichen Gütern so lange unbestimmt, wie es nicht gelingt, den Punkt höchster gesellschaftlicher Wohlfahrt, etwa mittels einer sozialen Wohlfahrtsfunktion zu bestimmen. (2) Partialanalytische Betrachtung

In der bisherigen allgemeinen Gleichgewichtsanalyse wurden Transformations- und Substitutionsraten als Optimalbedingungen abgeleitet. Um die Verhandlungspositionen deutlich zu machen, soll nun ein Partialmodell betrachtet werden1,2. Auf dem Markt für ein privates Gut müssen die von Person 1 und die von Person 2 nachgefragten Mengen bei alternativen Preisen horizontal zur Gesamtnachfragekurve N1+2 beider Personen addiert werden. Bei einer Angebotskurve A in Abb. 4-12a ergibt sich das Gleichgewicht G1. Die individuellen Nachfragekurven geben den Grenznutzen dieses Gutes für den jeweiligen Nutzer wieder. Bei G1 entspricht der Grenznutzen von l dem Grenznutzen, den 2 aus dem Gut bezieht und ist dem Preis (= GK auf dem vollkommenen Markt) gleich; Person 1 erhält die Menge OH und 2 die Menge HC. Abb. 4-12 Nachfrage nach einem privaten und einem öffentlichen Gut a) privates Gut

p

b) öffentliches Gut

p N1+2

G1

F N1 0

H

A

N2 B C

H

N1

N1+2 D

G2

F Xj

0

B

CD E

A

N2 Xö

Da die Menge eines öffentlichen Gutes von beiden Personen genutzt werden kann, müssen hier die Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft beider Wirtschaftssubjekte vertikal addiert werden (Abb. 4-12b). Man erhält eine „Pseudo-Nachfragekurve“- „pseudo“, weil sie auf der unrealistischen Annahme beruht, dass die Konsumenten ihre wahren Präferenzen freiwillig bekannt geben. 1 2

Vgl. zum Folgenden Musgrave/Musgrave/Kullmer 1 (1994), Kapitel 3 B. Eine Partialanalyse berücksichtigt keine Einkommensumverteilungseffekte bei Produktionsstrukturveränderungen und Einkommenseffekte der Nachfrage bei Preisstrukturveränderungen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

84

Bei privaten Gütern lautet die Frage, welche Menge des Gutes fragen die Personen bei unterschiedlichen Preisen nach. Bei öffentlichen Gütern ist die entsprechende Frage, welchen Preis die einzelnen Wirtschaftssubjekte bei unterschiedlichen Mengen des Kollektivgutes (ohne strategische Überlegungen) zu zahlen bereit sind. Beim öffentlichen Gut gibt der vertikale Abstand unter der Gesamtnachfragekurve die Summe der Grenznutzen beider Personen wieder, die in G2 gleich der Summe der offenzulegenden individuellen Preise und den Grenzkosten ist. Hierbei beziehen sich die Grenzkosten auf Veränderungen der Menge des öffentlichen Gutes und nicht auf Veränderungen in der Nutzerzahl. Wichtig ist die sorgfältige Trennung zwischen der gemeinsamen Nutzung, die den Charakter eines öffentlichen Gutes ausmacht, und dem Nutzen aus seiner Bereitstellung. Der Nutzen kann für die Einzelnen unterschiedlich und auch negativ (= negatives öffentliches Gut, Public Bad) sein. Da der Einzelne nicht ausgeschlossen werden, aber auch sich selbst nicht ausschließen kann, wird er unter Umständen zur negativen Nutzung gezwungen (Forced Rider). Bewertet ein zusätzlicher Nutzer das in Abb. 4-12b dargestellte öffentliche Gut negativ, ist zur Ermittlung der Gesamtnachfrage N3 von N1+2 vertikal abzuziehen. N3 in Abb. 4-13 gibt an, wieviel diese Person für die Nichtbereitstellung des Gutes zu bezahlen bereit wäre. Abb. 4-13 Public Bad p 0

Xö N3

Die Optimalbedingung für öffentliche Güter in der gegenüber privaten Gütern modifizierten Grenzkosten-Preis-Regel ist (4-31)

GK ) 4 GZB i . i

Die Bereitstellung des öffentlichen Gutes sollte demnach so lange ausgedehnt werden, bis die Kosten einer weiteren Einheit der Summe der von allen Nachfragern zusammen beigemessenen marginalen Zahlungsbereitschaft (GZBi) dieser Einheit gleich sind. c) Unterversorgung bei privater Bereitstellung

Der Marktmechanismus wird in der Regel bei öffentlichen Gütern keinen Paretoeffizienten Zustand hervorbringen. Warum, wird aus Abb. 4-12b ersichtlich. Wie viel würde freiwillig vom öffentlichen Gut bei gegebenen Angebots- und Nachfragekurven bereitgestellt? Für Person l übersteigt bis zur Menge OB der Grenznutzen des Gutes

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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die Grenzkosten, für 2 entsprechend bis zur Menge OC. Die Wirtschaftssubjekte würden daher maximal OB bzw. OC „kaufen“. Wenn l allerdings zuerst die Menge OB kauft, ist das Gut in dieser Höhe auch für 2 verfügbar. 2 ist dann nur bereit, OC-OB zusätzliche Einheiten zu kaufen. Wenn 2 andererseits OC Einheiten erwerben sollte, würde l nichts zu zahlen bereit sein, weil die Kosten zusätzlicher Einheiten über deren Nutzen (null) liegen. Jeder Kauf durch eine Person beeinflusst also die Zahlungsbereitschaft der anderen. Weil keine Person den aufgrund ihrer Zahlung bei der anderen Person anfallenden Nutzen internalisiert1, trägt niemand die vollen Kosten einer über OC hinausgehenden Menge, obwohl der gesellschaftliche Wert der Grenzeinheit des öffentlichen Gutes die Grenzkosten seiner Bereitstellung übersteigt. Die Nichtausschließbarkeit vom Konsum eines öffentlichen Gutes führt zu strategischem Verhalten der folgenden Art: Für das Wirtschaftssubjekt ist es rational, selbst nichts zu finanzieren und zunächst einmal abzuwarten, ob nicht andere irgendwelche Zahlungen leisten. Da dieses Argument aber für die anderen auch gilt, werden alle abwarten und keinerlei Beiträge aufbringen. Im Extremfall wird deshalb nichts von dem öffentlichen Gut bereitgestellt2. Hier liegt die Situation des Gefangenendilemmas vor: Zwei Personen wählen ihre Strategie, die sich auf beide auswirkt. Die Matrix zeigt dies für zwei Personen: Abb. 4-14 Gefangenendilemma

Person 1 zahlt Person 1 zahlt nicht

Person 2 zahlt 3,3 4,1

Person 2 zahlt nicht 1,4 2,2

Wenn die beiden Personen identisch sind, erzielen sie jeweils gleiche Ergebnisse (3,3 und 2,2). Das effiziente gesellschaftliche Ergebnis ist (3,3), bei der beide Personen zur Finanzierung des öffentlichen Gutes beitragen. Wenn beide die dominante (beste) Strategie wählen, erreichen sie den größtmöglichen Nutzen für alle. Das zweitbeste Ergebnis für die Gesellschaft ist asymmetrisch, nämlich (4,1) oder (1,4). Die Person, die nicht zur Finanzierung des öffentlichen Gutes beiträgt, hat jeweils einen Nutzen von 4, die zahlende Person hingegen nur von 1. Das beste persönliche Ergebnis ist also 4, wenn man nichts zum öffentlichen Gut beiträgt; das schlechteste persönliche Ergebnis liegt für die Person vor, die allein zahlt. Wenn jede Person eine Entscheidung nur aufgrund ihres Eigeninteresses durchführt, welches Ergebnis ist dann ein Gleichgewicht, bei dem keine Tendenz besteht, es zu verlassen? In der Matrix gibt es ein einziges Nash-Gleichgewicht (2,2); hier kann keine Person bei gegebener Strategie der anderen durch Veränderung ihrer Entscheidung etwas gewinnen. Wechselt Person 2 auf die Position zu zahlen, verschlechtert sich ihr Ergebnis – entsprechend für Person 1. Die Lösung ist aber suboptimal. Beim effizien1 2

Hier wird wieder die Analogie zur Externalitätenproblematik offensichtlich. Experimente zeigen, dass die Annahme eines beschränkt rationalen Verhaltens im sozialen Kontext und in sozialen Prozessen empirisch realistisch erscheint. Dann kann es zu einer freiwilligen Bereitstellung öffentlicher Güter kommen. Beispiel ist Warm Glow (siehe das 9. Kapitel).

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ten Ergebnis (3,3) trägt jeder zur Finanzierung des Projekts bei. Es ist aber kein NashGleichgewicht, weil ein persönlich besseres Ergebnis zu erzielen ist, wenn der einzelne sich nicht zur Finanzierung entscheidet. Das Beispiel bezieht sich auf gleiche Wirtschaftssubjekte und egoistisches Verhalten. Absprache oder Kooperation erfolgt nicht oder ist nicht möglich. Je stärker sich die Personen allerdings altruistisch verhalten, um so wahrscheinlicher ist, dass sie ihre wahren Präferenzen offenbaren. Das gilt um so mehr, wenn von den anderen angenommen wird, dass sie einen fairen Beitrag leisten. Bei großen Gruppen weiß jeder, dass das eigene Verhalten geringe Wirkungen auf das Gesamtergebnis hat. Je geringer die Nutzerzahl, um so größer wird die Bedeutung des Einzelnen für die Bereitstellung des öffentlichen Gutes, das Schwarzfahren kostet etwas. Die Wahrscheinlichkeit freiwilliger Vereinbarungen wird größer. Es besteht aber die Möglichkeit der Ausbeutung der Großen durch die Kleinen (Olson 1968): Wenn eine einzelne Person ein hohes Interesse an der Bereitstellung des öffentlichen Gutes hat, wird sie es bei strategischem Verhalten der anderen eher bis GK = GZB allein finanzieren als darauf zu verzichten1. d) Verfahren zur optimalen Bereitstellung (1) Das Lindahl-Modell

Der vergangene Abschnitt hat die Ineffizienz privater Entscheidungen bei die Bereitstellung öffentlicher Güter demonstriert. Daher ergibt sich die Aufgabe für den Staat, diese Ineffizienz zu korrigieren und einen Pareto-optimalen Zustand herzustellen. Wicksell (1896) hat darauf hingewiesen, dass Maßnahmen zur Erreichung eines Pareto-effizienten Zustandes von allen Beteiligten unterstützt würden, da jeder davon profitierte2. Die Pareto-effiziente Bereitstellung des öffentlichen Gutes führt jedoch nicht unmittelbar zur Einstimmigkeit. Diese ist auch abhängig von der Verteilung der Kosten der Bereitstellung. Beschließt der Staat beispielsweise, dass ein einziger Haushalt die Kosten zu tragen hätte, so würde dies nicht einstimmig gebilligt. Dieser Haushalt würde mehr zahlen, als er durch die Bereitstellung des Gutes gewinnen würde und daher eine solche Kostenaufteilung ablehnen. Kann ein Staatseingriff aber überhaupt so gestaltet werden, dass alle beteiligten Wirtschaftssubjekte ihm zustimmen? Wicksell argumentierte, dass dies möglich sei, indem man die Kosten des öffentlichen Gutes entspre1

2

Vgl. Punkt C in Abb. 4-12b. Beispiele hierfür sind in den internationalen Organisationen die Beiträge der Mitgliedsländer, die meist überwiegend von wenigen Großen bestritten werden. Auch bei nationalen Verbänden findet sich eine solche Finanzierungsstruktur. Zu beachten ist, dass Olson in seiner These Große und Kleine nicht mit Besitzern hohen oder niedrigen Einkommens/Vermögens gleichsetzt. Er hält die Größe des Nutzens für entscheidend, die ein Individuum aus dem öffentlichen Gut zieht (Olson 1968). Einstimmigkeit wurde von Wicksell als normative Aussage postuliert. Sie schützt den Bürger vor jedweder Ausbeutung durch den Staat (siehe 6. Kapitel). Weiterhin entfallen bei einstimmig getroffenen Entscheidungen Zwangsmaßnahmen zu ihrer Durchsetzung.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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chend den Nutzengewinnen der einzelnen Individuen aufteile. Diese Überlegung wurde von Lindahl (1919) präzisiert (und von Johansen 1963 formalisiert): Die Aufgabe des Staates besteht darin, sowohl den Umfang des öffentlichen Gutes als auch die Aufteilung der Kosten auf die Personen oder Haushalte zu bestimmen. Zur Vereinfachung sei die Existenz von nur zwei Haushalten 1 und 2 unterstellt. In dem von Lindahl vorgeschlagenen Prozess kommt dem Staat praktisch die Rolle eines Auktionators zu: Er schlägt den beiden Haushalten bestimmte Steueranteile an der Finanzierung des Gutes ]1 und ]2 = (1 - ]1) vor. Die Haushalte teilen dem Staat dann die von ihnen bei diesen „persönlichen Preisen“ (Lindahl-Preise) gewünschte Höhe von Xö mit. Schlagen die Haushalte unterschiedliche Ausgabenhöhen vor, so passt der Staat die Steueranteile an: Der Finanzierungsanteil des Haushalts mit gewünschtem höheren Bereitstellungsniveau wird erhöht, der des anderen wird entsprechend gesenkt. Die Wiederholung solcher Anpassungen führt zu einer Situation, in der beide Parteien das gleiche Niveau wünschen. Dann erhebt der Staat die zugehörigen Steuern und stellt das öffentliche Gut in entsprechendem Umfang bereit. Beide Haushalte stimmen einem solchen Budget und ihren damit verbundenen Zahlungen zu. Einstimmigkeit über diese Entscheidung ist daher gesichert. Abb. 4-14 Lindahl-Gleichgewicht im Zwei-Personen-Fall Xö N1 N2 N'1

M

Xö*

0

]Q

1

]Q

]N

Die Wirkungsweise des Lindahl-Mechanismus wird in Abb. 4-14 noch einmal verdeutlicht. N1 und N2 geben die Nachfragekurven beider Personen an. Die Schnittpunkte von N1 und N2 mit der x-Achse bzw. deren Parallele mit dem Abstand ]1 = 1 geben die Menge des öffentlichen Gutes an, deren Kosten jeweils eine Person ohne einen Beitrag der anderen allein zu tragen bereit ist. Die Nachfragekurve eines jeden Haushalts fällt in seinem eigenen „Steuerpreis“, d.h., je größer der vorgeschlagene Finanzierungsanteil, desto geringer das gewünschte Niveau. Der Schnittpunkt M der beiden Nachfragekurven ist das Lindahl-Gleichgewicht; hier stimmen beide Personen in der Menge des öffentlichen Gutes und seiner Finanzierung überein.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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Dass das Lindahl-Gleichgewicht zu einer Pareto-effizienten Allokation führt, wird leicht aus der mathematischen Formulierung ersichtlich: Jeder Haushalt i gibt die von ihm gewünschte Menge Xö so an, dass sein Nutzen bei gegebenem Steueranteil ]i maximiert wird. Der Haushalt löst also das Problem (4-32) max U i ( x 1i ,!, x Ji ) 5 C(4 p j x ji 9 ] i rX ö 5 m i ) . j

Dies führt über die Bedingung erster Ordnung (4-33)

/U i / /X ö ) ]i r /U i / /x ji

zu Xöi (]i), dem von Person i bei dem Steueranteil ]i gewünschten Bereitstellungsniveau. r = GRTöj bezeichnet hier die Grenzkosten der Produktion des öffentlichen Gutes, ausgedrückt in Einheiten des privaten Gutes. Im Lindahl-Gleichgewicht stimmen die gewünschten Mengen überein. Ebenso muss gelten, dass 4]i = 1 und daher (4-34)

i 4 GRS öj ) 4 ] i GRTöj i

i

i 4 GRS öj ) GRTöj i

was genau der Samuelson-Bedingung (4-29) entspricht. Der Lindahl-Mechanismus ist nicht immun gegenüber der oben vorgestellten Trittbrettfahrerproblematik. Er weist demjenigen einen höheren Steueranteil zu, der einen höheren Nutzen aus dem Konsum des Gutes angibt. Da dieser Nutzen aber unabhängig von der eigenen Finanzierungsleistung ist, liegt weiterhin strategisches Verhalten nahe. Haushalt 1 kann sich dadurch verbessern, dass er für jeden vorgeschlagenen Finanzierungsanteil ]i eine geringere Nachfrage N'1 als seine tatsächliche angibt (Abb. 4-13). Dadurch kann Person 2 einen größeren Anteil an der Steuerlast aufbürden, während weiterhin Nutzen aus dem Genuss des öffentlichen Gutes anfällt. Die nun bereitgestellte Menge ist natürlich nicht mehr Pareto-effizient. Im Extremfall könnte Person 1 sogar jeden Nutzen aus dem öffentlichen Gut abstreiten (d.h., er wird für jeden Steueranteil ]i ein gewünschtes Niveau von null angeben), in der Hoffnung, dass Haushalt 2 allein belastet wird. Die eben dargelegte Argumentation gilt aber ebenso aus der Sicht von Haushalt 2. Beide werden abstreiten, irgendeinen Nutzen aus dem Konsum des Gutes zu empfangen, woraufhin das Gut auch nicht bereitgestellt wird. Beide Parteien finden sich also in der Situation des Gefangenendilemmas wieder. Der Versuch, Pareto-effiziente Allokationen durch Erfüllung der Forderung nach Einstimmigkeit zu garantieren, muss also aufgrund der Free-rider-Problematik als gescheitert bezeichnet werden. Maßnahmen zur Überwindung dieser Problematik werden im folgenden Abschnitt dargestellt.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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(2) Mechanismen zur Enthüllung der Präferenzen für öffentliche Güter

Zu einer effizienten Bereitstellung öffentlicher Güter muss das Informationsproblem gelöst, also die marginale Zahlungsbereitschaft der Nutzer ermittelt werden. In demokratischen Staaten sollen die Präferenzen der Bürger in Wahlen zum Ausdruck kommen. An das Wahlsystem sind daher bestimmte Erwartungen geknüpft: Die Individuen wissen, dass sie sich der Entscheidung, die im Wahlprozess erzielt wird, fügen müssen. Daher werden sie für die Lösung stimmen, die ihren eigenen Wünschen nahe kommt, also ihre Präferenzen enthüllen. Soll der Wahlprozess als Mechanismus der Präferenzenthüllung dienen, so muss er Steuer- und Ausgabenentscheidungen verbinden; der Wähler muss mit einer Entscheidung über Budgetvorschläge konfrontiert werden, die ein Preisschild in der Form seines eigenen Steuerbeitrages tragen. Dieses Preisschild wird von den gesamten Kosten für die Gemeinschaft, wie auch von dem Anteil, den die anderen beitragen, abhängen. Die Entscheidung des einzelnen ist damit abhängig von seinem Wissen, dass auch andere in Übereinstimmung mit dem angenommenen Steuerplan beitragen werden. Diese Zwangsnatur der Budgetentscheidung führt zur Präferenzenthüllung und erlaubt die Bestimmung der Bereitstellung öffentlicher Güter (Musgrave/Musgrave/ Kullmer 1, 1977, S. 62/63). Der politische Prozess wird also als eine Entscheidungsform für die Bereitstellung öffentlicher Güter angesehen, die effizient sein kann. Hierzu muss sich der politische Prozess mit dem Kalkül individueller Nutzenmaximierung der Beteiligten decken. Allerdings zeigt die Analyse des staatlichen Entscheidungsprozesses im 5. Kapitel, dass der politische Mechanismus ebenfalls unvollkommen ist und auch nicht annäherungsweise zu dem führen kann, was als optimale Budgetentscheidung gilt. Als eine einfache Form der Präferenzermittlung kommen die Befragungen repräsentativ ausgewählter Personen der jeweiligen potentiellen Nutzergruppe in Betracht. Sie könnten direkt zu ihren Zielen und den Gewichten verschiedener Variablen Aussagen machen. Die optimale Menge des öffentlichen Gutes könnte bestimmt werden, wenn die Befragten bereit und in der Lage wären ihre Präferenzen exakt offenzulegen. Nur fehlen ökonomische Anreize hierzu. Daher sind Fehldarstellungen je nach den (steuerlichen) Konsequenzen der Angaben und je nach Fragestellung zu erwarten. Auch sind Inkonsistenzen wahrscheinlich (Kahneman/Tversky 1988). Bei Unsicherheit über die Auswirkungen (Menge und Preis der bereitgestellten Leistung) könnten Personen strategisches Verhalten auch für schwierig halten und die Wahrheit sagen. Die Bedeutung des Schwarzfahrerproblems ist nicht eindeutig geklärt, eben weil es keinen adäquaten Mechanismus zur Feststellung der wahren Nachfragekurven der Wirtschaftssubjekte gibt: Die geäußerte müsste mit derjenigen marginalen Zahlungsbereitschaft verglichen werden können, die vorliegt, wenn jeder die Wahrheit sagt. Ob Eigennutz und rationales Verhalten das tatsächliche Verhalten bestimmen und damit z.B. zum Schwarzfahren führen, versucht man auch in kontrollierten Experimenten zu klären. Einige Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Wirtschaftssubjekte in bestimmten Entscheidungssituationen durchaus bereit sein können, ihre richtigen

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Präferenzen zu offenbaren (van Winden 2002) 1. Allerdings stellt sich die Frage der externen Validität, ob also die Schlussfolgerungen dieser Experimente auf Entscheidungen über öffentliche Güter in der politischen Realität übertragbar sind. So können sich die politischen Entscheidungen auf andere Güter als in den Experimenten beziehen, in der repräsentativen Demokratie geht es meistens um Programmpakete und der Nutzen vieler öffentlicher Güter tritt gar nicht ins Bewusstsein der Individuen, so dass die Wirtschaftssubjekte nicht in der Lage sind, ihre Präferenzen zu offenbaren. Das Problem der Fehldarstellungen entfällt bei der Methode der offenbarten Präferenzen, die auf den tatsächlichen Entscheidungen beruht. Hier werden in der Regel indirekt über private Substitutions- und Komplementärgüter Informationen gewonnen. Darauf wird im Rahmen der Nutzen-Kosten-Analyse2 als einem weiteren Instrument zur Lösung des Informationsproblems eingegangen. Tiebout (1956) hat auf eine andere Möglichkeit hingewiesen, die sich bei lokalen öffentlichen Gütern ergeben könnte. Deren Nutzen ist auf bestimmte räumliche Grenzen beschränkt (z.B. ein Park). Die Wirtschaftssubjekte können „mit ihren Füßen abstimmen“, d.h. eine räumliche Allokationsentscheidung so treffen, dass die jeweilige Niederlassung ihren Präferenzen für öffentliche Güter und den damit verbundenen Steuerbelastungen entspricht. Die Tiebout-Hypothese stellt einen Mechanismus dar, über den die Individuen ihre wahren Präferenzen offenbaren und so zu einer optimalen Bereitstellung öffentlicher Güter beitragen können (vgl. das 25. Kapitel). Voraussetzung ist (neben der unterstellten Information) die Mobilität der Wirtschaftssubjekte. Das Modell weicht von anderen Modellen des Entscheidungsprozesses insofern ab, als der Bürger hier nicht nur auf die Teilnahme am politischen Prozess verzichten, sondern auch die Konsequenzen der dort gefällten Entscheidungen durch Abwandern (Exit) vermeiden kann. Insofern liegt hier in gewissem Sinne eine dem Marktmechanismus entsprechende Bedingung vor. In der Literatur werden einige Überlegungen angestellt, welche Bedingungen ein erfolgreicher ökonomischer Mechanismus zur Präferenzenthüllung („demand revealing process“) erfüllen muss. Es geht dabei um eine institutionelle Zwangsregelung, mit der das Schwarzfahrerproblem gelöst werden kann. Hierbei soll der Eigennutz herangezogen werden, um Informationen über wahre Präferenzen zu erhalten. Bei allen Vorschlägen sollen die Wirtschaftssubjekte in der Gestaltung der Besteuerung eine Chance sehen, dass sie bei eigenem Mitwirken am Entscheidungsprozess das Ergebnis zu ihren Gunsten beeinflussen können. Hierbei zahlt jeder Teilnehmer an dem Verfahren eine Steuer für die Vorteile aus seiner Beteiligung. Die Höhe bemisst sich nach dem Verlust an Konsumentenrente, den er durch seine Entscheidung anderen auferlegt. Clarke (1971, 1980) und Groves (1977) haben eine Lösung des Problems vorgeschlagen, die als Clarke-Groves-Steuermechanismus (oder auch kurz als ClarkeSteuer) bezeichnet wird. Der von Clarke entwickelte Mechanismus, der von 1 2

So können die Bürger weniger an der eigenen Schwarzfahrerposition interessiert sein als an der Schädigung, die sie durch dieses Verhalten anderer erfahren. Siehe Kapitel 6.2.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Tideman/Tullock (1976) weiterentwickelt wurde, sieht folgendermaßen aus: Die Individuen i werden zunächst nach ihren MZB-Kurven gefragt, die dann vertikal addiert werden (VNi = MZBi). Der Schnittpunkt der VNi-Kurve und der GK(= DK)-Kurve bestimmt die Menge x1 des anzubietenden öffentlichen Gutes. Es kann zum Preis p produziert werden. Wenn alle Personen ihre richtigen Präferenzen offenbaren, kommt es zu einem Pareto-optimalen Angebot im Sinne von Gleichung (4-29). Die den Haushalten auferlegte Steuer ist zweiteilig. Zunächst werden die Personen i mit einem willkürlichen Anteil 0ip an den Kosten des öffentlichen Gutes belastet, wobei für die Gesamtheit der Personen 40ip = p = GK gilt. Dieser Teil ist eine fiskalische Steuer, die als Pauschalsteuer ausgestaltet ist. Er bedeutet einen Zwang zur individuellen Finanzierungsbeteiligung und wird unabhängig von den Präferenzen für das öffentliche Gut so festgesetzt, dass seine gesamten Produktionskosten gedeckt sind. Die offenbarten Präferenzen eines beliebigen Wirtschaftssubjekts d, das in Höhe von 0dp besteuert wird, werden hiervon nicht beeinflusst (Abb. 4-15a). Abb. 4-15 Der Clarke-Groves-Steuermechanismus p GK N

p GK N

a)

I

4 0ip

b)

GK

GK

i )1

4 0ip

4 Ni ) 4 Ni 9 Nd i Ld 4 Ni

4 Ni ) 4 Ni 9 Nd

i Ld

iLd

4 Ni

i Ld

i Ld

D A

!dp

x0

0

C B x1

Sd Nd

D F E A x0 x-

!dp 0

x

C x1

H Sd

N d9 N G d5 Nd

x+

x

Um die Individuen zur korrekten Enthüllung ihrer Präferenzen zu bringen, wird zusätzlich ein Anreizmechanismus eingeführt. Jeder Nachfrager, beispielsweise d, hat die Möglichkeit die Entscheidung zu akzeptieren, die ohne sein weiteres Mitwirken gefällt wird. Er kann aber auch unter bestimmten Bedingungen das Ergebnis verändern, wobei er Zusatzkosten in Form einer Clarke-Steuer tragen muss. Die grundlegende Idee der Steuer besteht darin, jeden Nachfrager mit den Kosten, die er den anderen Nachfragern durch die Angabe seiner Präferenzen Nd auferlegt, zu belasten. Angenommen, die Präferenzen von d bei der Entscheidung über den optimalen Umfang des öffentlichen Gutes werden ignoriert. Dann hätte Person d nur ihren vorbestimmten Betrag 0dp pro Einheit zu zahlen. Die von den übrigen Individuen (i L d) zu finanzierenden Grenzkosten sind dann 4 0 i p ) (GK 5 0 d p ) , ihre Gesamtnachfrage iLd

wäre 4 N i ) 4 N i 5 N d . Der Schnittpunkt von 4 0 i p ) 4 N i legt die Menge des iLd

i

iLd

iLd

öffentlichen Gutes x 0 fest, die von allen Individuen mit Ausnahme von Person d ge-

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

wählt würde, wenn sie einen Preis für das Gut zu zahlen hätten, der ihren Anteilen entspricht. Wird die Nachfragekurve von d bei der Entscheidung berücksichtigt, so ergibt sich als neue Menge x1 > x0. Für alle anderen Teilnehmer außer d stellt die Berücksichtigung von Nd Kosten dar, da für x1 > x0 gilt: 4 N i + 4 0 i p . Die Clarke-Steuer besteht iLd

iLd

in dem Betrag, der zur Entschädigung der Personen i L d erforderlich ist, damit diese sich anstelle von x0 für x1 entscheiden würden. Die marginale Steuerbelastung einer Ausdehnung der angebotenen Menge über x0 hinaus ist Sd ) GK 5 4 N i . Die Clarkei Ld

x1

Steuer beläuft sich daher auf D Sd dx . In Abb. 4-15a entspricht dies der Fläche x0ACx1. xo

Zuzüglich der Pauschalsteuer hat Person d den Betrag 00dpACx1 zu entrichten. Der Nutzen aus der zusätzlichen Bereitstellung des Gutes beträgt x0DCx1, so dass sich der Nettonutzen von Person d auf DCA beläuft. Die Belastung durch die so bemessene Clarke-Steuer veranlasst d, bei der Befragung seine wahre Nachfragekurve Nd anzugeben. Der Anreiz besteht unabhängig davon, welche Nachfragekurven Ni alle anderen Individuen (i L d) angeben. Die Wahrheit zu sagen, ist eine dominante Strategie. Dies wird in Abb. 4-15b deutlich. Durch die Angabe einer „zu geringen“ Nachfragefunktion N¯d realisiert Person d einen Nutzen, der um EFC kleiner als der Nutzen bei wahrheitsgemäßer Präferenzangabe ist1. Da entsprechende Überlegungen auch für alle Personen i L d gelten, wird jede Person ihre wahren Präferenzen offenbaren. Es zeigt sich also, dass Präferenzüberund -untertreibungen bei diesem Steuermechanismus durch ökonomische Nachteile bestraft werden, korrekte Präferenzoffenbarung wirkt sich aber individuell nutzenerhöhend aus. Zur Wirksamkeit eines solchen Mechanismus müssen aber verschiedene Probleme gelöst werden. So gewährleistet die Clarke-Steuer eine effiziente Allokation des öffentlichen Gutes gemäß der Samuelson-Bedingung, aber keine insgesamt effiziente Allokation. Der hier vorgestellte Mechanismus führt nicht zwangsläufig zum Haushaltsausgleich, d.h. es kann auch ein Überschuss entstehen. Dieser Überschuss müsste wieder an die Haushalte zurückverteilt werden. Das wiederum würde die Anreizstruktur verändern, da die Haushalte dann wüssten, dass ihre Präferenzangabe eine Rückwirkung auf die eventuelle Rückerstattung des Überschusses hat2. Auch können Informationen nicht kostenlos erlangt werden. Die Individuen müssen Zeit und Mühe auf sich nehmen, um ihre (richtige oder falsche) Bewertung mitzuteilen. Aus diesen Angaben wird dann das gewünschte Güterangebot berechnet. 1 2

Gleiches gilt für den Fall, dass Person d ihren Nutzen zu hoch angibt (Nachfragekurve N+d). Tideman/Tullock (1976, S. 1156) verweisen darauf, dass die Überschüsse recht klein seien und insbesondere bei großen Gruppen ignoriert werden könnten. Gleichzeitig sei der Überschuss als Teil der Kosten der Entscheidungsfindung aufzufassen. Solche Kosten müssten auch bei alternativen Prozessen berücksichtigt werden.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Fraglich ist auch, ob die Teilnehmer das Verfahren durchschauen. Da jeder Wähler ferner nur einer unter vielen ist, ist sein Einfluss auf die bereitzustellende Menge des öffentlichen Gutes gering und der Nutzen aus der korrekten Offenlegung seiner Präferenzen ebenfalls. Der Einsatz der Ressourcen zur Bestimmung und Weitergabe der Präferenzen lohnt sich daher nicht1. Ein anderes Problem kann darin bestehen, dass Individuen Koalitionen bilden und ihre gemeinsame Stärke zur Erzielung kollektiver Erträge verwenden. Das dürfte aber bei großer Personenzahl und geheimer Abstimmung bedeutungslos sein. Der Mechanismus legt keine Regeln fest, wie der Pauschalteil der Steuerzahlung bestimmt werden soll. Ferner wird eine effiziente Allokation privater Güter unterstellt. Diese braucht aber nicht gewährleistet zu sein, wenn das Gesamtsteueraufkommen von den Kosten des Angebots öffentlicher Güter abweicht. Ein etwa entstehender Überschuss muss irgendwie verwendet werden (Pauschalübertragungen) und jedes Defizit muss durch Steuern finanziert werden. Ferner dürfen mit dem Mechanismus keine Einkommenseffekte einhergehen, weil sonst mit jeder Steueränderung Verschiebungen der MZB-Kurve verbunden sind. Das Modell zeigt also, dass es theoretisch möglich ist, Anreizmechanismen zu entwickeln, die die Bürger zur Offenbarung der wahren Präferenzen für öffentliche Güter veranlassen. Diese Mechanismen erscheinen allerdings wenig operationalisierbar. Die Implementierungskosten für Staat und private Wirtschaftssubjekte machen ihn unpraktisch. Im Übrigen ist unklar, wie denn gewährleistet werden kann, dass richtig offenbarte Präferenzen auch umgesetzt werden. Was wird hinsichtlich der hierfür erforderlichen Institutionen verlangt und was kann auch realisiert werden? Die Offenlegung der Präferenzen kann andererseits dadurch weniger bedeutsam sein, dass in einer repräsentativen Demokratie die Entscheidungen letztlich nicht von den Individuen selbst, sondern von Repräsentanten getroffen werden. Daher mögen Fehldarstellungen weniger erfolgreich sein. e) Mischgüter

Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf rein öffentliche Güter, bei denen Nichtrivalität und Nichtausschließbarkeit zusammenfallen. Rein öffentliche Güter sind in der Realität (ebenso wie rein private Güter) selten. Der Normalfall eines Mischgutes (= unvollständig öffentliches oder unvollständig privates Gut) ist dadurch gekennzeichnet, dass es sowohl die Eigenschaften des privaten wie des öffentlichen Gutes besitzt. So bewirkt die Impfung gegen eine ansteckende Krankheit einen privaten Nutzen für den Geimpften und ein öffentliches Gut in Form einer Verringerung der Wahrscheinlichkeit, dass andere Personen angesteckt werden. Der Wunsch des Einzelnen, nicht krank zu werden, kann privat befriedigt werden; die Vermeidung von Seuchen muss in der Regel kollektiv bewirkt werden. Bei solchen Mischgütern müssen die privaten Nachfragekurven horizontal und die marginalen Zahlungsbereitschaften für die Menge des öffentlichen Gutes vertikal addiert werden. 1

Dies entspricht der Rationalität des Nichtwählens bei großen Gruppen, vgl. das 5. Kapitel.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Für Mischgüter sind die Nutzerzahl und der Ort der Bereitstellung von Bedeutung. Bei reinen öffentlichen Gütern bringen zusätzliche Nutzer einen Vorteil für alle, weil eine weitere Finanzierungsquelle hinzugefügt wird, die zusätzliche Inanspruchnahme des Gutes aber keinerlei Kosten verursacht. Die optimale Nutzergröße läge dann an der Kapazitätsgrenze. Bei gemischten Gütern hingegen verursachen zusätzliche Nutzer Kosten für die bisherigen Konsumenten (Überfüllung, Ballung). Meist treten diese zusätzlichen Kosten erst ab einer bestimmten Nutzerzahl auf. In diesem Fall wird die Qualität des öffentlichen Gutes für die Nutzer negativ beeinflusst. Zwar kann das öffentliche Gut weiterhin von allen gleichzeitig genutzt werden, seine Qualität hat sich aber für den Einzelnen verändert. Das Gut ist also nur so lange rein öffentlich, wie keine Überfüllungskosten auftreten, danach wird es zunehmend rival. Den Nachfragekurven N1 und N2 in Abb. 4-11b liegt die Annahme der Nichtrivalität in der Nutzung zugrunde. Führt die Erweiterung der Zahl der Nutzer zur Rivalisierung, verschieben sich die Nachfragekurven der bisherigen Nutzer l und 2 nach unten: die Nutzungsmöglichkeit des Gutes hat sich verschlechtert. Bei Mischgütern bleiben die Bedingungen für die optimale Bereitstellung des rein öffentlichen Gutes erhalten: Weiteren Einheiten des Gutes sind nur anzubieten, wenn die Summe der marginalen Bewertungen für eine zusätzliche Einheit größer oder gleich den Grenzkosten seiner Bereitstellung ist. Nur: Während bei reinen öffentlichen Gütern 4 Ni = N1+ N2 + N3 ist, gilt bei unvollständig öffentlichen Gütern 4 N*i = N*1 + N*2 + N*3 , wobei N*i die unter Berücksichtigung der Überfüllung veränderten Nachfragekurven angeben. Die individuellen „Preise“ dürften daher regelmäßig geringer als bei reinen öffentlichen Gütern sein. In vielen Fällen gemeinsamer Nutzung (Nichtrivalität) ist ein Ausschlussmechanismus möglich. Dann spricht man von Klubgütern. Beispiele sind Badeanstalten, Tunnel oder Tennisklubs. Solche Fälle werden im Zusammenhang mit der Theorie der Klubgüter (Buchanan 1965) analysiert. Grundlage ist die Feststellung, dass einerseits Vorteile durch „economies of scale in consumption“ bei der koordinierten Bereitstellung von Leistungen in einem Klub anfallen, andererseits die individuelle Nutzungsmöglichkeit mit zunehmender Teilnehmerzahl sinkt. Beide entgegengesetzt wirkenden Elemente sind die Grundlage zur Bestimmung der optimalen Gruppengröße. Als Klub gilt eine freiwillige Gruppe, die gemeinsam Nutzen aus der Kostenteilung der Bereitstellung eines unteilbaren Gutes zieht. Die Theorie der Klubs wird u.a. zur Analyse von Überfüllungsproblemen, zur Bestimmung des optimalen Umfangs von Allianzen, Kooperationen oder Gebietskörperschaften verwendet. Die optimale Klubgröße ist dann für die individuellen Nutzenfunktionen (4-35)

U i ) U i ( x ji , X ö , s)

zu bestimmen, wobei xji den individuellen Verbrauch des privaten Gutes j durch Wirtschaftssubjekt i, Xö das unvollständig öffentliche Gut und s den Umfang der Nutzergruppe angeben. Das analytische Problem bei solchen gemischten Gütern ist nicht nur

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die Bestimmung ihrer optimalen Produktions- bzw. Verbrauchsmenge, sondern auch ihrer optimalen Nutzung durch verschiedene Wirtschaftssubjekte. Mit zunehmender Rivalität einer größeren Nutzerzahl wächst die Bedeutung der Eigenschaft eines privaten Gutes. Die positive Nutzung impliziert positive Knappheitspreise, die der sinkenden Qualität aller anderen durch den zusätzlichen Nutzer Rechnung tragen. Hier liegt eine Situation vor, in der der Ausschluss zweckmäßig ist. Klubgüter sollten privat bereitgestellt werden. Dabei kann der Ausschluss mit unterschiedlichen Tarifen erfolgen. In einem einteiligen Tarif wird nur über die Mitgliedschaft (Klubkarte, Eintritt) entschieden. Mit zunehmendem s kommt es dann zur Warteschlange bei der Nutzung. Diese kann durch einen zweiteiligen Tarif vermieden werden, mit dem die einzelne Nutzung bezahlt werden muss. In vielen Fällen gelingt der Ausschluss aber nicht. So können Abgaben, die bei Straßen und Brücken den Externalitäten in Spitzenlastzeiten Rechnung tragen (also eine zeitliche Differenzierung herbeiführen) sollen, an den notwendigen Kontrollverfahren scheitern. Das Anhalten des Verkehrs zum Kassieren von Abgaben verstärkt im Übrigen die Externalitäten. Auch kann eine technisch mögliche Ausschließbarkeit ökonomisch unzweckmäßig sein, wenn die tatsächliche Ausschließung durch die Zuweisung von Nutzungsrechten selbst Kosten verursacht (Errichten von Zäunen, Mautstellen, Wasser- und Gasuhren usw.). Die Frage des Ausschlusses ist also das Ergebnis der ökonomischen und sozialen Organisation. Wenn – wie bei Klubgütern – eine rivalisierende Nutzung (= negative Externalität) vorliegt, aber keine Möglichkeit des Ausschlusses besteht, spricht man von Allmendegütern. Das sind beispielsweise die von Gemeindemitgliedern gemeinsam zu nutzende Viehweide oder die Fischbestände in internationalen Gewässern. Ohne festgelegte Eigentumsrechte nimmt jeder Zugriff auf diese Güter, ohne einen den Knappheitsverhältnissen entsprechenden Preis zu zahlen. Es kommt zur Übernutzung und letztlich z.B. abnehmenden Fischbeständen (Tragedy of Commons). Ist ein Ausschluss möglich, verlieren die Güter die Eigenschaft öffentlicher Güter. Die meisten öffentlichen Güter sind mehr oder weniger lokale/regionale öffentliche Güter1. Sie kommen insbesondere denjenigen Wirtschaftssubjekten zugute, die nahe dem Ort der Bereitstellung sind. Das gilt etwa für die Nutzungsmöglichkeit eines Parks. Auf höherer geografischer Ebene finden sich nationale, internationale und globale öffentliche Güter. Letztere betreffen beispielsweise das Klima2, den Weltfrieden mit all dem, was das Freisein von nationaler Unsicherheit und Krieg für das menschliche Wohlergehen bedeutet, aber auch der Terrorismus3. Zur Kategorie rein öffentlicher Güter gehört auch die Bereitstellung des Gutes „äußere Sicherheit“ durch die NATO, die prinzipiell allen Mitgliedstaaten bzw. deren Bürgern nützt, gleichgül-

1 2 3

Dieser Aspekt wird in der Theorie des Föderalismus aufgegriffen (vgl. das 27. Kapitel). Siehe auch Kapitel 20.2e zu Ökosteuern. Typisch ist in diesen Beispielen, dass das öffentliche Gut selbst eine Bestandsgröße ist, die über die Zeit akkumuliert wurde. Die aktuelle Politik bestimmt nun die Ströme und verändert die Bestände.

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tig, wo sie leben. Europäische öffentliche Güter fallen geografisch enger aus. Aber auch hier sind Eigenschaften von Mischgütern nachweisbar. 5. Einige Bedenken gegen das Konzept öffentlicher Güter

Die Theorie öffentlicher Güter geht davon aus, dass die Individuen informiert sind, rational und eigennützig handeln und den Nutzen öffentlicher Güter erkennen. Dies dürfte in vielen Fällen nicht der Fall sein, was auf ihre „unentgeltliche“ Bereitstellung, auf eine konsumtionstechnische Besonderheit - ihren weitgehend passiven Konsum und die besonderen Schwierigkeiten für die individuelle Bewertung bei staatlichen Leistungen (z.B. Verteidigung) zurückgeht. Gewichtiger ist allerdings, dass die Annahmen der neoklassischen Standardmodelle des ökonomischen Verhaltens in Frage gestellt werden durch begrenzte Rationalität, systematisch verzerrte Einschätzung der Kosten und Erträge, Fiskalillusion, Diskontierung zugunsten der Gegenwart, Abhängigkeit vom Framing (der Verpackung von Projekten), soziales Umfeld und sozialen Kontext1. Die Präferenzen für öffentliche Güter sind dann häufig unbekannt, bestehen nicht, sind (wie Präferenzen für private Güter) instabil, widersprüchlich, unreal, verschieden verteilt oder in solchem Maße abstrahiert, dass sie den politischen Entscheidungsträgern nicht weiterhelfen. Treffen diese Bedenken zu, kann auch kein raffinierter Mechanismus zur Präferenzenthüllung die wichtigste Voraussetzung für eine befriedigende Bereitstellung öffentlicher Güter erfüllen: die Kenntnis der Präferenzen. Solche Aspekte werden im Folgenden berücksichtigt. Allerdings bleiben die zentralen neoklassischen Annahmen Ausgangspunkt der Analysen. 6. Meritorische Güter

Der Staat hat nach Musgrave (1959) nicht nur die Aufgabe öffentliche Güter bereitzustellen. Er hat auch in bestimmten Fällen, in denen der Markt zwar technisch die Versorgung gewährleistet, aber unerwünschte Ergebnisse hervorbringt, in die individuelle Konsumwahl einzugreifen. Die Gründe hierfür sieht Musgrave in verzerrten Präferenzen, fehlenden oder falschen Informationen oder in irrationalen Entscheidungen der Bürger. Er bezeichnet Güter als meritorisch (demeritorisch), deren Nützlichkeit (Nachteile) die Bürger verkennen. Definitionen und Abgrenzungen der meritorischen Güter haben sich in den verschiedenen Veröffentlichungen Musgraves gewandelt. Was er letztlich zu den meritorischen Gütern rechnet, bleibt aber unklar. Ng (1983) definiert sie als Güter, die die Individuen für ihre eigene Wohlfahrt zu wenig konsumieren. Das Konzept meritorischer Güter erscheint einerseits zweckmäßig, weil so verschiedene Maßnahmen gerechtfertigt werden können, deren Notwendigkeit (später) grundsätzlich (möglicherweise) kaum bestritten wird. Zu denken ist z.B. an die Sozialversicherung wegen fehlender oder unzureichender individueller Vorsorge(mög1

Das sind Bausteine, die behaviouristische Ansätze der Finanzwissenschaft aufgreifen. Siehe z.B. Alm (2010).

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lichkeit) oder an die Kurzsichtigkeit der Planung, die sich etwa in der Behandlung erschöpfbarer Ressourcen zeigt. Lässt man meritorische Güter außer Betracht, bleiben wesentliche Teile der finanzwirtschaftlichen Aktivität moderner Staaten unbeachtet und sind normativ nicht zu begründen. Andererseits geht die Wohlfahrtstheorie aber vom individualistischen Ansatz aus, der solche öffentlichen Maßnahmen nicht zulässt, deren Zweck die Einmischung in individuelle Präferenzen ist. Nun begründen Ergebnisse aus Studien der Verhaltensforschung1 die o.g. Zweifel an Rationalität und Eigennutz als Verhaltensannahmen, wenn das menschliche Verhalten durch kognitive Mängel, zeitinkonsistente Entscheidungen, Risikoaversion und Status-Quo-Bias charakterisiert ist. Sie bestätigen auch Zweifel, dass man Individuen immer frei bei der Verfolgung ihres Nutzens entscheiden lassen sollte und könnte eine Begründung für das Eingreifen einer informierten Gruppe (eines „wohlwollenden Sachwalters der Bürgerinteressen“) liefern. Sofern die Präferenzen wegen falscher oder unvollkommener Information verzerrt sind, braucht der Staat zunächst einmal nur für die entsprechende Information zu sorgen. Hier liegt kein Eingriff in die Konsumentensouveränität vor; das Konzept meritorischer Güter ist insofern überflüssig. Allerdings sind Aufklärungsmaßnahmen über die Präferenzen von begrenztem Nutzen. Das Konzept meritorischer Güter ist bisher nicht befriedigend formalisiert. Es begünstigt - wie die behaviouristischen Überlegungen – paternalistische Aktivitäten, bei denen in die Präferenzen einfach deswegen eingegriffen wird, weil die Entscheidungsträger ihre eigenen Präferenzen für besser halten und allen auferlegen wollen. Denn: Woher wissen die Informierten, was für die Nichtinformierten besser ist – Handeln des Einzelnen oder des Staates? Ferner kann das Argument zirkular für staatliche Interventionen verwendet werden: Um ein meritorisches Gut zu identifizieren, reicht es aus, darauf hinzuweisen, dass der Staat tatsächlich in den Marktmechanismus eingreift, ohne dass die üblichen Argumente des Marktversagens vorliegen. 7. Moralisches Risiko, Negativauslese und weitere Marktversagenstatbestände

Die Ableitung der Pareto-Optimalbedingungen für Wettbewerbsmärkte erfolgt unter Annahme vollkommener Information der Haushalte und Unternehmen. In der Realität trifft die Annahme nicht zu, vielmehr sind unvollkommende Informationen auf den Märkten der Normalfall. Unsicherheit muss die Pareto-Effizienz marktwirtschaftlicher Aktivitäten aber nicht gefährden, wenn zur Abdeckung der Risikofolgen Versicherungsmärkte in Anspruch genommen werden können. Der Versicherte zahlt eine Risikoprämie und erhält im Versicherungsfall vom Versicherer den finanziellen Schaden ersetzt. Das ist immer dann zu erwarten, wenn für den Einzelnen hinsichtlich bestimmter Ereignisse zwar Unsicherheit besteht, für eine große Zahl von Personen aber Annahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit getroffen werden können.

1

Siehe die Studien im Anschluss an Kahnemann/Tversky (1979) und Kahnemann/Varey (1981).

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Privatwirtschaftlich sind nur kalkulierbare Risiken versicherbar. Folglich arbeiten Versicherungsmärkte nur unzureichend oder fehlen ganz, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist. Das trifft bei asymmetrisch verteilten Informationen zu. Ferner können hohe Transaktionskosten die Etablierung von Risikomärkten verhindern: Es wäre zu kostspielig, für alle denkbaren und möglichen Risiken aller künftigen Zeitpunkte Versicherungsmärkte zu entwickeln. Unterschiedliche Ziele der Beteiligten und asymmetrische Informationen sind die analytischen Merkmale von Principal-Agent (Agentur) Problemen. Asymmetrische Information liegt vor, wenn eine Seite besser als die andere Seite über die relevanten Eigenschaften des am Markt gehandelten Gutes informiert ist. Dieser Fall ist z.B. im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, Aktionär und Vorstand oder Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedeutsam, außerhalb des Marktes aber auch zwischen Politiker und Wähler. Asymmetrische Informationen rufen zwei Wirkungen hervor – moralisches Risiko und negative Auslese. Auf dem Versicherungsmarkt kennzeichnet asymmetrische Information die Beziehung zwischen den Vertragspartnern: Der Einzelne, der sich gegen ein bestimmtes Ereignis versichern möchte, hat bessere Informationen als der Versicherer. Der Versicherte kann diese Informationsvorteile ausnutzen, indem er den Risikofall und/oder die Höhe des Verlustes beeinflusst und so nach Vertragsschluss durch seine Handlungen den materiellen Inhalt des Vertrages gestaltet. Der Eintritt eines Schadensfalls (z.B. Hausbrand) ist dann abhängig von den Handlungen (Sorgfaltsniveau) des Versicherten (z.B. Rauchen im Bett)1. Man spricht hier vom moralischen Risiko (Moral Hazard). Es besteht Unsicherheit, wie der Einzelne sich nach Vertragsschluss verhält, ob er Anstrengungen unternimmt um den Schaden zu vermeiden oder diesen sogar herbeiführt. Nutzt der Versicherte seine Vorteile, handelt er ökonomisch rational, aber zu Lasten aller Versicherten, die die Kosten einer zu hohen Nachfrage nach Leistungen über ihre Beiträge zu finanzieren haben. Dieses Problem lässt sich auch durch Versicherungszwang nicht beseitigen. Der Konflikt zwischen Risikoverringerung und Anreizen bleibt bestehen. Der Versicherer wird daher möglichst keine Versicherung anbieten, die das gesamte Risiko abdeckt und Anreize entfallen lässt irgendein Sorgfaltsniveau anzustreben. Marktversagen kann sich auf Versicherungsmärkten auch dann einstellen, wenn die Versicherungsnehmer keinerlei Einfluss auf ihr Schadensniveau haben, jedoch unterschiedlich hohe (exogen vorgegebene) Schadenswahrscheinlichkeiten aufweisen, die der Versicherer aber nicht hinreichend genau einschätzen kann. Dies ist der sog. Fall negativer Auslese (Adverse Selection). Eine Seite der Marktteilnehmer hat geringere Informationen hinsichtlich der Eigenschaften von Gütern, Krediten oder Faktoren. So können z.B. hohe persönliche Gesundheitsrisiken verschwiegen werden. Dem Versicherer ist es nicht möglich, die Schadenswahrscheinlichkeiten zu beobachten, die Interessenten nach Risikoklassen zu differenzieren und die Versicherungsprämien entsprechend zu staffeln. Klassisches Beispiel für die Informationsproblematik ist der Gebrauchtwagenmarkt. Der Verkäufer weiß sehr viel besser, ob er eine „Zitrone“, d.h. eine schlechte Qualität anbietet. 1

Im Extremfall (Versicherungsbetrug) führt er das Ereignis bewusst herbei, um die Versicherungssumme zu erhalten.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Der informationsbedingte externe Effekt schädigt die guten Risiken und die Marktleistung. Ist nämlich bei der Versicherung keine Differenzierung nach Schadensklassen möglich, so muss die Gleichgewichtsprämie das durchschnittliche Risiko der Versicherten wiedergeben. „Gute“ Risiken, d.h. Versicherungsnehmer mit einer geringen Schadenswahrscheinlichkeit, subventionieren dann „schlechte“ Risiken und bekommen im Durchschnitt weniger als ihre Beitragsleistungen zurück. Wenn sich daher „gute“ Risiken – bei geringer Risikoscheu der Versicherungsnehmer – nicht versichern (oder eine eigene Gruppe bilden), schließen nur „schlechte“ Risiken und Personen mit hoher Risikoaversion1 Versicherungen ab – bei begründeter Vermutung, dass bei ihnen der Versicherungsfall eintritt. Das treibt die Versicherungsprämie in die Höhe, da das durchschnittliche Risiko der nun noch Versicherten gestiegen ist. Im Extremfall wird überhaupt keine Versicherung angeboten. Einen analytischen Rahmen zur Behandlung der mit asymmetrischer Information verbundenen Probleme liefert die Agenturtheorie (Principal-Agent-Theory). Der Prinzipal als Auftraggeber schließt einen Vertrag mit dem Agenten, der bestimmte Aktivitäten durchführen bzw. Leistungen erbringen soll. Die Handlungen des Agenten kann der Prinzipal nur unvollkommen beobachten und nur indirekt am Ergebnis beurteilen. Allerdings lassen sich die in dieser Beziehung auftretenden Informationsasymmetrien teilweise durch Marktlösungen einschränken: So kann ein hinsichtlich der Informationen benachteiligter Prinzipal durch Aufbau eines Informationssystems über den Agenten oder durch Einschaltung Dritter versuchen, Informationen über den Agenten einzuholen (Screening)2. Wenn infolge asymmetrischer Informationen Transaktionen unterbleiben, die aber für beide Seiten vorteilhaft sind, hat der besser Informierte einen Anreiz, Informationen bereitzustellen (Signaling), wozu der Aufbau von Reputation, Garantieversprechen, Selbstbeteiligungen, Schadensfreiheitsrabatte, Beitragsrückerstattungen bei Schadensfreiheit, Bonusregelungen u.ä. gehören. Aber auch der Versuch, die Interessen der Beteiligten in Übereinstimmung zu bringen, könnte die Folgen asymmetrischer Informationsverteilung mildern. So ließen sich durch Formen der Ertragsbeteiligung und der vertikalen Integration, d.h. letztlich Zusammenarbeit bis Zusammenschluss vor- oder nachgelagerter Stufen, Marktlösungen erreichen. Das gilt auch für die Zusammenfassung unterschiedlicher Risikogruppen (Pooling). Werden die Anreize nicht richtig gesetzt, treten Negativauslese und moralisches Risiko als mögliche Fälle des Marktversagens auf. Sie stellen ein A priori-Argument für Korrekturen des Staates dar. So ist die Vermeidung der negativen Auslese, die sich in hohen Versicherungsprämien und einem Ausschluss vom Versicherungsschutz (z.B. wegen hoher Krankheitsrisiken) auswirkt, ein mögliches Argument für Versicherungszwang – die Bereitstellung (bzw. Produktion) ist privat möglich. Ihm können sich die guten Risiken nicht entziehen. Allerdings können die hohen Prämien für schlechte Risiken möglicherweise wegen unzureichenden Einkommens nicht gezahlt werden. Ein 1 2

Risikoaversion liegt vor, wenn bei Alternativen mit gleichem Erwartungswert immer die sichere gewählt wird, z.B. eine Vollversicherung anstatt einer Versicherung mit Selbstbeteiligung. Vgl. Fritsch/Wein/Ewers (2007).

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Kontrahierungszwang auch für die Versicherer beschränkt deren Versuch Verträge möglichst nur mit guten Risiken abzuschließen, sie werden aber schlechte Risiken zu vermeiden suchen, indem sie durch Hürden (komplizierte Verträge, eingeschränkte Leistungsbereitschaft) abschrecken. Der Staat kann in der Regel die dabei anfallenden Informationsprobleme nicht lösen, so dass keine eindeutigen Effizienzverbesserungen zu erwarten sind. Das gilt auch bei Zwang zur Teilnahme an einer staatlichen Versicherung, der zudem Ineffizienzen hervorruft, weil in die privaten Präferenzen eingegriffen und die private Vorsorge beschnitten wird. Hierbei werden Moral-HazardProbleme nicht beseitigt. Die Bedeutung der Agenturprobleme zeigt sich auch auf Finanzmärkten. Der Zusammenbruch eines großen und/oder stark vernetzten Finanzinstituts kann den Kollaps wichtiger Teile des Finanzsystems auslösen. Das Institut kann „too big to fail“ oder „too interconnected to fail“ sein. Mögliche Rettungsmaßnahmen des Staates „verstärken die Überzeugung, dass es im Fall drohender Insolvenz bedeutender Finanzinstitute keine realistische Alternative zu eben dieser Rettung gibt“. Es kommt zu einem Governance-Problem. Die Finanzinstitute sind „geradezu eingeladen, größer und systemrelevanter zu werden und immer höhere Risiken“ für sich und das Finanzsystem „einzugehen. Schließlich bleiben die Gewinne privat, Verluste im Falle des Scheiterns sind dagegen vom Staat, am Ende also vom Steuerzahler zu tragen. Einen klareren Fall von Moral Hazard kann man sich kaum denken“. Es bedarf also klarer und glaubwürdiger Vorkehrungen gegen die „too big to fail“-Problematik (Issing/Krahnen 2010), also eine Beseitigung des Governance-Problems, das zu einem Auseinanderklaffen zwischen den privaten Interessen der Bankmanager und dem öffentlichen Interesse an finanzieller Stabilität besteht (Hellwig 2010, S. 43). Denn warum sollen Bankmanager ohne Regulierung die Externalitäten einbeziehen, die sie hervorrufen, weil ihre Anreize auf Erträge ausgerichtet sind und dabei die Risiken für Kreditgeber, Finanzsystem und Steuerzahler ausblenden? Das Risiko mit systemischen Folgen insolvent zu werden bezieht sich vor allem auf Banken wegen ihrer Bedeutung für den Zahlungsverkehr, aber auch auf Versicherungen. Hier kann selbst bei Konkurrenz ein Marktversagen entstehen. Für den geeigneten regulatorischen und aufsichtlichen Umgang mit systemrelevanten Systemen ist zu klären, wie Systemrelevanz zu messen ist. Die wichtigsten Faktoren wurden oben genannt – die Größe (Umsatz, Vermögen, Beschäftigte) und die Beziehungen zu anderen Institutionen (z.B. Zwischenbankbereich). Durch enge Vernetzung kann der Zusammenbruch eines Instituts, dessen Funktion nicht ohne Weiteres durch andere Marktteilnehmer übernommen werden kann, zu Kettenreaktionen führen. Dem Marktversagen kann durch Kontroll- und Überwachungsinstitutionen, Anlage- und RatingVorschriften, durch Vereine auf Gegenseitigkeit oder andere Institutionen (neben der staatlichen Kontrolle) Rechnung getragen werden. Allerdings müssen auch hier veränderte Anreizmechanismen berücksichtigt werden. So besteht bei Garantiefonds die Gefahr, dass sie risikoreiches Verhalten sogar fördern können. Ratings helfen der Information suchenden Seite nur, wenn sie unabhängig von den Interessen des Bewerteten erstellt werden. Jede dieser Lösungen führt zu Transaktionskosten.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Entscheidend bei jeder Analyse des Marktversagens ist es zu beachten, dass ohne das konstituierende Prinzip „Haftung“ Märkte nicht ordnungsgemäß funktionieren können. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass Entscheidungen sorgfältig getroffen und Exzesse vermieden werden (Starbatty 2010). Wenn die Gefahr besteht, dass ein kleiner Schock ggf. eine Krise des globalen Finanzsystems auslöst, müssen wegen der globalen öffentlichen Gutskomponente (Sicherheit des weltweiten Zahlungsverkehrs usw.) primär weltweite Regeln gewählt werden. Sie müssen unter Anreizgesichtspunkten die Haftung der Märkte garantieren. Sonst können die Eigentümer und ggf. ihre Gläubiger darauf spekulieren, bei Schieflage der Haftung zu entgehen. Regulierung und Aufsicht haben zu vermeiden, dass bei weltweit vernetzten nationalen Finanzmärkten volkswirtschaftlich ineffiziente und das Systemrisiko erhöhende Geschäftsverlagerungen von international breit aufgestellten Unternehmen ausgelöst oder lokal tätige Institute einem verzerrten Wettbewerb unterliegen. Bei allen Lösungen ist es zentral, die Systemrelevanz der Unternehmen zu bestimmen und z.B. bei steuerlichen Maßnahmen die Bemessungsgrundlage so zu wählen, dass das Systemrisiko des einzelnen Unternehmens zum Ausdruck kommt und zugleich Anreize gesetzt werden, solche Risiken zu verringern. Zu den Risiken, die der Markt nicht versichern kann, rechnen auch gesellschaftliche Risiken. Es handelt sich hier um Risiken, die die gesamte Gesellschaft betreffen (z.B. Kriege, tiefgreifende Krisen, Naturkatastrophen), die zu großen Schäden führen und für die meist keine Wahrscheinlichkeit bestimmt werden können. Als ein solcher Fall gilt auch die Arbeitslosigkeit (vgl. 11. Kapitel). Adverse Selection als Form des Marktversagens kann auch bei der Finanzierung von Bildungs- sowie Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen auftreten. Kapitalmärkte stellen meist keine Kredite zur Finanzierung von Bildungsinvestitionen bereit. Diejenigen, die über keine eigenen Mittel verfügen, haben so keinen Zugang zum Studium ohne staatliche Hilfe, die u.a. in einem unentgeltlich bereitgestellten Bildungsangebot und in staatlichen oder vom Staat gesicherten Krediten bestehen kann. Bei FuE-Investitionen ist die Erfolgswahrscheinlichkeit kaum zu bestimmen, so dass Kapitalzufuhr häufig nur mit hohen Risikoaufschlägen zu erwarten ist. Entsprechend sinken die risikoangepassten Nettoerträge und die Investitionen werden unterlassen. Das kann dann problematisch werden, wenn FuE-Projekte hohe soziale Erträge erwarten lassen oder der Nutzen von Innovationen, neuen Produkten bzw. Industrien der Gesellschaft insgesamt zugute kommt. Die Differenz aus privaten und sozialen Erträgen aus FuE könnte als Innovations-Marktversagens (Martin/Scott 2000) bezeichnet werden. Zum Marktversagen kann es ferner im Falle von technischen Großprojekten kommen. Sie sind kapitalintensiv, weisen Unteilbarkeiten auf und haben eine lange Ausreifungszeit; das Kapital ist langfristig gebunden und verzinst sich erst spät. Die Kredit- und Investitionsrisiken sind daher entsprechend hoch. Wenn private Risikostreuung (Diversifikation) nach Projekten nicht möglich erscheint, könnte durch staatliche Übernahme, Garantien u.ä. das Risiko auf die Gesamtheit der Steuerzahler verteilt werden. Bei weltweiten Kapitalmärkten überzeugt diese Begründung für staatli-

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

ches Eingreifen nicht. Und wenn Projekte sich ökonomisch nicht für eine privatwirtschaftliche Finanzierung qualifizieren, sind auch Zweifel an ihrer volkswirtschaftlichen Rentabilität vorzubringen. Schließlich mag ein weiterer Grund für das Fehlen bestimmter Versicherungsmärkte „einfach darin liegen, dass diese Märkte noch nicht erfunden oder eingeführt worden sind“ (Bernholz/Breyer 1984, S. 164/165). 8. Transaktionskosten privater und staatlicher Aktivität

In Abb. 4-12b wurde 0D als Gleichgewichtsmenge des öffentlichen Gutes dargestellt. Wenn gemeinsames Handeln durchführbar und kostenlos ist, ist 0D ökonomisch optimal, mithin ein Output Xö >< 0D ineffizient. Nun ist aber zu berücksichtigen, dass institutionelle Arrangements erforderlich sind, um Informationen über die Präferenzen der Bürger zu gewinnen, diese Präferenzen zu aggregieren und in politische Handlungen umzusetzen. Wenn solche Kosten gemeinsamen Handelns auftreten und bei 0D größer als null sind, ist 0D nicht mehr effizient. Jetzt muss die marginale Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft (N1+2) gleich den Grenzkosten der Produktion und des kollektiven Handelns (die Angebotskurve A verschiebt sich nach oben) sein. Nur wenn diese drei Größen bekannt sind, lässt sich die (In-) Effizienz des Marktes beurteilen. So kann es kommen, dass anstelle einer zunächst vermuteten privaten Entscheidung über Bereitstellung oder Produktion unter Einbeziehung der Transaktionskosten eher eine öffentliche Methode zweckmäßig erscheint – und umgekehrt. Zu den bei der staatlichen Güterbereitstellung anfallenden Transaktionskosten gehören Informations- (Bestimmung des optimalen Umfangs), Einigungs- und Überwachungskosten und bei den privaten Wirtschaftssubjekten anfallende Informations- und sonstige Befolgungskosten. Die Kosten politischer Lösungen schließen die Zeit und die erforderlichen Bemühungen ein, politische Übereinstimmung zu erreichen, und die Unzufriedenheit von Bürgern, die nicht mit dieser Entscheidung übereinstimmen. Angenommen, bei privater Produktion kann ein Gut mit den konstanten Grenzkosten GK1 produziert werden, zu denen Transaktionskosten von CD durch den Verkauf des Gutes hinzukommen (vgl. Abb. 4-16)1. Bei den gesamten Grenzkosten GK2 wird die Menge x1 bereitgestellt und zum Preis p1 angeboten. Wenn der Staat das Gut unentgeltlich anbietet und hierdurch die Transaktionskosten entfallen, ist die Menge x2effizient. Der Wohlfahrtsgewinn ist CDAE, zusammengesetzt aus gesparten Transaktionskosten CDAB und zusätzlichem Wohlfahrtsgewinn BAE aus der Mengenerhöhung von x1 auf x2. Für die Entscheidung über die private oder öffentliche Bereitstellung ist der Wohlfahrtsgewinn CDAE mit dem Verlust zu vergleichen, der aus den Verzerrungen durch die Finanzierung des Gutes verursacht wird. Auch zu berücksichtigen sind Verluste, die bei einem übermäßigen Konsum auftreten können: Wird das Gut bis zur Sättigungsgrenze konsumiert und wird die Menge entsprechend auf xm 1

Vgl. Stiglitz (2000), S. 137/138.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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ausgedehnt, liegt eine ineffiziente Bereitstellung vor, weil die marginale Zahlungsbereitschaft geringer als GK1 ist. Abb. 4-16 Ineffiziente private Bereitstellung

p

p1 D

A

GK2 E

C 0

F

B x1

x2

xm

GK1 x

9. Die Problematik der Maßnahmen zur Korrektur von Allokationsmängeln (Theorie des Zweitbesten)

Im 3. Kapitel wurde gezeigt, dass bei Einhaltung bestimmter marginaler Bedingungen in der Wirtschaft eine Pareto-optimale Allokation der Ressourcen erreicht werden kann. Diese erstbeste Lösung verlangt allerdings, dass sämtliche Marginalbedingungen gleichzeitig erfüllt werden. In modernen Volkswirtschaften tritt aber regelmäßig nicht nur eine Abweichung von der effizienten Allokation auf, sondern stets eine größere Zahl von Mängeln des Marktmechanismus wie z.B. Monopole, Externalitäten, Informationsasymmetrien oder öffentliche Güter. Unter solchen Umständen ist es a priori unklar, ob eine isolierte Maßnahme die Effizienz steigert. Wenn nicht auf allen Märkten die für eine optimale Allokation notwendigen Bedingungen erfüllt sind, befindet man sich in einer Welt des Zweitbesten. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht nur im Einzelfall durch wirtschaftspolitische Maßnahmen die Marginalbedingungen erfüllt werden, sondern auf möglichst vielen Märkten die Effizienzbedingungen realisiert werden. Kann diese Empfehlung allerdings wirklich gegeben werden, wenn nur in einem Teilbereich eine Annäherung an die Marginalbedingungen möglich ist, die erstbeste Lösung aber nicht in allen Bereichen der Volkswirtschaft gewährleistet werden kann? Bei der Suche nach dem praktischen Optimum, der zweitbesten Lösung, ist zu bedenken, dass die Optimalbedingungen unter der Annahme abgeleitet wurden, dass sie in allen Teilbereichen der Volkswirtschaft erfüllt sind. Die Verletzung einzelner Optima verletzt simultan andere Gleichgewichtsbedingungen. Daher kann eine spezielle wirtschaftspolitische Maßnahme zwar die Annäherung an das Optimum in einem Bereich herbeiführen, in einem anderen aber neue Verzerrungen bewirken. Die Folgerung aus der von Lipsey und Lancaster (1956/57) entwickelten Theorie des zweitbesten Optimums ist: Wenn man in ein allgemeines Gleichgewichtssystem

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

eine Beschränkung einführt, die die Verwirklichung der zuvor bestimmten ParetoBedingungen verhindert, ist es selbst dann nicht wünschenswert, die anderen ParetoBedingungen zu erfüllen, wenn dies möglich wäre. Bei Verletzung einer ParetoBedingung kann ein Optimum nur erreicht werden, wenn andere Pareto-Bedingungen aufgegeben werden. Die Heranführung nur einzelner Teilbereiche an die Bedingungen für die erstbeste Lösung ist durchaus nicht immer günstig, sie kann die Gesamtwohlfahrt sogar verringern. Wenn der Staat in einem Bereich aktiv werden soll, muss er als zusätzliche Beschränkung berücksichtigen, dass das Verhalten der Haushalte und Unternehmen von dem in der erstbesten Analyse angenommenen Verhalten abweicht. Der Maximierungsprozess ist also unter weiteren Nebenbedingungen (= Nichtoptimierung in Teilbereichen) durchzuführen. Dann kann, anders als in einer Welt des Erstbesten, auch der Einsatz von verzerrenden Maßnahmen z.B. auf unvollkommenden Märkten gerechtfertigt werden. Dies soll das folgende Beispiel verdeutlichen: Gegeben sei die Transformationsfunktion AB (Abb. 4-17). Die Wahl zwischen verschiedenen Produktionsmengen beider Güter sei auf CD beschränkt. P wäre optimal, ist aber nicht erreichbar. Soll nun Q, der einzige Punkt auf AB und CD als zweitbeste Lösung angestrebt werden? Aus der Lage der Indifferenzkurven ergibt sich, dass R besser als Q ist, obwohl Q die Bedingung produktionsmäßiger Effizienz besser erfüllt. R stellt die zweitbeste Lösung dar. Abb. 4-17 Die Zweitbestlösung x2 C A

Q

L R

P

I3 I2 I1

0

D

B x1

Neben der Frage der technischen Erreichbarkeit bestimmter Lösungen sind auch die Kosten der staatlichen Entscheidungen von Bedeutung. So müssen die zu erwartenden Gewinne aus der verbesserten Effizienz die Entscheidungskosten übersteigen. Es kann daher günstiger sein, die Ineffizienz bestehen zu lassen als sie zu beseitigen. Diese zweitbeste Lösung wird dann auch bei technisch möglichen Korrekturen des Staates vorgezogen. Es gibt also für jedes System mit einer spezifizierten Menge an Beschränkungen notwendige Bedingungen für ein Optimum. In den neuen Verhaltensregeln für den

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Bereich, in den der Staat eingreift, sind die Verhaltensweisen der nicht optimierenden Bereiche zu berücksichtigen. Es leuchtet ein, dass das Ergebnis nicht so gut wie das erstbeste sein kann. Die Wohlfahrt wird bei Vorliegen mehrerer Nebenbedingungen geringer als ohne Beschränkungen sein. Daher werden die neuen Effizienzbedingungen als zweitbeste Pareto-Bedingungen bezeichnet. Je mehr Nebenbedingungen berücksichtigt werden müssen, um so komplexer werden auch die Optimalbedingungen, und ihre Realisierung gestaltet sich schwieriger. Es dürfte auch von der Art der Beschränkungen abhängen, ob die zuvor abgeleiteten Optimalbedingungen aufgegeben werden müssen, und ob man eindeutige Aussagen über die Richtung der Wohlfahrtswirkung wirtschaftspolitischer Maßnahmen machen kann. Dann wäre die Bedeutung der einzelnen Verzerrungen im Wirtschaftssystem eine empirische Frage. In der Regel sind die Bedingungen des Zweitbesten kompliziert, weil diese nicht nur von den Grenzkosten und den Grenzraten der Substitution, sondern auch vom Grad der Komplementarität und Substituierbarkeit zwischen den Gütern des beschränkten Sektors und jenen des freien Sektors abhängen, ebenso wie von den Wirkungen einer veränderten Produktion bestimmter Güter auf die Grenzkosten anderer Güter. Daher sind mehr Informationen als bei erstbesten Bedingungen erforderlich. Dies gilt selbst dann, wenn die Zweitbestbeschränkungen nur auf wenige Güter angewendet werden, was einer besonderen Rechtfertigung bedarf. In der Realität gibt es aber in vielen Bereichen Beschränkungen. Es ist daher schwierig oder unmöglich (alle) Zweitbestbedingungen zu definieren – geschweige denn zu realisieren. Wenn z.B. die Produktion einiger Güter negative externe Kosten hervorruft, ist ihre Relation Preis/(soziale) Grenzkosten geringer als bei Gütern ohne Externalitäten. Die Produktion dieser Sektoren ist daher unter sozialem Gesichtspunkt zu groß. Wenn hier keine Korrekturen möglich sind, ist es aber auch nicht mehr wünschenswert, z.B. die Produkte öffentlicher Versorgungsunternehmen zu Grenzkosten anzubieten. Sind diese Produkte z.B. komplementär zu den Produkten in den Sektoren mit einem Überangebot, kann es besser sein, den Preis so über den Grenzkosten festzusetzen, dass das Überangebot indirekt entmutigt wird. Die Schwierigkeiten auf Grund unzureichender Kenntnis der relevanten Beziehungen (Komplementaritäten usw.) sind nur ein Teil des Problems des Zweitbesten. Selbst wenn die erforderlichen Informationen vorliegen, ist es bei hohen administrativen Kosten praktisch unmöglich, die komplizierten Bedingungen zu realisieren. Die meisten ökonomischen Analysen beruhen auf der Annahme, dass die erstbesten Bedingungen in der restlichen Wirtschaft oder in anderen Politikbereichen erfüllt sind. Wenn man z.B. die geeignete Politik in einem bestimmten Sektor untersucht, kann es analytisch sinnvoll sein, anzunehmen, dass in anderen Sektoren Optimalität herrscht. Selbst in Analysen des allgemeinen Gleichgewichts, die alle Sektoren einbeziehen, betrachtet man in der Regel nur ein oder zwei Probleme und nimmt die anderen als gelöst an. So wird bei der Analyse von Externalitäten z.B. angenommen, dass Probleme monopolistischen Verhaltens u.ä. nicht bestehen. Die Theorie des Zweitbesten lässt diese Analysen eigentlich nutzlos erscheinen und legt nahe, dass man, um Verbesserungen überhaupt durchführen zu können, die gesamte Wirtschaft analysieren und jedes Problem

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

in die Rechnung einbeziehen muss. Dies wäre allerdings eine verwaltungstechnisch, informationsmäßig und politisch nicht lösbare Aufgabe. Daher wird häufig der eher pragmatische Schluss gezogen, Second-best-Überlegungen zu vernachlässigen und auf Erstbest-Regeln zurückzugreifen. Ihre Anwendung in einer Zweitbest-Welt wird auch als „third-best policy“ bezeichnet. Solche isolierten Maßnahmen erscheinen um so zweckmäßiger, je kleiner der jeweils betroffene Wirtschaftsbereich und je größer die Verzerrungen dort sind (Külp 1975, S. 56). Anders formuliert: wenn Teile einer Volkswirtschaft separierbar sind, brauchen sie nicht in der von der Theorie des Zweitbesten nahegelegten drastischen Weise betroffen zu sein. Jedenfalls ist bei zweitbesten Entscheidungen stets die Frage der Interdependenzen und Nebenwirkungen zu klären. Die Konsequenz, etwa bei Unvermeidlichkeit eines Monopols in einem Sektor der Volkswirtschaft auch in anderen Sektoren keinen Wettbewerb durchzusetzen, scheint für eine marktwirtschaftlich orientierte Politik nicht akzeptabel: „Der Second-BestEinwand gegen eine bestimmte Maßnahme wird in einer Marktwirtschaft voluntaristisch fallengelassen, da er bedeutet, daß man wegen Unvollkommenheiten in einem Markt Korrekturmaßnahmen und Eingriffe in anderen, möglicherweise vielen Märkten, vornehmen müßte. Dies widerspricht der Vorstellung von einer sich grundsätzlich selbstregulierenden Wirtschaft. Second-Best-Argumente lassen sich hingegen dort eher berücksichtigen, wo sie nur punktuelle Eingriffe erfordern“ (Müller/Vogelsang 1979, S. 33). Ein weiteres Problem besteht darin, dass es praktisch keine Maßnahme gibt, die einige oder alle Wirtschaftssubjekte besser stellt ohne andere schlechter zu stellen. Aus der Zweitbestproblematik hat sich eine Diskussion um die optimale Anpassung im Zweitbest-Rahmen entwickelt. Eine andere Diskussion zielt auf die Frage, ob der Rahmen, in dem staatliche Politik stattfindet, als erstbest oder zweitbest angesehen werden soll. So ist eine Marktwirtschaft ohne staatlichen Rahmen, der insbesondere die Eigentumsrechte durchsetzt, nicht funktionsfähig. Im Folgenden wird die Problematik zweitbester Lösungen mehrfach angesprochen. So stellt die Nutzen/KostenAnalyse den Versuch einer Zweitbestlösung dar, und die optimale Besteuerung setzt gerade an dieser Problematik an. 10. Warum ist die staatliche Aktivität tatsächlich hoch?

Ob die staatliche Aktivität (zu) hoch oder (zu) niedrig ist, wird je nach Ziel und Maßstab unterschiedlich beurteilt. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass Eingriffe in die Allokation – sei es über Regulierungen, eigene Bereitstellung, Finanzierung oder Produktion der Güter durch den Staat – nicht immer bessere Ergebnisse implizieren. Tatsächlich kann aber ein erhebliches Ausmaß staatlicher Aktivität beobachtet werden, obwohl die Allokation gelegentlich durch den privaten Sektor erfolgen könnte1.

1

Andererseits werden wohl auch nicht alle Aufgaben vom Staat wahrgenommen, die er besser machen könnte.

4. Kapitel: Marktversagen und staatliche Korrekturmaßnahmen

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Gründe für das Ausmaß der staatlichen Aktivität und ihrer Entwicklung werden später behandelt. Sie können etwa in den staatlichen Entscheidungsprozessen liegen und sind vor allem verteilungspolitischer Art. Werden Güter nicht vom Markt sondern vom Staat bereitgestellt, sind sie häufig leichter für Haushalte mit niedrigem Einkommen zu erhalten. Ökonomisch ist allerdings primär eine Umverteilung über das Steuer/Transfersystem zweckmäßig und weniger eine Objektförderung. Auch kann die gleiche Verteilung einzelner Güter wie beispielsweise Gesundheit und Erziehung, also das Ziel spezifischer Gütergleichheit, für einige Personen wichtiger sein als die der auf dem Einkommen beruhenden Güterverteilung oder der Wohlfahrt insgesamt. Hier wird vielleicht auch eher ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit, also zu seinem höheren Potenzial gesehen, als z.B. mit einer progressiven Steuerbelastung, die an den Ergebnissen ansetzt. Auch paternalistische Ziele mögen eine Rolle spielen. Mit verteilungspolitisch ausgerichteten oder begründeten Einzelmaßnahmen einerseits und einer breiten Verteilung der Finanzierung andererseits lassen sich im Übrigen Wählergruppen gewinnen. Diese Politik entspricht auch einem unterschiedlichen Verständnis von Gerechtigkeit und Fairness in verschiedenen Gruppen, Institutionen und Sektoren. So mögen Erzieher denken, dass Ausbildungsressourcen zur möglichst umfassenden Förderung von Fähigkeiten eingesetzt werden sollten, Ärzte medizinische Versorgung nach Bedürfnissen begründen, Gewerkschaften ggf. subventionierte Mindestlöhne fordern und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst mehr Ressourcen in der staatlichen Verwaltung für erforderlich halten. Diese Kriterien lassen sich aber nicht durch den Markt realisieren. Literatur zum 4. Kapitel

Die klassische Darstellung des allokativen Marktversagens gibt Bator (1958), ein guter Überblick ist bei Arrow (1970) zu finden; zu einer neueren Behandlung siehe Fritsch/Wein/Ewers (2007) und Weimann (2009). Dem Fall sinkender Durchschnittskosten stellen Sohmen (1976, Kapitel 5.3 und 11), Windisch (1987, S. 41 ff.) und, auch hinsichtlich der möglichen Regulierungsstrategien, Weimann (2009, Kapitel 7.3) dar. Die umfangreiche Literatur zu Externalitäten ist in eigenen Darstellungen und im Rahmen der Wohlfahrts- und Umweltökonomie zu finden. Grundlegende Arbeiten sind Pigou (1932), Coase (1960) und Buchanan/Stubblebine (1962), ausführlich Cornes/Sandler (1996), Miles (1995), Schlieper (1980), Sohmen (1976, Kap. 7) und Weimann (1995). Zur Frage der Internalisierung sind zu empfehlen Cropper/Oates (1992), Weimann (1995, Teil II), Cansier (1996) und Stephan/Ahlheim (1996). Die moderne Form der Theorie öffentlicher Güter geht auf Samuelson (1954) und Musgrave (1959) zurück. Zur Weiterführung und Kritik siehe Atkinson/Stiglitz (1980, Lects. 11, 16), Brown/Jackson (1990, chs. 2, 3), Krause-Junk (1977a) und Sohmen (1976, Kap. 5). Eine gründliche Darstellung der Theorie öffentlicher Güter liefert auch Arnold (1992). Die Theorie der Klubgüter stellt Apolte (1995) dar. Zur Darstellung

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und Interpretation des Lindahl-Modells siehe Johansen (1963; 1965) und Inman (1987). Einen Auszug aus den Arbeiten von Wicksell und Lindahl enthält Musgrave/ Peacock (1958, S. 72-118, 168-176). Das Gefangenendilemma stellen Mueller (2003, S. 9-18) und Jasay (1998) dar. Zur Präferenzenthüllung durch Clarke-Steuern siehe Inman (1987). Einen Überblick über Möglichkeiten der empirischen Erfassung der Präferenzen für öffentliche Güter geben Pommerehne (1987) und Pommerehne/Röhmer (1992), zu Experimenten siehe van Winden (2002), Weimann (2009), Ledyard (1995), Kling (2007), Alm/Jacobson (2007) und Alm (2010). Die meritorischen Güter behandeln Musgrave/Musgrave u.a. (1, 1994, Kapitel 3), ferner Folkers (1974), Schmidt (1970) und Richter/Weimann (1991). Marktversagen infolge von Informationsmängeln wird anschaulich von Fritsch/Wein/Ewers (2007, Kap. 10) dargestellt. Die Theorie des Zweitbesten behandeln Davis/Whinston (1967), Külp (1975, Kap. 4.1, 4.2), Sohmen (1976, Kap. 12) und Schlieper (1982). Eine jüngere Interpretation gibt Lipsey (2006).

5. Kapitel Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen 1. Einleitung Die normative Theorie des allokativen Marktversagens zeigt, dass der Markt bei öffentlichen Gütern in der Regel nicht in der Lage ist, über den Preis zu diskriminieren und so die Präferenzen der Marktteilnehmer aufzudecken. Nur mit diesen Informationen ist aber eine optimale Allokation zu erreichen. Im Falle privater Güter spielen Präferenzunterschiede hinsichtlich der Menge keine Rolle, weil jeder Bürger die von ihm gewünschte Menge individuell wählen kann. Im Falle öffentlicher Güter kann bei divergierenden Präferenzen nur die Entscheidung über eine bestimmte Menge getroffen werden, die für alle nutzbar ist. Da die Präferenzen für öffentliche Güter nicht über den Kauf der gewünschten Menge zu einem Preis offengelegt werden können, bedarf es der Übereinkunft über die Mengen, die für alle bereitgestellt werden. Solche Übereinkünfte machen politische Institutionen und Entscheidungsregeln erforderlich. In diesem Kapitel werden politische Entscheidungsprozesse über öffentliche Güter und ihre Finanzierung untersucht. Die Analyse des staatlichen Entscheidungsprozesses wird auch als Public Choice bezeichnet1. Sie stellt auf die Beziehungen zwischen den Präferenzen der Mitglieder einer Gesellschaft (des Staates) und den kollektiven Entscheidungen des Staates ab. Kennzeichnend für die Analyse von Nichtmarkt-Entscheidungen mit dem Public Choice-Ansatz (Mueller 2003, S. 3/4) ist, dass sie S dieselben Verhaltensannahmen wie die allgemeine Wirtschaftstheorie (rationale, nutzenmaximierende Individuen) trifft, S das Verfahren der Präferenzenthüllung oft analog zum Markt beschreibt (Wähler tauschen, Individuen offenbaren ihre Nachfrage durch Wählen, Bürger treten in Klubs ein und aus), S dieselben Fragen wie traditionell die Preistheorie stellt (existieren Gleichgewichte; sind sie stabil, Pareto-effizient; wie kommen sie zustande?)2. Wahlen stellen eine Möglichkeit zur Beschaffung von Informationen über die Präferenzen der Bürger dar. Abstimmungen sind in demokratischen Staaten das bedeutendste Verfahren, um unterschiedliche individuelle Präferenzen zu gesellschaftlichen zu aggregieren und so einen kollektiven (gesellschaftlichen) Entscheidungsprozess herbeizuführen. Abstimmungen sind aber für den Einzelnen auch eine Möglichkeit zur Kontrolle des politischen Prozesses. Unterstellt man für alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Präferenzen, könnten sie durch einen beliebigen Vertreter zum Ausdruck gebracht werden. Der Staat 1 2

Alternative Bezeichnungen sind „Political Economy“ oder „Ökonomische Theorie der Politik“. Allerdings sind die Entscheidungssituationen im Hinblick auf die Restriktionen und die Regeln der Interaktion im staatlichen Bereich anders als im privatwirtschaftlichen Bereich.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

hätte dann nur noch die einstimmig erzielten Entscheidungen effizient auszuführen. Wenn Einstimmigkeit gewährleistet ist, sind praktisch keine Abstimmungen erforderlich. Tatsächlich haben die Bürger hinsichtlich öffentlicher Güter unterschiedliche Präferenzen. Abstimmungen können daher ein notwendiges Verfahren sein, um zu kollektiven Entscheidungen zu gelangen. In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Abstimmungsmodelle untersucht worden, die wichtige Einsichten in den politischen Entscheidungsprozess ermöglichen. Sie beziehen sich zum Teil auf die Bedingungen einer direkten Demokratie. Hier treffen die Bürger direkt die gesellschaftlichen Entscheidungen, indem sie über ein Programm oder über mehrere Programme abstimmen. Davon wird zunächst ausgegangen; anschließend wird die häufiger zu findende repräsentative Demokratie untersucht. In diesem Kapitel wird der Staat endogen behandelt und insbesondere berücksichtigt, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen das Ergebnis eines politischen Prozesses sind. In einer Demokratie haben die staatlichen Entscheidungsträger daher in ihren Maßnahmen den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte als Konsumenten und Wähler Rechnung zu tragen. So wird deutlich, dass zur Analyse der Steuern und Ausgaben letztlich auch die Einbeziehung des politischen Entscheidungsprozesses gehört, in dem diese festgelegt werden1. 2. Modelle der direkten Demokratie a) Verschiedene Abstimmungsverfahren In der direkten Demokratie wird die gesellschaftliche Entscheidung unmittelbar durch das Ergebnis eines Abstimmungsprozesses bestimmt, wobei die Entscheidungsbefugnis anders als in der repräsentativen Demokratie nicht an Personen oder Institutionen delegiert wird. Praktische Anwendung findet der Gedanke der direkten Demokratie bei Referenden (Volksabstimmungen) zu Sachthemen. Referenden sind in Deutschland nur für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen und werden selten durchgeführt. Dennoch liefern Modelle der direkten Demokratie wesentliche Grundeinsichten des politischen Entscheidungsprozesses. Beispiele für die direkte Demokratie liefern vor allem die Schweiz und Kalifornien. In der Schweiz kann praktisch über alles in Volksbegehren abgestimmt werden. Auf Bundesebene entscheidet allerdings das Parlament in Bern über Volksbegehren. Von Interesse ist, was passiert, wenn die Abstimmungsergebnisse gegen übergeordnetes Recht (z.B. Europäische Menschenrechtskonvention) verstoßen. In Kalifornien sind 1

In später verwendeten Modellen zur Analyse der Wirkungen von Steuer- und Ausgabenänderungen wird (wie schon im 4. Kapitel) davon ausgegangen, dass staatliche Entscheidungen exogene Variable sind und der Staat nach Belieben Steuersätze und Ausgaben verändern kann. Dort wird ferner – wie in der Theorie der quantitativen Wirtschaftspolitik üblich – unterstellt, dass die Regierung die gesellschaftliche Wohlfahrt maximieren will. Allerdings werden auch Ergebnisse des Public Choice einbezogen.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

111

die Abgeordneten praktisch weitgehend entmachtet, obwohl sie ebenfalls gewählt worden sind. Haushaltsbeschlüsse, ureigenstes Recht des demokratischen Parlaments, sind praktisch nicht mehr möglich. Diese Gefahr wird umso größer, je kleiner die jeweils zur erfüllenden Quoren sind, um eine Volksabstimmung einzuleiten. Auch in diesem Vorfeld ist ein großer Einfluss der Lobby möglich. Über die zur Entscheidung gestellte Frage entscheidet in der Regel eine kleine Minderheit. Entscheidungen können unter Anwendung verschiedener Abstimmungsverfahren zustande kommen. Jede Menge des (rein) öffentlichen Gutes, die unter der Einstimmigkeit als Entscheidungsregel festgelegt wird, ist effizient. Das hat Wicksell (1896) und später Buchanan/Tullock (1962) zu Befürwortern dieser Regel gemacht. In der Praxis dürfte Einstimmigkeit als Entscheidungsregel häufig zu keinem Ergebnis führen oder einen längeren Zeitraum erfordern, um eine für alle akzeptable Lösung zu erreichen. Einzelne Personen haben eine unverhältnismäßig große Möglichkeit, das Ergebnis zu ihren Gunsten zu gestalten1. Aus der Sicht des einzelnen Bürgers reduziert sich die Gruppengröße auf zwei Personen – die eigene und alle anderen. Bei geringeren Anforderungen an die Abstimmungsregel sinkt der Einfluss des einzelnen stimmberechtigten Bürgers. In demokratischen Staaten ist die Mehrheitswahl eine vorherrschende Entscheidungsregel. Zur einfachen (absoluten) Mehrheit sind bei n Wählern wenigstens n/2 + 1 Stimmen bei gerader Zahl der Wähler bzw. (n+1)/2 Stimmen bei ungerader Zahl der Wähler erforderlich, wenn jede Stimme gleich zählt. b) Die Wahl der Entscheidungsregel Die einzelnen Entscheidungsregeln haben bestimmte Vor- und Nachteile. Welche Regel würde von den betroffenen Bürgern bevorzugt? Buchanan und Tullock (1962) untersuchen die Frage, welche Mehrheit aus der Sicht der Bürger eine effiziente Entscheidungsregel darstellt.2 Die Entscheidung über diese Regel wird von ihnen als Teil der Bildung einer Verfassung behandelt. Ein wichtiger Aspekt von Verfassungen ist, dass sie in gewissen zeitlichen Abständen wieder auftretende Entscheidungsprobleme verfahrensmäßig regeln sollen. Wegen dieser Eigenschaft können die Bürger anders als bei einer Einzelentscheidung nicht wissen, wie sie konkret in den wiederkehrenden Einzelanwendungen von der Regel berührt werden. Das ist dann der Fall, wenn die Individuen die Verfassungsentscheidung unter einem Schleier der Ungewissheit bezüglich der Wirkung alternativer Entscheidungsregeln treffen. Ist dieser Schleier „dicht“ genug, d.h. ist die Unsicherheit so groß, dass der erwartete Nutzen einer Alternative für alle Individuen gleich groß ist, so wird die Einigung auf diejenige Regel mit dem höchsten erwarteten Nutzen einstimmig gelingen3. 1 2 3

Einstimmigkeit ist die beste Garantie, dass der Status quo (z.B. Beibehaltung von Externalitäten, Ungerechtigkeiten) bestehen bleibt. Dabei werden nur sogenannte „klassische Regeln“ betrachtet, d.h. solche Regeln, die eine bestimmte Mehrheit an Stimmen festlegen, damit eine Entscheidung als gebilligt gilt. Einstimmigkeit wird auch von Buchanan/Tullock (1962) als normatives Kriterium verwendet. Wenn eine Entscheidung aufgrund der Regel zu Ungunsten eines Individuums ausfällt, dann ist

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

112

Welche Regel den Vorzug erhält, hängt aber auch von der Höhe Transaktionskosten ab, die von Buchanan und Tullock Interdependenzkosten genannt werden. Diese Kosten lassen sich in zwei Bestandteile zerlegen: Mit jeder kollektiven Entscheidung fallen Kosten in Form von unerwünschten Ergebnissen für die in der Abstimmung Unterlegenen an. Je heterogener die Interessen sind und je geringer die erforderliche Mehrheit ist, um so mehr Bürger müssen Finanzierungsbeiträge gegen ihren Willen leisten. Entsprechend nimmt die Umverteilung zu. In Abb. 5-1 stellt Kurve A die Kosten der politischen Konsensbildung dar. Bei Einstimmigkeit sind diese externen Kosten null, ohne weitere Kosten wäre sie die optimale Entscheidungsregel. Abb. 5-1 Kosten der kollektiven Entscheidung und effiziente Abstimmungsregel

Kosten A+B

B A 0

50 Zeff

100 Zustimmung in %

Bei der erforderlichen Festlegung von Alternativen und der Abstimmung hierüber fallen aber Entscheidungskosten an. Dazu gehören die Kosten der Informationsgewinnung über Alternativen und ihrer Weitergabe an die Wähler, ferner die Kosten des Wahlvorgangs bzw. der Verhandlungen. Die Entscheidungskosten fallen um so größer aus, je höher der Anteil der Bürger ist, deren Zustimmung die jeweilige Entscheidungsregel erforderlich macht (Kurve B). Es besteht also ein Trade-off zwischen den externen Kosten, dadurch dass man unerwünschten Ergebnissen ausgesetzt ist, und den Kosten der verlorenen Zeit. Die effiziente Entscheidungsregel erfordert, dass die Summe der Kosten (A + B) in Abhängigkeit von der Zustimmung minimiert wird1. Daher müssen Zeff % der Wähler zustimmen, damit eine Alternative akzeptiert wird. Die einfache Mehrheit braucht mithin keine effiziente Entscheidungsregel zu sein. Ohne Einstimmigkeit ist aber auch kein Pareto-Optimum erreichbar, so dass die geringsten Entscheidungskosten nur eine zweitbeste Lösung kennzeichnen. Das Modell macht auch deutlich, dass finanzpolitische Institutionen nicht kostenlos arbeiten. Die Allokationsprozesse des Marktes und der Nicht-Marktorganisationen beanspruchen Ressourcen. Transaktionskosten können den Markt hindern, eine effizi-

1

der in diesem Moment ihm gegenüber ausgeübte Zwang legitimiert, da es selbst zuvor dieser Regel zugestimmt hat. Dann sind die Grenzkosten der Entscheidungsfindung gleich den marginalen externen Kosten.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

113

ente Allokation der Ressourcen zu erreichen. Das gilt andererseits auch für staatliche Entscheidungen. Daher kann unter Umständen eine Ineffizienz durch eine andere ersetzt werden. Die Auffassung, dass der Staat stets eingreifen soll, um jede Form von Marktversagen zu korrigieren, negiert folglich die Kosten des Systems. c) Entscheidungen über ein Programm bei Mehrheitswahl Angenommen, drei Bürger (oder Gruppen mit homogenen Präferenzen) 1, 2 und 3 haben für ein öffentlich bereitzustellendes Gut bestimmte Präferenzen, die durch N1, N2 und N3 in Abb. 5-2 wiedergegeben sind. Jeder Bürger bevorzugt die Menge, bei der seine marginale Zahlungsbereitschaft für das öffentliche Gut dem marginalen Finanzierungsbeitrag entspricht. Abb. 5-2 Bereitstellung eines öffentlichen Gutes bei Mehrheitswahl GK N

4Ni

N3

H

N2

F E D

N1

0 x1

GK = DK

GK/3 x2 xeff

x3' x3

x

Unterstellt man, dass die gesamten Kosten der Bereitstellung des öffentlichen Gutes zunächst zu gleichen Teilen von den drei Personen getragen werden, so beträgt der Finanzierungsanteil jeweils 1/3 GK (= OE). Die Bürger l, 2 und 3 bevorzugen jeweils die Mengen x1, x2 und x3. Für diese Mengen entspricht der Grenznutzen des jeweiligen Individuums aus dem Konsum des Gutes seinem Anteil an den Grenzkosten. Da es sich aber um ein öffentliches Gut handelt, muss dieselbe Menge für alle Personen bereitgestellt werden. Es sei angenommen, dass diese Menge per Mehrheitsentscheid durch das Verfahren der paarweisen Abstimmung bestimmt wird: Zwei beliebige Alternativen (also z.B. x1 und x2) werden miteinander verglichen und das von der Mehrheit präferierte Niveau ermittelt. Dies wird für alle Kombinationen von Alternativen wiederholt. Gibt es ein Niveau, das von einer Mehrheit gegenüber jedem anderen Bereitstellungsniveau vorgezogen wird, so wird diese Menge realisiert. Allgemein wird eine Alternative, die allen anderen Entscheidungen auf diese Weise vorgezogen wird, Condorcet-Sieger genannt.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

114

Aus Abb. 5-2 können die Präferenzordnungen der drei Wähler für die bevorzugten Mengen x1, x2 und x3 hergeleitet werden. Die in Abb. 5-3 dargestellten Präferenzen sind nicht interpersonell vergleichbar, sie geben lediglich die relative Bewertung der drei Alternativen an. Unter der Mehrheitsregel setzt sich die Menge x2 durch. Abb. 5-3 Präferenzen über das Niveau der Bereitstellung

Präferenz höchste

3

mittlere

2

geringste

1

A

B

C

(=X1)

(=X 2)

(=X3)

Mengen (Programme)

Weil die Personen 2 und 3 der Menge x2 den Vorzug gegenüber der kleineren Mengen x1 geben, wird x2 die Wahl gewinnen. Auch im Vergleich zu einer größeren Menge x3 wird x2 erfolgreich sein, weil dann l und 2 diese einer größeren Menge vorziehen. x2 gewinnt also mit 2:1 Stimmen sowohl gegen x1 als auch gegen x3. Es gilt also hinsichtlich der Präferenzen: x1 < x2 > x3 > x1. Das Beispiel zeigt, dass die Mehrheitswahl in diesem Fall zur Bereitstellung der vom Medianwähler1 gewünschten Menge führt. Die besondere Bedeutung des Medianwählers liegt darin, dass seine Stimme eine Minderheit in eine Mehrheit verwandeln kann (und umgekehrt). Das Ergebnis erscheint plausibel, dass der Medianwähler unter bestimmten Bedingungen bei der Mehrheitswahl über den Umfang des öffentlichen Gutes entscheidet: Jede Erhöhung über die von ihm gewünschte Menge wird von der Mehrheit abgelehnt, jede Verringerung der Menge ebenfalls. Die durch Mehrheitswahl bestimmte Gleichgewichtsmenge des öffentlichen Gutes ist allerdings im Allgemeinen nicht allokationseffizient; denn die effiziente Menge ist dadurch gekennzeichnet, dass die Summe der marginalen Bewertungen den Grenzkosten entspricht. Diese Menge ist ferner nur dann optimal im Sinne der SamuelsonBedingung, wenn für jeden Wähler der Finanzierungsbetrag („Steuerpreis“) gleich

1

Der Medianwähler ist dadurch charakterisiert, dass jeweils 50 % der Wähler einen Wert größer oder gleich (d.h. hier eine höhere oder gleiche Bereitstellung wünschen) bzw. kleiner oder gleich (also hier eine geringere oder gleiche Bereitstellung) bevorzugen.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

115

seiner marginalen Zahlungsbereitschaft ist1. In Abb. 5-2 ist für die gewählte Menge x2 offensichtlich 4 Ni > GK. x2 ist kleiner als die effiziente Menge xeff, für die nur die marginalen Finanzierungsbeiträge von 2 und 3 maßgeblich sind. Bei veränderten Finanzierungsanteilen fällt die von jeder Person, also auch vom Medianwähler, bevorzugte Menge anders aus (Abb. 5-2). Angenommen, der „Steuerpreis“ für 3 wird auf OF erhöht, der von 2 auf OD gesenkt, für 1 bleibt OE; die veränderten bevorzugten Mengen sind dann x3' und xeff. Die vom Medianwähler gewünschte Menge ist in diesem Fall – zufällig – auch die zuvor bestimmte effiziente Menge. Dieses Ergebnis wird um so eher erzielt, je ähnlicher die Präferenzen sind. Bei normal verteilten Präferenzen hat der Medianwähler durchschnittliche Präferenzen. xeff ist hier allerdings nicht optimal, weil die von l und 3 zu leistenden marginalen Finanzierungsbeträge nicht ihrer marginalen Zahlungsbereitschaft entsprechen. Einzelne Bürger dürften immer mit einem Abstimmungsergebnis unzufrieden sein, das nicht einstimmig erzielt wurde und eine Änderung wünschen. Bei einer schiefen Verteilung der Präferenzen fallen die durchschnittlichen Präferenzen und die Präferenzen des Medianwählers auseinander. Letztere legen aber das Abstimmungsergebnis fest. Nun ist die Person des Medianwählers ex ante nicht bekannt. Wenn sich aber Faktoren bestimmen lassen, die seine Präferenzen determinieren, kann unmittelbar von den Einflussfaktoren auf die Nachfrage nach öffentlichen Gütern (oder auf die Staatsausgaben) geschlossen werden. Ein solcher Faktor könnte das Einkommen sein2. Wenn die gewünschte Versorgung mit einem öffentlichen Gut eine positive Funktion des Einkommens ist, legt die Person mit Medianeinkommen diese Versorgung fest, weil sie das Abstimmungsgleichgewicht bestimmt. Bei gleichbleibenden Präferenzen werden sich die gewünschten Ausgaben mit dem Medianeinkommen verändern. Wenn die Präferenzen ähnlich wie die Einkommen verteilt sind (Medianeinkommen < Durchschnittseinkommen), ist die Einkommenselastizität des öffentlichen Gutes < l. Das Gleichgewicht hängt allerdings wesentlich von der Finanzierungsmethode ab, weil hierdurch die Medianwählerposition verändert werden kann. Fazit: Das Gleichgewicht bei der Mehrheitswahl wird von den Präferenzen des Medianwählers bestimmt. Dieses Ergebnis beruht auf verschiedenen wesentlichen Annahmen: S Die Entscheidung hat nur eine Dimension; es wird also nur über ein öffentliches Gut abgestimmt. S Der Wähler muss den Nutzen öffentlicher Ausgaben (ex ante) einschätzen können (und sich über die Implikationen alternativer Besteuerungen im Klaren sein). 1

2

Diese Situation wurde im 4. Kapitel auch als Lindahl-Gleichgewicht bezeichnet; es beschreibt die hinreichende Bedingung für ein Optimum: Jeder stimmt der bereitzustellenden Menge zu. Dieser Konsens entspricht im Ergebnis auch den Vorstellungen von Wicksell zur Einstimmigkeit. Aber auch andere Faktoren – z.B. Alter, Schulbildung, Zahl der Kinder, Beruf usw. – können für die Nachfrage nach öffentlichen Gütern bedeutsam sein. Auf der Finanzierungsseite ist wegen unterschiedlicher Belastungswirkungen die Art der Steuern von Bedeutung.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

116

S Ehrliches Abstimmen1. S Interessengruppen, Parteien, staatliche Stellen wirken nicht auf den Medianwähler und auf das Abstimmungsverfahren ein, um bestimmte eigene Ziele zu erreichen. Bei der Bewertung von durch Mehrheitswahl zustandegekommenen Ergebnissen ist zu beachten, dass diese meist nicht optimal sein werden. Es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Mehrheitsbildung als plausiblen Weg der Aggregation von Präferenzen zu betrachten (Sen 1985, S. 1767). d) Entscheidungen über mehrere Programme (1) Intransitivität, Mehrgipfligkeit und Arrows Paradox Das Beispiel von Abb. 5-3 wird jetzt etwas verändert. Weiterhin ist über drei alternative Ausgabenprogramme (A, B, C)2 zu entscheiden, aber die Rangordnung der Präferenzen soll für Person 3 anders aussehen (Abb. 5-4). Nun führt die Mehrheitswahl zu keinem Gleichgewicht. Keine Entscheidung bringt eine Mehrheit gegen alle anderen Wahlmöglichkeiten (zyklische Mehrheiten oder Condorcet-Paradox): Wenn paarweise abgestimmt wird, ist das Ergebnis mit jeweils 2:1 Stimmen A>B>C>A Abb. 5-4 Mehrgipflige Präferenzen

Präferenz 3

höchste mittlere

2

geringste

1

A

B

C

Mengen (Programme)

Die durch die Mehrheitsregel erzeugte gesellschaftliche Präferenzordnung ist in diesem Beispiel nicht mehr transitiv. A wird besser als B eingeschätzt und B besser als C; aber C wird A vorgezogen. Das Ergebnis der kollektiven Entscheidung ist nicht mehr eindeutig: Paarweises Abstimmen kann zu einem endlosen Zyklus führen, der endgültige Wahlausgang hängt von der (zufälligen) Reihenfolge ab, in der die Alternativen

1 2

Die Probleme der wahren Präferenzen und ihrer Offenbarung wurden im 4. Kapitel diskutiert. A, B, C können auch wie in Abb. 5-3 verschiedene Mengen (etwa x1, x2, x3) eines Gutes sein.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

117

zur Wahl gestellt werden1. Möglicherweise wird die Intransitivität gar nicht bemerkt,wenn A > B und B > C ermittelt und ohne weitere Abstimmung auf A > C geschlossen wird. Wie willkürlich Mehrheitsentscheidungen sein können, zeigt auch folgendes Beispiel. Zwölf Wähler haben für die Alternativen A, B und C die Präferenzordnungen fünf Wähler vier Wähler drei Wähler

A>B>C

B>C>A C > B > A.

Wenn keine Alternative die absolute Mehrheit erhält, soll die mit den geringsten Zahl ausscheiden2. Das ist hier C bei einem Stimmenverhältnis von 5:4:3 für A, B und C3. Die erneute Wahl (Stichwahl) zwischen A und B ergibt nun, dass nicht die Alternative A mit den meisten Stimmen zuvor, sondern B mit 7:5 Stimmen gewinnt. Wird aber vor der Wahl die Alternative A zurückgezogen, ist B gegen C mit 9:3 Stimmen erfolgreich. Hier zeigt sich wieder deutlich, welche Bedeutung strategisches Verhalten und Manipulation sowie die Kontrolle des Verfahrens haben können. Bei paarweiser Abstimmung über die drei Alternativen ergibt sich C>A B>A B>C

7:5 7:5 9:3

Jede Alternative kann so prinzipiell zur Mehrheit gelangen, entscheidend ist wieder die Reihenfolge der Abstimmung. Überlässt man diese dem Zufall, wird so letztlich auch der Ausgang der Wahl bestimmt. Der Grund liegt darin, dass die zweite und dritte Präferenz der Wähler vernachlässigt werden. Mehrheitswahl führt auch hier nicht notwendig zu transitiven Ergebnissen. Dieses unerfreuliche Ergebnis führt unmittelbar zu der Frage, ob ein anderer politischer Wahlmechanismus zu konsistenten gesellschaftlichen Ergebnissen führt. Arrow (1963) hat nachgewiesen, dass unter bestimmten Bedingungen aus den individuellen Präferenzen ggf. keine soziale Rangfolge (gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion) gebildet werden kann. Dieses Ergebnis wird in der Literatur als Unmöglichkeitstheorem bezeichnet. Kein Gruppenentscheidungsverfahren vermag ein Gleichgewicht (bei strategisch nicht verfälschten Präferenzen) zu gewährleisten, wenn wenigstens drei alternative Programme vorliegen. Das Problem, eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion festzulegen, die bestimmte normative Kriterien erfüllt, entspricht dem, ein Gleichgewicht bei verschiedenen Abstimmungsregeln zu finden. Arrow hat folgende, auf der 1

2 3

Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu zyklischen Mehrheiten kommt, hängt von der Zahl der Alternativen und der Zahl der Wähler ab (siehe hierzu die Zusammenstellung von v. d. Doel/ v. Velthoven 1993, S. 100). Bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit wird davon ausgegangen, dass alle beobachteten Präferenzordnungen der Alternativen die gleiche Wahrscheinlichkeit haben. Bei mehr als drei Alternativen könnte entsprechend eine Stichwahl zwischen den beiden Alternativen mit den meisten Stimmen erfolgen. Bei relativer Mehrheit wäre A gewählt.

118

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Grundlage individueller und ordinaler Präferenzen abgeleitete Anforderungen an die Entscheidungsverfahren gestellt: Bedingung 1 (Bürgersouveränität, keine Diktatur): Keine Person soll ausschließlich und unabhängig von den Präferenzen der Bürger die Entscheidungen für die Gesellschaft treffen. Bedingung 2 (Einstimmigkeit, Pareto-Prinzip): Zwischen individuellen und sozialen Präferenzordnungen besteht ein positives Entsprechungsverhältnis. Wenn jeder die Alternative x der Alternative y vorzieht, muss dies auch für die Gesellschaft gelten. Wenn wenigstens eine Person die Alternative x gegenüber y bei Indifferenz aller anderen Personen vorzieht, muss die soziale Rangfolge x > y sein. Bedingung 3 (Transitivität): Die gesellschaftliche Präferenzordnung soll transitiv sein: werden x Alternative y (x > y) und y Alternative z (y > z) vorgezogen, dann soll auch x Alternative y vorgezogen werden (x > z). Bedingung 4 (Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen): Die Rangfolge zwischen x und y darf nicht tangiert werden, wenn eine neue Alternative z eingeführt wird. Somit bleibt die gesellschaftliche Entscheidung bezüglich der bestehenden Alternativen unverändert. Bedingung 5 (Unbeschränkte Entscheidungsfreiheit des Einzelnen): Jede denkbare Konstellation individueller Präferenzordnungen ist zugelassen, d.h. der Definitionsbereich der Wohlfahrtsfunktion unterliegt keiner Beschränkung. Die Bedingungen erscheinen einzeln durchaus „vernünftig“. Es sind Mindestanforderungen, die auch bei Marktentscheidungen von Personen angenommen werden. Leider ist die Botschaft des Arrow-Theorems ebenso eindeutig wie destruktiv: Die genannten Bedingungen können nicht immer alle gleichzeitig in einer vollständigen und transitiven Ordnung der Alternativen (einer sozialen Wohlfahrtsfunktion) erfüllt werden. Das heißt: jede den einzelnen staatlichen Entscheidungen zugrunde liegende soziale Wohlfahrtsfunktion erfüllt mindestens eine der Bedingungen nicht. Zu fragen ist nun, welche Bedingungen aufgegeben werden müssen, damit die Mehrheitsregel zu konsistenten Entscheidungen führt. (2) Möglichkeiten von Wahlgleichgewichten Eine Möglichkeit zur Erzielung von Wahlgleichgewichten könnte die Verringerung der Alternativen (Aufgabe der Bedingung 5) sein. So kommt es dann nicht zu Widersprüchen, wenn lediglich zwei Alternativen zur Wahl stehen und die Zahl der Wähler ungerade ist. Allerdings sind staatliche Entscheidungen häufig komplexer Natur, insbesondere wenn sie mehrere Dimensionen aufweisen. Solche Dimensionen können Tätigkeitsfelder des Staates, Qualität des Angebots, Zeitpunkt einzelner Maßnahmen, Finanzierungs-, darunter Steuerstruktur u.a. sein. Dann stellt sich aber das Problem, wie die Alternativen auf zwei Elemente reduziert werden können. Black (1968) hat gezeigt, dass die Mehrheitsregel bei Eingipfligkeit der individuellen Präferenzen ein transitives Ergebnis garantiert. Eingipfligkeit fordert, dass die zur

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

119

Abstimmung stehenden Alternativen so angeordnet werden können, dass gleichzeitig die Präferenzordnung jedes Individuums einen Gipfel besitzt. Ein Gipfel ist in der Präferenzskala ein Punkt, dessen Nachbarpunkte alle niedrigere Präferenzen repräsentieren. Genau die Eigenschaft der Eingipfligkeit ist in Abb. 5-4 verletzt, weil die Präferenzen von 3 in der Darstellung zwei Gipfel aufweisen (A und C). Anders hingegen in der Abb. 5-3 zuvor. Dort gilt A < B und B > C, aber auch C > A, so dass es zu einem Wahlgleichgewicht kommt, bei dem niemand eine bestimmte Alternative (hier B) als die schlechteste ansieht. Die Mehrheitslösung wird bei mehreren Alternativen und eingipfliger Präferenzordnung durch die Präferenz des Medianwählers bestimmt. Wenn nur eingipflige Präferenzen zugelassen werden, wird eine der o.g. Bedingungen (uneingeschränkte Präferenzordnung) verletzt1. Ferner bringt die Mehrheitswahl, wie gezeigt wurde, nur zufällig ein Pareto-optimales Ergebnis hervor (das nur bei Einstimmigkeit zu erwarten ist). Die fehlende Eindeutigkeit des Ergebnisses beruht darauf, dass lediglich eine ordinale Bewertung zugelassen wurde und jede Stimme das gleiche Gewicht hat. Alle Projekte erhalten einen ersten, zweiten und dritten Platz und sind insofern gleich bewertet. Die Mehrheitsregel gestattet den Bürgern nicht, die Intensität ihrer Präferenzen für die Alternativen zum Ausdruck zu bringen. Ein Wähler kann eine Alternative A der Alternative B vorziehen, er kann aber nicht zum Ausdruck bringen, wie stark er A der Alternative B vorzieht. Wie sieht das Ergebnis aber aus, wenn die Wähler ihre Präferenzenintensität hinsichtlich der Alternativen zum Ausdruck bringen können? Hierzu können die einzelnen Stimmen mit Gewichten versehen und so kardinal abgestuft werden: Jeder Wähler erhält die gleiche Punktezahl, die er auf die Alternativen in der Reihenfolge seiner Präferenz aufteilen kann. Es werden also bei n Alternativen n Punkte für die beste, n-1 Punkte für die zweitbeste bis hin zu einem Punkt für die schlechteste Alternative vergeben. Diejenige mit der insgesamt höchsten Punktezahl gewinnt. Das Verfahren bringt die Präferenzen stärker als bei reiner Mehrheitswahl zum Ausdruck. Ab. 5-5 stellt das Ergebnis einer Borda-Zählung dar. Jede Person verfügt über zehn Punkte, die auf vier Alternativen aufgeteilt werden können. Alternative B erreicht die höchste Punktzahl (Abb. 5-5a) und wird daher durchgeführt. Das Verfahren ist komplex und verursacht daher höhere Kosten als das ungewichtete Verfahren. Diese Schwierigkeiten nehmen zu, wenn eine Alternative die absolute Mehrheit benötigt und ein mehrstufiges Verfahren erforderlich wird. Zudem wird auch hier das Problem strategischen Verhaltens bedeutsam. So kann Person 1, die C der Alternative B vorzieht, durch falsche Präferenzangabe das Ergebnis ändern (Abb. 5-5b). Das mag z.B. zweckmäßig sein, wenn die Chance für die erstbeste Lö1

Bei verschiedener Intensität der Bedürfnisse für die Alternativen in den einzelnen Rangfolgen ist auch Eingipfligkeit nicht unproblematisch. Wenn die Bewertung der unterliegenden Minderheit von größerer Intensität als die der gewinnenden Mehrheit der Wähler ist, können die Verluste der Verlierer die Gewinne der Mehrheit übersteigen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

120

Abb. 5-5 Die Borda-Zählung 1 Personen 2 3 Gesamtpunktzahl:

(a) A 1 3 2 6 (c)

1 Personen 2 3 Gesamtpunktzahl:

B 2 4 3 9

C 3 1 4 8

D 4 2 1 7

B 1 3 2 6

C 2 1 3 6

D 3 2 1 6

1 Personen 2 3 Gesamtpunktzahl:

(b) A 2 3 2 7

B 1 4 3 8

C 4 1 4 9

1 Personen 2 3 Gesamtpunktzahl:

(d) A 1 2 1 4

B 2 3 2 7

C 3 1 3 7

D 3 2 1 6

sung, also D, für gering gehalten wird. Durch Tausch von C und D sowie von A und B setzt sich hier die von Individuum 1 als besser eingestufte Alternative C durch1. Da solche Anreize aber für alle Teilnehmer bestehen, ist unklar, welches Ergebnis sich einstellt. Wenn keine Informationen über das Wahlverhalten der anderen bestehen, könnten die Teilnehmer z.B. spekulieren, welches die gefährlichste Alternative zu der eigenen gewünschten ist und diese entsprechend niedrig benoten. Im Wahlgleichgewicht können sich daher andere als die Alternative mit der „echten“ höchsten Punktzahl (im Beispiel also B) durchsetzen2. Um das Ergebnis zu beeinflussen, könnten weitere Alternativen zur Abstimmung gestellt werden, die selbst ohne Chance sind, oder aber Alternativen gar nicht erst zugelassen werden. Dann verletzt die Borda-Zählung die Arrow-Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen. Eliminiert man beispielsweise die Alternative A und streicht die sechs Punkte, so kommt kein eindeutiges Ergebnis mehr zustande: Alle Alternativen werden mit insgesamt sechs Punkten bewertet (Abb. 5-5c). Wird D gestrichen, ergibt sich eine Indifferenz zwischen B und C mit jeweils sieben Punkten (d). Fazit: „Der Versuch, das Unmöglichkeitstheorem durch Veränderung der ArrowBedingungen zu umgehen, führt entweder zu stark einschränkenden Anforderungen, die in der Wirklichkeit nicht erfüllt sind oder die das Problem trivial werden lassen (z.B. wenn beinahe identische Präferenzen notwendig sind). Die Veränderung einer Bedingung kann auch neue Probleme (wie dasjenige des strategischen Handelns) aufwerfen“ (Frey 1982, S. 497). Demokratische Entscheidungen können daher zu Widersprüchen führen.

1

2

Dieses strategische Verhalten ist häufig bei Sportveranstaltungen (z.B. Eiskunstlaufen) zu beobachten, wenn die Reihenfolge die Zahl der Punkte bestimmt und jeder Platz vom Wertungsrichter nur einmal vergeben werden darf. Eine Variante der Borda-Zählung besteht darin, dass die Individuen die ihnen zur Verfügung stehenden Punkte frei verteilen können. In diesem Fall wird aber jeder die volle Punktzahl für die von ihm präferierte Alternative einsetzen, so dass keine Entscheidung zustande kommt.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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Bei der Mehrheitswahl sind die Kontrolle des Verfahrens, insbesondere die Abstimmungsreihenfolge und strategisches Wählen (Wählen, das nicht den eigenen Präferenzen entspricht) von Bedeutung. Das gilt insbesondere bei mehrstufigen Verfahren1. Wenn zunächst kein Abstimmungsgleichgewicht erzielt wurde, könnten z.B. neue Regeln herangezogen werden oder einem einzelnen Vertreter könnte die entscheidende Stimme eingeräumt werden. Es ließe sich auch ausschließen, über bestimmte Vorschläge erneut abzustimmen. So könnte der Wahlleiter A zunächst über Alternativen abstimmen lassen, die keine Chance haben, gewählt zu werden. Falls diese dann aus dem Wahlprozess herausfallen, könnten die erneut zu vergebenen Stimmen auf das von A favorisierte Projekt fallen. Ein fehlendes (stabiles) Gleichgewicht bedeutet also nicht, dass laufend ein Schwanken zwischen Alternativen zu erwarten ist und keine Entscheidungen getroffen werden. Diese kommen zwar zustande, weil bei einer Abstimmung z.B. über eine Frage oder in einer Wahl eine von zwei Alternativen, über die abgestimmt wird, gewinnen muss. Fehlendes Gleichgewicht bedeutet daher, dass die getroffenen politischen Entscheidungen nicht von einer Mehrheit für alle Alternativen erzielt worden sind. Inkonsistenzen bei der Mehrheitswahl können nach Auffassung von Buchanan (1960, S. 83) auch als Vorteil gesehen werden, weil ständig ein Wettbewerb zwischen Alternativen besteht, die durch Mehrheiten unterschiedlicher Zusammensetzung gebilligt werden. Die Widersprüche müssen auch nicht sichtbar werden, wenn der Abstimmungsprozess abgebrochen wird, sobald ein Gewinner ermittelt ist2. Weitere Abstimmungen können dann allerdings andere Ergebnisse hervorbringen. (3) Stimmentausch Bei Entscheidungen mit mehreren Dimensionen lässt sich auch durch Stimmentausch (Logrolling) ein Wahlgleichgewicht herbeiführen. Wenn alternative Projekte vorliegen und die Wähler hierfür unterschiedliche Präferenzen haben, kann es vorteilhaft sein, weniger schlecht eingeschätzten Alternativen zum Sieg zu verhelfen und hierfür die Unterstützung für selbst stark präferierte Angelegenheiten zu bekommen. Der freiwillige Stimmentausch erhöht den Nutzen der beteiligten Wähler3. Insbesondere, wenn der Verlust der Minderheit größer ist als der Gewinn der Mehrheit, ist für die Minorität das Angebot eines Stimmentausches zweckmäßig. Hierdurch kann sie bei bestimmten Programmen eine für sie günstigere Entscheidung erreichen. Die Gefahr der „Herrschaft der Mehrheit“ kann so abgebaut, gleichzeitig aber die Überrepräsentierung von Minderheitsinteressen gefördert werden. Minderheiten können Koalitionen bilden, so dass eine ausreichende Mehrheit zu ihren Gunsten zustande

1 2 3

Ein Beispiel ist die Entscheidung des Bundestages über den Berlin-Umzug (vgl. Leininger 1993). Das wurde hinsichtlich der Alternativen A und C in Abb. 5-3 gezeigt. Stimmentausch ist praktisch eine Erweiterung des Modells rationalen nutzen-maximierenden Verhaltens. Er ermöglicht den Kompromiss bei komplizierten Entscheidungen, die nicht – wie in einer Volksabstimmung – nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können.

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kommt1. Dies erklärt, weshalb zahlreiche staatliche Maßnahmen zugunsten von Minderheiten vorgenommen werden, deren Kosten von der Allgemeinheit zu tragen sind. Stimmentausch kann eine negative Externalität für die Nichttauschenden bedeuten. Ist dieser Verlust größer als der Nutzen der Tauschenden, stellt sich die Volkswirtschaft als Ganzes schlechter. Der Stimmentausch ist in der Realität eine wichtige Grundlage der Politik. Er stellt eine Möglichkeit dar, dass es zu staatlichen Entscheidungen auch dann kommt, wenn diese vom jeweiligen Medianwähler nicht unterstützt werden. Stimmentausch findet mit großer Wahrscheinlichkeit statt, wenn hierdurch das Abstimmungsergebnis beeinflusst werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn eine relativ kleine Zahl an Stimmen zur Mehrheit erforderlich ist. Stimmentausch ist daher weniger in der direkten als in der indirekten Demokratie von Bedeutung2. Er wird dort von den Repräsentanten im Parlament, den Delegierten von Parteien, den Mitgliedern von Regierungen und den Koalitionen von Parteien angewendet; ferner kann er in den Beziehungen zwischen diesen Gruppen von Bedeutung sein. Die Möglichkeit des Stimmentauschs mildert auch die mit der Einstimmigkeitsregel verbundene Problematik der Inaktivität infolge des jedem einzelnen Individuum zustehenden Vetorechts. Wenn mehrere staatliche Programme gleichzeitig zur Entscheidung stehen, werden einige zustimmen um bei anderen Programmen unterstützt zu werden. So kann Einstimmigkeit über mehrere Programme erzielt werden, selbst wenn wesentliche Unterschiede in den Präferenzen bestehen. Abgesehen vom Stimmentausch können die Beteiligten auch daran interessiert sein, möglichst geringe Entscheidungskosten (Zeit) zu haben und eine geschlossene Haltung gegenüber anderen Gruppen zeigen zu können, damit ihre Entscheidungen mit größter Wahrscheinlichkeit akzeptiert werden. Die Möglichkeit, trotz des Erfordernisses der Einstimmigkeit zu akzeptablen Lösungen zu gelangen, ist aber praktisch auf kleine Gruppen beschränkt. Die Kosten der Erzielung von Übereinkünften sind in der direkten Demokratie sehr hoch (besonders bei großer Wählerzahl), da die Einhaltung der Vereinbarungen nur schwer kontrolliert und durchgesetzt werden kann. Der Stimmentausch und damit die Vorentscheidung finden im Vorfeld der eigentlichen Abstimmungen statt. 3. Die repräsentative Demokratie a) Elemente für Modelle der repräsentativen Demokratie Die direkte Wahl wird in modernen Volkswirtschaften in der Regel nur für wenige Einzelfragen angewendet. Ihr Vorteil besteht darin, dass alle (Wahlberechtigten), die von einer bestimmten zu fällenden Entscheidung betroffen sind, sich an der Wahl be1 2

Vgl. zum Stimmentausch Abschnitt 3b). In der direkten Demokratie stellt sich die Problematik im Vorfeld der Abstimmung, wenn z.B. über die Abstimmungsfrage entschieden wird.

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123

teiligen und ihre Präferenzen offenbaren können1. Ab einer bestimmten Größenordnung nehmen die Kosten der permanenten Entscheidungsfindung aber stark zu. Dann wird eine zeitweise Delegation von Macht zweckmäßig. Wenn Präferenzen nicht durch direkte Wahl in Entscheidungen umgesetzt werden, bedarf es der Institutionen – speziell Abgeordneter und Parteien –, über die individuelle Präferenzen wahrgenommen und für den Entscheidungsprozess koordiniert werden können. Um zu präferenzgerechten Ergebnissen zu kommen, müssten die Präferenzen von uneigennützigen Entscheidungsträgern aufgenommen und von einer uneigennützigen Verwaltung umgesetzt werden. Ist das in einer repräsentativen Demokratie zu erwarten?2 Die repräsentative Demokratie ist ein politisches System mit allgemeinen Wahlen, in dem zwei oder mehrere Parteien (oder Personen) um die Stimmen der Wähler konkurrieren. Nach bestimmten, durch das Wahlrecht gekennzeichneten Regeln, werden Politiker (Abgeordnete) für einen begrenzten Zeitraum gewählt. Die Wähler übertragen ihnen die Verwaltung ihrer Interessen. Das Wahlrecht beschränkt sich mithin auf die Wahl der Repräsentanten, während die Entscheidungen über die bereitzustellenden Güter vom Parlament im Zusammenwirken mit Regierung und Bürokratie getroffen werden. Das Ausgangsmodell der direkten Demokratie ist daher zu modifizieren und weiteren Faktoren des politischen Entscheidungsprozesses Rechnung zu tragen. So wird insbesondere nach verschiedenen am Entscheidungsprozess beteiligten Gruppen (Akteuren) klassifiziert, die je nach Fragestellung (beispielsweise um die Interessengruppen) erweitert oder verändert werden und für die verschiedene Ziele und Kompetenzen angenommen werden können. Die in Wahlen zum Ausdruck kommenden Präferenzen wirken (je nach Staatsform verschieden) auf die Entscheidungen des Gesetzgebers (Abgeordnete) und der Regierung (Verwaltung). Der Gesetzgeber ist von besonderer Bedeutung, weil er auch die institutionellen Bedingungen festlegt: Wahlrecht, organisatorische Zuständigkeiten, Aufgaben, Ausgaben und Finanzierung. Die Bürokratie bereitet die Entscheidungen vor und führt sie aus. Faktisch laufen die Prozesse aber nicht nur in einer Richtung: Die Maßnahmen beeinflussen ihrerseits das Verhalten der Haushalte und Unternehmen als Verbraucher, Produzenten usw. und letztlich die Wähler. Schließlich wirken Gerichte, Interessengruppen, Bürgerinitiativen oder Individuen an den Entscheidungen auf lokaler, nationaler und EU-Ebene und im europäischen Währungsraum mit. Die Informationsflüsse werden ferner maßgeblich von den Medien gestaltet und weitergeleitet. Abb. 5-6 verdeutlicht die Zusammenhänge.

1

2

Als weitere Vorteile der direkten Demokratie werden genannt, dass die Gefahr eines politischen Kartells gemindert wird, unter dem die parlamentarischen Entscheidungen vom Willen der Bürger abweichen, und dass sie auch zu besseren gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen führt (z.B. geringere Steuerlast und Staatsverschuldung). Wenn sich die Wahlbürger allerdings bei bestimmten Entscheidungen überfordert sehen, kann es zu einer geringen Wahlbeteiligung kommen. Auch ist die Rolle der Interessengruppen zu beachten. Die Antwort auf diese Frage muss schon deshalb negativ ausfallen, weil die Problematik einer widerspruchsfreien sozialen Wohlfahrtsfunktion auch hier besteht.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

124

Abb. 5-6 Elemente des staatlichen Entscheidungsprozesses Europäische Union

Europäischer Gerichtshof Ernennung

Auslegen

deutsche Gerichte

Wirtschaftspolitische Maßnahmen

Veränderung Bürokratie

Bindung an Bindung von

Verbände, Verbandsführer

Informationen ente perman e Kontroll

außerökonomische Faktoren

Nutzen (1) Bewertung der Wirtschaftssituation (2) Direkte Bewertung der Politiker

Rechnungskontrolle

Regierung

Bildung Kontrolle

WirtschaftInformationsWirtsch. Entscheidungen liche systeme Situation: Gegenstand der Erfas-Preisniveau sung, Interpretation, Meinungsbil- Beschäftigung Bewertung, Propaganda dungssysteme - Wachstum Internationale Daten - Verteilung (z.B. Abgabenbelastung, -struktur, Pisa) WÄHLER Wahrnehmung durch die Wähler

Anweisungen

Haushalte Organisation in Verbänden Wahl der Verbandsführer

Prüfungen

Ausführung

Programme Ideologien Unternehmen

Zwang zur Änderung

Auslegen, Zwang zur Änderung

Regierungs- Oppositions- andere Ebene partei partei POLITIKER

Wahlverhalten: - Beteiligung an der Wahl - Entscheidung in der Wahl

Quelle: Knappe (1980), S. 88, ergänzt.

Wenn staatliche Entscheidungen durch das Zusammenwirken mehrerer Akteure zustande kommen, ist von Bedeutung, was deren Verhalten bestimmt. Im Public ChoiceAnsatz wird davon ausgegangen, dass die Ziele durch die Präferenzen der Gruppenmitglieder bestimmt sind. Ferner wird der Rahmen des politischen Systems zugrunde gelegt, wie er in den westlichen Demokratien vorherrscht. Zwischen den Wählern und ihren Vertretern (Abgeordneten), aber auch zwischen anderen Gruppen (z.B. Parteien) und ihren Repräsentanten1, kann es Differenzen ge1

Davon wird hier abgesehen.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

125

ben, Interessenkonflikte sind ebenfalls zwischen Personen in verschiedenen Funktionen zu erwarten. Ferner können die Interessen der Bürokratie, die für die Ausführung der Gesetze zuständig ist, von den Zielen der Wähler und der Politiker abweichen. Die einzelnen Gruppen verfügen über unterschiedliche Informationen, die für den Entscheidungsprozess von Bedeutung sind und bei unterschiedlichen Interessen zu Konflikten führen können, die in Prinzipal-Agent-Modellen behandelt werden. Für die Analyse der Staatstätigkeit wichtige Prinzipal-Agent-Beziehungen sind in Übersicht 5-1 zusammengestellt1. Agenten werden nur dann die für den Prinzipal wichtigen Informationen liefern bzw. Handlungen durchführen, wenn hierzu Anreize bestehen2. Übersicht 5-1 Prinzipal-Agent-Beziehungen Prinzipal Parteimitglieder Wähler Parlament (Mehrheit) Regierung (Minister) Bürokratie

Agent Funktionäre Parlament Regierung Bürokratie Eigene Mitarbeiter, Auftragnehmer

Der politische Entscheidungsprozess wird im Anschluss an Schumpeter (1950) und Downs (1957) unter Verwendung von Modellen analysiert, die auch bei der Analyse des privaten Entscheidungsprozesses herangezogen werden. Regierung, Parlament, Parteien, Bürokratie, Interessengruppen, selbst Gerichte werden als Institutionen verstanden, die sich aus eigennützigen Individuen zusammensetzen. Auch Wähler werden als nutzenmaximierende Individuen behandelt3. Die Annahme ist plausibel, dass die persönlichen Nutzenvorstellungen der Individuen nicht nur für deren private Entscheidungen (Arbeitseinsatz, Konsumwahl usw.), sondern auch im politischen Bereich maßgeblich sind. Wenn das Verhalten im staatlichen Bereich von dem im privaten Bereich abweicht, liegt das an anderen Beschränkungen im privaten Sektor, nicht an unterschiedlichen Zielen der Individuen. Die Individuen verfolgen ihre persönlichen Ziele in der bestmöglichen Weise, sie treffen Entscheidungen in der Regel unter Unsicherheit. Informationsbeschaffung verursacht in der Regel Kosten. Daher können Individuen es zu teuer finden, vollständig informiert zu sein. Die Eigennutzorientierung von Politikern und Verbandsfunktionären manifestiert sich in ihrem Streben (wieder)gewählt zu werden. Die staatlichen (und die Verbands-) Leistungen werden in diesen Modellen nur als Nebenprodukte, als Mittel zum Zweck gesehen (in Analogie zur Produktion als Mittel der Gewinnerzielung der Unterneh1 2

3

Man könnte Übers. 5-1 ergänzen um die Probleme der Besteuerung für den Staat als Prinzipal bei fehlenden Informationen über die individuellen Fähigkeiten der Steuerzahler als Agenten. In wohlfahrtsgeprägten (normativen) Modellen maximiert ein Sozialplaner die Wohlfahrt eines repräsentativen Individuums oder der Summe von Individuen mit gewichteten Präferenzen. Agenturprobleme bestehen nicht. Die Analysen werden komplizierter, wenn man die Prämisse variiert und annimmt, dass für die Individuen, darunter für die Wähler, in ihren verschiedenen Funktionen auch die wahrgenommene Fairness wichtig ist. Dann können Wähler z.B. als ungerecht empfundene Reformen sogar dann ablehnen, wenn sie damit auf Wachstum und ein höheres Einkommen verzichten (Heinemann u.a. 2010, S. 64). Entsprechendes gilt für Politiker.

126

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

men): Die Gesetzgeber handeln im Gegensatz zur klassischen Demokratietheorie nicht als Vertreter der Interessen der Wähler; sie suchen nicht den „Volkswillen“ auszuführen oder im Sinne eines wie auch immer gearteten Gemeinwohls tätig zu werden, sondern ihre eigenen Präferenzen zu verwirklichen. Damit soll die Möglichkeit z.B. altruistischen Verhaltens nicht ausgeschlossen werden, sie wird aber nur für weniger bedeutsam gehalten. Eine soziale Funktion erfüllen die Politiker nur auf dem Umweg über eigennütziges Handeln. Um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen, müssten sie attraktive Programme versprechen bzw. bereitstellen. Die Entscheidungen erfolgen grundsätzlich so, dass durch neue Programme und Programmänderungen Stimmenerhöhungen zu erwarten sind. b) Die Parteien und Politiker (1) Das Medianwählermodell Der Wettbewerb um die Unterstützung der Wähler und um die Bildung einer Regierung erfolgt in repräsentativen Demokratien in der Regel über politische Parteien, denen Politiker in Parlament und Regierung meist angehören. Parteien können als Koalitionen ihrer Mitglieder zur Erreichung individueller Ziele verstanden werden. Parteien helfen Wählern zu beurteilen, wofür die einzelnen Kandidaten stehen und was sie möglicherweise tun, sobald sie gewählt werden. Politiker nutzen Parteien, um potentielle Wähler mit relativ geringen Kosten zu informieren, also Transaktionskosten niedrig zu halten. Gleichzeitig versuchen sie, durch verschiedenste Regeln und Institutionen (Seniorität, Parteidisziplin, staatliche Parteienfinanzierung) ihre Spielräume zu sichern und auszuweiten und Outsider fernzuhalten. Gelingt dies, haben die Parteien/Politiker die Chance zur Realisierung von Renten und zur Ausbeutung der übrigen Gesellschaft1. Zu klären ist, wie die Parteien ihre Positionen im politischen Spektrum bestimmen. Um die Ziele ihrer Mitglieder zu realisieren, sind die Parteien an der Erhaltung oder Erringung politischer Macht interessiert. Hierzu sind die finanzielle und personelle Unterstützung vor der Wahl und schließlich der Erfolg in Wahlen erforderlich, die in periodischen Abständen stattfinden. Angenommen, es gäbe eine Bandbreite ideologischer Einstellungen, die vielfältige politische Themen auf eine Dimension verkürzten2. Die Präferenzen der Wähler seien normal (also auch eingipflig) verteilt (Abb. 5-7). Ferner bestünde vollständige Information seitens der Wähler hinsichtlich der von den Parteien zu erwartenden Politik und seitens der Parteien hinsichtlich der Wählerpräferenzen. Im Downs-Modell der Konkurrenz zweier Parteien orientieren die Parteien sich dann am Median. Verhält sich eine Partei anders und nimmt z.B. Position L ein, läuft sie Gefahr, die Wähler rechts von L zu verlieren. 1 2

In welchem Ausmaß dies in Deutschland gelingt, hat mehrfach von Arnim (z.B. 2001) belegt. Diese kann z.B. in der Höhe des Niveaus öffentlicher Ausgaben bestehen.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

127

Abb. 5-7 Normalverteilung der Wählerpräferenzen Zahl der Wähler

L

M

R

ideologische Positionen

Dieses Ergebnis setzt voraus, dass Parteipolitik nur eine instrumentale Rolle spielt und Parteien (ideologisch) flexibel sind. Es stimmt insoweit mit dem des Modells der direkten Demokratie überein. L und R sind keine Gleichgewichte. Das System ist stabil in dem Sinne, dass beide Parteien Positionen in der „Mitte“ beziehen. Wenn eine Beziehung zwischen dem Programm (z.B. der gewünschten Höhe der Ausgaben) und dem Einkommen der Wähler besteht, könnte der Medianwähler empirisch bestimmt werden – unter Umständen auch, wenn die Präferenzen nicht normal verteilt sind. In einem typischen Medianwählermodell wird angenommen, dass die Wähler ihren Nutzen unter der Budgetbeschränkung maximieren, die den Steueranteil für das öffentliche Gut einschließt: (5-1)

ln G ) a 9 0 ln ] M 9 - ln y M 9 P ln Z 9 ,

mit G Staatsausgaben, ]M und yM Steueranteil bzw. Einkommen des Medianwählers, Z Parameter für weitere Eigenschaften des Medianwählers (Alter, Familienstand, Zahl der Kinder, Religion u.ä.). Das Besondere im Vergleich mit anderen Tests ist die Heraushebung des Medianeinkommens anstelle des Durchschnittseinkommens und der Steuerlast des Medianwählers. (2) Differenzierungen des Medianwählermodells Das Ergebnis des Medianwählermodells ist wie bei der direkten Demokratie nur unter bestimmten Annahmen stabil: Die Wähler müssen wissen, was sie wollen. Sie dürfen sich in der Abstimmung nicht enthalten, sie dürfen auch nicht eine Partei verlassen und eine andere (dritte) Partei unterstützen, die ihre Position ändert (also z.B. von L nach rechts wandert). Eindimensionalität und Eingipfligkeit müssen vorliegen. Wahlen haben aber selten nur eine Dimension. Es geht in der Regel um Programmpakete mit unterschiedlich vielen Einzelprogrammen bzw. Maßnahmen. Daher lassen sich auch nicht alle Alternativen in einem Präferenzkontinuum erfassen. Dann ist aber zu vermuten, dass die Medianwählerposition nicht bestimmt werden kann: Je nach (Teil-) Programm dürfte es verschiedene Medianwählerpositionen geben. Abstimmungen mit mehreren Dimensionen bringen Kostenvorteile gegenüber Einzelabstimmungen. So wird auch nicht über jede Staatsausgabe, sondern in Haushaltsabstimmungen über Ausgabengruppen („Verteidigungshaushalt“, „Sozialhaushalt“

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

128

usw.) entschieden. Bei Einzelabstimmungen müssten konsequenterweise die Mengen der öffentlich bereitgestellten Güter und die Steuern zu ihrer Finanzierung festgelegt werden1. Mehrdimensionale Entscheidungen und Stimmentausch finden auf allen Ebenen des Entscheidungsprozesses innerhalb und zwischen den beteiligten Gruppen statt. Sie ermöglichen Gleichgewichte, bei denen die Verlierer bzw. ihre Repräsentanten2 in einer Abstimmung durch Gewinne in einer anderen entschädigt werden können – allerdings in der Regel zu Lasten Dritter (meist der steuerzahlenden Bürger). Bei Stimmentausch finden die Vorentscheidungen im Vorfeld der eigentlichen Abstimmungen statt. Ein breites Spektrum an Positionen verspricht größere Stimmengewinne als eine eindeutig fixierte ideologische Position. Durch Stimmentausch kann es zur Durchsetzung von Projekten kommen, die von der Mehrheit abgelehnt werden. Andererseits können Projekte scheitern, die ohne Stimmentausch mehrheitsfähig wären. Es geht daher nicht um die Mehrheit bei jeder Einzelentscheidung, sondern um das Programmangebot, das Politiker im Wettbewerb mit anderen Politikern anbieten. Angenommen, Politiker müssen über drei Programme entscheiden, die jeweils nur von 20 % der Wähler gewünscht werden (Tab. 5-1). Dennoch können Politiker, die alle drei Programme ablehnen, durch diejenigen besiegt werden, die diese Programme befürworten. Das ist dann der Fall, wenn für jede Wählergruppe der Nutzen aus einem der Programme größer als der Schaden aus den anderen Programmen ist. So werden Bauern etwa die bessere Finanzierung der Hochschulen und Zuschüsse zu sie nicht betreffenden Sozialleistungen im Vergleich zu den sie begünstigenden Subventionen ablehnen. Die drei Maßnahmen als Paket können aber besser als keine erscheinen. Wenn die drei jeweils von einem Programm begünstigten Gruppen eine entsprechende Einschätzung haben, werden sie für die Politiker stimmen, die alle drei Maßnahmen befürworten und nicht für jene, die alle drei Maßnahmen ablehnen. Das gleiche Ergebnis wird erzielt, wenn die von den drei Gruppen gewählten Politiker koalieren. Tab. 5-1 Impliziter Stimmentausch Programm A: Subventionen für die Landwirtschaft B: Hochschulfinanzierung C: Zuschüsse zu Sozialleistungen

1

2

Unterstützung durch

Ablehnung durch

20 % 20 % 20 %

80 % 80 % 80 %

Dagegen wird verstoßen, wenn Volksabstimmungen möglich sind, bei denen z.B. auf lokaler Ebene nur über etwa einen Tunnelbau entschieden und nicht beachtet wird, dass bei gegebenen Steuereinnahmen andere Staatsausgaben gesenkt werden müssen. Gilt entsprechend für Gruppen von Mitgliedern eines Verbandes, eines Vorstandes, einer Regierung oder z.B. im Verhältnis Bundestag/Bundesrat.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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Minderheiten können sich also durchaus mittels Koalitionsbildung durchsetzen. Sie müssen hierzu Gruppen finden, die auch für ein ihnen gleichgültiges (oder gar milde abträgliches) Ziel anderer stimmen, um so wiederum deren Stimme für die eigenen Ziele zu bekommen1. Das Beispiel zeigt, wie es zu Entscheidungen zugunsten spezieller Interessen kommen kann, selbst wenn ein großer Teil der Wähler hierdurch geschädigt wird. Entscheidungen zugunsten spezieller Interessen können als Maßnahmen verstanden werden, die einen großen individuellen Nutzen für einen kleinen Teil der Wähler darstellen, verbunden mit geringen individuellen Kosten, die auf einen großen Teil der Wähler entfallen. Solche Politik zugunsten spezieller Interessen, bei der eine Mehrheit durch Kombination verschiedener Minoritäten begünstigender Programme erzielt wird, ist ein Beispiel impliziten Stimmentauschs. Wenn einzeln abgestimmt würde, hätten die Alternativen jeweils keine Chance. Erst durch Stimmentausch können die Programme verwirklicht werden. Das Ergebnis des Stimmentausch hängt von den Wahlverfahren und den Koalitionen ab, die die verschiedenen Gruppen bilden. Abstimmungen mit mehreren Dimensionen begünstigen inkonsistente Entscheidungen. So werden z.B. Mindestlöhne und Entlassungsbeschränkungen für bestimmte Personengruppen eingeführt, deren Arbeitslosigkeit zunehmen kann, weil die betreffenden Personen gar nicht erst eingestellt werden. Andererseits werden Arbeitsbeschaffungsprogramme aufgelegt. Oder bestimmte Subventionen kommen höheren Einkommensschichten zugute, während die Einkommensgrenzen anderer Programme gerade auf die am schlechtesten gestellten zielen. Verschiedene staatliche Interventionen tragen zu hohen Preisen landwirtschaftlicher Produkte bei, Umsatzsteuervergünstigungen u.ä. ermäßigen sie. Das deutet nicht auf konsistente gesellschaftliche Präferenzen hin. Entscheidungen im politischen Prozess können unter bestimmten Bedingungen aber auch zufallsbedingt sein. Parteien sind Organisationen, die die persönlichen Ziele von Politikern (Macht, Einfluss, privates Einkommen, Durchsetzung von Ideologien usw.) fördern. Durch Stimmentausch entstandene Programme werden für vielfältige Entscheidungsfelder zu einem Angebot an die Wähler zusammengefasst. Die Strömungen in den Parteien ändern sich häufig, so dass grundlegende Ausrichtungen kaum erkennbar sind. In der Vergangenheit haben sozialistische Parteien meist stärker staatliche Eingriffe und weniger Eigeninitiative unterstützt, sie weisen auch engere Verbindungen zu den Gewerkschaften auf. Konservative Parteien zeigten sich eher unternehmerfreundlich und befürworteten weniger Regulierung und Besteuerung2. Bei der Verfolgung ideologischer Pro1

2

Vgl. Tullock (1998), der z.B. darauf hinweist, dass das Handeln organisierter ethnischer Gruppen in amerikanischen Großstädten nach diesem Modell abläuft, um so möglichst stark bei den Staatsausgaben oder am Arbeitsmarkt (z.B. die Iren in der Polizei) begünstigt zu werden. Die klaren ideologischen oder sachpolitischen Grenzziehungen bestanden in der deutschen Vergangenheit nur vorübergehend und wurden aufgelöst, wenn Politiker stärker als Sachfragen die Politik prägten. Die ideologischen Auseinandersetzungen zweier Positionen, können – wie gegenwärtig zwischen Konservativen und Liberalen in den USA – fast religiöse Ausmaße annehmen. In Deutschland scheinen sich die Auseinandersetzungen eher auf ein breiteres Spektrum an Positionen verbunden mit Sachfragen, Werten, Kompetenz und Glauben der Politiker zu beziehen.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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gramme1 wie politischer Sachziele kann die Stimmenmaximierung als einschränkende Nebenbedingung angenommen werden, Ideologien oder Sachziele können aber auch die Nebenbedingungen bei der Zielsetzung der Stimmenmaximierung darstellen. Ohne Wahl sind politische Ziele in beiden Fällen nicht zu verwirklichen. Der Ansatz der Stimmenmaximierung stellt natürlich eine starke Vereinfachung der Realität dar. „Der Wirklichkeit nähert man sich beträchtlich an, wenn beispielsweise die programmatische Grundhaltung der Politiker (etwa in Gestalt von Tabus und Sachzwängen), das Wählerverhalten (Stamm- und Wechselwähler), die Unterschiede in der Bedeutung dieser Fakten für die einzelnen Parteien, andere Abweichungen in der Ausgangssituation der Mandatare (Amtsbonus, Persönlichkeit u. ä.) sowie vor allem konkrete institutionelle Gegebenheiten (namentlich Eigenarten des Wahlverfahrens) berücksichtigt werden“ (Pohmer 1981, S. 274).

Bei mehrgipfliger Verteilung der Präferenzen (Abb. 5-8) bestehen Anreize zur Bildung mehrerer Parteien mit unterschiedlichen ideologischen Positionen. Wenn sich die Wählerpräferenzen verändern, neue Wählerschichten auftreten („Jungwähler“) oder die Parteien sich von ihrem Wählergipfel entfernen, erhöht sich für kleine und neue Parteien die Chance gewählt zu werden; diese hängt auch von institutionellen Regelungen wie den Parlamentszutrittschancen (z.B. 5%-Klausel, wahlkreisbezogenes Mehrheitswahlrecht usw.) ab2. Abb. 5-8 Mehrgipflige Verteilung der Wählerpräferenzen Zahl der Wähler

L

M

R

ideologische Positionen

Auch infolge unvollkommener Informationen spiegeln die politischen Entscheidungen nicht unbedingt die Wählerpräferenzen sondern das wider, was Parteien, Regierung usw. – auch ideologie- und interessenbedingt – dafür halten. Dann erst können die Politiker die Wähler (und Parteimitglieder) auch erfolgreich über den wahren Sachverhalt anstehender Probleme fehlinformieren. Um (wieder)gewählt zu werden, ist nicht die Leistung der Politiker das Wichtige, sondern das, was ihr Image erhöht. Sie werden daher Rahmen für Themen und Meinungen zu setzen versuchen und ihre Fähigkeiten, die unbekannt sind, durch Aktionen überlagern, die beobachtet werden können (Signaling). Die Wähler sollen aus sichtbaren Handlungen (und nicht aus sichtbaren Ergebnissen) Schlüsse auf die Fähigkeiten der Politiker ziehen. Die Kandidaten für ein politisches Amt tragen hierzu durch allgemeine Formulierungen3, 1 2 3

Seit Hibbs (1977) wird in den USA die Möglichkeit von „partisan politics“ untersucht, wonach die Parteien Ideologiemaximierung anstreben. Solche Regeln tragen dazu bei, dass u. U. die Gewählten nur noch eine Minderheit der Bevölkerung repräsentieren (vgl. die Beispiele von Tullock 1998). Beispiel ist die Aussage: „Die Renten sind sicher“.

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Ausweichungen, Mehrdeutigkeiten und Verzerrungen bei. Was sie sagen, mangelt häufig jeglicher Relevanz für die Entscheidungen der Wähler und legt die Unterschiede in den Positionen der Kandidaten nur unvollkommen dar. Die Beziehung zwischen den (sogar ggf. stabilen) Präferenzen der Bürger und den jeweiligen politischen Entscheidungen ist folglich schwach oder existiert nicht. Viele politische Entscheidungen können auch unabhängig von und im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung getroffen werden. Das gilt insbesondere, wenn die Regierungen mittels Stimmentausch verschiedene Meinungen der Wähler umsetzen sollen, die vom ökonomisch Sinnvollen, bei dem effiziente und den zu verteilenden Wohlstand mehrende Maßnahmen rational wären, systematisch abweichen. Sonst werden sie mit der Nichtwahl oder mit der Abwahl bestraft (Enste u.a. 2009, S. 66). Die Periodizität der Wahlen und die damit verbundenen Phasen der Wahlkämpfe schlagen sich in einer Kurzfristigkeit der Perspektive der Politiker und in einer Politik der kleinen Schritte („muddling through“) nieder. Mittel- und langfristig ausgerichtete Programme werden daher meist erst gar nicht aufgestellt oder von vornherein als Makulatur angesehen1. Politiker können bessere Wahlchancen bei Maßnahmen erwarten, deren negativ eingeschätzte Wirkungen erst langfristig auftreten, deren positiv beurteilte Effekte jedoch kurzfristig spürbar sind. Staatliches Handeln tendiert auch zu Instabilität und damit Zeitinkonsistenz, weil Politiker durch immer neue Maßnahmen versuchen Mehrheiten zu gewinnen, die sich aber bei den Bürgern, in Parteien und anderen Gruppen laufend ändern können. Folglich ist kein stabiler Gesetzes- und Handlungsrahmen zu erwarten. Den privaten Wirtschaftssubjekten werden insbesondere keine verlässlich kalkulierbaren Steuern2 und Staatsausgaben als Planungsgrundlage angeboten3. Der kurzfristigen Perspektive der staatlichen Entscheidungsträger4 entspricht die kurzfristige Orientierung der Wähler, wenn diese die Leistungen der Regierung und der Opposition im Laufe der Legislaturperiode (zum Teil gar nicht zur Kenntnis nehmen und) leicht vergessen. Die Qualität der staatlichen Entscheidungen hängt auch davon ab, wie stark die Mitglieder von Parlament, Regierung und Verwaltung ihr jeweiliges Amt aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit bekommen. Das könnte man der Korruption zurechnen, weil Abhängigkeiten bestehen oder geschaffen werden: Der Einzelne braucht zwar mit der jeweils verfolgten Politik nicht übereinzustimmen, er bringt aber abweichende Beurteilungen eher vorsichtig oder gar nicht vor, sobald dies seine (parteiabhängige) Karriere 1 2 3

4

Beispiele: Finanzplanung, Gesetzliche Rentenversicherung, Bevölkerungsentwicklung. Hier liegt ein Verstoß gegen den von Neumark (1970, § 16) formulierten Grundsatz der Stetigkeit steuerrechtlicher Normen vor. Wenn die Wähler einen stabilen Rahmen für erforderlich halten, können sie Grenzen für die Bereiche der Politik festlegen, die der Staat durchführen soll. Das ist wahrscheinlich ein Grundgedanke der amerikanischen Vorschläge zu einer verfassungsmäßigen Begrenzung der staatlichen Gewalt (siehe 11. Kapitel). Fraglich ist allerdings, ob solche Grenzen in Deutschland durchsetzbar sind. Die Politiker reagieren bereits kurzfristig auf Meinungsumfragen („Stimmungsbarometer“).

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

und seinen Einfluss gefährdet. Der wesentliche Einfluss auf den Entscheidungsprozess und damit die tatsächliche Macht liegt daher meist bei den Parteien. Für die Karriere in den Parteien ist häufig weniger die Effizienz der Entscheidungen als die Zahl der Maßnahmen und Betroffenen wichtig. So zählt das Engagement für Arbeitslose oder gefährdete Arbeitsplätze (z.B. Subventionen im Steinkohlebergbau) unabhängig von den Kosten der jeweiligen Maßnahme. c) Die Bedeutung von Institutionen und institutionellen Regeln Die geringe Information der Wähler, die Kurzfristigkeit in der Entscheidungsgrundlage und der mehrjährige Abstand zwischen den Wahlen sprechen dafür, dass zumindest in den Nichtwahljahren die Politiker einen ausbeutenden Staat stützen, insbesondere wenn dies ihr persönliches Einkommen, ihre Alterssicherung und ihre Verweildauer in Parlament und Amt fördert. In Deutschland wird praktisch jedes Jahr irgendwo gewählt und die Entscheidungen sind nicht auf die jeweilige Gebietskörperschaft allein beschränkt. Deutschland ist ein Bundesstaat, für den die Verfassung die Kompetenzen festlegt, die das Zusammenwirken mehrerer Ebenen vorsehen. So benötigen viele Bundesentscheidungen die Zustimmung des Bundesrates. Dadurch wird der Entscheidungsprozess komplexer und die Flexibilität geringer als bei einem Zentralstaat. Auch institutionelle Regelungen wie das Haushaltsrecht sind von Bedeutung. So können beispielsweise die Jährlichkeit und andere Merkmale des Haushaltsprozesses eher längerfristige Planungen und Entscheidungen beeinträchtigen. Sie können zwar dazu beitragen, die Kosten der Konsensfindung durch Reduktion des politischen Entscheidungsbedarfs zu verringern, beeinflussen aber gleichwohl die Entscheidungen selbst. Zu den institutionellen Regeln rechnet auch das Wahlverfahren, nach dem die Repräsentanten bestimmt werden und diese wiederum Ämter besetzen. So können zur Wahl eine qualifizierte (beispielsweise 2/3-Mehrheit), die einfache (absolute) Mehrheit der stimmberechtigten Bürger oder der abgegebenen Stimmen jeweils in den Wahlkreisen oder die relative Mehrheit (ein Kandidat erhält mehr Stimmen als jeder andere) der Wähler erforderlich sein. Bei direkter Wahl ist zu erwarten, dass die Repräsentanten ihre Aufgaben im Interesse der Wähler wahrnehmen, wenn die Gefahr besteht, dass sie ansonsten nicht wieder gewählt werden. So können die Kandidaten auch für Fleiß und Ehrlichkeit belohnt werden. Allerdings muss der Abgeordnete auch von seiner Partei wieder aufgestellt werden und daher ihren Vorstellungen Rechnung tragen. Bei der direkten Wahl der Repräsentanten benötigt eine Partei die absolute oder relative Mehrheit der Stimmen in den einzelnen Wahlkreisen. Die Parteien können sich darauf beschränken, gezielt um jene marginalen Wahlkreise zu kämpfen, in denen der Ausgang offen ist. Sitze, die ohnehin der eigenen Partei sicher sind oder überhaupt nicht zu gewinnen sind, lassen Anstrengungen überflüssig erscheinen. Das ist anders, wenn es um die Gesamtzahl der Stimmen aller Wahlkreise geht.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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Bei der relativen Mehrheit sind die Ergebnisse bezogen auf die Gesamtheit der Wähler am wenigsten repräsentativ, geben aber die einzelnen Wahlkreise besser wieder. So können beispielsweise bei den britischen Parlamentswahlen nur 1/3 der Wähler das Kollektiv (alle Wähler) repräsentieren1. Die Bedeutung des Wahlverfahrens zeigt sich deutlich bei einem Vergleich der erforderlichen relativen Mehrheit in den einzelnen Wahlkreisen dort und dem Verhältniswahlsystem in Deutschland. Hier ist letztlich die Zahl der auf eine Partei entfallenden (meist: Zweit-) Stimmen für die Zahl der Abgeordneten relevant. Die Wahrscheinlichkeit ist vergleichsweise kleiner die absolute Mehrheit der Stimmen, aber nicht der Mandate zu erhalten2. Die Repräsentativität der Gesamtheit ist bei der relativen Mehrheitswahl geringer; sie ließe sich erhöhen, wenn die Kandidaten mit den wenigsten Stimmen ausscheiden und Stichwahlen zwischen dem Rest entscheiden würden. Das Verhältniswahlrecht gibt Wählern allerdings kaum Möglichkeiten, einzelne Politiker zu verhindern, wenn diese als Kandidaten auf landesweiten Listen ihrer Parteien abgesichert sind3. Das wirkt besonders präferenzverzerrend, wenn Politiker für ihre Loyalität gegenüber der Partei und nicht für Leistungen als Vertreter der Wähler mit Listenplätzen belohnt werden. Die Theorie der Abstimmungsverfahren hat oben die Möglichkeit endlosen zyklischen Wählens aufgezeigt. Tatsächlich ist die zu beobachtende Politik (trotz der zu behandelnden Inkonsistenzen) relativ stabil. Dies dürfte an den Institutionen liegen, deren Bedeutung so deutlich wird. Damit stellt sich aber auch die Frage, wie Institutionen einer funktionsfähigen (und menschenwürdigen) Ordnung aussehen müssen. Diese Frage nach den allgemein verbindlichen Regeln hierzu untersuchen die Ordnungsökonomik z.B. der Freiburger Schule und die Verfassungsökonomik etwa von Buchanan. Sie werden hier nicht weiter behandelt. d) Die Wähler In der Wähler-Politiker-Beziehung ist der Wahlmechanismus ein wichtiges Kontrollinstrument. Er ermöglicht prinzipiell den Wählern dazu beizutragen, dass Parteien in die Regierungsverantwortung kommen und unerwünschte Parteien (Regierungen) nicht. Bei der Analyse des Wählerverhaltens ist zu klären, wie die Wähler Informationen über das wahrscheinliche Parteienverhalten erhalten und was bestimmt, ob die Wähler (nicht) wählen. Rational handelnde Wähler könnten die für verschiedene Problembereiche bedeutsamen Informationen sammeln und Schlussfolgerungen aus alternativen Ankündigungen und tatsächlichem Handeln in einer Gesamtbewertung der konkurrierenden Parteien ziehen. Hierbei kommt es zu einer Asymmetrie zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien: Politik und Personen der Regierungspartei können nach ihren Handlungen vor der Wahl beurteilt werden, die Opposition nur aufgrund ihrer Ankündigungen 1 2 3

Auch Nichtwähler oder Wähler von Parteien, die an Sperrklauseln scheitern, tragen dazu bei, dass Abgeordnete nur einen geringen Anteil aller Wahlberechtigten repräsentieren. Dieses Ergebnis ist allerdings (z.B. bei Überhangsmandaten) nicht auszuschließen. Insofern steht ein Teil des Wahlergebnisses schon vor der Wahl fest.

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und ggf. ihrer weiter zurückliegenden Politik auf anderen Ebenen (z.B. Bund, Länder, Gemeinden). Die Wähler werden jener Partei dann ihre Stimme geben, deren Wahlplattform und Verhalten in der Vergangenheit den größten Nutzen für die Zukunft für sie erwarten lässt. Wenn die Wähler nur wählen, um das Abstimmungsergebnis zu beeinflussen, hängt die Teilnahme an der Wahl davon ab, ob der Nutzen (N) der Wahl einer Person oder Partei die Höhe der Wahlkosten (K) übersteigt: (5-2)

N W pI W pE ' K .

Wahlkosten bestehen vor allem in Kosten der Information und der Teilnahme an der Wahl. Die Wähler müssen regelmäßig unter unvollkommener Information entscheiden1. Sie müssen eine Annahme darüber treffen, wie wahrscheinlich der Einfluss der eigenen Stimme auf den Wahlausgang ist (pI) und ob die Kandidaten bzw. Parteien ihre Versprechen einhalten (pE). Der einzelne Wähler kann das Wahlergebnis beeinflussen, wenn ohne seine Stimme Stimmengleichheit herrscht, diese bei der von ihm unterstützten Partei gerade verfehlt wird oder eine Mindeststimmenzahl nicht erreicht wird. Tatsächlich ist die Wirkung aber fast immer unbedeutend und die einzelne Stimme praktisch nie das „Zünglein an der Waage“, so dass pI = 0. Insofern erscheint eine Strategie der rationalen Ignoranz (Downs) der Wähler durchaus rational2, sich nur wenig oder überhaupt nicht zu informieren und darüber hinaus nicht zu wählen. Daraus „folgt mit der Logik des gleichen Kalküls aber unmittelbar die ‚rationale Irrationalität‘: Weil die individuelle Wahlentscheidung de facto ohne Bedeutung für die Qualität der künftigen Regierung ist, kann sich der Wähler hier seinen Gefühlen und Instinkten hingeben, ohne dass er auf individueller Basis dafür sanktioniert würde“ (Heinemann 2007, S. 564). Weil die Wert auf der linken Seite von (5-2) bei null liegt, halten die Wähler auch ihre Informationskosten bei null, indem sie sich an politischen Leitbildern, Persönlichkeiten usw. orientieren. Präferenzen für einzelne Personen (Sympathie und weniger Sachkompetenz) sind daher ebenso wie Parteiloyalität Determinanten des Wählerverhaltens. Statt umfassende Information über detaillierte Programmaussagen und über faktisches Handeln zu erwerben, ist es für die Wähler auch kostengünstiger, danach zu entscheiden, welche vorgefassten Meinungen (Ideologien) ihnen näher stehen. Ideologien „helfen“ den Wählern (wie auch den Politikern), möglicherweise bestehende Unterschiede zwischen Parteien und Sachverhalten zu „erkennen“. Wähler (und Politiker) werten dann die verfügbaren Informationen nicht neutral, sondern gefiltert aus. Daher liegt eine verzerrte Informationsverarbeitung und Erwartungsbildung vor3. 1 2

3

Andererseits kennen die Parteien die Präferenzen der Bürger nicht oder nur unvollkommen. Die empirisch zu beobachtenden hohen Kosten der Wahlwerbung sind aber nicht das Ergebnis des irrationalen Verhaltens politischer Akteure. Sie können bei differenzierter Analyse der Entstehung und Verarbeitung von Aufmerksamkeit durchaus erklärt werden (vgl. Große Holtforth 2000, insbesondere Kapitel 5.1). Das gilt auch für den in einzelnen politischen Angelegenheiten gegebenen höheren Informationsgrad. Siehe hierzu Heinemann u.a. (2008), S. 388f.

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Das Eigennutzaxiom legt ferner nahe, dass die politische Unwissenheit nicht zufällig verteilt, sondern systematisch verzerrt ist. Informationen werden nicht umfassend sondern allenfalls speziell in jenen Teilen der Politik gesucht, die die Wähler interessiert bzw. sie besonders betrifft. Sie werden daher bei den sie erkennbar unmittelbar betreffenden Maßnahmen (Subventionen, Kindergeld u. ä.) besser informiert sein. Obwohl das Wahlergebnis also fast nie durch den Einzelnen beeinflusst wird, wählen die Bürger. Wie ist dieses Wahlparadoxon zu erklären? Hier wird in Ergänzung zur Nutzenfunktion auf ein Pflichtgefühl des Bürgers (Wunsch nach Beitrag zur Demokratie), traditionelles Verhalten, fehlerhafte Einschätzung der Wirkungsmöglichkeit auf politische Einscheidungen sowie einen Zusatznutzen aus der Beteiligung am politischen Prozess und speziell aus dem Akt der Präferenzbekundung verwiesen. Die Wahlbeteiligung könnte im letzten Fall als Konsumgut angesehen werden. Mit einem Konsumnutzen Z wäre das Kalkül dann (5-3)

N W pI W pE 9 Z ' K

Wenn man sicher sein könnte, dass alle Wähler an das rationale Verhalten anderer glauben und sich nicht beteiligen, wäre es durchaus rational zu wählen, weil die eigene Stimme dann entscheidet. Tatsächlich kann dieses Verhalten zunehmen, wenn ein knappes Wahlergebnis erwartet wird. Die Wähler beteiligen sich also, weil sie glauben, das Ergebnis beeinflussen zu können. Allerdings ist das Verhalten der anderen unbekannt. Die tatsächlich häufig hohe Wahlbeteiligung weckt jedenfalls Zweifel am Wahlparadoxon. Fehlende Informationen und ggf. Nichtwählen hat wiederum Konsequenzen für die Qualität der Argumente und für die Entscheidungen der Politiker. Wenn viele Bürger nicht wählen, steigt ferner der Einfluss kleinerer und gut organisierter Gruppen mit engem Programm auf den Entscheidungsprozess. Neben der Zahl der Wähler sind auch ihre Struktur und regionale Verteilung für die Abstimmungsergebnisse bedeutsam. So lagen beispielsweise bezogen auf die Gesamtbevölkerung die Erwerbstätigenquote und die Quote der Sozialleistungsempfänger in Deutschland 2007-2010 in der Nähe von 40 %. Sind für die Entscheidungen der Bürger statt der (hier angenommenen) Eigennutzmaximierung andere Motivationen und Normen maßgeblich (z.B. Fairness), müssen auch die Wahlentscheidungen der Bürger anders erklärt werden1. Bürger können nicht nur wählen, sondern auch Stellung nehmen, indem sie sich an Verbänden beteiligen, Petitionen unterschreiben, Mitglieder in Parteien werden2, drohen usw. Jedes dieser Instrumente ist mit Kosten verbunden. Daher greifen die Bürger nur dann zu diesen Instrumenten, wenn die erwarteten individuellen Nutzen daraus ihre individuellen Kosten (z.B. Zeit, sonstige Beanspruchung) überwiegen. Auch die 1 2

Siehe hierzu Enste u.a. (2009) und Heinemann u.a. (2010). Zur Mitgliedschaft und Unterstützung von Parteien gibt es wenig Anreize für Personen, die nicht über Parteien Karriere machen wollen. Warum sollen sie sich um das breitere, teils nicht verständliche Parteiprogramm kümmern, wenn Interessengruppen durchgängig für sie relevante Aufgaben leisten?

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

136

Gruppe der im Folgenden zu behandelnden Bürokraten wählt, wobei ihre Beteiligung möglicherweise höher als der Durchschnitt ist und sie eher für Parteien stimmt, die eine hohe Staatsquote befürworten. e) Die Bürokratie Politiker in Parlament und Regierung treffen die Entscheidungen über die bereitzustellenden Güter. Ihr Handeln unterliegt verschiedenen Nebenbedingungen (insbesondere Budgetrestriktionen und internationale Vereinbarungen). Die Regierung ist auf die staatliche Bürokratie (Verwaltung) angewiesen, ohne oder gegen die sie ihre Ziele nicht realisieren kann. Die Verwaltung wirkt an der Aufstellung staatlicher Programme mit und ist für ihre Durchführung verantwortlich. Daraus entsteht ein zweistufiges Prinzipal-Agent-Problem: Die Wähler (Prinzipal) können die Politiker (Agenten) nur schwer kontrollieren, die Politiker (Prinzipal), d.h. Parlament und Regierung, sind ihrerseits nicht in der Lage die Bürokratie (Agenten) zu kontrollieren. Verwaltungsbedingte Politikdefizite werden in der Regel der Regierung(spartei) angelastet. Die Trennung von Legislative und Exekutive ist in Deutschland institutionell nicht klar gezogen, weil Parlamentarier auch an der Spitze der Verwaltung stehen können (Kanzler, Minister, Parlamentarische Staatssekretäre). Die Grenzziehung ist auch bei der Erfüllung von Aufgaben nicht eindeutig, weil die Verwaltung häufig größere Spielräume bei der Auslegung von Gesetzen hat. Wenn es zutrifft, dass hohe Richter Gesetze beim Bundesjustizministerium mitformulieren, ist auch die Grenze zur Justiz fließend. Für die Analyse der Bürokratie ist das Verhalten ihrer Mitglieder (Bürokraten) entscheidend, die ihren Nutzen unter Nebenbedingungen maximieren wollen. Hierzu suchen Bürokraten ihre Präferenzen nur für den Politikbereich umzusetzen, der ihre Nutzenfunktion tangiert. In der Nutzenfunktion der Manager privater Unternehmen sind Rendite, Höhe und Wachstumsrate des Outputs Argumente. Entsprechend streben Bürokraten zur Erhöhung ihres Nutzens z.B. ein möglichst großes, von ihnen verwaltetes Budgetvolumen an, wenn hiervon – zumindest langfristig – Gehalt, Macht, Unabhängigkeit und Einfluss abhängen (Niskanen 1971). Ein anderes Ziel1 könnte der Wunsch nach einem ruhigen Leben sein, wenn Arbeitsplatzsicherheit besteht. Die Erfüllung eines sozialen Ziels ist für Bürokraten nur Nebenprodukt. Die Verwaltung besteht aus mehreren Behörden, die für staatliche Programme verantwortlich sind. Sie ist häufig in der Position eines Monopolisten: Innerhalb einer Gebietskörperschaft gibt es nur eine Behörde, die eine spezielle Verwaltungsleistung anbietet. Sie ist die einzige Informationsquelle über ihre Arbeitsbedingungen und Kosten. Die Nachfrager können nicht zwischen verschiedenen Anbietern wählen (abgesehen vom Wechsel in andere Gebietskörperschaften). Bürokraten müssen nicht zur Ge1

Die Maximierung des Budgets ist lediglich ein Ansatz, das Zielsystem der Bürokraten modellhaft abzubilden (vgl. Thürmer 1984, 8. Kapitel).

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

137

winnerzielung (als Ziel und Kontrollgröße) beitragen. Stattdessen verfolgen sie Budgetmaximierung, Größenmaximierung der Bürokratie oder möglichst angenehme Arbeitsbedingungen. Gewinn spielt keine Rolle. Die Behörde muss sich auch nicht durch Verkäufe von Verwaltungsleistungen finanzieren. Das Parlament bewilligt ein Ausgabenvolumen, das die Kosten aller Dienstleistungen deckt. Die Prinzipal-Agent-Problematik zeigt sich darin, dass die Behörden eine ziemlich gute Vorstellung darüber haben, welche Mittel sie maximal bewilligt bekommen können. Parlament (und Regierung) fehlen die Informationen über den Output der Verwaltungen und über die mit den einzelnen Programmen verbundenen Kosten. Sie müssen sich auf das Urteil von Experten – vor allem aus der Verwaltung – verlassen. Es liegt im Interesse des Bürokraten (Agenten) dafür zu sorgen, dass es so bleibt, um auf diese Weise ihren budgetären Spielraum zu erhalten. Die Bürokratie wirkt folglich als Lobby in ihrem eigenen Interesse bei der Aufstellung des Haushalts mit und führt diesen aus. Hierbei können sich einzelne Bürokraten mit ihrer Aufgabe identifizieren und deren Erfüllung mit der eines öffentlichen Interesses gleichsetzen – meist ohne die Opportunitätskosten der Aufgabenerfüllung zu beachten1. Die Möglichkeit zur Kontrolle der Bürokratie ist eingeschränkt durch die Abhängigkeit von den Informationen aus der Verwaltung. Der Anreiz zur Kontrolle ist dadurch beeinträchtigt, dass ein großer Teil der Mitglieder des Bundestages (entsprechend für die Länderparlamente) aus dem öffentlichen Dienst kommt. Sie sind dort zwar meist beurlaubt, ihre Entscheidungen sind aber Öffentlichem-Dienst-Denken verhaftet (Risikoaversion!)2, von deren Wirkungen sie durchaus partizipieren können. Ferner beschäftigt der Staat viele Arbeitnehmer, was die Konfliktfreudigkeit von Regierung und Parlament mit der Bürokratie bzw. den öffentlich Bediensteten eher bremsen dürfte. Staatliche Bürokratien unterschieden sich von Monopolen dadurch, dass sie weniger das Auftreten neuer Konkurrenten befürchten müssen. Das Monopol kann die Produktionsmenge wählen, die seinen Gewinn maximiert. Es muss daher auf seine Kosten achten. Die Verwaltung erhält eine Ausgabenbewilligung, von der ein bestimmter Umfang an Leistungen erwartet wird. Staatliche Bürokratien sind insofern Organisationen ähnlich, die keinen Gewinn erzielen. Angenommen, Monopol, kostendeckende Organisationen, Bürokratie und konkurrierende Unternehmen stünden der gleichen Nachfrage N nach einem Gut gegenüber (Abb. 5-9); die für alle gleichen Grenz- und Durchschnittskosten sollen übereinstim-

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2

Das kann beispielsweise auch für die Justiz gelten. Gerichten, aber auch denjenigen, die die Bedingungen der Rechtsprechung festlegen (Parlament), fehlt meist jegliches Verständnis bzw. Interesse für die mit den Verfahren verbundenen Transaktionskosten. Selbst für die eigene Übernahme politischer Positionen hat diese Gruppe Risiko und Kosten ausgeschlossen, indem sie sich die Rückkehr auf ihre früheren Positionen gesichert hat.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

138

men (GK0 = DK0)1. Der Monopolist bietet bei einem Preis p1 die Menge x1 an, bei der GK = GE. Das kostendeckende Unternehmen bietet hingegen bei einem Preis p2 die Menge x2 an2. Die durch die Verwaltung bereitgestellte Menge hängt nun vom Budget ab, über das sie verfügt. Sie realisiert die Bedingung Gesamtkosten = Gesamterträge (= Bewilligungen), stellt also Leistungen in Höhe der bewilligten Mittel bereit. Werden ihr Mittel in Höhe von 0p2Ex3 zugewiesen, wird sie zuviel von dem Gut bereitstellen (der Monopolist mit x1 zu wenig). Bei Mitteln in Höhe 0p2Fx2 wird die Verwaltung hingegen cet. par. die gleiche Menge wie private kostendeckende Organisationen anbieten, bei Mitteln zwischen 0p2Fx2 und 0p2Gx1 wird die bereitgestellte Menge zwischen den Angebotsmengen von Monopolist und kostendeckendem Unternehmen liegen3. Allerdings ist die Nachfragekurve N0 selten bekannt. Die Anreize lassen erwarten, dass die Verwaltung N1 und nicht N0 als richtige Versorgung darstellt. Die Verwaltung unterstellt also eine größere „Nachfrage“ nach Verwaltungsleistungen als der Durchschnittsbürger, weil für sie primär nicht die Leistungen für die Bürger, sondern Stellen für die Bürokratie bedeutsam sind. Deckt sich eine solche Nachfrage mit dem politischen und bürokratischen Angebot, kommt es zu einem Überangebot. Die damit verbundenen Kosten fallen extern an und stellen Wohlfahrtsverluste dar. Abb. 5-9 Das Angebot von Monopol, kostendeckendem Unternehmen, staatlicher Verwaltung und konkurrierenden Unternehmen p GK DK

p1 GK1 = DK1 F

G

p2

E

GK0 = DK0

p3 GE 0

1

2 3

x1

N0 x2

x3

x4

N1 x

Hier wird vereinfachend von gleichen Produktionsfunktionen und gleichen Inputpreisen ausgegangen. Diese Annahmen sind durchaus problematisch. Sie finden sich aber häufig bei einem Vergleich von Monopol und Konkurrenz. Gerade Leibenstein (1966) hat auf die X-Ineffizienz hingewiesen, die sich daraus ergibt, dass im Monopolfall nicht zu den technisch möglichen Minimalkosten produziert wird. Mit zunehmendem Konzentrationsgrad würden mangelnder Zwang zur Kostendisziplin und wachsende Irrationalität einhergehen. Dies hält er für wichtiger als die Wohlfahrtsverluste, die aus der GE = GK- statt p = GK-Orientierung resultieren. Das könnte auch die Preis-Mengen-Kombination bei Konkurrenz sein. Es ist allerdings völlig unrealistisch, dass die Bedingung bei beiden Organisationsformen erreicht wird. In diesem Zusammenhang ist wieder an die Messproblematik der unentgeltlich bereitgestellten staatlichen Leistungen zu erinnern. Ihr Wert wird durch die Kosten z.B. in Höhe von 0p2Ex3 zum Ausdruck gebracht und weicht daher je nach Bewilligung und zugrunde gelegter Nachfrage mehr oder weniger von einer Marktpreisbewertung ab.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

139

Ineffizienzen können also entstehen, weil der Schattenpreis p3, den Konsumenten für x3 Einheiten zu zahlen bereit sind, kleiner als der implizit (mit der Bewilligung) festgelegte Preis p2 ist. Die tatsächliche Allokation der Ressourcen stimmt folglich nicht mit der Allokation überein, die die Konsumenten-/Wähler-Präferenzen befriedigen würde. Ferner kann eine Produktionsineffizienz (X-Ineffizienz) vorliegen. Leibenstein (1978) definiert X-Ineffizienz als Differenz zwischen maximaler Effektivität der Nutzung gegebener Inputs und ihrer tatsächlichen Nutzung. Statt der kostengünstigsten (GK0) wendet die Verwaltung eine ungünstigere (GK1) Technologie an und arbeitet so nicht auf sondern innerhalb der Produktionsmöglichkeitsgrenze1. Auch kostendeckende Unternehmen, die nicht der Konkurrenz ausgesetzt sind, haben keinen Anreiz mit GK0 anstatt mit GK1 zu produzieren. Weil der Output (wie die Nachfrage) schwer zu definieren und kaum befriedigend zu messen ist, kann er falsch dargestellt und eingeschätzt werden, wenn statt dessen die Inputs als Indikator gewählt werden. Deren Entwicklung sagt aber wenig über die Produktion und die Effizienz der Bereitstellung von Gütern aus. Ferner hängt der Grad der X-Ineffizienz von den Nebenbedingungen ab, die das Verhalten der Bürokraten bestimmen, also davon, ob Anreize zur Vermeidung von Verschwendung und Ineffizienz bestehen. Der private Unternehmer wird für überhöhte Kosten bestraft und kann für die bessere Ressourcenverwendung oder die Nutzung innovatorischen Potenzials mit einem höheren Gewinn rechnen. Bürokraten werden für geringe Effizienz nicht bestraft, weil ein Sanktionsmechanismus wie die Konkurrenz im Marktmodell fehlt. Bei effizientem Verhalten droht sogar eine Verringerung der Ausgabenbewilligungen. Bürokraten müssen in der Regel auch keine Konsequenzen wie Entlassung, Nichtbeförderung oder Schadensersatz befürchten. Daher ist anzunehmen, dass staatliche Bürokratien weniger effizient als konkurrierende Unternehmen arbeiten2. Im Falle des Monopols wird X-Ineffizienz über höhere Preise und verringerten Output an die Konsumenten sowie über verringerte Gewinnanteile an die Anteilseigner weitergegeben. Im öffentlichen Sektor wird XIneffizienz auf die Steuerzahler über höhere Steuern und/oder ein niedrigeres Niveau öffentlicher Leistungen überwälzt3. 1

2

3

Leibenstein definiert X-Ineffizienz aber auch als Differenz zwischen dem tatsächlichen und minimal erforderlichen Input für einen gegebenen Output. X-Ineffizienz kann ferner in verminderter Qualität bestehen, wenn man bei gegebenen Kosten eine höhere Qualität erzeugen könnte (siehe Bös 1978a). In bestimmten Fällen kann eher die staatliche Bereitstellung effizient sein, wenn die mit privaten Lösungen anfallenden Transaktionskosten bei staatlicher Zuständigkeit entfallen oder geringer sind (vgl. Kapitel 4). Fehler der Bürokraten sind wahrscheinlich eher als ihre Erfolge feststellbar. Daraus resultiert das Bemühen, die Verantwortung für Fehler durch Befolgung gewisser bürokratischer Prozeduren einzuschränken. Dadurch wird zwar auch die Zurechnung von Erfolgen auf den Einzelnen erschwert. Das wird aber infolge der Risikoaversion in Kauf genommen. Diese Haltung wird dadurch gestützt, dass die meisten Kosten risikofeindlicher Aktivitäten nicht von den Bürokraten selbst zu tragen sind, sondern von der Gesellschaft insgesamt. Ferner sind Bürokraten in einer treuhänderischen Position über verwaltete Mittel, die größere Vorsicht auferlegt. Verwaltungsmäßige Routineabläufe, die von vielen genehmigt werden müssen, können allerdings auch ein Schutz gegen Korruption sein.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Bei starker Stellung der Bürokratie besteht die Gefahr, dass das Budget eher die Präferenzen der Exekutive als der Legislative wiedergibt. Die Behörden werden ihren Ausgabenvorschlag besonders stark vertreten, wenn die Alternative ein Nullprogramm ist. (Das ist im Zero-Base-Budgeting vorgesehen; vgl. Kapitel 7.4.) In der Praxis kommt es selten vor, dass die Verwaltungsleitung vorschlägt, die Mittel für ihre Behörde zu kürzen und Aufgaben nicht weiterzuführen. Sie wird aber auch nicht für ein Wachstum der Behörde durch Übernahme neuer Aufgaben sein, wenn dabei Kosten in Form von Einbußen an den Zielen der Verwaltung oder ein Autonomieverlust drohen. Fazit: Weil die Budgetbeschränkung von entscheidender Bedeutung für die persönliche Situation der Bürokraten ist, werden sie sich um ein Maximum an Haushaltsbewilligungen bemühen. Daher ist ein dem Marktprozess vergleichbarer Mechanismus der Ressourcenallokation erforderlich. Dort führt der Wettbewerb der Unternehmen dazu, dass die individuellen Ziele nicht mit dem gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsziel kollidieren. Auch dort müssen bestimmte Rahmenbedingungen (Wettbewerb, keine Externalitäten) vorliegen. „Insofern ist auch nicht das Vorhandensein eigennütziger oder unfähiger Bürokraten (und Politiker) zu kritisieren, wenn es darum geht, Fehlplanungen oder Mängel im öffentlichen Sektor zu erklären; derartige Mängel sind vielmehr auf das Wirken bestimmter Randbedingungen zurückzuführen, so wie sie im mangelnden Wettbewerb, in der fehlenden Möglichkeit, Eigentumsrechte für den einzelnen zu definieren und durchzusetzen usw. zum Ausdruck kommen. Diese Bedingungen bewirken, daß das Streben der Bürokratie, ihr Einkommen, ihre Macht usw. zu vergrößern, nicht gleichzeitig auch bestimmte öffentliche Ziele fördert. Mit anderen Worten: Daß bestimmte Leistungen, die im öffentlichen Interesse liegen, auch tatsächlich erbracht werden, ist nur Nebenprodukt der Verfolgung persönlicher Interessen. Die erwünschten Leistungen werden nur dann erbracht, wenn die institutionellen Randbedingungen so gesetzt sind, daß die Produktion derartiger Leistungen durch die Individuen systematisch ,belohnt’ und entgegengesetztes Verhalten systematisch ,bestraft’ wird“ (Roppel 1979, S. 22/23).

Die Eigeninteressen der Verwaltung werden von partei- und verbandspolitischen Einflüssen überlagert, die sich in der Besetzung von Verwaltungspositionen unter Versorgungsgesichtspunkten für „verdiente“ Funktionäre und in der Einflussnahme auf die Verwaltungsentscheidungen niederschlagen. Die bürokratische Effizienz fällt je nach Anweisungs-, Kontroll- und Anreizsystem unterschiedlich aus. Als ein Mittel gegen unvollkommene bürokratische Entscheidungen wird vorgeschlagen (Niskanen 1983), den Wettbewerb in und zwischen Behörden zu fördern. Dazu kann auch beitragen, dass man Informationen über die Ziele, ihre Verwirklichung und den Output der jeweiligen Verwaltung gibt1. Auch eine gestiegene Motivation der Bürokraten lässt eine erhöhte X-Effizienz erwarten. Ferner könnte die

1

Das wurde bzw. wird im Rahmen der Programmplanung bzw. (meist auf kommunaler Ebene) des Neuen Steuerungsmodells versucht (vgl. das 6. Kapitel).

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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Ressourcenverwendung durch eigene und unabhängige Experten des Parlaments und des Rechnungshofs besser kontrolliert werden1. Allerdings sind alle komplexen Kontrakte notwendig unvollständig (Williamson 1998, S. 25). Es ist unmöglich, vertragsmäßig zu spezifizieren, wie sich der Agent (Bürokrat) in allen Eventualitäten verhalten sollte. Wer Kontrakte verschärfen will, muss stets darüber nachdenken, was möglicherweise schief gehen kann und wer einen Anreiz haben kann, dass es schief geht. Je detaillierter z.B. die Budgetspezifikation ist und je genauer die Ausführung überwacht wird, umso teurer wird ihre Durchführung. Der Prinzipal steht also vor einem Trade-off zwischen Glaubwürdigkeit und Effizienz bei abnehmenden Grenzerträgen rigoroser Kontrollmechanismen. Wie sieht der Gleichgewichtsmechanismus aus? Das Angebot der einzelnen Programme hat eine unterschiedliche Wiederwahlwahrscheinlichkeit für die Regierung. Diese und die sie tragende(n) Regierungspartei(en) können aber nicht allein entscheiden, weil die Bürokratie komplementär handelt und unabhängige Präferenzen hat. Die Bürokratie zieht die Programme vor, die ihre eigene Macht erhöhen. Es müssen also letztlich Programme gewählt werden, die der Macht beider förderlich sind2. f) Die Interessengruppen Wirtschaftssubjekte haben auch die Möglichkeit, Interessengruppen zu bilden bzw. sich ihnen anzuschließen, um so den politischen Prozess zur Förderung ihrer eigenen Vorteile einzusetzen. Beeinflusst eine Interessengruppe (auch Verband, Pressure Group oder Lobby genannt) die staatlichen Entscheidungen, versorgt sie alle mit einem öffentlichen Gut, die z.B. eine spezielle Gesetzgebung wünschen (und mit einem Ungut diejenigen, die sie ablehnen)3. So weisen Steuervergünstigungen für eine bestimmte Berufsgruppe die Eigenschaft der Nicht-Rivalität und Nichtausschließbarkeit auf, denn die Vorteile nutzen nicht nur Verbandsmitglieder. Daher entsteht eine Schwarzfahrersituation, die die freiwillige Bildung von Verbänden beeinträchtigt. Ist es dann überhaupt noch im individuellen Interesse, solchen Organisationen (z.B. Berufsverbänden, Gewerkschaften, ADAC) beizutreten? 1

2

3

Auch müssten rechtliche Konsequenzen bei festgestellter Ineffizienz, Verschwendung u. ä. gezogen werden – konsequenter Weise nicht nur für die Verwaltung sondern auch (und gerade) für Politiker in ihrer Eigenschaft als Agenten der Bürger. Solche Regelungen dürften allerdings politisch nicht durchsetzbar sein, so dass beide Gruppen weiterhin kollektive Nachteile produzieren können, ohne persönlich haftbar zu sein. Politiker haben auch keinen Anreiz gemeinwohlfördernde Maßnahmen zu ergreifen, weil ihnen keine Eigentumsrechte aus den Handlungen entstehen und die (Wieder-)Wahl unsicher ist. Hier wird, Niskanen (1983) folgend, eine starke Stellung der Bürokratie als maßgeblich für das Handeln des Staates als Leviathan angenommen (siehe Kapitel 7.5). Es gibt auch Modelle für die USA, die teils eine starke Stellung des Gesetzgebers zugrunde legen, teils auf Transaktionskosten der Einigung verweisen (vgl. Moe 1997; Mueller 2003, ch. 17). Entsprechendes gilt z.B. für Lohnverhandlungen, wenn sie auch nichtorganisierten Arbeitnehmern zugute kommen. Das öffentliche „Gut“ wird von denen negativ bewertet, die bei über dem Gleichgewichtslohn liegendem normierten Lohn als Arbeitssuchende vom Markt ausgeschlossen werden.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Eine Ursache für das Entstehen von Verbänden und den Beitritt kann gesetzlicher Zwang sein (z.B. Kammern). Davon wird im Folgenden abgesehen. Handeln die Individuen zweckrational und eigennützig, hängt die freiwillige Teilnahme an einem Verband vom Nutzen des bereitgestellten Gutes und von den Kosten seiner Beschaffung für den Einzelnen ab. Olson (1968) hat gezeigt, dass für das Entstehen von Interessengruppen die Gruppengröße und die Bedürfnisintensität wesentlich sind. Das Schwarzfahrerproblem sinkt, wenn Wenige stark von einer bestimmten Politik betroffen sind, die Gruppengröße gering ist, eine gegenseitige Abhängigkeit der Mitglieder besteht und die Möglichkeit von Sanktionen in der Gruppe gegeben ist. Um eine große Mitgliedschaft zu erreichen, sind aber auch selektive Anreize in Form privater Güter möglich, die nur Mitgliedern oder diesen zu Sonderpreisen zugute kommen (Verbandszeitschrift, Rechtsberatung, Gruppenversicherungen, bei den Gewerkschaften insbesondere Streikgelder, Bildungsangebot, Teilnahmemöglichkeit an der Arbeitnehmervertretung). Unter Umständen lassen sich die kollektiven Handlungen durch den Erlös aus speziellen Leistungen mitfinanzieren. Die tatsächliche Mitgliedschaft in großen Verbänden kann aber auch aus anderen Motiven, wie z.B. traditionellem oder emotionalem Verhalten, erfolgen. Wenn der Nutzen für den Einzelnen gering und/oder auch ohne Kosten erzielbar ist und eine Sanktionierung des Schwarzfahrerverhaltens kaum möglich ist, werden Interessen meist nicht organisiert, obwohl sie als Lobby Druck ausüben könnten (Verbraucher, Steuerzahler, Sparer usw.). Relativ kleine Gruppen, durch die große Vorteile für den Einzelnen möglich sind, die sich leicht organisieren lassen und in denen leicht Übereinstimmung erzielt werden kann, haben hingegen die Chance auf einen unverhältnismäßig großen Einfluss. So werden z.B. bei Entscheidungen über die Preise oder die Qualität landwirtschaftlicher Produkte, bei denen der Schaden für Verbraucher den Nutzen der Landwirte übersteigt, die Vertreter der großen Zahl gering betroffener Verbraucher mit ihrem Interesse für Preisstabilität oder Reinheit der Produkte der organisierten geringen Zahl stark betroffener Landwirte unterliegen. Persönlicher Nutzen Weniger kann zudem unter Einbeziehung der Medien zum überregionalen öffentlichen Interesse stilisiert werden. So werden zu schützende Tiere zur Verhinderung bestimmter Bauprojekte instrumentalisiert. Dies erfolgt teils ohne Beachtung, dass man größere Effekte mit geringeren Kosten anderswo erzielen könnte, bzw. unter Ausblendung bestimmter positiver Effekte. Interessengruppen suchen Vorteile (Renten) für ihre Mitglieder. Rente ist hier Monopolrente, weil die Zahlung an den Besitzer einer Ressource über das hinausgeht, was diese Ressource in alternativer Verwendung auf dem Wettbewerbsmarkt erzielen würde. Renten als Belohnung für produktive Tätigkeiten sind allokativ erwünscht („Profit Seeking“): Die Aussicht auf Monopolrente kann Anreiz für schöpferische Zerstörung im Sinne von Schumpeter sein, Anpassungsprozesse auslösen und im Wettbewerb tendenziell wieder zunichte gemacht werden. Die Suche nach politischen Renten (Rent Seeking) läuft hingegen bei bestehendem Wettbewerb auf Ausnahmeregelungen und Vergünstigungen für einzelne Gruppen ohne positive allokative Wirkungen dieser Art

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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hinaus. Rent Seeking ist nicht nur umverteilende Maßnahme, sie verursacht auch Effizienzkosten. Volkswirtschaftliche Ressourcen werden in Anspruch genommen, ohne dass eine Lenkung in Richtung unterversorgter Märkte, Sektoren usw. erfolgt. Rent Seeking schädigt die Wohlfahrt; sie fällt in Form von direkten Zahlungen, Steuervergünstigungen, Regulierungen, Lizenzen oder staatlichen Aufträgen an und stellt lediglich eine Umverteilung zugunsten spezieller Gruppen dar. Die Existenz und der Erfolg (Einfluss) der Interessengruppen beruhen auf dem Einsatz zweier Instrumente, der Bereitstellung von Informationen und der Weitergabe von Ressourcen (Parteispenden, Wahlkampfunterstützung, Korruption). Bei unvollkommenen und asymmetrischen Informationen der Politiker über die Präferenzen der Wähler erwecken Lobbies1 den Eindruck, die Präferenzen der Wähler besser zu kennen. Sie informieren Politiker einseitig und insbesondere über die Auswirkungen von Maßnahmen auf das durch sie „vertretene“ Wählerpotenzial. Dem Politiker wird klargemacht, dass er bestimmte Wählerstimmen nur erhalten kann, wenn er die Interessengruppe unterstützt. Lobbies geben Informationen an ihre Mitglieder, mobilisieren u.U. die Wähler und bringen dies dem Politiker zur Kenntnis. Sie geben ihren Mitgliedern und den Wählern nur selektive Informationen, um diese jeweils zu überzeugen, dass die von den Interessengruppen geforderten Maßnahmen für sie von Nutzen sind. Die geringe Information der Wähler, auch über das Wirken von Interessengruppen, erleichtert es den Verbänden, die Wähler einseitig zu informieren und zu beeinflussen. Die Interessengruppen können auch finanzielle und organisatorische Maßnahmen zugunsten bestimmter Politiker und Parteien versprechen und letztlich korrupte Politiker bestechen. Beispiele: Parteispenden, Aufsichtsräte, Jobs für Ex-Politiker, nichtmonetäre Leistungen wie billiger Urlaub, Bezahlung von Mitarbeitern und andere Kostenübernahmen. Andererseits können Politiker Begünstigungen an jene Interessengruppen verteilen, von denen sie erwarten, dass diese dann an Parteien und Politiker weitergeleitet werden. Diese Praxis des Klientelismus wirkt wie eine moderne Variante des feudalistischen Griffs in die Staatsschatulle (Obinger u.a. 2003, S. 27)2. Der politische Einfluss organisierter Interessengruppen wird durch Institutionalisierung einer Anhörungsmöglichkeit von Verbandsvertretern im Gesetzgebungsverfahren erleichtert. Durch Kontakte zu Parlamentariern, Regierung und Bürokratie können Verbände laufend politische Entscheidungen mitgestalten. Die Wirkung der Verbände ist groß, wenn ihre Vertreter in Parlament und/oder Bürokratie zu finden sind; das trifft auf die hohe Zahl von Gewerkschaftsfunktionären, Landwirten, öffentlichen Bediensteten3 zu. Grundlage für die Einflussnahme der Verbände sind Macht und Informati-

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2 3

Die Funktionäre in Interessengruppen denken und handeln ihrerseits nach Eigeninteressen (z.B. Wiederwahl, Fortkommen in der beruflichen Karriere – auch in anderen Bereichen, Aufbau und Stärkung einer Organisation als politischen Machtfaktor). Vgl. das Beispiel der politischen Stiftungen in Kapitel 6.1e. Sie sind in einzelnen Parteien besonders stark vertreten. Der hohe Anteil des öffentlichen Dienstes erklärt sich vor allem mit dem besonders hohen Freizeitanteil seiner Mitglieder und dem für ihre Beschäftigung fehlenden Risiko (eher karrierefördernd) einer Politikbeteiligung.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

onsvorteile. Ihre Macht beruht auf Zahl und Organisationsgrad der Mitglieder, Finanzkraft, Stärke einzelner Branchen in einer Region und Konfliktfähigkeit. Der Bereich der Aktivitäten, bei denen Informationsasymmetrien zu Lasten des Staates von Interessengruppen genutzt werden, steigt mit den erwarteten Renten. Dazu wenden im Bereich „Klimawandel“ – wie traditionell bei Bergbau, Verkehr oder Landwirtschaft – Unternehmen, Umweltgruppen und Forschungsinstitutionen erhebliche Ressourcen (Experten, Berater, Public Relations Unternehmen, parlamentarische Lobbyisten) auf, um von staatlichen Leistungen zu profitieren. Mit den Rent-SeekingAusgaben wird auch der Umfang der Verzerrungen durch die Politik zunehmen. Die Tätigkeit der Interessengruppen muss aber nicht zu systematisch verzerrten Entscheidungen führen, wenn – unrealistischerweise – die Bürger sich gleichmäßig in Interessengruppen organisieren und ihre Präferenzen mit gleicher Intensität an die Politiker gelangen. Dieser Fall dürfte in der Praxis nicht eintreten. Sonst wird das Budget nicht für alle Bürger optimiert, sondern auf die Interessen einzelner Verbände ausgerichtet. Sonderinteressen kommen daher anstelle des Gemeinwohls zur Geltung1. Der gesamte Haushalt ist ein Anreiz zur Bedienung eigener Interessen tätig zu werden. Die Begünstigten glauben in der Regel, dass andere die Kosten tragen. Solange größere Gruppen sich nicht ausgebeutet fühlen und netto eine Verbesserung durch staatliche Maßnahmen erzielen bzw. zu erzielen glauben, ist das (durch Regierung und Parteienvertreter repräsentierte) politische System stabil. g) Die Kosten von Regulierungen Die Handlungen des Staates schlagen sich nicht nur in seinem Budget nieder. Er greift auch durch Regulierungen in Entscheidungen von Produzenten und Konsumenten ein und begrenzt deren Vertragsfreiheit. Regulierungen (und Überwachung) können in verschiedenen Fällen des Marktversagens allokativ gerechtfertigt sein und dort das einzige effiziente Instrument darstellen. Allerdings ist Markversagen das Normale, nicht die Ausnahme und kann daher unterschiedlich hohe soziale Kosten verursachen. Aus dem Vorliegen einer oder mehrerer Marktunvollkommenheiten kann aber noch nicht geschlossen werden, dass Regulierung durch einen in der Theorie angenommenen wohlwollenden kostenlos tätigen und gut informierten Regulator bessere Ergebnisse bringt. Das gilt selbst bei hoher Gefahr von Externalitäten, wie beispielsweise bei einer impliziten Verpflichtung des Staates zum Bail-Out von Finanzinstituten. Weil alle Märkte unvollkommen sind, müsste der Staat überall eingreifen. Tatsächlich gibt es in der modernen Volkswirtschaft praktisch keinen unregulierten Markt. Es ist aber anzunehmen, dass die staatlichen Entscheidungsträger nicht immer im wohldefinierten öffentlichen Interesse handeln, wohlinformiert und unbeeinflusst von Interessengruppen kostenlos handeln. Daher müssen die direkten und indirekten Kosten der Regulierungen gegen die Vorteile abgewogen werden. Dann können die bestehenden 1

Buchanan/Congleton (1998) sprechen von einem Verstoß gegen das Prinzip der Allgemeinheit (generalization oder generality), wonach die politischen Handlungen alle Personen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Koalitionen oder Interessengruppen betreffen.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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Lösungen zwar theoretisch „zweitbest“ sein, aber besser als mit Regulierungen eines unvollkommenen Staates (Joskow 2010, S. 5). Die hohe Regulierungsdichte gibt Anlass zu vermuten, dass nicht immer so abgewogen wird. Sie kann auch mit dem mangelnden Vertrauen in die Vertragsfähigkeit der Bürger erklärt werden. (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi 2006). Auch versuchen Politiker/Bürokraten ihre Tätigkeit und Existenzberechtigung mit der Normenflut zu belegen. Regulierungen schränken den privaten Entscheidungsspielraum und die Anpassungsfähigkeit ein. Das Unternehmerverhalten verändert sich wie bei der „Subventionsmentalität“. Regulierungen führen zur Abhängigkeit von der Inflexibilität, der Risikoaversion und den eigenen Vorstellungen der staatlichen Verwaltung. Die Gesamtwirtschaft erleidet einen Wohlfahrtsverlust in Form einer Ressourcenverschwendung. Die Kosten der Regulierung schließen den Aufwand der Interessengruppen bei der Suche nach (Einkommens-) Vorteilen für ihre Mitglieder, des Subventionsberaters u.ä. ein. Zu den Kosten für die Konsumenten und Produzenten rechnen auch die aus Ungewissheiten, Verzögerungen u.ä. resultierenden Wirkungen1. Abb. 5-10 Soziale Kosten des Rent Seeking p

p2 A

B

p1

GK

x2

x1

x

Ein Maß für die Kosten des Rent Seeking zeigt Abb. 5-10. Hier wird versucht, den im Wettbewerbsgleichgewicht bestehenden Preis p1 über die langfristigen Grenzkosten GK auf p2 anzuheben (z.B. durch Einführung von Marktzutrittsbeschränkungen). Die sozialen Kosten der Maßnahme bestehen in dem Dreieck B (= entgangenen Konsumentenrente). Unter bestimmten Bedingungen kann die Fläche A Monopolrente sein, die keinen Wohlfahrtsverlust darstellt, sondern reine Einkommensumverteilung zwischen Konsumenten und Produzenten ist. A ist aber dann ein Wohlfahrtsverlust durch soziale Verschwendung (und nicht nur Umverteilung), wenn die Fläche Ressourcen zur Erlangung der Transfers oder Transaktionskosten des Staates zum Ausdruck bringt. 1

Gerade in Krisensituationen werden mehr Regulierungen verlangt, so nach der weltweiten Banken- und Wirtschaftskrise ab 2007 bezüglich der Finanzinstitute. Regulierungen werden aber auch für Krisen mitverantwortlich gemacht (langsame, komplizierte Genehmigungsverfahren für Investitionen u.ä.) und ihr Abbau gefordert.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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Rent Seeking ist auf allen privaten und politischen Märkten zu erwarten, wo infolge von Informations- und Mobilitätsasymmetrien Renten existieren oder geschaffen werden können. Ein positiver Allokationsbeitrag des Staates wäre die Entwicklung von Institutionen, die Formen des Wettbewerbs mit zusätzlichen Konsumenten- und Bürgerrenten ermöglichen würden. Hätte man bestimmte Regulierungen gar nicht erst eingeführt, wäre es möglicherweise leichter die Begünstigten zu überzeugen, dass sie und die Gesellschaft vom Marktwettbewerb Vorteile erzielen. Weil aber solche verzerrenden Programme bestehen, sind Investitionen verschiedenster Form unter der Annahme durchgeführt worden, dass die Regulierungen weiter existieren. Ihre Beseitigung würde mehr oder weniger große Vermögenseffekte und den Widerstand der betroffenen Gruppen auslösen. Um den Widerstand gegen Verluste zu verringern, müssen eher noch größere Gewinne angeboten werden. Daher kann es politisch einfacher sein, Regulierungen für eine große Zahl Betroffener anstatt für wenige kleine zu beseitigen oder zu reduzieren. Zur Vermeidung von Gesetzen, die das Rent Seeking ermutigen könnten, sind auch besondere verfassungsmäßige Bedingungen denkbar, beispielsweise die Anforderung besonderer Mehrheiten an die Gesetzgebung. Das setzt aber hohe Hürden an die Gesetzgebung voraus und schränkt deren Flexibilität ein (was gewünscht sein kann). h) Korruption Korruption wird unterschiedlich definiert und beeinflusst so ihre Modellierung und Messung. Korruption hängt mit öffentlichen Ämtern (Politik, Bürokratie, Gesetzgebung, Rechtssprechung) zusammen1, die zum eigenen Vorteil genutzt werden. Korruption ist eine Form des Rent Seeking. Sie S führt zu einem über dem Wettbewerbspreis liegenden Ertrag und verzerrt Anreize, Marktsignale und Chancen; S schließt solche potentiellen Teilnehmer aus, die wegen moralischer Skrupel oder Angst vor Strafe nicht in den Markt eintreten; S lenkt Ressourcen in die Rentensuche und nicht in produktive Aktivitäten; S wird als ineffiziente Abgabe auf diejenigen angesehen, die sie zahlen müssen und erhöht die Produktionskosten; S wird geheim betrieben, daher sind die ihr zugrunde liegenden Vereinbarungen nicht einklagbar, erhöhen aber die Transaktionskosten; S kann auch zu schlechterer Qualität der Ressourcenverwendung führen (z.B. bei Gesundheit, Erziehung, Waffensystemen); S zerstört die Glaubwürdigkeit von Regeln. Die Gruppe der Korrupten wird versuchen, die Wirksamkeit des Rechtssystems durch Einsatz von Ressourcen und Besetzung von Schlüsselpositionen zu unterlaufen2 und die Regeln so zu gestalten, dass Korruption legalisiert wird. 1 2

Ähnliche Erscheinungsformen sind im privaten Bereich zu beobachten. Eklatante Beispiele sind in den USA der Kauf von Botschafterpositionen oder die Unterbringung als Gast im Weißen Haus.

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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In verschiedenen Modellen werden auch (kurzfristig) Allokationsverbesserungen gezeigt, so wenn die Bestechungszahlungen als Leistungsanreize dienen, unsinnige Regulierungen umgangen oder Verzögerungen in der Auftragsvergabe u.ä. vermieden werden. Allerdings können erwartete Bestechungen auch die Ursache beispielsweise der Verzögerungen sein. Eine allokative Neutralität wird dann für möglich gehalten, wenn die effizientesten Bieter bei einer Ausschreibung ohne Korruption auch die höchsten Bestechungsgelder zahlen können. Korruption wird durch geringe Gesetzesumsetzung, fehlende klare Regeln, fehlende Transparenz und mangelnde eindeutige Verantwortung, starke Zentralisierung und Monopolsituation der staatlichen Verwaltung, geringe Bezahlung beim Staat und großes Ausmaß des öffentlichen Sektors gefördert. Zur Einschränkung der Korruption muss staatliches Handeln daher nach klaren einklagbaren Regeln erfolgen; Transparenz erschwert Korruption. Das gilt beispielsweise für das Bauauftragswesen. Nur nachprüfbare Ausschreibungsverfahren gewährleisten wirtschaftliche Lösungen. Hohe Grenzen für die EU-weite und nationale Ausschreibungspflicht verhindern eine effiziente öffentliche Auftragsvergabe. Auch Anforderungen an Politiker beim Wechsel in andere Tätigkeiten könnten zweckmäßig sein. i) Weitere Akteure Je nach Fragestellung können verschiedene andere am staatlichen Entscheidungsprozess beteiligte Akteure wie insbesondere Rechtsprechung, Medien und Experten von Bedeutung sein. Die Judikative ist im staatlichen Entscheidungsprozess wichtig, weil sie Recht anwendet, auslegt und schafft. Gerichte haben die Macht, die Handlungen der Beteiligten am staatlichen Entscheidungsprozess für rechtswidrig zu erklären, das Verfassungsgericht kann sie für verfassungswidrig befinden und sogar Handlungszwänge auferlegen. Politiker erweitern die Entscheidungsspielräume insbesondere des Verfassungsgerichts dann, wenn sie bewusst Fragen offen lassen oder sogar offene Fragen schaffen. Um selbst nicht entscheiden zu müssen, wird die Verantwortung auf die Gerichte geschoben1. Diese können dann für etwaige negative Folgen verantwortlich gemacht werden, allerdings lassen sich positive Wirkungen nicht für eigene Zwecke reklamieren. Der (nicht expliziten) Übertragung von Verantwortung liegt das Kalkül zugrunde, obwohl nicht selbst entschieden wird, werden eher die positiven Wirkungen überwiegen2.

1

2

Das gilt insbesondere im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht und den EuGH. Wenn nationale Gremien keine Mehrheiten für eindeutige Lösungen bekommen können, suchen sie auch nach „Formelkompromissen“. Dieses Verschieben der Verantwortung von Politikern kann auch in anderen Bereichen erfolgen, z.B. indem mehr oder weniger eigenständige Behörden, Institute u. ä. gegründet werden. Budgetflucht kann allerdings auch anders beurteilt werden (vgl. das 6. Kapitel).

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Die Unabhängigkeit der Gerichte bezieht sich eher auf die Richter als auf die Staatsanwälte. Beide sind aber nicht kündbar und insoweit gegen politischen Druck geschützt. Richter können auch als Agenten jener Interessengruppen gesehen werden, die sonst nicht oder nur gering repräsentiert werden. Parteien nehmen aber Einfluss auf die Besetzung der Richterpositionen und erwarten dadurch eher Urteile, die ihren jeweiligen Vorstellungen entsprechen. Das kann die Karriereplanung der Richter bei ihren Urteilen beeinflussen, auch für die Phase nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt. Wie handeln Richter? Eine Theorie könnte sein, dass Richter im öffentlichen Interesse, zur Förderung des Rechtssystems und Wahrung der Rechtssicherheit – zusammengefasst im Sinne der Gerechtigkeit – handeln und die Wohlfahrt der Gesellschaft erhöhen. Sie geben insofern auch nicht eigenen Wünschen und dem Druck der Parteien, Verbände und anderen Gruppen nach. Allerdings überzeugt es nicht, dass Richter sich anders als die übrigen Akteure verhalten sollen. Auch Richter dürften ihren Nutzen unter Nebenbedingungen maximieren. Sie können so Recht sprechen, dass sie Aufmerksamkeit erzielen, ihr Prestige und ihren Einfluss erhöhen oder ihrer ideologischen Position Rechnung tragen. Richter können ein Interesse an einer Erhöhung der Komplexität haben, weil diese weitere Rechtsprechung begünstigt. Das macht die Entscheidungen aber auch schwieriger. Besondere Aufmerksamkeit lassen unerwartete Entscheidungen, kreative Begründungen u.ä. erwarten. Rechtsprechender Akteur ist neben nationalen Institutionen (wie dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundesfinanzhof) der Europäische Gerichtshof (EuGH), dessen Urteile die in der Europäischen Union geltende Rechtslage, die EU-Verträge, auslegt und konkretisiert. Da EU-Recht vor nationalem Recht geht, ist die Bedeutung des EuGH besonders groß. Gerade den Richtern des EuGH wird vorgeworfen, dass sie oft eine stillschweigende Rechtsfortbildung betreiben, die im geltenden Recht keine Basis findet. So weitet das Gericht die eigenen Kompetenzen aus. Unvollkommene und asymmetrische Informationen auf Seiten der Politiker, Bürokraten und Wähler schaffen Raum für Medien, die sich zwischen die Gruppen schalten und ihre Dienste anbieten. Die Mehrzahl der Medien sind gewinnorientierte private Unternehmen. Aber nicht nur sie, auch öffentlich-rechtliche Institutionen (insbesondere bei Rundfunk/Fernsehen) behandeln politische Informationen so, dass sie möglichst viel Aufmerksamkeit erzielen. Mit Negativaussagen ist eher als mit positiver Berichterstattung große Aufmerksamkeit zu erreichen, daher liegt insbesondere die Verbreitung schlechter Nachrichten im Interesse der Medien. Gut dargestellte tagespolitische Ereignisse, Skandale und ähnliche Negativwirkungen lassen sich eher publizistisch vermarkten, zudem sind sie in der Regel kostengünstiger, weil nur oberflächlich und nicht aufwändig recherchierte Informationen benötigt werden. Auswahl, Darstellung und Gewichtung der Themen beeinflussen die Sympathiewerte der Politiker. Es wird eher über Konflikte zwischen den Beteiligten eines Entscheidungsverfahrens und über das Verfahren selbst („man hat sich geeinigt“) als über die Ziele und Wirkungen der Programme berichtet. Die Medien suchen den Präferenzen ihrer Nutzer zu entsprechen bzw. diese (z.B. nach ideologischen Positionen oder in Ausrichtung auf Parteien) zu

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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beeinflussen. Medien liefern auch nach Interessenpositionen der Autoren/Journalisten1 selektierte und aufbereitete Informationen und verbreiten die von diesen Gruppen gelieferten Informationen (beispielsweise über Wählerpräferenzen). Sie starten öffentliche, politische Diskurse und beeinflussen Richtung und Intensität politischer Debatten. Alle am Entscheidungsprozess beteiligten Gruppen ziehen zur politischen Durchsetzung ihrer Zielsetzungen die Medien in ihr Kalkül ein, sie benötigen die Medien als die zentrale Arena, in welcher der öffentliche politische Diskurs stattfindet. Zwischen den Medien und den verschiedenen Gruppen kann eine symbiotische Beziehung angenommen werden (vgl. z.B. Schulz/Weimann 1989). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das Verhalten oder die Transaktionen der Beteiligten zur gegenseitigen Nutzenstiftung institutionalisiert sind. Die Symbiose muss aber nicht stabil sein. So sind aus der Sicht der Medien z.B. die positiven Wirkungen einer Regierungsnähe2, nämlich die Chance differenzierte Informationen zu erhalten, mit dem möglichen Ruf der Abhängigkeit und damit Leser- und Zuschauerrückgängen (z.B. wegen verzerrter, schlecht recherchierter oder zu geringer Berichterstattung über Regierungsskandale) zu vergleichen. Durch Anlehnung an Medien wiederum können Politiker versuchen, ihre Wählerzahl (in den Parteien und außerhalb) durch bestmöglichen Informationstransport zu maximieren. Aufmerksamkeit der Medien signalisiert, wer zu den wichtigen Akteuren gerechnet wird. Regulierungen und insbesondere die Besetzungspolitik bei öffentlich-rechtlichen Medien können zu verzerrter Berichterstattung beitragen. Eine besondere Stellung hat das Fernsehen, weil fast jeder Haushalt einen Fernseher nutzt, aber knapp die Hälfte der Zuschauer keine Zeitung liest (Kepplinger/Maurer 2005). Die öffentlichrechtlichen Medien können in eigener Sache berichten und Einfluss nehmen. Experten insbesondere aus dem Bereich der Wissenschaft haben nur dann eine Chance der Einflussnahme, wenn ihre Aussagen den Interessen der handelnden Akteure und/oder der Medien entsprechen3. Ansonsten laufen sie Gefahr, von der Politik mit dem Verweis ignoriert zu werden, sie seien nicht genug politisch legitimiert. Sind sie allerdings in die Politik eingebunden, laufen Wissenschaftler Gefahr, außerhalb der Regierung nicht ernst genommen zu werden, weil ihre Stellungnahmen dann politisch gesehen werden. Auch wissenschaftliche Ökonomen (wie andere Berater) in Wirtschaftsforschungsinstituten oder an den Universitäten können wie andere Menschen 1

2 3

Die Interessen können durch Verleger/Eigentümer bestimmt oder beeinflusst sein, aber auch die Gewährung von Honoraren für Vorträge, von Ehrentiteln, Sondereinkaufsmöglichkeiten u.a. beeinträchtigt die journalistische Unabhängigkeit und führt in eine Grauzone zur Korruption. Geheime Informationen schaffen Renten, weil sie potenziell wertvoll sind. Beide Seiten – Staat und Presse – haben ein Interesse an der Geheimhaltung. So werden Gutachten von wissenschaftlichen Beiräten, Sachverständigenkommissionen u.ä. meist zu den Akten gelegt, wenn sie nicht die Position des Auftraggebers bzw. der politisch Verantwortlichen stützen. Sie werden allenfalls bei Bedarf hervorgeholt. Das führt allerdings nicht zwangsläufig zur vollständigen Wirkungslosigkeit dieser Arbeiten, weil sie durchaus mittel- oder langfristig zum Beispiel in die Arbeiten der Bürokratie einfließen können. Liegen sie im scharfen Gegensatz zur Position der Auftraggeber, können sie unter Umständen auf das Interesse der Medien stoßen.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

als eigennützig rational handelnd gesehen werden, und nicht nur, wenn sie im Beratungsgeschäft tätig sind1. Es ist kaum zu bestreiten, dass Wissenschaftler genau dafür bezahlt werden, dass sie im Sinne ihrer Auftraggeber handeln und dies wissentlich in Kauf nehmen. So ist es heute möglich, (fast) zu jeder Position, die politisch vertreten werden soll, ein wissenschaftliches Gutachten zu ihrer Unterstützung erstellen zu lassen. Allerdings sind eindeutige Aussagen in den Wirtschaftswissenschaften erheblich schwieriger als in den Naturwissenschaften zu machen. Insbesondere kann Politikberatung wichtige Informationen dann vermitteln, wenn die Diskussion hierzu öffentlich stattfindet und die jeweiligen Grundlagen offen gelegt werden. Dann lassen sich die Aussagen kritisch hinterfragen. Durch Kritik der Vorschläge können deren Schwächen erkannt und zu besseren Vorschlägen weiterentwickelt werden. Ökonomen wird (wie anderen Wissenschaftlern) vorgeworfen, dass sie vor allem diejenige empirische Evidenz präsentieren, die ihren eigenen politischen Vorstellungen förderlich ist; Manipulationsversuche lassen sie allerdings als Gutachter ungeeignet erscheinen. Daher haben Wissenschaftler in der Regel ein eigennütziges Interesse daran, auch bei ihrer Beratungstätigkeit die wissenschaftlichen Standards ihrer Profession einzuhalten. Da die Gutachter die Erwartungen der Auftraggeber kennen, ist aber davon auszugehen, dass die gewünschten Ergebnisse ihren eigenen ideologischen Vorstellungen zumindest nicht diametral entgegenstehen. All diese Argumente schließen natürlich nicht aus, dass Wissenschaftler an der Wahrheitssuche interessiert sind und nicht im Interesse ihrer Auftraggeber schreiben. Das Eigeninteresse der Gutachter kann auch dazu führen, dass sie einen Anreiz haben, ihren Auftraggeber bei der Erreichung ihrer Ziele behilflich zu sein. Selbst dann, wenn alle Gutachter nur die Ziele verfolgen, von denen sie selbst überzeugt sind bzw. die sie selbst für (moralisch) gerechtfertigt halten, führt der Selektionsmechanismus zu einer Zuordnung der Gutachter, bei der letztlich die Zielvorstellungen von Auftraggebern und Gutachtern (weitgehend) übereinstimmen. Die Einflussnahme von Fachleuten auf den politischen Entscheidungsprozess beschränkt sich nicht auf wissenschaftliche Ökonomen. Gefahren ergeben sich auch durch ein „Gesetzgebungs-Outsourcing“, bei dem externe Spezialisten (Banken, Anwaltskanzleien u.a.) an der Formulierung von Gesetzentwürfen beteiligt sind (Jahn 2010). Der Rückgriff auf Experten außerhalb von Regierung und Parlament ist erforderlich, wenn die staatlichen Institutionen weniger Information über bestimmte Technologien und Märkte haben als die, die produzieren und handeln, und daher die Hilfe externer Ratgeber benötigen. Dann greifen sie auch auf Informationen der Lobby zurück. Diese versuchen Informationen so an den Staat zu liefern, dass sie die gewünschte Entscheidung begünstigen. j) Politischer Prozess und Gleichgewicht Der politische Prozess ist aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Entscheidungsträger und Interessengruppen zu erklären. Er steht im Zentrum eines polit1

Vgl. zum Folgenden Kirchgässner (1998).

5. Kapitel: Der staatliche Entscheidungsprozess – theoretische Grundlagen

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ökonomischen Gesamtmodells, das in seiner Struktur in Abb. 5-6 angedeutet wird. Ein Gleichgewicht kann aus verschiedenen Gründen nicht zustande kommen, so bei zyklischen Mehrheiten oder fehlender Beschlussfähigkeit bei vorgeschriebenen, aber nicht erreichbaren Mehrheiten. Auch wenn die Parteien sich auf minimale Mehrheiten einrichten, kann leicht eine andere minimale Mehrheit gebildet werden, so dass sich längerfristig ein Hin- und Herpendeln zwischen unterschiedlichen Mehrheiten und dadurch eine instabile Situation bzw. Entwicklung bildet. Dennoch dürfte die Politik in Deutschland insgesamt nicht so instabil ausgefallen sein, wie es die Theorie nahe legt. Das könnte daran liegen, dass Institutionen das Abstimmungsverhalten mit beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit eines Chaos einschränken. Andererseits gibt es Beispiele insbesondere in der Steuerpolitik (Tarife der Einkommensteuer und Ausgestaltung der Körperschaftsteuer), die gleichzeitig oder mit geringem zeitlichen Abstand entgegengerichtete Maßnahmen enthalten. 4. Zur Kritik an der Politischen Ökonomie1 Der Anwendung ökonomischer Instrumente auf den politischen Entscheidungsprozess wird gelegentlich ökonomischer Imperialismus vorgeworfen, d.h. die unzulässige Anwendung der ökonomischen Analyse auf traditionell nichtökonomische Probleme. Hinter dieser Kritik steckt letztlich die Annahme, dass Knappheit, Entscheidung und ökonomisches Verhalten außerhalb von Märkten nicht anwendbar seien. Tatsächlich werden ökonomische Modelle auf verschiedenste Fragen wie Religion, Geschlecht, Ehe, Bildung und eben staatliche Entscheidungen erfolgreich angewendet. Auch basiert die ökonomische Motivation nicht nur auf nominellen Preisen und homogenen Mengen, sondern auf Nutzen und Nachfrage. Ökonomische Gesetze werden nicht überflüssig, wenn Angebot und Nachfrage nach Ehe, Regulierung oder politischem Einfluss untersucht werden. Das gilt insbesondere dann, wenn die Modelle empirisch überprüft werden können. Literatur zum 5. Kapitel Eine Einführung in die ökonomische Theorie der Politik gibt Franke (1996). Einen umfassenden Überblick über die Theorie des staatlichen Entscheidungsprozesses geben die von Mueller (1997) und Shugart II/Razzolini (2001) herausgegebenen Handbücher; siehe auch Mueller (2003). Beiträge zur Beziehung politische Ökonomie/Finanzwissenschaft enthält der von Winer/Shibata (2002) herausgegebene Band. In den Zeitschriften „Public Choice“ und „European Journal of Political Economy“ wird ein großer Teil der Diskussion über den staatlichen Entscheidungsprozess geführt. Auch das „Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie“ stellt auf die verschiedenen

1

Vgl. Ekelund/Tollison (2001), S. 370 ff., die (S. 378) auf Dupuit verweisen, der schon 1853 für eine weite Sicht der Ökonomie plädierte.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Formen von Entscheidungsmechanismen ab, ferner das „Journal of Law and Economics“. Zur Würdigung der direkten Demokratie siehe die Beiträge von Feld/Savioz in Grözinger/Panther (1998). Abstimmungsverfahren behandelt Mueller (2003, pt. II). Das Wahlparadoxon untersucht Feddersen (2004). Speziell mit der Bürokratie beschäftigen sich Jackson (1982), Niskanen (1975), Roppel (1979), Thürmer (1984) und der Sammelband von Borcherding (1977). Zur Problematik der Interessengruppen siehe Bernholz (1973), Olson (1968) und Schmidt (1966), Überblicke zum Rent seeking geben Tollison (1982, 1998) und Mueller (2003, ch. 15), zur Korruption Jain (2001); die positive Theorie der Regulierung geht auf Stigler (1971) zurück. Einen umfassenden Überblick der Nutzen und Kosten von Regulierungen geben Hahn/Hird (1991). Der Stimmentausch wird von Buchanan/Tullock (1962, ch. 10) und Mueller (2003, S. 104127) behandelt. Die Beziehung Medien/Politik untersuchen Schulz/Weimann (1989) und Große Holtforth (2000), zur Bedeutung des Fernsehens siehe Kepplinger/Maurer (2005). Die politische Ökonomie der Makroökonomie behandelt Drazen (2000), die Rechtsprechung – bezogen auf die USA – Anderson (2001). Zur politischen Ökonomie wirtschaftspolitischer Beratung ist Kirchgässner (1998) und Frey/Kirchgässer (2002, S. 439ff.) heranzuziehen, siehe auch Berg/Cassel/Hartwig (Bd. 2, 2003, 4.4) und Priddat/Theurl (2004).

6. Kapitel Der Haushaltsplan und andere finanzwirtschaftliche Entscheidungsinstrumente 1. Der Haushaltsprozess in Deutschland a) Einleitung Die Finanzverfassung bestimmt den rechtlichen Rahmen, an den die staatlichen Institutionen in ihrem finanzwirtschaftlichen Verhalten gebunden sind. Es handelt sich hierbei u.a. um die Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung zwischen den Gebietskörperschaften, das Haushaltsrecht, die Grundlagen der Besteuerung und die Grenzen der Verschuldung. Die Finanzverfassung ist vergleichbar einem unvollständigen Vertrag zwischen Bürgern und ihren politischen Repräsentanten, bei dem die Zuweisung von Entscheidungs- und Kontrollrechten geregelt wird. Konkrete Umsetzungen sind die öffentlichen Haushalte oder Steuergesetze. Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig (Art. 109 GG). Selbständigkeit bedeutet, dass die Gebietskörperschaften im Rahmen der bundesverfassungsmäßigen Ordnung und damit auch ihrer jeweiligen Finanzausstattung je gesondert ihre eigenen Haushaltsmittel unter eigenverantwortlicher Gestaltungsfreiheit verplanen, bewirtschaften, abrechnen und kontrollieren. Es gibt also keine gemeinsame Aufstellung aller Haushalte. Selbständigkeit verlangt aber auch eine eigenverantwortliche nachhaltige Haushaltsführung, um nicht anderen Gebietskörperschaften zur Last zu fallen. Allerdings bestehen zwischen den Gliedern der bundesstaatlichen Gemeinschaft enge materielle Beziehungen, die die Selbständigkeit und Unabhängigkeit einschränken: die Regelung der Einnahmen-, Aufgaben- und Ausgabenverteilung in der Verfassung und insbesondere Gemeinschaftssteuern, Gemeinschaftsaufgaben, Finanzhilfen anderer Ebenen, Finanzausgleich und gemeinsame Gesetzgebung von Bund und Ländern. Beide müssen in ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung tragen. Ferner nimmt der Bundesrat als Bundesorgan zum Haushaltsgesetz des Bundes Stellung, und der Finanzplanungsrat hat eine koordinierende Aufgabe von Bund und Ländern1. Auch formell bestehen enge Beziehungen. So können durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden. So legt das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) die haushaltsrechtlichen Grundsätze für die Gesetzgebung des Bundes und der Länder fest. Sie sind z.B. für den Bund in der Bundeshaushaltsordnung (BHO) umgesetzt. Nach § 48 Abs. l HGrG sind die Länder aufgefordert, auch das kommunale Haushaltsrecht nach den Grundsätzen dieses Gesetzes zu regeln. 1

Die Koordinierungsfunktion ist gegenwärtig noch von geringer Bedeutung, dürfte aber längerfristig durchaus zunehmen.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

b) Kennzeichen und Bedeutung eines Haushaltsplans Die öffentliche Haushaltswirtschaft findet ihren Niederschlag im Haushaltsplan (auch Budget oder Etat genannt). Er ist die in regelmäßigen Abständen für einen bestimmten Zeitraum (Haushaltsjahr) vorgenommene systematische Darstellung der voraussichtlichen Ausgaben, Einnahmen und Verpflichtungsermächtigungen. Ein korrekt aufgestellter Haushaltsplan ist im buchhalterischen Sinne stets ausgeglichen (formaler Haushaltsausgleich). Das gilt auch dann, wenn ein Teil der zur Verfügung stehenden Mittel aus der Kreditaufnahme stammt. Es gibt aber Gründe darüber hinausgehend einen materiell ausgeglichenen Haushalt zu fordern, für den kreditfinanzierte Ausgaben1 (Haushaltsdefizit) nicht zulässig sind. Der Haushaltsplan wird als ein auf einen bestimmten Zeitraum bezogenes Gesetz (Art. 110 IV GG) vom Parlament verabschiedet2. In ihm wird der staatliche Mittelbedarf festgelegt: „Der Haushaltsplan dient der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs, der zur Erfüllung der Aufgaben des Bundes oder des Landes im Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist. Der Haushaltsplan ist die Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung“ (§ 2 HGrG, ebenso § 2 BHO). „Der Haushaltsplan ermächtigt die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen“ (§ 3 I HGrG, ebenso § 3 I BHO). So werden die administrative Zielsetzung (Festlegung der Haushalts- und Wirtschaftsführung) und die Kontrollfunktion des Budgets beschrieben. Durch seine gesetzliche Feststellung wird der Haushaltsplan für alle mittelbewirtschaftenden Verwaltungsstellen verbindlich. Die rechtliche Bindung der Exekutive an den Inhalt des Haushaltsplans schafft die Voraussetzung für eine wirksame Kontrolle durch Rechnungshof und Parlament. Die parlamentarische Kontrollfunktion des Haushaltsplans kennzeichnet die historische Wurzel des parlamentarischen Einflusses allgemein. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten (wer, wann, was) und die Bestimmung der Verantwortlichkeiten ist notwendig, um unkoordinierte, sich widersprechende und kaum kontrollierbare Entscheidungen der einzelnen Verwaltungen zu vermeiden. Das Budget ist auch und vor allem ein rechnerischer Niederschlag des Arbeitsprogramms der Regierung3, da die meisten staatlichen Maßnahmen in irgendeiner Form mit öffentlichen Einnahmen und Ausgaben verbunden sind. In § 2 HGrG ist eine finanzpolitische Ausrichtung mit der Formulierung angesprochen, dass den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen sei. Gemeint ist die Erfüllung allokativer, verteilungspolitischer und stabilisierungspolitischer Ziele. Um diese Funktionen zu erfüllen, also eine übersichtliche und rationale Handhabung der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten, werden bestimmte Anforderungen an die Haushaltssystematik gestellt. So muss die Kontrollfunktion die Zuständigkeiten und Kompetenzen sowie die Allokationsfunktion die Schwerpunktsetzungen erkennen 1 2 3

Vgl. zur Kreditfinanzierung den siebten Teil. Genauer: Er ist eine Anlage zum Haushaltsgesetz. Der Haushaltsplan der Gemeinden wird nicht durch Haushaltsgesetz, sondern durch Satzung festgelegt. An dem auch das Parlament mitwirkt.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

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lassen. Die Stabilisierungsfunktion wird in dem Maße beachtet, in dem Abweichungen vom „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ vermieden oder beseitigt werden. Der Beitrag zur Erfüllung verteilungspolitischer Ziele kommt in den voraussichtlichen Wirkungen des Budgets vor allem auf die Einkommens- und Vermögensverteilung in personeller und regionaler Hinsicht zum Ausdruck. Im Folgenden wird beispielhaft am Bundeshaushalt gezeigt, wie die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben in Deutschland haushaltsmäßig erfasst werden. c) Der Haushaltsplan des Bundes Der Haushaltsplan wird unter institutionellen Gesichtspunkten nach Ministerien oder Ressorts gegliedert (Ministerial- oder Ressortprinzip). Diese Unterteilung nach mittelbewirtschaftenden Stellen macht deutlich, dass es keine En Bloc-Bewilligung, also Bewilligung nur einer bestimmten Haushaltssumme gibt. Für jede oberste Bundesbehörde wird grundsätzlich ein Einzelplan (Epl) aufgestellt. Nur in Ausnahmefällen wird diese Gliederung nach Verwaltungen ersetzt durch eine nach sachlich zusammenhängenden Gruppen (Realprinzip). Es handelt sich um die Einzelpläne 32 Bundesschuld, 33 Versorgung und 60 Allgemeine Finanzverwaltung. Der Haushaltsplan weist regelmäßig mehr als 20 Einzelpläne auf, deren Zahl davon abhängt, wie viele Ministerien gebildet werden1 (vgl. Übersicht 6-1). Er beginnt mit Epl 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt und endet mit Epl 60 Allgemeine Finanzverwaltung. Der Hauptteil der Einnahmen wird im Epl 60 Allgemeine Finanzverwaltung (fast ausschließlich Steuern oder steuerähnliche Abgaben)2 und im Epl 32 Bundesschuld (Kreditaufnahme) verbucht. Für jeden Epl sind Einnahmen und Ausgaben zusammengestellt, die bei den Einzelplänen nicht übereinstimmen, da nur das Prinzip der Gesamtdeckung (Summe der Einnahmen aller Verwaltungen = Summe aller Ausgaben) gilt. Eine Zweckbindung einzelner Einnahmen für bestimmte Ausgaben ist grundsätzlich ausgeschlossen (NonAffektationsprinzip)3. Die einzelnen Ressorts erhalten also aus dem „Gesamttopf“ die für ihre veranschlagten Ausgaben erforderlichen Mittel. Zweckbindung beeinträchtigt die Effizienz der Haushaltsplanung, wenn so die Lenkung der Mittel auf die Zwecke höchster Priorität verhindert wird. Andererseits gibt sie eine Information über die konkrete Verwendung der Mittel. Zweckbindung kann die Ausgabentätigkeit fördern oder bremsen. Fordert man z.B. eine Vermögensteuer 1 2

3

Zuschnitt und Bezeichnung der Ministerien werden häufig nach Regierungswechseln verändert. Anlage 1 zu Epl 6001 weist nachrichtlich die an die EU weitergeleiteten Mittel (einschl. Zölle und Agrarabgaben) als Einnahmen und Ausgaben des Bundes nach. Sie werden bei Ermittlung der gesamten Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushalts nicht berücksichtigt. Entsprechend wird bei den Rückflüssen verfahren. Klassische Ausnahme ist die Rennwettsteuer, die zu 96 % den Rennvereinen zusteht und von diesen zur öffentlichen Leistungsprüfung der Pferde zu verwenden ist.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

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zur Finanzierung von Bildungsausgaben, werden im Haushalt die Opportunitätskosten aus der Verwendung der Mittel in anderen Ausgabenbereichen verschleiert. Bei Steuern mit konjunkturreagiblem, also unstetigem Aufkommen ist die gleichmäßige Versorgung mit spezifischen Leistungen unsicher. Übersicht 6-1 Gliederung des Bundeshaushaltsplans nach dem Ministerialprinzip Einzelpläne 01 02 03 04 05 06 07 08 09

Bundespräsident und Bundespräsidialamt Deutscher Bundestag Bundesrat Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Auswärtiges Amt Bundesministerium des Inneren Bundesministerium der Justiz Bundesministerium der Finanzen untergliedert in Kapitel Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 08 01 Bundesministerium 08 02 Allgemeine Bewilligungen 14 Bundesministerium der Verteidigung 08 03 Bundeszentralamt für Steuern 08 04 Bundeszollverwaltung 19 Bundesverfassungsgericht 20 Bundesrechnungshof 08 10 Bundeswertpapierverwaltung 32 Bundesschuld 60 Allgemeine Finanzverwaltung

Einnahmen und Ausgaben müssen grundsätzlich im Haushaltsjahr fällig und kassenwirksam werden (Fälligkeitsprinzip). Ausgaben haben die Bedeutung von Ausgabenermächtigungen für das betreffende Haushaltsjahr. Erst später kassenwirksame Ausgaben werden als Verpflichtungsermächtigungen bei den jeweiligen Ausgaben gesondert und im Anhang zu den Einzelplänen veranschlagt. Solche Ermächtigungen zum Eingehen von Verpflichtungen zur Leistung von Ausgaben in künftigen Jahren dürfen frühestens im nächsten Haushaltsjahr fällig werden. Sie ermöglichen rechtliche Bindungen für kommende Haushaltsjahre, müssen aber zum Zeitpunkt der Verpflichtung ausgewiesen werden, um die Belastung künftiger Haushaltspläne betragsmäßig zu zeigen. Die Einzelpläne sind nach Kapiteln und Titeln untergliedert. Diese Einteilung richtet sich nach Verwaltungsvorschriften über die Gruppierung der Einnahmen und Ausgaben (Gruppierungsplan). Die Bildung von Kapiteln orientiert sich primär am Verwaltungsaufbau. Es handelt sich hierbei um mehr oder weniger selbständige Teile eines Verwaltungszweigs. So sind etwa im Epl 08 des Bundesministeriums der Finanzen die in Übersicht 6-1 dargestellten (und weitere) Kapitel enthalten1. 1

So enthält das Kapitel 08 01 die das Ministerium selbst betreffenden Ausgaben.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

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Titel sind in der Haushaltssystematik die kleinsten haushaltstechnischen Einheiten1. Um eine Rechtseinheitlichkeit zu erreichen, ist die Darstellungsform der Titel für alle Gebietskörperschaften einheitlich geregelt. Der Titel umfasst den Zweck und den Geldansatz, ggf. werden die ihnen zugrundeliegenden Bestimmungen und Annahmen erläutert. Auf der Ebene der Kapitel gibt es auch Globalhaushalte (En BlocBewilligungen) beispielsweise für Universitäten oder Akademien, die dann mehr oder weniger selbst über die Positionen auf der Ebene der Titel entscheiden. Übersicht 6-2 zeigt die Hauptgruppen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite. Die Hauptgruppen werden nach Obergruppen und Gruppen aufgegliedert, so dass sich zunächst eine dreistellige Titelnummer (bei einheitlicher Systematik für Bund und Länder) ergibt. Darüber hinaus können zusätzliche Ziffern verwendet werden. So enthält Hauptgruppe 4 beispielsweise: in Obergruppe 41 Aufwendungen für Abgeordnete und ehrenamtlich Tätige, 42 Bezüge und Nebenleistungen, Gruppe 421 Bezüge des Bundespräsidenten, Bundeskanzlers und anderer Regierungsmitglieder, Gruppe 422 Bezüge usw. der Beamten und Richter, 423 Bezüge usw. der Soldaten, 424 Zuführung an die Versorgungsrücklage und in 43 Versorgungsbezüge. Übersicht 6-2 Gruppierungsplan Hauptgruppen der Einnahmenseite: 0 1 2 3

Einnahmen aus Steuern und steuerähnlichen Abgaben Verwaltungseinnahmen, Einnahmen aus Schuldendienst und dgl. Einnahmen aus Zuweisungen und Zuschüssen für laufende Zwecke Einnahmen aus Schuldenaufnahmen, aus Zuweisungen und Zuschüssen für Investitionen, besondere Finanzierungseinnahmen.

Hauptgruppen der Ausgabenseite: 4 5 6 7 8 9

Personalausgaben Sächliche Verwaltungsausgaben, militärische Beschaffungen usw., Ausgaben für Schuldendienst Ausgaben für Zuweisungen und Zuschüsse mit Ausnahme für Investitionen Baumaßnahmen Sonstige Ausgaben für Investitionen und Investitionsförderungsmaßnahmen Besondere Finanzierungsausgaben.

Der Gruppierungsplan folgt primär gesamtwirtschaftlichen Kriterien und passt sich der Gliederung der Staatseinnahmen und -ausgaben in den VGR an2. Hierdurch ist es möglich, die wichtigsten Daten für den Staat relativ leicht zu ermitteln und z.B. in Prognosen der gesamtwirtschaftlichen Kreislaufströme einzubeziehen. Die Positionen

1

2

Der Bundeshaushalt 2008 umfasst ca. 5500 Ausgabetitel, davon bilden die 4000 kleinsten Titel etwa 3,7 % des Haushaltsvolumens ab und ca. 3100 Titel sind flexibilisiert, also untereinander deckungsfähig (Monatsbericht des BMF, Oktober 2008, S. 43). Allerdings gibt es zwischen der Darstellung im Gruppierungsplan (dem die Finanzstatistik folgt) und den VGR die im 2. Kapitel genannten Unterschiede.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

der Hauptgruppen 6-8 gelten als Investitionen1. Unter die Hauptgruppe 8 fallen recht unterschiedliche zu den Investitionen (nicht immer im Sinne der VGR) rechnende Tatbestände: 81 Erwerb von beweglichen Sachen, 82 Erwerb von unbeweglichen Sachen, 83 Erwerb von Beteiligungen und dgl., 85 Darlehen an öffentlichen Bereich, 86 Darlehen an sonstige Bereiche, 87 Inanspruchnahme aus Gewährleistungen, 88 Zuweisungen für Investitionen an öffentlichen Bereich und 89 Zuschüsse für Investitionen an sonstige Bereiche. Zur weiteren Beschreibung weisen die einzelnen Titelnummern auch eine Kennziffer nach dem Funktionenplan auf, mit der eine Brücke zwischen den Ressortbewilligungen und den Mitteln für einzelne Programme gebildet werden soll. Der Funktionenplan gliedert die Einnahmen und Ausgaben nach Aufgabengebieten. Er sieht folgende, noch weiter untergliederte Hauptfunktionen2 vor: Übersicht 6-3 Funktionenplan 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Allgemeine Dienste Bildungswesen, Wissenschaft, Forschung, kulturelle Angelegenheiten Soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgeausgaben, Wiedergutmachung Gesundheit, Sport und Erholung Wohnungswesen, Raumordnung und kommunale Gemeinschaftsdienste Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Energie- und Wasserwirtschaft, Gewerbe, Dienstleistungen Verkehrs- und Nachrichtenwesen Wirtschaftsunternehmen, allgemeines Grund- und Kapitalvermögen, Sondervermögen Allgemeine Finanzwirtschaft

Aufgabe dieser Gruppierung ist es, dem gleichen Zweck dienende, aber häufig auf mehrere Verwaltungen verteilte Einnahmen3 und Ausgaben zusammenzufassen. Hierdurch ergibt sich das funktional gegliederte Budget. Es ist aber nur begrenzt aussagekräftig, da die Zuordnung der Haushaltsmittel nach Aufgabenbereichen oft recht willkürlich ist. Sie ist auch nicht die Grundlage der Haushaltsplanung, sondern wird nachträglich durch Umrechnung ermittelt. Der Haushaltsplan besteht aus dem Gesamtplan und den beschriebenen Einzelplänen4. Der Gesamtplan soll den Überblick über den Haushalt erleichtern und enthält zu diesem Zweck die Haushaltsübersicht, die Finanzierungsübersicht und den Kreditfinanzierungsplan und eine

1 2 3 4

Sie waren für die Beurteilung der Umsetzung der alten Fassung des Art. 115 GG von Bedeutung, der die Kreditaufnahme auf die Höhe der Investitionen beschränkte (vgl. Kapitel 25.2). Zur weiteren Untergliederung siehe z.B. Bundeshaushaltsplan 2010, Funktionenübersicht. In den letzten Jahren wurden rund 90% der Einnahmen bei der Funktion 9 (Allgemeine Finanzwirtschaft) geplant. Als Abschluss des jeweiligen Einzelplans erfolgt eine tabellarische Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben, gegliedert nach den wichtigsten Einnahmen-/Ausgabenarten, sowie eine gesonderte Darstellung der flexibilisierten Ausgaben, ferner eine Übersicht über die Verpflichtungsermächtigungen und ihre Kassenwirksamkeit (Fälligkeit) sowie des Personalhaushalts des Einzelplans.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

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Zusammenstellung der flexibilisierten Ausgaben. Die Haushaltsübersicht ist eine Zusammenfassung der Einzelpläne. Die Einnahmen und Ausgaben der Ressorts werden auch hier nach Hauptgruppen ausgewiesen. Anlage zur Haushaltsübersicht ist die Übersicht über die Verpflichtungsermächtigungen im Bundeshaushaltsplan und deren Fälligkeiten. Die Finanzierungsübersicht stellt die Ausgaben (ohne Ausgaben zur Schuldentilgung am Kreditmarkt, Zuführungen an Rücklagen und Ausgaben zur Deckung eines kassenmäßigen Fehlbetrags) den Einnahmen (ohne Einnahmen aus Krediten vom Kreditmarkt, Entnahmen aus Rücklagen, Einnahmen aus kassenmäßigen Überschüssen und Münzeinnahmen) gegenüber. Die Differenzgröße Finanzierungssaldo (im Sinne des Haushaltsrechts bzw. der Finanzstatistik) wird auch nach ihrer Zusammensetzung1 nachgewiesen. Der Kreditfinanzierungsplan gibt Aufschluss über die geplanten Kredittransaktionen. Der Haushaltsplan enthält ferner verschiedene Übersichten als Anlagen: In der Gruppierungsübersicht werden die Einnahmen und Ausgaben nach den oben genannten zehn Einnahme- und Ausgabegruppen zusammengefasst dargestellt (siehe beispielsweise Bundeshaushaltsplan 2010, Gruppierungsübersicht). In der Funktionenübersicht wird das funktional gegliederte Budget zusammengefasst dargestellt und gezeigt, wie viele Haushaltsmittel insgesamt für die einzelnen Aufgaben geplant sind. Im Haushaltsquerschnitt werden die Funktionen- und die Gruppierungsübersicht in einer Matrix zusammengefasst. Hier sind die Einnahmen und Ausgaben nach beiden Kriterien übersichtlich zu ermitteln. Die Übersicht über die den Haushalt durchlaufenden Posten enthält solche Einnahmen und Ausgaben, die vom Bund für einen anderen vereinnahmt und in gleicher Höhe an diesen weitergeleitet werden, ohne dass der Bund an der Bewirtschaftung dieser Mittel beteiligt ist bzw. bei der Verwendung dieser Mittel in irgendeiner Form mitwirkt. Ferner wird eine Personalübersicht erstellt. Darin sind die Planstellen in gleicher Weise wie die Haushaltsmittel nach Einzelplänen aufgeschlüsselt.

Nachrichtlich zum Haushaltsplan wird schließlich der sog. Bürgschaftsrahmen mit Angaben über Umfang und Struktur der vom Staat übernommenen Bürgschaften angefügt. Bürgschaften erscheinen nur dann im Haushalt, wenn sie zu Zahlungen führen. d) Der Haushaltskreislauf Jeder öffentliche Haushalt durchläuft verschiedene gesetzlich vorgeschriebene Phasen (Haushaltskreislauf oder Budgetzyklus). Sie beginnen mit der Initiative, bestimmte Ausgaben zu tätigen (und Einnahmen zu erheben), führen zu Gesetzgebung und Ausführung und enden mit der Kontrolle der tatsächlichen Verausgabung und der Entlastung. In den einzelnen Phasen des Haushaltskreislaufs „wechseln Art und Träger der Entscheidungen, wobei in der Regel einerseits die Exekutive (Regierung, Verwaltung) den Haushaltsplanentwurf aufstellt und den festgestellten Plan ausführt, andererseits die Legislative den Entwurf berät und votiert sowie nach erfolgter Abrechnung die Entlastung erteilt“ (Senf 1977, S. 378).

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Einnahmen aus Krediten vom Kreditmarkt und Ausgaben zur Schuldentilgung am Kreditmarkt durch Kredite vom Kreditmarkt.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Tatsächlich laufen verschiedene Abschnitte der einzelnen Jahreshaushalte nebeneinander: So wurden z.B. im Jahre 2010 die Entwürfe für 2011 und 2012 vorbereitet, der Haushaltsplan 2010 wurde (bei den Nachtragshaushalten parlamentarisch beraten und) vollzogen, die vorhergehenden Haushaltspläne 2007, 2008 und 2009 erfuhren ihre Abrechnung und die Kontrolle durch Rechnungshof und Parlament. Der gesamte Haushaltskreislauf erstreckt sich regelmäßig über vier oder mehr Jahre. Bei der Aufstellung der Voranschläge zum Entwurf des Haushaltsplans, bei der Bewirtschaftung der Haushaltsmittel und bei der Rechnungslegung sind bestimmte Anforderungen zu erfüllen, die als Haushaltsgrundsätze bezeichnet werden. Sie haben sich über lange Zeiträume herausgebildet und sind heute u.a. in Verfassung (Art. 110-112 GG), HGrG und BHO formuliert. Wichtige Haushaltsgrundsätze sind Vollständigkeit und Einheit (alle Einnahmen und Ausgaben sind in der erwarteten und geplanten Höhe zu veranschlagen), ferner Bruttoprinzip, qualitative, quantitative und zeitliche Spezialität, Öffentlichkeit, Genauigkeit, Klarheit und Wahrheit. Auch stellt Art. 115 GG bestimmte strukturelle Anforderungen: Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten (siehe hierzu Kapitel 24.2). Das Bruttoprinzip lässt Saldierungen von Einnahmen und Ausgaben nur in begründeten Sonderfällen (Nettokreditaufnahme, Ergebnis der wirtschaftlichen Tätigkeit öffentlicher Unternehmen) zu und ermöglicht so ein Bild von Zustand und Entwicklung der jeweiligen Staatsfinanzen1. (1) Die Aufstellung des Haushaltsplans Für die Budgetinitiative, d.h. die Aufstellung des Haushaltsentwurfs ist die Exekutive zuständig. Man spricht daher auch von einem Exekutivbudget. Dieses Fehlen eines „Legislativbudgets“ ist nicht nur für den Bund typisch, sondern auch für die Länder und Gemeinden der Bundesrepublik und für andere Staaten. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Ausgabeninitiativen vom Parlament kommen. Das Haushaltsverfahren beginnt mit dem Erstellen des Haushaltsentwurfs meist vor dem betreffenden Haushaltsjahr. Grundlage sind die Projektionen der voraussichtlichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die vom „Arbeitskreis Steuerschätzung“ durchgeführten Schätzungen der zu erwartenden Steuereinnahmen2. Konkrete finanzpolitische Ziele werden nicht vorgegeben. Allerdings werden mit Beginn der Planung

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Daher kann man auch nicht das Zusatzaufkommen z.B. aus einer Erhöhung der Mineralölsteuer, mit dem bestimmte Ausgaben (Zuweisung an die Rentenversicherung) finanziert werden sollen, als durchlaufenden Posten behandeln. Zwar wird durch eine derartige Budgetverlängerung die Höhe des Defizits im Haushalt „nicht tangiert, wohl aber das Ausgabenvolumen. Mit ähnlicher Begründung könnte man andere ‚durchlaufende Posten’ konstruieren und auf diese Weise jede beliebig niedrige Steigerungsrate der Ausgaben ‚nachweisen’. Öffentliche Einnahmen sind im Prinzip immer durchlaufende Posten, sie dienen nämlich ausschließlich der Finanzierung der Gesamtausgaben des Staates“ (Sachverständigenrat, JG 1999/2000, Tz. 289). Zur Steuerschätzung siehe Kapitel 14.6.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

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für das Haushaltsjahr 2012 wichtige Eckwerte des Haushalts vorab verbindlich durch das Bundeskabinett vorgegeben. Diese legen die Größe des Budgets und seine Verteilung auf die Ressorts fest. Die Haushaltsreferate der untersten Verwaltungsstellen haben bis zum Haushalt 2011 (zusammen mit den ggf. erwarteten Einnahmen) ihre Bedarfsanmeldungen, die weitgehend auf den Anforderungen des Vorjahres unter Erhöhung um einen Zuschlag bestanden, an die nächsthöheren Verwaltungsstellen weiter geleitet (sog. Bottom-Up-Ansatz), bei denen jeweils eine Koordination zwischen den verschiedenen Ausgabenwünschen erfolgte. In der Regel waren Kürzungen zu erwarten. Nun müssen die für den jeweiligen Einzelplan zuständigen Stellen dafür sorgen, dass die Vorgaben in den Eckpunkten eingehalten werden. Ihren Entwurf leiten sie an den Bundesrechnungshof ggf. zur Stellungnahme weiter. In Verhandlungen mit dem jeweiligen Ressort sind nur noch Details mit dem Finanzministerium zu klären. Mitte des Jahres entscheidet das Kabinett über den Haushaltsentwurf. Bei einem rekurrenten Anschluss „an die Bewilligungen des Vorjahres sind die Entscheidungsbasis und deren Struktur automatisch vorgegeben. Bei dem Kampf um die Zuschläge, der nicht nur zwischen den einzelnen Ressorts, sondern auch zwischen den einzelnen Verwaltungszweigen innerhalb des gleichen Ressorts entbrennt, zeigt sich dann immer wieder, daß die Verwaltung keine ,neutrale‘ Institution darstellt, sondern eigene Präferenzen hat und danach strebt, ihr eigenes Budget zu maximieren, wobei höchst subjektiv begründete Rollenerwartungen die Verhaltensweisen bestimmen“ (Senf 1977, S. 362). Es muss sich zeigen, was sich an dieser Praxis verändern und wie die besondere Stellung des Finanzministeriums ausfallen wird. Im Haushalt 2011 hat es nach Prüfung der Voranschläge den Entwurf des Haushaltsplans unter eigener Verantwortung aufgestellt1. So kann das Ministerium Anmeldungen, die es nicht für begründet hält, „nach Benehmen“ mit den beteiligten Stellen, also auch ohne Zustimmung der betreffenden Ressortvertreter ändern. Zudem gilt: „Über Angelegenheiten von grundsätzlicher oder erheblicher finanzieller Bedeutung kann der zuständige Bundesminister die Entscheidung der Bundesregierung einholen. Entscheidet die Bundesregierung gegen oder ohne die Zustimmung des Bundesministers der Finanzen, so steht ihm ein Widerspruchsrecht zu“ (§ 28 II BHO). Nachdem der Haushaltsentwurf (zusammen mit dem mittelfristigen Finanzplan2) beschlossen wurde, verlässt er die Phase der Exekutive, wird dem Bundesrat zugeleitet und ist im Bundestag in der Regel spätestens in der ersten Sitzungswoche des Bundestages nach dem 1. September einzubringen. Dem Regierungsentwurf liegt der Finanzbericht bei, in dem der Finanzminister den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung darstellt.

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Auch für den Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) ist das Bundesfinanzministerium als oberste Finanzbehörde zuständig. Dessen eigener Einzelplan 08 bleibt aber hiervon getrennt. Die mittelfristige Finanzplanung wird unter 6.2.c) dargestellt.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

(2) Die parlamentarische Beratung und Verabschiedung Dem Parlament bleiben für die Beratungen bis zur Feststellung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz rechtzeitig vor Beginn des Haushaltsjahres allenfalls drei Monate. Die Einhaltung dieser knappen Frist ist die Ausnahme. Im Grundgesetz ist vorgeschrieben, dass der Haushaltsplan vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird („Vorherigkeit“). Damit soll der Verwaltung im Voraus ihr finanzwirtschaftliches Verhalten vorgeschrieben werden, was auch für die vorherige Kontrolle, umfassende politische Verantwortung, bewusste Gestaltung und formelle Ordnung im Finanzwesen wichtig ist. Wenn die Vorherigkeit des Haushaltsplanes nicht eingehalten wird1, hat die Bundesregierung ein Nothaushaltsrecht. Die Exekutive ist nach Art. 111 GG ermächtigt, bis zur Verkündung des Haushaltsgesetzes alle Ausgaben zu leisten, die zur Aufrechterhaltung der Haushaltsführung „nötig“, d.h. zeitlich und sachlich unaufschiebbar sind und für bestimmte Zwecke geleistet werden. Zu ihrer Deckung können auch Kredite bis zu einem Viertel der im abgelaufenen Haushaltsjahr veranschlagten Summe aufgenommen werden. Der Finanzminister erlässt rechtzeitig vor Beginn des Haushaltsjahres Verwaltungsvorschriften zur vorläufigen Haushalts- und Wirtschaftsführung und ermächtigt die obersten Bundesbehörden Ausgaben zu leisten. Es werden Prozentsätze der Einzelplanentwürfe nach dem jeweiligen Beratungsstand für einen bestimmten Zeitraum genannt (z.B. 10% bis 28.2.20..). Die erste Lesung im Bundestag wird durch die Haushaltsrede des Finanzministers eröffnet, in der er die gesamtwirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Situation erläutert. Anschließend kommt es regelmäßig zu einer Generaldebatte über die Regierungspolitik ohne besonderen Bezug auf den Regierungsentwurf. Nach der ersten Lesung im Bundestag wird der Haushaltsentwurf mit möglichen Stellungnahmen des Bundesrates und der Bundesregierung hierzu an den Haushaltsausschuss des Bundestages verwiesen. Dort wird der Entwurf Titel für Titel überprüft. Dabei wirken auch der Finanz- und der Wirtschaftsausschuss mit. Das Ergebnis der Beratungen wird in einem Bericht an das Plenum festgehalten. In den Ausschussberatungen haben alle Ministerialvertreter die Kabinettsvorlage gegenüber Änderungswünschen der Ausschussmitglieder zu verteidigen. Teilweise werden die Ausschussmitglieder durch „Experten“, d.h. häufig Interessenvertreter

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Der größte Verstoß gegen die Vorherigkeit erfolgte im Zusammenhang mit dem Bundeshaushaltsplan 1972. Er wurde am 15.12.1972 in 1. Lesung im Bundestag beraten und am 29.12.1972 im Bundesgesetzblatt verkündet. Auf Landesebene gibt es noch schlimmere Beispiele. So wurde gar nicht erst der Versuch unternommen, den hessischen Haushalt 1983 (vorher, geschweige denn noch) im selben Jahr im Parlament zu verabschieden. Grund war in beiden Fällen die fehlende Mehrheit im Parlament. Späte Wahltermine sind ein anderer Grund. Beim Bund treten Verzögerungen gelegentlich durch ein vom Bundesrat beantragtes Vermittlungsverfahren auf.

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ihrer Parteien für jeweilige Sachbereiche, ersetzt. Über sie kommt hier die Lobby zurWirkung. Durch die Verlagerung der parlamentarischen Beratung und Willensbildung in Ausschüsse lässt sich von außen nicht nachvollziehen, wie die Kompromisse zwischen politischen Parteien, Parlamentariern und Vertretern der einzelnen Ressorts zustande gekommen sind, „welche Titel- und Kapitelkoalitionen sich quer durch die Parteien bilden und welche außerparlamentarischen Einflüsse sich noch Geltung verschaffen“ (Senf 1977, S. 386). Die starke Stellung der Regierung bei der Haushaltsaufstellung kommt darin zum Ausdruck, dass ohne ihre Zustimmung der Haushalt nur begrenzt verändert werden kann: „Gesetze, welche die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplanes erhöhen oder neue Ausgaben in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen, bedürfen der Zustimmung der Bundesregierung. Das gleiche gilt für Gesetze, die Einnahmeminderungen in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen. Die Bundesregierung kann verlangen, dass der Bundestag die Beschlussfassung über solche Gesetze aussetzt. In diesem Fall hat die Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen dem Bundestag eine Stellungnahme zuzuleiten“ (Art. 113 I GG). In der zweiten und dritten Lesung stehen die verschiedenen Einzelpläne zur Debatte. Inzwischen legt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein Jahresgutachten vor, der Finanzplanungsrat tagt, die gesamtwirtschaftliche Vorausschätzung und die Steuerschätzung werden überprüft1. Ob und wie das Parlament den Haushaltsentwurf der Regierung verändert, hängt vom Verhältnis beider Institutionen ab. In Deutschland besteht die Regierung aus Vertrauenspersonen der Parlamentsmehrheit und über Fraktionsvorsitzende und Parlamentarische Staatssekretäre eine enge Beziehung zwischen Regierung und Parlament; hier wird die Gestaltungs- und Kontrollfunktion durch das Parlaments nur eingeschränkt wahrgenommen. Eingeschränkt werden die Entscheidungsspielräume des Parlaments (und die Kontrolle der Regierung) auch durch die Existenz von Schattenhaushalten. Sie entstehen neben den öffentlichen Haushalten durch Verlagerung öffentlicher Aktivitäten aus dem (Kern-) Budget. So wird gegen die der Transparenz dienenden Haushaltsgrundsätze der Vollständigkeit und Einheit verstoßen (z.B. Fonds „Deutsche Einheit“). Häufig liegt eine „Flucht aus dem Budget“ vor, um Konsolidierungsanstrengungen vorzutäuschen. Weitere Beispiele „kreativer Buchführung“ und der Verstöße gegen die Grundsätze der Klarheit und Wahrheit zeigen die Kästchen.

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Sofern die letzte Lesung erst im Frühjahr (also bereits im Haushaltsjahr) stattfindet, hat die Bundesregierung auch ihren Jahreswirtschaftsbericht mit Stellungnahme zum im Vorjahr erstellten Gutachten des Sachverständigenrates vorgelegt.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Beispiel 6-1 Möglichkeiten kreativer Buchführung und Gestaltungstricks Wie korrekt ist der Haushaltsentwurf? Nach den Grundsätzen der Genauigkeit und Klarheit darf der Entwurf nur die realistischerweise zu erwartenden Einnahmen und die voraussichtlich zu leistenden Ausgaben enthalten. Fehler dürfen zwar bei der Planung gemacht werden, nur keine systematischen Verzerrungen oder bewussten Fehldarstellungen. Tatsächlich ist die Kreativität in Haushaltsgestaltung und Fehldarstellungen groß. S Grundsätzlich sieht ein Defizit kleiner aus, wenn die Einnahmen größer/oder die Ausgaben kleiner angesetzt werden. S Die Budgetplanungen unterliegen häufig bewusst zu optimistischen Einschätzungen, die sich bei der Steuerschätzung in überhöhten Annahmen zum Wachstum zeigen. Auch Zeitpunkte der Einnahmen und Ausgaben können zu günstig interpretiert oder in der Phase des Vollzugs verschoben werden. S Kassenkredite werden unzulässigerweise als reguläre Einnahmen verwendet. S Grenzen der Verschuldung werden bewusst umgangen durch Veranschlagung von Investitionen, die später nicht realisiert werden sollen (Problem bei alter Fassung des Art. 115 GG). S Privatisierungserlöse und Bundesbankgewinne werden überhöht geschätzt. S In den Haushalt werden „globale Minderausgaben“ eingestellt. Hierbei wird nicht festgelegt, in welchen Ministerien welche Ausgaben eingespart werden sollen. Ob der Finanzminister tatsächlich versucht und ob es ihm gelingt, im Kabinett Kürzungen durchzusetzen, ist offen. S Einnahmen aus dem Abbau von Steuervergünstigungen oder aus Steuererhöhungen werden angesetzt, deren Realisierung unwahrscheinlich ist. S Zuschüsse z.B. an die Bundesagentur für Arbeit oder andere Transfers werden zu gering angesetzt, indem die Zahl der Arbeitslosen besonders niedrig angenommen wird. Entsprechend fallen auf der anderen Seite die geschätzten Beitragseinnahmen überhöht aus. Zuschüsse können auch in Kredite umgewandelt werden. S Durch Verlagerung in außerbudgetäre Aktivitäten, beispielsweise auf öffentliche Unternehmen, darunter die Kreditanstalt für Wiederaufbau, oder auf Fonds werden erforderliche staatliche Einnahmen verschleiert und/oder es wird verhindert, dass Ressourcen der Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit unterworfen werden („Underground Government“)1. So kann auch hier ein Kreditaufnahmeverbot umgangen werden. S Langfristige Projekte werden kurzfristig finanziert und eine für die Refinanzierung günstige Kapitalmarktsituation unterstellt. S Selbstfinanzierungszwecke steuerpolitischer Maßnahmen werden in die Planungen einbezogen.

Der Bundestag beendet unter Einbeziehung des Bundesrates mit der Verabschiedung des Haushaltsplans diese Phase des Haushaltskreislaufs. Der Einfluss des Bundesrates kann dann bedeutsam werden, wenn er den vom Bundestag verabschiedeten zustimmungsbedürftigen Gesetzen (z.B. bei Veränderung der Einkommensteuer) seine Zustimmung verweigert. In diesem Fall kann der aus je elf Mitgliedern des Bundestages und Bundesrates besetzte Vermittlungsausschuss einberufen werden. Er kann weitreichende Beschlüsse fassen, die Kompromisse zwischen Bundestag und Bundes-

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So sind die Rundfunkanstalten an verschiedensten Unternehmen beteiligt, die die Rechnungshöfe (umstritten) nicht kontrollieren können. Bei Sondervermögen sind die Ein- und Ausgaben, außer den Zuführungen und Ablieferungen, aus dem Hpl der Gebietskörperschaften ausgegliedert.

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Beispiel 6-2 Transparenz und Öffentlichkeit: Das Beispiel Stiftungsfinanzierung Die einzelnen die Parteien begünstigenden staatlichen Förderprogramme sind hinsichtlich Verbuchung und vor allem Entscheidungsprozess unterschiedlich transparent. Unmittelbar den Parteien zufließende Gelder werden im Parteiengesetz geregelt. Die Höhe der Zuschüsse an die Fraktionen legt das Gesetz über Rechtstellung und Finanzierung der Fraktionen fest. Weniger transparent ist allerdings die Staatsfinanzierung der parteinahen Stiftungen. So wurde z.B. in nichtöffentlichen Ausschussberatungen über den Bundeshaushalt 1999 festgelegt, auch der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung Mittel zuzuweisen. Grundlage war „ein Plan, auf den sich zuvor bereits die Stiftungen untereinander, wohlgemerkt die Empfänger der staatlichen Zuwendungen, im Rahmen der hier auch sonst üblichen ‚Konsensgespräche’ geeinigt hatten“. Diese sog. Globalzuschüsse zur gesellschaftspolitischen und demokratischen Bildungsarbeit machten mit etwa 200 Mio. DM aber nur rund ein Drittel der gesamten Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt aus. Hinzu kamen die projektbezogenen Zuschüsse, die in sechs Einzelplänen und neun verschiedenen Titeln des Haushaltsplans versteckt sind. „Oft ist aus den Titeln noch nicht einmal ersichtlich, dass es sich hierbei um Gelder handelt, die in die Kassen der Stiftungen fließen. Insgesamt etwa 610 Mio. DM wurden in diesem Jahr nach einem intern abgesprochenen, aber nirgendwo veröffentlichten Schlüssel auf die Stiftungen verteilt“. 1966 hat das Bundesverfassungsgericht Zuschüsse zur Förderung der politischen Bildungsarbeit der Parteien für verfassungswidrig erklärt. Fortan bedienten sich die Parteien des Instruments der politischen Stiftungen. „Da die Arbeit der Stiftungen naturgemäß auch den jeweiligen Mutterparteien zugute kommt, haben diese ein vehementes Interesse daran, die Mittel auszuweiten. Hinzu kommt, dass die im Bundestag vertretenen Parteien hier in eigener Sache entscheiden, gegenläufige politische Interessen als korrigierendes Element also regelmäßig fehlen. Und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit wird durch die totale Intransparenz der Finanzierung ausgeschaltet“. Zu fragen ist also, ob die Aufgaben unbedingt von parteinahen Stiftungen wahrgenommen oder überhaupt aus Staatsmitteln finanziert werden müssen. „Dem hetorogenen Aufgabenspektrum der Stiftungen, von der Entwicklungshilfe über die wissenschaftliche Forschung und Politikberatung bis hin zur Unterhaltung von Archiven, scheinen weniger strukturelle Überlegungen zugrunde zu liegen, als vielmehr die Tatsache, dass es hierfür öffentliche Gelder gibt“. Dies spricht für ein Gesetz, dass die Stiftungsfinanzierung den gleichen Transparenzanforderungen und Begrenzungen unterwirft wie die Parteienfinanzierung. Quelle: Der Steuerzahler (1999), S. 106.

rat darstellen und in der Regel von beiden Gremien nicht mehr abgelehnt werden. Begründungen für die gefundenen Kompromisse werden nicht gegeben – auch nicht im Plenum des Bundestages, bevor dieser über die Vermittlungsvorschläge abstimmt. Die Bedeutung des Vermittlungsausschusses ist besonders groß, wenn Bundestag und Bundesrat unterschiedliche Parteienmehrheiten haben. (3) Die Ausführung des Haushaltsplans Der Haushaltsplan wird durch Gesetz festgestellt und ist prinzipiell vollzugsverbindlich. Er wird von der Verwaltung ausgeführt. Diese ist ermächtigt, aber nicht verpflichtet, die Bewilligungen voll auszuschöpfen. Die Exekutive ist gehalten, „wirtschaftlich und sparsam“ zu verfahren. Sie darf die Haushaltsmittel grundsätzlich nicht

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

überschreiten (Grundsatz der quantitativen Spezialität), nur für den bewilligten Zweck (Grundsatz der qualitativen Spezialität) und nur innerhalb des Rechnungsjahres verwenden (Grundsatz der zeitlichen Spezialität)1. Unter verschiedenen Bedingungen können sich die Haushaltsansätze als nicht ausreichend oder nicht wünschenswert erweisen. Hierfür gibt es bestimmte Regelungen: S Die Änderung eines noch nicht verkündeten Haushaltsplans erfolgt durch einen Ergänzungshaushalt. S Durch den Nachtragshaushalt kann ein bereits verkündeter Haushaltsplan in der Abschlusssumme oder Zusammensetzung geändert werden. Der parlamentarische Ablauf ist hierbei grundsätzlich wie beim Haushaltsgesetz selbst, allerdings ist das Verfahren beschleunigt. Nachtrag und ursprünglicher Haushaltsplan verschmelzen während der Ausführung und in der Haushaltsrechnung zu einer Einheit. S Mit vorheriger Zustimmung des Finanzministers sind bei „unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnissen“ Haushaltsüberschreitungen zulässig. Dann können bis zur Einbringung eines Nachtragshaushalts außerplanmäßige Ausgaben, für die im Haushaltsplan kein Zweck vorgesehen ist, und überplanmäßige Ausgaben, die die ausgesprochenen Bewilligungen überschreiten, getätigt werden. S Aus konjunkturpolitischen Gründen ermöglicht das Stabilitätsgesetz der Regierung im Falle einer Rezession mit Zustimmung des Bundestages zusätzliche, im Haushaltsplan nicht vorgesehene Ausgaben zu leisten.

Auch nachträgliche Eingriffe in die Inanspruchnahme der im Haushalt ursprünglich bewilligten Ausgaben- und Verpflichtungsermächtigungen sind möglich. Wenn die Entwicklung der Einnahmen oder Ausgaben es erfordert (§ 41 BHO) und so der gegenwärtige und/oder künftige Haushaltsausgleich gefährdet erscheint oder auch unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten (§ 6 Abs. l StWG) kann der Finanzminister eine haushaltswirtschaftliche Sperre über bestimmte Titel oder eine global bestimmte Verfügungssumme bei den Einzelplänen verfügen. Es hängt von seiner Einwilligung ab, ob die mittelbewirtschaftenden Stellen Verpflichtungen eingehen oder Ausgaben leisten dürften2. Die Inanspruchnahme von Haushaltsmitteln ist ferner nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Deckungsmittel möglich. Der Finanzminister hat auf Einklang zwischen den Auszahlungen und dem Zufluss der Einzahlungen zu achten. Im Wege der Betriebsmittelzuweisung kann er daher nach der Kassenentwicklung, aber auch unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten, die Ermächtigungen für Auszahlungen der zuständigen Ressorts steuern3.

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Diese und weitere Grundsätze der Haushaltsführung sind in den §§ 34-69 BHO enthalten. Anstelle der publikumswirksamen Haushaltssperre kann der Finanzminister auch einen Genehmigungsvorbehalt aussprechen. Auch diese Möglichkeit der Steuerung von Höhe und Zeitpunkt der notwendigen Auszahlungen der Behörden trägt prinzipiell zur starken Stellung des Finanzministers bei.

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Ausnahmen von der qualitativen Spezialität, d.h. der Ausgabenermächtigung nur für einen genannten Zweck, sind bei Titeln möglich, die im Haushaltsplan als gegenseitig deckungsfähig erklärt werden. Auch unter zeitlichen Aspekten können Ausgaben verschoben werden. Das gilt für übertragbare Ausgaben, die als Ausgabenreste über das Rechnungsjahr hinaus verfügbar bleiben. Zur Kontrolle der Bewirtschaftung müssen alle nachgeordneten Behörden regelmäßig über ihre Ausgaben und Verwaltungseinnahmen in Haushaltsüberwachungslisten berichten. Auf diese Weise hat der Finanzminister ständig einen nach Verwaltungen und Titeln zusammengefassten Überblick über den Stand der Haushaltsführung. Ferner kann er nach Ende des Haushaltsjahres die Haushaltsrechnung zur Entlastung der Bundesregierung schnell aufstellen und Bundestag und Bundesrechnungshof übersenden. Die Haushaltsrechnung weist das Ist-Ergebnis der Haushaltswirtschaft nach. Sie zeigt, wie die durch den Haushaltsplan festgelegten Ansätze („Soll“) in der Praxis eingehalten wurden. Sie bildet die rechnerische Grundlage für den Soll-Ist-Vergleich als einem Teil der Finanzkontrolle. Die Haushaltsausführung ist getrennt nach sachlicher Kompetenz und kassenmäßigem Vollzug. Während die sachlich zuständigen Stellen die Einnahmen und Ausgaben anordnen und die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen tragen, besorgt die Kassenverwaltung die Durchführung der daraus entstehenden Kassengeschäfte. (4) Die Kontrolle der Haushaltsführung Der Schwerpunkt der Haushaltskontrolle liegt nicht bei der behördeninternen, mitschreitenden Überwachung des Haushaltsvollzugs, sondern bei der nachträglichen Kontrolle durch den Bundesrechnungshof. Seine Rechnungsprüfung umfasst die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes einschließlich seiner Sondervermögen und Betriebe. Hierbei wird untersucht, ob der Haushaltsplan eingehalten wurde und ob Kassen- und Buchführung rechnerisch, formell und sachlich richtig sind. Neben dieser Ordnungsmäßigkeitsprüfung obliegt dem Rechnungshof auch die Wirtschaftlichkeitsprüfung. Er hat hierbei zu untersuchen, ob die von der Regierung getroffenen Maßnahmen mit geringerem Personal- oder Sachaufwand oder auf andere Weise wirksamer hätten erfüllt werden können. Das Ergebnis seiner jährlichen Prüfung, soweit es für die Entlastung der Bundesregierung von Bedeutung sein kann, fasst der Rechnungshof in Bemerkungen zusammen und leitet sie Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zu. Ferner legt der Rechnungshof Denkschriften als Ergebnis besonders eingehender Analysen einzelner Aufgabenbereiche vor. Der Bundesrechnungshof prüft aber nicht nur, er kann aufgrund von Prüfungserfahrungen auch Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und einzelne Bundesminister beraten1 – so z.B. hinsichtlich der Zweckmäßigkeit oder gar Existenzberechtigung von Organisationen oder der Beurteilung von Investitionsmaßnahmen schon vor ihrer Realisierung. Die abschließende politische Kontrolle leitet der Rechnungsprüfungsaus1

Zu den Aufgaben des Bundesrechnungshofs siehe Art. 114 GG und §§ 88ff. BHO.

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schuss, ein Unterausschuss des Haushaltsausschusses, ein. Aufgrund seiner Arbeit erfolgt (bisher regelmäßig) der Antrag auf Entlastung der Bundesregierung. Die Bedeutung der Kontrolle durch den Bundesrechnungshof und der anschließenden politischen Kontrolle für den budgetären Willensbildungs- und Entscheidungsprozess ist durch verschiedene Umstände eingeschränkt: Der Rechnungshof ist zwar unabhängig, besitzt aber selbst keine Exekutivbefugnisse, daher muss das Parlament die Mängelberichte aufgreifen und politische Sanktionen verhängen. Tatsächlich werden die Berichte meist ignoriert. Das ist nicht anders zu erwarten, wenn die von der Mehrheit des Parlaments getragene Regierung die Mängel zu vertreten hat. Selbst klare Verfassungsverstöße wie z.B. Haushaltsüberschreitungen bleiben ohne Kritik der Regierungsfraktion(en) bzw. finden weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Rechnungsprüfungs- und Haushaltsausschüssen statt. Auch mindert der zeitliche Abstand zur geprüften Haushaltsperiode das Interesse. „Schließlich wird die Qualität der politischen Kontrolle auch durch die Mängel des Budgetierungsverfahrens selbst beeinträchtigt. Eine echte Erfolgskontrolle politischer Planung ist nur möglich, wenn die politischen Ziele klar formuliert und in einen programmorientierten Vollzug umgesetzt wurden“ (Kitterer/Senf 1980, S. 550). Politiker vermeiden tendenziell aber explizite Ziele. 2. Flexibilisierung des Haushalts und überjährige Perspektiven a) Probleme kurzfristiger, isolierter Entscheidungen In den Haushaltsplan eines Jahres gehen weitgehend nur die Einnahmen und Ausgaben eines Jahres ein1. Eine so ausgerichtete Haushaltsplanung ist kurzfristig und isoliert: S Programme, die sich in der Durchführung über mehrere Jahre erstrecken, werden in einem Haushaltsjahr nur teilweise erfasst2. S Eine Ergebnisorientierung (Performance Budgeting) fehlt. Die Haushaltswirtschaft ist input-orientiert. S Die Wirkung vieler Einzelentscheidungen lässt sich häufig erst bei längerfristiger Betrachtung erkennen. Das gilt etwa für die zu erwartenden Folgewirkungen staatlicher Entscheidungen, insbesondere über Investitionen. S Ohne eine mehrjährige Orientierung ist keine befriedigende Kontrolle über die Finanzentwicklung möglich. S Das Budget ist äußerst umfangreich, daher ist eine umfassende Prüfung des Gesamtbudgets schwierig. Im längerfristigen Rahmen erscheint eine Beurteilung leichter. S Finanzpolitik ist die Wahl zwischen Alternativen. Die einzelnen Entscheidungen dürfen daher nicht unabhängig von anderen Maßnahmen getroffen werden (isolierte 1

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Einige Länder, z.B. Baden-Württemberg oder Mecklenburg-Vorpommern, machen von der Möglichkeit des § 9 HGrG Gebrauch, zweijährige, nach Jahren getrennte Haushaltspläne (sog. Doppelhaushalte) aufzustellen. Ausnahmen sind die Verpflichtungsermächtigungen, die auf bestimmte künftige Haushaltsbelastungen hinweisen.

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Betrachtung). Da die Planung aber „von unten nach oben“ erfolgt, die Voranschläge der mittelbewirtschaftenden Stellen im Vordergrund stehen, ist eine Setzung von Prioritäten, eine Wahl unter Alternativen nur sehr eingeschränkt zu erwarten. Die Politik von Kabinett und Finanzminister ist daher nicht zielorientiert, sie reduziert sich weitgehend auf die nachträgliche Korrektur der Anforderungen von Verwaltungen. S Die haushaltspolitischen Entscheidungen beruhen, wie das Haushalts- und Rechnungswesen, auf unmittelbaren Zahlungswirkungen. Die mit ihnen verbundenen langfristigen Verbindlichkeiten werden kaum erfasst. Das gilt insbesondere für Pensionslasten und Abschreibungen. Zur Beseitigung oder Milderung dieser Folgen isolierter, kurzfristiger Entscheidungen sind verschiedene Verfahren diskutiert und teils eingeführt worden: mittelfristige Finanzplanung, Erfassung der Folgewirkungen, Programmplanung und NutzenKosten-Analyse. Auch kann versucht werden, die Effizienz der öffentlichen Verwaltung durch eine Veränderung der Verwaltungsabläufe oder durch eine Flexibilisierung öffentlicher Budgets zu erhöhen. Darauf wird zunächst eingegangen. Funktionsgerecht angewandt machen diese Instrumente den kurzfristigen Haushaltsplan nicht überflüssig, sondern betten ihn in eine mehrjährige strategische Planung ein. Ein weiterer Aspekt wird im 26. Kapitel mit der Nachhaltigkeit der Finanzpolitik behandelt. Es geht darum, ob der Staat bei Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Politik langfristig Haushaltsspielräume erhält und damit seine Aufgaben erfüllen kann bzw. was hierzu jetzt geändert werden muss. b) Besondere Gestaltungsmöglichkeiten und Reformen des Haushaltswesens Um den Haushalt elastisch anwenden zu können, nutzen Bund, Länder und Gemeinden die Möglichkeiten der Flexibilisierung, Globalisierung und Selbstbewirtschaftung, deren übereinstimmendes Element eine Ausdehnung der sachlichen und zeitlichen Verfügbarkeit der Haushaltsmittel ist. Ferner erproben sie neue Managementmethoden bzw. führen sie ein. Flexibilisierung i.e.S. stellt die verstärkte Anwendung von Haushaltsvermerken dar. So kann durch Deckungsvermerke mehr Beweglichkeit erreicht werden. Das gilt für alle Ausgaben eines Kapitels, wenn damit eine wirtschaftliche und sparsame Mittelverwendung gefördert wird. Dienen die Ausgaben der Erfüllung ähnlicher oder verwandter Zwecke, kann sogar über ein Kapitel hinaus Deckungsfähigkeit eingeräumt werden. Auch Verstärkungsvermerke ermöglichen den Fachverwaltungen mehr finanzielle Eigenverantwortung. Hierdurch dürfen die Mittel aus einem Ausgabentitel bis zur Höhe der Einnahmen eines anderen Titels überschritten werden. Sie lockern die Grundsätze der Gesamtdeckung und der Jährlichkeit und bieten so den Verwaltungen Anreize im Eigeninteresse alle Einnahmemöglichkeiten voll auszuschöpfen, um über mehr Mittel für Ausgaben zu verfügen. Auch die verstärkte Anwendung von Übertragungsvermerken kann zu einer sparsamen Mittelbewirtschaftung beitragen. „Da eine mehrjährige Verfügbarkeit der Mittel das ‚Dezemberfieber’ eindämmen dürfte, wäre diese Voraussetzung für Übertragungsvermerke auch gegeben. Allerdings werden dadurch nur die Ausgaben übertragen, nicht auch die erforderlichen Deckungsmittel. Diese müssen im nachfolgenden Haushaltsjahr entweder durch Einsparungen an anderer Stelle erwirtschaftet oder durch besondere Veranschlagung bereitgestellt werden“ (Munzert 1997,

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S. 34). Wirksamer wäre die Bildung von Rücklagen, in die nicht benötigte Haushaltsmittel eingestellt werden, um bei Bedarf in nachfolgenden Jahren die Ausgabenermächtigungen erhöhen zu können. Mit Globalhaushalten kann auch die Möglichkeit eingeräumt werden, eingesparte Mittel eines Haushaltsjahres im Folgejahr z.B. für größere Projekte zu verwenden.

Bei Globalhaushalten werden Titel eines Haushaltskapitels reduziert, die formal im Parlament bestimmt, faktisch aber z.B. für die Hochschulen in Verhandlungen zwischen Wissenschafts- und Finanzminister (meist ohne Einbeziehung der Hochschulen) festgelegt werden1. Die Brutto- wird durch die Nettoveranschlagung mit Zielvereinbarungen ersetzt, bei der nur der Saldo von Einnahmen und Ausgaben im Staatshaushalt als Globalzuschuss ausgewiesen wird. Dadurch werden z.B. die Hochschulen nicht mehr bis ins Detail über den Staatshaushalt gesteuert. So soll eine bewegliche Mittelbewirtschaftung mit Anreizen für einen wirtschaftlichen Umgang erreicht werden. Der Übergang zu einem Globalhaushalt ist für die betroffene Institution in der Praxis meist allerdings nicht unproblematisch, weil er regelmäßig mit Mittelkürzungen einhergeht und differenzierte Eingriffsmöglichkeiten genutzt werden. Auch wird die mit der Einführung eines Globalhaushalts angekündigte Planungssicherheit der Finanzen meist nicht eingehalten. Der Vorteil der Globalisierung liegt aus der Sicht des Finanzministeriums darin, dass auch die Mittelkürzungen globalisiert und dadurch in dem Sinne entpolitisiert werden, dass ihre nachteiligen Folgen nicht mehr direkt und umstandslos der Politik zugeordnet werden können (Zechlin 1998, S. 350). Selbstbewirtschaftung bedeutet, dass Mittel einer Verwaltungsstelle zur Verfügung stehen, ohne an das laufende Haushaltsjahr gebunden zu sein; die bei der Bewirtschaftung erzielten Einnahmen dieser Institution fließen ihren Ausgaben zu. Flexibilisierung und Globalisierung der Haushalte engen den Rahmen des parlamentarischen Budgetrechts ein. Sie erweitern die Eigenverantwortung z.B. der Hochschulverwaltung bei der Gestaltung des Haushaltsplans und bei seiner Ausführung. Der Verlust an parlamentarischen Einwirkungsmöglichkeiten kann dadurch kompensiert werden, dass z.B. „die Hochschulen als Erläuterungen zu ihren Wirtschaftsplänen ‚Produktinformationen’ vorlegen. Dadurch soll dem Parlament ermöglicht werden, eine hochschulpolitische Bewertung der Leistungen der einzelnen Hochschulen vorzunehmen, von der nach dem Vorbild eines einfachen Rückkoppelungsmodells die künftige Höhe des Globalzuschusses abhängig gemacht werden kann. Die politische Steuerung der Hochschulentwicklung erfolgt nicht mehr über Haushaltstitel, sondern über ‚Zielvereinbarungen’, die sich auf die zu erledigenden Aufgaben beziehen. Die Produktinformationen beziehen sich dann auf diese so festgelegten Aufgaben“ (Zechlin 1998, S. 349).

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Das traditionelle Haushaltsverfahren ist intransparent, schwer beeinflussbar und sichert die Herrschaft der zwischen Parlament und den Hochschulen angesiedelten Staatsverwaltung. Auch innerhalb der Hochschule stärkt es die Macht der Verwaltung, die mit ihrer Interpretation des Haushaltsrechts hohen Einfluss auf die Verteilung der Mittel nehmen kann (Zechlin 1998, S. 349).

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

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Hierbei wird es als Gefahr bei der Bewirtschaftung öffentlicher Mittel gesehen, dass die Sach- und Finanzverantwortung auseinander fallen. Die Fachbehörden sind in erster Linie für die Sachentscheidungen zuständig, die Finanzminister und Kämmerer dagegen für die Finanzen. Durch Deckungs- und Verstärkungsvermerke, durch mehrjährige Verfügbarkeit der Mittel oder durch die Bildung von Rücklagen kann den Fachbehörden aber mehr eigener finanzieller Handlungsspielraum eingeräumt (Munzert 1997, S. 33) und so die Eigenverantwortung der Bewirtschafter gestärkt werden. Über die verschiedenen Maßnahmen zur Flexibilisierung hinaus bedarf es für ein effizientes staatliches Handeln auch der Kenntnis der zu erbringenden Leistungen und der dazu gehörenden Kosten. Das „Neue Steuerungsmodell“1 soll helfen, staatliche Leistungsbereitstellung kostengünstiger, transparenter und effektiver zu gestalten. Es sieht eine ergebnisorientierte Steuerung vor, d.h. dass die Leistungen (Produkte) der Verwaltung müssen definiert werden. Dieser Baustein war schon Bestandteil der früheren Programmplanung und wird dort behandelt (siehe e). Zentral ist wie auch dort die hier als Governance bezeichnete Aufgabenerfüllung. Ein Controllingsystem hat die Instrumente der Kostenarten-, Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung einzusetzen2. Neben dem Einsatz einer Kosten- und Leistungsrechnung und Darstellung einer kaufmännischen Buchführung mit Bilanz sieht das neue Haushaltsrecht die Verpflichtung der Verwaltung zu angemessenen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen bei allen finanzwirksamen Maßnahmen vor, wobei die unten behandelte Nutzen-Kosten-Analyse als Unterfall angesehen wird. Für einfache Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen genügen meist Kostenvergleiche nach Einholung mehrerer Angebote. c) Die Finanzplanung (1) Die Ziele Durch Einbettung in die mehrjährige Finanzplanung (MFP) soll die Haushaltsplanung verbessert werden. Die MFP ist eine für mehrere Jahre durchgeführte vollständige Zusammenstellung der voraussichtlichen Ausgaben und der zu ihrer Deckung vorgesehenen Einnahmen. Sie soll über ein Jahr hinaus Aufschluss über Schwerpunkte der Finanzpolitik geben sowie Ausgabenwünsche der Ressorts koordinieren und begrenzen. Wachstums- und Strukturprobleme bedürfen längerfristiger Planung, in die dann kurzfristige Maßnahmen z.B. der Konjunkturpolitik einzubetten sind, um eine Fehlallokation von Ressourcen zu vermeiden. Konjunkturprogramme sollen sich daher lediglich auf den Zeitpunkt auswirken, in dem die Ziele des Finanzplans realisiert 1

2

Dieser Begriff (auch New Public Management) fasst verschiedene Herangehensweisen und Ansätze zur Veränderung von staatlichen Entscheidungsgrundlagen und -prozessen zusammen. Auf Gemeindeebene wird es beispielsweise in NRW als Kommunales Finanzmanagement bezeichnet. Kostenträger sind die Produkte der Verwaltung. Kostenarten umfassen neben den Ausgaben des Haushaltplans zusätzlich Kosten wie kalkulatorische Zinsen und Abschreibungen (siehe Punkt d) unten). Mit Hilfe der Kostenstellenrechnung werden die Kosten den verschiedenen Organisationseinheiten, wie Behörden, Abteilungen, Dezernaten, zugerechnet (vgl. Müller 1997, S. 26).

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

172

werden. Durch die Vorlage der MFP werden Parlament und Öffentlichkeit über die mittelfristigen Vorstellungen der Regierung informiert. Das könnte der Öffentlichkeit eine Erwartungsbildung über die Entwicklungslinien der öffentlichen Haushalte ermöglichen. Ein klarer, nachvollziehbarer Rahmen könnte auch zu einer Minderung des Einflusses der Interessengruppen beitragen. Für zweckmäßig werden daher häufig über verschiedene Zeiträume laufende Planungen gehalten, die ineinander verzahnt sind: eine langfristige Planung über einen Zeitraum beispielsweise von 5-50 Jahren, eine mittelfristige Planung von etwa 2-5 Jahren und schließlich die praktizierte jährliche Haushaltsplanung. Die langfristige Orientierung ist z.B. bei Fragen der Bevölkerungsentwicklung und daraus resultierenden ökonomischen Problemen zweckmäßig, wie der Pensions- und Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte oder der gesetzlichen Rentenversicherung. Die mittelfristige Periode wird bedeutsam für in die unmittelbare Zukunft reichende Maßnahmen. (2) Das Verfahren Die MFP ist für die Haushaltswirtschaft des Bundes und der Länder im Stabilitätsgesetz vorgeschrieben. Sie beruht auf der mutmaßlichen (angestrebten und für erreichbar angesehenen) gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die die Bundesregierung in ihrer Zielprojektion1 beschreibt. Die Finanzplanung enthält Angaben über fünf Jahre, wobei das erste Jahr der mittelfristigen Planung z.B. der Jahre 2011-2015 die im Haushaltsplan 2011 festgelegten Daten übernimmt. Für das erste Jahr der eigentlichen Haushaltsplanung (2012) wird ein Haushaltsentwurf vorgelegt. Abb. 6-1 Der Zeitraum der Finanzplanung Haushaltsplan 2011 (wird vollzogen)

Haushaltsplan 2012 (entspricht Haushaltsentwurf)

Fortschreibung 2013-2015

Bereits Abweichungen vom Entwurf (hier 2012) durch die endgültige Festlegung im Haushaltsgesetz erfordern Änderungen der Finanzplanung, die darüber hinaus jährlich neu an die Entwicklung anzupassen und fortzuführen ist („gleitende Planung“). Hierzu führen veränderte gesamtwirtschaftliche Daten (z.B. mehr Steuereinnahmen bei höherem BIP) oder neue Gesetze. Die Bundesregierung hat Bundestag und Bundesrat über erhebliche Änderungen der Haushaltsentwicklung und deren Auswirkungen auf die Finanzplanung zu unterrichten. Sie muss bei Gesetzesvorlagen ebenfalls eine 1

Diese Zielprojektion enthält analog der kurzfristigen Jahresprojektion die Eckwerte für den Beschäftigungsgrad, die Preisniveauentwicklung, das Wirtschaftswachstum und den Außenbeitrag. Sie ist auch Grundlage für mittelfristige Steuervorausschätzungen des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“. In diesem Zusammenhang entsteht ein Zirkelproblem: Die zu erwartenden Einnahmen und Teile der Ausgaben hängen von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung ab. Diese wird ihrerseits aber nicht unwesentlich von jenen Handlungen bestimmt, die eben im Finanzplan festgelegt (und durchgeführt) werden sollen.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

173

Übersicht über die Auswirkungen auf Haushaltsplan und Finanzplan vorlegen. Mit Nachtragshaushalten sind auch die Finanzpläne zu korrigieren. Die Darstellung des Finanzplans erfolgt in der funktionalen Gliederung des Haushaltsplans. Hier wird des Weiteren ein Schema vom Stabilitätsrat festgelegt, um eine einheitliche Systematik für die Gebietskörperschaften sicherzustellen. Das Verfahren der Aufstellung des Finanzplans entspricht dem des Haushaltsplans. Die für den Einzelplan zuständigen Stellen schicken Daten an den Finanzminister, der den Finanzplan einschließlich mehrjähriger Investitionsprogramme aufstellt und begründet. Die Bundesregierung beschließt ihn. Am Zustandekommen des Finanzplans ist eine parlamentarische Mitwirkung nicht vorgesehen. Die Koordinierung der Finanzplanung der verschiedenen Ebenen ist Aufgabe des Stabilitätsrats1. Er gibt (unverbindliche) Empfehlungen an die beteiligten Gebietskörperschaften, ermittelt einheitliche volkswirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Annahmen für die Finanzplanungen, setzt Schwerpunkte für eine den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen entsprechende Erfüllung der öffentlichen Aufgaben und gibt Empfehlungen für eine konjunkturgerechte Gestaltung der Haushaltswirtschaft. Eine gemeinsame Finanzplanung für Bund, Ländern und Gemeinden ist nicht vorgeschrieben. Sanktionsmöglichkeiten hat der Finanzplanungsrat nicht.

(3) Beurteilung Die bisherige Finanzplanung hat ihre Ziele nicht erreicht. So ist die Jahresplanung regelmäßig nicht in die MFP integriert, sondern umgekehrt wird der Haushaltsplan in der Finanzplanung fortgeschrieben. Während der Haushaltsplan vom Parlament „festgestellt“ wird und für die Exekutive rechtlich verbindlich ist, besteht für den Finanzplan nur eine Selbstbindung der Regierung. Das hat den Vorteil eine regelmäßige Anpassung an neue Entwicklungen zu erlauben, aber den Nachteil erschwerter Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten. Nach Ablauf von drei oder vier Jahren lässt sich kaum noch feststellen, ob die zugrundeliegenden Ziele erreicht wurden, insbesondere wenn der „rekurrente Anschluss“ an frühere Projektionen verloren geht, indem die verschiedenen Planungsjahre nicht gegenübergestellt werden. Wäre der Finanzplan andererseits verbindlich, entfiele die Möglichkeit einer schnellen Anpassung z.B. aufgrund konjunkturpolitischer Erfordernisse. Die auf der Zielprojektion der Bundesregierung beruhenden Daten zur Finanzplanung des Bundes waren in der Praxis von geringer Güte. Dies hat Heinemann (2004) hinsichtlich der Prognosequalität der Defizitzahlen der Finanzplanungen seit 1968 untersucht. Dabei wurden die im Jahr t gemachten Prognosen für dasselbe Jahr und die in t-4 gemachten Prognosen des Defizits mit den realisierten Größen verglichen. Bei dem mittelfristigen Prognosehorizont zeigt sich eine systematische Verzerrung. Die tatsäch1

Mitglieder sind die Bundesminister der Finanzen und für Wirtschaft sowie die Finanzminister der Länder. Primäre Aufgabe des Rats ist die Überwachung der Haushalte von Bund und Ländern zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen.

174

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

liche Entwicklung ist fast durchweg ungünstiger als die jeweils vier Jahre zuvor prognostizierte. Auch die Finanzplanung erfolgt ressort-(input-)orientiert, so dass „echte“ Programme mit Erfolgskriterien, die später überprüft werden können, nicht erarbeitet werden. Die Finanzplanung lässt nicht erkennen, welche konkreten Ziele verfolgt, welche Leistungen (Output) erbracht und welche gesellschaftlichen Wirkungen bzw. Zielerfüllungen (Outcome) erreicht werden sollen. Eine ökonomische Wirksamkeitskontrolle ist so aber nicht möglich. Auch Prioritäten sind nicht klar zu erkennen – abgesehen von einigen Änderungsraten, die von den durchschnittlich projizierten Entwicklungen stärker abweichen. Andererseits laufen die Ansätze Gefahr, trotz mangelnder Grundlage als Rechtfertigung künftiger Ausgaben zu dienen, bloß weil sie in der MFP enthalten sind. d) Die Berücksichtigung der Folgewirkungen staatlicher Aktivität, insbesondere öffentlicher Investitionen (1) Begriff und Bedeutung Folgewirkungen öffentlicher Investitionen sind Ausgaben oder Kosten, die in späteren Perioden als in der anfallen, in der die Investitionsentscheidung gefällt wird1. Folgeausgaben belasten die Haushalte zukünftiger Perioden. Dadurch wird dann der finanzielle Handlungsspielraum bei gegebenem Budgetumfang eingeschränkt. Mit der Entscheidung für ein Projekt wird gleichzeitig auch über zukünftige Belastungen entschieden und damit über die Möglichkeiten der Erfüllung neuer ausgabenwirksamer Aufgaben, Investitionen usw. Aber auch das eigentliche Investitionsprojekt kann zweifelhaft werden, wenn die damit verbundenen Folgeausgaben nicht finanziert werden können. So sind Gebäude ohne das dafür erforderliche Personal zwecklos, Universitäten oder Fakultäten ohne Bücher oder Personal Fehlinvestitionen. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Investitionshilfen des Bundes und der Länder an die Gemeinden, die die Durchführung zusätzlicher Aufgaben ermöglichen sollen, aber die Budgets späterer Perioden mit Folgeausgaben belasten, die die Gemeinden dann meist allein tragen müssen. Die Begriffe „Folgekosten“ und „Folgeausgaben“ werden häufig synonym verwandt. Dennoch ist es zweckmäßig, beide Begriffe zu trennen. Zu den Folgeausgaben werden Ersatzinvestitionsausgaben, Tilgungsausgaben und Ausgaben für Unterhaltung, Betrieb, Verwaltung und Zinsen auf Fremdkapital2 gerechnet. Folgekosten ent1

2

Folgewirkungen sind aber auch bei staatlichen Programmen zu beachten, die nicht mit öffentlichen Investitionen verbunden sind: So rufen Geschwindigkeitsbegrenzungen Kontrollkosten hervor, die mit der Erzwingung der Einhaltung der Vorschriften auftreten. Eine Zunahme der Hochschulmitwirkungsverpflichtungen beeinflusst Zeit und Effizienz in der Lehre und Forschung der Hochschullehrer; zur Vermeidung eines Rückgangs der Lehr- und Forschungsleistungen sind zusätzliche Vergütungen und Stellen unvermeidlich. Es ist allerdings nicht unproblematisch, einzelnen Investitionsprojekten Schuldendienste zuzurechnen, weil eine objektbezogene Kreditaufnahme (Kreditaufnahme zur Finanzierung von pro-

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

175

halten darüber hinaus kalkulatorische Abschreibungen und kalkulatorische Zinsen, die Ersatzinvestitions- und Tilgungsausgaben sind hingegen nicht in den Folgekosten enthalten. Die bisher genannten Kosten bzw. Ausgaben entsprechen nicht den volkswirtschaftlichen Folgekosten, die in später behandelten Nutzen-Kosten-Analysen berechnet werden. Dort wird z.B. die aus der Nutzung einer Straße entstehende Lärmbelästigung der Anwohner in den Kosten berücksichtigt. Übersicht 6-4 verdeutlicht, dass der zu verwendende Folgekosten/-ausgabenbegriff je nach Zweck variiert. Für die haushaltswirtschaftliche Analyse (künftige Ausgabenspielräume) ist allein der Begriff der Folgeausgaben relevant. Folgekosten müssen für Wirtschaftlichkeitsberechnungen und -kontrollen, Preisberechnungen öffentlicher Einrichtungen und zur Errechnung von Kostendeckungsgraden ermittelt werden. Übersicht 6-4 Einteilung der Folgewirkungen nach der Zwecksetzung Folgewirkungen Folgeausgaben (haushaltswirtschaftliche Definition)

einzelwirtschaftliche Folgekosten (betriebswirtschaftl. Definition)

gesamtwirtschaftliche Folgekosten (volkswirtschaftliche Definition)

Definition: Ausgaben ./. evtl. anfallende Einnahmen

Definition: Kosten bzw. Kosten ./. Erlöse

Definition: gesamtwi. Kosten ./. gesamtwi. Nutzen

Zweck: 5 Berechnung der Budgetbelastungen 5 mehrjährige Finanzplanung

Zweck: 5 Preisberechnung für kostenrechnende Einrichtungen 5 Berechnung des Kostendeckungsgrads 5 Wirtschaftlichkeitsberechnungen 5 Grundlagen für Privatisierungsentscheidungen

Zweck: Bestimmung der volkswirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit einer öffentlichen Investition

Quelle: Röck (1982), S. 37.

Investitionsausgaben und Folgeausgaben(-kosten) betreffen also verschiedene Haushaltsjahre. Der Finanzbedarf für die Investition kann ungleich kleiner sein als die für die Folgeausgabenfinanzierung erforderlichen Haushaltsmittel. Bei einigen Projekten wie Kindergärten, Bädern und Krankenhäusern fallen auch Einnahmen an (Gebühren, Beiträge und Zuweisungen übergeordneter Körperschaften). Daher ist – bei Ausgaben oder Kosten – die Nettobelastung zu ermitteln. Entsprechend aktualisierte Angaben liegen für Gemeinden vor, wobei aus gemeindlicher und gesamtstaatlicher Sicht Berechnungen durchgeführt wurden. Auch Folgeeinsparungen einer öffentlichen In-

duktiven Aufgaben) nicht besteht. Daher sind die Finanzierungsstruktur des Investitionsprojekts und damit auch die daraus resultierenden Ausgabenwirkungen unbekannt (Lang 1978, S. 525).

176

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

vestition, z.B. die Senkung der Heizkosten einer Schule infolge besserer Wärmedämmung, sind zu berücksichtigen. (2) Transaktionskosten im privaten und staatlichen Bereich Die Folgewirkungen sind wesentlicher Teil bei der Beurteilung öffentlichen Handelns. Berücksichtigt werden müssen aber auch die schon erwähnten Transaktionskosten. Sie bestehen insbesondere in Informations-, Such-, Einigungs- und Vollzugskosten und fallen auch bei der Ankündigung und Beratung neuer Gesetze oder bei Unterlassen oder Aufschieben erforderlicher Anpassungen an. Die Zunahme an Komplexität der Sachverhalte, an betroffenen organisierten Interessen und der Verflechtung der verschiedenen staatlichen Ebenen wirken sich insbesondere in den staatlichen Einigungskosten aus. Sie tragen dazu bei, dass die Gesetzgebung schwieriger, länger und häufig auch schlechter1 wird. Das erhöht die staatlichen Verwaltungskosten (z.B. Kosten der Steuererhebung) und die Befolgungskosten der Privaten. Die verschiedenen Formen staatlich verursachter Transaktionskosten sind bisher nur ansatzweise Gegenstand systematischer Analysen. Ihre auch nur qualitative Nennung würde bewirken, dass die vor vielen gesetzlichen Maßnahmen zu findenden Klauseln „Kosten: keine“ sich nicht aufrechterhalten lassen2. (3) Finanzpolitische Realisierungschancen von Folgeausgabenrechnungen Bei der Darstellung der Folgekostenrechnungen (wie auch der anderen Instrumente in diesem Abschnitt) ist zunächst unterstellt worden, dass mehr Transparenz gewünscht wird. Das ist aber nicht der Fall, wenn die an den Maßnahmen Interessierten die Bewilligung von Mitteln nicht durch den Hinweis auf künftige Belastungen gefährden wollen. Dann leugnen die finanzpolitischen Entscheidungsträger zum Zeitpunkt der Investitionsentscheidung Folgelasten. In einem späteren Zeitpunkt, nach Erstellung der Anlagen, bezeichnen sie zusätzliche Ausgaben als unabweisbar, ohne die anders lautenden früheren Angaben noch einmal zu erwähnen. „Die Opposition hingegen ist ohne Mitwirkung der Verwaltung kaum in der Lage, die Folgelasten einer Investition einigermaßen zuverlässig zu ermitteln, soweit sie überhaupt daran interessiert sein sollte, daß Vorbelastungen ausgewiesen werden. Jede Verwaltung wird wiederum aus ihrer Interessenlage heraus unwillig sein, die Folgelasten einer von ihr zum Haushaltsplan angemeldeten investiven Maßnahme auszuweisen, wenigstens wenn die Folgelasten im Verhältnis zum Investitionsaufwand hoch sein werden“ (Littmann 1979, S. 45l).

1 2

Indikator hierfür können die sehr schnell den Gesetzen folgenden Nachbesserungen insbesondere durch Gesetzesänderungen und -ergänzungen sein. „Abbau der Bürokratiekosten“ und „Gesetzesfolgekosten“ sind nur Stichworte ohne konkrete Umsetzung.

6. Kapitel: Der Haushaltsplan

177

e) Die Programmplanung Gegenüber dem analytisch wenig anspruchsvollen Ansatz der MFP gibt es Vorschläge zu einer umfassenderen Verwendung von Managementtechniken im öffentlichen Sektor. Dazu gehören die Programmplanung (PP)1 und die Nutzen-Kosten-Analyse. Die Bedeutung der PP wird darin gesehen, dass sie umfassende Informationen als Voraussetzung besserer Entscheidungen institutionalisieren und letztere ermöglichen soll. Während der traditionelle Budgetprozess inputorientiert ist, geht es bei der Programmplanung wesentlich um die Aufgaben und um die Ergebnisse staatlicher Tätigkeit. Die Ausgaben sind nach Programmen klassifiziert, die möglichst an den Zielen staatlicher Politik ausgerichtet sind. Sie können in vielen Fällen über mehrere Ministerien oder andere Behörden reichen. Im Einzelnen sind S die staatlichen Ziele („objectives and goals“) zu spezifizieren; S die staatlichen Handlungen in Programmen auf diese Ziele abzustimmen; S Informationen zu liefern, wie die Ressourcen gegenwärtig eingesetzt werden, ob und in welchem Grad also die gesetzten Ziele erreicht werden sollen, dabei auch Transparenz für die Behörden hinsichtlich ihrer Aufgabenerfüllung zu erzielen; S Alternativen zu entwickeln und zu prüfen, welche Leistungen (Output) die Programme hervorbringen, welche Wirkungen (Outcome) sie haben und welche Programme am effizientesten sind (Nutzen-Kosten-Analyse, vgl. unten); S systematisch die Pläne und Programme im Hinblick auf neue Entwicklungen, Analysen usw. zu überprüfen. Die Bedeutung der PP liegt vor allem darin, dass sie Anstöße zu einer systematischen Ziel-Mittel-Analyse und insbesondere Outputforschung liefert. Übersicht 6-5 verdeutlicht den möglichen Rahmen eines Ziel-Mittel-Schemas mit mehreren Outputund Inputebenen. Es wird unterschieden zwischen allgemeinen Zielen, konkretisierten, operationalisierten Zielen, Output bzw. öffentlichen Produkten und Ausgaben (monetären Inputs). Allgemeine Ziele (Goals) sind z.B. die Verbesserung der Gesundheit oder des Verkehrswesens, konkretisierte Ziele eine geringere Zahl bestimmter Erkrankungen, verkürzte Wegezeiten, geringere Unfallhäufigkeit. Auf Seite der Inputs wird die Umsetzung der Politik meist durch die weitgehend vorliegenden Ausgaben (oder durch Steuervergünstigungen) im Gesundheits- oder Verkehrswesen beschrieben. In der Regel ist nicht klar, was als Leistungen (Output) anzusehen ist und an welchen Indikatoren sie zu messen sind. Beispielsweise die Zahl der Krankenhäuser, Ärzte, Lehrer oder Straßenkilometer sind unbefriedigende Indikatoren, weil sie nicht den Output signalisieren. Mehr Krankenhäuser brauchen nicht die Verbesserung der Gesundheit zum Ausdruck zu bringen, mehr Lehrer nicht bessere Bildung. Wenn der 1

Frühere Formen wie das Planning-Programming-Budgeting System (PPBS) sind zwar gescheitert. Allerdings fließen Bausteine dieses Systems – wie die Ziel- und die Outputanalyse – in verschiedensten Variationen z.B. in kommunale Steuerungssysteme oder in die europäische Programmplanung (Performance Budgeting) und in Vorgaben des Lissabonprozesses ein.

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

178

Übersicht 6-5 Rahmen eines Ziel-Mittel-Schemas Mittelebenen

Ziel-/Mittelverhältnis programmatische im Rahmen des Allokati- Position im Wohlonssystems fahrtssystem

Inputebenen

Zielebenen

intermediäre Outputebenen

Outputebenen

Goals


l angenommen, d.h. eine mit steigendem Einkommen überproportional steigende Einkommensverwendung öffentlicher Güter (,,Nachfrageeffekt“). Anhaltspunkte hierfür scheinen die Einkommenselastizitäten längerer Zeiträume zu liefern (Recktenwald 1977, S. 724f.). Allerdings kann nicht auf die eigentlich interessierenden Preis- und Einkommenselastizitäten staatlich bereitgestellter Güter abgestellt werden. Weil die unentgeltlich abgegebenen staatlichen Leistungen und die Nachfrage hiernach nicht zu messen sind, können nur Ausgabenelastizitäten berechnet werden. Diese lassen aber nicht erkennen, ob durch Einkommensänderungen die Nachfrage- oder die Kostenfunktion oder beide verändert werden und ob nicht sogar umgekehrt die Staatsausgaben die Höhe des Einkommens erklären. Eine mögliche Annahme ist, dass staatliche Leistungen den Charakter von Luxusgütern haben. Unter der Annahme E = 1 würden

1

Ähnlich auch die Theorien von List, Bücher u.a.

216

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

sich die Staatsausgaben proportional zum Einkommen verändern müssen, aber auch E " 1 ist begründbar. Wenn die Bürger i staatliche Ausgaben Gi in Abhängigkeit von ihrem Einkommen nachfragen (7-9)

G i ) G (Yi ) ,

könnte bei einer Elastizität EM > 1 des Medianwählers ein Druck auf die Staatsquote ausgehen. Hierzu bedarf es einiger Annahmen, wie die der separierbaren Nutzenfunktion (mit U G / U C ) 0 ) und U G 6 U T jeweils aus der Sicht des Medianwählers. Es wird unterstellt, dass der Medianwähler den gewünschten Umfang G erhält und G steigt, wenn der Medianwähler es wünscht (Congleton 2001, S. 464ff.). Allerdings bezieht sich die Theorie eher auf die staatliche Güterbereitstellung (gemessen an ASt) und weniger auf die gesamten (die Übertragungen einschließenden) Staatsausgaben. (5) Die Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Ebenen Die Strukturveränderungen können sich je nach (Entwicklung der) Aufgabenverteilung unterschiedlich auf die einzelnen Ebenen des Staates auswirken. Allerdings haben sich die Ausgaben der Gebietskörperschaften säkular höchst unterschiedlich entwickelt (Recktenwald 1977, S. 747). Zentralisierungstendenzen 1 für die Bundesrepublik könnten auf verschiedenen Gründen beruhen: S Rechnet man die Beiträge und die Leistungen der Sozialversicherungen dem Bund zu, kommt es durch den Ausbau des Transfersystems zu einer Verlagerung zugunsten des Bundes. S Der Spielraum für eigene Entscheidungen des Bundes (ohne Bundesrat) bzw. der Länder ist zunehmend enger geworden. Es gibt immer weniger Bereiche, wo der Bundesrat nicht mitwirken kann oder muss. Daraus können eher kostenträchtige Entscheidungen resultieren. S Eine Tendenz zur Ausgabenausweitung kann im System des Finanzausgleichs in der Bundesrepublik die Mischfinanzierung hervorrufen. Hierbei werden verschiedene Ebenen an der Finanzierung von Aufgaben beteiligt. Soweit es möglich ist, die Kosten der Entscheidungen teilweise auf andere Ebenen zu verlagern, kann die Entscheidungsfreudigkeit für weitere Ausgaben gefördert werden (siehe das 27. Kapitel). S Der fehlende Steuer- und Systemwettbewerb verwischt die Verantwortung vertikal zwischen Bund und Ländern und horizontal zwischen den Ländern. Das trägt dazu bei, dass Nutzen und Kosten von Aufgaben einer Ebene auseinander fallen. Die Ausgaben werden gerne ausgedehnt, wenn andere die verursachten Kosten zu tragen haben.

1

Eine Verlagerung zum Zentralstaat liegt der Annahme einer „Anziehungskraft des größten Etats“ zugrunde, die Popitz (1927) vertreten hat. Zu den Auswirkungen der (De-)Zentralisierung siehe Bähr u.a. (2007), Stearescu (2004).

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

217

S Der Einfluss supranationaler Entscheidungen (insbesondere der EU), die den nationalen Handlungsspielraum einengen, weitet sich aus. (6) Die Bevölkerungsentwicklung Ein Grund für immer neue Aufgaben mag auch die schon von Wagner angesprochene Bevölkerungsentwicklung sein. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte nehmen die Interdependenzen zu, d.h. die einzelnen Personen, Institutionen usw. wirken durch ihr Verhalten auf die Nutzen- und Produktionsfunktionen anderer ein. Kollektives Handeln kann daher erforderlich sein, um solche aus der Zusammenballung der Bevölkerung resultierenden Effekte zu verringern oder zu beseitigen 1. Zusammenballung ist bei schrumpfender Bevölkerung allerdings auf wenige Zentren beschränkt. Hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung sind Größe und Altersstruktur wichtig. Der demografische Wandel durch Lebensverlängerung, abnehmende Reproduktionsziffer und längere Ausbildungszeiten zieht beispielsweise Ausgabenänderungen für Bildung und Erziehung, für die Altersversorgung und bei den Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben nach sich. So können mehr Kinder zu mehr Schulen, Universitäten usw. führen, ob bei sinkender Bevölkerung die Entwicklung der Ausgaben in gleicher Weise rückläufig sein muss, ist unklar. Bei reinen öffentlichen Gütern mit Grenzkosten der zusätzlichen Nutzung von null wäre allerdings keine Ausgabenerhöhung erforderlich. (7) Die Elastizität des Steueraufkommens, Fiskalillusion Auch ohne explizite Steuerrechtsänderungen kann es zur Erhöhung der Steuerquote kommen, wenn die gesamtwirtschaftliche Steueraufkommenselastizität größer als eins ist. Die Ursache hierfür liegt vor allem in progressiven Steuertarifen, die „heimliche Steuererhöhungen“ einfach durch Hineinwachsen in höhere Tarifbereiche bewirken. Wenn die Einnahmen die Ausgaben bestimmen, könnte dieser Effekt für die Ausgabenentwicklung bedeutsam sein. Er tritt bei progressiven Tarifen auch unabhängig davon auf, ob mit der Änderung der nominellen Bemessungsgrundlage für die Besteuerung (z.B. das Einkommen) auch eine reale Entwicklung einhergeht. Je nach Struktur der Abgaben können die Bürger den Eindruck bekommen, dass sie übermäßig oder eher wenig belastet werden (Fiscal Illusion). So kann die Finanzierung über indirekte Steuern zur Unterschätzung der wahren Steuerlast führen. Hierzu trägt auch die zunehmende Komplexität des Abgabensystems bei, darunter Steuern mit (zunächst) geringem Aufkommen und meist mit Bezeichnungen, die den Steuercharakter verschleiern („Solidaritätszuschlag“). Gleiches gilt für Einnahmeverschiebungen zwischen Sozialversicherungen und für die Aufteilung in Arbeitgeberbeiträge und Arbeitnehmerbeiträge. Werden so öffentliche Programme akzeptiert, deren wahre 1

Von Brecht (1932) wurde eine positive Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung festgestellt, wobei die zunehmende Verstädterung von ihm als besonders bedeutsam angesehen wurde (Brechtsches Gesetz).

218

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Belastungen unbekannt sind, kann dies zur Zunahme der Staatsquote beitragen. Die Erzeugung einer Fiskalillusion kann hierbei Strategie sein, um die Abgaben erhöhen zu können 1. Je einfacher die Abgabenstruktur ist, (1) um so leichter (kostengünstiger) können Informationen über die Kosten staatlicher Programme ermittelt und Opposition organisiert werden, (2) um so größer sind die zu erwartenden Steuerwiderstände und daher um so niedriger die Staatsausgaben. Fiskalillusion als Folge der unten behandelten Trennung von Nutzer, Zahler, Entscheidungsträger und Anbieter öffentlicher Leistungen führt dazu, dass das Kostenbewusstsein der Bürger für öffentliche Leistungen beseitigt wird, weil es allenfalls indirekt und unvollkommen über die Besteuerung tangiert wird. (8) Der staatliche Entscheidungsprozess Der Staat unterscheidet sich vom privaten Sektor durch die Art des Entscheidungsprozesses und die Güter, die er bereitstellt, die großenteils durch Nichtrivalität und fehlenden Ausschluss gekennzeichnet sind. Diese Güter haben keinen individuellen Preis, daher werden die Kosten ihrer Bereitstellung ganz oder teilweise von ihren Erträgen (Einschätzung der Nutzer) getrennt. In der Privatwirtschaft sind hingegen der Empfang eines Gutes und die Zahlung eines Preises direkt verbunden. Ohne KostenPreis-Beziehung werden öffentliche Güter unabhängig von ihren Kosten bereitgestellt und Ausgaben- vor bzw. unabhängig von Steuerentscheidungen getroffen. (Die primäre Beachtung der Kosten kann andererseits dazu führen, dass kollektive Bedürfnisse übersehen werden.) Die Anbieter unentgeltlich abgegebener staatlicher Leistungen stehen nicht unter dem Druck der Konkurrenz. Sie haben kein Rentabilitätsziel. Das kann sich auf den Umfang, die Qualität und die Kosten der zu erbringenden Leistungen auswirken. Von besonderer Bedeutung ist auch, dass für staatliche Aktivitäten selten Ziele klar festgelegt sind. Der Gesetzgeber lässt die Ziele seiner Politik meist offen. Die Verwaltungen, die die Politik in konkrete Programme umsetzen und ausführen, haben keine Beurteilungskriterien für den Erfolg ihrer Maßnahmen. Daher kommt es häufig zu fehlender Kontrolle bzw. Kontrollierbarkeit (vor allem von außen), die zu ineffektiver und ineffizienter Leistungserstellung bei wachsenden Ausgaben beiträgt. Schließlich streben die Parteien und Verbände vor allem zugunsten ihrer Mitglieder Ausgabenerhöhungen an (Schmidt 1966). Das gilt speziell für Transfers. Bei unterschiedlichen Prioritäten und einer Inflexibilität nach unten können neue Aufgaben nur durch (Aufgabenausweitung und) Ausgabenerhöhungen durchgesetzt werden. Gleichzeitig erfährt die Ausgabenstruktur insofern eine Änderung, als ,,gruppenbezogene“ Staatsausgaben tendenziell zu Lasten ,,gruppenindifferenter“ öffentlicher Ausgaben zunehmen. Es werden also solche Programme bevorzugt, bei denen die Erträge klar erkennbar sind und einer relativ kleinen Gruppe zugute kommen, andererseits Unklar1

Die Steuerquote ist allerdings seit den 1950er Jahren kaum verändert. Bedeutsamer für die Entwicklung der Abgabenbelastung waren die Sozialbeiträge.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

219

heit über die Kosten besteht und diese breit gestreut sind. Der Einfluss der Interessengruppen auf die Gewährung spezieller Leistungen wird durch die Trennung von Einnahmen- und Ausgabenentscheidungen begünstigt. Abb. 7-1 Politischer Entscheidungsprozess und Wachstum der Staatstätigkeit Unfavorable Changes: Dissatisfaction with Market Results

Demand for Redistribution

Time Lag Overcome Free Rider Problem

Competition for Rents

All Binding Rules & Regulations Create Rents

Demand for Protection of Jobs and Incomes

Interest Groups

Minorities of Voters

Majorities of Voters

Offer Information & Contributions; Threaten with Strikes and Boycotts

Parties Competing for Power

Voters Rationally Uninformed on Minor Matters

More Government Interference, Regulations, Transfers, Subsidies & Taxes

Growing State Activity

Quelle: Bernholz (1997), S. 91. Abb. 7-2 Wirkungen wachsender Staatstätigkeit Growth of Government Activity

Higher Marginal Taxes

More Efforts to Escape Taxes; Less Productive Savings & Investments

More Transfers and Subsidies

Less Effort to Work Efficiently & Save

More Interference and Regulations

Increasing Rent-Seeking Competition

Quelle: Bernholz (1997), S. 92.

Less Innovation Growth of Shadow Economy

Misallocation of Resources

Decline of Freedom and Rule of Law

Declining Investment

Growing Inefficiency

Lower Growth Rate of Real RDP

220

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Da jedes Budget nach Umfang und Struktur wesentlich das Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses unter Einflussnahme der Verbände ist, müssen hier und speziell in den Verlagerungen politischer Macht und in Wandlungen in den Ideenströmen wesentliche Determinanten der Staatstätigkeit gesucht werden. Abb. 7-1 fasst verschiedene Faktoren des politischen Entscheidungsprozesses zusammen. Abb. 7-2 zeigt darüber hinaus, welche Auswirkungen andererseits die wachsende Staatstätigkeit auslösen kann. (9) Der Niveauverschiebungseffekt (Peacock, Wiseman) Auch Kriege und soziale Unruhen sowie jüngst die Maßnahmen in der Banken- und Wirtschaftskrise haben die Staatsquote emporschnellen lassen. So sind die öffentlichen Ausgaben während beider Weltkriege stark angestiegen und nach Kriegsende zwar gefallen, haben die Vorkriegsquoten aber nicht wieder erreicht. Peacock/Wiseman (1961) führen dies auf Vorstellungen in der Bevölkerung über tragbare Steuerlasten zurück, die das Ausgabenvolumen bestimmen und in normalen Zeiten ziemlich stabil sind. Dem haben Regierung und Parlament Rechnung zu tragen. Bestehende Steuerwiderstände lassen sich aber in sozialen Ausnahmesituationen, z.B. Kriegszeiten, abbauen und die Steuerquote erhöhen. Nachfrage nach zusätzlichen staatlichen Leistungen ist dann politisch durchsetzbar. Wenn später der Staatsanteil nicht wieder auf den Vorkriegsstand zurücksinkt 5 insbesondere auch der zivile Ausgabenteil nicht 5 so liegt dies an einer Gewöhnung an das neue Ausgaben- und Belastungsniveau. Ein solcher Niveauverschiebungseffekt (Displacement, auch Ratchet Effect), d.h. eine fehlende oder eingeschränkte Flexibilität der Staatsausgaben nach unten, dürfte ein wichtiger Grund für den wachsenden Staatsanteil in der Vergangenheit sein. In die gleiche Richtung wie der Niveauverschiebungseffekt kann auch ein Inspektionseffekt wirken. Wenn bisher nicht benannte und umgesetzte Bedürfnisse einen hohen Stellenwert bekommen, kann dies einen Ausgabendruck erzeugen (Bildungskatastrophe, fehlende Krippenplätze usw.). So haben starke Strukturverschiebungen in den 70er Jahren in der Bundesrepublik zu Veränderungen des Stellenkegels im öffentlichen Dienst geführt, weil gerade jene Aktivitäten verstärkt gewachsen sind, bei denen die Qualifikation der Beschäftigten hoch sein muss, z.B. in der Erziehung (Recktenwald 1983, S. 574) 1. Wenn diese Strukturverschiebungen mit den unter (10) beschriebenen Beharrungstendenzen einhergehen, also durch keinen Rückgang an anderer Stelle begleitet werden, wird ein Anstieg der Staatsausgabenquote ausgelöst. Offenbar haben langfristig starke Veränderungen in der Struktur der Staatsausgaben stattgefunden. Diese hat schon Wagner angenommen (wenn auch in anderen Bereichen). Der Effekt muss aber nicht generell aufwärts gerichtet sein. So können strukturelle Brüchen aus Änderungen der Präferenzen, Verhaltensweisen und Institutionen resultieren, die auch eine Bewegung in umgekehrter Richtung einleiten. Sie können beispielsweise in größeren Steuerwiderständen und Verlagerungswünschen zu Gunsten 1

Diese Entwicklung war allerdings verbunden mit einem starken Lohnzuwachs im öffentlichen Dienst.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

221

des privaten Sektors (Reprivatisierung, Privatisierung) zum Ausdruck kommen und lassen sich u.a. auf politische Philosophien, Ideologien und herrschende Wertvorteile zurückführen, deren Bedeutung sich in und zwischen den Parteien, Medien usw. national und auch international ändert. (10) Beharrungstendenzen Inflexibilität der Ausgaben nach unten kann auch unabhängig von Kriegs- und Krisenzeiten bedeutsam sein. So zeigt die Verwaltung eine Beharrungstendenz, an einmal bestehenden Aufgaben und Ausgaben festzuhalten und diese möglichst noch auszuweiten (zumal hierdurch auch die jeweiligen Behörden ihre Bedeutung zum Ausdruck kommen sehen mögen). Diese Inflexibilität nach unten wird durch den institutionellen Rahmen des Haushaltsprozesses gefördert: Bereits im Vorjahreshaushalt bestehende Ausgabenansätze werden mehr oder weniger ohne Prüfung auf weitere Notwendigkeit im jeweils neuen Haushalt übernommen (,,inkrementale Entscheidungen“). Das Verfahren kommt den Interessen der Bürokraten entgegen. Es kann durch folgende Funktion beschrieben werden (7-10)

Bit ) - i Bit 51 9 A it

mit Bit = die für das laufende Haushaltsjahr der Verwaltung i bewilligten Mittel, -i = Konstante und Ait = Zufallsvariable, die im Durchschnitt null ist. Demnach resultieren die Bewilligungen in Periode t für die i Verwaltungen aus den früheren Bewilligungen, die in der Regel wieder mit Aufschlägen beantragt und dann u.U. vom Parlament um einen Abschlag gekürzt werden, so dass letztlich insgesamt - > 1. Die Hypothese der weitgehenden Vorjahresorientierung wurde damit begründet, dass die Allokation der Budgetressourcen auf bestimmte Zwecke nach sachlichen Kriterien für Politiker schwer zu beurteilen ist. Daher werden bei der Mittelbewilligung Faustregeln verwendet, in die als wichtigste Entscheidungsgrundlage das Vorjahresbudget eingeht. Erhöhungen in den beantragten Mitteln unterliegen der Kürzung, nicht hingegen beantragte Mittel gleicher Höhe. Veränderungen von B 9" ?A9:0.108> )önnen auf Lernprozesse, politische und soziale Faktoren zurückgeführt werden. Die Inflexibilität der Ausgaben nach unten kann auch durch internationale Vereinbarungen (beispielsweise EU-Beiträge, Entwicklungsprogramme u.ä.) und durch ausschließlich für Deutschland geltende gesetzliche Regelungen herbeigeführt sein (Zuschüsse zur Sozialversicherung, Abdeckung der Defizite öffentlicher Unternehmen usw.). Allerdings können zumindest die letztgenannten gesetzlichen Regelungen (prinzipiell) jederzeit geändert werden, insbesondere, wenn Mittelknappheit besteht.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

(11) Umverteilung Die Zunahme der Staatsquote in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten beruht stark auf der Entwicklung der Übertragungen. Abgaben und Transfers sind auf Änderungen der (vor allem Einkommens-)Verteilung ausgerichtet (siehe auch Abb. 7-1). Das Auseinanderklaffen der ungleichen (linksschiefen) Einkommensverteilung und der Gleichverteilung des Stimmrechts mag eine Ursache sein, bei einfacher Mehrheitsregel in Abstimmungen verteilungsändernde Maßnahmen zu beschließen. Da sich die Stimmbürger um den (einkommensmäßigen) Median entscheiden können, ob sie den Reicheren oder Ärmeren zur Mehrheit verhelfen, sind sie in bestimmten Fällen von besonderer Bedeutung. Es ist zu erwarten, dass so die Medianwähler von der Umverteilung profitieren. Vermutlich wird es zu einem weiteren langfristigen Anstieg der Transferquote angesichts der Vielfalt und Mehrdimensionalität staatlicher Programme, deren spezifischer Ausgestaltung und dem Umstand kommen, dass die wenigsten von ihnen sich auf eine breite Mehrheit stützen können. Gerade auch aus der Vielzahl von Interessengruppen kann auf einen Druck auf eine Umverteilung zu ihren Gunsten geschlossen werden. Das gilt insbesondere für Gruppen, die über starke Präferenzen und politisches Durchsetzungsvermögen verfügen. Wenn die Zahl der Interessengruppen zunimmt, was u.a. eine Folge zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung sein kann, ist auch eine Ausweitung der entsprechenden Staatsausgaben möglich: Beispielsweise wechselnde Koalitionen von Politikern, Interessengruppen und Bürokraten führen Abstimmungen über immer neue Programmkombinationen durch. b) Ergebnis Oben wurden einige Aspekte behandelt, die für eine positive Theorie der Staatsausgaben von Bedeutung sein können. Frühere Studien von Recktenwald (1977) und Leineweber (1988) deuten darauf hin, dass von einer Zwangsläufigkeit der relativen Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit nicht gesprochen werden kann. „Ob und gegebenenfalls wie lange sich die Entwicklungen der Vergangenheit in Zukunft fortsetzen werden oder ob die Staatsquote bereits einen maximalen Wert erreicht hat, von dem aus eher rückläufige Prozesse zu erwarten sind“, ist offen (Littmann 1977a, S. 357). Die verschiedenen Faktoren, die für das Ausgabenwachstum verantwortlich sind, werden in Schätzgleichungen wie der folgenden dargestellt (7511) ln A St ) a ln y 9 b ln B 9 c ln Pö 9 d ln T 9 ln Z , wobei y das Pro-Kopf-Einkommen, B die Bevölkerung, Pö den relativen Preis für eine Einheit öffentlicher Leistungen, T das Steueraufkommen und Z den Vektor für alle anderen Einflüsse auf ASt angeben und a, b, c und d Elastizitäten sind. Hierbei ist der politische Prozess nicht speziell festgelegt. In Z kann sich der Einfluss anderer Größen auf die staatlichen Ausgaben niederschlagen. Borcherding/Ferris/Garzoni (2002) zei-

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

223

gen für 20 OECD-Staaten 1970-1997, dass die staatliche Aktivität (gemessen als CSt!) nicht weiter gestiegen ist. Die Analysen beschränken sich regelmäßig auf haushaltswirksame Aktivitäten des Staates, außerbudgetäre Maßnahmen („Off-budget-activities“) bleiben außer Betracht. Wenn staatliche Entscheidungsträger ein bestimmtes Ziel mit direkten Ausgaben oder ohne solche erreichen könnten, würden sie bei einem Druck zur Beschränkung der Staatsausgaben die zweite Alternative wählen. Daten zur Beurteilung der außerbudgetären Aktivitäten (Regulierungen, auch Steuervergünstigungen) fehlen weitgehend, und nicht einmal befriedigende Kriterien zu ihrer Erfassung liegen vor. 6. Modelle der Ausbeutung durch den Staat Für die Beurteilung der staatlichen Aktivität (nach Umfang und Struktur) ist letztlich immer die Frage der exakten – nicht nur allokativen – Zielsetzungen unter genauen Rahmenbedingungen maßgeblich, aus denen heraus ein unterschiedlicher Umfang staatlicher Aktivität zu rechtfertigen ist. Zu beachten ist auch, dass privates und staatliches Handeln sich wechselseitig beeinflussen bzw. bedingen. Unter diesen Bedingungen wundert es nicht, dass Ökonomen ein breites Spektrum an Positionen vertreten, wonach die Staatstätigkeit begrenzt oder ausgeweitet werden soll. Zwei extreme theoretische Positionen werden nun vorgestellt, von denen bereits Bausteine verwendet wurden. a) Marxistische Auffassungen Die marxistische Literatur umfasst unterschiedliche, sich widersprechende bzw. bekämpfende Strömungen hinsichtlich der Beurteilung des Staates. Die Spannbreite der Positionen ist bereits im Werk von Karl Marx festzustellen (Jessop 1977). Für marxistische Darstellungen ist die explizite oder implizite Annahme einer gesetzesmäßigen Bewegung hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung entscheidend. Diese wird durch Abwesenheit von Ausbeutung (= private Mehrwertaneignung) verstanden. Staatliches Handeln wird in Bezug auf diese Entwicklung beurteilt. Marxistische Theorien legen die einzelnen Personen durch ihre Klassenzugehörigkeit fest. Die Klasse wird durch das Eigentum an Produktionsmitteln definiert. Marx hat sich wenig mit den komplexen Beziehungen zwischen Staatsapparat, Staatsgewalt, Kapitalakkumulation und ihren sozialen Voraussetzungen beschäftigt. Er hat sich auch kaum mit der Besteuerung auseinandergesetzt, da nach seiner Auffassung die kapitalistische Einkommensverteilung durch die Produktionsverhältnisse und das Privateigentum an Produktionsmitteln, nicht aber durch die Steuern bestimmt wird. Der Staat wird verschiedentlich als Agent der Interessen der Kapitalistenklasse interpretiert, er spiegelt folglich die Klassenverhältnisse in der Wirtschaft wider. Eine Änderung der Regierung ändert von selbst weder die Natur des ökonomischen und

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

sozialen Systems noch die Rolle, die der Staat darin hat. Eine Ausdehnung der staatlichen Aktivität insgesamt und insbesondere z.B. in den Bereichen soziale Sicherung, Gesundheit, Bildung u.ä. werden als Maßnahmen im Interesse des Kapitals und zur Erhaltung des kapitalistischen Systems gedeutet 1. Im Gegensatz zur marxistischen Linken glaubt die nichtmarxistische Linke an ein großes Potenzial nützlicher Aktionen durch den Staat. Sie können gesichert werden, indem eine politische Kontrolle über die staatlichen Institutionen durch die gewählten Mitglieder der Arbeiterpartei gewährleistet wird. Die nichtmarxistische Linke hat daher die Bedeutung einer Änderung der Regeln betont, weniger eine Änderung der Natur staatlicher Institutionen: Verlangt werden die Verpflichtung zu sozialistischer Politik und zu geeigneten Verwaltungsmaßnahmen. So wie der paretianische Wohlfahrtsanalytiker implizit auf den altruistischen öffentlichen Bediensteten zur Durchführung der optimalen Politik zurückgreift, stützt sich die nichtmarxistische Linke auf den guten Verwalter, der den Weg des Sozialismus bereitet. Eine wachsende Staatstätigkeit wird dementsprechend als Ergebnis der wachsenden Einflussnahme der Arbeiterklasse interpretiert, die zu einer partiellen Realisierung des Sozialismus führt (Heald 1983). b) Der Staat als Leviathan Während in marxistischer Sicht des kapitalistischen Staates die Ausbeutung durch das Kapital erfolgt, widmet sich eine andere Schule der Ausbeutung der Bürger durch den Staat in einer politischen Demokratie. Der Bürger wird im Staat des unersättlichen Leviathan ausgebeutet, der entweder durch einen Einnahmenmaximierer oder durch die haushaltsmaximierende Bürokratie repräsentiert wird. Leviathan (ein Seeungeheuer, das oft das Böse symbolisiert) wurde als Bild gewählt, um die düsteren Konsequenzen deutlich zu machen, die aus einer Expansion insbesondere fiskalischer Aktivitäten des Staates zu erwarten sind. Der Staat ist eine allmächtige Institution, in der Personen oder Gruppen im eigenen Interesse handeln, und er wird nur zu dem Zwecke genutzt, den Interessen dieser Gruppen zu dienen. Das tatsächliche Staatswesen wird in diesem Bild natürlich verzerrt wiedergegeben. Die Konsequenzen zu großer Machtfülle bei fehlender oder unzureichender politischer Kontrolle des Staates werden auf diese Weise jedoch eindringlich vermittelt. Sie bestehen in seiner Ausweitung, Schwerfälligkeit, Übermacht, Bürokratisierung und Unwirtschaftlichkeit. Das Leviathan-Modell des Staates wurde als eine „Monopoltheorie des Staates“ (Brennan/Buchanan 1977, 1980) beschrieben. Sobald die Steuererhebungsbefugnis gewährt wird, schöpft der Leviathan die Monopolmacht aus, um seinen Appetit nach Einnahmen und Ausgaben zu befriedigen. In der Formulierung von Niskanen (2002) ist der Leviathan ein budgetmaximierender Bürokrat. Auch die Parteien können so interpretiert werden. Der Bürger (Wähler/Steuerzahler) besitzt keinen wirksamen Me-

1

Diese Argumentation wird politisch von Gruppen aufgegriffen, die den Staat als verlängerten Arm internationaler Konzerne sehen.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

225

chanismus, der ihn vor der Ausbeutung durch den Leviathan schützt 1. Weder der Wahlmechanismus noch moralische Beschränkungen begrenzen dessen Machtfülle. Hilfe können nur die Festlegung eines Minimalstaates oder andere Schranken bringen, wodurch die Handlungsspielräume von Politikern und Bürokratie eingeengt werden. c) Unterschiedliche Beurteilung der staatlichen Aktivität Der Umfang der öffentlichen Haushalte wird normativ unterschiedlich beurteilt. Die Fiskalillusion lässt auf einen „zu großen“ Umfang staatlicher Aktivität schließen. Buchanan/Tullock (1962) gehen von einer Überschätzung des Nutzens öffentlicher Leistungen aus, weil das staatliche Angebot in vielen Fällen so ausgerichtet sei, dass es Interessengruppen befriedige, die für spezielle Programme aktiv würden. Die fehlende Bindung zwischen einzelnen staatlichen Leistungen und ihrer Finanzierung erleichtere diese Politik. Die Monopoltheorie des Staates von Brennan/Buchanan weist ebenfalls auf zu hohe staatliche Aktivität. Zu groß erscheinen die öffentlichen Haushalte auch, wenn man Niskanens Theorie zugrunde legt. Sie beruht auf den Annahmen des Eigeninteresses der Bürokraten und eines Mangels an Außenkontrolle, die ohne OutputIndikatoren und die disziplinierenden Wirkungen des Marktmechanismus nicht geleistet werden kann. Sieht man wie Hayek oder Friedman einen aktivistischen Staat als Ursache für Instabilität und Ineffizienz im privaten Sektor, sollte der Staat effizient operierende private Märkte gewährleisten und nicht ersetzen oder behindern. In einer gegensätzlichen These vom privaten Überfluss bei öffentlicher Armut behauptet Galbraith (1958), dass die öffentlichen Ausgaben unterbewertet seien. Implizit unterstellt er eine effiziente staatliche Ressourcenverwendung. Auch Keynes befürwortete letztlich eine zunehmende staatliche Aktivität. Seine Begründung war allerdings, dass die Wirtschaft nur effizient bei kontinuierlicher Feinsteuerung durch den aktiven Staat sei. Im Folgenden werden Maßnahmen zur Beschränkung und Reduzierung der Staatstätigkeit allgemein 2 untersucht. Ein Ziel könnte sein, durch die Ausschaltung politischer (einschließlich bürokratischer) Mängel Staatsversagen einzudämmen. Das öffentliche Budget wird hierbei als ineffizient groß angesehen, seine Einschränkung könnte zu Effizienzgewinnen führen. Das trifft nicht zu, wenn die Nachfrage des Staates preisunelastisch ist und (nach der Baumol-These) der Preis für den Staat steigt. Jede Maßnahme zur Beschränkung der staatlichen Aufgaben/Ausgaben ist unter den Nebenbedingungen zu prüfen, ob die Ziele der Politik (z.B. eine bestimmte Versorgung mit Gesundheitsleistungen) qualitativ und quantitativ weiter erfüllt werden bzw. welche Opportunitätskosten entstehen. Die meisten untersuchten Argumente können auch umgekehrt zur Analyse der Frage herangezogen werden, ob die Staatstätigkeit ausgeweitet werden soll. 1 2

Das Leviathan-Modell entspricht also einer Situation, in der kein Sanktionsmechanismus der Wähler greift. Die Begrenzung oder Reduzierung des Sozialversicherungsbudgets wird im 11. Kapitel und der öffentlichen Verschuldung im 25. Kapitel behandelt.

226

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

7. Möglichkeiten der Begrenzung und Reduzierung staatlicher Aktivität a) Konstitutionelle Reform Zur Beschränkung der an an Budget bzw. Staatsausgabenquote gemessenen Staatstätigkeit müssen die Ausgabenmöglichkeiten von Regierung und Parlament beschnitten werden. Die einzige Aussicht für den Bürger vor der Ausbeutung geschützt zu werden, sehen Brennan/Buchanan (1977) in einer konstitutionellen Regelung. Sie soll die Entscheidungsmacht einschränken und durch Änderungen der Anreize für die politischen und bürokratischen Akteure ein Verhalten bewirken, durch das „den Präferenzen der Bürger verstärkt Geltung verschafft werden soll. Damit wird der Grundgedanke einer bisher fehlenden Ordnungspolitik für den öffentlichen Sektor formuliert“ (Folkers 1984, S. 168). Zur Beschränkung von Form und Ausmaß der Steuermacht schlagen Brennan/Buchanan im Einzelnen vor S Steuern zu verwenden, die stärker den Präferenzen der Bürger entsprechen und sich auf zum Konsum öffentlicher Güter komplementäre Aktivitäten erstrecken („Zweckbindung“); S durch Verbindung von Steuer- und Ausgabenentscheidungen den Wählern die Kosten öffentlicher Programme zu verdeutlichen; S finanzpolitische Allokations-, Distributions- und Stabilisierungsmaßnahmen und auch die einzelnen Ebenen des föderalen Staates streng zu trennen; S eine möglichst große fiskalische Dezentralisation; Steuerkooperation oder -harmonisierung erleichtern hingegen die fiskalische Ausbeutung des Steuerzahlers; S qualifizierte Mehrheiten für Steuer- und Ausgabenentscheidungen einzuführen; S einen (materiellen) Haushaltsausgleich anzustreben; S Steuersatzdifferenzierungen nach Güterarten und Wirtschaftssubjekten zu vermeiden, die sonst ein maximales Steueraufkommen wegen fehlender Ausweichmöglichkeit auf unbesteuerte Alternativen zulassen, Renten abschöpfen und so die maximale Ausbeutung möglich machen; S neben den eher verfahrensmäßigen Budgetbegrenzungen auch verschiedene ergebnisbezogene, quantitative Regelungen wie die Begrenzung von Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen zu diskutieren 1. Zur Umsetzung dieser Vorschläge können für Staatsausgaben, Steuern, Sozialbeiträge oder öffentliche Neuverschuldung Höchstgrenzen verfassungsmäßig festgelegt werden. In globaler Form geht es dabei um allgemeine Verschuldungs-, Besteuerungsund Ausgabengrenzen, in spezieller Form werden das Aufkommen einzelner Steuern, deren Bemessungsgrundlagen oder Steuersätze beschränkt 2. Dieser Katalog kann durch weitere Maßnahmen ergänzt werden, wie die regelmäßige Überprüfung der Begründung neuer und alter Gesetze, die zeitliche Begrenzung von Programmen und ggf. Institutionen sowie die Prüfung der Bürokratiekosten. Teilweise sind diese Maßnah1 2

Vgl. zu den steuerpolitischen Konsequenzen auch Folkers (1987). Siehe dazu das 26. Kapitel.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

227

men schon vorgesehen, nur werden sie nicht konsequent unter Verwendung der Nutzen-Kosten-Analysen umgesetzt. Sind sie nicht eindeutig und umsetzbar und fehlt ein Sanktionsmechanismus, sind solche Maßnahmen allerdings von geringem Wert. b) Dezentralisierung Dezentralisierung wird von Brennan/Buchanan als eine Möglichkeit diskutiert, über institutionelle Änderungen die Staatsquote zu verringern. Sie kann den Wettbewerb zwischen den Politikern und zwischen den Behörden verschärfen und dem Bürger die Abwanderung erleichtern 1. Sie gibt auch den Wählern einen stärkeren Anreiz sich über politische Fragen zu informieren, denn sie können häufiger abstimmen und das Gewicht ihrer Stimme nimmt zu. Bei verbesserter Information der Wähler wird es für die Interessengruppen (einschließlich des öffentlichen Dienstes) schwerer Erhöhungen der Staatsausgaben durchzusetzen. Dezentralisierung setzt eine eindeutige Zuordnung der Kompetenzen auf die Ebenen voraus 2. c) Privatisierung (1) Ziele und Formen der Privatisierung Eine vollständige Privatisierung ist immer dann kann zweckmäßig, wenn es um ökonomisch nicht zu rechtfertigende Staatsaufgaben/-ausgaben geht. Rechtlich als Kernbereich des Staates oder zum Bereich öffentlicher Daseinsvorsorge gezählte Aufgaben müssen ökonomisch gerechtfertigt sein. Privatisierung kann insbesondere dann zweckmäßig sein, wenn die Substitution staatlichen Handelns durch den Markt zu einer effizienteren Allokation der Ressourcen führt. Tatsächlich erfolgten Privatisierungen in der Vergangenheit häufig aus fiskalischen Gründen. Der Abbau von Ämterpatronage als Teil der staatlichen Ineffizienz ist selten politisches Ziel. Übersicht 7-1 Möglichkeiten der Güterversorgung Produktion Bereitstellung privat öffentlich

Finanzierung

privat

öffentlich

privat

öffentlich

1 5

2 6

3 7

4 8

Die Grenze zwischen privater und staatlicher Aktivität ist in vielen Fällen fließend. Bei der Analyse der optimalen Versorgung mit öffentlichen Gütern ging es um deren Umfang und Finanzierung. Wenn der Staat für die Bereitstellung öffentlicher Güter zuständig sein soll, muss er die Güter nicht auch selbst produzieren. Soll aber bei pri1 2

Dieser „Tiebout“-Effekt wird im 24. Kapitel behandelt. Diese besteht in Deutschland angesichts der geringen Steuerkompetenz der (einzelnen) Länder, der Mischfinanzierung und der Ausgabenverflechtung nicht (vgl. 25. Kapitel).

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

vater Bereitstellung eine bestimmte Versorgung (z.B. mit Gesundheits- oder Sicherheitsleistungen) gewährleistet sein, sind Regulierung und Kontrolle erforderlich. Auch die Finanzierung kann unterschiedlich geregelt werden. Übersicht 7-1 zeigt einige Alternativen der Güterbereitstellung, -produktion und -finanzierung. Sie liegen zwischen den Extremen vollständiger Markt- (1+3) und vollständiger Staatszuständigkeit (6+8). Häufiger werden Mischformen der Public-Private-Partnership (PPP) gewählt, bei der einzelne Funktionen oder Phasen wie Planung, Bau, Betreibung oder Vorfinanzierung ganz oder teilweise von Privaten übernommen werden. Hierbei wurden in den letzten Jahren stärker rechtlich institutionalisierte Formen der PPP gewählt. Das Eigentum z.B. an Infrastrukturleistungen bleibt in der Regel ganz beim Staat oder geht nach einem vertraglich geregelten Zeitraum an ihn über. Auch die Nutzungsentgelte können unterschiedlich geregelt sein. Im Folgenden werden vier Fälle behandelt, an denen eine Privatisierung anknüpfen kann. (2) Privatisierung der Finanzierung Bei der Privatisierung der Finanzierung einer staatlich bereitgestellten Leistung, die weiter durch den öffentlichen Sektor produziert wird (Fälle 6 + 7 in Übersicht 7-1) geht es um die Frage, ob einzelne öffentliche Leistungen über Preise bzw. Gebühren finanziert werden sollen. Dadurch wird die Trennung der Einnahmen und Ausgaben im staatlichen Entscheidungsprozess beseitigt. Gebühren werden bisher primär von den Gemeinden erhoben, sie spielen eine relativ geringe Rolle bei der Finanzierung der gesamten Staatsausgaben. Gebühren haben eine wichtige allokative Aufgabe. Sie ersetzen die Mengenrationierung, die meist mit einer ineffizienten Kostenstruktur verbunden ist, und geben nachfrageorientierte Anreize. Jüngere Beispiele für die Privatisierung der Finanzierung sind die Erhebung von Autobahngebühren für LKW oder Studiengebühren 1. Bei den verschiedenen Formen privater Finanzierung 2 ist die staatliche Regelungskompetenz unterschiedlich betroffen. Die private Finanzierung ist allokativ fragwürdig, wenn sie lediglich eine Vorfinanzierung staatlicher Projekte bewirkt und insbesondere aus steuerlichen Gründen von einer staatlichen Ebene (z.B. Gemeinde) gewählt wird 3, ohne reale Effizienzgewinne herbeizuführen. (3) Privatisierung der Produktion Die Privatisierung der Produktion einer staatlichen Leistung, die weiter durch den öffentlichen Sektor aus dem Steueraufkommen finanziert wird (5 + 8), wird häufig damit begründet, dass so die Effizienz der staatlichen Güterbereitstellung erhöht werden kann. Hierbei geht es um Kosteneffizienz im Sinne von Minimierung der Kosten der 1 2 3

Zu den Studiengebühren siehe Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2010). Zu verschiedenen Formen privater Finanzierung siehe z.B. Budäus (1993) und Rehm (1997). Bei den vielfältigen Formen der Public-Private-Partnership und Leasingmodellen, die ausschließlich oder überwiegend der Geldbeschaffung dienen, tut die öffentliche Hand „genau das, wofür Steuerzahler als Steuerhinterzieher stigmatisiert werden: Sie nutzt sich bietende legale steuerliche Schlupflöcher“ (Der Steuerzahler, Juni 1999, S. 107).

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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öffentlichen Hand bei einem gegebenen Leistungsumfang bzw. Qualitätsniveau. Zur Aufrechterhaltung der gleichen Leistungsstandards wie bei öffentlicher Zuständigkeit sind Auflagen und entsprechend ausgestaltete Verträge erforderlich. Für die Beurteilung privater und öffentlicher Produktion sind die relativen Kosten entscheidend. Diese Form der Privatisierung bewirkt nur dann eine Verringerung der staatlichen Aktivität, wenn die private Produktion langfristig kostengünstiger als die direkte staatliche Produktion ist 1. Bei einer gegebenen Bereitstellung von Leistungen werden die öffentlichen Ausgaben durch die Ersparnisse (zusätzlichen Kosten) reduziert (erhöht), die aus der Verlagerung entstehen. Unabhängig davon, ob Ersparnisse anfallen, sinkt der Umfang der Aktivität hinsichtlich der Zahl der staatlichen Beschäftigten (d.h. in der Entstehungs-, nicht aber unbedingt in der Verwendungsrechnung als Teil von CSt) 2. Schon jetzt bezieht der Staat einen großen Teil seiner Leistungen (ISt fast vollständig) vom privaten Sektor. Die Grenze zwischen direkter Produktion und Käufen des Staates von außen ist in der Praxis fließend und weist auch eine bestimmte historische Zufälligkeit auf. Ein abgewogener Vergleich direkter staatlicher Produktion und privater Produktion ist schwierig, da unterschiedliche Ziele und andere Restriktionen der jeweiligen Aufgabenerfüllung berücksichtigt werden müssen. So ist hinsichtlich der geeigneten Vergleichsbasis zu beachten, dass staatliche Organisationen häufig mehrere Ziele verfolgen und Zielkonflikte bestehen können. Solche Ziele sind z.B. regionale Entwicklung, Beschäftigungsförderung, Unterstützung der heimischen Industrie oder Einkommensumverteilung. Der Staat wird dann meist schlechter beurteilt, wenn sein Verhalten nur an einem Kriterium gemessen wird, etwa an Rentabilität oder Kostenniveau. Abweichungen vom alleinigen Ziel der Effizienz müssen in den zu vergleichenden Größen, z.B. Kostenfunktionen, als zusätzliche Variable (Schattenpreise) Berücksichtigung finden. Daher ist bei einem Vergleich in einem ersten Schritt der vom Staat bereitgestellte Output in einem umfassenden Maß zu spezifizieren. Die Privatisierungsproblematik lässt sich dann am zweckmäßigsten durch Schätzung zweier Kostenfunktionen lösen (siehe Mueller 2003, ch. 16). Die Differenz der Kostenfunktionen privater und staatlicher Produktion (7-12)

K j ) K j (X j , R j )

j ) priv, St

mit X als dem Output und R als zusätzlichen Input- und Output-Charakteristika ist angesichts der genannten schwierigen Vergleichsbedingungen nicht einfach zu bestimmen 3. Für angenommene Unterschiede in der relativen Effizienz öffentlicher und privater Organisationen werden mehrere Gründe angeführt. Sie können auf einer geringeren 1 2 3

Wenn also insbesondere die X-Ineffizienz im privaten Bereich geringer ist. So schlägt sich cet. par. eine Verlagerung von öffentlichen auf private Unternehmen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen nicht nieder. Das arbeitet Braun (1988) heraus.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Produktivitätsentwicklung beim Staat gemäß Baumols These oder auf X-Ineffizienz beruhen, was nicht die gleichen Implikationen für finanzpolitische Maßnahmen hat. Die beim Staat im Vergleich zum progressiven privaten Bereich angenommene geringere Produktivitätsentwicklung lässt sich nur durch Abschaffung personalintensiver Tätigkeiten, nicht aber durch Privatisierung u.ä. verändern. Das trifft immer zu, wenn sich der Arbeitseinsatz nicht reduzieren lässt, ohne dass gleichzeitig die Qualität des Outputs verringert wird. Eine Überführung in den progressiven Bereich ist nicht möglich. Daher ändert die Privatisierung nur die Kontrollkosten und Haushaltsbelastungen. Anders liegen die Dinge im Fall der X-Ineffizienz 1, wenn diese im staatlichen höher als im privaten Sektor ist und sich auch die Relation tendenziell verschlechtert. Der Grund liegt dann eher in institutionellen als in technologischen Bedingungen. Unzureichende interne Anreizsysteme, fehlendes Gewinnmotiv, Verflechtung zwischen unternehmerischen, staatlichen, parteipolitischen und individuellen Karrierezielen, fehlender Wettbewerb und der Einfluss von Interessengruppen können hierfür verantwortlich sein. Beispielsweise können die Preise öffentlicher Unternehmen unter wahltaktischen Gesichtspunkten festgelegt werden. Oder das Management im öffentlichen Bereich (einschließlich öffentlicher Unternehmen) leistet Widerstand gegenüber der Einführung neuer Technologien 2. So können Argumente zur Erhaltung kleiner Schulklassen bei einer postulierten Verbindung mit der Qualität einfach ein Deckmantel sein, um die Einführung neuer Techniken (programmiertes Lernen, Sendungen mit Videogeräten u.a.) zu verhindern, die den Umfang des Budgets und die Beschäftigung gefährden. Höhere Ausgaben im öffentlichen Bereich können daher durch die Art der Aktivität bedingt sein, auf höherer X-Ineffizienz oder auf einer Kombination beider beruhen. Öffentliche Produktion muss aber selbst bei technischer Ineffizienz nicht ersetzt werden, wenn dies nur zu hohen Transaktionskosten möglich ist (Backhaus 1994, S. 281). Solche Effizienzgewinne privater Produktion aus größerer Flexibilität, Kostenvorteilen aus Know-how, Markterfahrung und Managementfähigkeiten privater Anbieter werden stets als Gründe für Privatisierung angesprochen. Andererseits haben Private in der Regel schlechtere Kapitalmarktbedingungen und wollen Gewinne erzielen. Tatsächlich dürften einige Privatisierungen in der Vergangenheit eher zu Effizienzverlusten geführt haben, insbesondere weil die Qualität der Leistungen nicht gesichert wurde. Die Privatisierung der Produktion kann auch Organisationsprivatisierung sein, indem der Staat eine Aufgabe nach seinen Vorgaben einschließlich Planung, Errichtung (Bau) und Betreibung Unternehmen überträgt 3, die auch in die Insolvenz gehen kön-

1

2 3

Zur Erinnerung: X-Ineffizienz steht bei Leibenstein für alles, was bei gegebenen Ausbringungsmengen Verschwendung darstellt. X-Ineffizienz bedeutet, dass keine kostenminimierende Auswahl von Technologien und Organisationsstrukturen gewählt wird. Das ist aber auch im privaten Bereich möglich. So können staatliche Schulen oder Gefängnisse und selbst die Schulaufsicht privat betrieben werden. Man denke daran, dass auch die US-amerikanische Zentralbank privat ist.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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nen. Bei Privatisierung durch Ausschreibung kommt es zum Wettbewerb um den Markt (statt auf dem Markt) zwischen Unternehmen. (4) Entstaatlichung Bei der Entstaatlichung geht es um die Veräußerung von Institutionen im staatlichen Eigentum und die Übertragung von bisher staatlicherseits wahrgenommenen Funktionen an den privaten Sektor (1 + 3 oder bei staatlicher Regulierung 5 + 7). Die Effizienz ist hier noch schwerer zu beurteilen, weil die Privatisierung über die Verlagerung der Produktion hinausgeht. Für diese Form der Privatisierung werden als Ziele genannt: Einnahmenerzielung, Verbesserung der Effizienz, Verringerung des Staatseingriffs, breite Vermögensverteilung, Möglichkeit zur Wettbewerbsverstärkung und Einbeziehung in den Wettbewerb. Die Maßnahme kann wettbewerbspolitisch auch insofern zweckmäßig sein, als öffentliche Unternehmen häufig steuerlich begünstigt sind und regelmäßig nicht der Aufsicht des Kartellamtes unterstehen. Die „politische“ Kontrolle der Entscheidungen öffentlicher Unternehmen wirkt sich in der Berücksichtigung nichtökonomischer Gesichtspunkte aus. Die Ziele der öffentlichen Unternehmen sind häufig unklar und nicht verbindlich festgelegt, weil jede neue Regierung sie verändern kann. Das trifft aber auch auf Regulierungen zu. Es kommt zu allokativ suboptimalen Investitionsentscheidungen, weil die Unternehmen nicht verifizierbaren Variablen wie Beschäftigungswirkungen, regionale Entwicklung, Importabhängigkeit u.ä. Rechnung zu tragen haben, wohingegen das Ziel privater Anteilseigner an gewinnerzielenden Unternehmen mit nachprüfbaren Maßen (Gewinn, Kurse) verbunden ist. Private Anteilseigner haben wenig Anreize, ihre Kontrollrechte zu Lasten z.B. sozialer Ziele einzuschränken. Um eine gewünschte Versorgung durch private Anbieter zu gewährleisten, private Konsumenten zu schützen oder privates Eigentum zu legitimieren, sind staatliche Regulierung und Kontrolle unverzichtbar. Privatisierung und Regulierung sind daher komplementär. Entscheidend für erfolgreiche Privatisierung ist, ob ein System von Regulierungen entwickelt werden kann, das wichtige Anreize zur Bereitstellung der gewünschten Qualität und Menge bietet, den Investoren die Profitabilität ihrer ökonomisch gerechtfertigten Investitionen erlaubt, dem Bürger eine effiziente Versorgung und dem Staat geringere Haushaltsbelastung und insbesondere klar überschaubare Risiken bringt. Gegen die Entstaatlichung wird vorgebracht, dass der öffentlichen Hand mögliche Erträge aus der Wirtschaftstätigkeit entgehen würden. Dagegen spricht, dass der Staat nur dort tätig sein sollte, wo der Markt versagt. Als weiteres Gegenargument wird auf verteilungspolitische Aufgaben verwiesen. Diese können aber effizienter durch Steuern/Transfers erfüllt werden. Außerdem werden beschäftigungspolitische Gründe für öffentliche Unternehmen angeführt. Allerdings wird normalerweise nicht produziert, um Faktoren zu beschäftigen, sondern um die Nachfrage nach Gütern zu befriedigen. Auch sind die Opportunitätskosten der Beschäftigung zu beachten, nämlich der Wir-

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kung auf die Beschäftigung in anderen Bereichen, die die Finanzierung zu tragen haben, und in dem potenziellen Ausscheiden effizienter arbeitender Unternehmen. (5) Liberalisierung Als Liberalisierung ist die Lockerung der Regeln zu verstehen, die Wettbewerb und Zugang festlegen. Die Sicherung von Monopolen durch den Staat ist abzubauen. Sie hindert die privaten Unternehmen daran auf Märkten aufzutreten, deren Angebot ausschließlich der öffentliche Sektor bereitgestellt. Es geht also um den Abbau von Marktzutrittsschranken und den Versuch, geschützte Teile des öffentlichen Sektors einem größeren Wettbewerb auszusetzen. Der Staat kann zwar weiter als Anbieter und Produzent von Gütern am Markte auftreten, aber private Wettbewerber nicht ausschließen 1. Entsteht durch Zulassung privater Anbieter/Produzenten eine Konkurrenz, kann der Nutzer entscheiden, von wem er die Leistungen kaufen möchte. In diesem Fall werden die Wettbewerbskräfte zur Verbesserung der Effizienz beitragen können. Institutionelle Marktzutrittsschranken ergeben sich aus staatlichen Gesetzen, Verordnungen, Satzungen und anderen Regelungen bzw. werden durch solche ermöglicht. Sie bewirken fast immer technische und qualitative Ineffizienzen. Institutionelle Marktzutrittsschranken „sind zudem typischerweise besonders dauerhaft, unflexibel bei ökonomischen Veränderungen, beeinflussbar durch politische und Gruppeninteressen usw.“ (Kruse 1986, S. 34). Der Abbau von Marktzutrittsschranken ist eine Möglichkeit der Deregulierung, d.h. der Beseitigung staatlicher Eingriffe in die individuelle Vertragsfreiheit oder zumindest des Übergangs zu anderen, marktkonformen Lenkungsinstrumenten. Deregulierung und Wettbewerb werden verschiedentlich gegenüber der Entstaatlichung als überlegen angesehen. Die gesamte Volkswirtschaft unterliegt umfassenden Regulierungen, deren Form von den Besonderheiten des jeweiligen Sektors und den politischen Zielen abhängt. Sie betrifft insbesondere Versorgungsunternehmen. Ein Abbau der Regulierung ist dann zweckmäßig, wenn die Kosten der Regulierung den Nutzen der Maßnahme übersteigen. Regulierte Bereiche neigen häufig zu höheren Löhnen und starken Gewerkschaften, so dass Deregulierung ein Beitrag zum Abbau von Renten leisten kann. Wichtig ist, dass Wettbewerb gewährleistet wird. (6) Beurteilung der Privatisierung Allokative Effizienz spricht für Privatisierung, wenn privates Handeln effizienter als staatliches Handeln ist. Die Verlagerung der vom Staat übernommenen Aufgaben bzw. Aktivitäten auf den privaten Sektor kann unterschiedlich umfassend sein, denn öffentliches Eigentum ist nur eine Form im breiten Spektrum staatlicher Eingriffe. So kann eine aus dem Abbau der Marktzutrittsbarrieren resultierende (teilweise) Verlagerung 1

So wird z.B. vorgeschlagen, eine durch Pauschalen finanzierte gesetzliche Krankenversicherung mit privaten Versicherungen bei allgemeiner Versicherungspflicht konkurrieren zu lassen.

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staatlicher auf private Produktion von einer Zunahme der Regulierungen begleitet sein, oder ausgegliederte Bereiche erfüllen weiter öffentliche Aufgaben. Viele theoretische Begründungen für Privatisierungen beruhen auf der Annahme, dass die schädlichen Effekte staatlicher Eingriffe bei staatlicher Bereitstellung, darunter durch öffentliche Unternehmen, größer als bei staatlicher Regulierung sind, nicht aber, dass die negativen Effekte durch Privatisierung verschwinden (Megginson/Netter 2001, S. 331). Daher ist für die Beurteilung der Privatisierung die Frage wichtig, ob weiterhin eine als notwendig erachtete Versorgung mit bestimmten Gütern qualitativ und quantitativ gewährleistet ist 1. Gerade hierbei sind häufig staatliche Regulierungen und Kontrolle unverzichtbar. Ob die Maßnahmen ferner einen messbaren Effekt insbesondere auf die Staatsquote (im Sinne der VGR) haben, ist fraglich 2. Übersicht 7-2 Der Entscheidungsprozess der Privatisierung Akteure S Politiker S Bürger S Wähler S Steuerzahler S Verbraucher der Leistungen S Management des Untern. S Übrige Beschäftigte d. Untern. S Verkäufe der Inputs S Wettbewerber u. ihre Beschäft. S Potenzielle Wettbewerber

Merkmale S Wohlfahrtsverschiebungen/ Kreuzsubventionen S Interessenverbindungen S Transaktionskosten S Rationale Ignoranz S Gebündelte Nutzen/ verstreute Kosten S Kurzsichtigkeit S Verschleierung von Kosten S Verschleierte Umverteilung S Mangelhafte Übersicht

Beschränkungen S Finanziell S Öffentlicher Dienst S Föderalismus S Abstimmungen (Wahlkampf- oder andere Spenden, AgendaKontrolle)

Quelle: Hinds/Sanchez/Schap (2004), S. 289.

Möglichkeiten und Formen einer Privatisierung hängen (ähnlich für den Erfolg der Kürzungsstrategien) vom politischen Entscheidungsprozess ab (vgl. Übersicht 7-2). Der Nutzen der Privatisierung kommt allen Bürgern zugute, wenn eine verzerrende Produktions- und/oder Finanzierungsmethode des Staates aufgegeben, Konkurrenz zugelassen, monopolistische Preisbildung beendet wird usw. Soweit öffentliche Unternehmen die Güter nicht gewinnbringend verkaufen, verhalten sie sich wie kostendeckende Unternehmen oder die Bürokratie (vgl. Kapitel 5.3e). Die Kosten der Privatisierung fallen auf Interessengruppen, von denen typischerweise die Arbeitnehmer der öffentlichen Unternehmen den größten Teil zu tragen haben. Die Gruppe der politischen Verlierer wird die effiziente Politikänderung zu verhindern oder hinauszuzögern versuchen. Öffentliche Unternehmen und staatliche Behörden sind eine wichtige Quelle für politische Renten der Politiker. Sie nehmen Einfluss zur Förderung spezieller Interessengruppen, z.B. der Arbeitnehmer, von denen sie politische Unterstützung erwarten, indem sie die Unternehmensmanager zu ineffizientem Arbeitseinsatz und hohen Löhnen anhalten. Politiker versuchen die wahren Kosten der Maßnahme zu ver1 2

Das Beispiel „Deutsche Bahn“ zeigt in der Vorphase einer möglichen Privatisierung die Probleme deutlich. So rechnen Unternehmen wie die Post oder die Deutsche Bahn ohnehin zu den Kapitalgesellschaften, also nicht zum Staat. Wenn der Staat Leistungen (z.B. Gebäudereinigung) ausgliedert, sinkt seine Wertschöpfung, wegen der zusätzlichen Käufe dieser Leistungen müssen aber die Staatsausgaben und der Staatsverbrauch nicht sinken.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

bergen und die Nutzen zu übertreiben. Sie wägen die Wirkungen auf die verschiedenen betroffenen Gruppen ab. Gegen Privatisierung sind auch Widerstände der Bürokratie zu erwarten, die einen Teil ihrer Aufgaben verlieren würde. Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes rechnen mit dem Verlust von Mitgliedern und dem Abbau von Renten. Gegen Privatisierung können auch Parlamente sein, deren Mitglieder zu einem hohen Prozentsatz im Staatsdienst beschäftigt sind. Ob allerdings eine unabhängige NKA immer Effizienzverbesserungen der Privatisierung bestätigt, ist fraglich. Denn auch hinter vorgeblichen Effizienzverbesserungen stehen Interessen der Begünstigten. Dazu rechnen insbesondere die Berater, die an Konzeption und Realisation verdienen. Sie sind teils verzahnt auf Unternehmensseite mit Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Anlegern und mit dem Staat, der sie mit scheinbar unabhängigen Gutachten mangels eigener Kompetenz in den Entscheidungsprozess einbezieht. Zudem ist die Verflechtung von privaten Interessen mit staatlichen Entscheidungsträgern nicht im öffentlichen Interesse. Die verschiedenen in diesem Abschnitt vorgetragenen Argumente zur Privatisierung gelten entsprechend bei Entscheidungen über Verstaatlichungen. d) Reformen, Strategien zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen Bei jeder Reform ist zu berücksichtigen, dass sie S sichtbar nicht nur zu Gewinnern führt. Immer treten Verteilungseffekte auf oder werden als solche zugunsten oder zulasten einzelner Gruppen interpretiert. Das ist auch nicht anders zu erwarten angesichts der vielen Dimensionen von Verteilung (soziale Gruppen, Branchen, Regionen, Generationen usw.; vgl. Kapitel 8), Gerechtigkeit oder Fairness hat, die Effizienz schlägt 1. S der Kritik ausgesetzt wird, weitgehend planlos und ohne Konzept zu erfolgen. Das gilt selbst dann, wenn Argumente zur Begründung der Reformmaßnahmen ausdrücklich und detailliert vorgetragen werden. Diese können sogar die ablehnende Haltung verstärken: Es wird klar, dass das Vorhaben scheitern muss, weil es komplizierter als gedacht ist 2. In der Praxis werden diverse Proteste, Unterschriftenlisten, Mitteilungen an Medien, Sonderparteitage usw. initiiert, die den Vertretern von Reformen die „Deutungshoheit“ nehmen. So besteht angesichts der Dimensionen von Verteilung und Gerechtigkeit die Gefahr, dass Partikularinteressen (tatsächlich vertreten oder) unterstellt werden, was die Glaubwürdigkeit gesamtstaatlicher Reformen beschädigt. Das gilt selbst dann, wenn klare Erfolgsperspektiven aufgezeigt werden. Die Glaubwürdigkeit wird zudem beschädigt, wenn die an der Entscheidung Beteiligten keine einheitliche Linie vertreten und so die Zielsetzung in den Hintergrund tritt. Das ist leicht möglich, weil bei allen Entscheidungen viele mit unterschiedlichen Interessen beteiligt sind. 1

2

Heinemann u.a. (2010) zeigen, dass die ökonomische Situation nur eingeschränkt einen Einfluss auf die Wahrnehmung hat. Das gilt für die von Reformen Betroffenen wie für die Entscheidungsträger. So eine von der FAZ (22. Juni 2010, S. 10) zitierte Sinus-Studie.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

235

Angesichts dieser Schwierigkeiten stellt sich die Frage, welche Strategien zur budgetären Beschränkung oder zur Konsolidierung sich am besten durchsetzen lassen 1. So kann der Entscheidungsträger die Staatsausgaben reduzieren, indem er S allmählich (gradualistisch) Aufgaben beschneidet oder umfassende Kürzungen kurzfristig beschließt; S strukturelle Änderungen oder generelle (pauschale) Minderungen durchsetzt. Drastische Ausgabenkürzungen waren in der Vergangenheit fast immer auf wirtschaftliche Zwangslagen beschränkt. Allmähliche Veränderungen haben den Nachteil einer langen Dauer, bis das gesteckte Ziel erreicht ist. Sie erleichtern aber die Anpassung der Erwartungen und minimieren so Fehlverhalten. Voraussetzung ist eine klare Strategie, die auch von (potenziellen und tatsächlichen) Nachfolgeregierungen getragen wird. Bei dieser Strategie können ggf. auch Entlassungen und kürzungsbedingte friktionelle Arbeitslosigkeit vermieden werden. Der Personalabbau lässt sich über Einstellungsstops und Ausnutzung der natürlichen Fluktuation erreichen. Zweifel daran, ob es sich bei Kürzungsmaßnahmen um eine dauerhaft angelegte Strategie handelt, können entstehen, wenn in erster Linie dort gekürzt wird, wo die Folgen erst längerfristig zu spüren sind, beispielsweise bei den Investitionen, der Wartung (etwa von Straßen) oder der Forschung. Auch können gerade jene Investitionen gestrichen werden, bei denen die meisten Kosten bereits am Anfang anfallen. Pauschale Ausgabenkürzungen scheinen eine Strategie zu sein, mit der die Opfer gleichmäßig und in diesem Sinne gerecht zu verteilen sind. Die Regierung muss hier nur den globalen Betrag (Satz) bestimmen, die konkreten Kürzungsmaßnahmen sind von den einzelnen Behörden und vom Parlament vorzuschlagen bzw. zu bewilligen. Allerdings können einige Ausgaben, wie z.B. der Schuldendienst, überhaupt nicht gestrichen werden; bei anderen Ausgaben ist die Vertragsgrundlage nur schwer zu ändern. Da die Ausgaben in vielen Fällen nur Erwartungsparameter sind, lassen sie sich auch nicht exakt prognostizieren. Wegen unterschiedlich hoher Fixkosten wirken sich gleichmäßige Kürzungen in den einzelnen Aufgabenbereichen unterschiedlich aus. Unterschreitet man die kritische Grenze von Programmen, müssen diese sinnvollerweise ganz aufgegeben werden. Gleichmäßige Kürzungen verstoßen vor allem gegen die Zielsetzung, Ausgaben mit höchster Priorität zu verwirklichen. Weil ein Teil der Staatsausgaben auf das Wirken der Interessengruppen (einschließlich der Bürokratie) und auf Umverteilungsabsichten der Mehrheit zurückzuführen sein dürfte, können nicht alle derzeitigen Staatsausgaben den gleichen Rang beanspruchen. Effizient sind daher Kürzungen jener Ausgaben, die allokativ und verteilungspolitisch fragwürdig sind, also einzelne Wirtschaftszweige begünstigen (z.B. Subventionen), zugunsten nichtbedürftiger Bevölkerungsgruppen umverteilen (Sozialleistungen) oder der bürokratischen und meist unentgeltlichen Erbringung staatlicher Leistungen dienen, die die Privatwirtschaft kostengünstiger anbieten könnte.

1

Vgl. zum Folgenden Vaubel (1982).

236

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Selektive Kürzungen der Ausgaben (und Einschränkungen von Aufgaben) ermöglichen es, Prioritäten zu erhalten. So könnten etwa Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung sowie Investitionen in die Infrastruktur weniger betroffen sein als Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die die Allokation verzerren und ggf. das Potenzialwachstum beeinträchtigen. Selektive Kürzungen sind aber nur schwer durchzusetzen. Sie stoßen auf den Widerstand der Betroffenen, wobei insbesondere das Gleichbehandlungs- oder das Ausgewogenheitsprinzip angeführt werden. Auch institutionelle Eigeninteressen von Behörden erschweren Kürzungen, die dann auf schwächere Ressorts oder andere Gebietskörperschaften geschoben werden. So haben Bund und Länder in der Vergangenheit häufig durch Reduzierung von Finanzausgleichsleistungen Kürzungen auf die Gemeinden abgewälzt. Empirische Untersuchungen für verschiedene Staaten (OECD 2007) zeigen, dass die Konsolidierung größer bei schwieriger Ausgangssituation war. Probleme sind dann offenbar groß. Die Konsolidierung wirkt stärker und länger, wenn sie über Ausgabekürzungen und nicht über Einnahmeerhöhungen vollzogen wird. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, jene Programme rigoros zu beschränken, die von verschiedenen staatlichen Ebenen gemeinsam finanziert werden, aber gerade aufgrund der Finanzierungsmethode und weniger des Bedarfs entschieden werden. Wenn etwa Länder und Gemeinden ohne Beteiligung des Bundes über Programme zu entscheiden haben, werden sie diese möglicherweise kritischer überprüfen. Dezentralisierung kann auch eine Einschränkung der Macht spezieller Interessengruppen bedeuten. Deren zentrale Einflussnahme ist leichter (kostengünstiger) als eine Einflussnahme auf viele Körperschaften. Ein Versuch, staatliche (und private) Ausgaben zu reduzieren, besteht auch im Bürokratieabbau. Bürokratie ist ein wichtiger Baustein der modernen Gesellschaft, denn regelgebundenes Handeln garantiert die Funktionsfähigkeit von Organisationen, indem Verantwortlichkeiten und Arbeitsteilung festgelegt und Willkür gering gehalten wird. Bürokratieabbau kann also nur darin bestehen, ineffiziente Regulierungen abzubauen (Dietze/Kranen 2009). Zu diesem Zweck wurde für den Bund ein Normenkontrollrat eingesetzt (vgl. ebda), der Bürokratiekosten aus Informationspflichten untersucht. Die Bürokratie wird Streichungen weniger auf den internen Verwaltungsapparat als auf das externe Leistungsangebot zu konzentrieren versuchen. Ferner wird mit der Betonung der Gefährdung jener Dienstleistungen, die besonders populär und/oder vom Markt kaum zu ersetzen sind (wie Feuerwehr, Polizei, Strafvollzug), Widerstand erzeugt. 8. Das Beispiel „Subventionsabbau“ An den Subventionen wird deutlich, wie schwierig es ist, staatliche Aktivität zu reduzieren. Gegen die Verwendung von Subventionen als wirtschaftspolitischem Instrument wird vorgebracht:

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

237

S Ihre Höhe: Subventionen machten beispielsweise 2008/2009 – in der Kieler Abgrenzung – 5,9/6,8 % des Bruttoinlandsprodukts aus 1. S Sie sind ein häufig (vor allem in der deutschen und EU-Industriepolitik) eingesetztes Instrument, lassen sich theoretisch aber selten rechtfertigen. Begründungen werden in der finanzpolitischen Praxis teils nur sehr pauschal gegeben, manchmal widersprüchlich formuliert oder fehlen ganz. S Die Effektivität und Effizienz dieses finanzpolitischen Instruments sind zweifelhaft. Subventionen dürften selten – tatsächliche oder vorgeschobene – allokative und verteilungspolitische Ziele erfüllen. S Es besteht sogar die Gefahr, dass Ziele (z.B. Sicherung der Beschäftigung) nicht nur nicht erreicht sondern sogar gefährdet werden. S Subventionen sind zwar verhältnismäßig leicht einzuführen, aber nur schwer durchgreifend abzubauen. Der Abbau von Subventionen wird regelmäßig als vordringliches Ziel deklariert. Faktisch fehlen Konzepte und Möglichkeiten zu seiner Durchsetzung. a) Der Subventionsbegriff In Literatur und Praxis werden verschiedene Subventionsbegriffe verwendet (Fritzsche 2002). Dies ist u.a. dadurch zu erklären, dass die einzelnen Subventionsbegriffe auf Basis eines allgemeinen, aber nicht fest umrissenen Leitbildes für jeweils spezielle Fragestellungen abgegrenzt sind. Allgemein gesprochen sind Subventionen produktions- oder produktbezogene Hilfen oder geldwerte Vorteile des Staates an Private 2. Diese Hilfen oder Vorteile können weder als Gegenleistung im Rahmen marktüblicher Transaktionen noch als staatliche Leistung im Zuge der Erfüllung allgemeiner Staatsaufgaben angesehen werden. Sie stellen so Durchbrechungen des allgemeinen Ordnungsrahmens einer Marktwirtschaft dar. Subventionen begünstigen also Einzelne zu Lasten der Allgemeinheit. Sie beeinflussen die Struktur der Wirtschaft durch Veränderung der relativen Preise. Wegen des Bezuges auf einen ordnungspolitischen Rahmen sind Subventionsbegriffe an normative Vorstellungen gebunden. So gilt der ermäßigte Umsatzsteuersatz auf Lebensmittel im Allgemeinen nicht als Subvention, sondern als Ausdruck allgemeiner Ziele der Steuerpolitik. Umsatzsteuerermäßigungen für bestimmte medizinische Leistungen oder Hotelübernachtungen hingegen werden als Subventionen angesehen. Ein Konsens darüber, was allgemeine Regel und was Ausnahmetatbestand ist, besteht (auch in diesen Fällen) nicht. Daher entzünden sich immer wieder Kontroversen, ob bestimmte Sachverhalte Subventionen oder Konkretisierungen allgemeiner Regeln darstellen. 1

2

Boss/Rosenschon (2010), S. 35. Beim Bund machten laut 22. Subventionsbericht (2010, S. 12) in 2008/2009 die Finanzhilfen 2,1/4,0 % seiner Ausgaben und die Steuervergünstigungen 7,3/7,6 % seiner Steuereinnahmen aus. Das Verhältnis der Subventionen des Bundes zum BIP betrug rund 1 %. Diese weite Definition würde auch Regulierungen einschließen, was unüblich ist, daher müsste im engeren Sinne auf Zahlungen abgestellt werden. Es zeigt sich gleich, dass diese Begrenzung unbefriedigend ist.

238

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Zudem lässt sich der Subventionsgehalt bei der in der Realität bestehenden Vielzahl möglicher Subventionstatbestände nur schwer feststellen und quantifizieren 1: steuerliche Sonderregelungen (z.B. Sonderabschreibungen), Preisnachlässe bei Käufen vom Staat (z.B. Pachtnachlässe bei der Industrieansiedlung), Überzahlungen des Staates beim Erwerb von Gütern, Vorzugskonditionen bei Darlehen (zinslos oder unter dem Marktzins), Unternehmensbeteiligungen unter Verzicht auf marktübliche Rendite des eingebrachten Kapitals, Kreditgarantien und Bürgschaften 2. Angesichts der daraus resultierenden Unsicherheiten ist in empirischen Erhebungen abzuwägen zwischen einer möglichst vollständigen Erfassung der in Frage kommenden Subventionstatbestände und der Zuverlässigkeit der quantitativen Angaben. Die VGR definieren Subventionen als laufende Zahlungen des Staates oder der EU an gebietsansässige Produzenten. Daher gelten beispielsweise Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilweise als Subventionen, nicht aber die zu den Vermögenstransfers gerechneten Investitionszuschüsse 3. Ein um die Vermögenstransfers erweiterter Subventionsbegriff deckt daher besser wesentliche Aspekte staatlicher Subventionspolitik ab, auch er ist aber für eine auf einzelne Wirtschaftszweige bezogene Analyse unzureichend: Zum einen bleiben in den VGR die Steuervergünstigungen mit Ausnahme der einbehaltenen Umsatzsteuer außer Betracht. Zum anderen folgen die VGR bezüglich der Subventionen dem EmpfängerPrinzip. Danach gelten nur die Zahlungen als Subventionen, die direkt an Produzenten (fast ausschließlich Unternehmen) fließen, nicht aber produktbezogene staatliche Transfers an private Haushalte wie z.B. Eigenheimzulage oder Wohngeld. Ökonomisch ist indessen der Unterschied möglicherweise gering, ob eine staatliche Zahlung zuerst die Kassen von Unternehmen berührt und von dort an private Haushalte weitergegeben wird, oder ob sie letzteren direkt zufließt. Die Subventionsberichte der Bundesregierung legen einen eigenen Subventionsbegriff nach § 12 StWG zugrunde. Danach sind Subventionen Finanzhilfen und Steuervergünstigungen. Finanzhilfen stellen Geldleistungen des Bundes an Stellen außerhalb der Bundesverwaltung dar, die zur Erhaltung oder Anpassung von Wirtschaftszweigen, zur Förderung von Produktivität und Wachstum, zur Verbilligung bestimmter Güter und zur Anregung der Spartätigkeit gewährt werden. Unter Steuervergünstigungen werden steuerliche Regelungen verstanden, die in Verfolgung der gleichen Zwecke zu Mindereinnahmen des Staates führen. Neben der weitgehenden Beschränkung auf den Bund 4 ist die Ausgrenzung der Subventionen an staatseigene Unternehmen zu beachten 5. Auch bleiben mit Ausnahme der marktnahen Forschungsförde1 2 3

4 5

Selbst die Preiskontrolle könnte hierzu rechnen, die ohne unmittelbare Budgetwirkungen eine Gruppe von Konsumenten begünstigt bzw. eine Gruppe von Produzenten benachteiligt. Bedeutsam waren beispielsweise lange Zeit die Länder als Gewährträger der Sparkassen. Auch an Unternehmen geleistete Direktzahlungen des Staates bleiben unberücksichtigt, bei denen die Zuordnung zu den Einkommens- und Vermögensübertragungen problematisch ist und die daher als „sonstige laufende Transfers“ gebucht werden. Aufgeführt werden auch auf die Länder und Gemeinden entfallende Steuervergünstigungen und vergleichbar abgegrenzte Finanzhilfen sowie Subventionen der EU. Zu fragen ist allerdings, ob an einzelne Unternehmen oder Branchen gewährte Zahlungen, mit denen ein Ausgleich für die ihnen auferlegten nichtkostendeckenden Aufgaben erfolgt, als Sub-

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

239

rung die Förderung anwendungsbezogener Forschung und Hilfen im Bereich des Gesundheitswesens außer Betracht, die als Ausgaben zur Erfüllung allgemeiner Staatsaufgaben interpretiert werden 1. Problematisch sind ferner willkürlich und widersprüchlich erscheinende Grenzziehungen. Tab. 7-1 zeigt das Gesamtvolumen der Subventionen von Bund, Ländern, Gemeinden, ERP und EU in der Abgrenzung des Finanzberichts, wobei auf Bund und Länder/Gemeinden 2009 mit 29,4 bzw. 22,2 Mrd. Euro rund 51 bzw. 38 % der nachgewiesenen Subventionen entfallen. Tab. 7-1 Gesamtvolumen der Subventionen von Bund, Ländern und Gemeinden, ERP, EU1 in Mrd. Euro 1970 1975 1980 1985 19902 1995 2000 2005 2006 2007 2008 2009

1. Finanzhilfen Bund Länder Gemeinden3

4,0 3,0 0,5

5,2 3,7 0,5

6,4 6,2 0,5

6,1 6,2 0,5

7,3 7,2 1,1

9,4 10,7 1,5

10,1 11,2 1,6

6,1 10,3 1,4

5,7 10,2 1,3

5,7 8,6 1,4

5,9 9,1 1,3

12,2 10,0 1,2

2. Steuervergünstigungen Bund Länder, Gemeinden

3,2 3,4

5,0 5,9

6,1 7,2

8,0 9,3

7,9 9,2

9,1 12,9

13,1 12,0

17,4 12,5

17,3 11,1

18,0 11,6

17,5 10,7

17,2 11,0

3. ERP-Finanzhilfen

0,6

0,7

1,4

1,5

2,9

5,9

5,7

3,2

5,1

4,5

0,4

0,6

4. Marktordnungsausgaben der EU

1,5

1,1

3,2

4,1

4,9

5,4

5,6

6,3

6,7

5,2

6,1

6,1

16,1

22,0

30,9

35,6

40,3

55,0

59,4

57,2

57,4

54,9

50,8

58,2

Gesamtvolumen (Summe 1. – 4.) 1 2 3

1970 bis 1990 altes Bundesgebiet; ab 1991 Bundesgebiet einschließlich der neuen Länder. Einschließlich der in den Haushaltsnachträgen veranschlagten Finanzhilfen für die neuen Länder. Daten der Gemeinden: Schätzungen auf der Grundlage der Subventionsentwicklung der Länder.

Quelle: BMF, Zweiundzwanzigster Subventionsbericht, Berlin, 2010, S. 19.

Diese und weiter gefasste Rechnungen 2 zeigen, dass sich die Subventionen sehr ungleich auf die einzelnen Wirtschaftszweige verteilen mit Land- und Forstwirtschaft,

1 2

vention betrachtet werden sollen (z.B. bei Briefbeförderungspflicht in entlegenste Regionen oder bei unentgeltlichem Transport Schwerbehinderter). Zuschüsse zur Altersversorgung der Landwirte werden beispielsweise nicht als Subventionen geführt. Das Institut für Weltwirtschaft verwendet auch einen über diese Abgrenzung hinausgehenden Subventionsbegriff (vgl. Boss/Rosenschon 2002, 2008). Es überprüft, ob Leistungen staatlicher Institutionen und Organisationen ohne Erwerbszweck grundsätzlich privat bereitgestellt werden können. Treffe dies zu, zahle der Staat aber trotzdem, liege staatliche Förderung vor. Ferner berücksichtigt das Institut, ob von den geförderten Leistungen nur einzelne oder die Gesellschaft insgesamt profitieren. Folglich werden jene Mittel als Subventionen berücksichtigt, die an Institutionen geflossen sind, die private Güter bereitstellen. Ihre Finanzierung sei nicht mit Marktversagen zu rechtfertigen. Zu solchen Einrichtungen gehörten Krankenhäuser, Kindergärten, Theater, Museen, Staatsforsten, Religionsgemeinschaften der Umsatzsteuerbefreiten ärztlichen Leistungen.

240

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Bergbau, Verkehr und Wohnungsvermietung als Hauptempfängern 1. Es lässt sich nicht nur eine Konzentration der Subventionen auf wenige Wirtschaftsbereiche, sondern auch eine erstaunliche Stabilität ihrer Verteilung erkennen. Allgemein lässt sich sagen, dass Branchen mit erheblicher Subventionsintensität Stagnationsbranchen sind (Landwirtschaft, Bergbau, Schiffbau), starkem staatlichen Einfluss unterliegen (Energie und Wasser, Verkehr) oder Produkte anbieten, die von der Politik als meritorische Güter gewertet werden (Wohnungsvermietung, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit). Bemerkenswert ist auch die Subventionsintensität, d.h. die Subventionen je Erwerbstätigen in den Wirtschaftsbereichen 2. Die Rangordnung verändert sich nicht wesentlich, wenn statt der Erwerbstätigen der Produktionswert oder die Bruttowertschöpfung 3 die Bezugsgröße ist. Die drei Indikatoren sind stark miteinander korreliert, so dass die Wahl der Bezugsgröße von untergeordneter Bedeutung ist. In Bereichen hoher Subventionsintensität dürfte eine Subventionsabhängigkeit anzunehmen sein. Sie wäre nicht gegeben, wenn bei geringeren Indikatorwerten eine unelastische Nachfrage in diesen Bereichen bestehen würde; in diesem Fall könnte auch ohne Subventionen die Absatzmenge realisiert werden. b) Rechtfertigung von Subventionen Die tatsächliche Entwicklung der Subventionen steht im Widerspruch zu ihrer Beurteilung in den Subventionsberichten der Bundesregierung. Danach gelten Subventionen eher als schädlich, wenn sie nicht zeitlich befristet und degressiv ausgestaltet und nur in begründeten Ausnahmesituationen gewährt werden. Allokativ kann der Einsatz von Subventionen dann begründet sein, wenn Marktergebnisse nicht zu einer effizienten Allokation führen (z.B. soziale Kosten L private Kosten). Der Staat muss solche Marktversagenstatbestände aber nicht nur erkennen und quantifizieren, seine Allokationspolitik muss auch zu einem besseren Ergebnis als ohne Eingriffe führen. Das ist häufig bei Subventionen zweifelhaft. Sie verursachen Verwaltungskosten und ihre Finanzierung ruft in der Regel allokative Verzerrungen hervor, die größer als die Effizienzvorteile der Subventionen sein können. Hinzu kommt, dass Subventionen das Verhalten verändern können (Boss/Rosenschon 2002, S. 32). Stabilitätspolitisch sucht man Subventionen damit zu begründen, dass hier in der Rezession gezielt und unmittelbar wirkende Maßnahmen (insbesondere Investitionen mit Auflagen) vorliegen, die Akzelerator- und Multiplikatorprozesse initiieren können. Neben Bedenken gegen diskretionäre Politik allgemein ist zu beachten: Die Subventi-

1 2 3

Boss/Rosenschon (2010, S. 38) zeigen, dass 2009 – wie in den Jahren zuvor – mehr als 2/3 der zuordnungsfähigen Subventionen auf diese Bereiche entfielen. Sie wird im Subventionsbericht und in den VGR nicht explizit nachgewiesen. Eine nicht aktualisierte bis 1997 reichende Tabelle zur Subventionsintensität liefert Fritzsche (2002). Auch die so gebildeten Beziehungszahlen werden als Subventionsintensität bezeichnet.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

241

onen erweisen sich meist als strukturerhaltende Maßnahmen mit Wettbewerbsverzerrung und es besteht die Gefahr von Mitnahmeeffekten. Mit dem Ziel einer hohen Beschäftigung werden gerade im Rahmen einer sektoralen und regionalen Strukturpolitik Subventionen gefordert, die aber tatsächlich den Erhalt bestehender (meist regional konzentrierter) Arbeitsplätze und Anpassungsprozesse erleichtern („sozialverträglich abfedern“) sollen. Auch soll mit Subventionen eine Einkommenssicherung, insbesondere regional oder sektoral, erfolgen. In einer Marktwirtschaft ist es nicht auszuschließen, dass Unternehmen, darunter Banken insolvent werden. Um Bedrohungen für das gesamte System zu verhindern und so negative externe Effekte zu vermeiden, sind Subventionen aber das falsche Instrument. Bei Banken sind eher Regulierungen erforderlich, die die Wahrscheinlichkeit des Zusammenbruchs einzelner Institute verringern (z.B. durch risikoadäquate Kapital- und Liquiditätspuffer) und im Falle der Insolvenz eine Ausdehnung verhindern 1. Gelegentlich wird das Argument vorgetragen, die Subventionierung sei vorübergehend zulässig und solange notwendig, wie ausländische Konkurrenten – z.B. der koreanische Schiffbau – subventioniert würden. In diesem Fall könne Art. VI des GATT angewendet werden. Danach darf jeder Vertragsstaat bei der Einfuhr subventionierter Waren Ausgleichzölle bis zum geschätzten Betrag der Subventionen erheben. Allerdings sind Subventionen zur Förderung von Exporten nicht zulässig, um Subventionsvorteile ausländischer Konkurrenten auszugleichen; dies widerspräche marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien, da der Staat wohl im Inland, nicht aber im Ausland die Einhaltung der Regeln des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs garantieren kann. Wenn die nationale Wohlfahrt auf Kosten anderer Volkswirtschaften erhöht wird, besteht das Risiko des Subventionswettbewerbs zwischen den Ländern, der letztlich die Wohlfahrt aller senkt. Faktisch können die jeweiligen Begründungen, auch die hinsichtlich etwaiger Externalitäten oder regionaler allokativer Fehlentwicklungen, in den seltensten Fällen überzeugen 2. Das gilt auch für das z.B. im Zusammenhang mit der Bankenkrise verwendete Argument „too big to fail“, das insbesondere bei drohender Insolvenz und Arbeitslosigkeit, bei starker regionaler Konzentration von Arbeitsplätzen verwendet wird 3. Subventionen sind ein Verstoß gegen gleiche Regeln für alle unter Wettbewerbsgesichtspunkten. Der Staat ist zudem nicht glaubwürdig, wenn sich Unternehmen wegen ihrer Größe (oder Systemrelevanz) auf ihre Rettung im Insolvenzfall verlassen können und ggf. eigene Anstrengungen unterlassen. Die ursprüngliche Ankündigung, Verzerrungen abzubauen, ist zeitinkonsistent, wenn es zu einem staatlichen Bail out kommt. Um die glaubwürdige Ankündigung nicht in unkontrollierte Prozesse münden zu lassen, müssen daher Mechanismen institutionalisiert werden, die das ge-

1 2 3

Hierbei ist den Wechselwirkungen zwischen Finanzinstituten, Finanzmärkten und Realwirtschaft Rechnung zu tragen. Zu einem Überblick vgl. Berthold/Donges (1996). Die Systemrelevanz hängt nicht nur von der Unternehmensgröße, sondern auch von seiner Vernetzung, Ersetzbarkeit und dem allgemeinen Zustand der Märkte ab.

242

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

ordnete Scheitern von Unternehmen ermöglichen – also Insolvenz ohne Gefährdung des Gesamtsystems oder größerer Regionen. c) Allokative Wirkungen von Subventionen In einer marktwirtschaftlichen Ordnung werden wirtschaftliche Aktivitäten der privaten Akteure über den Mechanismus der relativen Preise koordiniert. Damit ist aber grundsätzlich alles schädlich, was die Informations- und Anreizfunktion der relativen Preise beeinträchtigt. In einer Modellwirtschaft, die bestimmten Anforderungen (darunter vollkommener Wettbewerb, Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung, keine Externalitäten, keine öffentlichen Güter) genügt, gelten für die Güter i und j die Bedingungen einer effizienten Allokation (7-13)

GRTij )

GK i pi ) ) GRSij GK j p j

Durch Subventionen wird die effiziente Allokation in einer ansonsten verzerrungsfreien Wirtschaft gestört. Wird beispielsweise den Produzenten i ein Zuschuss si pro Einheit zum Preis pi gewährt, so gilt (7-14)

GRTij )

GK i p i 9 s i p i ) L ) GRSij GK j pj pj

Subventionen ändern immer die Preisrelationen, so dass die Produzentenpreise (pi + si) und die Konsumentenpreise pi auseinanderfallen. Die Konsumentscheidungen der Haushalte orientieren sich an pi/pj, die Produktionsentscheidungen der Unternehmen jedoch an (pi + si)/pj, daher weicht das Produktions- vom Tauschoptimum ab. Stellt man die Subventionen als eine Kostenminderung dar, gilt analog: (7-15)

GRTij )

GK i 5 s i p i L ) GRSij . GK j pj

Neben den Folgen für nichtsubventionierte Unternehmen ist zu beachten, dass Subventionen finanziert werden müssen. Dies kann in der Praxis aber nicht durch Pauschalsteuern geschehen. Daher sind weitere Verzerrungen durch die zwangsweise Mitfinanzierung der im allgemeinen aus Steuermitteln geleisteten Subventionen zu erwarten. In diesem Fall treten über die in den Gleichungen (7-14) oder (7-15) beschriebenen Wirkungen hinaus weitere Effekte auf. Die Vergabe von Subventionen wirkt aber dann nicht verzerrend, wenn sie bestehende Unvollkommenheiten des Marktmechanismus ausgleichen. Eine solche Konstellation könnte etwa gegeben sein bei

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

(7-16)

GRTij )

243

GK i p i (9 MExt i ) ? L L GRSij GK j pj

MExt wird als positive produktionsbedingte marginale Externalität gedeutet 1. In Bezug auf den allokativen Maßstab liegen offenbar falsche Preisverhältnisse vor, denn die in Klammern gesetzte Größe wird nicht auf dem Markt realisiert. Eine Subvention mit dem Betrag pro Gütereinheit s = MExt könnte daher in einer ansonsten verzerrungsfreien Wirtschaft die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen 2. Als Beispiel wird der Einsatz öffentlicher Mittel in der Grundlagenforschung genannt. „Eine den Ressourceneinsatz verzerrende Subvention liegt dann nicht vor. Freilich mag niemand exakt beurteilen, wie hoch der Ausgleichsbetrag sein muss, um die Beeinträchtigung des individuellen Rentabilitätskalküls durch das Auftreten externer Vorteile auszugleichen“ (Boss/Rosenschon 2002, S. 10). Abb. 7-3 Ineffiziente Subvention p GK DK s D

GK2=DK2

E

C

GK1=DK1

F

B

GK1-s1

A

GK3(=GK2-s2)=DK3 GE x2

x1

N x

Die schlechte Informationslage des Staates kann geradezu ein Anreiz für Unternehmen sein sich ineffizient zu verhalten 3. Angenommen, auf Grund von positiven Externalitäten wird es als gerechtfertigt angesehen, den Output mit Stücksubventionen in Höhe von s1 (= BC) zu subventionieren (Abb. 7-3). Die Grenz- (= Durchschnittskosten-) Kurve GK1, die zunächst keine Bereitstellung von x nahe legt, verschiebt sich nach unten auf (GK1 – s1) und ermöglicht so einen normalen Gewinn bei einem effizienten Outputniveau x1. Gibt es nur einen gewinnmaximierenden Anbieter, so besteht ein Anreiz für diesen, die Menge x2 zu wählen, bei der gilt: GK1 – s1 = GE, wenn er die gleiche Stücksubvention s1 bei geringerer Menge erhält. So wird aber die effiziente Menge x1 verfehlt. Besteht politischer Druck mehr zu produzieren, wird das Unter1 2

3

pi/pj entspricht zwar der privaten, nicht aber der sozialen GRSij. Dieser Fall und seine Realisierungsproblematik wurden im 4.3 Kapitel behandelt. So wird angenommen, dass die Subventionen allokationsneutral aufgebracht und keine Transaktionskosten der Erhebung der Mittel und ihrer Verausgabung anfallen. So kann die Ankündigung von Subventionen, mit denen Emissionen reduziert werden sollen, zu einem möglichst hohen Ausweis von Emissionen bestehender Anlagen veranlassen.

244

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

nehmen argumentieren, seine Kosten seien GK2 = DK2 (statt der tatsächlichen Kosten GK1 = DK1), so dass es erst bei Einführung der höheren Stücksubvention s2 (= BD) die gewünschte Menge x1 erfüllen könne. Weil der Staat nicht die Angebots- und Nachfragebedingungen und den richtigen Umfang der einzusetzenden öffentlichen Mittel kennt, führt der Versuch, durch Subventionierung des Produktionsumfangs ein Marktversagen zu korrigieren, hier zu einem weiteren Staatsversagen in der Form von X-Ineffizienz in Höhe von CDEF. Häufig wird erwartet, dass Subventionen gerade an kleinere Unternehmen gehen, die mit einem oder wenigen großen Unternehmen konkurrieren. Indem sie Economies of scale erzielen, soll ihr ursprünglicher Wettbewerbsnachteil ausgeglichen und langfristige Konkurrenzfähigkeit erzielt werden 1. Die tatsächliche Verteilung der Subventionen zeigt, dass Subventionen eher Große fördern. Längerfristig wird die Wirkung von Subventionen generell als problematisch angesehen: Subventionen verleiten wie andere protektionistische Maßnahmen zu Behäbigkeit, abnehmender Konkurrenzfähigkeit, sinkendem Anreiz für Innovationen, manchmal auch zur Verdrängung anderer, eigentlich effizient arbeitender Unternehmen, die zuvor auch die Subventionen mitzufinanzieren hatten und zu Folgemaßnahmen. Der Staat ist so nicht Wegbereiter und Impulsgeber für Neues, sondern konserviert Altstrukturen. Schließlich schaffen Subventionen Anreize, Ressourcen zur Erlangung von Fördermaßnahmen einzusetzen (Rent Seeking). Dies kann lohnender sein als die Erzielung von Markteinkommen und wird auch die Konkurrenz, die keine Subventionen erhält, anlocken, sie ebenfalls zu bekommen. d) Verteilungs- und beschäftigungspolitische Wirkungen von Subventionen Die Erhaltung von Branchen, bestimmten Arbeitsplätzen und Durchschnittseinkommen ist also allokativ problematisch, weil sie Verzerrungen hervorruft und die Flexibilität der Märkte einschränkt oder aufhebt. Branchenmäßige Verteilungspolitik ist aber auch kein sinnvoller Teilbereich der Verteilungspolitik bzw. kein zweckmäßiges Mittel zu einer erwünschten gleichmäßigeren personellen Verteilung. So gibt es keine plausiblen verteilungspolitischen Gründe, die Einkommenssicherung einer Branche zu verfolgen 2. Um Personen oder Haushalten zu helfen, ist die Subjektförderung die effektive und effiziente Form. Durch Subventionierung eines Gutes werden alle begünstigt, die das Gut nutzen. Gezielte Verteilungseffekte sind also nicht möglich. Es können sogar unerwünschte Verteilungswirkungen eintreten, wenn einzelne subventionierte Güter vornehmlich von Beziehern höherer Einkommen genutzt werden. 1

2

Beispiel: Subventionen zugunsten von kleineren bestehenden Unternehmen, die zum Unternehmen „Airbus“ zusammengefasst werden sollen, bevor sie im Wettbewerb untereinander und gegen zwei große Unternehmen ausgeschieden sind. Umfang und Zeitpunkt der künftigen Ertragsfähigkeit sind unsicher. Der Staat muss die Entscheidungen insbesondere bei richtiger Prognose künftiger Ertragsraten und der Reaktion anderer Staaten treffen. Letztlich werden Besitzstände privilegierter Minderheiten auf Kosten anderer Gruppen bzw. anderer Wirtschaftsbereiche gefördert.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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Verteilungspolitisch problematisch ist auch die Ungleichbehandlung der Wirtschaftsbereiche durch wettbewerbsverzerrende und investitionslenkende Maßnahmen: Wirtschaftsbereich (oder Unternehmen) i wird über Subventionen begünstigt 1, folglich Wirtschaftsbereich (oder Unternehmen) j ohne Subventionen benachteiligt. Das gilt immer dann, wenn Subventionen nicht andere Verzerrungen ausgleichen. Entsprechendes gilt für einzelne Unternehmen (z.B. durch Gewährung der Gemeinnützigkeit und darauf beruhenden Steuervergünstigungen). Da Subventionen zudem in der Regel leichter für größere als für kleine Unternehmen zu erlangen sind, wird ein ZweiKlassen-System hervorgerufen. Der Minderheit der begünstigten Großen steht die Mehrheit der Nichtbegünstigten gegenüber, die zudem die Mittel bereitstellen müssen: Klein- und Mittelbetriebe. Ausgleichsprogramme für kleine und mittlere Unternehmen rufen weitere Verzerrungen hervor. Im Gegensatz zur Objektsubventionierung erfolgt die Subjektförderung gezielt, ohne den Preismechanismus zu verzerren. Wie im Kapitel 10.4 weiter gezeigt wird, sind ungebundene Subventionen wohlfahrtsmäßig überlegen. Welcher Preiseffekt eintritt, hängt – wie die Steueranalyse im 14. Kapitel zeigt – von der Marktkonstellation (Marktformen, Zielsetzungen, Angebots- und Nachfrageelastizitäten) ab. Abb. 7-4 zeigt in mikroökonomischer Partialanalyse für einen Wettbewerbsmarkt den Preiseffekt einer Stücksubvention (s). Vereinfachend werden konstante Grenzkosten angenommen. Durch Einführung der Subvention sinkt die Angebotskurve von A0 auf A1. Im neuen Gleichgewicht G1 liegt der neue Marktpreis p1 unter dem alten Marktpreis p0 2. Abb. 7-4 Wirkungen einer Subvention p F p0 p1

G0

H

V A 0

K

G1

U A 1 W

0

x0

x1

x2

N0 x

Die Maßnahme ist unter verschiedenen Aspekten ineffizient. Zwar sinkt der Preis aus Konsumentensicht von p0 auf p1, und die nachgefragte Menge steigt von x0 auf x1. Die Kosten der Maßnahme sind s ! x 1 = p0KG1p1, wobei die Verwaltungskosten für 1 2

In Deutschland entfällt ein hoher Anteil der Subventionen auf wenige Wirtschaftszweige (Landund Forstwirtschaft und Fischerei, Kohlenbergbau, Eisenbahnen, Wohnungsvermietung). Der Produzentenpreis p1 + s ist größer als der Konsumentenpreis p1.

246

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Staat und Private sowie die Zusatzlasten auf anderen Märkten durch die Finanzierung des Programms nicht berücksichtigt sind. Die Ausgaben für die Mengenausweitung sind um die Fläche G0KG1 größer als der Nutzen (Zunahme an Konsumentenrente) G0G1H daraus. Infolge der Subvention wird das Gut zusätzlich gekauft, aber mit einem geringeren Nutzen als der Gesellschaft an Kosten (Personal, Material usw.) entstehen. Die hier eingesetzten Ressourcen werden also verschwendet. Die Regierung könnte bei den privaten Wirtschaftssubjekten dieselbe Nutzenwirkung erzielen, indem sie den (geringeren) Betrag p0G0G1p1 an jene direkt zahlt 1. Wenn als Folge der Subvention über x1 hinaus produziert würde (beispielsweise x2), käme es zu einem nicht absetzbaren Überangebot x2 – x1 und einem Wohlfahrtsverlust KVWG1. Würde die Regierung die Überproduktion x2 – x1 zum Marktpreis aufkaufen und weiter die Subvention s zahlen, dann käme es zu Essigseen, Butterbergen und Lagerkosten. Mögliche Folge: Entsorgung der Vorräte unterhalb von p1 und häufig unter Weltmarktpreisen, auch durch Schenkung an Entwicklungsländer. Folge in Entwicklungsländern ist, dass die dortigen Produzenten ihre Produkte nicht kostendeckend anbieten können und ausscheiden und der Nahrungshilfe u.ä. bedürfen. Auch im Inland sind Subventionen beschäftigungspolitisch fragwürdig. Ihre Wirkung beschränkt sich in der Regel darauf, kurzfristig zum Erhalt bestimmter Arbeitsplätze beizutragen. Langfristig verschärfen sich die Probleme aber dann, wenn der Strukturwandel immer mehr Erhaltungssubventionen fordert und gleichzeitig der Anreiz zur Suche nach Alternativen reduziert oder beseitigt wird. Verlässt man die spezifische Inzidenz, sind die Opportunitätskosten, also die Beschäftigungswirkungen der Subventionsfinanzierung und der Verwendung der Mittel an anderer Stelle zu berücksichtigen. Daher ist die Aussage stets falsch, dass Subventionen Arbeitsplätze erhalten oder fördern. e) Beispiel: Subventionen im deutschen Steinkohlenbergbau (1) Ziele der Subventionen im Steinkohlenbergbau Subventionen an den Kohlenbergbau fließen fast ausschließlich an den Steinkohlenbergbau. Die Subventionen waren hier jahrzehntelang größer als dessen Bruttowertschöpfung 2. Allokative Begründungen dafür, dass der Staat die relativen Preise massiv zu Gunsten der deutschen Steinkohle verändert, könnten aus den Zielen der Energiepolitik – Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit – abgeleitet werden (Bundesministerium für Wirtschaft 2001). Umweltverträglichkeit ist nicht zur allokativen Begründung der Steinkohlesubventionen tauglich. Gerade das umweltpolitische Ziel (weniger CO2-Belastung) liegt eher eine Verteuerung als Verbilligung ihres Einsatzes (unabhängig vom Produktionsort) nahe. Versorgungssi1 2

Bei steigenden Grenzkosten würden die Anbieter eine zusätzliche Produzentenrente erzielen. Die Statistiken unterschätzen die Subventionsintensität, weil sie sich regelmäßig auf den Kohlebergbau insgesamt unter Einschluss des subventionslosen Braunkohle beziehen.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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cherheit bezieht sich vor allem auf das Risiko internationaler Kriege und Krisen. Jede länger andauernde Unterbrechung des Energieflusses dürfte zu schweren Funktionsstörungen des Wirtschaftssystems führen. Über die Notwendigkeit einer gesicherten Energieversorgung herrscht weitgehend Einigkeit. Als Wirtschaftlichkeit der Energieversorgung interpretiert das Bundeswirtschaftsministerium (1992, Tz. 3.) den langfristig effizienten Einsatz der Energie. „Effiziente und damit wirtschaftliche Energieversorgung trägt nicht nur zu günstigen Lebenshaltungskosten und damit zum Wohlfahrtsniveau bei. Sie schont zugleich die Umwelt und erhöht die Versorgungssicherheit. Außerdem stützt sie die Attraktivität des Investitionsstandorts Deutschland sowie die Sicherung der Arbeitsplätze. Zum internationalen Wettbewerb der Standorte gehört auch, die Energiekosten in Grenzen zu halten, um nicht eine Verlagerung von Arbeitsplätzen energieintensiver Branchen über die Grenzen auszulösen“. Die Zielvorgaben begründen keine spezielle heimische Steinkohlenpolitik. Die Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit beziehen sich nicht auf einzelne Energieformen wie die Steinkohle, sondern auf alle Energieformen. Sicherheit der Energieversorgung kann zwar eine allokative Begründung für staatliche Eingriffe sein. Diese ist aber durch eine breite Streuung der Energieversorgung nach Energieträgern und Provenienzen zu erreichen. Selbst die Aufrechterhaltung einer vergleichsweise hohen inländischen Steinkohlenförderung kann nur einen geringen Sicherungsbeitrag erbringen. Andererseits trägt die Erhaltung einer Mindestförderkapazität – um jeden Preis – nicht zur Allokationseffizienz bei. Neben Verfügbarkeit und Qualität bestimmt die Preiswürdigkeit über die Höhe der Energiekosten, damit letztendlich über die ökonomische Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit 1. Dieser Aspekt wird ebenso wie die Erhöhung der Anpassungsflexibilität bei der Steinkohlepolitik vernachlässigt.

Faktisch dominiert in der Steinkohlepolitik eine kombinierte regionalbeschäftigungs- und verteilungspolitische Zielsetzung. Verteilungspolitisch geht es letztlich um die Erzielung eines bestimmten Durchschnittseinkommens oder einer Rangposition in den Durchschnittseinkommen verschiedener Branchen, verbunden mit Beschäftigungsaussagen. Diese regionalverteilungs- und -beschäftigungspolitischen Ziele sind aber effizienter mit anderen Mitteln als durch Subventionen zu realisieren. Personen werden im Steinkohlenbergbau beschäftigt, obwohl langfristig keine Chance besteht, dass ihr Produkt Steinkohle wettbewerbsfähig wird. Die Opportunitätskosten einer Förderung von Arbeitsplätzen in den anderen Wirtschaftszweigen werden meist erheblich übertroffen. Ein Zusammenhang zwischen allokativer und verteilungspolitischer Begründung von Subventionen scheint zu bestehen, wenn die Externalität im sozialen Frieden gesehen wird. Ohne Subventionen würden Betriebe stillgelegt und Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren. Streiks, Streikdrohungen und andere Protestaktionen könnten eine Zerstörung des Kollektivguts „sozialer Frieden“ bewirken. Damit einhergehen würde ein Imageverlust beispielsweise einer Region. Eine solche Argumentation lässt sich aber auf beliebige Gruppen, Branchen, usw. anwenden. So könnten praktisch unbegrenzt Subventionen gefordert bzw. geleistet werden.

1

Der Preis für westdeutsche Steinkohle betrug in den letzten Jahren regelmäßig ein Vielfaches des Weltmarktpreises je Tonne.

248

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

(2) Volkswirtschaftliche Kosten Die volkswirtschaftlichen Ressourcen, die durch die Subventionspolitik der Steinkohle verloren gehen, zeigen sich zunächst in den Einnahmen und Ausgaben des Staates in Form von Subventionszahlungen und mit der spezifischen Politik verbundenen Bürokratiekosten. Die Unternehmen haben Transaktionskosten bei der Subventionsberatung, Antragstellung, Erfüllung von Berichts- und Informationspflichten, Interessenpolitik bis hin zur Finanzierung von Verbänden. Die Protektion einer Stagnationsbranche entzieht immer, auch wenn sie sich auf den Schutz vor ausländischer Konkurrenz beschränkt, der übrigen Wirtschaft Mittel und gefährdet dort Arbeitsplätze. Es besteht letztlich ein Zielkonflikt zwischen dem kurzfristigen Erhalten nicht rentabler und daher unsicherer Arbeitsplätze und dem Erhalten und Schaffen langfristig rentabler und sicherer Arbeitsplätze. Subventionen fügen in der Regel langfristig keine neuen Arbeitsplätze hinzu, gefährden aber solche in anderen Bereichen. Kosten fallen auch dadurch an, dass Subventionen andere Ziele, wie etwa einen reibungslosen Strukturwandel negativ berühren, Verzerrungen in anderen Bereichen und weitere Eingriffe induzieren. Meist soll die Primärintervention, die mit staatlichen Subventionen und anderen Maßnahmen gegen Markttendenzen anzugehen sucht, nur einem eng abgegrenzten Kreis von Unternehmen zugute kommen. Sie breitet sich aber fettfleckartig bei abnehmender Wirkung aus, weil jeder Eingriff es nicht bei den unmittelbar verzerrten Preisrelationen belässt. Durch den Versuch des Ausgleichs der von ihm erzeugten Störung verursacht der Staat immer neue Verzerrungen. Solche „ausgleichende“ Politik kann in verschiedenen Bereichen der Wirtschaftspolitik, darunter der Windmühlenförderung und – teils mit umgekehrtem Vorzeichen – bei den Ökosteuern festgestellt werden 1. g) Politische Ökonomie der Subventionen Die hohe Subventionsintensität im Steinkohlenbergbau ist ein Indikator für ein schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis der Maßnahme. Das gilt entsprechend für jüngere Subventionen wie z.B. beim Solarstrom. Die Kosten sind hoch, der Beitrag zur Stromerzeugung minimal, die Beschäftigungseffekte netto negativ. Statt Subventionen im Steinkohlenbergbau aufrecht zu erhalten, wäre es effizienter, einmalige direkte Zahlungen an die Beschäftigten zu leisten, die sie für die Kündigung von Zusagen und damit für den Verlust ihres Arbeitsplatzes entschädigen. Ansonsten sollten die Betroffenen allein die beste alternative Verwendung ihrer Ressourcen suchen und finden 2. 1

2

Als Begründung für die Windenergieförderung werden die Knappheit der klassischen Ressourcen, die Abhängigkeit vom Import und der Klimawandel, gelegentlich der Export deutscher Technologien ins Ausland angeführt. Die Argumente sind nahtlos übertragbar auf die Begründungen für Ökosteuern und – bis auf den Klimawandel – für Steinkohlesubventionen. Ähnliches gilt für die Agrarsubventionspolitik. Deren Ineffektivität „korrespondiert dabei mit der Tatsache, dass die Preispolitik in einem zunehmend geringerem Maße die offiziell deklarierten Ziele, i.w. Reduzierung der sektoralen Einkommensdisparität, erreicht hat. Die Ineffizienz der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wird aus der Existenz anderer Politikalternativen, z.B. personengebundene Einkommenstransfers, gefolgert, die die sektorale Einkommensdisparität effektiver

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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Als nächstbeste Lösung kämen Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in Betracht, um den aus dem Strukturwandel resultierenden Änderungen der Qualifikationsanforderungen Rechnung zu tragen. Ferner sind Unterstützungen zur Erhöhung der regionalen Mobilität zweckmäßig, die eine bessere Verwendung der Ressourcen erwarten lassen. Tatsächlich verfolgt die Politik aber nicht ein solches Szenario, vielmehr unterstützt sie den Verbleib der Ressourcen in unbedeutender und unproduktiver werdenden Verwendungen und bürdet gleichzeitig den Käufern der Produkte höhere Preise und/oder den Steuerzahlern höhere Lasten auf. Warum können Subventionen leicht eingeführt werden, sind aber nur schwer abzuschaffen? 1 Zur Erklärung für die Häufigkeit und die Dauerhaftigkeit der ineffizienten Subventionspolitik wird ein Modell verwendet, das (1) auf das Wirken spezieller Interessengruppen abstellt und (2) Glaubwürdigkeits- und Informationsprobleme berücksichtigt. Für das Verhalten der Politiker ist entscheidend, dass sie Subventionen einführen bzw. abschaffen, wenn sie erwarten, dafür von den Wählern belohnt zu werden. Der Nutzen der ineffizienten Politik (bzw. die Kosten ihrer Beseitigung) trifft in großen Pro-Kopf-Beträgen eine kleine und konzentrierte Gruppe und ist für diese leicht erkennbar, während die Kosten der Maßnahmen in geringen Pro-Kopf-Beträgen große und verstreute Teile der Bevölkerung belasten und praktisch nicht erkennbar sind. Die erste Wirkung stellt einen Anreiz dar, über die staatlichen Leistungen gut informiert zu sein und politisch aktiv zu werden, während die zweite Wirkung einen sehr viel geringeren Anreiz enthält und die Betroffenen daher uninformiert und unorganisiert lässt: Konsumenten bleiben in der Regel inaktiv, Steuerzahler ebenfalls, während die Produzenten bzw. die Beschäftigten und ihre Interessengruppen (beispielsweise von Landwirtschaft oder Steinkohlenbergbau) medienwirksam handeln und die staatlichen Institutionen darauf reagieren. Die Aufmerksamkeit steigt, wenn die Subventionsempfänger regional in einem Unternehmen oder einer Branche konzentriert sind. Hier sind die Transaktionskosten der Einflussnahme geringer. Auch eigene Interessen der Bürokratie an hohen Subventionen sind bedeutsam 2. Diese Erklärung der Klientelpolitik kann noch ergänzt werden. Offenbar findet sich selten jemand, der aus dieser wirtschaftspolitischen Fehlsteuerung eine wählerwirksame Fragestellung machen will oder kann. Warum wird aber nicht die ökonomisch bessere Lösung der Verteilungsproblematik gewählt, Arbeitnehmer für den kapitalisierten Wert ihrer Verluste mit einer Pauschalzahlung zu entschädigen und sie dann die bestmögliche Alternative selbst finden zu lassen? 3 Der politische Prozess bietet solche Lösungen in der Regel nicht an, weil die Empfänger nicht glaubwürdig versprechen kön-

1 2 3

reduzieren, ohne entsprechend hohe negative Nebeneffekte (internationale Handelskonflikte, hohe Budgetausgaben, Allokationsverluste) zu implizieren“ (Henning 2002, S. 115/116). Vgl. Dixit (1996) und Henning (2002). So sind Ministerien und andere staatliche Institutionen häufig mit Branchenvertretern, Gewerkschaftsfunktionären u.ä. durchsetzt. Stiglitz (1998) fragt, warum häufig „near Pareto improvements“ in der Praxis nicht durchgeführt werden, selbst wenn „almost everyone“, außer einer eng definierten Interessengruppe, davon profitieren und sogar Kompensationen mit strikter Paretoverbesserung angeboten würden.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

nen, ihre Stimmen bei den kommenden Wahlen der Regierung zu geben. Daher werden Transfers eher die Form eines allmählich fließenden Zahlungsstroms annehmen, der über mehrere Jahre andauert. Dann verschiebt sich die Frage der Glaubwürdigkeit auf die andere Seite. Politische Kandidaten und Parteien können ihre Versprechen an die Beschäftigten widerrufen, wenn das für sie in der Zukunft politisch vorteilhaft ist 1. Staatliche Entscheidungsträger gehen keine bindenden Verpflichtungen ein. Der Staat ist die höchste Instanz bei der Durchsetzung von Verträgen. Er nutzt seine gesetzlichen Möglichkeiten, um private bindende Zusagen zu schaffen. Aber: „There is no one ... whose job is to guard the guardian“ (Stiglitz 1998, S. 10). Der Staat kann keine bindenden Zusagen machen, weil immer die Möglichkeit besteht, dass er seine Meinung ändert und/oder früher eingegangene „Vereinbarungen” nicht durchgesetzt werden (können). Die Unternehmen, Arbeitnehmer sowie deren Interessenvertreter wissen andererseits, dass weitere Subventionen von ihrer künftigen politischen Macht abhängen. Diese wird aber mit einem Rückgang der Produktion abnehmen. Auch wird der Wechsel der Arbeitnehmer zu einem anderen Wirtschaftszweig oder Ort deren Zahl und dadurch ihre politische Stärke verringern. Die Anreize zu produktiveren Alternativen abzuwandern sind also gering, ebenso für die Interessengruppen eine solche Politik zu unterstützen. Die politische Kraft wird eher verwendet, um Hilfe für die bestehende Beschäftigung nachzufragen, zu bekommen und möglichst aufrecht zu erhalten. Maßgeblich dafür, dass Politiker vielfältige Regulierungsmaßnahmen und strukturerhaltende Subventionspolitik (E) direkten Transfers (R) vorziehen, ist letztlich die erwartete Veränderung der politischen Unterstützung. Aus verschiedenen Gründen können Beschäftigte im Bergbau (B) eine E-Politik statt einer R-Politik wünschen: dazu rechnen die Unsicherheit der tatsächlichen Transaktionskosten, eine Risikoaversion gegenüber neuen Tätigkeiten, der Verlust an sozialem Prestige, wenn man unmittelbar Transferempfänger wird, oder der Verlust an sozialer Identität. Gleichzeitig sind direkte Transfers transparenter und daher durch Personen außerhalb des Bergbaus (NB) stärker als Umverteilungspolitik zu ihrem Nachteil wahrgenommen (selbst wenn ihre Nettobelastung niedriger ist). Dies gilt nicht für indirekte Transfers z.B. durch Preisstützung. Insgesamt ist also die positive Unterstützung durch Bergleute für eine E-Politik größer als für eine R-Politik. Gleichzeitig ist der Verlust an Unterstützung durch Nichtbergleute für eine R-Politik größer als für eine E-Politik: (7-17)

[P B (E ) ' [P B (R ) ' 0 0 ' [P NB (E ) ' [P NB (R )

Hierbei bezeichnen [P B bzw. [P NB die Veränderung der Wahrscheinlichkeit, dass B bzw. NB Politiker unterstützen, die eine Politik 0 ) E, R anbieten. Die insgesamt erwartete Unterstützungsbilanz aus Sicht der Politiker hängt kurzfristig von den Konsumenten (NB) ab, die als große und heterogene Gruppen die Zusammenhänge der ver1

Die Politik kann dann möglicherweise auch einen Lock in-Effekt nutzen, d.h. auch bei Nichtsubventionierung die Freisetzung des Faktors Arbeit vermeiden, wenn diese kurzfristig nur bedingt möglich ist.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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schiedenen Politiken nicht durchschauen und von Politikern oder Interessengruppen nicht richtig vermittelt bekommen. Langfristig haben Politiker zu beachten, dass eine Abwanderung der Bergleute deren sozio-ökonomischen Status und möglicherweise auch deren Wählerpräferenzen verändert. Bedeutsam ist im Übrigen, dass Regierungen nicht aus homogenen Mitgliedern zusammengesetzt sind. So ist innerhalb der Regierungspartei und zwischen den Parteien sowie ggf. mit anderen Gremien ein ständiger Stimmentausch erforderlich, der den Erhalt alter und die Einführung neuer Subventionen erleichtert. Fazit: Wenn der politische Prozess eine klare bindende vertragliche Regelung herbeiführen könnte, die Kompensationszahlungen an Beschäftigte unter der Bedingung verspricht, dass sie den niedergehenden Wirtschaftsbereich verlassen, würde das Ergebnis für jeden besser sein. Aber solche langfristigen Kontrakte sind nur schwer durchführbar. Jedes Versprechen, effiziente Tätigkeitsveränderungen zu belohnen oder Drohungen, Zahlungen bei Ausbleiben solcher Entscheidungen einzustellen, sind unglaubwürdig. Solche Kontrakte liegen auch meist nicht im Interesse der Politiker. h) Möglichkeiten des Abbaus von Subventionen Das Problem der Glaubwürdigkeit oder allgemeiner der Zeitkonsistenz der Politik ist eine Art von Transaktionskosten des politischen Entscheidungsprozesses, die alle Subventionsabbaustrategien zu berücksichtigen haben. Glaubwürdigkeit verlangt Transparenz über Politik und Institutionen. Hierbei helfen Informationen, warum staatliche Interventionen überhaupt sowie warum und welche Subventionen eingesetzt werden, welcher Nutzen anfällt, auch sind die Begünstigten und die Kosten der Programme nachzuweisen. Dann ist die Kontrolle der Subventionspolitik möglich, die Begründungszwang und Vorgabe von Kriterien bedeutet, anhand derer die Erfolgskontrolle erfolgen soll. Gegenwärtig sind nicht einmal im Subventionsbericht die Ziele „so weit konkretisiert, dass eine hinreichend genaue Zielerreichungskontrolle möglich wäre“ (Deutsche Bundesbank 2000, S. 27). Er enthält nur eine allgemein gehaltene Zusammenstellung und Beschreibung von Subventionen. Alle Kürzungsstrategien unterliegen Beschränkungen 1: Subventionen sind bei vertraglichen, insbesondere langfristigen Bindungen mit Unternehmen (z.B. Ruhrkohle AG) nur schwer zu kürzen. Private müssen sich bei ihren Entscheidungen auf institutionelle Rahmenbedingungen, insbesondere gesetzliche Regelungen, verlassen können (Vertrauensschutz). Entsprechend wirken auch Vereinbarungen, Verträge und Gesetze, durch die andere politische Ebenen, wie Länder und Europäische Union, an den Entscheidungen mitwirken (Steuerverbund, Mischfinanzierung). So legt die Finanzverfassung fest, dass der Bund bestimmte Subventionen nur mit Zustimmung der Länder kürzen kann; „dies gilt beispielsweise für fast alle Steuervergünstigungen. Ein einzelnes Bundesland kann die Rasenmähermethode nur bedingt anwenden. Die Fi1

Siehe Boss/Rosenschon (2010), die auch zeigen, in welchen Bereichen von solchen Hemmnissen auszugehen ist.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

nanzautonomie der Bundesländer ist durch Mischfinanzierung – nicht nur im Bereich der Regionalförderung – stark beschnitten. Im Übrigen stellt sich ein gravierendes Anreizproblem. Ein Land hat an einer Reduktion der Finanzhilfen kein oder nur ein begrenztes Interesse, wenn die EU oder der Bund diese Hilfen mit finanzieren. Es ist teuer, Unterstützung ‚von oben’ nicht zu beanspruchen“ (Boss/Rosenschon 2002, S. 47). Entsprechendes gilt für eine Umstellung von Steuervergünstigungen auf Finanzhilfen. Bei einer Anteilsfinanzierung von Bund und Ländern müsste eine Seite die Aufgabe allein fortführen und wohl auch finanzieren.

Verschiedene Strategien sind möglich 1: So kann der Subventionsabbau auf einen Schlag erfolgen und wird nicht unterlaufen. Sind die Maßnahmen über einen Zeitraum gestreckt, ist die glaubwürdige Verpflichtung erforderlich, die Subventionierung in einem verbindlichen Fahrplan durchzuführen. Damit entfällt die Grundlage, im Vertrauen auf Absatzgarantien eine Änderung der Unternehmens- und Produktionsstruktur und die Ausschöpfung von Produktivitätsreserven zu unterlassen. Eine Radikalkur ist besonders schwierig, wenn – wie im Steinkohlenbergbau – eine starke Ideologisierung der Tätigkeit des Bergarbeiters besteht oder herbeigeführt wird. Im Interesse einer Besitzstandswahrung begründen die Subventionsempfänger ihre Forderung weniger mit dem Argument, es gelte Anpassungslasten zu mindern, sondern sie versuchen die Notwendigkeit einer Anpassung möglichst zu verschleiern („Versorgungssicherheit durch heimische Steinkohle“). Die Schwierigkeiten werden als vorübergehend dargestellt und ein Unentbehrlichkeits-Mythos aufgebaut, d.h. der Öffentlichkeit wird suggeriert, die deutsche Volkswirtschaft sei ohne diese Branche einer rücksichtslosen internationalen Konkurrenz ausgeliefert. Diese Argumente werden von der Politik häufig unkritisch aufgenommen und machen später neben den eigentlichen Maßnahmen eine Reideologisierung erforderlich. Für den Fall, dass sich ein Abbau der Subventionen in einzelnen Branchen nicht gegen den Widerstand der Interessenvertreter durchsetzen lässt, wird als Alternativstrategie vorgeschlagen, alle Subventionen prozentual um einen bestimmten Prozentsatz zu kürzen 2. Dies ist eine politisch verständliche, aber ökonomisch problematische Maßnahme, die Subventionen ohne Beachtung von Prioritäten behandelt. So werden Subventionen nur unzureichend gekürzt, bei denen die Begründung fehlt, andererseits aber auch solche, die von ihrer Begründung und ihrem Volumen zweckmäßig sind. Allerdings kann die Rasenmähermethode die Basis Verhandlungen über Subventionskürzungen sein, wobei die Beweislast verändert ist: Der Verzicht auf Subventionskürzungen muss gerechtfertigt werden. Eine andere Strategie zum Abbau von Subventionen besteht in der Vorlage von Streichlisten zum Subventionsabbau. Sie hat in der Vergangenheit regelmäßig nur zu marginalen Korrekturen geführt. Wenn Politiker für ihre Handlungen eine Unterstützungsbilanz ähnlich zu der von Gleichung (7-20) aufstellen, liegt es nahe, „neben den Verlierern Gewinner in die Stra1 2

Vgl. auch Kapitel 7.7 zu Ausgabenkürzungen allgemein. Diese Methode wird fälschlicherweise als Rasenmähermethode bezeichnet, denn sie führt die Subventionen nicht auf ein einheitliches absolutes Volumen zurück, sondern belässt die Relationen.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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tegie einzubeziehen, also den Abbau von Subventionen mit allgemeinen Steuersenkungen zu verbinden. Dann gäbe es zwar den politischen Widerstand durch jene, die bei Subventionskürzungen und Steuersenkungen per saldo ‚verlieren’, es gäbe aber Unterstützung durch diejenigen, die von dem gesamten Paket ‚profitieren’. Dies erhöht die Chance der politischen Durchsetzung“ (Boss/Rosenschon 2002, S. 46). Eine solche Strategie erfordert aber einen quantitativ bedeutsamen Subventionsabbau. Wichtiger als kurzfristig umzusetzende Vorschläge dürfte die langfristige Perspektive sein. Hierzu sind Leitsätze entwickelt worden, die aber regelmäßig nicht beachtet werden: S Subventionen sind legitim, wenn von einer Aktivität simultan eine Vielzahl von Interessen berührt werden und eine Koordinierung ausschließlich über den Markt deshalb sehr kostspielig, wenn nicht unmöglich würde (externe Effekte). S Befristete Subventionen sind im Sinne des Subsidaritätsprinzips zur Milderung von Anpassungslasten zulässig, wenn eine individuelle Hilfe zur Selbsthilfe weniger zweckmäßig wäre. S Subventionen zur Wirtschaftsförderung sind aus marktwirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv und sollten daher abgebaut werden und keinesfalls eingeführt werden. Jede Strategie des Subventionsabbaus erfordert folglich auch eine Schranke gegen neue Subventionen. Bei der Vergabe neuer Subventionen sollten an ihre Ausgestaltung folgende Bedingungen geknüpft sein, die auf bestehende Subventionen zu übertragen wären 1: S Jede Subvention sollte als solche gekennzeichnet sein und begründet werden müssen. S Subventionen sollten der Höhe nach begrenzt sein. S Die Dauer ihrer Gewährung sollte festliegen (Sunset-Klausel). S Die absoluten Beträge sollten im Zeitablauf regressiv verlaufen. S Subventionen sollten die Form von Finanzhilfen haben, weil sie im Gegensatz zu Steuervergünstigungen regelmäßig im Haushalt erscheinen, neu beschlossen werden müssen und in der Höhe limitiert sind. S Subventionen sollten mit anderen Instrumenten verglichen und unter Kosten-NutzenAspekten geprüft werden. S Alle zwei Jahre sollte eine Erfolgskontrolle stattfinden; sie hätte zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurden und noch verfolgt werden, welche Subventionen und anderen Maßnahmen zur Erfüllung des Ziels angefallen sind. Sollte die von der Bundesregierung verkündete Selbstbindung zur Einhaltung dieser Grundsätze realisiert werden, würde dies mehr Transparenz schaffen, den Rechtfertigungsdruck erhöhen und so die politischen Kosten der Ressourcenverschwendung erhöhen. Diese Selbstbindung müsste nicht nur als Vorhaben der aktuellen Regierung, sondern auch als Bindung der folgenden Regierungen wirken. Das erfordert die Einbe1

Diese Grundsätze der Subventionspolitik werden in den Subventionsberichten weitgehend immer wieder genannt, z.B. im 22. Subventionsbericht der Bundesregierung. Dort werden sie als Subventionspolitische Leitlinien (Kabinettsbeschluss vom März 2006) bezeichnet.

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Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

ziehung der Opposition zur Festlegung einer allgemeinen Regel. Selbst diese ist aber dem Glaubwürdigkeitsproblem ausgesetzt. i) Subventionen im Europäischen Rahmen Eine Möglichkeit der Begrenzung und Einschränkung von Subventionen wäre über EG-Recht vorstellbar. Theoretisch ist der Abbau von Subventionen ein internationales öffentliches Gut, weil Subventionen in der Regel die Preise verzerren und wettbewerbsschädlich sind. Entsprechend sieht der EG-Vertrag ein grundsätzliches Verbot von Subventionen („Beihilfen“) vor, die einzelne Unternehmen oder bestimmte Wirtschaftszweige begünstigen, wenn sie handelsverzerrend sind (Art. 87 Abs. 1 EGVertrag). Allerdings bestehen zahlreiche Ausnahmebereiche, bei ihnen ist die Gewährung von Beihilfen an die Zustimmung der EU-Kommission gebunden. Das gilt etwa für Regionalhilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten 1. In diesen Gebieten muss die Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig sein oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrschen. Beihilfen können zur Förderung der Entwicklung von Wirtschaftszweigen oder Wirtschaftsgebieten gewährt werden, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die den gemeinsamen Interessen entgegenläuft. Diese Beihilfen müssen durch die Mitgliedsstaaten notifiziert werden. Weitere Ausnahmen können eingeräumt werden, unter anderem für Beihilfen zur Kulturförderung sowie in den Bereichen kleinerer und mittlerer Unternehmen, Forschung und Entwicklung, Beschäftigung und Ausbildung, Umwelt und Umstrukturierung. Öffentliche oder öffentlich kontrollierte Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erbringen, genießen ebenfalls eine besondere Stellung. Ferner ist der Sektor Landwirtschaft vom Wettbewerb praktisch ausgenommen (Art. 36). Die Beihilfevorschriften sind prinzipiell ebenfalls auf Steuerregelungen anwendbar. Auch hier kann den Vorteilen für die Regionalentwicklung der Nachteil für den Wettbewerb gegenübergestellt werden. Demgemäß müssen nationale steuerliche Maßnahmen der Kommission aufgrund der Beihilferegeln vorher gemeldet und von ihr genehmigt werden, wenn sie zugunsten bestimmter Unternehmen oder Unternehmensgruppen vom allgemeinen Steuersystem abweichen 2. Tatsächlich ist also festzustellen, dass trotz eines gewissen Verbots Subventionen in allen Ländern der Europäischen Union weiter geleistet werden. Auch die Europäische Union selbst verteilt Subventionen. So stellt die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik, die den EU-Haushalt dominiert, eine wettbewerbsfeindliche Veranstaltung dar. Ferner nimmt die Neigung der Europäischen Union zu, industriepolitisch, d.h. branchenbezogen stärker aktiv zu werden. Subventionen und andere protektionistische 1

2

In Deutschland sind Regionalhilfen in erster Linie im Hinblick auf die neuen Bundesländer bedeutsam. Förderungsgrundlage ist insbesondere die Ausweisung der „Rahmenpläne zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Danach werden die Regionalbeihilfen von Bund und Ländern im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe gewährt. Auf die Problematik eine Sonderregelung zu identifizieren, ist schon beim Subventionsbegriff eingegangen worden.

7. Kapitel: Marktversagen versus (allokatives) Staatsversagen

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Maßnahmen werden also durchaus nicht unbeliebter. Mit den EG-Regionalfonds kofinanziert die Europäische Union Vorhaben der regionalen Wirtschaftsförderung in den Neuen Ländern und Berlin. Literatur zum 7. Kapitel Zum Staatsversagen siehe Wolf (1983, 1993), Recktenwald (1983) und Hanusch (1983). Maßstäbe zur Beurteilung der Effizienz des Staates untersucht Bös (1978), die relative Effizienz von Markt und Staat auch Heald (1983, ch. 5). Marxistische Auffassungen zum Staat stellen Jessop (1977, 1982) und Resnick/Wolff (1983) dar, kommentierte Quellenauszüge auch zur nichtmarxistischen Linken bieten Kremendahl/Meyer (1974). Zum Leviathan-Modell siehe Brennan/Buchanan (1977, 1980) und Racheter/Wagner (1999). Einen Überblick über die Problematik zunehmender Staatstätigkeit bieten Littmann (1977a), Recktenwald (1977), Brown/Jackson (1990, chs. 5, 7) und der von Gemmel (1993) herausgegebene Band. Peltzman (1980) zeigt die Bedeutung der Umverteilung; unter Public Choice-Aspekten siehe Mueller (1987), speziell zur Rolle der Bürokratie siehe Borcherding (1977). Zur Bedeutung der sich nicht im Budget niederschlagenden Staatsaktivitäten siehe Saunders/Klau (1985) und Pryor (2002). Alternativen zur Reduzierung des öffentlichen Haushalts untersucht Vaubel (1983). Die Privatisierung behandelt Bös (1991) umfassend, Nutzen und Kosten untersucht Schmidt (1996), einen Überblick über empirische Studien geben Megginson/Netter (2001). Möglichkeiten und Probleme von Deregulierungen werden im Beiheft der Konjunkturpolitik 32 (1986) untersucht. Zur Privatisierung der Finanzierung siehe Junkernheinrich (1996). Gründe und Umfang der Privatisierung untersuchen Schneider (2003) und Köthenburger u.a. (2006), die auch eine Vielfalt der Ziele, Motive und in der Durchführung darstellen. Zur Public-Private-Partnership siehe Krumm/Mause (2009). Vorschläge zur Budgetbegrenzung haben insbesondere Friedman (1978) und Brennan/Buchanan (1977, 1980) gemacht. Siehe hierzu und zur Diskussion dieser Vorschläge und ihrer Realisierung Folkers (1983a) und Laux (1984). Probleme des Subventionsbegriffs und des statistischen Nachweises der Subventionen behandelt Fritzsche (2002). Mit der Stichhaltigkeit von Rechtfertigungen der Subventionspolitik setzen sich Berthold/Donges (1996) auseinander; siehe auch Boss/Rosenschon (2002, 2006, 2010), die Daten zu den Subventionen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen für das Kieler Institut für Weltwirtschaft liefern; Daten liefern ferner die vom BMF herausgegebenen Subventionsberichte und die VGR. Subventionen allgemein untersuchen Andel (1977b) und Schwartz/Clements (1999), umfassend Grüne (1997) im Public-Choice-Rahmen. Subventionen in der EU behandelt Färber (1995). Die Subventionseffizienz untersucht Haghani (1999), zur

256

Zweiter Teil: Effizienz, Markt und Staat

Zielvorgabe und Erfolgskontrolle in der Subventionspolitik siehe ferner Finanzwirtschaftliches Forschungsinstitut (2003), zum Subventionsabbau Färber/Seidel (2002). Die Problematik der Agrarsubventionen und ihres Abbaus auch im Rahmen der EU untersucht Henning (2002), zum Steinkohlenbergbau siehe die Streitschrift von Frondel/Kambeck/Schmidt (2006). Zu den Auswirkungen von Subventionen im internationalen Zusammenhang siehe Soltwedel et. al. (1988).

Dritter Teil Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik 8. Kapitel Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen 1. Vorbemerkung Als eines der wirtschaftspolitischen Ziele gilt es, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Verschiedene Reformprogramme lassen sich erst dann durchsetzen, wenn mit ihnen ein Beitrag hierzu vermittelt wird. Gerechtigkeit hat mit Verteilung zu tun. Daher sind staatliche Maßnahmen darauf zu untersuchen, ob sie die beabsichtigten Wirkungen auf die Verteilung erzielen. Auch sind die verteilungspolitischen Konsequenzen des effizienzorientierten Einsatzes von Instrumenten herauszuarbeiten 1. Dabei stellt sich die Frage, was verteilungspolitisch relevant ist 2. Gegenstand der verteilungspolitischen Auseinandersetzung ist im Wesentlichen die Verfügbarkeit über Ressourcen in Form von Einkommen und Vermögen. Dabei kann es um die Verteilung einzelner Güter (z.B. Boden) oder um die Eigentumsverhältnisse insgesamt, aber auch um einzelne Rechte und Pflichten, Macht, Sicherheit, Bildung und Chancen gehen. 2. Die Vermögensverteilung a) Die Bedeutung des Vermögensbegriffs Vermögen ist eine Bestandsgröße, die verschiedene bewertete Güter umfassen kann. In der verteilungspolitischen Diskussion geht es um die Verteilung des Gesamtvermögens, des Reinvermögens oder einzelner Vermögensteile. Das Gesamtvermögen eines Wirtschaftssubjekts (Sektors oder der Volkswirtschaft) besteht aus der Summe der einzelnen bewerteten Vermögensobjekte in einem bestimmten Zeitpunkt. Zieht man die dann bestehenden Verbindlichkeiten ab, gelangt man zum Reinvermögen. Auf den ersten Blick mag allein das Reinvermögen von Bedeutung sein. Die Bilanzen etwa von Banken oder Versicherungen zeigen, dass diese hohe Forderungen und hohe Verbindlichkeiten bei vergleichsweise geringem Reinvermögen aufweisen. Das Reinvermögen lässt weniger z.B. die Möglichkeit der Ausübung wirtschaftlicher Macht erkennen – die auch Gegenstand der verteilungspolitischen Diskussion sein kann. Für die Beurteilung der individuellen Vermögensposition ist es wichtig, ob „der Besitzer frei über das Vermögen verfügen kann. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn das

1 2

Dieser Aspekt wurde schon bei der Behandlung der Nutzen-Kosten-Analyse angesprochen (vgl. Kapitel 7.2). Und in einer Vermögensstatistik erfasst werden soll.

258

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Vermögen Veräußerungsverboten, Einschränkungen in der Nutzung 1, Fremdbestimmungsrechten und ähnlichem unterworfen ist. Eigentum ohne jede Verfügungsgewalt“, wie z.B. beim früheren sog. Volkseigentum in der DDR, „ist nur von schwer abschätzbarem Einfluss auf die ökonomische Position des einzelnen und könnte daher auch nur unter größten Schwierigkeiten in die individuelle Vermögensrechnung aufgenommen werden ... Allerdings heben Einschränkungen der Verfügungsgewalt – von Extremfällen abgesehen – die Vermögenseigenschaft nicht auf. Sie verlangen nur eine entsprechende Korrektur im Wertansatz, womit das Problem der eingeschränkten Verfügungsmacht im zentralen Bewertungsproblem aufgeht“ (Krause-Junk 1981, S. 261/262). Forderungen gegen andere Wirtschaftssubjekte zählen unbestritten zum Vermögen. Sie lauten auf eine Geldeinheit oder sind in Geld bewertbar. Dazu rechnen auch solche Ansprüche, für die zahlungspflichtige Unternehmen in ihren Bilanzen Rückstellungen bilden (Lebensversicherungen, Pensions- und Sterbekassen, berufsständische Versorgungswerke, Pensionsrückstellungen der Unternehmen). Sind aber auch die Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und Versorgungsansprüche der Beamten als weitere Teile des Versorgungsvermögens in die Forderungen einzubeziehen? Für die Erfassung des Versorgungsvermögens spricht, dass in Höhe der Eigenbeiträge die versorgte Person weniger sparfähig ist, aber auch keine anderen Vermögenskomponenten für Notfälle angesammelt werden müssen. Ansprüche an private Lebensversicherungen – weit verbreitete Vorsorgeform bei Selbständigen und Freiberuflern – sind bereits traditionell in die Verteilung einbezogen worden (Hober 1981, S. 7/8). Ansprüche an die GRV lassen sich allerdings nicht kapitalisieren, nicht (oder nur begrenzt: Hinterbliebenenrente) vererben und sind nicht verfügbar. Soweit dies auch für andere Vermögenswerte zutrifft, beruht die Illiquidität des Vermögens dort auf der Entscheidung des Einzelnen und nicht des Staates. Vor allem aber ist die Höhe der künftigen Renten wegen des Umlageverfahrens 2 unbekannt und hängt von politischen Entscheidungen ab. Forderungen auf Leistungen aus einer realen Vermögensmasse bzw. konkretisierbare Verpflichtungen bestehen nicht. Auch das nur schwer lösbare Bewertungsproblem bei diesem Teil des Versorgungsvermögens spricht gegen dessen Berücksichtigung als Vermögen; in Anbetracht der bedeutsamen Sicherungsfunktion ist es andererseits ein wichtiger Teil der Vermögenspolitik. Das Sachvermögen in Form von Grundvermögen, Bodenschätzen u.ä. (wie Öl oder Grundwasservorräte) gehört zu den Größen, die Gegenstand nationalen und internationalen verteilungspolitischen Interesses sind. Haus- und Grundbesitz sind in verschiedene verteilungspolitische Maßnahmen einbezogen. In der politischen Auseinandersetzung wurde früher häufiger eine als Produktivvermögen bezeichnete Größe verwendet. Sie stellt das gewerblich genutzte Vermögen dar und umfasst die nichtfinanziellen Positionen der Aktivseite der Unternehmensbilanzen. Das Produktiv1 2

Je schwerer Mietern gekündigt werden kann, umso geringer ist der Wert einer Wohnung. Zum Umlageverfahren vergleiche das 11. Kapitel.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

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vermögen der Unternehmen wurde in diesem Zusammenhang als wichtige Kennziffer für die Verteilung ökonomischer und politischer Macht angesehen. Allerdings ist diese Verengung nicht unproblematisch, weil das Produktivvermögen in privatem und öffentlichem Eigentum liegen kann und die Eigentumsrechte eingeschränkt sein können. Die Eigentumsrechte schließen ein das Recht, (l) sich den Unternehmensgewinn anzueignen; (2) das Management und die übrigen Organisationsmitglieder zu bestimmen; (3) diese beiden Rechte zu veräußern.

Dauerhafte Güter (Autos, Fernseher usw.) im Besitz privater Haushalte (Gebrauchsvermögen) sind der Teil des Vermögens, der eine stärkere Nivellierung aufweist. Auch scheint die Konkretheit dieser Vermögensform die Motivation zur Vermögensbildung breiter Schichten stark anzuregen. Die unterschiedliche Einbeziehung des Eigentums an Immobilien, nicht aber beispielsweise an Autos in das Gesamtvermögen ist eher pragmatisch hinsichtlich der Größenordnung zu erklären. Allerdings ist der Grundbesitz meist durch große Sicherheit gekennzeichnet; er war längerfristig ferner durch hohe Wertzuwächse gekennzeichnet 1. Beides kann u.U. auch für Anlagen in Edelmetallen, Kunstgegenständen und Sammlungen gelten. Gebrauchsvermögen lässt sich in vielen Fällen als ertragbringendes Vermögen interpretieren, für das die eingesparten Ausgaben – beispielsweise die sonst für ein Auto zu zahlende Miete – indirekt als Ertrag angesehen werden können. Das Humankapital (Arbeitsvermögen) besteht in den auf Erziehung, Ausbildung und Erfahrung beruhenden personengebundenen Eigenschaften und Fähigkeiten, die ökonomisch verwertbar sind, also Einkommen ermöglichen. Seine Bedeutung ist unumstritten, nicht aber ob und wie das Arbeitsvermögen in eine Vermögenspolitik einbezogen werden soll. Und lässt es sich überhaupt sinnvoll etwa mit dem Sachvermögen im Gesamtvermögen addieren, zumal es praktisch völlig illiquide ist? Arbeitsvermögen kann nicht von der Person getrennt werden und ist wegen fehlender Veräußerbarkeit mit besonders hohem Risiko verbunden. Seine Erfassung und Bewertung stoßen auf erhebliche Schwierigkeiten. In den meisten empirischen Untersuchungen zur Vermögensverteilung bleibt es daher unberücksichtigt, selbst wenn es quantitativ als bedeutsam gilt. Wie wichtig der Vermögensbegriff für Verteilungszwecke ist, zeigen die Unterschiede in der Vermögenskonzentration einzelner Vermögensarten (Haus- und Grundvermögen, Sparguthaben, Banksparguthaben, Wertpapiere, Lebensversicherungen, Geld, Schulden). Abb. 8-1 zeigt dies anhand einer Schätzung der Vermögensverteilung, die die in einer früheren Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS 1973) erfassten Vermögensarten zugrunde legt. Zur Bewertung der Verteilung wird der GiniKoeffizient berechnet 2. Er ist bei völliger Gleichheit null. Dieser Darstellung stellt Hober (1981) die Vermögensverteilung gegenüber, die sich bei Hinzurechnung der gesetzlichen Rentenansprüche, Pensionszusagen und Versorgungsansprüche der 1 2

Auch sie sind Gegenstand der verteilungspolitischen Diskussion. Der Koeffizient drückt die Fläche x zwischen Gleichverteilungskurve (45 Grad-Linie) und Konzentrationskurve (Lorenzkurve) in % der Fläche unter der Gleichverteilungskurve aus. Er ist bei totaler Ungleichheit 100. Zu weiteren Verteilungsmaßnahmen siehe Breyer/Buchholz (2009, Kap. 2.2).

260

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Die Anteile am privaten Nettovermögen (mit bzw. ohne Versorgungsvermögen)

Abb. 8-1 Die Konzentration des privaten Nettovermögens mit bzw. ohne Berücksichtigung des Versorgungsvermögens Nettovermögen ohne Versorgungsvermögen

80 60

x

40

Nettovermögen mit Versorgungsvermögen

20 0

0

20

40

60

80

100

Die Anteile der Haushalte an ihrer Gesamtzahl in %

Quelle: Hober (1981), S. 141.

Beamten auf Basis der gesetzlichen Regelung von 1973 ergeben hätte. Der erweiterte Vermögensbegriff führt zum Ausweis einer gleichmäßigeren Verteilung 1. Eine ähnliche Wirkung dürfte erzielt werden, wenn man das Humankapital oder das Gebrauchsvermögen berücksichtigen würde. Mit dem Vermögensbegriff wird daher das Ausmaß der nachgewiesenen Vermögenskonzentration festgelegt. Wenn aber die Vermögenspolitik nur deshalb einen engen Vermögensbegriff zugrunde legt, weil Erfassungs- und Bewertungsprobleme gegen eine weitergehende Definition sprechen, ist die der Vermögensverteilungspolitik zugrundeliegende Gerechtigkeitsvorstellung problematisch. b) Die Bewertung der Vermögensobjekte Wie die Festlegung der verteilungspolitisch interessierenden Vermögensobjekte kann auch ihre Bewertung unterschiedlich erfolgen 2. Mehrere Vermögensobjekte lassen sich in Geldeinheiten ausgedrückt vergleichen und zu einer Gesamtgröße addieren. Je nach Art des Vermögensobjekts kann die Bewertung zu tatsächlichen Preisen erfolgen, ersatzweise müssen fiktive Preise herangezogen werden. Marktpreise sind tatsächliche Preise allein für die am Markt gehandelten Vermögensobjekte. Bei Ertragswerten wird Vermögen als der Gegenwartswert der künftigen Nettoerträge bestimmt. Unsicherheit der künftigen Erträge und Kosten sowie die relativ willkürliche Wahl eines Diskontfaktors kennzeichnen die Bewertungsmethode. Sie wird z.B. für die Ermittlung des 1

2

Daraus kann man schließen, dass die gemessene Verteilung, insbesondere auch die zwischen Selbständigen und Unselbständigen, zu einem Teil auf den mehreren Formen der sozialen Sicherung und deren unterschiedlicher Erfassung in der Verteilungsrechnung beruhen dürfte. Die Bedeutung der Bewertungsfrage hat das Bundesverfassungsgericht bei der Vermögensteuer deutlich gemacht. Sie wurde wegen fehlender Gleichbehandlung verschiedener Vermögensformen für verfassungswidrig erklärt, weil teilweise Einheitswerte (Grund und Boden), teilweise Marktpreise (Wertpapiere) herangezogen wurden. Ähnliches gilt für die Erbschaftsteuer.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

261

Wertes ganzer Unternehmen und bei der Grundsteuer herangezogen. Bei Wertpapieren schlägt sich der angenommene Ertragswert im Kurswert nieder. 3. Die Einkommensverteilung a) Die Beziehung Einkommen – Vermögen Vermögen ist die Summe der Vermögensbildungen der Vergangenheit und der Gegenwartswert künftiger Einkommen. Die Einkommenserzielung ist wesentlich vom Vermögen (mit)bestimmt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Vermögensbildung durch Sparen mit steigendem Einkommen zu. Das verdeutlicht einen dynamischen Aspekt der Verteilung: Je günstiger die Startposition in der gegenwärtigen Einkommens- und Vermögensverteilung ist, um so wahrscheinlicher ist auch eine günstige Position in der künftigen Verteilung. b) Der Einkommensbegriff Grundlage für jede Analyse der Einkommensverteilung und für die darauf aufbauende Politik ist die Festlegung, was als Einkommen gelten und für welche Periode und für wen (Personen, Haushalte) es gemessen werden soll. Der Einkommensbegriff fällt je nach politischem Ziel oder Zweck der Analyse unterschiedlich aus. VGR, EVS, SOEP und Einkommensteuer verwenden verschiedene Definitionen. Auch die Theorie gibt nicht einmal für steuerliche Zwecke einen Begriff vor, der weitgehend akzeptiert wird. So ist hinsichtlich des Einkommens zu entscheiden, welche Stromgrößen einbezogen werden sollen, ob die Berechnung des Einkommens an der Produktion (wie beim BIP) zu orientieren ist und die Kapitalgewinne als Vermögenseinkommen einbezogen werden müssen. So dürfte sich die Verteilung der Unselbständigeneinkommen und der Kapitalgewinne erheblich unterscheiden. Allerdings können Kapitalgewinne eher virtuell (nicht realisiert) als tatsächlich sein. Ferner muss entschieden werden, wie die bei Selbständigen nur modellmäßig geschätzten Arbeitseinkommen und Gewinne 1 behandelt werden sollen, ob private und staatliche Übertragungen, die Nutzung dauerhafter Güter und außerordentliche Zuwächse (insbesondere Erbschaften) als Einkommen zu behandeln sind. Ist Einkommen im übrigen nur materiell zu verstehen, oder sind auch die Freizeit und andere, dem Einkommen vergleichbare Größen zu beachten? Konventionell beschränkt man sich – allein schon wegen der Datenlage – eher auf das monetäre Einkommen 2.

1

2

Die Trennung ist nicht nur für die Verteilungsanalyse wichtig. Sie muss auch bei der Dualen Einkommensteuer und bei der analytischen Besteuerung der Wertschöpfung (siehe 19. Kapitel) erfolgen. Unter Einschluss bestimmter nichtmonetärer Ströme, soweit sie bei der Einkommensteuer berücksichtigt werden oder bei Sachleistungen z.B. der Sozialhilfe auftreten.

262

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

c) Verteilung zwischen wem? Die Frage der Bezugsgröße Bei der Einkommensverteilung geht es um die Verteilung des Einkommens auf große Gruppen (entsprechend bei der Vermögensverteilung), die je nach Fragestellung unterschiedlich gebildet werden können. Daher fallen auch die theoretischen Ansätze zur Erklärung eines bestimmten Bildes der Verteilung und die Wahl der wirtschaftspolitischen Instrumente zu ihrer Beeinflussung unterschiedlich aus. (1) Funktionelle Einkommensverteilung Eine Ausrichtung der Verteilungstheorie liegt auf der funktionellen Einkommensverteilung. Die Entgelte der Produktionsfaktoren stellen das im Wirtschaftsprozess entstandene Einkommen ihrer Besitzer dar. Produktion und Verteilung werden so simultan bestimmt. Für die Analyse ist es wichtig, welchen Faktoren das Produktionsergebnis zugerechnet wird, als einfachste Form meist nach Arbeit und Kapital (einschließlich Grund und Boden). Dies führt zur (unbereinigten) Lohnquote als dem Verhältnis von Arbeitnehmerentgelt zu Volkseinkommen. Lohnquote und ,,Gewinnquote“ 1 ergänzen sich zu eins. Trotz verschiedener Umrechnungen lässt die Lohnquote keine schlüssige verteilungspolitische Beurteilung zu. Sie enthält z.B. die Löhne und Gehälter von Bundeskanzler, Gewerkschaftsfunktionär, Generaldirektor, Gelegenheitsarbeiter und Pförtner. Die funktionelle Verteilung sagt nichts darüber aus, welche Einkommen den Beziehern von Arbeitnehmerentgelt sonst noch zufließen (Querverteilung), insbesondere sagt sie nichts über die Ungleichverteilung der Einkommen und über die soziale Lage des Einzelnen aus. Diese werden entscheidend von der Höhe und nicht allein von der Quelle des Einkommens bestimmt. Nichterwerbstätige (ohne Vermögenseinkommen) bleiben aus der funktionellen Verteilung ausgeschlossen. Die funktionelle Verteilung ist allerdings sinnvoller Ausgangspunkt der Verteilungsanalyse (siehe Atkinson 2009). (2) Personelle Einkommensverteilung Bei der personellen Verteilung geht es um die Aufteilung eines Gesamteinkommens (z.B. des Volkseinkommens) auf die natürlichen Personen oder Haushalte einer Volkswirtschaft. Aus dieser Betrachtung sind Unternehmen und Staat als Einkommensbezieher und der auf sie entfallende Teil des Gesamteinkommens ausgeschlossen. Die personelle Verteilung findet in der Regel ihren grafischen Ausdruck in der Lorenzkurve. Dieses Bild (von Gleichverteilungs- und Lorenzkurven) wirkt allerdings präjudizierend auf die Theorie und auch auf die Werturteile, die hinsichtlich der Einkommensverteilung gehegt werden (Pen 1974). So legt die Gleichverteilungskurve z.B. die Wünschbarkeit einer solchen Verteilung nahe. Die Lorenz-Kurve enthält keinerlei Angaben über die Bedürfnislage der einzelnen in die jeweiligen Klassen fallen1

Gewinne im eigentlichen Sinne machen allerdings nur einen Teil (u.a. neben Vermögenseinkommen, Arbeitseinkommen der Selbständigen) der Restgröße aus.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

263

den Haushalte. Diese unterscheiden sich aber z.B. durch Zahl und Struktur der zu unterhaltenden Personen, so dass unterschiedliche Bewertungen des Einkommens vorliegen. Die Lorenz-Kurve gibt ferner keine Auskunft über die Anstrengungen und Leistungen der Haushalte in gleichen oder in früheren Perioden. Sie bietet wie der GiniKoeffizient ,,schließlich überhaupt keine Informationen über die Ursachen dafür, daß bestimmte Haushalte in diese und nicht in eine andere Gruppe fallen. Aber gerade die Kenntnis dieser Ursachen dürfte unabdingbare Voraussetzung für eine wirksame Verteilungspolitik des Staates sein. Um die Ursachen von Ungleichverteilungen und damit zugleich auch mögliche Ansatzpunkte für eine staatliche Verteilungspolitik ins Bild zu rücken, ist es zweckmäßig, die Haushalte nach Merkmalen zu gruppieren, die für die Formulierung von verteilungstheoretischen Hypothesen und/oder verteilungspolitischen Zielen geeignet erscheinen“ (Krause-Junk 1981, S. 267). Als differenzierende Faktoren der personellen Verteilung (und für die darauf aufbauende Politik) kommen insbesondere Alter, Lebenszyklus, Zufall, Vererbung, sozioökonomische Merkmale wie Beamten- oder Arbeiterhaushalt, zu versorgende Personenzahl, Region usw. in Betracht. Eine befriedigende Antwort darauf, welches die wirklich relevanten Faktoren sind, lässt sich aber generell kaum geben. Wichtig für die Analyse und für Maßnahmen der Verteilungspolitik ist die Bezugsgröße. Der Haushalt ist zweckmäßig, wenn die Individuen ihre Einkommen zusammenfassen und gemeinsam verwenden 1. Als Haushaltsmitglied gilt, wer dauerhaft und vollständig in den Haushalt aufgenommen ist. In der Statistik – zum Beispiel in der EVS – entscheidet die Stellung des Haushaltsvorstands über die Zuordnung zu den verschiedenen Schichtungsmerkmalen für Haushalte 2,3. Um Unterschieden in Zahl, Alter und Einkommenstruktur der Haushaltsmitglieder Rechnung zu tragen, werden im Haushaltskontext Netto-Äquivalenzeinkommen berechnet. Sie umfassen die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit, die Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit und Vermögen und die bezogenen privaten Transfers. Diese Haushaltseinkommen werden vermindert um geleistete Einkommensteuern und Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung und erhöht um die Renten aus der GRV, Pensionen und weitere staatliche Transfers. Hier wird auch Haushaltsersparnissen und geringerem Bedarf von Kindern Rechnung getragen. Die Haushaltseinkommen werden mit Äquivalenzziffern umgerechnet, die 1,0 für den ersten Erwachsenen im Haushalt betragen, 0,5 für jede weitere Person ab 15 Jahren und 0,3 für Kinder unter 15 Jahren. Teilt man das Haushaltseinkommen durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder ergibt sich das Äquivalenzeinkommen dieser Person. Mit die1

2

3

Wenn Individuen zusammenleben, gibt es einen Grad des Teilens und der Economies of Scale, so dass die Behandlung ihres Einkommens auf individueller Basis irreführend ist. Eltern und erwerbstätige Kinder können aber auch in einem gemeinsamen Haushalt leben, ohne dass das Einkommen gemeinsam verwendet wird. Die Verteilung kann sich erheblich unterscheiden, wenn man von Haushaltseinkommen auf ProKopf-Einkommen wechselt. So würde beim Abstellen auf Einzelpersonen ein nichterwerbstätiges Familienmitglied mit einem Einkommen von null oder jedenfalls nicht die Existenz sichernden Einkommen ausgewiesen, ohne dass es sich in einer Notlage befinden muss. Die Bedeutung der funktionellen für die personelle Einkommensverteilung ist bisher weitgehend ungeklärt (vgl. Atkinson 1996, S. 2).

264

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

sem Konzept sollen Pro-Kopf-Einkommen von Erwachsenen verglichen werden. Die genannten Äquivalenzskalen entsprechen den gegenwärtigen europäischen Konventionen, die auch anders gewählt werden können. Für Deutschland zeigt sich, dass der Gini-Koeffizient 1 bei 0,3 liegt, also viel näher an absoluter Gleichheit als an absoluter Ungleichheit 2. Die Brutto- und die Nettoeinkommen sind nicht normal, sondern linkssteil verteilt (vgl. Abb. 8-3). Für den häufigsten Wert (Y1), den Median (Y2) und das arithmetische Mittel (Y3) als Lagemaße 3 der Verteilung gilt Y1 < Y2 < Y3. Abb. 8-3 Verschiedene Verteilungsmaße n

Y1 Y2 Y3

Y

Verteilungspolitisch von Interesse ist auch, wie sich die Verteilung auf weitere, noch nicht erwähnte Gruppen darstellt und entwickelt. So könnte je nach Fragestellung neben den Differenzierungen nach Arbeiter-, Angestellten-, Beamten- und Selbständigenhaushalten usw. auch auf die Gruppen z.B. der Politiker, Manager, Spezialisten (z.B. Flugkapitäne), Mitglieder des öffentlichen Dienstes usw. abgestellt werden. Anlass hierfür könnte die Hypothese sein, dass diese Gruppen die übrigen Gruppen oder die Gesellschaft ausbeuten: Politiker sind Gesetzgeber in eigener Sache, Bürokraten wirken dabei mit und handeln auch im eigenen Interesse. Agenten (z.B. Manager oder Politiker) sind durch prinzipale Anteilseigner (Bürger) häufig nicht kontrollierbar bzw. werden nicht kontrolliert, der öffentliche Dienst ist besonders stark in der Politik repräsentiert und Spezialisten sind zumindest kurzfristig häufig nicht substituierbar, wobei insbesondere Wettbewerbsverzerrungen wie die Closed-shopBedingungen (allokativ und) verteilungspolitisch bedeutsam sind. (3) Armut als Spezialfall der personellen Einkommensverteilung Armut bezieht sich auf das untere Ende der personellen Einkommensverteilung. Je nach Definition von Armut wird aber die Armutsgrenze verschieden ausgelegt. 1 2 3

Das Maß zur statistischen Darstellung von Ungleichverteilungen kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher es bei 1 liegt, desto größer ist der Grad der Ungleichverteilung. Das gilt für die Nettoäquivalenzeinkommen, bei den Marktäquivalenzeinkommen liegt der GiniKoeffizient zwischen 0,4 und 0,5 (siehe Sachverständigenrat, JG 2009/10). Der häufigste Wert (Modalwert) hat die größte Häufigkeit eines Merkmals in einer Beobachtungsreihe. Der Median ist dadurch gekennzeichnet, dass jeweils 50 % der Beobachtungen einen größeren oder gleichen bzw. kleineren oder gleichen Wert haben. Das arithmetische Mittel als Durchschnittswert errechnet sich durch Addition aller (ggf. gewichteten) Merkmalswerte und Division ihrer Summe durch die Anzahl der Merkmalswerte.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

265

S So kann Armut einen Zustand der Existenzgefährdung aufgrund mangelnder Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern bezeichnen. In modernen Industriestaaten wird Armut weitergefasst und drückt ein nicht erreichtes Mindestpotenzial an Gütern aus, das bei solchen Einkommen gegeben sein kann, die nicht zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums der Haushaltsmitglieder ausreichen. Als arm kann hier gelten, wer Sozialhilfe in Anspruch nimmt, die dem Empfänger ein menschenwürdiges Leben ermöglichen soll. Eine Änderung der Sozialhilfegrenzen zeigt dann aber nicht unbedingt eine veränderte Zahl der Armen an, sondern eher die Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellungen zur Arbeit. Die (absolute) Armut wird bei diesem Konzept gemessen, indem man von der Basis objektiver Mindeststandards für eine Grundversorgung ausgeht. So lassen sich Mindestkonsumgrenzen festlegen, aus denen über einen Zusammenhang zwischen bestimmten (lebensnotwendigen) Konsumausgaben für Lebensmittel, Wohnung u.a. aufgrund der Hypothesen von Engel und Schwabe Einkommensgrenzen bestimmt werden. S Bei anderen Definitionen gelten Personen als arm, die im Vergleich zu mittleren Standards über geringe Mittel verfügen. Als relativ arm oder armutsgefährdet gilt, wer über ein Nettoäquivalenzeinkommen verfügt, welches unter der Armutsgrenze liegt. Diese wird häufig als ein prozentualer Anteil, beispielsweise 60 % des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen bestimmt. Dann wird eine Aussage über die Einkommensungleichheit getroffen. Es kann gesagt werden, die unter der Grenze liegenden Personen seien schlechter als die übrigen gestellt, ohne dass hier allerdings eindeutig Notlagen (Versorgungsmängel bei den Grundbedürfnissen) angezeigt werden. Selbst z.B. eine Verdoppelung der Einkommen aller Bürger würde bei dieser Definition an der Armut nichts verändern. Ferner stellt sich bei der Wahl des Einkommens als Indikator die Frage, wie es abgegrenzt wird: brutto oder netto, mit oder ohne Sozialversicherungsbeiträge und, ob Transfers und Eigenleistungen als Einkommen rechnen, auf ein Jahr oder eine längere Periode bezogen sind. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird auf die relative Armut abgestellt. Mit dieser Definition kann das Verständnis von Armut immer weiter ausgeweitet werden. Hierzu werden Argumente wie „Mangel an Teilhabe“ oder „soziale Ausgrenzung“ verwendet. Welchen Sinn macht es aber, Vergleiche mit anderen EULändern durchzuführen, in denen viele Menschen am Verhungern sind, die relative Armut aber gering ist. Und wird nicht die Vorstellung der Hilfe zur Selbsthilfe ad absurdum? (4) Verteilung des Einkommens nach Regionen, Sektoren und Generationen Zur Charakterisierung der Gesamtverteilung können weitere Querschnitte vorgenommen werden. So kann die Verteilung regional betrachtet werden. Dies ist besonders im Hinblick auf die unterschiedlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bundesländer von Bedeutung. Aber auch kleinere Regionen (Grenzgebiete) können im Durchschnittseinkommen erheblich vom nationalen und Landesdurchschnitt abweichen. Folglich sind

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

neben Ost-West- auch andere Länder- und Stadt-Land-Gegensätze von Interesse 1. Auch international wird ein Ost-West-Gegensatz gesehen, allerdings wird der NordSüd-Konflikt der Einkommensverteilung für gravierender gehalten. Ferner kann die Verteilung nach Branchen und Sektoren differenziert werden. Das zeigt sich deutlich in der Verteilung der Subventionen. Die Verteilung zwischen den Generationen gewinnt zunehmend an Bedeutung. So geht es einmal um die Verteilung zwischen den gegenwärtig und künftig lebenden Generationen und ihrer jeweiligen Entscheidungsfähigkeit. Hierbei stellt sich insbesondere die Frage, ob man die Präferenzen der künftigen Generationen bei den heutigen Entscheidungen berücksichtigen soll und wie man das kann. Angesichts des demographischen Wandels wird diese Verteilung immer wichtiger. Bei den gegenwärtig lebenden Generationen steht die Aufteilung des Einkommens auf Erwerbstätige und Nichterwerbstätige im Vordergrund. Eine Verschärfung der Verteilungskonflikte zwischen den Generationen wird insbesondere in der Sozialversicherung, der Besteuerung, der finanzpolitischen Behandlung von Kindern und in der Staatsverschuldung sichtbar, die alle als Aspekte der Nachhaltigkeit gesehen werden können. d) Die Einkommensperiode Schließlich stellt sich die Frage, welche Bedeutung verschiedene Lebensphasen für die Einkommensentwicklung einzelner Personen haben (Längsschnittbetrachtung). So wirken sich die oben genannten differenzierenden Faktoren der personellen Verteilung unterschiedlich aus, je nachdem für welche Periode das Einkommen definiert wird: Für Tag, Monat, Jahr oder Leben der Wirtschaftssubjekte. In den meisten Analysen der Einkommensverteilung wird vom Jahreseinkommen ausgegangen. Hierfür sind die faktische Ausrichtung vieler verteilungspolitischer Maßnahmen und die statistische Konvention maßgeblich. Die Einkommensperiode von einem Jahr kann aber zu lang oder zu kurz sein. Neben zufälligen sind systematische Einkommensänderungen bedeutsam, so mit dem Alter. Dann ergeben sich je nach dem Zeitpunkt für die Querschnittsanalyse unterschiedliche Einkommensrelationen der Personen in der jeweiligen Phase ihres Lebenszyklus. Solche Effekte sind aus Lorenz-Kurve und Gini-Koeffizient nicht herauszulesen. In Abb. 8-2 haben die Wirtschaftssubjekte A, B und C identische, jedoch zeitverschobene Lebenseinkommensprofile. Altersbedingt sind die Einkommen eines Jahres – beispielsweise in t1 – aber stets ungleich verteilt. Änderungen der Altersstruk-

1

Der horizontale Finanzausgleich in Deutschland (vgl. das 26. Kapitel) knüpft an der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder an. Die europäische Regionalpolitik legt verschiedene Ebenen (NUTS) zugrunde. Bei NUTS-2 werden Regionen mit einem BIP/Kopf von weniger als 75 % des Gemeinschaftsdurchschnitts gefördert. Auch im Bereich der deutschen Regionalpolitik spielt das regionale BIP/Kopf eine wichtige Rolle.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

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tur wirken sich daher auf die Einkommens- (und Vermögens-) Verteilung aus. Das Beispiel zeigt zudem eine der Ursachen für die Einkommensmobilität 1. Abb. 8-2 Die Verteilung der Jahreseinkommen bei gleichen, aber zeitlich verschobenen Lebenseinkommensprofilen Y A

B

C

t1

t

Die Beschränkung auf Jahreseinkommen ist also für viele Fragestellungen zu eng. Es spricht daher einiges dafür, auch oder gerade auf die Höhe und den Verlauf der Lebenseinkommen und nicht (nur) auf das Einkommen einer relativ kurzen Lebensphase abzustellen. Die Höhe des Lebenseinkommens ist dann der Barwert der Jahreseinkommen. „Whether we should adopt a lifetime assessment period depends again on the question being asked. If our concern is with measuring poverty, then the lifetime approach may not be regarded as very relevant, the fact that an old person had a high income thirty years ago not making up for his having a pension which is below his needs today. On the other hand, we may be concerned with the distribution of life-chances, as represented by a person’s work career, by the capital he inherits, by his investment opportunities, by his pension and other access to state benefits. In that case, it can certainly be argued that these are better measured by his lifetime income than by his income in any single period. The use of lifetime income takes account of factors such as investment in education (human capital): the earnings foregone while training are offset by higher earnings later in life“ (Atkinson 1975, S. 38).

Umstritten ist, ob Jahres- oder Lebenseinkommen gleichmäßiger verteilt sind. Unklar ist dabei auch, ob und welche Konsequenzen für den verteilungspolitischen Mitteleinsatz zu ziehen sind, wenn die Ungleichverteilung je nach Periodisierung der Einkommen unterschiedlich ausfällt. Ist die Ungleichverteilung in einer Periode Anlass für umverteilende Aktivitäten, so muss dies jedenfalls nicht bedeuten, dass dadurch die Lebenseinkommensverteilung gleichmäßiger wird (Schmähl 1983, S. 3/4). 4. Die Verteilung sonstiger Größen: Konsum, Nutzen, Macht und Chancen Einkommen und Vermögen stellen den Hauptgegenstand der Verteilungsanalyse und der -politik dar. Ein anderer Verteilungsgegenstand kann der Konsum sein: Während das Einkommen eher den Beitrag des Einzelnen zur gesamtwirtschaftlichen Produkti1

Im Gegensatz zur Annahme gleicher Lebenseinkommensverläufe in Abb. 8-2 wird allerdings in Panelbefragungen bei Jahr für Jahr gleichen Personen ein stärkeres Ausmaß der Einkommensmobilität deutlich.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

on darstellt, kommt im Konsum ihre Inanspruchnahme zum Ausdruck. Der Konsum ist gleichmäßiger als das Einkommen verteilt. Der Grund hierfür ist, dass die Konsumquote aus transitorischen Einkommen geringer ist und mit steigenden Einkommen sinkt. Insofern könnten die jährlichen Konsumausgaben eines Haushalts auch eine bessere Approximation für das Lebenseinkommen sein als das jährliche Einkommen. Aus ökonomischer Sicht liegt der Nutzen (oder die Wohlfahrt) als Verteilungsgegenstand nahe. Das gilt insbesondere dann, wenn Einkommen und Vermögen nicht als zuverlässige Indikatoren der individuellen Wohlfahrt gelten, weil die Bürger unterschiedliche Präferenzen haben und mit den jeweiligen Einkommen/Vermögen unterschiedliche Freizeit, Mühe, Anstrengung, Risiken, Güterverwendung usw. verbunden sind. Allerdings ist unklar, welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. Die Bedeutung der Einkommensverteilung wird zumindest relativiert, wenn man diese Faktoren als Determinanten des – wohlfahrtstheoretisch am Individuum orientierten – Nutzens berücksichtigt. Der Nutzen lässt sich aber nicht überzeugend objektiv messen 1. Daher wird auf Einkommen und Vermögen als Hilfsindikatoren zurückgegriffen, weil empirische Untersuchungen messbare Daten benötigen. Auch die politische Diskussion bezieht sich auf diese Größen (und nicht auf den Nutzen). In vielen wirtschaftspolitischen Diskussionen geht es ferner um die Verteilung der Macht. Macht ist die bewusste Fähigkeit, einen wahrnehmbaren Einfluss auszuüben, und stellt die Möglichkeit dar, Entscheidungen durchzusetzen. Macht wird häufig mit der Kontrolle von Ressourcen verbunden, so hinsichtlich der Verfügungsmacht über Produktivvermögen. Die Verteilung der Chancen (bzw. der Chancengleichheit) wird häufig auf das Arbeitsvermögen (bzw. die entsprechenden Einkommen) verengt. Es geht primär um die Voraussetzungen der Einkommenserzielung und Vermögensbildung (teilweise auch – bei Fehlinterpretation – um das Ergebnis). Die Voraussetzungen der Einkommenserzielung kommen in den Fähigkeiten der Wirtschaftssubjekte zum Ausdruck. So hat cet. par. ein geschickter Fußballspieler die Möglichkeit, Stargagen zu erzielen oder ein unternehmerisch Begabter kann neue Marktlücken entdecken. Was aus diesen Fähigkeiten gemacht wird, ist eine andere Frage. Da in der Regel die Fähigkeiten nicht geprüft werden können, wird das Ergebnis als unvollkommenes Signal für wirtschaftspolitische Maßnahmen zugrunde gelegt 2. 5. Anmerkungen zur Beurteilung einer (un)gleichen Verteilung (von Einkommen und Vermögen) Die Bewertung der Verteilung stellt ein politisches Urteil dar. Aussagen über das wünschenswerte Ausmaß der Gleichheit bzw. Ungleichheit oder über eine ungleiche Einkommens- bzw. Vermögensverteilung als gerecht oder ungerecht sind nur dann 1 2

Zu neueren Versuchen siehe Frey/Frey Marti (2010). Vgl. auch Kapitel 9.1.

8. Kapitel: Grundfragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen

269

zweckmäßig, wenn die anderen Bedingungen (als Einkommen und Vermögen) vergleichbar sind (Atkinson 1975, S. 5/6). Das macht die Aussagen aber so schwierig, weil diese anderen Bedingungen, d.h. möglicherweise zu berücksichtigende differenzierende Faktoren zahlreich sein können. So ist die Verteilung im Hinblick auf die von Familiengröße, Alter, Gesundheit abhängigen unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse zu würdigen. Abweichende Arbeits-, Spar-, Risikoneigungen u.ä. können selbst bei gleichen Chancen zu unterschiedlichen Entscheidungen führen, die in der festgestellten Ungleichheit resultieren. Die Verteilung kann ferner durch systematische Änderungen von Einkommen und Vermögen im Lebenszyklus beeinflusst werden (Unterschiede in Alter und Spardauer und in Zeitpunkt und Länge des Spitzeneinkommens). Selbst bei gleichen (z.B. Bildungs-) Chancen können die Ergebnisse auch durch Zufall verschieden ausfallen. Ungleichheit braucht jedenfalls nicht mit Ungerechtigkeit einherzugehen. Literatur zum 8. Kapitel Die Verteilungsgegenstände Einkommen und Vermögen behandelt Krause-Junk (1981, § 2). Zu Vermögensbegriff und -bewertung siehe Folkers (1981, S. 5-48), speziell zum Sozialvermögen Hober (1981). Datenbasis für Verteilungsanalysen sind die Einkommens- und Verbrauchstichproben, die Sozio-ökonomischen Panels und die European Union Statistics on Income and Living Condidtions. Zum Dritten Armuts- und Reichtumsbericht siehe Rosinus (2010). Zu Messung und Bedeutung der Armut in Deutschland siehe auch Hauser (2007), zu Äquivalenzskalen Faik (1995). Die europäische und deutsche Regionalpolitik untersuchen Eggert u.a. (2007). Zur Einkommensperiode siehe Brümmerhoff (1977), Hackmann (1979), Holzmann (1983) und Schmähl (1983).

9. Kapitel Maßstäbe und praktische Ziele der (Um-)Verteilungspolitik, Inzidenz staatlicher Einnahmen und Ausgaben l. Maßstäbe und ihre Realisierungschancen durch den Markt a) Ethische Grundpositionen (Interpretationen von Gerechtigkeit) Bei Verteilungsfragen geht es prinzipiell um Freiheit und Gerechtigkeit. Freiheit kann verstanden werden als Handlungsspielraum der Menschen, wie ihn der Rechtsstaat einräumt. Um die (formale) Freiheit tatsächlich nutzen zu können, bedarf es allerdings gewisser materieller Voraussetzungen. Wie diese zu bestimmen sind, hängt von den Vorstellungen der Gesellschaft über Gerechtigkeit ab und kann unterschiedliche Ausmaße von Umverteilung begründen. Weil der Begriff zunächst weitgehend inhaltsleer ist, wird er in der politischen Debatte ohne weitere Konkretisierung verwendet. So lassen sich leicht Missstände („Ungerechtigkeit“) der (meist) personellen Wohlstandsverteilung begründen. In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, eine gerechte Verteilung zu bestimmen. Keinerlei geteilte Überzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage (Kersting 2003, S. 105). Insbesondere Ansätze im Rahmen der Wohlfahrtstheorie1 werden hier behandelt. (1) Utilitarismus In der Wohlfahrtstheorie wird die Wohlfahrt der Gesellschaft traditionell über das Wohlbefinden (Nutzen) der einzelnen Mitglieder definiert: (9-1)

W = W(Ui)

i = 1, … n.

In dieser utilitaristischen Wohlfahrtsfunktion nimmt mit jeder Erhöhung des Nutzens eines Wirtschaftssubjekts i cet. par. die Wohlfahrt zu. Umverteilung sollte solange durchgeführt werden, wie dadurch W erhöht werden kann. Um aber die Nutzenänderungen vergleichen zu können, bedarf es der kardinalen Nutzenmessung. Eine genauere Handlungsanleitung bekommt man für den Spezialfall (9-2) W = U1 + U2 + ... + Un. Nach dieser additiven Wohlfahrtsfunktion ist die Wohlfahrt die Summe der einzelnen Nutzen der Mitglieder der Gesellschaft. Implikationen für die Verteilungspolitik ergeben sich aber erst, wenn weitere Annahmen getroffen werden: S Individuen haben identische Nutzenfunktionen, die nur vom Einkommen abhängen. S Der Grenznutzen sinkt mit steigendem Einkommen. S Das Gesamteinkommen ist gegeben.

1

Neben diesen individualistischen gibt es auch nicht-individualistische, z.B. marxistische Ansätze.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

271

Zusammen mit Gleichung (9-2) wird zur Grenznutzengleichheit dUi/dUj = –1 die Forderung auf vollständige Einkommensgleichheit nach der Umverteilung abgeleitet. Diese ist in Abb. 9-1 für den Zwei-Personen-Fall bei einem Einkommen Y* gewährleistet. Gerechtigkeit kann hier also als Einkommensgleichheit und daher größte Umverteilung interpretiert werden. Abb. 9-1 Wohlfahrtsmaximum U'1

U'2

Y* Einkommen von 1

Einkommen von 2

Allerdings hat die Regierung keine Informationen über die Nutzenfunktionen, die auch nicht identisch sind. Der Nutzen dürfte von den verschiedensten Faktoren abhängen. Drückt der Nutzen im einfachsten Fall nur Präferenzen für handelbare Güter aus, werden viele Aspekte der persönlichen Situation eines Individuums (z.B. Gesundheit, Familie, Freizeit) ausgeklammert, so dass nur partielle Abbildungen des Wohlbefindens vorliegen. Auch mag abnehmender Grenznutzen für einzelne Güter zutreffen, nicht aber notwendig für das Einkommen. Ferner kann die Regierung nur die Einkommen und damit zusammenhängende Variablen beobachten. Die Umsetzung des Konzepts verursacht neben Transaktionskosten i.e.S. andere Kosten. So dürfte die Verteilungsmasse bei verschiedener Umverteilung nicht gleich bleiben, weil Steuern/Transfers unter anderem die Arbeits-Freizeit-Entscheidungen verändern. (2) Das Maximin-Kriterium Im utilitaristischen Rahmen spielt die Form der sozialen Wohlfahrtsfunktion eine zentrale Rolle. Hierbei ist die Verteilung der Nutzen insofern ohne Bedeutung, als eine Nutzeneinheit unabhängig vom Wirtschaftssubjekt gleich bewertet wird. Würde man hingegen die Nutzen gewichten, könnte die utilitaristische Nutzenfunktion modifiziert werden zu (9-3) W = 01U1 + 02U2 + ... + 0nUn wobei die sozialen Gewichte 0i positive Zahlen darstellen. Wenn der Nutzen von Wirtschaftssubjekt i um eine Einheit steigt, wird das als eine Zunahme der sozialen Wohlfahrt um diese mit 0i gewichtete Einheit gedeutet. Die Stärke der gesellschaftlichen Präferenzen für Gleichheit (in den Nutzen) kommt in den sozialen Gewichten für

272

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

die Individuen mit hohen bzw. niedrigen Nutzen zum Ausdruck. Problem ist auch hier empirisch überprüfbare Indikatoren für den Nutzen zu finden, ferner muss über Gewichte entschieden werden. Ein extremer Fall besteht darin, nur dem Individuum mit dem niedrigsten Nutzen ein Gewicht zu geben. Für alle anderen ist 0 = 0. Dann hängt W nur vom Nutzen der schlechtest gestellten Person ab. Das gesellschaftliche Ziel ist es dann, diesen Nutzen zu maximieren. Ein solches Ziel wird als Maximin-Kriterium bezeichnet. (9-4)

W = maxmin(U1, ..., Un)

Das Kriterium impliziert eine völlig gleiche Einkommensverteilung. Ein Abweichen von der Gleichheit könnte aber die Wohlfahrt des schlechtest Gestellten verbessern, wenn Umverteilung zu erheblichen Beeinträchtigungen der Verteilungsmasse führt. Rawls (1971) hat in dem von ihm entwickelten Kriterium eine ethische Begründung gesehen. Diese entwickelt er aus einer fiktiven Ausgangsposition des Schleiers der Unwissenheit, in der kein Individuum seinen künftigen Platz in der Gesellschaft kennt. Dann sind die Auffassungen der Gesellschaftsmitglieder über Verteilungsziele unvoreingenommen und fair. Die Individuen wählen in dieser Position einstimmig die Verteilungsregel, in der sie im schlechtesten Fall möglichst gut gestellt werden. Sie kann eine Versicherung gegen schlechte Ergebnisse darstellen. Wenn die Menschen die Wahrscheinlichkeit am unteren Ende der Verteilung zu landen hoch einschätzen, werden sie ein möglichst hohes Niveau für diese Position wünschen. Die Analyse hat erhebliche Diskussionen ausgelöst. So stellt sich die Frage, warum Entscheidungen unter dem Schleier der Unwissenheit ethisch überlegen sein sollen. Auch muss rationales eigennütziges Verhalten nicht zum Maximin-Kriterium führen. Das ist nur bei risikoaversen Personen zu erwarten, die überhaupt keine Chancen wahrnehmen wollen. Ändert man diese Annahmen über das Verhalten bei Unsicherheit, lassen sich auch andere Verteilungsregeln begründen. Auch hier zählen die Opfer der Bessergestellten nicht. b) Rechtfertigung der Verteilungspolitik mit konkretisierbaren Prinzipien Die erwähnten Interpretationen von Gerechtigkeit helfen wenig für die praktische Verteilungspolitik. Man kann Gerechtigkeit auch rein formal als die Gleichbehandlung gleicher Tatbestände verstehen. Hierzu müssen Gleichbehandlung und gleiche Tatbestände interpretiert werden. Was aber, wenn die Tatbestände, wenn die Menschen ungleich sind? Um dann die Verteilung beurteilen und um Leitlinien für die (Um)Verteilungspolitik gewinnen zu können, werden konkretisierbare Maßstäbe oder Prinzipien als Interpretationen von Gerechtigkeit benötigt.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

273

Gerechtigkeitsprinzipien sind als regulative Elemente wichtig. Nur wenn die Individuen die auf der Ebene eines Grundkonsenses vereinbarten Regeln als prinzipiell mit Gerechtigkeitsnormen vereinbar ansehen, werden sie auch bereit sein, die sich im laufenden Prozess ergebende Verteilung zu akzeptieren1 (Frey/Kirchgässner 2003, S. 257). Selbst wenn der Marktmechanismus einer Wettbewerbswirtschaft (allokativ) effiziente Ergebnisse hervorbringt, bedeutet dies nicht, dass auch die hierbei hervorgerufene Verteilung mit den (wie auch immer definierten) Vorstellungen von Gerechtigkeit übereinstimmen muss. Daher werden im Folgenden die Vorstellungen von Gerechtigkeit an verschiedenen Maßstäben (Prinzipien) einer wünschenswerten Verteilung diskutiert. Wenn der Markt diese Normen realisiert, ist insofern kein staatliches Handeln erforderlich. Sollte ein marktwirtschaftliches System diese Kriterien nicht verwirklichen bzw. verwirklichen können, liegt jeweils (wie im allokativen Bereich) ein a priori-Argument für staatliches – verteilungspolitisches – Handeln vor (Krause-Junk 1974). Maßstäbe, an denen die Verteilungspolitik anknüpfen kann, zielen auf die (1) Bedürfnisse, (2) Leistungen oder (3) Chancen. Hinsichtlich der ersten beiden Maßstäbe geht es grundsätzlich darum, Umverteilung von jenen mit hoher Leistungsfähigkeit und niedrigem Bedarf zu jenen mit geringer Leistungsfähigkeit und hohem Bedarf durchzuführen. Die Verteilung wird aber auch (4) als (allokatives) Effizienzproblem behandelt und staatliche Aktivität dann anders begründet. (1) Bedarfsgerechtigkeit Gerechtigkeit könnte als eine Gleichbehandlung nach den Bedürfnissen verstanden werden. Bei dieser Interpretation geht es unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit um die Inanspruchnahme der produzierten Güter. Zunächst stellt sich die Frage, ob subjektive oder objektive Bedürfnisse maßgeblich sein sollen. Weil Bedürfnisse hinsichtlich gleicher Güter (oder bei gleichen Einkommen) ganz unterschiedlich empfunden werden können, ist das subjektive Konzept offensichtlich kein praktikabler Maßstab. Bei objektiven Bedürfnissen muss über Inhalt und Umfang entschieden werden. Die Norm ist praktisch nur dann umfassend zu verwirklichen, wenn Güter nicht (mehr) knapp sind (dann entfällt das Verteilungsziel) oder wenn die Bedürfnisse beschränkt sind (und dies muss feststellbar sein). Sie legitimiert gesellschaftliche Umverteilung und begründet sozialstaatliches Handeln. Verschiedentlich wird unterstellt, dass alle gleiche Bedürfnisse haben (bzw. haben sollen). Das führt zur Forderung nach gleichen Einkommen und Vermögen für alle2. Ihre Verwirklichung lässt die Aufhebung der 1

2

Das heißt dann wohl auch: Je weniger aus dem laufenden politischen Prozess erfolgende Umverteilungsmaßnahmen allgemein akzeptiert werden, um so mehr wird man ihnen durch Steuerhinterziehung u.ä. auszuweichen versuchen. Sie schlägt sich in der Theorie des gleichen marginalen Opfers nieder (vgl. Kapitel 14.8).

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Leistungsanreize vermuten, da alle auch ohne eigene Leistung (gleich) mit Gütern versorgt werden. Der Maßstab kann allerdings als partielles Verteilungsziel Bedeutung haben: Ein gewisses Maß an Mindestunterhalt, ein soziales Existenzminimum, muss gewährleistet sein. Haushalte, deren Einkommen unter dieser Grenze liegen, gelten als arm und sollen ein höheres (verfügbares) Einkommen erhalten. Die Sicherstellung bestimmter Grundbedürfnisse bzw. die Gewährleistung bestimmter Basisgüter (Nahrung, Wohnung, Kleidung, Gesundheit u.ä.) setzt eine Untergrenze, über die hinaus aber nur schwer eine wünschenswerte Gesamtverteilung abzuleiten ist. Diese Armuts- bzw. Mindesteinkommensgrenze kann als absoluter Einkommensbetrag festgelegt werden1. Die Vorstellung von einem soziokulturellen Existenzminimum schlägt sich praktisch in der Sozialhilfe und im Grundfreibetrag der Einkommensteuer nieder. Die Grenze kann auch z.B. als Prozentsatz eines normierten Einkommens definiert werden. In einem relativen Konzept verändert sich die absolute Grenze mit der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wenn die Verteilungsfrage nicht auf die Einkommensverteilung insgesamt, sondern nur auf Grundbedürfnisse sichernde Einkommen beschränkt wird, liegt offenbar ein enges Verteilungskonzept vor, das eine mögliche Armutsgrenze markiert. Diese Art der Gleichheit in der Versorgung mit Gütern („commodity egalitarianism“) kann sich auf einzelne materielle Güter beziehen, beispielsweise Gesundheit2, Theater, Fußball usw. (siehe auch Tobin 1970), aber auch auf immaterielle Güter wie Menschenrechte oder das Wahlrecht. Je umfangreicher die berücksichtigten Güter sind, um so größer wird die Zahl der Armen und der erforderliche Umfang politischer Maßnahmen. Es stellt sich also immer die Frage, wo die Grenze gezogen werden soll. Die volle Verwirklichung der Versorgung nach den objektiven oder subjektiven Bedürfnissen – wie auch immer definiert – wird sicher nicht von einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft realisiert (werden können). Zu fragen ist allerdings, ob nicht wenigstens eine Versorgung durch den Markt möglich ist, die ein Existenzminimum gewährleistet. Diese Frage soll im Rahmen der Pareto-optimalen Verteilung behandelt werden. (2) Leistungsgerechtigkeit Bei der Verteilung nach den jeweiligen Leistungen geht es um die Stellung der Wirtschaftssubjekte in der Produktion3. Die Verteilung soll sich nach dem produktiven Beitrag („Leistung“) bei der Erstellung des Inlandsprodukts richten. Dabei geht das ei1

2

3

Zu verschiedenen Formulierungen von Armutsgrenzen siehe Hauser (2007) und Seidl (1988a). Zu beachten ist, dass die Beseitigung der relativen Armut definitionsgemäß nur durch Herbeiführung absoluter Gleichheit möglich ist. So werden die Umverteilung in der Gesetzlichen Krankenversicherung und in der Gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit begründet. Hier sind die Leistungen im Risikofall für jeden Versicherten gleich, die Finanzierung erfolgt aber über (weitgehend) einkommensproportionale Beträge. Vgl. auch Kapitel 14.7c) zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

275

gentlich um das Leistungspotenzial. Fähigkeiten (und andere Ausstattungen) bestimmen den Arbeitsertrag, so dass ein Individuum mit großen Fähigkeiten ein Einkommen mit weniger Arbeitsleid erzielen kann. Wenn man annimmt, dass die Fähigkeiten zufällig auf die Individuen verteilt sind, sind einige glücklich in diesem Zufallsallokationsprozess und andere unglücklich. Eine Umverteilungspolitik würde dann Transfers zwischen diesen beiden Gruppen bewirken. Wenn andererseits angenommen wird, dass die Fähigkeiten gleich verteilt, aber unterschiedlich genutzt werden, sind staatliche Umverteilungsmaßnahmen nicht gerechtfertigt. Die Individuen stehen vor gleichen Möglichkeiten, sie treffen aber unterschiedliche Entscheidungen. Demnach darf eine Umverteilung nur auf das Produktionsergebnis abstellen, wenn auch die persönlichen Umstände wie Anstrengungen, Risiko, Mühe, Leid usw. berücksichtigt werden. Der Markt wird offenbar diesem Maßstab unterschiedlich gerecht. So gibt es Lärm-, Nacht- und Schmutzzulagen, aber beispielsweise die Entwicklung der Bergarbeiter von der Spitze der Lohnskala weg zeigt, dass andere Bestimmungsgründe, nämlich die relative Knappheit, bedeutungsvoller sind. Da Fähigkeiten, Anstrengungen usw. keine empirisch feststellbaren Größen als Grundlage der Umverteilung sind, kommen nur die tatsächlich realisierten Einkommen in Betracht. Dabei ist auch in Kauf zu nehmen, dass vergleichbare Leistungen durch den Markt je nach Marktstellung der Anbieter unterschiedlich belohnt werden können. Die Marktergebnisse hängen nicht nur und nicht immer von der Leistung ab, sondern auch von Zufall und Marktunvollkommenheiten, andererseits berücksichtigt der Markt keine Externalitäten. Das Erbrecht führt außerdem praktisch zu leistungsfreien Einkommen. Es ist daher schwierig Leistungen zu definieren und insbesondere festzulegen, ob nur Marktergebnisse als Maßstab dienen sollen. Ferner wird das Marktergebnis häufig von dem abweichen, was z.B. als „leistungsgerechte Entlohnung“ angesehen werden mag. Wenn andererseits allein nach Leistungen verteilt werden soll, also nur an jene, die mit einem Faktorangebot am Produktionsprozess teilnehmen, fallen produktions- und verteilungspolitische Intentionen weitgehend zusammen. Da die individuelle Leistungsfähigkeit der Menschen aber unterschiedlich ist, gewährleistet selbst dann ein vollkommener Marktmechanismus kein menschenwürdiges Dasein. Auch bei leistungsgerechtem Entgelt kommt es folglich zu einer Diskrepanz zwischen Bedarf und Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeit. Leistungen können (wie bisher nur angedeutet) auch in Mühe und Leid gesehen werden, die für den Staat beispielsweise in Krieg und Naturkatastrophen eingegangen wurden (und so als Grundlage für Versorgungsleistungen in Betracht kommen).

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

(3) Chancengleichheit Die Vorstellungen von Chancengleichheit differieren. So wird teilweise auf den Prozess abgestellt, in dem eine bestimmte Verteilung hervorgebracht wird. Wenn alle die gleichen Chancen haben, ihr vorhandenes Potential zu nutzen, wird das Ergebnis als fair angesehen, unabhängig davon, wie die tatsächliche Verteilung aussieht. Daher dürfen nicht individuelle und politische Beziehungen für Stellenbesetzungen maßgeblich sein. Der Marktmechanismus gewährleistet diese Interpretation von Chancengleichheit nicht. Aber auch gerade der Staat versagt hier. Chancengleichheit kann auch bedeuten, dass jedem die Chance auf sozialen Aufstieg eingeräumt wird. Dann wäre die Gesellschaft durch ein bestimmtes Maß an Mobilität gekennzeichnet. Selbst wenn die Verteilungsstatistiken im Zeitablauf relativ gleich blieben, würden permanent Veränderungen in der Einkommensverteilung stattfinden. Soziale Immobilität wäre folglich der Grad, in dem Einkommen und Vermögen der Kinder denen der Eltern entsprechen. Chancengleichheit drückt sich auch aus in den Zugangsmöglichkeiten der Bürger zu Ausbildung, zu Institutionen u.a. Chancengleichheit heißt sinnvollerweise nicht, dass alle – Junge, Alte usw. – über die gleichen Einkommen oder Gütermengen verfügen müssen, also Ergebnisgleichheit. Die unkontrollierte Marktwirtschaft garantiert diese Mobilität nicht. Denn wer mit Ressourcen – Sach- und Geldvermögen, Begabung usw. – ausgestattet ist, hat Vorteile gegenüber anderen, die diese kaum aufholen können, im Gegenteil: Die schlechter Ausgestatteten fallen meist zurück. Eine völlige Gleichheit der Startchancen lässt sich allerdings (systemunabhängig) auch nicht herstellen, weil die angeborenen Unterschiede der individuellen Fähigkeiten nicht egalisiert werden können1. Dass die resultierende Einkommensverteilung selbst bei gleichen Chancen (oder Fähigkeiten) z.B. durch Zufallsprozesse ungleich wird, ist unerheblich. (4) Weitere Gleichheitsinterpretationen Auch andere Konzepte von Gleichheit werden diskutiert (LeGrand 1982, S. 14), die sich teilweise mit den zuvor genannten Interpretationen überschneiden2: S Gleichheit der öffentlichen Ausgaben: allen als wichtig angesehenen Individuen (oder Gruppen) stehen die gleichen Pro-Kopf-Ausgaben zu. Dieses Konzept schlägt sich in gleichen Schulausgaben pro Kopf u.ä. nieder. S Gleichheit der Finaleinkommen: Ungleichheiten in den Markteinkommen werden (ganz oder teilweise) durch öffentliche Einnahmen/Ausgaben ausgeglichen.

1

2

Die (teilweise) Anwendung des Losverfahrens bei der Zulassung zu einzelnen Studienfächern könnte als Versuch gedeutet werden, die Startchancen – wenigstens in einer späteren Ausbildungsphase – anzugleichen. Das ist allokativ ineffizient. Das gilt insbesondere hinsichtlich des oben erwähnten Tobin-Konzepts der Gleichheit in der Versorgung mit einzelnen Gütern.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

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S Gleichheit in der Nutzung1: gleiche Bildungschancen d.h. im Durchschnitt sollen die Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen (nach Rasse, Geschlecht usw. unterschieden) die gleiche Ausbildung erhalten können; Entsprechendes gilt hinsichtlich der gleichen Behandlung im Gesundheitsbereich2. S Kostengleichheit: alle Individuen müssen die gleichen privaten Kosten pro Leistungseinheit tragen, wobei die Kosten nichtfinanzielle Kosten (z.B. Zeit) wie monetäre Kosten einschließen können. S (Partielle) Ergebnisgleichheit: alle Individuen haben z.B. einen gleichen Gesundheitsstatus oder eine gleiche Ausbildung. S Gleichheit im Bezug diskriminierungsfreien Einkommens bei gleichem Faktoreinsatz, d.h. nur Qualität und Umfang der Faktorleistungen sollen das Einkommen bestimmen, nicht dagegen Geschlecht, Alter, Rasse oder sozialer Hintergrund. Die Wohlfahrt der Gesellschaft kommt bei diesen verschiedenen Interpretationen nicht nur direkt über das Einkommen messbar zum Ausdruck, wenn es auch meist – wenigstens indirekt – von Bedeutung ist. In der Regel befinden sich die verschiedenen Interpretationen von Gerechtigkeit – z.B. Verwirklichung der Leistungen und der Bedürfnisse – mehr oder weniger im Widerspruch. Der Markt kann sie nicht oder nur unvollkommen realisieren. In verschiedenen Fällen wird es auch nicht ausreichen, dass er Leistungen bereit stellt. Der Staat muss auch Zwang zur Teilnahme an Programmen ausüben. So wird ein Schulangebot ohne Schulpflicht möglicherweise von einigen Zielgruppen nicht genutzt. (5) Pareto-optimale Verteilung Der Marktmechanismus kann nach der bisherigen Deutung nicht die verschiedenen Interpretationen von Gerechtigkeit realisieren. Ist aber eine freiwillige Umverteilung möglich, die dazu beiträgt die Maßstäbe (zumindest teilweise) zu realisieren? Nach dem Konzept einer Pareto-optimalen Verteilung (Hochman/Rodgers 1969) ist eine Umverteilung allokativ zweckmäßig, wenn jemand besser gestellt werden könnte, ohne einen anderen notwendigerweise schlechter zu stellen. Im Ideal erhöht sich durch Umverteilung der Nutzen aller Beteiligten. Eine Umverteilung, die in diesem Sinne die Verteilung verbessert, ist aber nicht möglich, wenn der Nutzen des Einzelnen nur von seinem Einkommen, Vermögen oder Konsum abhängt. Dann würde die Bedingung nicht erfüllt, dass zumindest der Status quo für alle Geber im Umverteilungsprozess erhalten bleibt. Das Konzept der Pareto-optimalen Umverteilung erfordert aber, dass die (Um-)Verteilung in die Präferenzen der reicheren Bürger eingeht. Die Verteilung (bzw. Umverteilung) ist privates Gut, wenn durch eine Übertragung von Wirtschafts1 2

Kann mit Ausgabengleichheit zusammenfallen. Der staatliche britische Gesundheitsdienst (National Health Service) wird als ein Beispiel genannt. Allerdings trifft dies weitgehend auch auf die Leistungen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung zu. In beiden Fällen ist die Gleichheit allerdings nur für die staatlich bereitgestellten Leistungen gegeben und private Leistungen können zusätzlich in Anspruch genommen werden.

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

278

subjekt l auf 2 der Nutzen von 1 und/oder 2 und von niemand anders erhöht wird. Ziehen dagegen auch Dritte Nutzen aus der Umverteilung, ist die Verteilung ein öffentliches Gut. Angenommen der individuelle Nutzen von Wirtschaftssubjekt i hänge von seiner Versorgung mit den Gütern j (9-5)

Ui = Ui (xji)1

oder von Einkommen (y) ab (9-6)

Ui = Ui (yi).

Um den Nutzen des öffentlichen Gutes zu berücksichtigen, müssen die Nutzenfunktionen um die entsprechenden Größen für die Wirtschaftssubjekte d (d L i) erweitert und so die Verteilung einbezogen werden. Wenn der Nutzen des i auch von den durch d kontrollierten Gütern abhängt, gilt (9-7)

Ui = Ui (xji, xjd)

(9-8)

Ui = Ui (yi, yd).

oder

Bei einer Nutzenfunktion von Wirtschaftssubjekt d (9-9)

Ud = Ud (xjd)

bzw.

(9-10) Ud = Ud (yd), und /Ui//xjd > 0 bzw. /Ui//yd > 0 wird i bereit sein, für d einen Beitrag zu dessen Wohlfahrtserhöhung zu leisten. Private Nächstenliebe ist ein Ausdruck für solche Interdependenz. Je nachdem, ob die Interdependenz sich auf Einkommen (y), Vermögen (v) oder auf bestimmte Konsumgüter bezieht, wird der Transfer monetär oder in Güterform erfolgen. Interpretiert man (9-7) und (9-8) als Neidfunktion, würde /Ui//xjd < 0 den Wunsch nach Umverteilung zu Lasten von d bedeuten. Die Umverteilungsmotive können folglich unterschiedlich sein: altruistisch z.B. infolge bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen, egoistisch etwa aus Angst vor bestimmten mit der Armut einhergehenden negativen Externalitäten (Verbrechen, Krankheiten, soziale Umwälzungen u.ä.). Formal wird die Verteilung wie andere öffentliche Güter in den Nutzenfunktionen berücksichtigt.

1

In der neoklassischen Nutzenfunktion wird der Konsum der Periode als Argument der Nutzenfunktion unterstellt. Er kann in (9-5) implizit dem Periodeneinkommen gleichgesetzt werden.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

279

Die Transferform liegt in der Wahl der Geber. Sie mag aber von den beiden an der Übertragung beteiligten Seiten unterschiedlich beurteilt werden: Für die Geber kann es vorteilhaft sein, die Transfers (an bestimmte Zwecke) zu binden bzw. in Gütern zu leisten. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Geber nicht durch Armut im Allgemeinen sondern durch ihre Wirkung (schlechte Wohnung, insbesondere sanitäre Bedingungen, unzureichende Ernährung, Kleidung usw.) betroffen sind. Bei meritorischen Erwägungen der Geber fallen altruistische und paternalistische Motive zusammen. Aus der Sicht der Empfänger wird stets die Leistung ungebunden in Geld vorgezogen; er kennt ihre optimale Güterkombination besser als die Geber. Ferner kann – aus der Sicht der Empfänger – der Wert nichtmonetärer bzw. zweckgebundener Leistungen unter ihrem Marktwert liegen. Wenn die Nichtarmen den Armen helfen wollen, warum sollte es nicht möglich sein, über ein System privater Umverteilung – also auf freiwilliger Basis – Einkommen (oder Konsum) zu verändern? Der Grund liegt in der Eigenschaft der Verteilung als öffentliches Gut, die insgesamt keine effizienten privaten Umverteilungsmaßnahmen erwarten lässt: Wenn ein Einkommens- oder Konsumniveau der armen Individuen erreicht werden soll, profitiert jeder Geber vom Transfer anderer Geber. Die individuelle Spendenbereitschaft hängt aber davon ab, ob und wie viel andere leisten. Weil die Beiträge Einzelner zur Finanzierung von Umverteilungsmaßnahmen nicht ausreichen, um die Probleme an der Wurzel zu packen und Andere die Ergebnisse der eigenen Bemühungen als Free Rider, also ohne Mitfinanzierung nutzen können, werden Präferenzen verborgen und Beiträge zurückgehalten. Eine Pareto-optimale Verteilung wäre also auch und nur dann „vom Markt zu erreichen, wenn die externen Vorteile eines Transfers vom Transfergeber internalisiert werden könnten. (Der Transfergeber kann sich die Transferkosten teilweise von anderen Wirtschaftssubjekten erstatten lassen“.) Es bedarf also der freiwilligen Kooperation. Alternativ können Gesetzgebungsmaßnahmen zugunsten von Transfers und einer Steuerbelastung (auch der eigenen Person) zu ihrer Finanzierung unterstützt werden. Sind sich alle Betroffenen über das Ausmaß einig und wird es verwirklicht, ist die verteilungspolitische Entscheidung einer allokationspolitischen Maßnahme (freiwillige Spendenentscheidung) ähnlich. „Insofern ist der zur Erreichung Pareto-optimaler Umverteilung einzurichtende Steuertransfermechanismus ein Spezialfall der allgemeinen steuerlichen Internalisierung von Externalitäten. Er ist daher auch mit allen Problemen behaftet, die einer solchen Politik entgegenstehen“ (Krause-Junk 1977b, S. 351/352). Eine von Staats wegen koordinierte Umverteilung könnte „erreichen, was ein auf Individualentscheidungen aufgebautes marktwirtschaftliches System – insbesondere bei steigender Anzahl der Beteiligten – nicht durchsetzen könnte: Eine echte ParetoVerbesserung via Umverteilung. Steuerhöhe und -verteilung würden sich allein nach den individuellen Nutzenfunktionen zu richten haben. Der vom Einzelnen zu leistende Steuerbetrag wäre ceteris paribus um so höher anzusetzen, je höher sein externer Vorteil aus einer Nutzenerhöhung des begünstigten Wirtschaftssubjekts ausfällt“ (KrauseJunk 1977b, S. 351/352).

280

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Die Umverteilung kann nach einer anderen Interpretation auch als Versicherung angesehen werden. Unter dem „Schleier des Unwissens“ könnten die Individuen einer allgemeinen Umverteilung oder auch nur Umverteilung im Rahmen von Sozialversicherungen zustimmen1. Hierbei wird der ex ante bestehenden Unsicherheit Rechnung getragen, die z.B. durch die Sozialversicherung reduziert wird. (6) Exkurs: Das Warm-Glow-Problem Private freiwillige Unterstützungsmaßnahmen können unterschiedliche Formen haben. Sie können als Geld- und Sachspenden geleistet werden, oder die Individuen stellen ihre Arbeitskraft unentgeltlich z.B. für wohltätige Zwecke zur Verfügung. Eine Frage ist nun, ob insbesondere durch Steueranreize die Spendenbereitschaft gefördert werden kann. Eine zweite Frage ist, wie sich die Mittelbereitstellung Dritter oder des Staates auf die Spendenbereitschaft der rein altruistischen Personen auswirkt. Der Spender ist daran interessiert, dass eine bestimmte Versorgung des Empfängers mit Umverteilungsleistungen erfolgt. Diese sind ein öffentliches Gut, d.h. der eigene Finanzierungsbeitrag hängt von den übrigen Zahlern ab. (9-11) Ui = Ui (xi, Gö-i + gi) In diesem Fall sind G-i und gi vollkommende Substitute. Person i spendet nur, wenn dadurch das Niveau von G (= G-i + Gi) steigt. Jeder Euro anderer Geber reduziert die eigene Spende. In diesem Fall führt staatliche Aktivität also zu einem vollständigen Crowding-out2 privater Spenden. Eigene Spenden würden dem Individuum keine Pareto-Verbesserung bringen. Anders formuliert: öffentliche Umverteilung ist nur dann eine Pareto-Verbesserung, wenn die privaten Leistungen null sind. Eine andere extreme Situation liegt vor, wenn das Individuum i unabhängig von anderen Leistungen spendet: (9-12) Ui = Ui (xi, gi). Für diesen Spender werden die Leistungen wie ein privates Gut eingeschätzt. Selbst wenn also andere ihre Finanzierung reduzieren, wird i weiter spenden, weil der Akt des Spendens selbst Nutzen bringt. Diese Wirkung des eigenen Beitrages wird als Warm Glow bezeichnet (Andreoni 1990). In diesem Fall werden steuerfinanzierte staatliche Transfers und Steuervergünstigungen für private Spenden den Umfang der privaten Spenden des i nicht verändern. Die öffentliche Umverteilung verdrängt die private nicht.

1 2

Siehe auch das 11. Kapitel. Denkbar ist auch der gegenteilige Fall des Crowding-in.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

281

(7) Ergebnis Die bisherigen Überlegungen zeigen, S dass es schwierig ist, Gerechtigkeit und auch Kriterien wie Bedürfnisse, Leistungen und Chancen zu operationalisieren, S wie auch immer die Operationalisierung aussieht man davon ausgehen kann, dass die Marktergebnisse von diesen Maßstäben abweichen. Weil eine marktmäßige Berücksichtigung dieser Maßstäbe einzeln nicht zu erwarten ist, bedarf es a priori des verteilungspolitischen Eingriffs des Staates und der Gewichtung dieser Maßstäbe. Mit diesen Vorstellungen ist noch offen, ob der Staat (1) willens und (2) in der Lage ist, die gewünschte Verteilung festzulegen und die geeigneten Instrumente einzusetzen um das Ziel zu realisieren. Erst ein Vergleich der Marktlösung mit dem Ergebnis der staatlichen Alternative lässt eine Aussage darüber zu, ob, wo und wie der Staat Verteilungskorrekturen durchführen oder darauf verzichten soll. In der Praxis zeigt sich im Übrigen, dass die Indikatoren Bedürfnisse, Leistungen und Chancen meist kombiniert verwendet werden, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht in einzelnen Bereichen der Verteilungspolitik. 2. Praktische Ziele finanzpolitischer Verteilungspolitik Voraussetzungen einer praktischen Verteilungspolitik sind (1) die Kenntnis der Ziele (einschließlich Zielgruppen), (2) die Kenntnis der tatsächlichen (gegenwärtigen bzw. erwarteten) Situation; dies setzt insbesondere statistische Informationen voraus; (3) Hypothesen und Modelle über Wirkungszusammenhänge, die eine Beurteilung der Maßnahmen im Hinblick auf die Ziele erlauben. Oben wurden verschiedene theoretisch mögliche Objekte und Bezugseinheiten der Verteilungspolitik diskutiert. Eine rationale Verteilungspolitik verlangt nun, dass wirtschaftspolitische Ziele vorgegeben und die Mittel dann so eingesetzt werden, dass eine möglichst starke Annäherung an die gewünschte Verteilung erreicht wird. Um Instrumente zweckgerichtet einsetzen und Abweichungen vom Ziel quantifizieren zu können, muss das Ziel operationalisiert werden. Ein Begriff gilt dann als operational definiert, wenn man jeden Tatbestand der Wirklichkeit daraufhin untersuchen kann, ob er unter diesen Begriff fällt oder nicht. Nur bei operationaler Zieldefinition lässt sich feststellen, inwieweit ein bestimmtes Ziel realisiert wurde. Welche Schwierigkeiten es der praktischen Finanzpolitik macht, formale Gerechtigkeitskriterien in relevante, operationale und umfassende Kriterien zu verwandeln, zeigen die Bemühungen u.a. im Einkommensteuerrecht, das steuerpflichtige Einkommen mit Hilfe eines nur schwer durchschaubaren Gesetzeswerkes lückenlos zu erfassen.

In der wirtschaftspolitischen Praxis werden verteilungspolitische Ziele nur sehr allgemein formuliert: Eine „gerechte Verteilung“ bzw. eine „Verteilung, die gleichmäßi-

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

ger als die bisherige ist“1, wird gewünscht. Angaben über die angestrebte Richtung der gesamten interpersonellen und intergenerativen Verteilung fehlen. Der Grund für den Verzicht auf konkrete, operationalisierte Formulierungen von Verteilungszielen ist offensichtlich: Sie würden zeigen, wie Politiker die Wohlfahrt der verschiedenen Individuen und Gruppen gewichten. Das geht aber nicht, wenn gleichzeitig möglichst wenige Gruppen in Unruhe versetzt bzw. viele glauben sollen, dass sie durch den staatlichen Umverteilungsprozess begünstigt oder besonders wenig negativ tangiert werden. Formulierungen wie Gerechtigkeit sind hingegen koordinierende Generalisierungen, die selbst ein Wertesystem mit Widersprüchen vereinbar erscheinen lassen. Allgemeine Zielformulierungen haben auch eine gewisse Bedeutung, wenn die dahinter stehenden konkreten Wertvorstellungen Übereinstimmungen darüber erlauben, was mit ihnen – bei allen Unterschieden in der Vielfalt ihrer Konkretisierungen – nicht (mehr) vereinbar ist. 3. Verteilungswirkungen staatlicher Einnahmen und Ausgaben a) Inzidenzkonzepte Der Erfolg finanzpolitischer Maßnahmen hängt davon ab, ob die erwarteten Effekte eintreten. Infolgedessen ist die Kenntnis dieser Wirkungen eine notwendige Voraussetzung rationaler Finanzpolitik. Die Kenntnis der Verteilungseffekte ist auch wichtig, um die potentiellen Verlierer zu identifizieren, die möglicherweise die Durchführung der Politik verhindern wollen, selbst wenn sie gesamtwirtschaftlich vorteilhaft ist. So kann die Entscheidung, ob die Gewinne oder Umsätze mehr oder weniger besteuert werden sollen, u.a. von der Beurteilung der jeweiligen Überwälzungsmöglichkeit abhängen. Steuern auf Gewinne können dann ein verteilungspolitisch ungeeignetes Instrument sein, wenn von der Überwälzung der Abgabe oder von erheblichen (z.B räumlichen) Substitutionseffekten auszugehen ist2. Verschiedene theoretische Konzepte liegen vor, um die Wirkung finanzpolitischer Instrumente auf die Verteilung – die Inzidenz – zu messen. Zunächst ist feststellbar, wer welche Steuern tatsächlich gezahlt hat. Da die Analyse prinzipiell bei den Ausgaben symmetrisch zu den Einnahmen erfolgen kann, werden hier nur letztere behandelt. Von der Inzidenz der tatsächlichen Einnahmen ist deren formale Inzidenz zu unterscheiden. Hierunter kann die Verteilung der Steuerlast verstanden werden, wie sie u.a. die Gesetze oder verteilungspolitische Absichten des Staates vorsehen3 (,,gewünschte Inzidenz“). Den Inzidenzuntersuchungen können aber auch beliebige andere Annahmen über Anpassungsprozesse zugrunde gelegt werden. Die formale Inzidenz ist letztlich der Unterschied zwischen dem aktuellen und dem Verteilungsstand in einem Referenzsystem. 1

2 3

Das wird bei den Vorstellungen der Mehrzahl der Bürger seine Entsprechung finden, bei denen Uneinigkeit über die gerechte Verteilung bestehen dürfte. Lediglich die Richtung einzelner Maßnahmen dürfte weniger umstritten sein. Vgl. das 15. Kapitel. So soll z.B. die Umsatzsteuer auf den Endverbraucher überwälzt werden.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

283

Beispiel für die Methode der formalen Inzidenz sind die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, in denen verschiedene Produktions- und Einkommensbegriffe durch einfaches Zu- und Abrechnen von Abgaben aus anderen Produktions- und Einkommensbegriffen ermittelt werden. So gilt z.B. für das Volkseinkommen (Y) und das Bruttonationaleinkommen (BNE)1 bzw. das Nettonationaleinkommen (= BNE – D) folgender Zusammenhang: (9-13) Y = BNE – D – Tind + Z Offenbar werden für die Produktions- und Importabgaben (Tind – früher: indirekte Steuern) andere Annahmen hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Erwerbs- und Vermögenseinkommen unterstellt als für die Einkommen- und Vermögensteuern (früher: direkte Steuern), sonst wäre die unterschiedliche Behandlung beider Teile des Steueraufkommens2 nicht zu rechtfertigen. Die meisten empirischen Untersuchungen finanzpolitischer Maßnahmen fallen in die Kategorie der formalen Inzidenz, weil einer umfassenden Bestimmung der tatsächlichen Verteilungswirkungen erhebliche Schwierigkeiten gegenüberstehen. Hierzu müssten u.a. Preis- und Mengeneffekte geschätzt werden, die je nach allgemeiner Wirtschaftslage, Marktbedingungen u.ä. unterschiedlich ausfallen können (vgl. das 15. Kapitel). In der Regel (oder in einem ersten Schritt) sehen die Untersuchungen der formalen Inzidenz von Verhaltensreaktionen der Haushalte und Unternehmen ab, wodurch die theoretischen Schwierigkeiten aber nicht umgangen werden können. Bei Einbeziehung aller Reaktionen der Steuerschuldner in die Analyse gelangt man zur materiellen oder effektiven Inzidenz3, also zu den letztlich hervorgerufenen Verteilungswirkungen finanzpolitischer Maßnahmen. Hierzu müssen die Hypothesen der formalen Inzidenz überprüft werden. Wenn die Modellannahmen mit der Realität übereinstimmen, fallen formale und materielle Inzidenz zusammen. b) Wirkungen auf die personelle Verteilung (empirische Ansätze der formalen Inzidenz) (1) Grundprobleme In empirischen Untersuchungen der personellen Einkommensverteilung soll ermittelt werden, in welcher Höhe die nach bestimmten Gesichtspunkten geordneten Wirtschaftssubjekte die Steuerlasten tragen und/oder wem die staatlichen Leistungen zugutekommen. Hier muss zunächst entschieden werden, welche Umverteilungsmasse für die Fragestellung relevant ist. Die Daten für die in Betracht kommenden staatlichen Einnahmen/Ausgaben können u.a. den VGR entnommen werden, wobei die je1 2 3

Im BNE sind nicht die Nettoproduktionsabgaben an die übrige Welt (EU) enthalten. Die Problematik wurde bereits im Kapitel 2.2 behandelt. Fragen der Steuerwirkungen, die zur materiellen Inzidenz führen, werden im 15. Kapitel behandelt.

284

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

weiligen Definitionen und Abgrenzungen wichtig sind1. Bei der Festlegung des Ausmaßes der Umverteilung zwischen privatem und staatlichem Sektor durch öffentliche Einnahmen und Ausgaben bleiben i.d.R. die staatliche Kreditaufnahme und -vergabe sowie über öffentliche Unternehmen erfolgende Umverteilungsströme unberücksichtigt. Der Staat verändert das verfügbare Einkommen des privaten Sektors durch verschiedene Formen von Abgaben und von ihm geleistete Übertragungen. Die unentgeltlich abgegebenen staatlichen Leistungen (Konsumausgaben des Staates) werden in den VGR nach dem Ausgaben- und nach dem Verbrauchskonzept nachgewiesen. Im letzteren Fall wird in Höhe der individuell zurechenbaren Sachleistungen ein sozialer Sachtransfer unterstellt, der das verfügbare Einkommen und den privaten Konsum (jeweils Verbrauchskonzept) der privaten Haushalte erhöht. Bei einer umfassenden Analyse der Umverteilung ist zu entscheiden, ob und wie diese Größen zu berücksichtigen sind. Ferner ist zu fragen: S Sollen z.B. die unterstellten Beiträge für Beamtenpensionen berücksichtigt werden? (Nach rechtlichen Vorstellungen handelt es sich hier um aufgeschobenes Entgelt und wäre als solches nicht – bzw. nur der intertemporalen – Umverteilung zuzurechnen.) S Wie sind Sozialversicherungsbeiträge zu behandelt? Sie führen grundsätzlich zu einem Leistungsanspruch. Soweit Leistungen und Gegenleistungen sich entsprechen, also „echter“ Versicherungscharakter vorliegt, müssten Beiträge und Renten aus der Umverteilungsmasse ausgeklammert werden. Nur nimmt der „Steuercharakter“ der Sozialabgaben zu, d.h. die individuelle Äquivalenz verliert an Bedeutung. S Sollen und können auch solche Umverteilungsmaßnahmen einbezogen werden, die der Staat bewirkt, wenn er die Preise entgeltlich abgegebener Leistungen verteilungspolitisch differenziert (bis hin zur Entgeltlosigkeit: Vergünstigungen für Kinder, Rentner, Arbeitslose usw.)? Das ist nur teilweise als offene oder versteckte Subvention erkennbar. Die für die Analyse der Verteilungswirkungen verwendeten Einheiten werden vor allem danach gewählt, ob eine intergenerative, internationale, interregionale oder interpersonelle Fragestellung vorliegt. Bei der personellen Verteilung des Einkommens auf die Haushalte geht es um weitere Kriterien wie Einkommensform, soziale Stellung, Haushaltsgröße, Alter der Haushaltsmitglieder u.ä. Die Differenzierung der Haushalte trägt zwei Aspekten der Umverteilung Rechnung, nämlich der Veränderung vertikaler Einkommensunterschiede, also zwischen Einkommensschichten bei sonst gleichen Umständen (Haushaltsgröße usw.), und der horizontalen Umverteilung zwischen Haushalten in unterschiedlichen Bedarfslagen, aber gleichen Markteinkommen. Statt auf Haushalte kann auch auf Personen abgestellt werden2.

1 2

Zu beachten ist auch, dass in den VGR ein Teil des Steueraufkommens nicht dem Staat, sondern der EU unmittelbar zufließt. Unterschiede in der Haushaltszusammensetzung werden methodisch ausgeglichen, indem man z.B. Äquivalenzeinkommen berechnet.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

285

Theoretisch wäre es wünschenswert, die möglichen Einkommen ohne staatliche (Um-)Verteilungspolitik mit dem tatsächlich feststellbaren Einkommen nach der Umverteilung zu vergleichen. Dieser Ansatz scheitert aber, weil sich nicht ermitteln lässt, wie sich die Wirtschaftssubjekte ohne Abgaben und Ausgaben verhalten hätten. Die für die Kenntnis der materiellen Inzidenz erforderlichen Informationen über Verhaltensänderungen und entsprechende Anpassungsvorgänge der Wirtschaftssubjekte fehlen. Jede empirische Verteilungsrechnung ist daher nur eine Hilfsrechnung. Das Primär-1 (oder Markt-)Einkommen, auf das sich die Darstellung der Einkommensverteilung zunächst bezieht, ist bereits das Ergebnis von Umverteilungsprozessen. Fraglos würden die Einkommen ohne Besteuerung o.ä. anders ausfallen. Das Primäreinkommen ist aber auch nicht das nach der Umverteilung erzielte Einkommen. Dieses wird formal ermittelt, indem die Abgaben heraus- und die von den Haushalten empfangenen Transfers hinzugerechnet werden. Das Ergebnis einer Korrektur der primären Einkommensverteilung um die auf die privaten Haushalte entfallenden staatlichen Einnahmen und Ausgaben wird als (rechnerische) Sekundärverteilung bezeichnet. Übersicht 9-1 zeigt den noch zu erläuternden Rechenweg, der sich noch unterschiedlich weit vorantreiben lässt. Er kann mit einer Korrektur des Markteinkommens um den Saldo der monetären Ströme enden, oder aber – bei der umfassenderen Analyse – auch die angenommene Verteilung einzelner oder aller unentgeltlich abgegebenen staatlichen Leistungen (Realtransfers, auch solchen, die über die individuell zurechenbaren Sachleistungen hinausgehen) einschließen. Übersicht 9-1 Die Berechnung der Budgetinzidenz Verteilung der Markteinkommen (primäre Einkommensverteilung) ./. Abgaben an den Staat + monetäre staatl. Übertragungen an private Haushalte an Unternehmen Saldo der monetären Ströme + fiktive Einkommen staatliche Realtransfers I staatliche Realtransfers II

differenziert nach Abgabeart bei verschiedenen Überwälzungshypothesen verschiedene Überwälzungshypothesen

gruppenspezifische Güter, Zurechnung nach Inanspruchnahme reine öffentliche Güter, Zurechnung nicht über Inanspruchnahme der Leistung zu erfassen

Verteilung der sekundären Einkommen 1

Im ESVG 1995 werden die Begriffe „Primär“- und „Sekundäreinkommen“ abweichend von dem sonst üblichen Sprachgebrauch verwendet, indem die Produktions- und Importabgaben den Primäreinkommen (von Staat und übriger Welt, d.h. hier EU) und damit bereits der Einkommensverteilungs- und nicht der -umverteilungsphase zurechnen.

286

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Die Differenz aus Primär- und Sekundärverteilung stellt das rechnerische Umverteilungsergebnis der in die Analyse einbezogenen Maßnahmen dar; sie lässt sich z.B. in der Differenz der Lorenzkurven grafisch darstellen. Zu entscheiden ist, was als Primäreinkommen gelten soll und ob die berechneten Umverteilungswirkungen hierauf zu beziehen sind. Die Wahl des Einkommenskonzepts beeinflusst die Verteilung der Haushalte nach Einkommensschichten1. Primäreinkommen könnte der auf die Haushalte entfallende Teil des Volkseinkommens sein. (Y) ist aber bereits selbst auf der Grundlage bestimmter Überwälzungsannahmen berechnet. Nur wenn Ti inhaltlich und umfangmäßig in der Analyse genauso wie in den VGR definiert und abgegrenzt sind, ist die Verwendung dieser Bezugsgröße gerechtfertigt. Bei weitergehenden (eingeschränkten) Überwälzungsannahmen ist dieser Maßstab zu weit (eng). Das BNE ist hingegen unabhängig von der Zusammensetzung der Steuern. Andererseits ist lediglich die Verteilung von Y empirisch erfassbar, während das Konzept des BNE bei der Einkommensbestimmung des Sektors private Haushalte und auf mikroökonomischer Ebene fiktiven Charakter hat. Eine Zurechnung der Differenz zwischen BNE und Y auf die verschiedenen Haushaltsgruppen ist kaum möglich. So gibt es insbesondere keinen überzeugenden Grund für die Annahme, dass Produktions- und Importabgaben die Markteinkommen derjenigen Haushalte reduzieren, die die belasteten Güter konsumieren (Stolz 1983). Stellt man auf Markteinkommen ab, lassen sich aber dann keine Belastungsrelationen durch Steuern und Transfers bilden, wenn keine Erwerbs- und Vermögenseinkommen vorliegen. Zur Darstellung der Ergebnisse wird auch das Netto- (oder das verfügbare) Einkommen der Haushalte als Bezugsgröße zugrunde gelegt. Es entspricht in etwa dem verfügbaren Einkommen (Ausgabenkonzept) der VGR. Dieses Einkommen nach Abgaben und Transfers mag unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten von Bedeutung sein, weil es den privaten Haushalten für ihre Konsum- und Sparentscheidungen zur Verfügung steht; es ist aber für eine Darstellung der Steuerlastverteilung problematisch. Zweckmäßiger erscheint daher ein darüber hinausgehender Einkommensbegriff. Ein besonderes Problem stellen die nicht ausgeschütteten Gewinne der Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit dar. Ob sie dem Einkommen der privaten Haushalte zugerechnet werden sollen, hängt davon ab, wie die institutionelle Eigenständigkeit beurteilt wird. Die nicht ausgeschütteten Gewinne sind für die Anteilseigner weder in der laufenden noch in einer späteren Periode verfügbar. Die Anteilseigner haben nur einen Kapitalgewinn in Form einer Erhöhung des Kurswertes ihrer Anteile. Wenn allerdings, zumindest in langfristiger Betrachtung, die Kapitalgewinne in etwa den einbehaltenen Gewinnen entsprechen, können die nicht ausgeschütteten Gewinne von Kapitalgesellschaften (als Kapitalgewinne) in den Einkommensbegriff eingehen.

Die Verteilungsstrukturen sind mit den Makrodaten der öffentlichen Haushalte abzustimmen. Hinsichtlich der Makrodaten wird in der Regel von den in den VGR nachgewiesenen, auf die Haushalte und Unternehmen entfallenden Steuer- und Transferströmen ausgegangen. 1

Zu fragen ist auch, für welche Einkommensbegriffe Verteilungsinformationen vorliegen.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

287

(2) Die Inzidenz der Abgaben Zu erwarten ist, dass bei progressivem Einkommensteuertarif die Durchschnittsbelastung mit dem Einkommen steigt. Das bestätigen auch die Daten der Einkommensund Verbrauchsstichproben (EVS) in Tab. 9-1 und die aus der Schichtung der Lohnund Einkommensteuerpflichtigen (vgl. Tab. 16-3 unten) zu berechnende Durchschnittsbelastung der Einkünfte hin. Die in der EVS verwendeten Haushaltsbruttoeinkommen waren schon Gegenstand der Umverteilung durch an die privaten Haushalte geleistete Übertragungen. Insofern ist in Tab. 9-1 im Verhältnis Haushaltsnetto-/Haushaltsbruttoeinkommen nur die Umverteilung durch Zahlung von Steuern auf Einkommen und Vermögen und durch Sozialbeiträge zu ersehen. Tab. 9-1 Einkommen und Einnahmen privater Haushalte in Deutschland je Haushalt und Monat 2008, Ergebnis der EVS Gegenstand der Nachweisung

Haushaltsnettoeinkommen

Einkommensteuer, Kirchensteuer, Soli.-Beitrag

Haushaltsbruttoeinkommen

Einkommen aus öff. Transfers

Bruttoeinkommen unselbst. Arbeit

BruttoEinnahmen aus einkommen Vermögen selbst. Arbeit

Durchschnitt je Haushalt und Monat in € Haushalte insgesamt 900 1 300 1 500 2 000 2 600 3 600 5 000 1

-

unter 900 1 300 1 500 2 000 2 600 3 600 5 000 18 000

2 914

416

3 707

842

2 056

239

385

680 1 105 1 399 1 747 2 285 3 069 4 217 7 000

45 38 99 165 226 352 645 1 452

782 1 265 1 695 2 178 2 852 3 880 5 485 9 130

566 670 687 754 889 912 917 1 118

153 427 769 1 091 1 464 2 198 3 408 5 360

38 30 58 70 102 173 287 1 010

- 32 47 84 142 263 431 662 1 132

Einschließlich statistischer Differenzen.

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2010, S. 552.

Um Rückschlüsse auf die Verteilungswirkungen erzielen zu können, sind Annahmen über die Wirkung der einzelnen untersuchten staatlichen Einnahmen und Ausgaben erforderlich. Sie sind das zentrale Aufgabe jeder Analyse der formalen Inzidenz als einem Versuch, auf empirischem Wege die Konsequenzen bestimmter Wirkungshypothesen zu schätzen. Nur wenn die privaten Haushalte die Einkommensteuer nicht rückwälzen, ist die Annahme berechtigt, dass sie die Steuern auch tragen. Davon wird regelmäßig ausgegangen. Lohnsteuer, veranlagte Einkommensteuer (zumindest soweit sie sich auf Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezieht), Erbschaftsteuer und Kraftfahrzeugsteuer der privaten Haushalte sowie sonstige Steuern im Zusammenhang mit dem privaten Verbrauch (Hundesteuer) werden daher in der Regel voll als Belastung der privaten Haushalte angesehen. Das auf Grund der Zurechnung gewonnene Belastungsprofil weist bereits alle Mängel einer Durchschnittsbetrachtung auf. Wegen der vielen Gestaltungsmöglichkeiten (Pauschalierungen, Freibeträge, Sonderausgaben, Tarifdifferenzierungen) des steuerpflichtigen Einkommens der nach dem Markteinkommen oder nach anderen Gesichts-

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

288

punkten geschichteten Haushalte, kann der Bezug zwischen individuellen Markteinkommen und Nettoeinkommen ganz unterschiedlich ausfallen. So ändert sich der in Tab. 16-3 nachgewiesene Belastungsverlauf, wenn man die Abgaben auf die Summe der Einkünfte statt auf das zu versteuernde Einkommen bezieht. ,,Steuerermäßigungen vermindern die Höhe der Steuerschuld der Steuerpflichtigen. Sie erhöhen damit, sofern sie nicht in den Preisen weitergegeben werden, ebenso wie direkte offene Transferzahlungen in Form von Staatsausgaben das verfügbare Einkommen der Begünstigten. Insofern sind sie bei einer Bestandsaufnahme von Transferzahlungen mit zu berücksichtigen. Dies gilt um so mehr, als Transferzahlungen und Steuerermäßigungen vielfach für dieselben Ziele eingesetzt werden“ (Transfer-Enquête-Kommission 1981, S. 93). Wegen ihrer besonderen Ausgestaltung ist die Frage der Überwälzung der Körperschaftsteuer besonders problematisch. Selbst wenn eine Überwälzung angenommen wird, ist es schwierig, eine Aufteilung auf Gütergruppen vorzunehmen, da nur juristische Personen diese Steuern zahlen müssen.

Bei den indirekten Steuern wird meist angenommen, dass Gewerbesteuer, Unternehmensanteil an Grundsteuer A und B und Kraftfahrzeugsteuer als Kostenelemente sämtliche Komponenten der Endnachfrage gleichmäßig belasten. So wird auch weitgehend mit Umsatz- und Mineralölsteuer verfahren. Der Anteil der privaten Haushalte an Grundsteuer B, Tabak- und ähnlichen Verbrauchsteuern wird in der Regel voll dem privaten Konsum zu gerechnet. Die steuertechnischen Regelungen sind bei den einzelnen Steuern teils sehr einfach, teils aber auch sehr kompliziert, was ihre Zurechnung erschwert. Das gilt z.B. gerade für die Tabaksteuer. Sie weist sieben verschiedene Kategorien von Steuergegenständen auf, die dann zum Teil noch einmal bis zu fünf Unterkategorien von Steuersätzen enthalten. In jedem Fall muss mit Durchschnittspreisen und Durchschnittssteuersätzen gerechnet werden.

Bei den Steuern, die über den privaten Verbrauch dem Einkommen zugerechnet werden, hängt die Belastung des Einkommens d mit Produktions- und Importabgaben (9-14)

Ti ,d Yd

)

4 C r ,d ] r Yd

zunächst vom schichtenspezifischen Verbrauch ab. Weil je nach Konsumgut Cr die Steuersätze ]r verschieden sind, sind ferner die Zusammensetzung des Verbrauchs und die Belastung der Konsumkomponenten bedeutsam. Sind Konsumquote (nach der permanenten Einkommenshypothese) und -struktur relativ konstant, kommt es auch zu einer prozentual gleichen Belastung der Einkommen mit indirekten Steuern. Bei einheitlichem Steuersatz, aber mit steigendem Einkommen abnehmender Konsumquote, wirkt die Belastung mit indirekten Steuern hingegen regressiv. Der Effekt kann allerdings dann kompensiert werden, wenn die Steuersätze nach Art der Güter differenzieren (z.B. Grundnahrungsmittel einerseits und Luxusgüter andererseits).

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

289

In Deutschland differenziert die Umsatzsteuer mit einem Regelsteuersatz von gegenwärtig 19% und einem ermäßigten Steuersatz von 7% für Grundnahrungsmittel, Druckereierzeugnisse u.a. Empirische Daten der Konsumstruktur zeigen, dass der Anteil der begünstigten Güter mit steigendem Einkommen stärker als die Konsumquote abnimmt. Wenn festgelegt ist, welche Steuern den Haushaltssektor belasten, müssen diese auf die verschiedenen Konsumgüter nach ihrem Verbrauchsanteil in der jeweiligen Einkommens- (oder sozialen) Klasse aufgeteilt werden. Schließlich kann die steuerliche Belastung pro Konsumgut auf Grund der Struktur der Haushaltsausgaben zugerechnet werden. Die vorliegenden empirischen Untersuchungen geben ein widersprüchliches Bild der Belastungswirkung der Produktions- und Importabgaben. Dies ist auf Unterschiede im methodischen Vorgehen, beim Umgang und in der Genauigkeit der Wiedergabe der vielfältigen steuerrechtlichen und -technischen Gegebenheiten, bei den unterstellten Überwälzungshypothesen einiger Steuern und in der Breite und oberen Grenze der untersuchten Einkommensklassen zurückzuführen. Auch liegen Divergenzen in der Abgrenzung und im Umfang der berücksichtigten indirekten Steuern (z.B. Gewerbesteuer), der steuerlichen Belastung einzelner Ausgabearten, den zugrunde gelegten Verbrauchsschichtungen und den Verwendungsstrukturen des Einkommens vor. Soweit angenommen wird, dass bei den Masseneinkommen der Verbrauch und damit die Bemessungsgrundlage weitgehend proportional mit dem Einkommen wächst und der anzuwendende Durchschnittssteuersatz konstant ist, oder z.B. die Steuerentlastung lebensnotwendiger Güter von der Mehrwertsteuer die sinkende Konsumquote ausgleicht, ist die Belastungswirkung weitgehend proportional. In einigen der Untersuchungen wird der zweite Fall für realistisch gehalten, d.h. die Annahme einer regressiven Wirkung der indirekten Steuern, die vornehmlich auf der unterstellten Korrelation einer höheren Sparquote mit höherem Einkommen beruht, in Frage gestellt. Dann tritt die Regressionswirkung der indirekten Steuern erst bei höheren Einkommen ein1. Frühere nach Methode und statistischem Material unterschiedliche Rechnungen ergaben durchschnittliche Belastungsquoten des Nettoeinkommens mit indirekten Steuern zwischen 12 und etwa 20%. Die Wirkung des gesamten Steuersystems, die sich als Ergebnis der Analyse herausstellt, hängt von den vielen Hypothesen hinsichtlich der Inzidenz der einzelnen Steuern ab. Einige Arbeiten weisen auf eine eher proportionale Gesamtbelastung im Bereich der Masseneinkommen hin, die danach progressiv mit steigendem Einkommen wird. Sozialbeiträge werden in der Regel als regressiv gekennzeichnet, was darauf beruht, dass es Beitragsbemessungshöchstgrenzen und Beitragspflichtgrenzen gibt und

1

Für hohe Einkommen mit Konsumquoten unter 50% gibt es keine statistischen Informationen. Hier wird die Regressivwirkung aber in der Regel angenommen.

290

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

die Abgaben lohnbezogen sind1. In den verschiedenen Analysen wird (nicht durchgängig) angenommen, dass Arbeitnehmer- und/oder Arbeitgeberbeiträge Teil des Bruttolohns darstellen. Soweit die Sozialversicherung auch eine Versicherungskomponente enthält – sie wird mit zunehmendem „Steuercharakter“ der Sozialabgaben geringer – müsste diese bei einer auf die Einnahmen beschränkten Analyse aus der Verteilungsmasse herausgerechnet werden2. (3) Die Inzidenz der staatlichen monetären Übertragungen und Realleistungen Welchen Einkommensklassen kommen nun die monetären und die Realtransfers zugute? Erst wenn hierauf eine Antwort gegeben werden kann, lässt sich die Budgetinzidenz beurteilen. Methodische Bedenken lassen allerdings erhebliche Zweifel an dem Wert solcher Versuche aufkommen. Die Bezeichnung ,,Budgetinzidenz“ wird im Rahmen der formalen Inzidenzanalyse häufig für Verteilungsrechnungen der gesamten Einnahmen und Ausgaben verwandt. Dies entspricht nicht der auf die Wirkung gleich hoher marginaler Änderungen der Einnahmen und Ausgaben beschränkten Definition der Budgetinzidenz. Vor allem aber wird ,,von einer bestimmten Ausgangseinkommensverteilung ausgegangen, auf die die Wirkungshypothesen bezogen werden. Die dabei implizierte Annahme, dass die Bruttofaktoreinkommensverteilung von der Höhe und Struktur des öffentlichen Haushalts unabhängig ist, ist jedenfalls bei dem heute üblichen Staatsanteil völlig unhaltbar. In der (schwer vorstellbaren) Situation ohne Staat wäre zumindest die Struktur der Nachfrage anders, was natürlich nicht ohne Rückwirkung auf die Bruttoeinkommensverteilung bleiben kann.“ Schon aus methodischen Gründen sind daher Ansätze zur Ermittlung der Budgetinzidenz ,,nicht in der Lage, auch nur die Auswirkungen bestimmter Wirkungshypothesen aufzuzeigen, sofern es sich um den Gesamthaushalt oder jedenfalls gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallende Teile davon handelt“ (Andel 1998, S. 119/120).

Monetäre Übertragungen an Haushalte (Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe u.a.) sind weitgehend personell zurechenbar. Subventionen kommen den Haushalten nur indirekt zugute. Sie begünstigen zunächst die Unternehmen. Ob und wie sich hierdurch die Einkommen der Kapitaleigner erhöhen, hängt von den Reaktionen der Unternehmen ab. Geben sie die Subventionen weiter, so schlägt sich das u.a. in geringeren Verbrauchsgüterpreisen nieder. Auch hier sind je nach Überwälzungsannahme verschiedene Aufteilungsschlüssel anzuwenden. Beschränkt man die Inzidenzanalyse auf die monetären Umverteilungsströme, so impliziert dies, dass man sich ganz auf den Bereich der privaten Güterversorgung beschränkt und die unentgeltlich bereitgestellten staatlichen Leistungen (Realtransfers) für verteilungsneutral hält. Da aber auch bei den Realtransfers Verteilungseffekte zu vermuten sind, wird ihre Einbeziehung in die Analyse versucht. Hierbei stößt man auf 1

2

Diese Wirkung „erscheint in einer Lebenseinkommensperspektive in einem völlig anderen Licht, wenn der Begrenzung der Beitragszahlungen zugleich eine Begrenzung der (erworbenen) Ansprüche gegenübersteht“ (Schmähl 1983, S. 5). Bei einer Budgetanalyse werden die Ausgabenwirkungen mit einbezogen.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

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erhebliche Schwierigkeiten. ,,Zum einen bedarf es zur Erfassung und Bewertung von Realtransfers und ihrer Zuordnung auf Haushalte eines komplexeren und komplizierteren theoretischen Konzepts als bei monetären Transfers. Dies gilt insbesondere bei den nicht individuell festgelegten Leistungen. Zum anderen ist die Datensituation in diesem Bereich noch weniger zufriedenstellend als im monetären. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass trotz zunehmender Einsicht in die Problemzusammenhänge und Verbesserungen der empirischen Informationen auf diesem Gebiet ein Forschungsdefizit vorliegt“ (Transfer-Enquête-Kommission 1981, S. 62). In einer umfassenden Verteilungsanalyse können die in den VGR als individuell zurechenbare Sachleistungen erfassten und auch weitere Realtransfers1 nur als fiktiver Einkommensteil der privaten Haushalte berücksichtigt werden. Dieser Teil des verfügbaren Einkommens (Verbrauchskonzept) unterscheidet sich aber vom Markteinkommen, weil normalerweise der Einzelne hier keine Entscheidungsmöglichkeit über Art und Umfang der genutzten Leistung hat. Daher erscheint es fragwürdig, Ausgaben als Ausdruck der individuellen Vorteile zu wählen. Das Verfahren impliziert, dass der Wert der Leistungen mindestens so hoch wie die Ausgaben eingeschätzt wird. Haushalte und Unternehmen haben aber selten auch nur die geringsten Vorstellungen, welcher Ressourceneinsatz bei der Leistungsbereitstellung angefallen ist und was ihnen diese Leistungen (im Sinne der marginalen Zahlungsbereitschaft) wert sind. Bei vielen dieser Leistungen ist sogar fraglich, ob sie überhaupt ins Bewusstsein, damit in die Nutzenfunktionen der Haushalte eingehen. Wenn z.B. die Ausgaben für den auswärtigen Dienst doppelt so hoch und die Bildungsausgaben um den gleichen Betrag geringer liegen, hat im Sinne der VGR keine Änderung des ökonomischen Wertes stattgefunden. Mit der Heranziehung der Ausgaben wird das Bewertungsproblem wegdefiniert. Allerdings ist eine systematische Bewertung über Marktpreise, Schattenpreise u.ä. nicht möglich, wie die Diskussion öffentlicher Güter und der NKA gezeigt hat. Das ist besonders problematisch bei allen Leistungen, bei denen der Bürger (Haushalt) keine Initiative ergreift, aus der sein Interesse an der Nutzung zu erkennen ist. Wenn auf die Ausgaben abgestellt wird, trägt man nicht der Nutzungsperiode und der Benutzungshäufigkeit (z.B. von Straßen) Rechnung.

Zentrale Frage bei der Zurechnung ist: Welche Beziehungen bestehen zwischen den Markteinkommen und der Nutzung der verschiedenen staatlichen Leistungen? Bei der Zurechnung staatlicher Realtransfers versucht man zunächst, die Leistungen nach der Stärke der Eigenschaft des öffentlichen oder des privaten Gutes zu ordnen. So kann man z.B. weitgehend reine öffentliche Güter (wie Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten) ausgrenzen, bei denen nur eine recht globale Zuordnung möglich erscheint. Auch Rechtschutz, innere Sicherheit, Unfall- und Katastrophenschutz weisen stark den Charakter (rein) öffentlicher Güter auf. Diesen Kategorien stehen Leistungen mit spezifischer Begünstigung einzelner Gruppen (empfängerspezifische Leistungen) etwa im Bereich Gesundheit, Unterricht, Verkehr u.ä. gegenüber. Grundlage für die 1

Zu beachten ist, dass in den VGR nicht nur unentgeltlich bereitgestellte staatliche Leistungen, sondern auch die Nichtmarktproduktion der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck in den privaten Konsum (Verbrauchskonzept) einfließen. So stellen z.B. im Bildungs-, Gesundheits- und Kulturbereich in vielen Fällen Wohlfahrtsverbände, Kirchen u.a. (kostenlos oder zu einem sehr geringen Entgeld) Leistungen zur Verfügung.

292

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Aufspaltung der staatlichen Leistungen in grobe Blöcke kann die auch vom ESVG festgelegte Klassifikation COFOG sein, die zur Berechnung der individuell zurechenbaren Sachleistungen verwendet wird. Anschließend wird aus den statistischen Daten, in denen sich das Ergebnis privatwirtschaftlicher Verhaltensweisen niederschlägt, versucht, auf die Inanspruchnahme empfängerspezifischer Leistungen zu schließen. Die Leistungsströme mit starker Eigenschaft des öffentlichen Gutes werden hingegen teilweise einfach pro Kopf (Haushalt), proportional zum Markteinkommen, nach Vermögen oder Steuerzahlung oder in Kombination dieser Kriterien zugeteilt. Dementsprechend fällt die Verteilungswirkung recht unterschiedlich aus. Rechnet man nach der Steuerzahlung zu, ist die Begünstigung der Selbständigen durch staatliche Leistungen in der Regel am größten. Diese Wirkung fällt um so stärker aus, je breiter der Kreis der zugrunde gelegten Leistungen gezogen wird. Eine Zurechnung proportional zu den Einkommen nach Besteuerung wirkt sich hingegen insofern neutral aus, als die relative Verteilung unverändert bleibt. Eine Pro-Kopf-Zurechnung wirkt sich auf die Bruttoeinkommen so aus, dass die gleichen absoluten Beträge relativ stärker untere Einkommen begünstigen. Eine Zurechnung nach Vermögen weist einen progressiven Verlauf auf – setzt allerdings auch eine befriedigende Kenntnis der Vermögensverteilung und eine Erklärung der zu ihrer Beurteilung gestellten Fragen voraus. Das trifft auch zu, wenn man als Hilfsindikator Vermögenseinkünfte verwendet. Die Zuverlässigkeit derartiger Inzidenzanalysen hängt von der Qualität der Zurechnungshypothesen ab, die letztlich auf der subjektiven Auswahl des jeweiligen Bearbeiters beruht. Einige der von Grüske (1978) verwendeten Zurechnungsschlüssel werden im Folgenden beispielhaft erwähnt1. S Die staatlichen Ausgaben zur Förderung des Wohnungsbaus werden im Wesentlichen nach den privaten Mieten, einschließlich der Mietwerte von Eigentumswohnungen, zugerechnet, was z.B. bedeutet, dass Haushalte, die auf den sog. freien Wohnungsmarkt angewiesen sind und die dort üblichen hohen Mieten zahlen, einen entsprechend hohen Anteil der Ausgaben zur Förderung des (vornehmlich sozialen) Wohnungsbaus zugerechnet erhalten, von denen sie am wenigsten profitieren dürften. S Die Ausgaben für Hochschulen werden – unter Verwendung von Statistiken über die Zugehörigkeit der Eltern der Hochschüler zu bestimmten soziologischen Gruppen – so auf die einzelnen Einkommensklassen verteilt, als ob nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einkommensklasse, sondern allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten soziologischen Gruppe auf den Hochschulbesuch der Kinder Einfluss hätte. (Grüske erwähnt selbst die Schwäche dieser Hypothese, zu der er sich aber wegen des Fehlens statistischer Alternativen gezwungen sieht). Wie bescheiden der Anspruch solcher Rechnungen letztlich ist, wird klar, wenn man fragt, wer die unentgeltlich abgegebenen Leistungen der Hochschulen nutzt und wer sie bezahlt (vgl. Kapitel 10.3, Fußn. 1). S Die öffentlichen Ausgaben für Hochschulkliniken, Krankenhäuser und den Gesundheitsdienst werden unter Zuhilfenahme von Ergebnissen einer Zusatzbefragung zum Mikrozensus über Krankheiten und Unfälle zugerechnet. Die Relationen werden dann verwandt, um die genannten öffentlichen Ausgaben so auf die einzelnen Einkommensklassen zu verteilen, wie 1

Die Anmerkungen hierzu sind von Krause-Junk (1981, S. 290/291) übernommen.

9. Kapitel: Maßstäbe und Ziele der (Um-) Verteilungspolitik, Inzidenz

293

die einzelnen Einkommensklassen in den verschiedenen soziologischen Gruppen vertreten sind. Der mögliche systematische Fehler eines derartigen Schlüssels resultiert nun daraus, dass die Haushalte in der EVS entsprechend der soziologischen Gruppenzugehörigkeit des Haushaltsvorstandes zugeordnet sind, während sich die Ergebnisse der Zusatzbefragung auf Einzelpersonen beziehen.

Zwar liegen für einzelne staatliche Leistungen – beispielsweise im Gesundheitswesen – Daten über ihre Inanspruchnahme vor. Hier ist aber fraglich, ob überhaupt sinnvolle Verteilungsaussagen getroffen werden können. So mag auf eine Umverteilung geschlossen werden, wenn die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch einzelne, nach mehreren Kriterien gebildete soziale Gruppen (Arbeiter usw., nach Alter des Haushaltsvorstandes u.a.) von ihrem Anteil an der Finanzierung der Leistungen abweicht. Darüber hinausgehende Analysen dürften sich aber als zweifelhaft erweisen. Verschiedentlich werden explizite Nutzenfunktionen verwandt. So stellen Aaron/McGuire (1970) auf individuelle Wahlhandlungen ab: Private Güter oder Einkommen werden durch Transfers und durch zurechenbare öffentliche Leistungen beeinflusst. Ihnen werden nicht direkt zurechenbare Leistungen mit öffentlichem Gutscharakter gegenübergestellt, die durch Abgaben finanziert werden, die der Grenzrate der Substitution zwischen privaten und öffentlichen Gütern entsprechen. Der Versuch ist aber willkürlich, aus verteilungsmäßigen Wirkungen der Einnahmenstruktur auf die der Ausgabenstruktur zu schließen. So kann insbesondere aus der Einkommensteuer wenig auf eine eindeutige, dahinterliegende Nutzenfunktion geschlossen werden. Die Einkommensteuer ist kein geeigneter Indikator verteilungspolitischer Gewichte. Je nach, wie auch immer abgeleiteter oder angenommener, Nutzenfunktion der Haushalte kann es aber zu erheblichen Unterschieden in der berechneten Inzidenz der öffentlichen Leistungen kommen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in der Inzidenzanalyse der Realausgaben (regelmäßig) drei Annahmen getroffen werden: (1) Die staatlichen Ausgaben gehen in die Nutzen- (bzw. Produktions-) Funktion der Haushalte ein. (2) Die Empfänger bewerten die Leistungen mit ihren Produktionskosten. (3) Die Nutzungen verteilen sich auf die Empfänger nach dem Zurechnungsschlüssel, den der Bearbeiter zugrunde legt. Abschließend sei noch auf die Frage von Klanberg (1982, S. 138) hingewiesen, was eigentlich sozial- und verteilungspolitisch aus einer integrierten Verteilungsrechnung folgen würde, die die Inzidenz der Realtransfers einschließt. ,,Würde eine solche Matrix etwa Richtlinien einer irgendwie gearteten Transferpolitik vorstrukturieren lassen?“ (4) Ergebnis Die hier angedeuteten Verfahren der Analyse formaler Inzidenz führen (unter Ergänzung um die mikroökonomischen Analysen, vgl. 14. Kapitel) zu einem breiten Spektrum widersprüchlicher Ergebnisse. Einigkeit besteht praktisch nur darüber, dass die Wirkung der Steuern von der Verausgabung durch den Staat, von den Konsum- (bzw. Spar-) Quoten der Belasteten und von der Ausgestaltung der Steuern hinsichtlich Be-

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

messungsgrundlage und Tarif (einschließlich Freibeträgen, Vergünstigungen) abhängen. Die Basis für eine darauf aufbauende Politik ist daher sehr eingeschränkt. Literatur zum 9. Kapitel Einen einfachen Überblick über verschiedene Kriterien der Gerechtigkeit geben Barr (1993, ch. 3), Ott (2003, Teil 2.2) und Wagner (1983, S. 52-68), der auch die Beziehung zwischen Chancen- und Ergebnisgleichheit diskutiert, zu verschiedenen Verteilungskriterien siehe Musgrave/Musgrave/Kullmer (1994, Kapitel 5 B). Den Ansatz einer normativen Theorie der Verteilungspolitik liefert Krause-Junk (1974). Maßstäbe bzw. Ziele werden auch von Külp (1994) diskutiert. Zur Pareto-optimalen Umverteilung siehe Hochman/Rodgers (1969), Rodgers (1973), Collard (1978) und Knappe (1980, S. 279-298), zur Verteilung als öffentlichem Gut auch Thurow (1971). Zur distributiven Marktkritik siehe ferner Grüske (1985, 4. bis 6. Kapitel). Zu den Inzidenzkonzepten, die weitgehend auf Musgrave (1959) zurückgehen, siehe Krause-Junk (1981, S. 270-276). Formale Inzidenzuntersuchungen der personellen Verteilung sind insbesondere in den 70er Jahren durchgeführt worden: Grüske (1978), Heilmann (1976) und Wartenberg (1979). Eine Beschreibung und Würdigung der früheren Arbeiten der formalen Inzidenz liefert Krause-Junk (1981, S. 274 ff.). Eine neuere Untersuchung zur Inzidenz des deutschen Steuersystems liefern Fritzsche/Kambeck/von Loeffelholz u.a. (2003). Speziell zur Ausgabeninzidenz siehe Aaron/McGuire (1970) und die Darstellung und Kritik des Modells durch Tiepelmann/Rappen (1986). Einen Überblick über methodische Ansätze und Ergebnisse verschiedener Analysen von öffentlichen Einnahmen und Ausgaben und Erklärungsversuche hierfür enthalten Stolz (1983) und ausführlich, insbesondere auch in Bezug auf Erklärungsversuche unterschiedlicher Belastungsergebnisse der Wirkungen von indirekten Steuern das Gutachten der Transfer-Enquête-Kommission (1981). Das Gutachten ist darüber hinaus eine Fundgrube von Daten über (Um-)Verteilungsströme und Interpretationen. Die methodologischen Grundlagen der Steuerinzidenzanalyse werden von Steinbach/van der Veen (1985) diskutiert. Welche Fülle von normativen und methodischen Annahmen für empirische Umverteilungsanalysen erforderlich ist, macht Hauser (1986) bezogen auf das System der sozialen Sicherung deutlich. Zu Verteilungsanalysen der indirekten Steuern mit einem Simulationsmodell siehe Bach (2006), eine weitere Studie liefern Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung/Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln (2007).

10. Kapitel Finanzpolitische Ansatzpunkte zur Beeinflussung der personellen Verteilung von Einkommen und Vermögen, Grenzen der Umverteilung 1. Finanzpolitische Ansatzpunkte Ausgangspunkt einer Politik, die die personelle Einkommens- und Vermögensverteilung mit finanzpolitischen Instrumenten beeinflussen will, sind die Bestimmungsgründe dieser Verteilungen. Abb. 10-1 verdeutlicht einige Zusammenhänge. Der Marktmechanismus bestimmt die Preise der Produktionsfaktoren. Je nach Anfangsausstattung mit (und Einsatz von) Geld- und Sachvermögen und mit Humankapital sowie abhängig von der Zuteilung sonstiger Eigentums- und Verfügungsrechte fallen die Erwerbs- und Vermögenseinkommen der einzelnen Personen bzw. Haushalte unterschiedlich aus. Für die Verwertungschancen der Faktoren, d.h. für ihre Preisbildung, sind verschiedene Umstände von Bedeutung. So können institutionelle Gegebenheiten (Tarifparteien, rechtliche Rahmenbedingungen, Diskriminierung u.ä.) zu unvollkommenen Faktormärkten führen. Der Begriff „Querverteilung“ macht deutlich, dass die individuelle Position in der Verteilung der Arbeitseinkommen nicht allein die Position in der personellen Einkommensverteilung der Personen und Haushalte bestimmt. Andere Einkommensformen und die Haushaltsstruktur (Zahl, Alter, Beschäftigung der Haushaltsmitglieder) 1 spielen eine wesentliche Rolle. Transfers vom Staat und an den Staat bestimmen das verfügbare Einkommen mit. Davon hängen der Konsum und das Sparen ab. Sparen und empfangene Vermögenstransfers legen das Ausmaß der Vermögensbildung fest, durch das die Vermögensverteilung (mit) beeinflusst wird. Damit sind die wichtigsten Ansatzpunkte staatlicher Verteilungspolitik genannt: Sie knüpfen an den Voraussetzungen und an den Ergebnissen des privaten Wirtschaftens an. Zu beachten ist auch, dass sich die Veränderung des Preisniveaus unterschiedlich auf die einzelnen Vermögensarten (z.B. Nominal-, Sachvermögen) und auf die daraus fließenden Einkommen auswirken kann. Die Umverteilungspolitik wirkt sich bei der personellen Verteilung in vier Formen aus, nämlich S vertikal bei unterschiedlicher Höhe der Einkommen oder Vermögen von Personen und Haushalten; S horizontal bei Individuen und Haushalten (insbesondere) der gleichen Einkommensgruppe aber verschiedenen persönlichen Umständen (wie Zahl der Kinder); S über den Lebenszyklus einer Person, indem die gleiche Person in einem Zeitpunkt zahlt und in einem anderen Zeitpunkt etwas zurück erhält (z.B. bei der Rentenversicherung);

1

Dem wird teilweise mit dem Konzept des Äquivalenzeinkommens Rechnung getragen.

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Faktorpreisstruktur

Sparförderung Verzicht auf Alternativeinkommen

Struktur der Faktorübertragungssalden

Personelle Verteilung der Faktorbestände am Ende der Periode SPARQUOTE

Struktur der Faktorempfänge Besteuerung der Faktorempfänge

Sparförderung

Anlageformen der Faktorbestände

Preisänderungen

Personelle Verteilung der Faktorbestände nach Steuern u. Faktortransfer

Besteuerung der Faktorübertragungen

Struktur der Faktorzuwächse durch Sparen

öffentliche Ausgaben in das Arbeitsvermögen

Haushaltsstruktur u.ä.

Struktur der Faktorübertragungen

Personelle Verteilung der Faktorbestände am Anfang der Periode Faktorbesteuerung Personelle Verteilung der öffentliche Ausgaben Einkommen aus den einzelin das nen Faktoren Arbeitsvermögen Personelle Verteilung der Faktorbestände nach Steuern u. öffentl. Ausgaben Sterblichkeitsstruktur

private Ausgaben für Humanvermögen

Konsumstruktur

Personelle Verteilung der realen verfügbaren Einkommen

Preisänderungen

Personelle Verteilung der verfügbaren Einkommen

Einkommensbesteuerung Sozialversicherungsbeiträge

Personelle Verteilung der Bruttoeinkommen

Personelle Verteilung der Transfereinkommen

Personelle Verteilung der Faktoreinkommen

Funktionelle Einkommensverteilung

Quelle: Krupp (1974), S. 134 Anhang; ergänzt.

KONSUMNACHFRAGE

STAATSAUSGABEN (real)

PREISNIVEAU

STEUERN, SUBVENTIONEN

RENDITENNIVEAU

LOHNNIVEAU

MAKROVARIABLEN

Abb. 10-1 Die Bestimmung der personellen Einkommensverteilung

294

PREISNIVEAU

296

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

297

S zwischen verschiedenen Generationen, wenn die jetzt Geborenen mehr oder weniger an die früher Geborenen zu zahlen haben als sie von den später Geborenen bekommen werden. Bemerkenswert ist, dass unter bestimmten Bedingungen vertikale umverteilungspolitische Maßnahmen, die jeweils in einem Jahr erfolgen, über den Lebenszyklus keine Umverteilung bewirken. Legt man wie in Abb. 8-2 gleiche, aber zeitlich verschobene Lebenseinkommensprofile zugrunde, so hätte eine auf gleichmäßigere Jahreseinkommen ausgerichtete Verteilungspolitik offenbar zum Ziel, intertemporale Einkommensschwankungen zu verringern. Dieses Ergebnis kann auch bei horizontaler Umverteilung auftreten, wenn jeweils in einem Jahr z.B. nach der Zahl der Kinder umverteilt wird und die Zahl der Kinder pro Erwachsenen konstant bleiben. 2. Vermögenspolitische Maßnahmen a) Überblick Für die in der Regel als ungleich angesehene Vermögensverteilung spielen u.a. der Lebenszyklus und das ererbte Vermögen einschließlich der persönlichen Fähigkeiten eine wesentliche Rolle. Hohe ererbte Vermögen bewirken fraglos bessere Startchancen. Für eine Vermögensverteilungspolitik kommen verschiedene Maßnahmen in Betracht. Sie können entweder auf das vorhandene Vermögen (Faktorausstattungen) oder auf den Vermögenszuwachs abstellen, wobei der Vermögensbegriff wichtig ist. Er schließt meist Vermögen in Form ererbter und erworbener Fähigkeiten aus. Als finanzpolitische Instrumente einer Vermögensverteilungspolitik werden im folgenden diskutiert: S Umverteilung vorhandenen Vermögens Vermögensteuer Enteignung (Staatseigentum, „Sozialisierung“) Privatisierung von Staatsvermögen (Überführung in Privateigentum) S Anknüpfen an den Vermögensübertragungen S Umverteilung über den Vermögenszuwachs Förderung des freiwilligen Sparens Im Zusammenhang oder unabhängig von der Sparförderung kann eine Einflussnahme auf die Anlageentscheidungen erfolgen. Sie zielt auf die Vermögensform. Zu einer Vermögenspolitik wird hier auch die Beeinflussung der Humankapitalbildung gerechnet. Für die Bildung und Nutzung des Humankapitals ist die Nichtdiskriminierung wichtig, denn jede willkürliche oder nicht sachgerechte Diskriminierung bedeutet eine Vermögenseinbuße der Betroffenen, ein Abbau an Diskriminierung entsprechend eine Vermögenszunahme.

298

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

b) Umverteilung vorhandenen Vermögens Eine Politik der Umverteilung vorhandenen Vermögens kann am Reinvermögen oder an den Beständen einzelner Vermögensteile (Sach- oder Geldvermögen) ansetzen. Der Eingriff durch allgemeine oder spezielle Vermögensteuern ist besonders stark, wenn diese Steuern in die Substanz eingreifen und nicht aus den Erträgen finanziert werden (können). Eine Substanzbesteuerung ist aber verfassungsrechtlich (Eigentumsgarantie) und ökonomisch (z.B. Lähmung der Investitionsbereitschaft, Kapitalflucht usw.) problematisch. Die bis Ende 1996 bestehende deutsche Vermögensteuer hat die Umverteilungsaufgabe nicht erfüllt. Ihr Umverteilungseffekt war insgesamt gering1 und konnte und durfte auch nicht hoch sein, weil sie nicht Substanzsteuer sein, sondern die (Soll-)Erträge des Vermögens belasten sollte. Auf einzelne Vermögensformen stellt die Grundsteuer ab2. Sie wird auch bei juristischen Personen erhoben und belastet insofern auch mittelbar das Vermögen der natürlichen Personen. Enteignung, als die radikalste vermögenspolitische Maßnahme, ist in Deutschland nur ausnahmsweise und gegen volle Entschädigung zulässig. Sie ist daher kein finanzpolitisches Instrument, da sie nur die Vermögensform verändert (z.B. Sachvermögen durch Geldvermögen). Auch die Privatisierung von Staatsvermögen verändert nur die Vermögensform beim Erwerber. Privatisierung ist eher als ein Instrument zur Erhöhung der Effizienz öffentlicher Unternehmen zu begründen (und soll Staatsversagen reduzieren). Um auch einen Beitrag zur breiteren Beteiligung am Unternehmensvermögen zu leisten, werden unteren Einkommensklassen Begünstigungen (Sozialrabatt) beim Kauf eingeräumt. Das vorhandene Volumen an privatisierbarem Vermögen, die Sparfähigkeit und die Bereitschaft zur Beteiligung am Unternehmensvermögen setzen dieser Politik die Grenzen. c) Beeinflussung der Wirkung von Vermögensübertragungen Für die Höhe des akkumulierten Vermögens sind zwei Ursachen maßgeblich: Sparen im Lebenszyklus einerseits und ererbtes Vermögen andererseits. Je größer die Bedeutung des ererbten Vermögens eingeschätzt wird, um so mehr kommen Maßnahmen in Betracht, die auf den Vermögenstransfer zielen3. Die Erbschaftsteuer setzt am Generationenübergang an und ist ein solches Umverteilungsinstrument. Sie könnte dazu beitragen, dass die Einkommenserzielungschancen der Wirtschaftssubjekte nicht zu 1

2 3

Hierbei war von Bedeutung, dass der Vermögensbegriff in Folge von Abgrenzung, Bewertungsvorschriften, Freibeträgen usw. eng war. Vermögensformen wie Arbeits- und Sozialvermögen rechneten nicht zum steuerpflichtigen Vermögen. Die Abgabe diskriminierte daher zu Lasten der erfassten Vermögensformen und aufgrund unterschiedlicher Bewertungsverfahren zwischen diesen. Die Abgabe war allokativ auch bedenklich, weil sie für Unternehmen eine Substanzsteuer darstellte. Dieser Effekt wurde verstärkt, da die Abgabe nicht (z.B. als Sonderausgabe) bei der Ermittlung der Einkommensteuer abzugsfähig war. Auch die Kfz-Steuer ist eine spezielle Vermögensteuer. Zur Literatur siehe Ring (2000), S. 35-102.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

299

unterschiedlich sind. Allerdings verteilt sich das Vermögen nach dem Erbübergang üblicherweise auf mehrere Personen und verringert insoweit die Vermögenskonzentration und die Ungleichheit der Vermögenseinkünfte. Die Erbschaftsteuer kann bei den Erblassern („Nachlassteuer“) oder bei den Erben („Erbanfallsteuer“) ansetzen. Bei gleichem progressiven Steuertarif ist die individuelle Belastung durch die Nachlasssteuer stärker als durch die Erbanfallsteuer, wenn sich die Hinterlassenschaft auf mehrere Erben verteilt. Die Erbschaftsteuer auf den Nachlass kann als Ende einer Lebenskonsumbesteuerung interpretiert werden1. Die Erbanfallsteuer lässt sich als Ergänzung der Einkommensteuer sehen, aus der sie als ein unregelmäßig (selten) anfallender Einkommensteil (im Sinne eines umfassenden Einkommensbegriffs) ausgeklammert ist. Die Erbanfallsteuer kann prinzipiell nach der Größe des auf den einzelnen Erben übertragenen Vermögens und auch nach dem hier bereits vorhandenen Vermögen differenziert werden. Die Gefahr der Ausweichung auf andere (nicht oder weniger besteuerte) Vermögensformen ist um so geringer je breiter der der Besteuerung zugrunde gelegte Vermögensbegriff ist. Die deutsche Erbschaftsteuer belastet natürliche Personen2. Besteuerungsgrundlage der als Erbanfallsteuer erhobenen Abgabe ist der steuerpflichtige Erwerb von Vermögen. Die Bewertung der einzelnen Vermögensarten orientiert sich einheitlich am gemeinen Wert (= Verkehrswert), der sich nach dem Bewertungsgesetz ergibt. Die Steuersätze reichen von 7 % bis zu 50 %, sie variieren nach der Höhe des ererbten Vermögens und nach dem Verwandtschaftsverhältnis (drei Steuerklassen). Auch die persönlichen Freibeträge fallen je nach dem Verwandtschaftsgrad unterschiedlich aus. Das beim Erben bereits vorhandene Vermögen wird nicht berücksichtigt. Eine besondere Behandlung erfährt das unternehmerische Vermögen, das für den Erwerber bei der unternehmerischen Fortführung zwei Optionen mit geringerer Besteuerung enthält. Das Aufkommen der Abgabe (4,6 Mrd. Euro in 2009) macht nur einen geringen Prozentsatz der Steuereinnahmen (1 %) und des Vermögens der natürlichen Personen und Haushalte aus. Die Verteilungswirkung ist angesichts der geringen quantitativen Bedeutung der Erbschaftsteuer wahrscheinlich bescheiden, doch dürfte die Art der Vermögensanlage häufig berührt werden. Die faktisch der Steuer zugrunde liegende Vermögensmasse besteht weitgehend aus unternehmerischen Vermögen. Die drohende steuerliche Belastung kann als Prämie auf die freiwillige Aufspaltung und das Vorziehen von Erbübergängen interpretiert werden. Die Schenkungsteuer soll als ergänzende Maßnahme die steuerlose Vermögensübertragung begrenzen. International vergleichsweise hohe Erbschaftsteuern können (wie u.a. bei einer Vermögensteuer) Anreize geben, die Form des Vermögens unter dem Belastungseffekt zu gestalten und räumliche Substitutionen vorzunehmen – bis hin zum Wechsel der Staatsbürgerschaft. So kann die Nachlassteuer durch Abwandern des Erblassers, die Erbanfallsteuer durch Abwandern der Erben vermieden werden.

1 2

Vorausgesetzt, auf die Vermögenswerte kann dann zugegriffen werden. Von juristischen Personen oder einer Gesamthandsgemeinschaft wird hier abgesehen.

300

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

d) Umverteilung über den Vermögenszuwachs (1) Die Bedeutung der Vermögensbildungspolitik Die Bedeutung vermögensbildender Maßnahmen zur Beeinflussung der Vermögensverteilung liegt darin, dass sich das Vermögen einer Volkswirtschaft in etwa 20 Jahren verdoppelt. Zur Beeinflussung der Verteilung müsste die Vermögensbildung der unteren und mittleren Einkommensschichten, also ihr Sparen erhöht werden. Allerdings lässt sich an der Ungleichheit der Einkommensverteilung auf diesem Wege nur wenig ändern. (2) Die Sparförderung Bereits mit den Rentenversicherungsbeiträgen findet ein Zwangssparen der Versicherten statt. Die Wirkung darüber hinausgehender vermögensbildender Maßnahmen hängt zunächst von der Sparfähigkeit ab. Diese wird durch das verfügbare Einkommen yv bestimmt bzw. – etwas modifiziert – durch das freie Einkommen als Differenz von yv und dem Teil der Ausgaben, die nicht oder nicht leicht eingeschränkt werden können. Die Sparfähigkeit wird durch Steuern und Sozialbeiträge gemindert. Sie ist in der Regel um so kleiner, je niedriger das vorhandene Vermögen, also je dringlicher eine Erhöhung der Sparquoten für die verteilungspolitische Effizienz ist. Neben der Sparfähigkeit bestimmen die Sparneigung die Höhe und das Anlageverhalten (Portfolio-Wahl) die Form der Vermögensbildung. Als Sparmotive kommen insbesondere die Vorsorge für unvorhergesehene Notlagen und ein Zwecksparen für den Erwerb dauerhafter Konsumgüter in Betracht. Die Sparförderung kann auf spezielle soziökonomische Gruppen zielen (z.B. Vermögensbildung der Arbeitnehmer), bestimmte Vermögensformen (z.B. Bausparen) begünstigen und über alternative Formen (Prämien bzw. Steuervergünstigungen) erfolgen. Die Effizienz der Sparförderung zeigt sich daran, ob sie das Sparvolumen insgesamt und insbesondere der Zielgruppen erhöhen oder ob statt zusätzlichem Sparen nur eine bloße Umschichtung der Vermögensanlagen bei den ohnehin sparenden Haushalten bewirkt wird. Wenn die Sparneigung ertragsabhängig ist, können finanzielle Anreize das private Sparvolumen bzw. die Sparneigung verändern. Bei kleinen Einkommen macht das Sparen aber nur einen geringen Teil des Jahreseinkommens aus. Wenn die Verzinsung wegen des hohen Liquiditätsgrades, der bei der Ersparnisbildung für unvorhergesehene Notlagen notwendig ist, ebenfalls gering ist, verändern zusätzliche Vermögenseinkünfte das Gesamteinkommen nur unwesentlich. Selbst eine z.B. verdoppelte Verzinsung durch staatliche Fördermaßnahmen würde daher den Anreiz zu zusätzlichem Sparen nicht entscheidend verstärken. Liegt Zwecksparen vor, kann von den staatlichen Zuschüssen sogar ein negativer Effekt auf das Sparen ausgehen, weil die für den Kauf des dauerhaften Konsumgutes notwendige Eigenleistung um so niedriger ist, je mehr der Staat fördert. Andererseits kann für einen Teil der Einkommensbezieher erst durch staatliche Leistungen das Sparziel erreichbar werden. Beim

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

301

Zwecksparen kann daher die positive oder die negative Wirkung überwiegen. Es lässt sich aber nur überprüfen, ob der Einzelne selbst Leistungen erbringt, nicht hingegen, ob diese zusätzlich erfolgen. Effizienter wäre eine Sparförderung, bei der der Staat die Steuern senkt, um so den privaten Vermögensspielraum zu erhöhen. Soweit die Steuervergünstigungen einkommensabhängig erfolgen (z.B. in Form von Freibeträgen), resultiert daraus bei steigendem Einkommen und progressivem Tarif eine absolut zunehmende Steuerersparnis, die im Widerspruch zu den überlicherweise angenommenen Verteilungszielen steht. Bei Prämien steht der absolute Förderbetrag fest, sie sind progressionsunabhängig und insofern das geeignetere verteilungspolitische Instrument. Ziel kann auch eine breitere Streuung bestimmter Vermögensformen sein – z.B. der Beteiligungen an Unternehmen. Hierdurch ist allerdings nicht zu erwarten, dass die Beteiligungskontrolle wesentlich verändert wird. Dagegen spricht die zunehmende Trennung der Verfügungsmacht vom Eigentum. Eine größere Zahl der Aktionäre oder Anteilseigner kann die Bedeutung der einzelnen Personen sogar senken und die Verfügungsmacht der Direktoren, Manager, Funktionäre erhöhen. Die Förderung allein des Arbeitnehmersparens ist aus einem anderen Grund problematisch. Zwar haben Selbständige ein höheres Durchschnittseinkommen und -vermögen. Allerdings weist das Einkommen und Vermögen dieser Gruppe eine breite Streuung um deren Mittelwert auf. Zielt die Vermögenspolitik auf bestimmte andere sozio-ökonomische Gruppen, bleiben geringverdienende Selbständige ohne entsprechende Förderung. e) Beeinflussung des Arbeitsvermögens (Bildungspolitik) Nicht alle Arbeitskräfte weisen das gleiche objektive Leistungsvermögen auf. Sie unterscheiden sich vielmehr hinsichtlich ihrer durch Anlagen und Umwelt bestimmten Konstitution, ferner nach Alter, Invalidität, Leistungswillen, Risikofreudigkeit, Mobilität, Familienstand u.ä. Der Staat kann über ein Spektrum bildungs-, sozial- oder z.B. gesundheitspolitischer Maßnahmen Einfluss auf das Arbeitsangebot nehmen. Er kann konkret etwa durch Bereitstellung von Kindergärten, Schule, Umschulung und Weiterqualifikation bei Unterbrechung der Erwerbstätigkeit1 die Voraussetzungen des Faktoreinsatzes verändern. Die Arbeitsqualität ist ein einkommensdifferenzierender Faktor. Mit dem gleichen zeitlichen Arbeitseinsatz können unterschiedliche Produktionsleistungen erbracht und so verschieden hohe Einkommen erzielt werden. Die Arbeitsqualität kommt in manueller Geschicklichkeit, arbeitstechnischen Fertigkeiten und geistigen Fähigkeiten zum Ausdruck. Fähigkeiten (Intelligenz, Geschick) können angeboren und/oder erworben sein. Wissen und Können lassen sich gezielt verbessern. Hier liegt der Ansatzpunkt einer an der Bildung von Arbeitsvermögen ausgerichteten Verteilungspolitik. Von der Angebotsseite her soll die Qualität des Faktors Arbeit durch die Verbesserung der 1

Die Unterbrechung der Berufsbiografie bewirkt häufig eine (völlige) Entwertung der vor der Unterbrechung liegenden Berufserfahrung. Das gilt für Arbeitslosigkeit und Kindererziehungszeiten.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Qualifikation und damit der Leistungsfähigkeit der Menschen beeinflusst werden. Hierzu dienen Maßnahmen der staatlichen Bildungs-, Berufsqualifizierungs- und Weiterbildungspolitik. Ob und welche Wirkungen davon auf die Einkommensverteilung ausgehen, wird aber gerade auch durch die Faktornachfrage bestimmt, die u.a. von Wachstum und technischem Fortschritt abhängt. Ein zunehmendes Angebot höher qualifizierter Arbeitskräfte kann zumindest in einzelnen Bereichen einen Druck auf die Löhne ausüben und so die Chance zur Erzielung relativ hoher Einkommen sinken lassen. Bei der Bildungs- und der Verteilungspolitik sind daher die Wirkungen auf die Beschäftigung zu beachten. Bildungsinvestitionen bedeuten individuell oder für einen Haushalt zunächst Kosten, die mit den erwarteten künftigen Einkommenssteigerungen verglichen werden. Erträge können auch nichtmonetäre Größen wie Prestige, Befriedigung über Bildung und Fähigkeiten usw. sein. Bedeutsam sind hier die Zeitpräferenzen, die wegen der späten Einkommenseffekte zu einer Fehleinschätzung der Investitionen führen können. Die Entscheidungen werden auch dadurch erschwert, dass die gegenwärtig vorzufindenden Faktorpreisrelationen zunehmend weniger mit den künftigen Faktorpreisrelationen übereinstimmen. Mit jeder Förderung einer spezifischen Bildungsinvestition wird nur auf einen Teil der Fähigkeiten abgestellt. Erfahren Wirtschaftssubjekte mit anderen Fähigkeiten keine entsprechende Behandlung, werden Verzerrungen ausgelöst, und diese Gruppe wird de facto diskriminiert (Beispiel: unentgeltliches Hochschulstudium oder geringe Studiengebühren versus entgeltliche Meisterausbildung). Die Verteilungswirkungen eines unentgeltlichen Studiums sind vielfältig. Studenten nutzen sie. Aber auch deren Eltern, die üblicherweise die Ausbildung ihrer Kinder finanzieren, profitieren. Hierbei spielt insbesondere die sozio-ökonomische Herkunft eine Rolle. So haben Kinder aus „Akademikerfamilien“ eine viermal so große Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs als Kinder aus „Arbeiterfamilien“ und nehmen zu über 80 % ein Hochschulstudium auf. Der Nulltarif beim Studium kommt zwar prinzipiell allen zugute. Er wird aber überproportional von besser gestellten sozialen Gruppen genutzt, die von der Subventionierung entsprechend profitieren und von den höheren Einkommen gegenüber denen ohne Studium profitieren. Durch Studiengebühren würden hingegen diejenigen belastet, die den Nutzen haben. Nimmt man an, dass die Fähigkeiten im Gegensatz zur linkssteilen Einkommensverteilung normal verteilt sind (Abb. 10-2), spricht einiges für eine an den Potenzialen Abb. 10-2 Verteilung der Einkommen und Fähigkeiten Einzelpersonen Fähigkeiten

Einkommen Fähigkeiten Einkommen

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

303

anknüpfende Verteilungspolitik. Potenziale erweisen sich aber für die praktische Politik als nicht beobachtbare und messbare Konzepte, so dass man auf realisierte Größen wie Einkommen und Vermögen zurückgreifen muss. Allerdings kann den Potenzialen durch Gestaltung des Zugangs zur Bildung von Humankapital und seiner Verwertungsmöglichkeiten Rechnung getragen werden. 3. Einkommenspolitische Maßnahmen a) Der Staat als Arbeitgeber und Auftraggeber Der Staat beeinflusst nicht nur durch Realtransfers die Bildung des Arbeitsvermögens, er nimmt auch über seine Nachfrage nach Arbeitsleistungen unmittelbar Einfluss auf die Höhe der Erwerbseinkommen. Der Einsatz von Arbeitskräften erfolgt zwar primär unter allokativen Gesichtspunkten, doch treten teils erhebliche verteilungspolitische Wirkungen – auch beabsichtigt – auf. So können regionalpolitische Wirkungen bei Standortentscheidungen staatlicher Behörden und öffentlicher Unternehmen zugunsten unterentwickelter Gebiete anfallen. Ferner beeinflusst der Staat durch Niveau und Struktur der Besoldung die Einkommen der Arbeitnehmer insgesamt. Hierbei sind auch die Nebenleistungen, Arbeitsbedingungen, Kündbarkeit u.ä. bedeutsam, zumal sie häufig Einfluss auf die Einkommens- und Beschäftigungsbedingungen im nichtöffentlichen Bereich haben (z.B. „Lohnführerschaft“). Auch mittels Durchsetzung, Förderung (z.B. bei Frauen) oder Vermeidung (z.B. bei Behinderungen) einer an den Fähigkeiten ausgerichteten Beschäftigungspolitik kann der Staat die Verteilung beeinflussen. Ferner lassen sich durch die staatliche Auftragsvergabe und hierbei insbesondere durch differenziertes Behandeln verschiedener Anbietergruppen Verteilungswirkungen erzielen. So können Anbieter bevorzugt werden, die bestimmte Verteilungs- oder (Nicht-)Diskriminierungsregeln erfüllen. Grundsätzlich wird immer dann diskriminiert, wenn knappe Güter oder Positionen zugeteilt werden1. Erhält z.B. eine Bewerberin eine Position oder ein Gut, werden alle anderen Bewerberinnen und Bewerber automatisch diskriminiert. In einer Welt der Knappheit ist Diskriminierung somit eine Alltäglichkeit. Die Frage ist daher nicht ob, sondern nach welchen Kriterien diskriminiert wird. Hierzu bedarf es einer Einigung auf der Ebene des Grundkonsenses darüber, dass bestimmte Kriterien nicht als Grundlage zur Diskriminierung verwendet werden dürfen. So weist das Grundgesetz explizite Diskriminierungsverbote auf2. Ob Normen eingehalten werden, zeigen bestimmte Indikatorenwerte. So ist die Erwerbsquote der Frauen deutlich geringer als die der Männer. Das Durchschnittseinkommen der Frauen fällt ebenfalls niedriger aus. Dies gilt auch bei jeweils gleicher Stellung im Beruf bzw. gleichem Qualifikationsabschluss. Ein Grund dafür ist, dass bestehende Strukturen sich fortsetzen, also Spitzenpositionen weitgehend von Män1 2

Vgl. zum Folgenden Frey/Kirchgässner (2002), S. 252 ff. Das Diskriminierungsgesetz verwendet einen umfassenden Katalog.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

nern besetzt werden, während in den unteren Einkommensschichten die Frauen überproportional vertreten sind. Finanzpolitisch ist dies von Interesse, soweit nicht nur die freie Wirtschaft sondern auch der öffentliche Dienst betroffen ist. Die Unterschiede in den Löhnen und in der Partizipationsrate von Männern und Frauen können verschiedene Ursachen haben: S Sie können auf freiwilligen Entscheidungen der Frauen beruhen, die – in deutlich stärkerem Maße als die Männer – Heim und Familie den Vorzug geben und sich daher weniger stark im Berufsleben engagieren. S Sie können das Ergebnis einer niedrigeren Produktivität der Frauen gegenüber den Männern sein, die sich u.a. aus einer schlechteren Ausbildung und geringerer Arbeitserfahrung ergibt. Tatsächlich sind viele Frauen allerdings sogar besser ausgebildet. S Schließlich können Frauen ausschließlich aufgrund ihres Geschlechts schlechter als Männer behandelt werden. Nur in diesem Fall kann von direkter Diskriminierung gesprochen werden. Um mögliche Diskriminierungspraktiken einzuschränken oder gar zu verhindern, muss auf die verschiedenen Ursachen der Diskriminierung abgestellt werden. Finanzpolitische Instrumente dürften hier nur eingeschränkt zum Tragen kommen. Wichtiger aber sind in diesem Zusammenhang Maßnahmen, die das Rentabilitätskalkül der Frauen bezüglich ihrer Ausbildung demjenigen der Männer annähern. Dies kann dadurch geschehen, dass die Ausfallzeiten wegen der Kinderbetreuung verringert werden (Bereitstellung von Kindergärten), Kinderbetreuungszeiten von Frauen und Männern in Anspruch genommen werden, abgestimmte Kindergarten- und Schulzeiten bestehen sowie ganz allgemein die Arbeitsmöglichkeiten flexibel gestaltet werden. Werden durch weitere Maßnahmen zur Aktualisierung des Wissens die (durchschnittlichen) Qualifikationsunterschiede verringert, sinkt auch das Ausmaß der statistischen Diskriminierung. Bei Frauen (Personen mit Kindern) stellt sich darüber hinaus die Frage weiterer Ausgleiche (Renten für fehlende Beitragsjahre u.ä.). Eine weitere Möglichkeit ist die umgekehrte Diskriminierung (affirmative action), indem z.B. über Quotenregelungen Betriebe, darunter der Staat als Arbeitgeber, veranlasst werden, Frauen (oder andere benachteiligte Gruppen wie Farbige, Schwerbeschädigte u.a.) – bei sonst gleicher Qualifikation – zu bevorzugen. Allerdings ist die gleiche Qualifikation häufig schwer zu objektivieren. Nach Prüfung der Nutzen und Kosten einzelner Maßnahmen ist festzulegen, in welchen Situationen das jeweilige Instrument angewendet werden soll. Ferner ist zu klären, ob bei der umgekehrten Diskriminierung neue Verteilungsprobleme auftreten. b) Veränderung des verfügbaren Einkommens: Einsatz mehrerer Instrumente Zielgröße der Einkommensumverteilung ist das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, das der Staat über direkt am Einkommen anknüpfende Abgaben und Trans-

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

305

fers verändern kann. Im Gegensatz zu den vermögenspolitischen Maßnahmen sind diese Umverteilungsmaßnahmen kurzfristig orientiert. Angenommen der Staat hätte eine Vorstellung von der gewünschten Einkommensumverteilung. Diese käme dann in der angestrebten Beziehung zwischen Markteinkommen und verfügbarem Einkommen1 der einzelnen Haushalte zum Ausdruck. Dann ist zu prüfen, ob das Ziel – wie bisher – mit dem Einsatz einer Vielzahl verteilungspolitischer Instrumente erreicht werden kann oder ob der Einsatz eines Instruments wie die negative Einkommensteuer überlegen ist. Bei Einsatz mehrerer Instrumente sind ihre Zahl, Ausgestaltung und Abstimmung wichtig. So können die Instrumente versteckt (implizit) in steuerlichen Abzugsbeträgen bestehen oder offen als Transferzahlungen gewährt werden. Die Förderwirkung impliziter Transfers hängt von der sonstigen Ausgestaltung z.B. des Einkommensteuertarifs ab. Direkte (offene) Transfers kommen in vollem Umfang unabhängig von ihrer Steuerzahlung den Haushalten zugute. Bei Einkommensgrenzen ist der Bezug zwischen Transfers und Markteinkommen festgelegt. Abb. 10-3 Wohlfahrtswirkungen allgemeiner und zweckgebundener Transfers andere Güter

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K

G1 G0

G2

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0

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Transfers können ferner gebunden sein, d.h. Verwendungsauflagen haben (z.B. beim Wohngeld). Bei ungebundenen Transfers können die Individuen am Markt Menge und Qualität der Leistungen kaufen, die ihren Präferenzen am besten entsprechen. Daher sind bei gleichen Ausgaben für den Staat ungebundene den gebundenen Transfers wohlfahrtsmäßig überlegen. Das zeigt Abb. 10-3. Gegenüber dem Gleichgewicht G0 bei einer Budgetbeschränkung KD führt eine ungebundene Transferzahlung in Höhe von DE zum Gleichgewicht G1. Gebundene Transfers mit dem Satz DF/OF führen bei gleicher Haushaltsbelastung HG2 zum Gleichgewicht G2, das ein niedrigeres Nutzenniveau als G1 repräsentiert.

1

Die Begriffe „Markt-“ und „Erwerbs- und Vermögenseinkommen“ einerseits bzw. „verfügbares Einkommen“ und „Nettoeinkommen“ andererseits werden hier jeweils synonym verwendet.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Durch die Bindung an bestimmte Verwendungen soll der Transferempfänger nun einen Umfang 0C beispielsweise an Gesundheitsleistungen wählen. Wie Abb. 10-4 zeigt, lässt sich dieses Ziel für den Staat kostengünstiger durch gebundene Transfers erreichen. Abb. 10-4 Allgemeine versus zweckgebundene Transfers andere Güter L

K

G2 G1

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0

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F

x

Gebundene Transfers erfordern Mittel in Höhe von HG1 (gemessen in Einheiten der anderen Güter). Um dieselben Ausgaben 0C zu erreichen, ist ein ungebundener Transfer in Höhe von HG2 erforderlich, der die Budgetgerade von KD auf LF verschiebt. Ungebundene Übertragungen sind unter dem Ziel ein bestimmtes Ausgabenvolumen zu erreichen ein ineffizientes Mittel, weil sie die relativen Preise nicht verändern und es nur zu einem Einkommenseffekt kommt1. Beide Formen sind allerdings wenig effektiv, weil jeweils die Höhe der erforderlichen Zuweisungen die Höhe der Ausgaben für zusätzliche Einheiten von x übersteigt (DE > NC, DF > NC). Weitere Nachteile zweckgebundener Transfers mit verteilungspolitischem Ziel zeigt z.B. das Wohngeld, mit dem ein Mieter in Abhängigkeit von seiner sozialen Lage und der Situation am Wohnungsmarkt einen Zuschuss erhält. Er soll Haushalten mit niedrigem Einkommen das Mieten einer bedarfsgerechten Wohnung ermöglichen, unterstützt aber (auch) teuere Wohnungen (vgl. Börsch-Supan 1997) und begünstigt die Vermieter, die aufgrund der verbesserten Zahlungsfähigkeit der Wohngeldbezieher höhere Mieten durchsetzen können. Höhere Mieten treffen auch diejenigen ohne Anspruch auf Wohngeld. Dennoch wird die subjektbezogene Förderung in der Regel als überlegene Lösung gegenüber objektbezogenen Maßnahmen (Mietpreisbindung, sozialer Wohnungsbau) angesehen. Während die Einkommensteuer und Transfers des Staates direkt auf die Einkommen der einzelnen Haushalte bzw. Personen ausgerichtet sein können, zielen andere Maßnahmen auf die Einkommen von Gruppen. So werden Höhe und Struktur der ver1

Hierbei wird unterstellt, dass es sich bei dem Gut um ein normales Gut handelt.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

307

schiedenen Faktoreinkommen (z.B. Lohn- und Renditenniveau) durch von Unternehmen zu zahlende Steuern (wie Umsatzsteuer, Luxussteuer) und an Unternehmen geleistete Subventionen beeinflusst. Ob und wie dadurch die Preisstruktur und das Preisniveau verändert werden, hängt von den Reaktionen der Unternehmen ab. Während von den privaten Haushalten gezahlte Steuern und empfangene Transferzahlungen deren (nominell) verfügbares Einkommen verändern, wirken bei den Unternehmen ansetzende finanzpolitische Maßnahmen auf das Realeinkommen der Haushalte. Eine Bedingung für den Erfolg der Subventionen als verteilungspolitische Maßnahme ist, dass die Unternehmen sie an die Endverbraucher weitergegeben. Die Preissenkung fällt um so stärker aus, je elastischer das Angebot und je unelastischer die Nachfrage sind1. Subventionen können auch an die Unternehmen mit der Auflage gezahlt werden, die eintretenden Kosteneinsparungen im Preis an die Verbraucher weiterzugeben. Die gleiche Wirkung erzielt der Staat, wenn er selbst als Anbieter auftritt und die Güter und Dienstleistungen insbesondere ohne Gewinn oder zu nichtkostendeckenden Preisen verkauft. Das verteilungspolitische Ziel der Subventionen ist in der Regel nicht die Veränderung des Preisniveaus, sondern des Einkommens einzelner Branchen und solcher Gruppen, die überproportional bestimmte Güter (z.B. Grundnahrungsmittel, Wohnung) nachfragen. Tatsächlich werden mit Subventionen nicht nur diejenigen begünstigt, die die verbilligten Güter kaufen sollen, sondern alle Käufer dieser Güter2. Die notwendige Marktspaltung, damit die Güter mit staatlich beeinflussten Preisen nur den angestrebten Personenkreis treffen, erfordert besondere Regelungen (Zugangssperren u.ä.). Die dafür erforderlichen Kontrollen sind aufwändig, häufig nicht realisierbar und das Verfahren verleitet zum Missbrauch. Ähnlich problematisch ist eine Verteilungspolitik mit staatlich-administrierten Preisen, soweit diese auf eine Förderung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen zielen. Ferner sind unentgeltlich abgegebene öffentliche Leistungen (Realtransfers) als verteilungspolitisches Instrument nur geeignet, wenn sie zielgerichtet, d.h. insbesondere von Schichten mit besonders niedrigem Einkommen oder von Kindern in schwierigen Verhältnissen in Anspruch genommen werden. Tatsächlich wird z.B. das öffentliche Bildungsangebot von Beziehern überdurchschnittlich hoher Einkommen bevorzugt genutzt, so dass gerade dort ein stärkerer realer Verteilungseffekt und nicht bei unteren Schichten eintritt. Freier Zugang aller Bürger zu den angebotenen Leistungen lässt eine gezielte Verteilungswirkung nicht zu. Das zeigt auch ein Vergleich der häufig hoch subventionierten Theater oder Opernhäuser mit nicht subventionierten Filmtheatern oder Bowlingbahnen. Die Umverteilung zugunsten der Bezieher höherer Einkommen wäre unter den vorherrschenden verteilungspolitischen Zielsetzungen nicht zu rechtfertigen. Sie ist aber unter anderen Zielsetzungen, wie z.B. der Erhaltung von Kulturgütern und der Förderung ihrer Träger, zweckmäßig. Hier zeigen sich die Grenzen einer nur am Verteilungsziel orientierten Betrachtung. 1 2

Vgl. das 15. Kapitel. Das trifft auch auf die Steuerbefreiung und den ermäßigten Steuersatz bei der Umsatzsteuer zu.

308

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Verteilungspolitisch effektiver wäre es, die staatliche Unterstützung kultureller Aktivitäten nicht in Form direkter Subventionen an Unternehmen vorzunehmen. Man kann z.B. an Personen mit niedrigem Einkommen Gutscheine (Vouchers) ausgeben, welche zum verbilligten Eintritt in kulturelle Veranstaltungen berechtigen. Damit würde neben der Förderung solcher Anbieter tatsächlich ein Umverteilungseffekt erreicht. Gleichzeitig würden diejenigen Aktivitäten subventioniert, die den Präferenzen der Bürger entsprächen. Eine geringe verteilungspolitische Zielgenauigkeit weisen auch z.B. öffentlich geförderte Sozialwohnungen auf. Das Angebot setzt hier neben den Subventionen an die Anbieter die Zuweisung sog. administrativer Belegungsbindungen voraus. Die Wohnraumzuteilung kommt trotzdem selten nur ausschließlich dem berechtigten Personenkreis zugute. Direkte Transferzahlungen können hinsichtlich des zu begünstigenden Personenkreises, des angestrebten Ziels und der Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme ausgestaltet werden. Es spricht also einiges dafür, direkt an Einkommen oder Vermögen anzusetzen. Was ist aber, wenn die Angebote nicht angenommen werden? Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf Kinder, deren Eltern häufig erst an die Wahrnehmung und Inanspruchnahme von Fördermaßnahmen und anderen Angeboten herangeführt werden müssen. Hier dürfen verwendungsgebundene Transfers oder personenbezogene Sachleistungen zumindest als Teil der Förderung unverzichtbar sein. Um die Bezieher höherer Einkommen zu belasten, werden gelegentlich Luxussteuern erwogen. Sie sollen die Preise jener Güter beeinflussen, die speziell in den Begehrskreis dieser Gruppe fallen. Auch Luxusgüter sind verteilungspolitisch problematisch, weil kaum Güter zu bestimmen sind, die generell besonders zu belasten sind. Die Wirkungen von Luxussteuern hängen (wie bei Subventionen) von der Einkommensverwendung der Haushalte ab: „Zwar besteht eine gewisse Abhängigkeit der Ausgaben für bestimmte Güter und Dienstleistungen von der Einkommenshöhe (Engelsches und Schwabsches Gesetz); jedoch variieren die Ausgaben auch in starkem Maße mit den individuellen Präferenzen, – und zwar um so stärker, je mehr die Einkommen das Existenzminimum überschreiten – so dass eine gezielte Umverteilungswirkung nur bedingt zu erreichen ist“ (Albers 1980c, S. 308). Bei der Beurteilung der Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen1 als Verteilungsinstrumente ist zunächst der Bezug von Leistung und Gegenleistung zu prüfen. Nur soweit keine Äquivalenz vorliegt, sind Beiträge und Leistungen der laufenden Umverteilung zuzurechnen. Beitragsabhängige Ansprüche können hingegen als eine Vermögensbildungskomponente gesehen werden.

1

Vgl. das 24. Kapitel.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

309

c) Negative Einkommensteuer und Bürgergeld als Verteilungsinstrumente Eines der Hauptprobleme der tatsächlichen Verteilungspolitik ist, dass sie nicht systematisch konzipiert ist, sondern sich historisch zu einer kaum überschaubaren Vielfalt oft widersprüchlicher (und verwirrender) Einzelmaßnahmen ohne Abstimmung entwickelt hat. Diese erstrecken sich über die Bereiche der Sozialversicherungs- und Steuerpolitik, über Transferausgaben in Form von Kindergeld, Sparförderung usw., aber auch über differenzierende Maßnahmen etwa der Preispolitik bei prinzipiell entgeltlich abgegebenen Leistungen (gestaffelte Kindergarten- oder Nahverkehrstarife). Für den Einzelnen ist in den meisten Fällen nicht durchschaubar, wieviel er zu zahlen hat oder empfangen kann und wie hoch sein Nettotransfer ist. Vor allem aber wird kritisiert, dass das Maßnahmenbündel die individuelle Leistungsbereitschaft beeinträchtigt. Die große Zahl verteilungspolitischer Einzelmaßnahmen weist auf geringe Zieleffektivität und hohe Verfahrensineffizienz (vielfache Überprüfungen, Umrechnungen von Anspruchsgrundlagen usw.)1. Ferner ist letztlich die angestrebte und tatsächliche Umverteilungswirkung weitgehend unbekannt oder nur unter heroischen Annahmen zu schätzen. Die fehlende Durchschaubarkeit auch für die staatlichen Entscheidungsträger belegt, dass deren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit (weil an Einzelmaßnahmen orientiert) inkonsistent sind oder systematische Konzepte nicht gewünscht sind oder nicht umgesetzt werden (können). Die Ergebnisse jener Modellrechnungen fallen unterschiedlich aus, die aus den Tarifen von Lohn- bzw. Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Sozialversicherungsbeiträgen, Kindergeld, vermögenswirksamen Leistungen, BAföG, Wohngeld, Kindergartenbeiträgen, Sozialhilfe usw. eine Art gesetzlichen Umverteilungstarif feststellen wollen. Hierzu muss die Gesamtheit der Maßnahmen in typisierender Weise (neben den o.g. Fällen) insbesondere den unterschiedlichen Einkommensbegriffen, -periodisierungen und personellen Bezugseinheiten Rechnung tragen, die auch unterschiedliche Motivationen widerspiegeln. Daraus resultieren Lücken in der sozialen Sicherung, Leistungskumulationen und Ungleichbehandlungen gleichartiger bzw. gleichwertiger sozialer Tatbestände2. Der Transfersaldo als Nettoeffekt des Transfersystems für den einzelnen Haushalt entwickelt sich mit Sprüngen, wie sie in Abb. 10-5 dargestellt sind. Dort sind bei Y1 und Y2 Schwellen mit impliziten Steuersätzen von ] > 100%. Hierbei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die einzelnen Abgaben und Transfers an verschiedenen Ursachen anknüpfen bzw. mehreren Zwecken dienen.

1

2

Teilweise hindert aber auch ein eigenwillig verstandenes Informationsrecht den Staat, die Grundlagen für Ansprüche an Transfers (als negativen Steuern) in gleicher Weise wie bei der Einkommensteuer prüfen zu können. Auch müssten gleiche strafrechtliche Konsequenzen bei Steuer- und Transferbetrug bestehen. Wegen der komplexen und komplizierten Wirkungsweise des gesamten Steuer/Transfersystems sind nur typisierende Modellbetrachtungen möglich (vgl. Gern 1999, Kaltenborn 2003 und Bundesministerium der Finanzen 2004).

310

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Abb. 10-5 Sprungstellen im verfügbaren Einkommen verfügbares Einkommen (Yv)

Y1

Y2

Erwerbs- und Vermögenseinkommen (Y)

Zur Beseitigung der Mängel dieser Umverteilungspolitik müssten die verschiedenen Einzelmaßnahmen in einem Verteilungsinstrument integriert werden. Einen Versuch in dieser Richtung stellt die negative Einkommensteuer (NE) dar. Die Belastung durch die traditionelle Einkommensteuer setzt wegen des Grundfreibetrages und einiger Pauschalen (Y1) erst bei einem Einkommen Y > Y1 ein. Ein Bereich mit Steuererstattung1 (= Transfers als Teil der Einkommensteuer) fehlt aber. Die NE sieht eine an der Einkommenshöhe orientierte systematische Verbindung der zu leistenden und empfangenen Transfers in einem Instrument vor. Wie (prinzipiell) die bisherigen Maßnahmen soll auch die NE (l) das Nettoeinkommen der als arm geltenden Personen oder Haushalte auf einem Mindestniveau garantieren; (2) mit zunehmendem Markteinkommen eine Abnahme der empfangenen Nettoübertragungen vorsehen, die dann in Nettozahlungen übergehen. Die einzelnen diskutierten Varianten einer NE weichen durch den Tarifverlauf voneinander ab. Ferner ist es wichtig, in welchem Umfang die bestehenden Instrumente ersetzt werden – nur der steuerfinanzierte Teil der Sozialleistungen oder auch die Sozialversicherung. In Abb. 10-6 ist eine mögliche Ausgestaltung der NE dargestellt, die alle oder einzelne der bestehenden Instrumente ersetzen kann. Auf der Abszisse sind die Erwerbs- und Vermögenseinkommen (Y) abgetragen, auf der Ordinate die jeweiligen verfügbaren Einkommen (Yv) nach Anwendung der NE. Auf der 45°-Linie gilt Y = Yv. Die NE beginnt mit einem Transfer. Ein Mindesteinkommen Ymin soll im Hinblick auf das verteilungspolitische Ziel Armut zu beseitigen und/oder ein Existenzminimum zu gewährleisten definiert werden2. Es kann, wie bei Einkommensteuer oder Sozialhilfe, nach bestimmten sozialen Merkmalen der Besteuerungseinheit (Haushalt oder Individuum) ausgestaltet werden. Der Leistungsanspruch ist bei Y = 0 1 2

Ähnlich der beim Verlustausgleich. Je nach Konkretisierung der Ziele können abweichende Ausgestaltungen begründet werden. Im Gegensatz zur bestehenden Regelung fallen hier der Grundfreibetrag (Einkommensteuer) und der Sozialhilfeanspruch nicht mehr auseinander.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

311

am größten und sinkt mit steigendem Einkommen auf null1 bei Y3. Die Steuer setzt bei Y1 ein und ist als senkrechte Differenz der 45°-Linie und der Geraden AC abzulesen. Abb. 10-6 Negative Einkommensteuer verfügbares Einkommen (Yv)

E

D

Ymin

F

C B

A

45° 0

Y1

Y2

Y3

Erwerbs- und Vermögenseinkommen (Y)

Wesentliches Problem der Tarifgestaltung eines Steuer-/Transfersystems ist die Wirkung auf die Leistungsanreize. Hierzu ist mindestens erforderlich, dass über den gesamten Einkommensbereich die Bedingung [YV/[Y > 0 erfüllt ist. Für Y < Y1 muss insbesondere [Y - [Tr > 0 gelten, d.h. die Verringerung der Transfers, also die implizite Steuerbelastung, muss (absolut) stets kleiner als die Zunahme des Markteinkommens sein. Für den Bereich Y > Y1 ist die entsprechende Bedingung [Y - [T [Tr > 0. Nach expliziter und impliziter Grenzbelastung von [Y > 0 ist also immer eine positive Veränderung des verfügbaren Einkommens gewährleistet. Bei Y2 ist die (Netto-) Umverteilung null. Die Kurve der nach Anwendung der beiden Elemente der NE verbleibenden verfügbaren Einkommen ist YminDBC. Sieht man von der Vielzahl von Sonderbedingungen ab, besteht der Gesamttarif zunächst aus einem garantierten Mindesteinkommen Ymin, dessen Auszahlung mit steigendem Wert von Y sinkt und bei Y3 auf null fällt. Der zweite Baustein ist die bei Y1 einsetzende Steuerbelastung. Wenn alle unter Y1 (= Ymin) liegenden Erwerbs- und Vermögenseinkommen voll angerechnet würden, bestünde bis Y1 überhaupt kein Anreiz zur Erzielung von Markteinkommen (z.B. Teilzeitbeschäftigung, Minijob). Es käme zu einer Inaktivitätsfalle, niemand hätte einen Anreiz für einen Betrag unter Ymin zu arbeiten. Das verfügbare Einkommen wäre dann YminAC. Das würde bei einem Verlauf der Bruttoeinkommen YminE und verfügbaren Einkommen YminDBC vermieden. Die verschiedenen Formen der NE entsprechen dem Konzept einer allgemeinen Mindestsicherung, die unabhängig von Arbeits- und sonstigen Einkommen geleistet wird. Es ist auch unabhängig von eigenen Beiträgen und wird gezahlt, ohne Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder andere Bedingungen vorliegen müssen. Die Finanzierung erfolgt 1

Eine über E hinausgehende Kurve YminDE kann auch eine Form der Flat Tax sein (vgl. das 20. Kapitel).

312

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

aus dem allgemeinen Steueraufkommen, auch die Auszahlung wird zweckmäßigerweise über das Finanzamt geleistet. Die Vorzüge des Konzepts der NE – Einfachheit, Transparenz und Anreizkompatibilität1 – werden mit dem Nachteil erkauft, dass es final, also nur an einem Ziel (einkommensmäßige Umverteilung) ausgerichtet ist2. Die Kompliziertheit des gegenwärtig bestehenden Abgaben/Transfersystems resultiert aber auch aus der Komplexität der Ziele (Ursachen), so dass eine Transferpolitik „aus einem Guss“ nicht möglich ist. Soweit die NE nur steuerfinanzierte Transferzahlungen ersetzt, könnte sie als eine Bestätigung des in der Sozialhilfe bereits verankerten Prinzips gesehen werden, dass „die Gemeinschaft ihren bedürftigen Mitgliedern verpflichtet ist. Insofern stellte die Einführung einer negativen Einkommensteuer keineswegs eine Abwendung von bereits praktizierten verteilungspolitischen Grundsätzen, sondern nur eine Konkretisierung dieser Grundsätze dar. Der vielleicht größte Unterschied zwischen einer solchen Regelung und der bereits praktizierten Sozialhilfe bestände in der völligen Aufgabe des Ursachenprinzips als Kriterium“ für Transfers (Roberts 1980, S. 282f.). Eine solche umfassende Interpretation der NE wird in Deutschland meist als Bürgergeld3 bezeichnet. Es hat vier Ziele: (1) Vereinfachung durch Zusammenfassung vieler Einzelleistungen, dadurch (2) mehr Transparenz und (3) geringere Verwaltungskosten sowie (4) pekuniäre Anreize, eine Arbeit aufzunehmen bzw. das Arbeitseinkommen zu erhöhen. Vereinfachung und Transparenz werden wohl erreicht. Es käme aber zur Abwendung vom praktizierten verteilungspolitischen Grundsatz der Subsidiarität, wonach zunächst den Betroffenen selbst, dann deren Familienangehörigen und erst anschließend dem Staat Leistungsverpflichtungen bei unzureichendem Einkommen auferlegt werden. Es käme zu einer Wertverschiebung, die vor allem bei kommenden Generationen zu einer nachhaltigen Minderung der Leistungsbereitschaft führen könnte. Die Anreize zur Ausnutzung der Solidargemeinschaft würden verstärkt (Gern 1996, S. 426). Bei dem bestehenden deutschen System der sozialen Sicherung entfallen rund drei Viertel des Volumens monetärer Transfers auf beitragsfinanzierte Leistungen, deren tragende Grundsätze mit den Gestaltungsprinzipien einer NE nicht zu vereinbaren sind, selbst wenn die Grundsätze (z.B. intertemporale Umverteilung, Äquivalenzprinzip) in der Praxis vielfältig durchbrochen werden. Der Übergang zu einer NE erfordert daher grundsätzliche Entscheidungen. Auch besteht für Teile der bisherigen Regelungen (z.B. die Ansprüche an die Gesetzliche Rentenversicherung) Eigentumsgarantie, die erst über Jahrzehnte ersetzt werden kann. Ferner werden die Kosten einer

1 2 3

Siehe hierzu auch die Ausführungen zur Sozialhilfe in Kapitel 11.9. Zum Final- und Kausalprinzip siehe auch Kapitel 11.2. So bezeichnet Mitschke (1985, 2003) das von ihm ausgearbeitete Konzept, das Elemente der NE (bei Ersatz von ALG II, Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld, Erziehungsgeld und Ausbildungsförderung) und der Besteuerung des laufenden Konsums und des Lebensendvermögens verbindet. Ziel ist eine am Lebenseinkommen anknüpfende Umverteilungspolitik.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

313

NE als hoch angesehen, weil Steuerzahler im erheblichen Ausmaß Transferempfänger werden. Abb. 10-7 Kosten der negativen Einkommensteuer verfügbares Einkommen (Y v)

B D

Ymin

0

Y2

0

Y2

Erwerbs- und Vermögenseinkommen (Y)

Zahl der Einkommen

Y

Der Umverteilungstarif soll Steuern und Transfers verbinden. Er kann aus einem für alle Einkommen gleichen Betrag (Ymin) und einer bei Y = 0 (statt Y1 in Abb. 10-6) einsetzenden Belastung bestehen (vgl. Abb. 10-7). Die Kosten der NE ergeben sich dann aus der mit der Einkommensverteilung gewichteten Differenz aus der Transfer/Steuerfunktion und der 45°-Linie als (10-1)

Y2

K ) D R (Y)D(Y)dY , 0

wobei Ymin das garantierte Einkommen bei Y = 0 ist. Es entspricht dem maximalen Wert des Nettotransfers R(Y). Y ist das Erwerbs- und Vermögenseinkommen und D(Y) deren Verteilung. Entscheidend für die Kosten sind also die Höhe von Ymin, der Steuertarif und die Einkommensverteilung. Hierbei werden Ymin und dR/dY politisch festgesetzt, D/Y hängt auch davon ab, wie die Anreize zur Einkommenserzielung durch den Tarif beeinflusst werden. Eine nicht in (10-1) enthaltene Entlastung erfolgt in dem Umfang, wie bestehende Transfers durch die NE ersetzt werden. Zu fragen ist weiter, ob systematische Verteilungspolitik statt auf Jahreseinkommen auf Lebenseinkommen abstellen sollte. Da das Lebenseinkommen erst nach dem Lebensende feststellbar ist, kann eine darauf abstellende Umverteilungspolitik allenfalls fortschreitend an den Jahreseinkommen anknüpfen. Hierbei sind verschiedene Probleme zu lösen, so unter anderem Unterschiede in Verlauf und Zusammensetzung der

314

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Lebenserwerbseinkommen, Vergleichbarmachung unterschiedlich langer Erwerbsphasen durch Diskontierung, Veränderungen in der Zusammensetzung der Haushalte, intertemporale Tarifgestaltung. Bei der Analyse der Auswirkungen von Transfers geht es darum, wie Bürgergeld (oder NE), Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und andere Maßnahmen das Arbeitsangebot verändern1. In Abb. 10-8 kann das Wirtschaftssubjekt bei einer Budgetgeraden AK sein Gleichgewicht in G0 bei (alleinigem) Arbeitseinkommen OD und Freizeit OC erreichen. Ein Bürgergeld in Form einer Pauschalzuweisung AL an alle Haushalte führt zu einer Budgetgeraden, die parallel zu AK beispielsweise durch L verläuft. Gleichgewicht ist dann ein Punkt auf LQ (nicht eingezeichnet). Die Bewegung von G0 in Richtung auf einen Punkt der Geraden LQ würde, wie bei der Analyse der Steuerwirkungen erklärt, zu einem reinen Einkommenseffekt führen. Abb. 10-8 Wirkungen von Steuern/Transfers auf das Arbeitsangebot Y K Q F H

E

G1

G0

D

L

M 0

C

B

A

Freizeit

Das Bürgergeld und andere Staatsausgaben müssen finanziert werden. Hierzu ist eine Pauschalsteuer, die pro Kopf größer als LA sein muss, ungenügend. Angenommen, es wird eine bei Y = 0 einsetzende proportionale Einkommensteuer eingeführt und mit dem Bürgergeld verrechnet, so dass es zur neuen Bilanzgeraden LF kommt. Das Steuer/Transfer-System belastet hier die über OE liegenden Einkommen und führt bei den unter OE liegenden Einkommen zu Zahlungen. Die (Netto-) Transfers sind bei Y = 0 (= nur Freizeit) maximal (AL) und verringern sich mit zunehmendem Arbeitseinkommen. Das neue Gleichgewicht G1 wird bei einem Arbeitseinkommen BM, aber (netto) höherem Gesamteinkommen BG1 und Freizeit OB gewählt. MG1 ist der dann zu leistende Nettotransfer. Die Gesamtwirkung von G0 nach G1 besteht zunächst in einem Einkommenseffekt (Bewegung G0 — H). Hinzu kommt ein Substitutionseffekt, der das Wirtschaftssubjekt zur Wahl von mehr Freizeit veranlasst (Bewegung H — G1), 1

Theoretisch kann die Analyse weitgehend analog zur Besteuerung mit umgekehrtem Vorzeichen durchgeführt werden. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 15.4d.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

315

weil der relative Preis der Freizeit (gemessen am Einkommen) gefallen ist. Wenn im „Normal“-Fall Freizeit ein superiores Gut ist, kommt es zu einer Erhöhung der Freizeit. Einkommens- und Substitutionseffekt wirken dann in die gleiche Richtung einer Verringerung des Arbeitsangebots. Das Bürgergeld soll generell gezahlt werden. Auf die Anwendung der grundlegenden Forderung des Individualismus, sich nach dem Subsidiaritätsprinzip zunächst selbst um die Einkommenserzielung z.B. durch Arbeitsleistungen zu kümmern, wird verzichtet. Auch das Arbeitslosengeld II sieht Sanktionen vor, wenn Arbeitsfähige ausschließlich zugunsten der Freizeit entscheiden. Allerdings lassen sich die Sanktionen in der Praxis in der Regel nicht durchsetzen, wenn die Garantie auf einen (über Konsumausgaben gemessenen) Lebensunterhalt besteht. Dabei kommt es zu nicht gelösten Konflikten der klassischen Sozialhilfe: Wenn die Reallöhne sinken, müsste wegen des bestehenden Lohnabstandsgebots die Sozialhilfe gesenkt werden, was durch die Art ihrer Berechnung nicht möglich ist (vgl. Kapitel 11.9). 4. Beurteilung und Grenzen der Umverteilung Der Erfolg staatlicher Umverteilungspolitik hängt davon ab, ob die Zielgruppen volumenmäßig erreicht werden. Hierbei sollte man vermuten, dass die Umverteilung von reichen zu armen Bürgern geht. Wegen der Vielfalt an Instrumenten ist die Inzidenz aber nur unter mehreren Annahmen im Detail zu bestimmen, denn die Umverteilungsmaßnahmen gehen teils mit anderen Zielen einher, begünstigen bestimmte Wirtschaftsbereiche (z.B. die Landwirtschaft) und sind unkoordiniert auf die personelle Verteilung ausgerichtet. Es wird von vielen Gruppen mit unterschiedlichen Programmen, Bemessungsgrundlagen und Tarifen auf viele Gruppen mit unterschiedlichen Personen, Bemessungsgrundlagen und Tarifen umverteilt, wobei das Einkommen nicht immer die (unmittelbar, wenn überhaupt) relevante Zielgröße ist. Die Effizienz der Umverteilungspolitik hängt auch von den Reaktionen ab, die bei den unmittelbar und mittelbar Betroffenen ausgelöst werden (z.B. Mieterhöhung bei Wohngelderhöhung). Durch Umverteilung kann aber auch die Verteilungsmasse (Inlandsprodukt) so beeinträchtigt werden, dass nicht nur die zielgemäß diskriminierten Wirtschaftssubjekte, sondern alle nach der Umverteilung schlechter als zuvor dastehen. Der Umverteilungsprozess hat eine Grenze in den von ihm verursachten Kosten hat. Sie kann als erreicht gelten, wenn S die Finanzierung der Maßnahmen größere Disincentives auslöst (z.B. weniger Leistungen oder risikoreiche Investitionen); S die Steuerpflichtigen den Belastungen durch illegale Handlungen ausweichen (Schattenwirtschaft, insbesondere Schwarzarbeit; Steuerhinterziehung) oder durch unbesteuerte Aktivitäten (Haushaltsproduktion) in erheblichem Umfang ersetzen; S die Steuerbasis ins Ausland verlagert wird; S die vom Staat geleisteten Transfers durch ihre Ausgestaltung Missbräuche stimulieren und S die Transaktionskosten des Umverteilungsprozesses im Verhältnis zu den Umverteilungswirkungen unverhältnismäßig hoch sind.

316

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Die negativen Anreize weisen auf Zielkonflikte hin. Opportunitätskosten können in der Beeinträchtigung von Wachstum, Beschäftigung oder Preisniveaustabilität bestehen. Es kann aber auch zu Konflikten zwischen einzelnen Verteilungszielen (darunter z.B. mit dem der sozialen Mobilität) kommen. So verursacht der Umverteilungsmechanismus Effizienzeinbußen durch Zusatzlasten von Steuern und Transfers, wenn diese einkommensabhängig (und ggf. progressiv) und nicht pauschal geleistet werden (vgl. Kapitel 15.4). Die Befürchtung des Konflikts zwischen Effizienz und Umverteilung, insbesondere die Gefährdung des Wachstums, könnte den Wunsch nach Nivellierung begrenzen, was aber ein entsprechendes Verständnis der relevanten Wähler voraussetzt. Absolute Grenzen der (Abgaben bzw.) Umverteilung liegen bei Tariferhöhungen vor, die das Aufkommen nicht steigern sondern senken („Swiftsches Steuereinmaleins“, neuerdings auch „Laffer-Effekt“ genannt1). Wenn Einkommensdifferentiale zu mehr oder qualitativ höherwertigen Leistungen beitragen, reduziert eine Einkommensangleichung die Anreize zu solchen Leistungen mit der Folge, weniger und schlechter zu arbeiten, keine langwierigen Ausbildungsphasen einzugehen usw. Sinkende (Netto-) Ertragsraten können die Investitionsneigung und die Sparquote verringern. Risikoreiche Entscheidungen werden unterlassen, wenn die hieraus resultierenden Vorsprungsgewinne für Pionierleistungen egalisiert werden. Der Standort wird ins Ausland verlagert. Negative Effekte sind insbesondere zu erwarten, wenn die Erträge bzw. Einkommen nicht mehr zur Zahlung der Steuern ausreichen und die Substanz belastet wird. Das gilt für alle vermögensabhängigen Steuern, aber auch für inflationsbedingte Substanzverluste (z.B. bei der Einkommensteuer). Welches Ausmaß an Umverteilung lässt der politische Prozess unter diesen Bedingungen erwarten? Die Wähler werden im eigenen Interesse abstimmen. Da das Einkommen des Medianwählers kleiner als das Durchschnittseinkommen ist, kann der Medianwähler Nettoerträge erwarten, wenn die über dem Durchschnitt liegenden Einkommen umverteilt werden. Politiker wollen Wähler in der Nähe des Medianwählers anziehen, indem sie Erträge anbieten, die für die über dem Median liegenden Einkommen Nettokosten darstellen. Bürger mit niedrigerem Einkommen scheinen daher die politische Macht zu haben, Reicheren umverteilende Steuern aufzuerlegen. Die aggressive Ausübung der Mehrheitsmacht kann somit zu stärkerer Gleichverteilung nach Steuern und Transfers führen. Tullock (1998) hat darauf hingewiesen, dass bei einem Mehrheitsverfahren die unteren 51% der Einkommensbezieher die oberen 49% ausbeuten können. Woran liegt es, dass diese Situation noch nicht eingetreten ist (Paradoxon der Umverteilung)? Die ausgeprägte linkssteile Verteilung der Leistungseinkommen – dichte Besetzung der unteren und dünne Besetzung der oberen Einkommensgruppen – kann die Umverteilungsmöglichkeiten begrenzen, „denn die hohen Einkommen allein reichen nicht aus, um die gewünschte Besserstellung der Bezieher niedriger Einkommen zu erreichen; da man andererseits bei einem Heranziehen von Einkommensbeziehern 1

Swift hat 1728 beschrieben, wie eine Erhöhung der Zölle auf Seide und Wein das Steueraufkommen fallen ließ, weil Schmuggel und Bannbruch plötzlich überhand nahmen.

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

317

in dichter besetzten Einkommensgruppen, die auch Facharbeiter mit umfassen, einen zu großen politischen Widerstand befürchtet, bleibt die steuerlich bewirkte Umverteilung insgesamt hinter dem an sich angestrebten Ziel zurück“ (Albers 1980a, S. 212). Bedeutung kann auch der Umstand haben, dass sich der Medianwähler in der unteren Mittelklasse befindet, die wenig Neigung zu großer Umverteilung zeigen dürfte. Das mag an den eigenen Aufstiegserwartungen bzw. -wünschen liegen, deren Erfolgsmöglichkeit durch zu starke Umverteilung beeinträchtigt werden kann. Ist die Chance des sozialen Aufstiegs gewährt, sind die Einkommensunterschiede tolerierbar. Bei fehlender Umverteilung ist allerdings auch die Möglichkeit für eigenes Absinken größer, so dass (zumindest ein geringes Maß an) Umverteilung erwünscht sein dürfte. Breyer/Ursprung (1998) weisen darauf hin, dass die über dem Durchschnitt liegenden Einkommensbezieher die zwischen Median- und Durchschnittseinkommen liegenden Wähler bestechen könnten, um für ihren eigenen Einkommensbereich von größerer Umverteilung verschont zu werden. Ausdruck hierfür könnten z.B. steuerliche Vergünstigungen bei Eigenheimen oder Subventionierung von Gütern des Mittelklasseverbrauchs (Theater, Oper, Studiengebühren) sein. Für das Ausmaß der Umverteilung kann auch die Kontrolle der Ressourcen eine wesentliche Dimension im politischen Prozess spielen. Ressourcen sind erforderlich zur politischen Organisation, Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -verbreitung an potenzielle Wähler. Hinzu kommt, dass verteilungspolitische Maßnahmen auf verschiedene Aspekte und Zielgruppen ausgerichtet sind und Wahlentscheidungen nicht nur verteilungsbezogen erfolgen müssen. Ein Großteil der Umverteilung spielt sich ferner innerhalb der mittleren Einkommensklasse ab, wobei die Stärke der einzelnen Gruppen darin für das Ergebnis des Verteilungsprozesses bedeutsam sein dürfte. Die widersprüchlichen Umverteilungselemente in nahezu jedem öffentlichen Programm zeugen jedenfalls von der Rücksichtnahme auf viele Gruppen, die sich befriedigt fühlen sollen. Weil sie weitgehend nicht die tatsächliche Verteilung und die Wirkungen verteilungspolitischer Maßnahmen kennen1, dürften viele Bürger falsche Vorstellungen von der Umverteilung entwickeln. Hierbei ist von Bedeutung, ob man auf die Wirkungen oder auf die eingesetzten Mittel abstellt: Die insgesamt von der Politik des Staates ausgehenden Nivellierungswirkungen sind sehr viel geringer, als der Umfang der zum Zwecke der Umverteilung eingesetzten Mittel vermuten lässt. Würden beispielsweise die im „Sozialbudget“ (vgl. Kapitel 11.1) erfassten Finanzmittel in etwa das Ausmaß der erwünschten Umverteilungswirkungen widerspiegeln, dann dürfte das Ausmaß der erreichten Nivellierungswirkungen deutlich unterhalb des erwünschten Nivellierungsausmaßes liegen. „Diskutiert man das Ausmaß der von Staat eingesetzten verteilungspolitischen Mittel, so kann man durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass die staatliche Umverteilungspolitik die ,vertretbare’ Obergrenze überschritten hat, dass ,die Grenzen des Sozialstaates’ erreicht sind, während man gleichzeitig den Differenzierungsgrad der bestehenden per1

Das dürfte politisch durchaus erwünscht sein, um die verschiedenen Interessengruppen im Glauben an besondere Vergünstigungen, Nichtbenachteiligungen usw. zu lassen.

318

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

sonellen Einkommensverteilung für zu hoch, die durch den Staat erreichten Nivellierungswirkungen für zu gering hält. Ein Großteil der Meinungsverschiedenheiten in der Frage eines weiteren Ausbaus des Sozialstaates dürfte hierin begründet liegen: Dass nämlich die Kritiker das Ausmaß der eingesetzten Mittel, die Befürworter das Ausmaß der erreichten Wirkungen ansprechen, beide jedoch zum Teil dasselbe meinen: eine relativ geringe Effizienz der staatlichen Umverteilungspolitik im Hinblick auf das Ziel einer stärkeren Nivellierung der personellen Einkommen“ (Knappe 1980, S. 26)1. Schließlich sind die Ziele der Repräsentanten als selbst von der Umverteilung Betroffene zu beachten. Sie befinden sich in den höheren Einkommensklassen, was ihr Umverteilungsziel insgesamt eher beschränken dürfte. Entsprechendes gilt zumindest für die Spitzen der an den Entscheidungen mitwirkenden Bürokratie. Gleichzeitig wird versucht, durch Sonderregelungen für Parlamentarier, politische Beamte u.ä. die eigene Gruppe aus dem Umverteilungsprozess auszunehmen (z.B. durch Steuerfreiheit für Diäten, besondere Alterssicherung u.ä.). Literatur zum 10. Kapitel Einen Überblick über Determinanten der personellen Verteilung und damit Ansatzpunkte einer Verteilungspolitik liefert Grüske (1985, insbesondere 3. Kapitel). Zu den Möglichkeiten finanzpolitischer Verteilungspolitik siehe Albers (1980c, 1982b), Andersen (1976), Krause-Junk (1977), Brümmerhoff (1977) und Bohnet (1999). Die (Um-)Verteilungspolitik in der Bundesrepublik stellen Albers (1982b, c) und die Transfer-Enquête-Kommission (1981) dar. Zur Einkommensumverteilung im Rahmen der Einrichtungen der sozialen Sicherheit siehe Schmähl (1977). Zum Einsatz der Steuern für die Umverteilung siehe Wulf (1983), der Transfers Albers (1977a) und der Subventionen Hansmeyer (1977). Die Beeinflussung der Vermögensverteilung untersuchen Fecher (1974), Föhl (1958/59, 1964) und Pohmer (1981); speziell zur Erbschaftsbesteuerung als Instrument siehe Oberhauser (1980). Eine umfassende Darstellung vermögenspolitischer Maßnahmen gibt Althammer (1997). Erklärungen der Umverteilung liefert Knappe (1980), Grenzen der Umverteilung behandeln Collard (1980), Albers (1982c,e) und Grüske (1985, 14. Kap.). Zum Staat als Arbeitgeber und als Auftraggeber siehe Andel (1983b), Bös (1977a, 848-854), Ehrlicher (1977, 784-792), Gandenberger (1980a) und Mackscheidt/Steinhausen (1977). Geld- und Sachtransfers vergleichen Currie/Gahvari (2008). Zur Förderung des Vorsorgesparens siehe Leinert (2006). Die Problematik der Studiengebühren behandelt der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (2010). Ein bildungspolitisches Programm, das 1

Bemerkenswert ist, dass das Zitat von 1980 stammt. Seitdem hat sich die Entwicklung hinsichtlich Übersichtlichkeit und Effizienz kaum gebessert. Beispiel ist die Förderung von Kindern, die über hohe Transfers erfolgt, aber bei Kindern insbesondere aus der Unterschicht wenig bewirkt. Das zeigt sich an ihrer Chance Abitur zu machen. „Es ist die Lebenslüge des deutschen Sozialstaats, dass man nur genug Geld ausschütten müsse, um Gerechtigkeitslücken aufzufüllen“ (Der Spiegel 39/2010, S. 95).

10. Kapitel: Finanzpolitische Ansatzpunkte

319

insbesondere in jungen Jahren und bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern ansetzt, schlägt der Sachverständigenrat (2009, 7. Kapitel) vor. Das Konzept der negativen Einkommensteuer stellen Metze (1982), Petersen (1997) und Gern (1999), eine Konzeption des Bürgergeldes Mitschke (2003) dar. Einen Vergleich Grundeinkommen und Kombilohn führen Fuest/Peichl (2008) durch.

11. Kapitel Theorie und Politik der sozialen Sicherung 1. Umfang und Struktur der sozialen Sicherung in Deutschland Im Rahmen der gesamten finanzwirtschaftlichen Aktivität des Staates spielen die Einnahmen und Ausgaben der sozialen Sicherung eine besondere Rolle und haben maßgeblich zum Anstieg der Staatsquote beigetragen (vgl. 2. Kapitel). Diese Einnahmen und Ausgaben („Sozialleistungen“) finden ihren Niederschlag im Sozialbudget1, das allerdings nicht nur öffentliche Maßnahmen sondern auch solche der Unternehmen zur sozialen Sicherung enthält. Der Staat geht insbesondere mit der Sozialversicherung und der Sozialhilfe in das Sozialbudget ein, aber z.B. auch die Maßnahmen zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer oder Steuer2- und Zinsermäßigungen aus sozialen Gründen werden erfasst. Tab. 11-1 zeigt die Zusammensetzung des Sozialbudgets hinsichtlich der Leistungen nach Institutionen, Funktionen und Finanzierungsarten. Bezieht man die so abgegrenzten Sozialleistungen auf das Bruttoinlandsprodukt, ergibt sich eine Sozialleistungsquote3 von 23,9 % (1970) und 31,5 % (2009). Innerhalb des Bereichs der sozialen Sicherung kommt der Sozialversicherung eine besondere Bedeutung zu. Im Sozialbudget werden die der sozialen Sicherung dienenden (insbesondere öffentlichen) Einnahmen und Ausgaben dargestellt. Der Haushaltsplan z.B. des Bundes weist dagegen im Bereich der Sozialversicherung nur die Ströme aus, die zwischen Bund und Sozialversicherungsträgern fließen, d.h. insbesondere Zuschüsse des Bundes. Eine Bruttoveranlagung der Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherungen findet im Bundeshaushalt nicht statt. Die Sozialversicherungen sind Parafiski mit einer gewissen Unabhängigkeit vom staatlichen Haushaltsgebaren. In diesem Kapitel werden einige Aspekte der Sozialversicherung (gesetzliche Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Pflege- und Unfallversicherung) und der Sozialhilfe als weiterem Bereich der sozialen Sicherung behandelt. 2. Gestaltungsprinzipien der sozialen Sicherung Die soziale Sicherung der privaten Haushalte kann unterschiedlich gestaltet werden. In der Regel werden mehrere allgemeine Prinzipien unterschieden, die auch bei der institutionellen Abgrenzung und Beziehung der einzelnen Bereiche der sozialen Sicherung zugrunde gelegt werden: 1 2 3

Es ist kein Budget im Sinne eines öffentlichen Haushaltsplans, sondern Teil des Sozialberichts der Bundesregierung. Hierzu wird im Rahmen des Sozialbudgets z.B. auch das Ehegatten-Splitting gerechnet. Die auf Basis der VGR oder der Finanzstatistik berechnete Sozialausgabenquote schließt hiervon abweichend im Zähler nur die öffentlichen Ausgaben ein, erfassen also nicht die sozialen Leistungen nichtstaatlicher Institutionen wie Kirchen oder Wohlfahrtsverbände.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

321

Tab. 11-1 Das Sozialbudget in Mrd. Euro1 Leistungen nach Institutionen Sozialversicherungssysteme4 Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung2 Unfallversicherung Arbeitsförderung

Sondersysteme Leistungssysteme des öff. Dienstes Leistungssysteme der Arbeitgeber Entschädigungssysteme5 Förder- und Fürsorgesysteme darunter: Kindergeld und Familienlastenausgleich Erziehungsgeld und Elterngeld Grundsicherung für Arbeitssuchende Arbeitslosenhilfe u. sonst. Arbeitsförderung Sozialhilfe Kinder- und Jugendhilfe Steuerliche Leistungen Sozialbudget insgesamt Leistungen nach Funktionen Kinder Ehegatten Mutterschaft Krankheit Invalidität (allgemein) Arbeitslosigkeit Alter Hinterbliebene Wohnen Allgemeine Lebenshilfen

1991

2000

20092

1970

1980

1990

40,3 26,5 12,9 2,0 1,8

122,8 72,4 45,4 4,8 10,7

196,6 109,3 71,6 6,6 20,4

252,7 133,2 92,7 7,6 35,6

396,8 217,4 132,1 16,7 10,8 49,7

463,5 250,2 168,6 20,3 11,4 39,7

0,6 12,3 9,2 6,0 4,7

1,9 23,7 23,0 8,9 23,2

3,3 32,8 37,7 8,4 37,9

3,6 34,5 43,9 8,7 55,5

5,2 49,6 53,7 6,4 98,8

6,7 55,1 61,4 3,4 139,1

1,5 0,0 1,6 0,9 11,1 84,2

8,8 0,9 6,5 4,3 19,8 222,9

7,4 2,5 4,6 14,2 6,8 23,4 338,3

10,4 3,2 9,0 18,1 10,9 27,2 423,6

32,0 3,7 14,9 25,8 17,3 38,1 643,2

39,3 4,7 46,1 0,1 24,6 20,7 32,6 753,9

8,4 7,5 0,7 20,8 5,4 1,8 23,5 10,9 1,7 0,4

20,6 14,4 2,0 62,7 15,4 8,1 59,5 26,6 4,9 0,9

28,1 14,6 2,5 95,4 26,1 19,3 97,0 36,1 6,4 1,4

38,5 17,4 2,7 118,1 33,1 34,1 117,4 39,0 7,2 1,6

64,9 25,9 3,9 169,7 48,7 47,6 194,2 49,7 13,9 3,4

71,4 22,8 5,5 208,6 55,8 50,2 237,8 49,7 18,9 4,6

3

Sozialbudget insgesamt Finanzierung nach Arten Sozialbeiträge der Versicherten Arbeitgeber Selbständige Eigenbeiträge Übrige der Arbeitgeber tatsächliche Beiträge unterstellte Beiträge

81,0

215,1

326,9

409,1

621,8

725,3

51,7 18,7 16,7 0,5 0,1 1,4 33,1 18,4 14,6

146,8 52,9 46,7 2,5 0,3 3,3 93,9 56,2 37,8

242,5 95,4 78,2 4,3 6,7 6,2 147,1 92,3 54,9

296,1 118,2 99,9 4,7 8,9 4,8 177,9 117,6 60,3

416,1 174,3 143,1 7,3 15,5 8,3 241,8 165,5 76,3

463,2 207,5 163,8 9,6 21,5 12,5 255,7 178,0 77,8

Zuschüsse des Staates Sonstige Einnahmen Sozialbudget insgesamt

32,8 4,1 88,7

80,1 6,1 233,0

107,9 9,0 359,4

140,1 10,9 447,1

239,3 14,6 670,0

299,5 14,7 777,4

1

Bis 1990 früheres Bundesgebiet einschl. Berlin (West), ab 1990 Deutschland. geschätzt. 3 Institutionen ohne Verrechnungen. 4 Sozialversicherungssysteme und Sozialbudget insgesamt konsolidiert um die Beiträge des Staates. 5 Im Wesentlichen für die Kriegsopferversorgung, den Lastenausgleich und die Wiedergutmachung sowie sonstige Entschädigungen 6 Ohne Verwaltungs- und sonstige Ausgaben. 2

Quelle: Sachverständigenrat, JG 2010/11, Tab. 48*/49*.

322

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

S das Subsidiaritätsprinzip, S das Final- und das Kausalprinzip, S das Versicherungs-, das Versorgungs- oder das Fürsorgeprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip betont die Selbstverantwortung des Menschen und der kleineren Gemeinwesen. Es besagt, dass immer das kleinste, personennächste Kollektiv, welches die jeweilige Aufgabe bewältigen kann, vorrangig zuständig sein sollte. Übergeordnete größere Gemeinwesen sollen nur dann Aufgaben übernehmen, wenn die kleineren Kollektive diese nicht (mehr) bewältigen können1. Dabei darf die Verteilung der Rechte und Pflichten im Familienverband oder in der Beziehung zwischen Personen und Gebietskörperschaften nicht systematisch durchbrochen werden. Gestaltungselemente im System der sozialen Sicherung können auch das Finalprinzip und das Kausalprinzip sein. Beim Finalprinzip geht es darum, bestimmte Tatbestände (z.B. Einkommenslosigkeit) so zu gestalten, dass unabhängig von der Verursachung der gleiche Endzweck erreicht werden kann. So ist die Sozialhilfe weitgehend am Finalprinzip orientiert. Der Hilfebedürftige erhält Unterstützung aufgrund des einzigen Tatbestandes Hilfsbedürftigkeit, unabhängig davon, welche Ursache dafür verantwortlich ist. Demgegenüber stellt das Kausalprinzip, welches in der Sozialversicherung angewendet wird, auf die Ursachen bestimmter individueller Schäden oder Notstände ab. Durch einzelne Tatbestandsmerkmale (Alter, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit) wird ein bestimmter Sicherungsbedarf festgestellt und durch die zuständigen Institutionen gedeckt. Ein nach dem Kausalprinzip aufgebautes System versucht individuelle Schäden und Notstände fallweise auszugleichen. Das Versicherungsprinzip verlangt strikte, versicherungsmathematische Äquivalenz von Beitrags- und Leistungskapitalwerten. Diejenigen, die Beiträge zahlen, erhalten – unabhängig von ihrer materiellen Situation – bei Eintritt des Versicherungsfalls bestimmte, feststehende Geldleistungen. Die Leistungen der Versicherung sind folglich an Gegenleistungen (Beiträge) geknüpft. Das Fehlen solcher Beitragszahlungen und die vollständige Finanzierung aus dem Steueraufkommen sind wesentliche Gestaltungselemente des Versorgungsprinzips (Beispiel: Kriegsopferversorgung). Dennoch hat der Einzelne einen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat auf feste Bezüge. Das Versorgungsprinzip sichert insbesondere die Gewährleistung der Grundbedürfnisse für jedes Mitglied der Gesellschaft, das einen Anspruch auf Ausgleich für (vermutete) Nachteile, Schäden oder Opfer hat, die es auf sich nehmen musste. Ein Sonderfall des Versorgungsprinzips stellt die Beamtenversorgung dar. Sie wird mit dem besonderen Treue- und Dienstverhältnis zwischen Staat und Beamten gerechtfertigt. Beim Fürsorgeprinzip (Beispiel: Sozialhilfe) werden Leistungen nur in bestimmten Notlagen nach Prüfung der Bedürftigkeit erteilt. Das Solidaritätsprinzip als (noch nicht genannte) weitere Richtschnur verteilungspolitischen Handelns ist gewissermaßen eine Klammer um die übrigen Ausrichtungen. 1

Das Subsidiaritätsprinzip ist auch für die Beziehung verschiedener Gebietskörperschaften und sonstiger öffentlicher Körperschaften in einem Staat und zu supranationalen Organisationen wie der EU wichtig (vgl. 26. und 28. Kapitel).

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

323

Es verlangt das Einstehen der Solidargemeinschaft für den Einzelnen, ist aber auf Reziprozität angelegt. Der Einzelne ist verpflichtet, seinen Beitrag zu leisten und soll die Solidargemeinschaft nicht ungerechtfertigt in Anspruch nehmen. Der Staat muss daher bei der Ausgestaltung der verteilungspolitischen Instrumente die entsprechende Anreizkompatibilität gewährleisten. Diese Prinzipien werden allerdings nicht konsequent in der Praxis der sozialen Sicherung umgesetzt, was einerseits auf die Komplexität der sozialen Probleme hinweist, andererseits aber eine gewisse Beliebigkeit der Ausgestaltung durch die Politik ausdrückt. 3. Sozialversicherung und private Versicherung Die Kennzeichnung „Sozialversicherung“ weist auf zwei Eigenschaften hin: „Versicherung“ und „sozial“. Versicherungen stellen die planmäßige Deckung eines im Einzelnen (grundsätzlich) zufälligen, im Ganzen aber abschätzbaren Geldbedarfs durch Risikoausgleich zwischen den von derselben Gefahr bedrohten Wirtschaftseinheiten dar. Das Verfahren ist nur auf versicherbare Risiken anwendbar. Das sind solche Risiken, S die gleichartig sind, S die eine ausreichend große Zahl von Personen betreffen, S bei denen der Eintritt des Schadens zufällig erfolgt (d.h. die Schadensfälle dürfen nicht voneinander abhängig sein, und der Versicherte darf nicht in der Lage sein, den Eintritt des Schadens herbeizuführen), S für die die Gesamtsumme des Schadens kalkulierbar ist. Über Beitragsleistungen (Prämien) werden die finanziellen Mittel aufgebracht, die zur Abdeckung auftretender Schadensfälle erforderlich sind. Bei privaten Versicherungen spielen zur Errechnung der Prämie Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensumfang eine wichtige Rolle. Eine Versicherung wird als fair bezeichnet, wenn der Barwert der Prämienzahlungen dem Barwert der Leistungen im Schadensfalle1 entspricht. Bei der Festlegung der Prämienstrukturen privater Versicherungen handelt es sich um einen normalen Preisbildungsprozess auf einem staatlich regulierten Markt (Meierjürgen 1989, S. 15-17). Sozialversicherungen verbinden Elemente des Versicherungsprinzips mit Regelungen, die explizit der Umverteilung („sozialer Ausgleich“) über das versicherungsbedingte Risiko hinaus zwischen verschiedenen Mitgliedsgruppen dienen oder wenigstens damit begründet werden. Umverteilung wird in der Praxis an mehreren Merkmalen sichtbar: 1

Die Größen sind nicht rein technisch gegeben, sie schließen insbesondere Vertragsabschlusskosten, Gewinne der Versicherungen und einen Sicherheitszuschlag für zufallsbedingte Schwankungen der Gesamtleistungen ein. Ferner sind Reaktionen der Versicherten auf unterschiedliche Tarifbedingungen zu berücksichtigen.

324

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

S Die Beiträge werden unabhängig vom individuellen Risiko festgelegt, sie knüpfen primär am Einkommen aus unselbständiger Arbeit an. Die Leistungen, die den Anspruchsberechtigten gewährt werden, sind nur teilweise oder überhaupt nicht an den gezahlten Beiträgen orientiert. S Bei unterschiedlichen Beiträgen können folglich gleiche Leistungen erbracht bzw. auch Leistungen an Personen gewährt werden, die gar keine Beiträge gezahlt haben (z.B. mitversicherte Familienangehörige). S Ein Leistungsausschluss oder ein Ausschluss wegen zu hohen Risikos ist nicht möglich; alle Mitglieder der Versicherungsgemeinschaft tragen das jeweilige Risiko gemeinsam. S Die Teilnahme an der Sozialversicherung beruht weitgehend auf Zwang1. Allerdings sind die Programme nicht bedürfnisabhängig, d.h. um Leistungen zu empfangen muss keine finanzielle Notlage nachgewiesen werden. Man bekommt die Leistungen aber auch nicht wegen einer finanziellen Notlage. Dadurch unterscheidet sich die Sozialversicherung etwa von der Sozialhilfe. Die am Versicherungsprinzip und nicht ausschließlich am Versorgungs- oder Fürsorgeprinzip (bei gleichzeitiger Steuerfinanzierung dort) erfolgende Ausrichtung kommt darin zum Ausdruck, dass bewusst zwischen dem Sozialversicherungssystem und den Haushalten der Gebietskörperschaften unterschieden wird. Ziel der Sozialversicherung kann es sein, eine gewisse Einkommensstetigkeit zu gewährleisten und die Bürger im Risikofall – z.B. Einkommensausfall durch Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Alter oder Arbeitslosigkeit – nicht nur durch eine einheitliche Mindestversorgung zu sichern, denn dann würde ihr Lebensstandard auf ein staatlich garantiertes Existenzminimum absinken. Die über mehrere Jahrzehnte erfolgte Ausweitung der (insbesondere sog. versicherungsfremden) Leistungen und die erheblichen Zuschüsse an die Träger der Sozialversicherung sowie die (behauptete, tatsächlich nicht immer bestehende) Zweckbindung von Teilen des Steueraufkommens für die gesetzliche Rentenversicherung verwischen die Grenzen zwischen Gebietskörperschaften und Sozialversicherung. Wenn die Sozialversicherung Teil eines umfassenden Umverteilungssystems sein soll, müssten die Beiträge, Steuern und übrigen Abgaben und der Bezug von Leistungen sowie die Abgabepflichtigen und Leistungsempfänger abgestimmt werden. Die interpersonelle Einkommensumverteilung kann dann nur am Gesamteinkommen einer Bezugseinheit (Person, Haushalt) ausgerichtet sein, nicht aber an verschiedenen wie dem der Einkommensteuer zugrunde liegenden Einkommen und dem Arbeitsentgelt in der Sozialversicherung. Entsprechendes gilt für die der Umverteilung unterworfenen Einheiten. Tatsächlich haben sich die einzelnen umverteilungspolitischen Maßnahmen in Deutschland weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Das verhindert die Transparenz, erhöht die Transaktionskosten und beeinträchtigt eine effiziente Versi-

1

Es besteht allerdings auch ein Zwang zum Abschluss privater Versicherungen (z.B. in der Kraftfahrzeughaftung), wenn bestimmte Tatbestände (Halten eines Kfz) vorliegen.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

325

cherungs- und Umverteilungspolitik. Transparenz und Effizienz wurden von den politischen Entscheidungsträgern in der Vergangenheit vermutlich gerade nicht angestrebt. 4. Begründungen für die Sozialversicherung Nimmt man „sozial“ als Gegensatz zu „privat“, stellt sich die Frage, warum nicht das gesamte Versicherungssystem privat sein, sondern ein (größerer) Teil der Absicherung gegenüber den Lebensrisiken staatlich erfolgen soll. Ein Grund könnte sein, dass der Marktmechanismus zwar grundsätzlich eine effiziente Güterbereitstellung bewirkt, aber bei der Abdeckung verschiedener Risiken versagt. Das kann auf asymmetrischen Informationen über Risiken bei Versicherungen beruhen: wenn der Einzelne die Schadenswahrscheinlichkeit besser als der Versicherer einschätzen kann, ist eine Ansammlung unerwünschter Risiken möglich (Adverse-selection-Problem). Für die besser informierte Marktseite besteht auch die Möglichkeit, das Eintreten eines Ereignisses selbst zu bestimmen, ohne dass die Gegenseite diese Handlung feststellen und kontrollieren kann (Moral-hazard-Problem). Beide Probleme tragen auf Versicherungsmärkten wegen der einseitigen Selektion schlechter Risiken zu hohen Preisen der Versicherungsleistungen bei und verhindern so risikoadäquate Verträge. Bei Marktversagen von Versicherungen liegt es zwar nahe, entsprechende Zwangsversicherungen zu fordern. Dann können aber gute Risiken die Versicherung nicht meiden. Versicherungszwang ruft also keine Paretoeffizienz herbei. Die Probleme aus Adverse Selection und Moral Hazard werden nur teilweise beseitigt, indem man alle, die bestimmte Bedingungen erfüllen, einer Gruppe von Zwangsversicherten zuordnet. Mit dem Mittel der Poolbildung reagiert der Staat dabei nicht anders auf Informationsprobleme als private Versicherungen. Das gilt auch, wenn die gesetzliche wie die private Krankenversicherung beispielsweise auf Mittel der Selbstbeteiligung zurückgreift oder gar Rationierung wählt. Mit Marktversagen kann also allenfalls ein Versicherungszwang begründet werden. Öffentliche Versicherungen sind so aber nicht zu rechtfertigen, sie lösen das Informationsproblem nicht besser als private Unternehmen1. Wenn die Wahrscheinlichkeit der Schadensereignisse nicht kalkulierbar ist, kommen Versicherungsmärkte überhaupt nicht zustande. Beispiel: Langandauernde Arbeitslosigkeit. Für diesen Fall ist nur schwer individuelle Vorsorge zu treffen, so dass die Einführung einer zwangsweisen Arbeitslosenversicherung prinzipiell begründet erscheint2. Bei einer fairen Versicherung (Äquivalenz) erzielt der Einzelne durchschnittlich einen Barwert an Leistungen, der dem Barwert seiner Beiträge einschließlich der Verzinsung unter Berücksichtigung des allgemeinen Risikos und der Verwaltungskosten 1 2

Möglicherweise kann der Staat öffentliche Unternehmen mit mehr Kontrollrechten ausstatten als er sie privaten gewähren würde. Neben Massenarbeitslosigkeit als gesellschaftlichem Problem ist auch Moral Hazard bei der Überprüfung von Arbeitslosigkeit bedeutsam.

326

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

entspricht. Prämien können für einzelne Risikogruppen berechnet werden, soweit entsprechende Daten vorliegen. Die Differenzierung kann aber politisch unerwünscht sein, beispielsweise wenn trotz unterschiedlicher Gesundheitsausgaben und Lebenserwartungen Männer und Frauen nicht verschiedene (Frauen nämlich höhere) Prämien zahlen dürfen. Bei Differenzierung müssen Personen mehr für Risiken (z.B. Geschlecht) bezahlen, die sie nicht kontrollieren können. Dann ist Versicherungszwang eine Lösung, die die Risikodifferenzierung vermeidet und zu einem Risikopooling führt. Diese Umverteilung nach Risiken wird bei einkommensabhängigen Beiträgen verstärkt. Versicherungen, die ein Pooling betreiben, bekommen bei einheitlicher Prämie keine guten Risiken, wenn andere Angebote vorliegen. Im rein privaten System erhalten die schlechten Risiken und Personen mit geringen Einkommen keinen Versicherungsschutz – auch nicht bei allgemeiner Versicherungspflicht ohne Kontrahierungszwang der Versicherungen. Allgemeine Versicherungspflicht kann daher z.B. im Bereich der Krankenversicherung nicht mit einer nach dem Gesundheitsstand, Alter oder Geschlecht differenzierenden Prämie einhergehen. Für Sozialversicherungen wird auch vorgebracht, dass das einzelne Wirtschaftssubjekt nicht oder nicht ausreichend weitsichtig genug oder in der Lage ist, freiwillige individuelle Vorsorge für die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit zu betreiben. Ohne Versicherungszwang würde die Bevölkerung nicht ausreichende Vermögensanlagen ansammeln (können), um ein adäquates Konsumniveau bei Erwerbslosigkeit zu finanzieren. Die Sozialversicherung könnte daher ein meritorisches Bedürfnis sein, das einen Eingriff des Staates wünschbar macht. Die Begründung überzeugt allerdings dann nicht, wenn man von einem individualistischen Ansatz ausgeht und den Einzelnen selbst für seine Entscheidungen verantwortlich hält. Um das Argument zu überprüfen, müsste man auch herausfinden, wie sich die Menschen bei fehlender Sozialversicherung tatsächlich entscheiden würden. Das ist kaum möglich (vgl. Wagner 2000, S. 126), wenn auch hohe Gegenwartspräferenzen wahrscheinlich sind. Wenn ausreichende Vorsorge und die Bereitstellung von Versicherungsleistungen das Ziel sind, kann der Versicherungszwang mit Äquivalenz einhergehen. Auch dann können die einzelnen Wirtschaftssubjekte prinzipiell zwischen verschiedenen Versicherungsanbietern wählen. Eine staatliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen ist nicht zu rechtfertigen. Tatsächlich sind die auf die Einzelnen entfallenden Sozialversicherungsleistungen aber nur teilweise oder gar nicht durch die von ihnen geleisteten Beiträge bestimmt. Daher werden – bei gleichen Risiken – diejenigen mit hohen Beiträgen implizit zu Gunsten derjenigen besteuert, die subventioniert werden. Sozialversicherungsprogramme beinhalten interpersonelle, intergenerative, branchenmäßige und regionale Einkommensumverteilung. Das erklärt (rechtfertigt aber nicht), warum sie zwangsweise und nicht privat herbeigeführt werden: Diejenigen, die durch das System verlieren, würden aussteigen. Versicherungszwang kann als eine Folge der von der Gesellschaft garantierten Mindesteinkommenssicherung gesehen werden. So gewährleistet die Sozialhilfe ohne eigene Versicherungsbeiträge, dass das individuelle Einkommen eine gewisse Grenze

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

327

nicht unterschreitet (auch für Krankenversicherung ist gesorgt). Damit ist aber der Anreiz zur eigenen Absicherung bei Krankheit, Alter usw. insbesondere für Bezieher niedrigerer Einkommen gering. Um die Schwarzfahrersituation zu vermeiden, liegt ein Versicherungszwang nahe. Er internalisiert negative externe Effekte, die entstehen, weil die gesamte Gesellschaft – soweit sie Steuern zahlt – die Mittel der Mindestsicherung tragen muss. Allokativ kann ein Versicherungszwang auch mit einkommensabhängigen Beiträgen dann zweckmäßig sein, wenn Reichere so Ärmere subventionieren, unter Einbeziehung ersparter Sozialhilfe aber eine kostengünstigere Lösung als ohne diese Umverteilung in der Sozialversicherung erreichbar ist (Strassl 1988). Einen Versicherungszwang kann man ferner unter der Bedingung des „Schleiers des Nichtwissens“ zu begründen versuchen. Wenn die individuellen Merkmale, Risiken und Lebenschancen noch unbekannt sind, werden risikoaverse Individuen einer Versicherung zustimmen, die ein für alle gleiches Risiko zugrunde legt. In diesem Zustand der Unsicherheit über die künftige Einkommensposition werden sie eine Sozialversicherung akzeptieren, die Umverteilungsmaßnahmen einschließt. Sie wirkt trotz der Ankündigung von Umverteilung in der Risikogemeinschaft in der Regel nutzenstiftend, weil die Unsicherheit aus den Lebensrisiken reduziert wird. „Da der Versicherungsvertrag ex ante geschlossen werden muss, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Individuen noch gar nicht real zustimmen können, folgt daraus ein staatlicher Versicherungszwang mit einem für alle gleichen Risiko“ (Ott 2003, S. 493). Er ist Paretoeffizient, weil (ex ante) niemand schlechter gestellt wird; hiermit ist sogar eine Umverteilung von Reich zu Arm vereinbar. Nur darf die Gesamtbelastung aus allen Zwangsversicherungen dann nicht unkoordiniert an verschiedenen Teileinkommen, sie muss vielmehr am Gesamteinkommen anknüpfen, d.h. die Umverteilungskomponente wird auch bei dieser Begründung über das Steuer/Transfersystem abgewickelt. Eine Sozialversicherung, insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung, könnte auch damit begründet werden, dass nur mit ihr die finanziellen Risiken von Naturkatastrophen, Kriegen oder Inflation zu bewältigen seien. Dem lässt sich allerdings durch nationale und internationale Diversifizierung privater Versicherungen Rechnung tragen, wodurch Kapital in die günstigste Verwendung gelangt (vgl. Börsch-Supan 1999). Auch Probleme am Finanzmarkt (wie die ab 2007) können zu erheblichen Risiken und zu großen Wertverlusten führen (vgl. Börsch-Supan 2010a). Schließlich können private Versicherungen, z.B. wegen systematischer Fehleinschätzung des Risikos am Kapitalmarkt, Konkurs anmelden und ihre Versicherungsleistungen nicht erbringen. Um das auszuschließen, bedarf es staatlicher Regulierungen. Auch (private und staatliche) Sicherungsfonds können diesem Risiko entgegenwirken. Je stärker mit dem Kapitalmarktrisiko begründete Eingriffe sind (und das Risiko verringert wird), umso mehr fällt die erwartete Rendite. Die einzelnen Begründungen für Zwangsmaßnahmen verlangen, dass die Versicherung ohne Ausnahmen und Gestaltungsmöglichkeiten alle Individuen einbezieht. So ist auch stets die gesamte Gesellschaft (nicht Teilgruppen) von den Externalitäten betroffen. Diese Bedingung wird in Deutschland aber nicht erfüllt. Hier sind Beschränkungen hinsichtlich Umfang und Bedingungen des Kollektivs gegeben, die wechselseitige

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Externalitäten und Anreize bewirken: Der Vorsorgezwang gilt für einzelne Gruppen nur teilweise (z.B. Selbständige), auch werden bei den Arbeitnehmern unterschiedliche Vorsorgesysteme unkoordiniert angewendet (Sozialversicherungspflicht, Beihilfe, Betriebsrenten u.a.). Ferner weisen die einzelnen Zweige der Sozialversicherung besondere Ausgestaltungen auf (z.B. Befreiung unter bestimmten Bedingungen). Versicherungspflichtig ist in der Regel nur jeweils der Teil des Arbeitnehmereinkommens, der bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Sofern ein genereller Versicherungszwang bei bestehenden privaten Versicherungen erfolgt, können die Versicherungsleistungen durch staatliche Institutionen bei Abgabefinanzierung angeboten werden oder durch öffentliche und private Bereitstellung bei privater Finanzierung und gleichzeitigen Transfers an die Bezieher niedriger Einkommen. Die letztgenannte Alternative würde einen Wettbewerb zwischen allen Kassen auslösen. Wettbewerb zwischen Anbietern mit Risikopooling und solchen, die nach Risikoklassen differenzieren, führt zu einer Abwanderung schlechter Risiken beim Pooling und letztlich zu staatlichen Beschränkungen im Wahlrecht und in der Tarifgestaltung. Für die öffentliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen könnten geringe Transaktionskosten sprechen, wenn der Staat über die Programme entscheidet und diese als standardisierte Produkte anbietet. So stellen in einzelnen Bereichen der privaten Versicherungen die Transaktionskosten in Form von Abschluss- und Verwaltungskosten einen erheblichen Prozentsatz der Beiträge dar. Es besteht allerdings kein Grund zu der Annahme, dass der Staat generell günstiger anbietet und insbesondere die richtige Art von Politik betreibt, denn die einzelnen Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Gerade die Ineffizienzen der staatlichen Verwaltung lassen das Gegenteil vermuten (vgl. Kapitel 5.3 d). Beim staatlichen Monopol ist kein Wettbewerb innovativer Produkte zu erwarten, wie er auf kompetitiven Versicherungsmärkten möglich ist. Die beim staatlichen Angebot geltend gemachten Größenvorteile sind im Übrigen auch bei privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen oder entsprechenden Vorgaben möglich. Weiterhin können Risiken unterschiedlicher Art und demografische Verschiebungen gegen staatliche Versicherungen sprechen. Im Zentrum der Diskussion um die Sozialversicherung geht es gegenwärtig darum, S welches Finanzierungsverfahren, also Umlage oder Kapitaldeckung, heranzuziehen bzw. ganz oder teilweise zu ersetzen ist; S welche Bedeutung Sozialbeiträge, Steuern und Versicherungsprämien als Finanzierungsinstrumente im Einzelnen haben sollen; S wie eine effiziente Sozialversicherung aussehen soll, die allokativen (insbesondere Arbeitsanreize) und verteilungspolitischen Zielen genügt.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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5. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) a) Formen der Alterssicherung in Deutschland In Deutschland bestehen parallel vier verschiedene Formen der Alterssicherung unverbunden nebeneinander: S Der größte Teil der Arbeitnehmer ist in der GRV versichert. Sie basiert auf der Teilhabeäquivalenz, d.h. die Rente berücksichtigt die relative Arbeitseinkommenssituation der Versicherten in der Beitragsphase. S Die betriebliche Altersversorgung ist eine Leistung des Arbeitgebers, die er selbst oder durch selbständige Versorgungseinrichtungen erbringen lässt. Sie umfasst die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung. Pflichtversicherte in der GRV haben Anspruch auf Umwandlung eines Teils ihres Entgelts in Ansprüche an die betriebliche Altersversorgung. S Für die Beamtenversorgung sind Beiträge nicht zu zahlen. Letzte Gehaltsposition und Beschäftigungsdauer sind maßgeblich für die (steuerfinanzierte) Pension. S Ein Teil der Bevölkerung ist (ausschließlich oder zusätzlich) privat altersversichert. b) Die GRV in Deutschland Innerhalb der Sozialversicherung ist die gesetzliche Rentenversicherung der bedeutendste Teil. Sie erfasst etwa 80 % der Erwerbspersonen. Die Deutsche Rentenversicherung als Träger besteht aus Körperschaften des öffentlichen Rechts mit einer Selbstverwaltung, die paritätisch durch Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt ist. Die Renten der Versicherten haben Lohnersatzfunktion, da sie an die Stelle des bei Eintreten der Versicherungsfälle „Alter“ oder „verminderte Erwerbsfähigkeit“ nicht mehr bezogenen zu versichernden Arbeitseinkommens treten. Die Renten an Hinterbliebene haben Unterhaltsersatzfunktion, sie treten an die Stelle des vom Verstorbenen erbrachten Unterhalts. Allerdings werden diese Funktionen bei sinkendem Verhältnis von Renten zu früheren Arbeitseinkommen zunehmend weniger wahrgenommen. Versicherungspflicht besteht in der GRV für alle gegen Entgelt beschäftigten Arbeitnehmer. Bestimmte Gruppen von Selbständigen (Handwerker1, selbständige Künstler, Publizisten) sind ebenfalls versicherungspflichtig, andere können sich freiwillig in der GRV versichern. Die Finanzierung der GRV erfolgt überwiegend durch Beiträge (2009: 181,6 Mrd. Euro), der Rest durch Bundeszuschuss (2009: 63,4 Mrd. Euro). Eine jährlich festgelegte Beitragsbemessungsgrenze beschränkt die Höhe des beitragspflichtigen Einkommens, der Beitragssatz wird gesetzlich festgelegt. Tab. 11-2 zeigt die im Jahre 2011 bestehenden Bemessungsgrundlagen und Beitragssätze in der GRV und in den anderen 1

Selbständige Handwerker können sich nach 18 Jahren befreien lassen. Versicherungspflichtig sind ferner Selbständige, soweit sie ohne versicherungspflichtige Arbeitnehmer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind. Auch für diese Gruppen ist aber eine Befreiung möglich.

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

330

Bereichen der Sozialversicherung. Die Beiträge zur GRV setzen sich (formal) wie auch in den übrigen Bereichen der Sozialversicherung (außer Knappschaftsversicherung) aus jeweils zur Hälfte berechneten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen zusammen. Sie summieren sich für die Sozialversicherung insgesamt im Jahre 2011 auf 40,35 % des Bruttoarbeitsverdienstes bei verschiedenen Beitragsbemessungsgrundlagen in West- und Ostdeutschland1,2. Tab. 11-2 Beitragsmessungsgrenzen und -sätze 2011 in West(Ost)deutschland Beitragsmessungsgrenze (Euro je Monat) Gesetzliche Rentenversicherung Gesetzliche Krankenversicherung Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung 1 2

5 500 (4 800) 3 712,50 3 712,50 5 500 (4 800)

Beitragssatz 19,9 15,51 1,952 3,0

Durchschnittlicher Beitragssatz für Arbeitgeber 7,3 und Arbeitnehmer 8,2 %. Ohne den Beitragszuschlag für Kinderlose in Höhe von 0,25 %.

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Die Leistungen der GRV bestehen einerseits aus Rentenzahlungen und andererseits aus Leistungen zur Rehabilitation. Bei den Rentenarten wird unterschieden zwischen Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten und Renten wegen Todes. Die Höhe der Altersrente richtet sich in erster Linie nach der Höhe des während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitseinkommens (Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente). Für die Berechnung der individuellen Monatsrente BR sind folgende vier Faktoren maßgebend: die Summe der Entgeltpunkte E, der Zugangsfaktor Z, der Rentenartfaktor F und der aktuelle Rentenwert ARt. Die Formel zur Berechnung der monatlichen Rente lässt sich wie folgt schreiben: Lohn 5 komponente

(11-1)

Nachhaltigkeitsfaktor

%$# %&&&Riesterfak &&$&tor &&&&# %&&&$&&&# BE 100 vH 5 AVA t 51 5 RVB t 51 W R311 5 RQ t 51 (%0 9 1" t 51 W B R ) E W Z W F W AR t 51 W O ^ t BE 2 100 vH 5 AVA t 5 2 5 RVB t 5 2 KO1. RQ t 5 2 %# ^ (&&&&&t 5& &&&&&&& &)&&&&&&&&&&&&&& '\ aktueller Re ntenwert ( AR t )

Das versicherte Entgelt eines Beitragszahlers wird jeweils durch das im selben Zeitraum maßgebende durchschnittliche Bruttojahresentgelt aller Versicherten geteilt. Auf diese Weise erhält man Entgeltpunkte. Ein versichertes Entgelt in Höhe des Durchschnittsverdienstes eines Jahres ergibt somit 1,0 Entgeltpunkte. Dieser Wert steigt oder 1 2

Bezieht man die Arbeitgeberbeiträge in die Arbeitsverdienste (wie beim Arbeitnehmerentgelt in den VGR) ein, würden bis zu rund 33 % abgeführt werden müssen. Die Durchschnittslohne Ost stehen zu den Durchschnittslöhnen West seit 1999 etwa in einer Relation 1:1,2. Das entspricht der Relation zwischen den Durchschnittslöhnen von Schleswig-Holstein und Hessen. Daraus entsteht die Frage, warum die Rentenversicherung nach Ost und West differenziert wird (vgl. Börsch-Supan u.a. 2010, S. 16/17).

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

331

fällt: So führen z.B. 10 % mehr als der Durchschnittsverdienst zu 1,1 Entgeltpunkten, 5 % weniger zu 0,95 Entgeltpunkten. Allerdings wird das Gehalt nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze (zur Zeit fast 2,1 Entgeltpunkte) berücksichtigt. Entgeltpunkte gibt es auch für beitragsfreie Zeiten, wie z.B. Kindererziehung. Die Anzahl der persönlichen Entgeltpunkte erhält man durch Multiplikation der Entgeltpunkte mit dem Zugangsfaktor. Er beträgt 1, wenn eine Altersrente bei der maßgeblichen Altersgrenze in Anspruch genommen wird. Erfolgt der Rentenzugang früher, ist er je vorgezogenen Monat um 0,003 Entgeltpunkte kleiner, später ist er je Monat 0,003 Entgeltpunkte größer. Der Rentenartfaktor spiegelt die Art der Rente wider. Er beträgt bei Altersrenten, 1, bei Witwenrenten 0,55 und bei Erwerbsminderungsrenten 0,5. Der aktuelle Rentenwert ARt bestimmt das allgemeine Rentenniveau. Er entspricht dem Monatsrentenbetrag, den ein Leistungsempfänger pro Entgeltpunkt erhält, wenn er in seiner Erwerbsphase Durchschnittsverdiener war und entsprechende Beiträge entrichtet hat. Der aktuelle Rentenwert wird jährlich angepasst. Gleichung (11-1) zeigt, dass in die Berechnung von ARt der bisherige Rentenwert ARt-1, die Änderungsraten des durchschnittlichen beitragspflichtigen Bruttoeinkommens BE, der Altersvorsorgeanteil AVA und der Rentenversicherungsbeitragssatz RVB1 sowie der Rentnerquotient jeweils der letzten beiden Jahre einfließen. Mit der Lohnkomponente BEt-1/BEt-2 wird der Einkommensentwicklung Rechnung getragen. Grundsätzlich steigen die Altersbezüge, wenn die Löhne und Gehälter 2 steigen. Das ist allerdings zu korrigieren, wenn der Beitragssatz sich verändert und die Rate, um die die staatliche durch private Vorsorge ersetzt wird. Der AVA trägt dem Aufbau einer kapitalgedeckten Zusatzversicherung Rechnung, die einen Teil der GRV ersetzen soll. Der AVA beträgt 2010 4 %. Mit der Begründung der Beitragssatzstabilisierung wurde ein um diesen Satz gemindertes Rentenniveau festgelegt. Sie soll durch eine freiwillige kapitalgedeckte private Alterssicherung („Riester-Rente“) ausgeglichen werden, die durch Zulage oder Sonderausgabenabzug gefördert wird. Selbst wenn die Riester-Rente anteilig klein ist, trägt sie zur Streuung der Risiken bei. Der Term in eckigen Klammern wird als Nachhaltigkeitsfaktor bezeichnet. Hierbei sind RQ der Rentnerquotient, der sich aus dem Verhältnis Rentner zu Beitragszahlern ergibt, und 0 der Gewichtungsparameter für die Veränderung des Rentnerquotienten in Höhe von 0,25. Es wird also bei der jährlichen Rentenanpassung die Entwicklung des Verhältnisses von Rentnern zu Beitragszahlern berücksichtigt und so der demographischen Entwicklung (Rückgang der Geburten und Zunahme der Lebenserwartung), aber auch der Entwicklung am Arbeitsmarkt Rechnung getragen. Steigt der Rentnerquotient, so erhöhen sich die Renten in einem geringeren Ausmaß als die Bruttolöhne. Die Rentenformel ist keineswegs stabil. So wurden die Dämpfungsfaktoren mehrfach

1 2

So würde grundsätzlich jeder demographisch bedingte Anstieg des Beitragssatzes zur GRV zu einem Abschlag bei der folgenden Rentenanpassung führen. Genauer: die beitragspflichtigen Bruttolöhne der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (ohne Beamte, aber mit den Empfängern von Arbeitslosengeld I).

332

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

ausgesetzt und zu späteren (dann doch nicht realisierten) Nachholung vorgesehen, was tatsächlich höhere künftige Beiträge erfordert. c) Analyse der gesetzlichen Rentenversicherung Rentenversicherungen können auf dem Kapitaldeckungsverfahren oder auf dem Umlageverfahren beruhen. Private Rentenversicherungen legen das Kapitaldeckungsverfahren zugrunde, bei dem die Beiträge in der Erwerbsphase einer Generation zum Aufbau eines Kapitalfonds verwendet werden, der zur Finanzierung sämtlicher Rentenzahlungen (und Verwaltungskosten) für diese Personengruppe im Rentenfall genau ausreichen soll. Die Rentenansprüche jeder Generation sind also durch die vorher geleisteten und verzinsten Beiträge gedeckt, Transferzahlungen zwischen den Generationen finden nicht statt. Der Budgetausgleich erfolgt über die durchschnittliche Lebensspanne hinweg. Jede Generation wird nach Risikogruppen (Eintrittsalter, künftig nicht mehr: Geschlecht) aufgeteilt, für die die Barwerte der Beitragszahlungen dem Barwert der Rentenleistungen entsprechen (unter Berücksichtigung der Verwaltungskosten). Anders ist die Finanzierung beim Umlageverfahren (Pay-as-you-go), das in der GRV angewendet wird. Hier ist der Kapitalbestand des Rentenversicherungsträgers zu jedem Zeitpunkt fast null1, da die laufenden Einnahmen (Beiträge der beitragspflichtigen Beschäftigten und Zuschüsse) – nach Abzug der Verwaltungskosten – im vollen Umfang in der derselben Periode an die Rentner ausgeschüttet werden. Der Budgetausgleich erfolgt pro Jahr. Eine gewisse Beitragsbezogenheit besteht insofern, als der Rentenanspruch des Einzelnen im Vergleich zur Durchschnittsrente umso höher ist, je mehr Beiträge gezahlt werden. Das führt zu einer relativen Äquivalenz (Teilhabeäquivalenz) von Leistungen und Gegenleistungen. Das Umlageverfahren beruht im Gegensatz zum Kapitaldeckungsverfahren darauf, dass immer ausreichend Kinder bei gegebener Lebenserwartung nachwachsen. Das wird in verschiedener Hinsicht im Rahmen eines Modells sich überlappender Generationen (OLG-Modell) deutlich. Die Zeit wird in diskrete Perioden zerlegt, die von der Zeit zwischen der Geburt einer Generation bis zur Geburt der nächsten reicht. Die Länge einer Generation wird (zunächst) für alle Menschen als gleich angenommen. In jeder Periode wird eine Kohorte junger Konsumenten geboren. Bei positiver Wachstumsrate der Bevölkerung ist jede Kohorte größer als die vorhergehende. (Tatsächlich werden die Kohorten kleiner und Strukturen verändern sich). Jeder Mensch lebt bis zu drei Perioden – Kindheit, Erwerbsphase und Ruhestandsphase. Da Kinder selbst keine ökonomisch relevanten Entscheidungen treffen, wird der erste Lebensabschnitt in diesen Modellen meist nicht explizit betrachtet und der Konsum der Kinder dem der Eltern zugerechnet. So wird die Analyse auf ein Modell zweier sich überlappender Generationen reduziert. Daher werden im Folgenden nur die beiden Generationen der Erwerbstätigen und Rentner betrachtet. 1

Eine Rücklage hat allein den Zweck, bei kurzfristig schwankenden Ein- und Auszahlungen stets die Liquidität zu gewährleisten, ohne auf die Kreditmärkte zurückgreifen zu müssen. Die Rücklage wird in der Praxis nach Haushaltslage des Bundes beliebig verändert.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

333

In Abb. 11-1 beruht beim Kapitaldeckungsverfahren die Rente für A2 allein auf den Beiträgen von A1. A2 ist auch die erste Rentnergeneration, wenn in Periode 1 das Kapitaldeckungsverfahren eingeführt wird. B2 erhält Leistungen aus seinen Beiträgen B1 usw. Beim Umlageverfahren gibt es keinen Rückgriff auf Vermögen. Somit können in Periode 1 bereits Leistungen an die Rentnergruppe S1 fließen, ohne dass diese Beiträge gezahlt hat. Das Umlageverfahren kann jederzeit eingeführt werden und sofort – daher beliebig – Leistungen verteilen. A2 hängt hier also allein von den Beiträgen der jungen Generation B1 in Periode 2 ab bzw. B2 von C1 in Periode 3, wenn keine staatlichen Zuschüsse geleistet werden. Abb. 11-1 Kapitaldeckungsverfahren (--) und Umlageverfahren () Periode

1

2

3

Erwerbstätigkeit

A1

B1

C1

Rentner

Z2

A2

B2

Lebensphase

Grundlage für die Beurteilung eines auf dem Umlageverfahren beruhenden Systems, das keine Fondserträge einsetzen kann und keine Staatszuschüsse erhält, ist – bei Vernachlässigung der Verwaltungskosten – folgende Identität: (11-2)

] R W LR W SR ) B R W N R ,

wobei zR der durchschnittliche Beitragssatz zur Rentenversicherung, LR die durchschnittliche belastete Lohnsumme, SR die Zahl der Beitragszahler zur Rentenversicherung, BR die Durchschnittsrente pro Empfänger und NR die Zahl der Rentenempfänger sind. BR·NR gibt folglich den gesamten Rentenbetrag, LR·SR die belastete Lohnsumme wieder. Das Umlageverfahren verbindet also erwerbstätige und nicht mehr erwerbstätige Generationen durch intergenerationale Transfers. Nimmt man an, dass ein Bundeszuschuss in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes der Ausgaben geleistet wird, kann dem durch entsprechende Reduzierung der rechten Seite auf den Finanzierungsanteil der GRV an den Ausgaben (G) Rechnung getragen werden1: (11-3)

] R W LR W SR ) B R W N R W G

Nach ]R aufgelöst ergibt sich der erforderliche Beitragssatz (11-4) 1

]

R

)

R

N

R

S

B L

R

R

WG .

Bei einem Bundeszuschuss von 50 % würde also G = 0,67 gelten.

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

334

BR/LR stellt mit dem gesamtwirtschaftlichen Verhältnis zwischen Durchschnittsrente und Durchschnittsentgelt das Rentenniveau, NR/SR den Rentnerquotient dar. Mit (11-4) liegt eine Gleichung vor, die den Beitragssatz zur Rentenversicherung zR durch das Rentenniveau BR/LR und die weitere teils demografisch bestimmte Relation NR/SR ausdrückt, ferner spielt die Bundeszuschussquote (1 - G) eine Rolle. Bei konstanter Wachstumsrate der Produktion und der Bevölkerung und bei gleicher Struktur könnte das System ohne weitere Eingriffe des Staates aufrecht erhalten werden. Es gäbe genug Beitragszahler, um bei gleichem zR die Renten zu finanzieren. Tatsächlich hat die Geburtenrate kein bestandsschutzerhaltendes Niveau und die durchschnittliche Lebenserwartung wächst. Folglich ändern sich im Zeitablauf die Strukturen, also BR /LR, NR/SR, so dass politische Entscheidungen erforderlich sind. Sie können grundsätzlich alle sechs Größen von (11-4) betreffen, die von weiteren kurz- und langfristigen Entwicklungen bestimmt werden. So hängt SR u.a. von der konjunkturellen Lage und der tatsächlichen Altersgrenze für den Rentenbeginn ab, die wiederum NR beeinflusst (z.B. Frühverrentung). Die langfristige Bevölkerungsentwicklung dürfte auch durch die Sozialversicherung (mit)bestimmt sein, denn die Vorsorge im Bereich der Familie ist durch eine Zwangsversicherung ersetzt worden. Die demographischen Einflüsse kann man auch verdeutlichen, indem gemäß (11-5)

NR ) n W B

der Anteil n der Rentner an der Bevölkerung B explizit berücksichtigt wird. Entsprechend lassen sich die Beitragszahler differenziert darstellen. Die Bevölkerung insgesamt wird allerdings selten in die Analyse der Rentenversicherung einbezogen, vielmehr nur die Generationen der Erwerbstätigen (der 18- bis unter 65jährigen) und der Rentner1. Welche Konsequenzen haben die sinkende Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung? Sie vergrößern den Wert von NR/SR, der Rentnerquotient verschlechtert sich also, d.h. mehr Rentner sind im Durchschnitt durch einen Beschäftigten zu finanzieren. Einen gleichen Wert von BR/LR und G vorausgesetzt, ist dies c. p. bei reiner Umlage nur mit einem höheren zR möglich. Das hat aber Nebenwirkungen: Die Lohn(neben)kosten würden drastisch ansteigen und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit einschränken, ferner ist mit negativen Anreizen auf das Arbeitsangebot zu rechnen. Hielte man andererseits ]R bei einer bestimmten Höhe fest, müssten bei gleichem G die Rentenzahlungen gegenüber dem gegenwärtigen Niveau reduziert werden, so dass ein erheblicher Prozentsatz der Renten unter die Sozialhilfegrenze gedrückt würde. Das zeigt Tab. 11-32. Im Umlageverfahren stimmt unter vereinfachenden Annahmen die Ertragsrate der geleisteten Beiträge mit der Wachstumsrate der Bemessungsgrundlage, kurz der Lohnsumme wL, überein3. Diese wiederum entspricht der 1 2 3

Die Relation Rentner/Erwerbstätige verändert sich z.B. zwischen 2005 und 2050 von etwa 25 auf 53%. Vgl. Cullis/Jones (1997), S. 365. Allerdings ist die Rendite in der Einführungsphase größer.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

335

Wachstumsrate der Erwerbstätigen(stunden) und der Arbeitsproduktivität1. Wird die Zunahme der Arbeitsproduktivität und/oder der Erwerbstätigen geringer, sinken auch die Renten im Vergleich zu den geleisteten Beiträgen für jede neue Kohorte Rentenversicherungspflichtiger und damit die Ertragsraten der geleisteten Beiträge. Tatsächlich ist ein trendmäßiger Rückgang der Wachstumsrate der Erwerbstätigen und der Lohnsumme zu beobachten. Tab. 11-3 Das Umlageverfahren der GRV Lohn Beitrag = Rente L ]RL ]RL(1 + wL) L(1 + wL) R R ] L(1 9 w L ) 5 ] L ) wL Die Ertragsrate ist ]R L 0 tRL(1 + wL)(1 + w 0L ) L(1 + wL)(1 + w 0L ) Periode 3, wenn wL auf w L fällt R wobei t der Beitragssatz ist, der erforderlich ist, um Arbeitnehmer aus Periode 2 die gleiche Verzinsung wie denen aus Periode 1 zu gewähren. Löst man nach tR auf, ergibt sich t R L(1 9 w L )(1 9 w oL ) 5 ] R L(1 9 w L ) ) wL ] R L(1 9 w L ) Periode 1 Periode 2

t (1 9 w 0L ) 5 1 ) w L ] t 1 9w L ) ] 1 9 w 0L folglich: wenn wL > w 0L , dann t > ]2

Gleiche Verzinsung setzt auch gleichbleibende Strukturen voraus. Tatsächlich ändern sich infolge des demografischen Wandels die Strukturen innerhalb der Rentenversicherung wegen sinkender Geburtsrate und zunehmender Lebenserwartung, ferner direkt und indirekt infolge der Veränderung auch anderer Faktoren wie z.B. der Anteile der Hinterbliebenen (-) an oder das Verhältnis der Erwerbstätigen (J) zu den Rentnern. Bereits das Zusammenwirken von - und J kann die Verzinsungsrate für normale Zugänge unter die Wachstumsrate der Lohnsumme drücken. In Gleichung (11-3) könnten die Größen - und J berücksichtigt werden. Allein der demografische Faktor NR/SR erfordert c. p. bei gegebenem BR ohne weitere Anpassungen steigende Werte von ]R und für die gesamte Sozialversicherung. Langfristig wird sich die Situation der hohen Lohnnebenkosten verschärfen, wenn SR zurückgeht. Besserverdienende haben eine längere Lebenserwartung als Rentner. Dem könnte Rechnung getragen werden, indem in der Rentenformel Geringverdienern ein höherer Prozentsatz ihres früheren Arbeitseinkommens als Rente geleistet wird als Besserverdienenden. Die Rentenformel würde degressiv und als beitragsneutral interpretiert (Breyer/Hupfeld 2009). Problem ist allerdings, dass den Arbeitsstunden Rechnung getragen werden müsste, weil die unterschiedlichen Arbeitseinkommen auch auf freiwilligen Entscheidungen (Freizeit) beruhen. 1

Die erste wird negativ, die zweite lag langfristig bei 1,5 %.

336

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Wie sind alternative Ansätze zu beurteilen, mit denen der rückläufigen Fertilität, steigenden Lebenserwartung und damit Alterung von Bevölkerung und Erwerbspersonen Rechnung getragen werden soll? Ansätze, die primär bei BR/LR anknüpfen, sind bereits in (11-1) eingeflossen. Sie sollen den Haushaltsausgleich der Rentenversicherung bei stabilem zR garantierten. Die Maßnahmen betreffen vor allem die Zunahme der absoluten Größen und können diese ggf. auf null beschränken: S Die steigende Lebenserwartung legt eine Erhöhung des Rentenzugangsalters als wirksamen Weg nahe. Hierdurch sinkt c. p. die Zahl der Leistungsempfänger und gleichzeitig steigt die Zahl der Beitragszahler, insofern nimmt die Relation BR/LR insgesamt ab. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Kompression der Erwerbsphase durch längere Ausbildung und früheres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu beobachten. Insbesondere das Instrument der „flexiblen Altersrente“ hat erhebliche Anreize für eine Entscheidung der frühestmöglichen Verrentung gegeben, weil die Abschläge deutlich geringer sind als versicherungsmathematisch geboten. Der frühestmögliche Beginn der vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit liegt (ab 2006) bei 63 Jahren. Ferner wird das Regelrentenalter stufenweise von gegenwärtig 65 auf 67 Jahre angehoben1. Einhergehen kann damit die Abschaffung von Vorruhestandsregelungen oder die Einführung von Subventionen für die Einstellung älterer Arbeitnehmer, aber auch die Förderung lebenslanger Weiterqualifizierung, um das tatsächlich frühere an das Regelrentenalter anzupassen. Zur Absorption eines zusätzlichen Arbeitsangebots muss der Arbeitsmarkt allerdings ausreichend flexibel sein. S Bereits durch ein- oder mehrmaliges Beschränken der Zunahme der Renten im Vergleich zu den Löhnen (wR < wL) ist die Relation BR/LR kurzfristig beeinflussbar, wodurch auch langfristige Wirkungen ausgelöst werden. S Die Anpassung der Renten- an die Beitragsentwicklung erfolgt unter Verwendung eines Nachhaltigkeitsfaktors. Dieser berücksichtigt das zahlenmäßige Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern und bezieht insbesondere die Erwerbsbeteiligung mit ein. So werden zwar nicht die Rentenausgaben insgesamt, aber die individuellen Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt. S Ferner könnte BR/LR auch durch Veränderungen von ‰ und J beeinflusst werden. Hinsichtlich - könnte langfristig z.B. erwogen werden, die Hinterbliebenenrente aus der Mitversicherung durch eigenständige Rentenansprüche zu ersetzen. Die Hinterbliebenenrente rechnet alle Arten von Einkünften (bis auf die geförderte Privatrente) an. S Schließlich ist auch die Begrenzung des Rentenniveaus bis hin zur Beschränkung auf eine Mindestsicherung möglich. Statt zusätzlicher Finanzierung des Umlageverfahrens erfolgt eine Ergänzung durch eine kapitalgedeckte private Vorsorge. Dabei geht es nicht um Eingriffe in die Bestandsrenten, vielmehr um ihre Anpassung an die Einkommensentwicklung und um Neurenten. Die Beurteilung dieser Maßnahmen hängt insbesondere von der Funktion ab, die die GRV haben soll: die traditionelle einer am früheren Lebenshaltungsniveau anknüpfenden und den Lebenszyklus verstetigenden Einrichtung oder die der Armutsvermeidung. Ferner ist zu entscheiden, ob sie stärker den Vorsorgecharakter erhalten oder der 1

Von Ausnahmen für langfristig Versicherte abgesehen.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

337

interpersonellen Umverteilung dienen soll (Schmähl 1998, S. 718). Jedes Abschmelzen des Rentenniveaus bewirkt, dass die Renten sich immer weniger vom Sozialhilfeanspruch abheben (sieht man von anderen Einkünften ab). Das ist die Folge des Paradigmenwechsels in der GRV von der Niveauorientierung, die auf eine bestimmte Relation BR/LR zielte1, zur Beitragssatzorientierung. Der Beitragssatz soll bis 2020 nicht über 20 % und bis 2030 nicht über 22 % steigen. Bei gleichem Gesamteinkommen und gleichem Durchschnittsentgelt kann der Lebenseinkommensverlauf unterschiedlich sein (vgl. Abb. 11-2). Je nachdem, wie sich die Entgelte mit dem Lebensalter entwickelt haben, wird der Abstand der Rente zum letzten Einkommen unterschiedlich ausfallen. Abb. 11-2 Unterschiedliche Entgeltentwicklung und Rente L Li

i

LC

i

LB

Entgeltverlauf LiB Durchschnittsentgelt L

Lohn

tA

Erwerbstätigkeit

Rente

tR

Rentenbezug

t

Altersgrenze

Quelle: Schmähl (1978), S. 156.

Die Strategie der Beitragssicherung und Absenkung des Renteniveaus wurde 2002 bei gleichzeitiger Eröffnung größerer Spielräume für eine private Vorsorge eingeleitet2. So fließen stärker Elemente des Versicherungsprinzips bzw. des Äquivalenzgedankens in die Alterssicherung ein. Die Reduzierung bzw. Ersetzung der Ansprüche aus der GRV durch eine Grundrente ist allerdings nicht vorgesehen. Sie wäre unabhängig von eigenen Beiträgen zu leisten und hätte aus der Sicht der Beitragszahler vollständig den Charakter von Steuern. „Bei fehlender versicherungsmathematischer Äquivalenz lässt sich die Rentenhöhe in eine Grundrente und einen beitragsproportionalen Anteil aufspalten, wobei der Pro1 2

Aktuell soll das Sicherungsniveau 46 % des Bruttolohns vor Steuern bis zum Jahre 2020 und 43 % bis 2030 nicht unterschreiten. Das wird durch die Veränderung von AVA in Gleichung (11-1) beschrieben. Die private Altersvorsorge wird gefördert („Riester-Rente“), soweit die Begünstigten in der GRV versicherungspflichtig sind. Ausgegangen wird von einem Förderziel von 4 % des rentenversicherungspflichtigen Einkommens. Das gilt auch für die betriebliche Altersvorsorge.

338

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

portionalitätsfaktor als marginaler Äquivalenzgrad zu interpretieren ist. Änderungen eines dieser Parameter haben stets einen Substitutions- und einen Einkommenseffekt auf das Renteneintrittsalter. Nur bei einer Erhöhung der Grundrente haben beide Effekte das gleiche Vorzeichen und senken das optimale Eintrittsalter. Bei Änderungen des Äquivalenzgrades und des Beitragssatzes sind die Effekte gegenläufig und das Vorzeichen des Gesamteffekts unbestimmt“ (Breyer/Buchholz 2007, S. 173). Gleichbleibende Strukturen wurden für die Funktionsfähigkeit des Umlagesystems vorausgesetzt. So ist die GRV auf lebenslange Vollerwerbstätigkeit ihrer PflichtBeitragszahler ausgerichtet. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als Folge soziolkulturellen Wandels, insbesondere der Veränderungen der Familienzusammensetzungen durch veränderte Partnerschaften und die Probleme des Wiedereintritts von Frauen in den Arbeitsmarkt nach einer Kinderbetreuungsphase, kann leicht zu Altersarmut führen, andererseits gibt es besonders gut versorgte kinderlose Ehepaare (vgl. Wagner 2000, S. 123). Ferner wird die Zahl der Erwerbstätigen und der Beitragszahler erheblich durch die hohe Arbeitslosigkeit beeinflusst. Für die Empfänger von Arbeitslosengeld zahlt die BA nur Beiträge in Höhe von 80 % des der Leistung zugrundeliegenden Arbeitseinkommens. Die mit der Arbeitslosigkeit einhergehenden Probleme der Frühverrentung und Altersteilzeit verschärfen die Problematik. Auch durch Scheinselbständigkeit verringert sich die Beitragspflicht zur GRV. Andererseits bringt eine Ausweitung des Versichertenkreises nur kurzfristige Beitragsentlastung. Denn langfristig stehen den zusätzlichen Beitragseinnahmen höhere Rentenausgaben gegenüber. Je nach Struktur der Neuversicherten können netto die Ansprüche sogar noch steigen. Das Umlageverfahren beruht auf der Annahme stabiler Bevölkerungsstrukturen. Das gilt für die Rentner-Beitragszahler-Relation und damit für die Relation k aus der Zahl der Kinder an der Bevölkerung. Die Beschränkung des Umlageverfahrens auf ein Zwei-Generationen-Modell (Aktive und Rentner) entsprach dem politisch Gewollten. Die als die politische Umsetzung des Generationenvertrages1 bezeichnete deutsche gesetzliche Alterssicherung setzt zwar die Erwerbstätigkeit voraus, berücksichtigt aber nur eingeschränkt den Beitrag der Kindererziehung2. Eltern erbringen aber zwei Leistungen für die GRV: Kinder und direkte Beitragszahlung. Im Zentrum steht nur der Umverteilungsvorgang zwischen den beiden Generationen der Erwerbstätigen und der Rentner. Tatsächlich muss das Umverteilungssystem daher drei Generationen umfassen – die Klasse der Erwerbstätigen sowie die zwei Versorgungsklassen ihrer Kinder und Eltern. Die Berücksichtigung der Kinder ist gerade deshalb so wichtig, weil Kinder die Grundlage des „Generationenvertrages“ sind. Ferner fällt das Lebenseinkom1

2

Die gegenwärtig erwerbstätige Generation erbringt Leistungen an die Rentner und erwirbt Ansprüche gegen nachfolgende Generationen. Es handelt sich um einen impliziten Vertrag mit den nachfolgenden Generationen, die noch nicht existieren, nicht gefragt werden und keine Verträge abschließen können. Der Einführung des Umlageverfahrens mit der Rentenreform von 1957 lag ein von Schreiber entwickeltes Konzept zugrunde, das explizit die Generation der Kinder als wesentlichen Baustein empfahl. Gründe für die Verwässerung des Konzepts behandelt Wingen (2002).

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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mensniveau von Eltern in der Regel gegenüber kinderlosen Ehepaaren erheblich ab. Dies ist überwiegend sogar eine Folge des aktuellen (Sozial- und insbesondere) Alterssicherungssystems. Allerdings ist Kindern – generell – zweckmäßigerweise über das Steuer/Transfersystem Rechnung zu tragen. Wenn k unter die für die Reproduktion der Bevölkerung erforderliche Kinderzahl fällt, sind die Leistungen c. p. nur bei entsprechender Zunahme der Arbeitsproduktivität zu erhalten. Tatsächlich wird tendenziell die Zunahme der Arbeitsproduktivität geringer. Um die Beitragsbelastung zu begrenzen, werden Zuschüsse geleistet. Ein Hinweis auf deren Finanzierung durch spezielle Abgaben (z.B. „Ökosteuern“)1 lässt eine Durchbrechung des Grundsatzes der Non-Affektation vermuten. Die Zweckbindung ist aber nicht eindeutig, weil die benannten Mittel zusammen mit anderen Einnahmen der Finanzierung des Bundeszuschusses dienen. Dann kann das Volumen des Zuschusses aber beliebig bis zur Untergrenze des Ökosteueraufkommens reduziert werden. So wird die Abgabenbelastungen der Bürger nicht verringert, sondern nur verlagert. Ferner werden die Kosten der Rentenversicherung durch Zuschüsse verschleiert. Der Bundeszuschuss2 an die Rentenversicherung wird meist mit sog. versicherungsfremden Leistungen begründet3. Als solche gelten Leistungen, denen allgemeine Staatsaufgaben zugrunde liegen. Beispiele sind etwa die Anrechnung von Kindererziehungszeiten oder Jahre der Schul- und Hochschulausbildung. Auch alle arbeitsmarktpolitisch motivierten vorzeitigen Altersrenten fallen hierunter. Sie verkürzen die Dauer der Beitragszahlungen und verlängern die Zeit des Rentenbezugs. Es geht also darum, solche außerhalb der eigentlichen Versicherung liegenden Aufgaben getrennt hinsichtlich ihrer jeweiligen Ausgabenwirksamkeit und entsprechend den Ausgleichszahlungen an den Sozialversicherungsträger sichtbar zu machen. Das führt in Richtung auf die Realisierung einer klaren Regel: Rentenversicherungsansprüche werden nur auf Basis von Beitragszahlungen erworben. Bei zusätzlichen Ansprüchen muss auch für die entsprechenden Beiträge oder für eine andere Finanzierung gesorgt werden. „Durch diese klare Finanzierungszuständigkeit wird die Transparenz erhöht, und vor allem wird verhindert, dass zunächst Ansprüche geschaffen werden, die Finanzierungsfrage aber hinausgeschoben wird“. Wollte der Bund z.B. „seine Beiträge an die Rentenversicherung für die Kindererziehung reduzieren, so wäre es erforderlich, dass dann auch die entsprechenden Rentenansprüche reduziert werden“ (Schmähl 1998, S. 716). Allerdings stoßen die Verbesserungen der Systematik und der Transparenz an Grenzen, weil das Umlageverfahren eine beliebige Abgrenzung von Beitragszahlern, Rentnern und Leistungen erlaubt. Wenn Umverteilung eine Aufgabe der Sozialversicherung ist, lässt sich keine Grenze mehr zwischen der systembedingten Umverteilung und versicherungsfremden Leistungen ziehen. 1 2 3

Siehe auch das 20. Kapitel. Der Bundeszuschuss bezeichnet den steuerfinanzierten Bestandteil der Rente; er macht ca. 1/3 der Gesamtausgaben aus. Zu Abgrenzung und Umfang versicherungsfremder Leistungen siehe Sachverständigenrat (2005), S. 331ff.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Dann ist aber auch eine auf das Gesamteinkommen bezogene, zielgerichtete Umverteilung nicht möglich. Sie ist über unabhängige und unkoordinierte Einzelmaßnahmen, die immer ineffektiv und ineffizient sind, nicht zu erreichen. Daher muss auf das zentrale Instrument des Steuer/Transfermechanismus zurückgegriffen werden. Das Umlageverfahren ist in seiner Wirkung willkürlich. Das gilt hinsichtlich der Definition der Solidargemeinschaft und der unvermeidbaren Erbsünde jedes Umlageverfahrens, den Einführungsgewinnen. So profitieren zu Beginn des Umlageverfahrens die ersten Kohorten von Rentenbeziehern sofort, weil sie Ansprüche ohne vorherige Leistungen bekommen. Barwertmäßig betrachtet gilt, was die Einführungsgenerationen gewinnen, verlieren die nachfolgenden Generationen. Jede Generation zahlt ein, um die Vorgängergeneration zu finanzieren, und erhält Ansprüche, die barwertmäßig kleiner als ihre Einzahlungen sind. Das führt zu Verlusten in Höhe der Differenz zwischen der Kapitalmarktrendite und der Beitragsrendite im Umlageverfahren und kann als eine implizite Steuer aufgefasst werden, die „eine jede Generation zu zahlen hat. Die Steuer wird benötigt, um die implizite Staatsschuld in Form von vorhandenen Anwartschaften, die durch Geschenke an die Einführungsgeneration begründet wurde und die von Generation zu Generation mit wachsendem Volumen vorangewälzt wird, zu bedienen“ (Sinn 2000, S. 29f.). Solche Einführungsgewinne entstehen auch, wenn man den Kreis der Versicherten vergrößert, Leistungen erhöht (z.B. Frühverrenten begünstigt) sowie durch Bevölkerungswachstum, Rentenanpassung an steigende Arbeitnehmereinkommen oder Erhöhung der Lebenserwartung. Folglich sind beispielsweise die Übernahme der Rentner aus den neuen Bundesländern und die Anerkennung ihrer Ansprüche ohne vergleichbare vorherige Beiträge in die (zunächst westdeutsche) Rentenversicherung nicht als versicherungsfremde Leistungen zu interpretieren: Das Umlageverfahren wird weiter angewandt, wenn auch für eine größere Mitgliederzahl und mit Einführungsgewinnen der neuen Leistungsempfänger. Für die weitere Beurteilung des in Höhe der Gewinne der Einführungsgenerationen entstandenen impliziten Defizits ist die Wachstumsrate der Lohnsumme wL (bzw. des BIP) im Vergleich zum nominalen Zinssatz i relevant (siehe Tab. 11-1). Galt bei Einführung der GRV noch wL > i, so bleibt wL nun zurück. Die ökonomischen Auswirkungen des Umlageverfahrens entsprechen daher denen anderer staatlicher Defizite. „Letztere belasten zukünftige Generationen pro Kopf um so weniger, je schneller die Bevölkerung wächst, da die Steuerlast so auf eine größere Bemessungsgrundlage verteilt wird. Die Beiträge zur Rentenversicherung enthalten somit einen Steueranteil, der zur Finanzierung des Defizits des Umlageverfahrens aus der Anfangsphase herangezogen wird“ (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi 1998, S. 20). Folgende Umverteilungswirkungen treten bei der GRV auf: S Die Einführungsgewinne (infolge Beginn und Änderung der Solidargemeinschaft) stellen eine dauerhafte Belastung späterer Alterskohorten dar. S Umverteilt wird nach Familienstand zwischen alleinstehenden Beitragszahlern und solchen mit anspruchsberechtigten Familienmitgliedern.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

341

S Umverteilt wird zugunsten der gegenwärtigen Rentnergeneration, weil das heutige Rentenniveau von den künftigen Generationen nicht erreicht wird1. S Umverteilt wird durch Rente nach Mindesteinkommen. Danach erhalten Versicherte mit mindestens 35 Versicherungsjahren für Zeiten geringfügigen Arbeitsentgelts eine Aufstockung ihrer Rente auf 75% der Durchschnittsrente. Ehepartner mit unterschiedlicher Beitragszusammensetzung werden so c. p. ungleich behandelt. S Frauen haben im Durchschnitt eine längere Lebenserwartung. S Die Abschläge für vorzeitigen Rentenbezug entsprechen nicht versicherungsmathematischen Äquivalenten und fallen zu niedrig aus. Die Wirkung der GRV auf die ökonomischen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte, insbesondere auf das Sparverhalten und die Arbeitsangebotsentscheidungen, wird auf der Grundlage der Lebenszyklushypothese analysiert, nach der die Konsumund Einkommensentscheidungen des Individuums auf Lebenszeitbetrachtungen beruhen. In ihrer Erwerbsphase sparen die Individuen einen Teil ihres Einkommens um Vermögen zu bilden, aus dem sie den Konsum in der Nichterwerbstätigkeitsphase finanzieren. Die Mittel können investiert bis sie benötigt werden und erhöhen so den Kapitalstock der Gesellschaft. Die Einführung eines Sozialversicherungssystems kann die Lebensersparnis zunächst über drei Wirkungen beeinflussen: (1) Zunächst einmal wird erkannt, dass im Austausch für die Sozialversicherungsbeiträge ein Alterseinkommen gewährleistet wird. Wenn die Sozialversicherungsbeiträge als ein Mittel des Sparens für diese künftigen Leistungen angesehen werden, wird freiwillig weniger gespart. Aufgrund des Umlagesystems werden die Beiträge allerdings nicht gespart sondern sogleich wieder an die laufenden Leistungsempfänger gezahlt. Es gibt daher keine öffentliche Ersparnis, die der Minderung des privaten Sparens entspricht, daher kommt es zu einer Verringerung in der gesamten Kapitalbildung. Dieses Phänomen wird als Vermögenssubstitutionseffekt bezeichnet. Wird das Umlageverfahren rückgeführt und durch freiwillige Altersvorsorgeprogramme ersetzt, ist ebenso fraglich, ob es zur erhöhten privaten Ersparnisbildung oder zur bloßen Substitution anderer Sparformen kommt. (2) Wenn das Erbschaftsmotiv ein wichtiges Argument für Sparen ist, muss der Einfluss der Sozialversicherung auf das Erbe der Kinder kompensiert werden. Dies kann als Erbschaftswirkung bezeichnet werden. (3) Sozialversicherung kann zu einem früheren Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit Anlass geben, um die Leistungen zu empfangen; das wirkt sich negativ auf das Sparen aus. Die Bedeutung der verschiedenen Effekte ist empirisch umstritten (vgl. Meier 1997). Hierbei spielt eine wichtige Rolle, ob der Sozialversicherung (insgesamt und in ihren Teilen) eine enge Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung zugrunde liegt und/oder wie sie von den Versicherten gesehen wird. Bei einem engen Zusammenhang wird der Beitrag zum Preis. Das ist eher bei Anwendung des Kapitalde-

1

Diese Wirkung wird durch die steuerliche Behandlung noch verstärkt.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

ckungsverfahrens zu erwarten. Beim Umlageverfahren wird das Steuerelement1 geringer, je mehr die GRV in Richtung Kapitaldeckung geändert wird. Dann wird der Abgabenkeil zwischen Lohnkosten der Arbeitgeber und Nettolohn der Beschäftigten kleiner und mindert tendenziell die negativen Wirkungen auf das Arbeitsangebot2, darunter den Anreiz zum Abwandern in die Schattenwirtschaft. Je weniger die Leistungen allerdings das Sozialleistungsniveau überschreiten, um so stärker wird der Steuercharakter der Beiträge. Hohe Lohnnebenkosten und die Spreizung zwischen Bruttound Nettolöhnen gelten als beschäftigungsfeindlich. Sie fördern die Tendenz zur Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses durch befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und Scheinselbständigkeit. Unter dem Aspekt der Transparenz ist schließlich auf die Aufteilung in einen Arbeitnehmer- und einen Arbeitgeberanteil einzugehen. Sie verschleiert die wahre Belastung und erhöht die Verwaltungskosten. In beiden Fällen liegen vorenthaltene Teile des Arbeitnehmereinkommens und Arbeitskosten vor. Die Aufhebung dieser Trennung hat Konsequenzen für die Einkommensteuer und die Mitwirkung von Interessengruppen. So führt eine Auszahlung des Arbeitgeberbeitrags zur erhöhten Steuerbelastung. Die institutionelle Verankerung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung könnte entfallen. Da eine vollständige Privatisierung der GRV durch Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren nicht realistisch (und wohl auch nicht zweckmäßig) ist, stellt sich die Frage nach der Beurteilung eines partiellen Übergangs, wie er mit der Riester-Rente eingeleitet wurde. Die implizite Staatsschuld aus dem Umlageverfahren verhindert, dass der Übergang zu einer kapitalgedeckten Alterssicherung möglich ist, bei der eine Generation entlastet wird ohne eine andere Generation zusätzlich zu belasten. Diese Pareto-Verbesserung ist nicht möglich, weil die Beiträge aus der privaten Versicherung nicht für sofortige Rentenleistungen zur Verfügung stehen. Die Verzerrung trifft die Übergangsgeneration besonders, die noch Beiträge zahlt, aber als erste keine oder immer kleiner werdende Rentenansprüche erhält. Zunächst muss aber ein Kapitalstock gebildet werden. Die von den Alten erworbenen Rentenansprüche sind zu bedienen und belasten so die gegenwärtige und künftige Generation. d) Die politische Ökonomie der GRV Die Vorteile des Kapitaldeckungsverfahrens werden in der weitgehenden Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme gesehen. Diese Unabhängigkeit spricht auch für nichtstaatliche Institutionen und für eine Einbeziehung in den Wettbewerb zwischen Versicherungen. Beim Kapitaldeckungsverfahren kann auf Änderungen demografischer Risiken reagiert werden. Die notwendigen Reformen sind beim Umlageverfah-

1

2

Hier wird auch von impliziter Einkommensteuer als dem Betrag gesprochen, um den man bezogen auf das Lebenseinkommen mehr in das Rentensystem einzahlt als man an Rentenleistung erhält (Thum/von Weizsäcker, 2000, schätzen den impliziten Steuersatz auf 15 %). Voraussetzung ist fehlende Fiskalillusion.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

343

ren aber nur schwer umzusetzen, weil die Zahl der Betroffenen und die Beiträge hoch sind. Das Umlageverfahren ist für Politiker attraktiv, weil ohne Ansparphase sofort Leistungen (z.B. nach der Wiedervereinigung) gewährt werden können. Wenn Politiker den Kreis der Rentenbezieher erweitern oder die Rentenansprüche jetzt beitragszahlender Generationen kürzen, belasten sie diese Generationen über die Kosten aus dem Einführungsgewinn hinaus, den die Generationen zuvor hatten. Hierbei ist abzuwägen, dass jeder Versuch, eine gleichmäßigere Belastung der verschiedenen Generationen zu erreichen, neue intergenerationale Verzerrungen hervorrufen dürfte. Auch können Rentner nur gering ihre Alterseinkommen gestalten. Bei jeder Reform ist grundsätzlich zu beachten, dass die bislang erworbenen eigentumsähnlichen Anwartschaften eine Verbindlichkeit des Staates darstellen, die solange bedient werden muss, bis der letzte Anspruch erloschen ist. Will man die GRV ersetzen oder ergänzen, sind für den Übergang stets besondere Regeln erforderlich. Auch sie rufen zusätzliche Belastungen hervor. So ist mit der Rentenreform, die in Gleichung (11-1) zum Ausdruck kommt, ein teilweiser Übergang zur privaten Alterssicherung verbunden. Gleichzeitig wird die private Vorsorge steuerlich gefördert. Wenn weder Umlage noch Kapitaldeckung allokativ klar überlegen sind, spricht gegen einen vollständigen Übergang zur Kapitaldeckung die Risikostreuung, die mit mehreren Alterssicherungsformen herbeigeführt wird. Schließlich lassen sich in einer alternden Gesellschaft Reformen zu Lasten der älteren Bürger immer schwerer durchzusetzen, weil deren Anteil an den Wahlberechtigten zunimmt. Daher werden eher Maßnahmen ergriffen, die indirekt, nicht unmittelbar sichtbar zu Belastungen dieser Gruppe führen. Beispiele sind komplizierte Rentenformeln, lange Übergangsfristen, Zuschüsse usw. 6. Die gesetzliche Krankenversicherung a) Die Regelungen Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist die zweitgrößte Säule der deutschen Sozialversicherung. Organisatorisch ist die GKV eine gegliederte Versicherung, d.h. es gibt keinen einheitlichen Versicherungsträger, sondern insgesamt etwa 160 rechtlich selbständige Krankenkassen. Ihre Zahl ist aufgrund von Fusionen rückläufig. In Deutschland besteht Krankenversicherungspflicht. Anfang 2011 sind rund 86 % der Bevölkerung in der GKV versichert. Ihr gehören Pflichtversicherte, freiwillig Versicherte und Familienversicherte an, zu letzteren rechnen die (ohne eigene Beiträge) mitversicherten Ehepartner und Kinder, sofern deren eigenes Einkommen nicht versicherungspflichtig ist. Versicherungspflichtig sind alle Bürger, allerdings nicht notwendig in der GKV. Arbeitnehmer, deren Arbeitsentgelt die Beitragsbemessungsgrenze überschreitet, Beamte und Selbständige können auch die Private Krankenversicherung

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

(PKV) wählen. Den in der GKV oder PKV versicherten Personen kann nicht gekündigt werden, wenn sie die Beiträge nicht mehr zahlen können1. Beitragspflichtig sind Entgelte aus abhängiger Beschäftigung sowie gesetzliche und betriebliche Rentenzahlungen. Auf eine risikogerechte Finanzierung wird verzichtet. Die Beitragsbemessungsgrenze der GKV ist geringer als die der GRV. Sie ist von der Versicherungspflichtgrenze abgekoppelt. Überschreitet der Bruttolohn diese Grenze, so können die Mitglieder wählen, ob sie weiterhin Mitglied der GKV sein oder zur PKV wechseln möchten. Eine Rückkehr aus der PKV in die GKV ist nur schwer möglich. Pflichtversicherte Selbständige zahlen ihre Beiträge im vollen Umfang selbst. Die GKV unterliegt dem Selbstverwaltungsprinzip. Die einzelnen Träger sind unter staatlicher Aufsicht organisatorisch und finanziell selbständig und führen die ihnen staatlich zugewiesenen Aufgaben aus eigenem Recht (Satzung) durch. Praktisch ist ihr Spielraum begrenzt auf die Festlegung bestimmter Zusatzleistungen und der Prämien dafür sowie die Gestaltung der eigenen Verwaltungskosten. Die Mittel der GKV werden im Wesentlichen durch Beiträge der Mitglieder aufgebracht2. Die einzelnen Kassen müssen dafür sorgen, dass sich Einnahmen und Ausgaben ausgleichen. Die Beiträge sind je nach Krankenkasse unterschiedlich hoch3. Kassenwahlfreiheit, Kontrahierungszwang und begrenzter Leistungswettbewerb führen zum Beitragswettbewerb der Kassen. Um bei lohnbezogenen Beiträgen einen Wettbewerb um „gute“ Risiken zu beschränken, erfolgt zwischen Kassen mit einer günstigeren Versichertenstruktur und solchen mit einer ungünstigeren Struktur ein Risikostrukturausgleich. Bei einem ungünstigen Risiko werden hierbei die eingenommenen Beiträge einer Kasse erhöht und bei Kassen mit zu vielen günstigen Risiken reduziert. Hierzu wird der Beitragsbedarf einer Kasse aus der Summe der „standardisierten Leistungsausgaben“ je Versicherten ermittelt. Diese Leistungsausgaben je Versicherten unterscheiden sich nach Alter, Geschlecht, der Zahl der mitversicherten Familienangehörigen und der Einkommensstruktur der Versicherten. Nicht alle Ausgabenkategorien (z.B. Verwaltungsausgaben, Kuren) werden in den Ausgleich einbezogen, um Wettbewerb der Kassen zu bewirken. Die GKV gewährt allen Versicherten unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge den gleichen Versicherungsschutz. Er umfasst Leistungen zur Krankheitsbehandlung und -verhütung, Gesundheitsförderung, Früherkennung von Krankheiten und zur medizinischen Rehabilitation. Ferner gewährt die GKV Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Mit Ausnahme von Kranken- und Mutterschaftsgeld werden die im Krankheitsfall erforderlichen medizinischen Leistungen von der GKV in Gestalt von Sachleistungen zur Verfügung gestellt, ohne dass es grundsätzlich besonderer Zahlungsverpflichtung bedarf. Das Sachleistungsprinzip garantiert, dass jeder Kranke 1 2 3

Allerdings haben sie dann nur Anspruch auf eine Notfallversorgung. Der Bund leistet aber auch einen erheblichen Zuschuss. Seit 2009 fließen Kassenbeiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in einen Gesundheitsfonds, der vom Bund bezuschusst wird. Der Fonds leistet Pro-Kopf-Pauschalen mit krankheitsbezogenem Finanzausgleich an die Kassen.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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ohne Rücksicht auf sein Einkommen behandelt werden kann. Er muss nur seine Versicherungsmitgliedschaft nachweisen, ist aber als Nachfrager von Gesundheitsgütern nicht an den finanziellen Transaktionen beteiligt1. Die Krankenversicherungsbeiträge werden als ein bestimmter Prozentsatz des Bruttoarbeitsentgeltes unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze berechnet. Formal werden die Beiträge annähernd hälftig als Arbeitnehmerbeitrag und als Arbeitgeberbeitrag entrichtet. Alter, Geschlecht, Familienstand, Kinderzahl und das gesundheitliche Risiko der Versicherten sind für die Beitragshöhe unerheblich. b) Analyse der GKV Die Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung sind unklar. Zur Rechtfertigung des Versicherungszwangs werden hier neben den allgemein für die Sozialversicherungen genannten meritorischen Begründungen das Trittbrettfahrerargument und asymmetrische Informationen angeführt. Die Versicherungen können Risiken großer Gruppen von Individuen im Pool zusammenfassen. Weil man nicht weiß, ob und wann man krank wird und welche Ausgaben hierbei anfallen, wird eine Versicherung gewählt. Die meisten Individuen dürften risikoavers sein, d.h. sichere geringere Kosten der Versicherung eingehen, um nicht dem Risiko hoher Kosten bei unzureichender Vorsorge ausgesetzt zu sein. Wenn das Versicherungssystem alle Risiken abdeckt, unabhängig davon, ob sie hohe oder niedrige Behandlungskosten bzw. hohe oder niedrige Behandlungswahrscheinlichkeiten beinhalten, trägt das zu hohen Versicherungsprämien bei. Pooling-Gleichgewichte können auf den Gesundheitsmärkten aber nicht erhalten bleiben, denn Versicherer können immer den gesündesten Teil eines heterogenen Pools anziehen, indem sie ein geringfügig kleineres Versicherungspaket mit geringeren Kosten anbieten. Personen mit hohem Risiko bekommen so unter Umständen – selbst zu hohen Prämien – keinen Versicherungsschutz, denn bei hohen Transaktionskosten werden Versicherungen nur entsprechende Angebote machen, wenn sich genug Versicherungsnehmer finden. Hier setzt als weitere Begründung die Herstellung von Chancengleichheit bei der Versorgung mit Gesundheitsleistungen an. Die individuellen Krankheitsrisiken sind bereits bei der Geburt erkennbar, so dass mit geringem Gesundheitskapital ausgestattete Menschen für einen bestimmten Versicherungsschutz auch noch höhere Versicherungsprämien leisten müssten. Gruppen mit niedrigem Einkommen würden so keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten. Dies spricht für einen Krankenversicherungszwang, verbunden mit Mindestleistungsumfang, Diskriminierungsverbot und Kontrahierungszwang für die Träger der Versicherung. Eine Differenzierung der Prämie nach dem individuellen Risiko wäre dann nicht möglich. Die Vermeidung der Risikoselektion erfordert ferner einen Risikostrukturausgleich. Die Finanzierung hätte bei den genannten Einschränkungen Versicherungsbedingungen zu entsprechen, um in einem funktionsfähigen Wettbewerb die Wirtschaftlichkeit der Kassen zu erreichen. 1

Ausnahme: Zuzahlungen bei Arzneien sowie Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausaufenthalt, Zahnersatzleistungen, Kuren und Praxisgebühr.

346

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Ein (ausschließlich) staatliches Versicherungsangebot ist nicht erforderlich. Da eine Einkommensumverteilung über Teileinkommen nicht systematisch erfolgen kann, also willkürlich ist, darf die Prämie nicht einkommensabhängig festgelegt werden. Diese Bedingungen werden von der deutsche GKV nicht erfüllt. Sie stellt kein System dar. Sie beruht zwar auf Versicherungszwang für alle Bürger, die aber unter bestimmten Bedingungen zwischen zwei verschiedenen Systemen, nämlich der PKV und der GKV, wählen. Bei Beamten kommt noch die Sonderregelung der Beihilfe hinzu. Nun könnte man darauf verweisen, dass sich die GKV auf die Mitglieder einer Gruppe oder von Gruppen bezieht, die durch eine gewisse Homogenität ausgewiesen sind und daher eine besondere Verantwortung oder Solidarität untereinander haben. Wie der Risikostrukturausgleich zeigt, trifft dies aber nicht zu. Durch diesen „und die Wahlfreiheit der Versicherten hinsichtlich der Versicherung sind die einzelnen Risikogemeinschaften, die sich teilweise noch anhand bestimmter z.B. berufsständischer, regionaler oder anderer Merkmale abgegrenzt haben, quasi zu einer großen Versicherungsgemeinschaft verschmolzen worden. Die Risikostrukturen werden finanziell ausgeglichen ... Wollte man also die Argumentation mit der besonderen ‚Gruppenhomogenität’ aufrechterhalten, so müsste diese nun für das Gesamtkollektiv der gesetzlich Krankenversicherten geführt werden“ (Lutz/Schneider 1998, S. 730). Dann dürfen aber, wie erwähnt, Einkommensbezogenheit, Beitragsbemessungsgrenze und selektive Wahlmöglichkeit zwischen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen nicht bestehen. „Jede Versicherung verteilt um. Doch in der PKV wird die Umverteilung im Idealfall ausschließlich durch den Zufall gesteuert, nämlich von Versicherten, die während der Vertragsdauer keinen Schaden erlitten, hin zu jenen, die von einem Schaden betroffen wurden und Leistungen erhalten“. Demgegenüber enthält die GKV „stets Elemente systematischer Umverteilung bereits deshalb, weil die Beiträge nicht nach dem Risiko abgestuft sind, was zur Folge hat, dass Vermögen systematisch von den günstigen zu den ungünstigen Risiken umverteilt wird“. Die Umverteilung bezieht sich „aber häufig nicht nur auf die Finanzierung, sondern auch auf die Leistungen, d.h. Gesundheitsgüter und mittelbar die Gesundheit selbst“. Denn die GKV „gewährleistet den Zugang zu den Gesundheitsleistungen unabhängig vom Einkommen, während die Nachfrage nach diesen Leistungen grundsätzlich einkommenselastisch ist“. Zwar bezahlen Beschäftigte mit einem hohen Einkommen mehr als andere für dieselbe Versicherungsleistung. Wenn ihre Nachfrage nach Gesundheitsleistungen aber höher ist, wird die Umverteilung zu Lasten dieser Gruppe eingeschränkt (Zweifel 2006, S. 9f.). Da keine homogene Gruppe besteht, kann die als Solidarausgleich bezeichnete Umverteilung nicht effizient erfolgen. Sie ist teils zufällig, teils individuell gestaltbar, teils widersprüchlich. So erfolgt die Finanzierung durch Beiträge nach der Höhe des Bruttoarbeitsentgelts. Die einzelnen Versicherten werden folglich unterschiedlich hoch belastet, haben aber den gleichen Zugang zu Gesundheitsgütern. Beiträge führen also

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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allenfalls dem Grunde, nicht aber der Höhe nach1 zu Ansprüchen und haben daher Steuercharakter, eine Äquivalenz liegt nicht vor. Die Umverteilung betrifft ferner bei den Pflichtversicherten nur das Arbeitnehmereinkommen, es besteht eine Beitragsbemessungsgrenze, Empfänger hoher Einkommen können sich der GKV entziehen. Zu den verschiedenen Umverteilungen2 rechnen die zwischen S Versicherten mit höherem und geringerem Arbeitnehmereinkommen (allerdings endet die Umverteilung bei Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze), S Ledigen und Familien, S Ehepaaren mit unterschiedlicher Zusammensetzung der Unselbständigeneinkommen, S Männern und Frauen3, S Jungen und Alten, S Erwerbstätigen und Rentnern, S Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Lebenserwartung (sie ist bei Personen mit geringer Bildung niedriger als bei Personen mit Abitur oder höheren Bildungsabschlüssen), S Versicherten innerhalb der GKV mit Risiken oder Umständen (z.B. Kinder), für die die Finanzierungslast nicht von den GKV-Versicherten sondern der gesamten Bevölkerung zu tragen wäre. Abb. 11-3 macht in einem Drei-Generationen-Modell die intergenerative Umverteilung deutlich: je einer Defizitphase der bis zu 20-jährigen und einer Defizitphase der ab 60-jährigen steht die Überschussphase der 20- bis 60-jährigen gegenüber, die die beiden anderen Generationen mitfinanzieren müssen. Abb. 11-3 Drei-Generationen-Modell der GKV

Beiträge Leistungen

Leistungen Beiträge

Alter 20 1 2

3

60

In der Vergangenheit gab es das lohnabhängige Krankengeld, das aber inzwischen aus dem paritätisch zu finanzierenden Leistungskatalog ausgegliedert wurde. Dazu rechnet nicht die Umverteilung, die ex post zwischen Gesunden und Kranken stattfindet, wie es dem Risikoausgleich entspricht. Zu den verschiedenen Umverteilungen siehe Sachverständigenrat (2005, Tz. 512ff.). Gleiche Beiträge für Männer und Frauen führen trotz unterschiedlicher Lebenserwartung, alterspezifischer Mortalität und Morbidität zu gewollter Umverteilung. Sie wird auf europäischer Ebene mit dem Diskriminierungsverbot begründet, obwohl sie eine Diskriminierung der Männer impliziert.

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

348

Die dritte Phase ist tatsächlich nicht so scharf durch das Alter wie durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben geprägt. Jedes Wechseln von der zweiten zur dritten Stufe bedeutet, dass die Überschüsse der mittleren Phase reduziert und die Defizite der letzten durch die geringeren Beiträge der Rentner erhöht werden. In der privaten Krankenversicherung1 werden die Prämien an das Prinzip der Individualäquivalenz angelehnt und nach individuellen Risikofaktoren wie Eintrittsalter, Geschlecht und speziellen Risiken differenziert. Sie setzt also an Merkmalen an, für die der Einzelne in den meisten Fällen gar nicht verantwortlich ist (wie Vorerkrankungen)2. Damit die Älteren nicht mit zu hohen Beiträgen belastet werden, sieht die private Krankenversicherung Altersrückstellungen vor. Auf die Probleme der PKV soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. In der GKV erfolgen keine Altersrückstellungen und keine Gesundheitsprüfung bei Eintritt. Die GKV steht vor ähnlichen Herausforderungen wie die GRV. Der demografische Wandel und der unaufhaltsame medizinische Fortschritt bewirken eine zunehmend älter werdende Bevölkerung. Bei der GKV wird das Umlageverfahren ohne Differenzierung nach Risikofaktoren angewendet. Den Beitragseinnahmen auf der linken Seite von Gleichung (11-4) stehen die Ausgaben der Periode gegenüber3: (11-6)

K

K

K

R

R

K

K

K

K

] (L W S 9 B W N ) ) B L W N L 9 B R W N R .

Hierbei sind ]K der Beitragssatz zur GKV, LK die durchschnittliche belastete Lohnsumme, SK die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler, BKL die im Durchschnitt auf die Erwerbstätigen entfallenden Versicherungsleistungen, NKL die Zahl der Nutzer mit entsprechender Notierung dann für die Rentner. Den Beitragseinnahmen stehen also in gleicher Höhe – sieht man von den Verwaltungskosten vereinfachend ab – Leistungen an die Arbeitnehmer und Rentner gegenüber. Zum Druck auf ]K tragen insbesondere bei: S Die Leistungen an die Rentner sind weit unterproportional durch Beiträge dieser K R R K K Gruppe finanziert, also ] ( B W N ) + B R W N R . S Der Anteil der Rentner an den Leistungsempfängern wächst. S Mit der Alterung der Gesellschaft nehmen die Krankenversicherungsleistungen zu. S Auch die Änderung der Haushaltsstrukturen, so die Zunahme kleinerer Haushalte und des Anteils von Haushalten ohne Kinder, wirkt sich auf die familiären Versorgungsmöglichkeiten bei Krankheit (und Hilfsbedürftigkeit) und damit auf die Leistungen aus.

1 2 3

Die PKV hat auch einen einfachen Pflichtersatztarif. Zur Messung der Umverteilung der GKV im Vergleich zu versicherungstechnisch äquivalenten Beiträgen siehe Lutz/Schneider (1998). Im Detail sind einige Modifikationen zu beachten.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

349

Diese Merkmale der GKV gehen einher mit einem Markt für Gesundheitsgüter, der durch asymmetrische Information gekennzeichnet ist. Der Patient (Auftraggeber oder Prinzipal) hat in der Regel schlechtere Informationen über medizinische Leistungen als der Arzt (Auftragnehmer oder Agent). Der Nutzer medizinischer Leistungen ist auf die Informationen der Anbieter, meist der Ärzte, angewiesen. Der Patient kann aber ihre effektive Leistung nicht genau beobachten. Zudem kann der Arzt die Nachfrage nach den eigenen Leistungen (und so sein Einkommen) steuern. Qualität und Erfolg sind häufig nur unzureichend zu beschreiben. Das ist ein Grund für besondere Zulassungsbedingungen bei Ärzten, aber auch bei Medikamenten. Patienten können meist nicht oder nur unzureichend durch mehrfache Inanspruchnahme medizinischer Leistungen die Qualität des Angebots testen (z.B. bei Operationen). Qualitätsberichte werden für Ärzte und für Krankenhausleistungen nicht erstellt, ebenso fehlt ein Negativkatalog wenig effektiver Medikamente. Informationsprobleme bestehen auch bei den Ärzten über den Zustand der Patienten und über alternative Behandlungsmethoden. Die Problematik unterschiedlicher Informationsverteilung besteht auch im Verhältnis zwischen Versicherern sowie Ärzten und Patienten. Hierbei ist der Arzt meist der einzig wirklich informierte Marktteilnehmer. Sein Interesse (Einkommen) muss nicht mit dem Interesse des Patienten (optimale Versorgung) und der Kassen (z.B. Kostenminimierung) übereinstimmen. Da der Standard ärztlicher Leistungen meist nicht normiert ist und keine Qualitätsgarantie gegeben wird, kann auch aus dem Preis der Leistungen nicht auf deren Güte geschlossen werden. Den Preis der Leistungen bzw. die Höhe der Behandlungskosten kennen die Patienten in der Regel wegen des Sachleistungsprinzips nicht, denn sie erhalten keine Rechnungen. Die Ärzte rechnen mit den Kassen ab; hierzu wird ein Punktsystem angewendet. So wird eine effiziente Nutzung volkswirtschaftlicher Ressourcen verhindert. Die Abführung der gesamten Beiträge durch die Arbeitgeber und die rechnerische Zuordnung eines Teils davon auf die Arbeitgeber reduzieren die Fühlbarkeit der Abgabenbelastung. Die Möglichkeit des schnellen Kassenwechsels erhöht andererseits das Informationsinteresse der Versicherten. Grundsätzlich ist die Nutzung ärztlicher Leistungen, Medikamente usw. dann effizient, wenn sie bis zu dem Punkt erfolgt, an dem der Grenznutzen für den Konsumenten den Grenzkosten der Bereitstellung entspricht. Infolge asymmetrischer Information beruht die Kenntnis des Konsumenten über Grenznutzen und Grenzkosten auf Aussagen des Anbieters. Wenn die Grenzerträge zu hoch eingeschätzt werden oder der Arzt Leistungen verschreibt, bei denen der Grenznutzen kleiner als die Grenzkosten sind, werden zu viele Ressourcen in medizinische Leistungen gelenkt. Abb. 11-4 zeigt mit EHx3 den größten Wohlfahrtsverlust. Er tritt bei der Sättigungsmenge x3 ein, wenn die vollversicherten Patienten medizinische Leistungen ohne eigene Beteiligung erlangen und diese maximal nachfragen. Die Bezahlung erfolgt durch einen Dritten, die GKV (oder PKV) und schöpft jedes Budget aus. Ist eine Beteiligung der Patienten (z.B. in Höhe von 0A) vorgesehen, kann der Wohlfahrtsverlust auf EFC verringert werden. Je höher der Eigenanteil liegt, umso weniger Versicherungsleistungen werden nachgefragt: Bei 0D = GK hätten die Patienten unmittelbar die vollen Kosten der medizinischen Leistungen zu tragen. Hier würde bei fehlender Risikoaversion die Wohlfahrt

350

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

maximiert. Die Ausweitung von x1 auf x3 kann als Folge moralischen Risikos angesehen werden. Abb. 11-4 Ineffiziente Leistungsbereitstellung in der GKV p

D

.

A

0

.

E

. .

.

.

x1

x2

B

F

H

GK

C x3

Menge medizinischer Leistungen

Das Sachleistungsprinzip und der fast unbegrenzte Zugang zu medizinischen Leistungen setzen also den Preismechanismus außer Kraft. Der Versicherte hat versicherungsmäßig keine Anreize zu einem krankheitsverhindernden oder gesundheitsfördernden Verhalten (Moral Hazard). Die Selbstbeteiligung1 trägt allerdings dazu bei, dieses Problem zu reduzieren. Während in der GRV familienpolitische Leistungen durch Bundeszuschuss finanziert werden, gibt es entsprechende Leistungen in der Krankenversicherung nicht. Dies ist ein weiteres Beispiel für die unsystematische Umverteilungspolitik, hier bezogen auf Kinder. Zwangsmitgliedschaft und Umverteilung sind letztlich nur in einem universellen System zu legitimieren, das die gesamte Bevölkerung umfasst. Es darf nicht auf einzelne Gruppen beschränkt sein, die durch ihre Beschäftigung und ihr Einkommen definiert sind. Die Versicherungsbeiträge sind (arbeits-)einkommensabhängig und damit ohne direkte Verbindung zur Versicherungsleistung. Jede Leistungszunahme erhöht über steigende Beiträge die Lohnkosten. Das löst negative Beschäftigungseffekte aus, weil das Faktorpreisverhältnis zu Ungunsten des Faktors Arbeit verändert wird. Eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung der GKV wird als Bürgerversicherung vorgestellt. Im Vordergrund steht hier das Ziel der Einkommensumverteilung. Die gesamte Bevölkerung (also auch Selbständige und Beamte) wird in ein einheitliches Umlageverfahren einbezogen. Wegen der im Durchschnitt höheren Beiträge und besseren Risiken wird netto eine Verbesserung der finanziellen Situation der GKV erwartet. Die Bemessung der Beiträge nach dem Gesamteinkommen (also einschließlich Kapitalein-

1

Vgl. Kapitel 4.7.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

351

kommen1) würde de facto einen Übergang zur Steuerfinanzierung, allerdings mit Zweckbindung, bedeuten. So würde die Einkommensumverteilung nicht mehr auf bestimmte unselbständige Einkommen beschränkt. Es ist aber ineffektiv, ineffizient und intransparent, der (unvollkommenen) bestehenden Einkommensteuer eine zweite Einkommensteuer mit anderer Bemessungsgrundlage zur Seite zu stellen, zumal wenn beide von unterschiedlichen Institutionen erhoben werden. Die Einkommensumverteilung ist auch unsystematisch, wenn nicht das gesamte Einkommen als Bemessungsgrundlage herangezogen wird, sondern jeweils unterschiedliche Teileinkommen. Die mit der Bemessungsgrenze verbundene Wahlfreiheit vor allem für Personen mit höherem Einkommen führte bisher zu adverser Selektion zugunsten derjenigen, die individuelle Nettovorteile haben (insbesondere Personen ohne Kinder, Singles, Jüngere). Dieses Problem entfällt bei allgemeiner Versicherungspflicht und individuellen Tarifen. Die langfristige Abkopplung vom demographischen Wandel wird auf der Einnahmenseite nur teilweise erreicht, weil die Renten geringer als die Bruttolöhne der Arbeitnehmer und die Gesamteinkommen im Alter geringer als in der Erwerbstätigenphase sind. Auf der Ausgabenseite ist „kein Beitrag zu mehr Effizienz (mehr Wettbewerb) vorgesehen und auch für die ausgabenseitigen Folgen der demographischen Entwicklung (höhere und schneller steigende Gesundheitsausgaben für die zunehmende Zahl der Älteren) leistet die Bürgerversicherung keinen positiven, sondern im Gegenteil eher einen negativen Beitrag, denn durch die Einbeziehung aller Bürger in das Umlageverfahren der GKV muss die Private Krankenversicherung als Kapitaldeckungsmodell auslaufen. Statt mehr erreicht man insgesamt weniger Kapitaldeckung mit entsprechend zunehmenden Belastungen der nachwachsenden Generation“ (Knappe 2004, S. 2). In der Bürgerversicherung führt die rechnerisch anteilige Finanzierung der Beiträge wie bisher in der GKV dazu, dass Beitragsminderungen durch Kassenwechsel nur teilweise dem Versicherten zufließen. Die Anreize wären bei vollständiger Auszahlung der vorenthaltenen Lohnbestandteile an die Arbeitnehmer höher. Wenn alle Bürger versicherungspflichtig wären, und das Einkommen aller Beitragszahler über der Bemessungsgrenze läge, hätte man eine Kopfpauschale. Dann könnte der Familienlastenausgleich (horizontale Umverteilung) systematisch innerhalb der Versicherung erfolgen. Er könnte aber auch über Steuern/Transfers durchgeführt werden, wie es die Vertreter der Gesundheitsprämie vorschlagen. Mit der Alternative einer undifferenzierten individuellen Gesundheitsprämie (Bürgerpauschale) wird eine organisatorische Trennung der Allokations- und Umverteilungsziele angestrebt. Alle Versicherungspflichtigen zahlen eine beschäftigungsund einkommensunabhängige Prämie. Sie entspricht den durchschnittlichen Ausgaben für zuvor definierte Leistungen und ist kostendeckend. Die Bürger werden als risikogleich wie im Stadium des Unwissens behandelt. Damit auch Einkommensschwache 1

Deren Belastung gelingt bereits im Rahmen der Einkommensteuer nur begrenzt.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

die Prämie zahlen können, werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen zu finanzierende Zuschüsse vorgeschlagen. Die nach Einkommen und Familienstand vorgesehene Umverteilung aus Steuermitteln könnte dann einsetzen, wenn der Gesamtbeitrag der Familie eines Versicherten einen bestimmten Prozentsatz des Einkommens übersteigt. Bei dieser Ausgestaltung würde allerdings auch weiterhin ein Teil der Versicherungsbeiträge einkommensabhängig sein. Der soziale Ausgleich könnte aber auch über das bestehende Steuer/ Transfersystem erfolgen, indem der Regelsatz der Sozialhilfe und der Grundfreibetrag der Einkommensteuer für alle Familienmitglieder zur Erfassung des durchschnittlichen GKV-Beitrags angepasst werden. Durch die Abkoppelung von den Arbeitskosten wird der Abgabenkeil reduziert und damit die Grenzbelastung vieler Arbeitnehmer verringert. Es kommt zu einer klaren organisatorischen Trennung von Allokation und Verteilung. Durch die Freiheit der Kassenwahl soll mehr Wettbewerb unter den Kassen entstehen. Dieser wird auch zwischen den staatlichen und privaten Kassen zu eröffnen sein. Voraussetzung hierfür ist das Angebot eines einheitlichen, gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalogs und die Einbeziehung aller Kassen in den Risikostrukturausgleich. Die lebenserhaltenden und -verlängernden Maßnahmen als Folge der Wirksamkeit des technischen Fortschritts bedeuten eine zunehmende Morbidität der Bevölkerung. Bei gleichem Versorgungsniveau sind stetig steigende Beitragssätze erforderlich. Hierbei ist zu beachten, dass die GKV (fast) eine Krankheitskostenvollversicherung ist, mithin die Patienten auf den gesamten Katalog medizinisch notwendiger Leistungen zurückgreifen können. Rationierung, d.h. Zuteilung nicht über den Preis, ist folglich unumgänglich (siehe Kopetsch 2001). Die Bedeutung der Rationierungsentscheidungen wird auch zunehmen, um der Kostenexplosion durch medizinischen technischen Fortschritt Rechnung zu tragen. Die Gesundheitsprämie muss nicht die mit dem Alter vorhersehbare Risikozunahme decken. Hier sind auch differenzierte Pauschalprämien für Alterskohorten denkbar. Auch könnte freiwillige Altersvorsorge durch Prämienaufschlag für Altersrückstellungen erfolgen. Ein Mittel zur Kostendämpfung sind auch Einschränkungen des Leistungskatalogs und Zuzahlungen, die aber auch Finanzierungsinstrument sind. Zur Schaffung eines Kostenbewusstseins müssen die Versicherten ferner über ihre Behandlungskosten informiert werden. c) Die politische Ökonomie der GKV Die langfristig relativ zum BIP steigenden Ausgaben können Ausdruck der Präferenzen der Bevölkerung sein. Allerdings ist die GKV eine staatliche Zwangsversicherung, Beiträge und Leistungen beruhen also nicht auf individuellen Entscheidungen. Ferner bilden sich die Preise im Gesundheitsbereich nicht über Angebot und Nachfrage, sondern werden administrativ festgelegt. Wenn das System also ineffizient und immer

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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teurer wird, warum kommt es nicht zu grundlegenden Reformen? Der Grund liegt wohl darin, dass verschiedene Gruppen ein Interesse an der Erhaltung des Systems haben. Weil die Organisationsstruktur der GKV komplex ist, sind auch die Interessen verschieden. Das Angebot medizinischer Leistungen wird durch das Zusammenwirken einer Vielzahl verschiedener Steuerungsverfahren und Entscheidungsträger beeinflusst: durch marktwirtschaftliche und marktähnliche Steuerungsinstrumente, durch Wahl- und Verhandlungsprozesse, durch Gesetzgebung und bürokratische Verfahren und Einbeziehung von Verbänden und ihrer Funktionäre. Die Bezahlung der Ärzte durch die GKV gibt den Versicherten keine Informationen über die Kosten ihrer Behandlung. Das Niveau der Arzthonorare wird in direkten Verhandlungen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen (der Vertretung der niedergelassenen Ärzte) und Krankenkassen festgelegt, die Preisstruktur der ärztlichen Leistungen in Gebührenordnungen als Ergebnis von Verhandlungen zwischen GKV, Kassenärztlichen Vereinigungen und Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit festgeschrieben. Der Gesetzgeber legt den Rahmen, aber auch viele Details fest. Zunehmende Ausgaben können darauf zurückgeführt werden, dass eine Verlagerung der (Ausgabenstruktur bzw.) Nachfrage zugunsten medizinischer Leistungen stattfindet, durch die sich die Nachfragekurven nach rechts verschieben. Das kann mit der Eigenschaft von Gesundheit als einem superioren Gut zusammenhängen, aber auch mit Eigenschaften der Krankenversicherung. Mitglieder der GKV haben zur Zeit bei Zwangsmitgliedschaft und weitgehender Vollversicherung nur die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kassen und können so ihre Interessen wahrnehmen. Die Kassen haben im Allgemeinen ein Interesse an der Ausweitung ihrer Ausgaben; ihr Interesse an geringeren Beiträgen ist gering. Bei einer Reform z.B. in Richtung Gesundheitsprämie oder Bürgerversicherung ist zu fragen, was grundsätzlich anders als die bestehende Regelung ist und was die Reformmodelle unterscheidet. Ferner interessiert die Entscheidungsträger und Betroffenen, welche Institutionen abgeschafft werden und welche neu entstehen sollen und was mehr oder weniger Transparenz bringt. Je intransparenter Regelungen sind, umso mehr Fiskalillusion lässt sich erzeugen. Das ist wichtig für die Antwort auf die Frage, welche Reform welche Gruppen positiv bzw. negativ tangiert und wie mehr Wählerunterstützung zu bekommen ist. Für den Versicherungspflichtigen ist es schwer zu bestimmen, ob er zu denen gehört, deren durchschnittliche Leistungen unterhalb des durchschnittlichen Krankenversicherungsbeitrags liegen und er Nettozahler bzw. Steuerzahler wäre. Als Ziel einer Gesundheitsreform wird u.a. ein gleicher Zugang für alle Bürger zur Krankenversicherung als Bedingung für gleichen Zugang zu den Gesundheitsleistungen und damit eine Gleichheit des Gesundheitsstandes formuliert. Diese Versorgungsgleichheit lässt sich prinzipiell durch Bürgerversicherung und Bürgerprämie gleich

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

erreichen. Die Befürworter einer der beiden Varianten versprechen sich offenbar, mit einer Versicherungsform einen besseren Zugang zu den Gesundheitsleistungen zu signalisieren oder mehr Fiskalillusion erzeugen zu können. 7. Die Arbeitslosen- und die Pflegeversicherung a) Die Arbeitslosenversicherung (1) Die Regelungen Träger der Arbeitslosenversicherung (AV) ist die Bundesagentur für Arbeit. Sie ist sowohl zuständig für die soziale Absicherung gegen das Risiko Arbeitslosigkeit als auch (und primär) für die Arbeitsvermittlung einschließlich des Ziels der Durchsetzung eines hohen Beschäftigungsstandes. Die Beitragspflicht erstreckt sich grundsätzlich auf alle Personen, die als Arbeiter oder Angestellte gegen Entgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. Die Beiträge werden bis zur jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze erhoben, die identisch mit der der GRV ist. Formal juristisch werden auch sie jeweils zur Hälfte als Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag berechnet und an die Krankenkassen als Einzugsstellen abgeführt1. Durch die Beiträge werden in erster Linie die Mittel für die Finanzierung des Arbeitslosengeldes, der Hauptleistung der Arbeitslosenversicherung aufgebracht. Das Arbeitslosengeld I (ALG I) ist als Lohnersatzleistung konzipiert, die an die Stelle des während der Zeit der Arbeitslosigkeit ausfallenden Arbeitsentgeltes tritt. Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer arbeitslos ist, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hat, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und die Anwartschaftszeit2 erfüllt hat. Die Bezugsdauer von ALG I richtet sich nach der Dauer der Beschäftigung vor dem Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung und dem Lebensalter des Antragstellers. Ausgangspunkt der Bemessung von ALG I ist in der Regel das Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose in den Lohnabrechnungszeiträumen der letzten sechs Monate vor der Arbeitslosigkeit durchschnittlich in der Woche erzielt hat, wobei Mehrarbeitszuschläge, Gratifikationen u.ä. außer Acht bleiben. Vermindert man dieses Bruttoarbeitsentgelt um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, ergibt sich das sog. pauschalierte Nettoarbeitsentgelt3. Das ALG I beträgt bei Arbeitslosen mit mindestens einem Kind 67 %, bei den übrigen Arbeitslosen 60 % des pauschalierten Nettoentgeltes. Zudem übernimmt die BfA die Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung.

1 2 3

Im engeren sozialrechtlichem Sinne wird die AV nicht zur Sozialversicherung gerechnet, sondern als Teil der Arbeitsförderung betrachtet (und entsprechend im Sozialbericht nachgewiesen). In den vorangegangenen zwei Jahren müssen mindestens 12 Monate Beiträge gezahlt worden sein. Dieses ist z.B. durch rechtzeitige Steuerklassenwahl manipulierbar.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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Nach Ausschöpfung des Anspruches auf ALG I erhalten erwerbsfähige Langzeitarbeitslose1 einheitlich das vom Bund finanzierte Arbeitslosengeld II (ALG II), nichterwerbsfähige Langzeitarbeitslose haben bei den Kommunen Anspruch auf ein stärker pauschaliertes Sozialgeld. Der zweite große Ausgabenbereich der AV betrifft die Arbeitsförderung. Hier werden an Arbeitgeber Mittel verteilt, die finanzielle Anreize zur Einstellung von Arbeitslosen geben sollen, die sonst nicht zu vermitteln wären. So soll deren meist geringerer Produktivität (u.a. durch Demotivierung und Dequalifikation) Rechnung getragen werden. Es handelt sich um Eingliederungszuschüsse, die unterschiedlichen Gruppen mit verschiedener Dauer der Arbeitslosigkeit zugute kommen sollen. Auch werden Neugründungen gefördert, die Arbeitslose einstellen. Ferner werden Zuschüsse für die berufliche Ausbildung von Auszubildenden geleistet. Auch werden im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) Mittel vergeben. Bei der AV ist mit Moral-Hazard-Problemen zu rechnen, weil die Suchaktivitäten der Arbeitslosen nur eingeschränkt kontrolliert werden können. Das gilt selbst dann, wenn die Versicherung höchstens 2/3 Lohnersatz gewährt. Mittel der AV werden zur Arbeitsförderung auch von Personen verwendet, die nicht versichert sind. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Bund versicherungsfremde Aufgaben auf die BA lädt, die von den Versicherten zu finanzieren sind. (2) Wirkungen und Probleme Es wird auch vorgeschlagen, die Dauer des Arbeitslosengeldes von der Länge der Beitragszeit abhängig zu machen. Die Regelung würde Rabatten für nicht in Anspruch genommene Versicherungsleistungen entsprechen. Allerdings weiß niemand ex ante, ob und wann ein Schaden eintritt. Jeder Versicherte hat aber Anspruch auf Leistungen unabhängig von der Dauer der Prämienzahlungen. Auch führt ein längerer Arbeitslosengeldbezug zu Anreizen, Vorruhestandsprogramme auf Kosten der Allgemeinheit vor dem Rentenantritt zu kreieren bzw. zu wählen. Höhere Beiträge entsprechen insofern versicherungsmäßiger Äquivalenz, als ihnen höhere Versicherungsleistungen entsprechen; sie sind allerdings ein willkürliches Verteilungsinstrument, soweit mit ihnen z.B. Arbeitsmarktpolitik finanziert wird. Auf die Lohnersatzleistungen entfällt etwa die Hälfte der Ausgaben der BfA, die andere insbesondere auf die allgemeine Arbeitsmarktpolitik. Hier könnte gefragt werden, ob es nicht sachgerecht wäre, den zweiten Teil durch Steuern zu finanzieren und so die Lohnnebenkosten zu senken. Ein nur für die finanzielle Absicherung von Arbeitnehmern gegen die Risiken der Arbeitslosigkeit und der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers bestehender eigenständiger Bereich der Arbeitslosenversicherung besteht nicht.

1

Die dritte Lohnersatzleistung ist das Insolvenzgeld. Es wird durch eine jährliche (nachträgliche) Umlage unter den Berufsgenossenschaften finanziert.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Das Risiko der Arbeitslosigkeit schwankt stark zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen. Es ist nicht nur vom Geschlecht und dem arbeitsrechtlichen Status, sondern auch von der Qualifikation, der Branche (z.B. strukturelle Arbeitslosigkeit), dem Alter, der Berufserfahrung, der Arbeitszeit, der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit usw. abhängig. Weil die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung aber nicht nach dem Risiko differenzieren, kommt es zu Umverteilungen. Insofern ist die AV versicherungstechnisch nicht fair. Die Frage der Privatisierung der Arbeitslosenversicherung ist in der Praxis insoweit entschieden, als in diesem Bereich kein umfassendes, versicherungsmäßig kalkuliertes Angebot der Privatversicherung vorliegt, die Angebote beziehen sich auf die Aufstockung von Arbeitslosengeld oder auf Zusatzversicherungen, um z.B. während der Arbeitslosigkeit bestehende Zahlungsverpflichtungen z.B. für Versicherungsprämien zu erfüllen (vgl. Schmähl 1998, S. 717). Es ist auch nicht zu erwarten, dass ein privates Versicherungsunternehmen eine Vollabsicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit anbieten würde, „da es befürchten müsste, dass der Staat oder die Gewerkschaft daraufhin den Mindestlohn über das kalkulierte Niveau hinaus anheben würde. Die dadurch zusätzlich verursachte Arbeitslosigkeit würde dem Unternehmen Verluste bescheren“ (Breyer/Buchholz 2007, S. 265). Für die Beurteilung der AV ist neben der Sicherungsfunktion bedeutsam, welche Arbeitsanreize vom Arbeitslosengeld ausgehen. Um die „Gefahr“ zu verringern, dass Arbeitslosengeld und Freizeit (und ggf. Schwarzarbeit) höher geschätzt werden als reguläre Arbeitseinkommen und weniger Freizeit und so die Vermittlungschancen reduzieren, gibt es die Zumutbarkeits-Anordnung, d.h. die Verpflichtung, auch geringer entlohnte und niedriger qualifizierte Arbeitsplätze anzunehmen. Grundsätzlich ist Arbeitslosen jede legale Beschäftigung nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit zumutbar. Bei Arbeitsunwilligen kann die Hilfe bis zu 25 % gekürzt werden. Der MoralHazard-Effekt, nämlich nicht ausreichend Sorge zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit zu tragen, ist um so stärker, je höher die Arbeitslosenunterstützung ausfällt. Anreizund Einkommensersatzfunktion stehen hier in Konflikt1. Die AV wird kritisiert, weil sie (wie auch ALG II und die Sozialhilfe) für Untätigkeit zahlt und die Beschäftigten gleichzeitig belastet. Bei Beginn einer Tätigkeit entfällt das Arbeitslosengeld abgestuft und die Belastung aus Steuern und Sozialabgaben setzt ein (vgl. auch Punkt 9 unten). Anstelle einer solchen Entmutigung der Arbeitssuche könnten auch positive Anreize gegeben werden. Snower (2000) schlägt Beschäftigungsvouchers vor, die bei neuer Beschäftigung in Geld umgewandelt werden könnten. Die Vouchers ließen sich z.B. nach Dauer der Arbeitslosigkeit gestalten, so dass Personen mit den geringsten Beschäftigungschancen die höchsten Beschäftigungsanreize erfahren. Sollte die Vergabe von Vouchers allerdings mit einer Einschränkung des Arbeitslosengeldes verbunden sein, würde seine Schutzfunktion eingeschränkt. Die Bezieher von ALG I haben begrenzte Zuverdienstmöglichkeiten.

1

Das wurde schon in Kapitel 15.3c) gezeigt.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

357

(3) Die Politische Ökonomie der AV In der AV treffen die Interessen der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Steuerzahler, Politiker, Arbeitsverwaltung und ihre jeweiligen Vertreter aufeinander. Da Sozialbeiträge Arbeitskosten sind, haben Arbeitgeber ein Interesse an geringeren Beitragslasten. Ein gleiches Interesse an der Abschaffung der AV haben sie aber nicht, weil mit deren Leistungen Beschäftigungsverhältnisse besser gestaltet werden können. Vertreter der Arbeitnehmer haben ein Interesse daran, die Abgabenbelastung der Löhne zu reduzieren (nicht abzuschaffen), indem diese durch andere Abgaben finanziert werden. Diese Lohnkostensenkung erhöht gleichzeitig den Spielraum bei Lohnverhandlungen. b) Die gesetzliche Pflegeversicherung (1) Die Regelungen Auch die seit 1995 geltende soziale Pflegeversicherung (SPV) beruht auf dem Umlageverfahren, das ebenso für die private Pflegeversicherung gilt. Nahezu die gesamte Bevölkerung ist gegen das Pflegerisiko abgesichert. Die Ursachen der Pflegebedürftigkeit sind Krankheiten und Behinderungen. Pflegebedürftigkeit tritt nicht ausschließlich im Alter auf, doch steigt ihre Häufigkeit mit zunehmendem Alter progressiv an. Die Zahl der Pflegebedürftigen in einer Gesellschaft ist um so höher, je größer die Zahl der alten Menschen ist und je älter diese werden. Steigende Lebenserwartung geht zwangsläufig mit einer wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen einher. Insofern trägt der medizinische Fortschritt auch hier zu Mehrbelastungen bei. Weitere Ursachen für die Zunahme der Lebenserwartung sind verbesserte Ernährung, Hygiene und Wohnverhältnisse, kurz: allgemein verbesserte Lebensbedingungen. Träger der SPV sind die Pflegekassen. Sie sind selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und unterliegen der staatlichen Aufsicht. Die Krankenkassen führen auch die Geschäfte der Pflegekassen, da die Pflegeversicherung der Krankenversicherung organisatorisch angegliedert ist. Der gesetzlichen Pflegeversicherung gehören alle diejenigen an, die in der GKV versichert sind. Das gilt für die Pflichtversicherten und für die freiwillig Versicherten. Allerdings haben die freiwillig Versicherten ein Wahlrecht zur privaten Pflegeversicherung. Der Beitragssatz ist für alle Pflegekassen – im Unterschied zu den Krankenkassen – gleich. Ferner gilt die Beitragsbemessungsgrenze der GKV. Die SPV ist als Versicherung mit Teilkaskocharakter konzipiert. Sie bietet Leistungspauschalen, die nach Versorgungsart (häusliche und stationäre Pflege) und Pflegebedürftigkeit gestaltet sind, wobei zwischen Sach- und Geldleistungen sowie zwischen Leistungen an die Pflegebedürftigen und an Pflegepersonen bzw. -institutionen unterschieden wird. Im Gegensatz zur gesetzlichen Alterssicherung ist der Leistungskatalog festgelegt und enthält keine Elemente von Dynamisierung.

358

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

(2) Wirkungen und Probleme Ohne SPV sind die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen auf sich selbst angewiesen und müssen die Folgen bzw. Kosten der Pflegebedürftigkeit aus eigenem Einkommen und Vermögen abdecken. Reichen die finanziellen Möglichkeiten der Betroffenen nicht aus, kann die subsidiäre Unterstützung der Sozialhilfe in Anspruch genommen werden. Tatsächlich bezahlt die SPV die Leistungen bei Eintritt des Schadensfalles „Pflegebedürftigkeit“, für den ein unbedingter Leistungsanspruch besteht. Die Einführung der Pflegeversicherung vergrößert somit in erster Linie die Höhe der Erbschaften, daher kann sie auch als „Erbschaftsschutzversicherung“ bezeichnet werden. Eigenes (Vorsorge-) Sparen entfällt insofern bzw. ist nicht möglich. Die SPV entlastet die Gemeinden von Sozialhilfe. Maßgeblich für die Wahl des Umlageverfahrens war der rein kurzfristige Effekt bei Einführung der SPV, Pflegebedürftigen sofort (1995) Leistungen zukommen zu lassen. Die Wahl der Beiträge statt Steuern erfolgte zudem, weil ihre Akzeptanz größer ist: man kann auf Zahlungsansprüche aus zukünftigen Budgets verweisen. Der Einführungsgewinn der SPV entsteht für die erste Generation wie bei der GRV1. Mit der impliziten Schuld haben künftige Politiker- und Steuerzahlergenerationen umzugehen. Aus allokativer Sicht lässt sich eine Pflicht zur Altersvorsorge damit begründen, dass Rückgriffe auf die Sozialhilfe und somit Wohlfahrtsverluste verringert werden. Hierzu wäre es aber erforderlich, dass Personen mit unzureichendem Einkommen zweckgebundene Transfers bekommen, um diese Versicherung zu erlangen. Die Pflegeversicherung erfordert aber nicht eine staatliche Bereitstellung. Daher hätte der Zwang zu privater Vorsorge gereicht, durch den die Marktnachfrage nach Versicherungsschutz ausgeweitet worden wäre. Im Gegensatz zur GRV ist der Bestandsschutz bei der SPV wegen der noch geringen bisherigen Einzahlungen weniger ausgeprägt, so dass stärkere Korrekturen in Richtung auf eigene Vorsorge möglich sind. Das kann zu Doppelbelastungen der gegenwärtigen Zahlergeneration führen. So könnte man die Leistungszusagen auf ein bestimmtes Alter beschränken. Die durchschnittlichen Leistungsausgaben der SPV pro Kopf und Jahr sind bis zu einem Alter von etwa 65 Jahren gering und liegen deutlich unter den durchschnittlichen Beitragslasten. Danach werden die Beiträge geringer und die Ansprüche nehmen deutlich zu. Ein intertemporaler Budgetausgleich für Generationen wird aber nicht erreicht, weil die Versicherung erst neu ist und die implizite Steuer besteht. Diese wird auch als Nachhaltigkeitslücke interpretiert, d.h. als der fehlende Betrag, um das derzeitige Leistungsniveau bei gegebenen Beiträgen zur SPV auch für künftige Generationen aufrecht erhalten zu können. Sie wird nach Häcker/Raffelhüschen (2004) mit ½ bis 1 BIP geschätzt. Zur Sicherung des gegenwärtigen Leistungsniveaus müssten die Jahresbeiträge zur SPV künftig erheblich ansteigen. 1

Er wäre nur mit einer Belastung dieser Generation durch eine besondere Abgabe – gezielt etwa auf den Nachlass – zu kompensieren gewesen.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

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Marktwirtschaftliche Elemente enthält die SPV nur eingeschränkt. Die (auch privaten) Kassen konkurrieren nicht mit frei kalkulierten Prämien, der Wettbewerb der Leistungsanbieter ist durch Reglementierung gekennzeichnet. Der Beitragssatz ist bundeseinheitlich festgelegt. Ein Anreiz zur eigenen Wahl der Pflegekasse besteht für die Versicherten nicht. Die Kassen haben auch keinen Anreiz, wirtschaftlich zu handeln, da die Leistungsausgaben und Verwaltungskosten von allen Pflegekassen getragen werden. Die lohnbezogenen Beiträge zur SPV tragen wie die übrigen Beiträge zur Sozialversicherung zur Verteuerung des Faktors Arbeit bei. Weil die SPV nach dem Umlageverfahren gestaltet ist (11-7)

] P W LP W SP ) B P W N P ,

kann auch hier eine Verschlechterung von NP/SP, also der Leistungsempfängerquote, c. p. nur über steigende Beitragssätze ausgeglichen werden. Arbeitslosigkeit und demografischer Wandel lassen SP sinken, gleichzeitig besteht aber ein Druck zur Erhöhung auf die im Durchschnitt zu zahlenden Pflegeleistungen BP. Soll ]P tendenziell nicht ansteigen, ist (auch wenn man von Zuschüssen absieht) eine kapitalgedeckte Ergänzung erforderlich, um die steigenden Pflegeausgaben zu finanzieren. 8. Die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II a) Die Regelungen Der Staat leistet an hilfsbedürftige Erwerbsfähige das Arbeitslosengeld II (ALG II) und an deren Angehörige das Sozialgeld. Nichterwerbsfähige und ihre Angehörigen haben einen Anspruch auf Sozialhilfe. Die öffentliche Sozialhilfe tritt in den Fällen ein, in denen Notlagen infolge fehlender oder nicht ausreichender eigener Mittel oder der anderer Sozialleistungssysteme auftreten. Sozialhilfe soll den Menschen auch zu von der Hilfe unabhängigem Handeln befähigen, wozu er nach seinen Kräften mitwirken muss (Hilfe zur Selbsthilfe). Bedeutsam ist der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe, d.h. nur derjenige erhält Hilfe, der sich selbst nicht helfen kann, also kein ausreichendes eigenes Einkommen oder Vermögen hat1, und der die erforderliche Hilfe nicht von anderen2 erhält (Subsidiaritätsprinzip). Sozialhilfe stellt also das unterste Netz im gegliederten System der sozialen Sicherung dar. Sie orientiert sich ausschließlich am aktuellen individuellen Bedarf und nicht am vormals erzielten Einkommen. Der Hilfesuchende hat einen Rechtsanspruch auf Hilfe dem Grunde nach; über Form und Ausmaß der Hilfe entscheidet der Sozialhilfeträger. Örtliche Träger sind die kreisfreien Städte und Kreise. Die Sozialhilfe wird zu etwa 75 % aus den kommunalen Haushalten finanziert; der Rest entfällt überwiegend auf die Länder.

1 2

Ein angemessenes selbstgenutztes Hausgrundstück wird allerdings nicht berücksichtigt. Das sind Familienangehörige in gerader Linie; bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften auch die Lebensgefährten.

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Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Die Leistungen der Sozialhilfe bestehen in der Hilfe zum Lebensunterhalt und in der Hilfe in besonderen Lebenslagen. Die Leistungen können monatlich oder auch einmalig sein. Die Hilfen zum Lebensunterhalt für Ernährung, Unterhalt, Kleidung, Körperpflege, Heizung, Hausrat, private Bedürfnisse des täglichen Lebens usw. werden in Form von Barzahlungen geleistet, für welche die Länder pauschalierte monatliche Regelsätze festlegen. Hierzu können Zuschläge für besondere Lebensumstände wie Alter, Schwangerschaft, Behinderung kommen. Hilfen für besondere Lebenslagen betreffen außergewöhnliche Lebenssituationen (vor allem Krankheit, Pflegebedürftigkeit), die die finanzielle Möglichkeit einer Person oder eines Haushalts übersteigen. Sozialhilfe soll mehr als physische Grundsicherung gewährleisten. Für die Höhe der Sozialhilfe gilt, dass sie der Differenz aus Bedarf minus Einkommen entspricht. Die Regelsätze für Haushaltsangehörige stehen in einem prozentualem Verhältnis zum Regelsatz des Haushaltsvorstandes (z.B. 50 % für Kinder bis Vollendung des siebten Lebensjahres). Das ALG II wird nur Erwerbsfähigen gewährt, für die Arbeitspflicht herrscht. Sie wird durch Job Center und Zumutbarkeitsregeln eingefordert. Das Grundsicherungsniveau ist für Erwerbsfähige genauso hoch wie für Sozialhilfeempfänger (Grundbetrag plus Kosten der Unterkunft). b) Wirkungen und Probleme Im Januar 2007 bezogen im Durchschnitt 5,1 Mio Personen ALG II und 1,9 Mio Personen Sozialgeld (vor allem Kinder). Zu diesen rund 7 Mio Personen kommen rund 0,6 Mio erwerbsunfähige Personen, die Sozialhilfe erhielten. Je großzügiger Sozialhilfe gewährt wird, umso mehr Arme gibt es, wenn Sozialhilfebezug als Kriterium für Armut gewählt wird. Zu den Sozialhilfeempfängern zählen vor allem Alleinerziehende und ihre Kinder. Von großer Bedeutung ist der Ausfall des Erziehers infolge von Trennung und Ehescheidung. Für die starke Leistungsinanspruchnahme ist insbesondere die Entwicklung der Langzeitarbeitslosen von Bedeutung1. Sozialhilfe nähert sich in vielen Fällen, insbesondere bei Familien mit Kindern, dem verfügbaren Einkommen an, das z.B. Facharbeiter unterer Einkommensgruppen beziehen. Höhere Sozialhilfe und höheres ALG II bedeuten höheres arbeitsloses Einkommen und sinkende Arbeitsanreize. Arbeitsleistungen werden nur von den ALG IIEmpfängern erwartet. Für sie sind die Höhe der Ersatzeinkommen und die Grenzsteuerbelastung bei Arbeitseinkommen wichtig. Im Niedriglohnbereich lohnt es für eine ALG II beziehende Familie in der Regel nicht, zusätzliche Einkommen zu verdienen, weil netto davon nur ein geringer Anteil übrigbleiben würde2. Dies zeigt Abb. 11-7.

1 2

Asylbewerber bekommen seit einigen Jahren keine Sozialhilfe, sondern beziehen Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz. Sie tauchen daher nicht in den Statistiken für Sozialhilfe auf. Ein Anreiz zur freiwilligen Arbeitslosigkeit besteht allerdings nicht für diejenigen, bei denen mit Arbeitslosigkeit die Lebenszufriedenheit sinkt.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

361

Abb. 11-7 Nettoeinkommen bei ALG II im Jahre 2006, Familie (2 Kinder), Westdeutschland Nettoeinkommen €

45°

J = 0,8

J = 0,9

J=1

Y* Nettoeinkommenslinie für Steuer- und Abgabenzahler

1 780 B = 1 471

100 400

800 1 200 1 600 2 000 2 400

Bruttoeinkommen (€)

Quelle: Genz/Spermann (2007), S. 12.

Das Grundsicherungsniveau (B) liegt hier bei 1 471 Euro. Die Zuverdienstmöglichkeiten werden unterschiedlich angerechnet. Sie betragen in einem bis 1 500 Euro reichenden Abschnitt 90 % (J = 0,9), oberhalb dieses Bruttoeinkommens wird zusätzliches Einkommen voll angerechnet (J = 1). Bis zu einem Bruttoeinkommen von etwa 2 400 Euro (Y*) besteht Anspruch auf ergänzendes ALG II. „ Es zeigt sich sehr deutlich, dass insbesondere für Familien der Ausstieg aus dem Transfersystem selbst bei großen Anstrengungen schwierig ist“ (Genz/Spermann 2007, S. 10)1. Obgleich weniger drastisch, gilt dies auch für alleinstehende Personen, die eigentlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen könnten, aber keinen Arbeitsanreiz wegen zu geringer Zusatzeinkommen erfahren. Auch hier erweist sich das ALG II als „Arbeitslosenfalle“. Ein weiterer Effekt ist zu beachten. Arbeitslosengeld II/Sozialhilfe erzeugen faktisch eine Lohnuntergrenze im deutschen Tarifsystem. Da die Anreize zur Arbeit gering sind, wenn der Lohn unter oder nur wenig über den Hilfesätzen „liegt, ist das Niveau der untersten Tarifgruppen bereits vor den ersten Tarifverhandlungen festgezurrt. Deutschland hat gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne ... Menschen, deren Grenzprodukt der Arbeit unter diesen Mindestlöhnen liegt, können keine Marktbeschäftigung finden“ (Sinn 2000, S. 19/20).

1

Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (2010) muss ein zweifacher Familienvater etwa 10 € Stundenlohn bekommen, um Hartz-IV-Niveau zu erreichen. Der tatsächliche und geforderte Mindestlohn liegt regelmäßig erheblich darunter.

362

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Abb. 11-8 Wirkungen des ALG II auf das Arbeitsangebot w LA ( w ) w0

A

B

w*

LN ( w )

L0

L*

L

Abb. 11-8 zeigt die Auswirkungen des ALG II auf den Arbeitsmarkt. Hierbei sind LN(w) die Arbeitsnachfragefunktion und LA(w) die Arbeitsangebotsfunktion ohne eine Grundsicherung. Markträumendes Gleichgewicht wäre w*. Ein ALG II mit Vollanrechnung des Arbeitseinkommens bedeutet, dass das Arbeitsangebot bei jedem unter dem Anspruchslohnsatz w0 liegenden Lohnsatz null wird. Daher kann der Marktlohn nicht unter w0 fallen und die Arbeitsangebotskurve knickt in diesem Bereich ab. Bei w0 > w* entsteht freiwillige Arbeitslosigkeit in Höhe der Differenz A und B. Dadurch werden Beschäftigungsmöglichkeiten zerstört, die sonst verfügbar gewesen wären. Es lohnt sich für das Individuum nicht unterhalb der Schwelle w0 zu arbeiten, da hierdurch die Freizeit geschmälert, aber nicht das verfügbare Einkommen gesteigert würde1. Ob die Pflicht, sich um den Lebensunterhalt zunächst selbst zu kümmern, erfüllt wird, oder ob die Aussicht auf ein erwerbsfreies Einkommen in Form von ALG II/Sozialhilfe den eigenen Einsatz mindert, lässt sich in der Praxis nicht objektiv feststellen. Daher muss die Hilfe zum Lebensunterhalt so bemessen werden, dass einerseits für erwerbsfähige Hilfesuchende ein Anreiz besteht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, andererseits aber eine nach allgemeinem Verständnis menschenwürdige Lebensführung ermöglicht wird. Bei der Frage der Arbeitsanreize ist zunächst zu fragen, ob ein hinreichender Abstand zwischen dem erwerbsfreien Einkommen der ALG II-Bezieher und den Einkommen von Beschäftigten unterer Lohngruppen besteht. Von Kritikern wird darauf verwiesen, dass die gegenwärtig zugrundegelegten Durchschnittswerte für Arbeitsentgelte ungelernte Arbeitnehmer in der Industrie und im Handel ein falsches Bild von der Entlohnung unterer Lohngruppen vermittelten. Während sich aus juristischer Sicht damit die Frage nach der den Intentionen des Gesetzgebers entsprechenden Interpretation des Lohnabstandsgebotes stellt, geht es bei der ökonomischen Diskussion letztlich darum, ob bei den gegenwärtigen Bedarfssätzen für erwerbsfähige ALG II-

1

Von anderen Motiven wie Freude an der Arbeit, sozialen Kontakten usw. wird hier abgesehen. Die Möglichkeit der Schwarzarbeit verschiebt den waagerechten Teil der Angebotskurve weiter nach oben.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

363

Bezieher ein Anreiz zur Erwerbstätigkeit bestehen bleibt, oder ob mit nennenswerten Fehlanreizen zu rechnen ist (vgl. von Loeffelholz 1998, S. 117). Da ALG II gezahlt wird, wenn man nicht arbeitet, ist sie nicht nur Unterstützungsleistung für Bedürftige, sondern auch „Subvention für das Nichtstun“ (Sinn 2000). Sie sinkt deutlich, wenn man arbeitet und hat so häufig einen hohen impliziten Grenzsteuersatz. Es geht also darum, diesen impliziten Grenzsteuersatz anreizfördernd festzulegen. Abb. 11-9 soll dies verdeutlichen1. ALG II werde in Höhe 0A je Empfänger geleistet. Sie erzeugt damit Arbeitslosigkeit im Ausmaß FE2. Um in dieser Höhe die Beschäftigung auszuweiten, kommt eine Beschäftigungssubvention in Höhe von CD (= AG) in Betracht. Der Kombilohn CE (zusammengesetzt aus Lohn DE und Subvention CD) entspricht dem ALG II-Betrag A0 je Empfänger. Ob die staatlichen Haushaltsbelastungen eines Kombilohnes ACDG die ALG II-Ausgaben BCEF über- oder unterschreiten, hängt von der Elastizität der Arbeitsnachfragekurve im relevanten Bereich ab. Abb. 11-9 Lohnsubventionen statt ALG II

Lohnsatz A

B

D

G

0

C

F

E

Beschäftigung

Die Lohnsatzsubvention fördert jede zusätzliche Arbeitsstunde mit einem staatlichen Transfer. Bei einer Einkommenssubvention wird hingegen ein bestimmtes Einkommen garantiert, so dass der Anreiz zur Mehrarbeit gering ist. Lohnsubventionen dürfen aber nicht zu einer Besserstellung gegenüber voll arbeitenden Nichtgeförderten führen und Marktlohnstrukturen verzerren. Ferner besteht die Gefahr des Mitnahmeeffekts durch Arbeitgeber, die teurere nichtsubventionierte durch subventionierte Arbeitsplätze ersetzen können.

1 2

Vgl. zum Folgenden Sinn (2000). Bei voller Anrechnung der Arbeitseinkommen auf das ALG II liegt links von F eine hohe implizite Besteuerung (in F 100%) vor, die durch ALG II induzierte Arbeitslosigkeit dürfte also größer als FE ausfallen.

364

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

9. Die politische Ökonomie der sozialen Sicherung: Abschließende Bemerkungen Bei der Erklärung der Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge und –ausgaben ist von Bedeutung, dass man in kaum einem anderen Bereich wie hier so umfassend Wohltaten „verkaufen“ kann. Zur leichten Durchsetzbarkeit höherer Beiträge trägt bei, dass das Ausmaß der Belastung mit Sozialversicherungsabgaben durch die Aufteilung in Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile vernebelt wird1. Diese Aufteilung ist sachlich und wegen der Intransparenz nicht gerechtfertigt. Sie hat auch für die Ausgaben negative Konsequenzen insofern, als durch paritätische Besetzung der Sozialversicherungsträger und durch Sozialwahlen Kosten verursacht werden, ohne dass die Gewählten Entscheidungskompetenzen haben. Das gewählte Umlageverfahren ermöglicht größere Spielräume für politische Eingriffe als das Kapitaldeckungsverfahren. Politiker können so durch immer neues Handeln ihre politische Rechtfertigung nachweisen. Das Umlageverfahren ist beliebig gestaltbar und ermöglicht es auch sofort Leistungen zu erbringen, ohne dass längere Ansparzeiten erforderlich sind. Diese sozialen Wohltaten wurden zuletzt bei der Einführung der Pflegeversicherung deutlich, die kurzfristig zunächst zu Überschüssen führte, langfristig aber die versteckte Staatsschuld erhöht. Auf die Gestaltung der Sozialleistungen und -beiträge haben die Tarifpartner erheblichen Einfluss2. Der Ausbau des Sozialstaates besteht in der Erweiterung der Systeme der sozialen Sicherung verbunden mit sozialpolitisch motivierten Eingriffen in die Arbeitsmärkte (Kündigungsschutz, Sozialplanpflichten, Mitbestimmung). Die Tarifpartner nutzen den ausgebauten Sozialstaat, um ihm erhebliche Teile der Anpassungslasten des strukturellen Wandels aufzubürden. Gewerkschaften und Unternehmen sind so häufig Trittbrettfahrer, weil sie Teile der beschäftigungspolitischen Folgen ihres lohnpolitischen Tuns externalisieren (Berthold 2006, S. 95, 99). Wie Abb. 11-6 zeigt, hat der Anstieg der Sozialbeiträge zusammen mit der Lohnsteuer dazu beigetragen, dass der Abstand zwischen dem Arbeitnehmerentgelt (unter Einschluss der Sozialbeiträge der Arbeitgeber) und dem Nettolohn sich langfristig vergrößert hat. Hier haben sich viele Entscheidungen wie die Frühverrentungspraxis, der medizinische Fortschritt in der Krankenversicherung und die wachsende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, die Einführung der Pflegeversicherung und die maßgeblich von Beitragszahlern finanzierte Wiedervereinigung und andere versicherungsfremde Leistungen niedergeschlagen. Die hohen und steigenden Sozialbeiträge haben die Lohnkosten erhöht und so zu den Problemen am Arbeitsmarkt beigetragen (Walwei/Zika 2006, S. 204), auf die wieder zu reagieren ist (reagiert werden kann).

1 2

Auch die steuerliche Behandlung der Arbeitgeberbeiträge nicht als Einnahmen einerseits und auch nicht als Entgelt andererseits trägt dazu bei. Hier sind nicht die in Sozialwahlen bestimmten Vertreter gemeint.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

365

Abb. 11-6 Die Entwicklung des Abgabenkeils1 100% 90% 80% 70%

13,7%

14,4%

8,1% 5,5%

9,1% 10,4%

60%

17,7%

18,3%

19,5%

19,5%

Sozialbeiträge Arbeitgeber2

10,5%

11,3%

12,9%

13,4%

12,9%

12,9%

Sozialbeiträge Arbeitnehmer

15,6%

13,9%

Lohnsteuer

58,9%

57,4%

52,0%

53,2%

1980

1990

2000

2005

50% 40% 30%

72,6%

66,0%

20%

Nettolohn

10% 0% 1960 1 2

1970

Bis 1990 früheres Bundesgebiet; Abweichungen durch Runden der Zahlen. Einschließlich Beiträge an Pensionskassen und Unfallversicherungen sowie Rückstellungen für Betriebspensionen.

Quelle: zusammengestellt von Walwei/Zika (2006).

Der Abgabenkeil hatte beispielsweise in 2005 bei einem ledigen Arbeitnehmer mit einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 2 500 € zur Folge, dass rund 37 % für Sozialabgaben und Steuern abgezogen werden und netto 1 575 € verbleiben. Gleichzeitig erhöhen sich die Arbeitskosten durch den Arbeitgeberanteil um ca. 20 % auf rund 3 000 €. Rechnet man korrekterweise den Arbeitgeberanteil als entgangenen Lohn, kommt man auf eine Belastung des Arbeitseinkommens von rund 53 %. 10. Die soziale Sicherung der Beamten Weitgehend außerhalb der Sozialversicherung erfolgt die Absicherung der Beamten1. Eine Arbeitslosenversicherung ist für sie nicht erforderlich, soweit sie auf Lebenszeit ernannt sind. Die Alterssicherung in Form von Pensionen erfolgt auf der Grundlage von Beschäftigungsdauer (im öffentlichen Dienst) und Endgehalt. Bei der Pension spielt daher die relative Einkommensposition während der gesamten Beschäftigung keine Rolle. Sie wird, einmal festgelegt, an die Entwicklung der Beamtenentgelte angepasst. Die künftigen Belastungen der öffentlichen Haushalte aus den Pensionen werden stark zunehmen. Hier wirken verschärfend die längere Lebensdauer der Beamten im Vergleich zu GKV-Versicherten und der im Durchschnitt höhere Versorgungsanspruch. So ist eine implizite Schuld als Ausdruck z.B. für eine jetzt getätigte Vorsorge bis 2050 in Höhe von 1 Billion Euro realistisch. Diese trifft bei 1,2 Mio Beamten vor 1

Die Beihilfe der Beamten/Pensionäre, die statusabhängig (ledig, verheiratet, mit und ohne Kinder) im Krankheitsfalle neben der privaten Versicherung eintritt, wird hier nicht behandelt.

366

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

allem die Länder mit 0,8 Mio und die Gemeinden nur mit 0,2 Mio. Dieser Teil der impliziten Schuld wird mit der Offenlegung von Bilanzen sichtbar, in denen die späteren Altersbezüge der Beamten schon gegenwärtig als Aufwand verbucht werden und in die Pensionsrückstellungen eingehen. Solche Rechnungen liegen erst im Ansatz vor. Da Reformen schwer durchsetzbar sind1, sind künftige Steuererhöhungen eine mögliche Konsequenz. Nachhaltige Vorsorge existiert nur im Ansatz, etwa für künftige Pensionäre des Bundes, die fast ihre gesamte Dienstzeit noch vor sich haben. 11. Soziale Sicherung im EU-Rahmen Wie auch in anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik wird der Spielraum für eine eigenständige nationale Verteilungspolitik im Rahmen der EU zunehmend enger. Zwar ist der Teilbereich der sozialen Sicherheit aus dem Gemeinschaftsrecht ausgeklammert, liegt also in der Kompetenz der Nationalstaaten. Allerdings müssen bei der Ausgestaltung der nationalen Sozialrechtssysteme die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts beachtet werden. Hierbei sind die vier ökonomischen Grundfreiheiten des EG-Vertrags (freier Warenverkehr, Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Selbständigen, Dienstleistungsfreiheit und Freiheit des Kapitalverkehrs) Prüfungsmaßstab, ferner die Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts und die Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts, also grundsätzlich die gesamte europäische Markt- und Wettbewerbsordnung. Auch kann der Rat (einstimmig) auf Vorschlag der Kommission Mindestvorschriften erlassen, die u.a. den Bereich „soziale Sicherheit und sozialer Schutz“ betreffen. Der eingeengte nationale Rahmen für die Leistungen der sozialen Sicherheit, insbesondere der Sozialversicherung, wird in verschiedenen Richtlinien und Verordnungen deutlich, die beispielsweise die aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer resultierenden Folgen für Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, an Hinterbliebene bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, für Sterbegeld, bei Arbeitslosigkeit und Familienleistungen regeln. Hierbei geht es um die Gleichbehandlung im Sinne eines Verbots der Diskriminierung. Die Regelungen bewirken eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme, wobei die Verordnungen folgende Prinzipien umsetzen: S Personen, die unter die Verordnung fallen, unterliegen jeweils nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates – in der Regel des Beschäftigungslandes. S EU-Bürger unterliegen in dem jeweiligen Wohnland den gleichen Rechten und Pflichten wie in dem Land, indem sie Staatsbürger sind (Diskriminierungsverbot). S Leistungen der sozialen Sicherung dürfen nicht an den Aufenthalt der leistungsgebenden Institution gebunden werden (Portabilität). Diese Regelung, die mobilitätshemmende Wirkungen beschränken soll, gilt allerdings nicht generell. Sie bezieht sich auf Geldleistungen zum Beispiel bei Invalidität und Alter und für Hinterbliebene, nicht aber auf Sachleistungen.

1

Mehr als 1/6 der BT-Abgeordneten sind Beamte.

11. Kapitel: Theorie und Politik der sozialen Sicherung

367

S In verschiedenen Mitgliedstaaten verbrachte versicherungsrelevante Zeiten werden zusammengerechnet und die jeweiligen Ansprüche (speziell bei Alters- und Hinterbliebenenrente) addiert. Auch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) führt zu einem Souveränitätsverlust der Mitgliedsstaaten im Sozialrecht. Nationale Regelungen, die gegen den EG-Vertrag verstoßen, bedürfen des Vorliegens zwingender Gründe des Gemeinwohls oder einem im EG-Vertrag ausdrücklich geregelten Rechtfertigungsgrund1. Die nationale Sozialpolitik kann daher nur noch europarechtskonforme Varianten der Sozialsystemgestaltung umsetzen2. Literatur zum 11. Kapitel Überblicke über die soziale Sicherung geben jährlich aktualisierte Broschüren des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme hat eine Kommission (Rürup 2003) untersucht. Zur Begründung von Versicherungszwang und Existenz einer Sozialversicherung siehe Strassl (1988), Breyer/Buchholz (2009, 4. Kap.) und Sinn (1996). Die positive Theorie wird von Tabellini (2000) behandelt. Darstellung und Beurteilung der GRV geben Breyer/Buchholz (2009, 5. Kap.) und Börsch-Supan (1999). Zur Effizienz der GRV siehe auch Homburg (1990). Perspektiven der Alterssicherung untersucht Wagner (2000). Intensiv setzt sich auch der Sachverständigenrat in seinen Gutachten 2003/04 und 2004/05 mit der GKV auseinander. Zur GKV siehe Oberender/Fibelkorn-Bechert (1998), Breyer/Buchholz (2009, 6. Kap.) und zur Gesundheitsökonomik Breyer/Zweifel/Kifmann (2005). Die jüngere Situation der GKV behandelt die Deutsche Bundesbank (2004). GKV und SPV untersucht der Sachverständigenrat ausführlich in JG 2004/05 und 2005/06, die SPV Schulte/Schröder (2006). Zur Beurteilung der Pflegeversicherung siehe auch Fachinger/Rothgang (1995) und Eisen (1998), unter allokativen Aspekt Buchholz/Wiegard (1992) und speziell zu den Verteilungswirkungen Breyer (1991/92). Wirkungen von Arbeitslosengeld II/Sozialhilfe behandeln Breyer/Buchholz (2009, 7. Kap.), siehe auch Genz/Spermann (2007). Einen Überblick über die Harmonisierung der sozialen Sicherung in der EU gibt Andel (2000a), umfassender siehe auch Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2000).

1

2

Dieser könnte z.B. der Nachweis der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der GKV sein. Muss das gesamte System bedroht sein, oder genügen extreme Ausgabensteigerungen in Teilbereichen (z.B. Hochleistungsmedizin)? Andere wichtige rechtfertigende Gründe sind die Sicherstellung eines ausgewogenen und allgemein zugänglichen Systems der medizinischen Versorgung und der Schutz der öffentlichen Gesundheit. Vgl. auch Kapitel 28.

368

Dritter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Verteilungspolitik

Aspekte der Umverteilung verschiedener Teile der sozialen Sicherung untersucht Schmähl (1986). Alternativen zur Senkung der Lohnnebenkosten stellt Schmähl (2003) dar. Eine umfassende Reform um Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft schlagen Breyer/Franz u.a. (2004) vor.

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik 12. Kapitel Soll der Staat stabilisierend eingreifen? 1. Das Stabilisierungsziel Von den drei großen finanzpolitischen Zielen – Allokation, Distribution und Stabilisierung – wurden die ersten beiden behandelt. Nun ist auf das Stabilisierungsziel und insbesondere auf den Stabilisierungsbegriff einzugehen. Stabilisierung bedeutet Stabilität erreichen oder erhalten. Stabilität steht im Zusammenhang mit ökonomischem Gleichgewicht. Als wesentliche Eigenschaft eines ökonomischen Gleichgewichts gilt die Kompatibilität der Wirtschaftspläne aller Wirtschaftssubjekte. Ist sie erfüllt, muss kein Wirtschaftssubjekt seine Pläne ändern. Ein Gleichgewicht gilt als stabil, wenn nach einer Störung die ursprünglichen Gleichgewichtswerte wieder oder neue Gleichgewichte erreicht werden. Makroökonomisch geht es um das Wirtschaftssystem, das – grob formuliert – um so stabiler ist, je näher es am Gleichgewicht operiert bzw. je stärker es zu ihm tendiert. Die Affinität des Stabilitäts- zum Gleichgewichtsbegriff ist auch im Stabilitätsgesetz (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, StWG) angelegt, wonach Bund und Länder die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten haben. Das Stabilitätsziel kann so verstanden werden, dass resistente Abweichungen vom ökonomischen Gleichgewicht weder entstehen noch fortbestehen. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht wird in der Wirtschaftspolitik weitgehend als gleichzeitige Erfüllung der Ziele des hohen Beschäftigungsstandes und der Geldwertstabilität interpretiert. Beschäftigung wird hierbei auf den Faktor Arbeit bezogen. Gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht liegt mithin vor, wenn das Preisniveau dauerhaft ansteigt und/oder wenn Anbieter von Arbeitskraft zu den herrschenden Lohnsätzen keine Arbeit finden. Genau diese Erscheinungen, Arbeitslosigkeit und Inflation, spricht auch das StWG an: Die Maßnahmen von Bund und Ländern ,,sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“. Welche Mittel hierbei eingesetzt werden, ist prinzipiell offen. Grundsätzlich kann dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht durch Einbeziehung eines weiteren Marktes, dem der außenwirtschaftlichen Beziehungen, Rechnung getragen werden. Das stetige und angemessene Wirtschaftswachstum stellt eine Bezugsund Zielgröße dar, von der Abweichungen (Konjunktur- oder Wachstumsschwankungen) möglichst gering sein sollen. Dabei wird der Zusammenhang zwischen den Zielen deutlich, der generell gegeben ist 1. 1

Er wurde im Kapitel 1.4 behandelt.

370

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Wie wichtig die Verwirklichung dieser Ziele ist, zeigt sich auch darin, dass Störungen nicht nur die Stabilität eines wirtschaftspolitischen Systems erschüttern, sondern auch die Stabilität des gesamten politischen Systems in Frage stellen können. 2. Arbeitslosigkeit und Inflation: Folge von Politikversagen oder politisches Kalkül? Jede Rechtfertigung stabilisierungspolitischer Eingriffe bedarf aber des Nachweises, dass S die Marktwirtschaft nicht immer in sich selbst stabil ist und daher eine Stabilisierungspolitik erforderlich sein kann; S der Staat in der Lage ist es besser zu machen; nur dann soll er die Stabilisierungsaufgabe übernehmen; S der Staat es in der Praxis besser macht, d.h. die institutionellen Vorkehrungen und Anreize seine Entscheidungsträger zu stabilitätsbewusstem Handeln veranlassen. Der empirische Befund – schwankende (tendenziell abnehmende) Wachstumsraten, zeitweise hohe Inflationsraten, unterschiedliche Auslastung des Produktionspotenzials, am Ende eines Konjunkturzyklus meist höheres Niveau der Arbeitslosigkeit, Finanzund Wirtschaftskrise 2008/10 – legt die Vermutung des Marktversagens nahe: das sich selbst überlassene System der Marktwirtschaft ist nicht immer stabil und bedarf der Steuerung durch den Staat. Auch die Keynesianische Theorie, die ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht und insofern ein Abweichen vom Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung für wahrscheinlich hält, scheint für ein solches a priori-Argument zu sprechen. Sie wird als Basis einer interventionistischen Grundhaltung gesehen. Die Ineffizienz der Arbeitslosigkeit besteht in den Opportunitätskosten entgangener Produktion und fehlenden Einkommens der Wirtschaftssubjekte mit Arbeitsbereitschaft. Hinzu kommen die persönlichen Kosten der Arbeitslosigkeit. Allerdings haben weder Deutschland noch andere OECD-Staaten eine reine Marktwirtschaft. Der Staat ist jeweils selbst wesentlicher Teil der Gesamtwirtschaft. Der empirische Befund einer offenbar als unbefriedigend angesehenen Wirtschaftsentwicklung erlaubt daher nicht ohne weiteres, im Hinblick auf Stabilität von einem Marktversagen zu sprechen. Ein a-priori-Argument für staatliche Stabilisierungspolitik bedarf bei erheblichem Umfang staatlicher Aktivität der Annahme, dass sich der Staat in (der gemischten Wirtschaft) Deutschland insofern neutral verhalten hat, als er weder stabilisierend noch destabilisierend wirkte. Davon kann insbesondere angesichts hoher Regulierungsdichte sowie hoher Abgaben- und Ausgabenquoten nicht ausgegangen werden. Auch setzen funktionierende Märkte einen Staat voraus, der Eigentumsrechte und eine Rahmenordnung für den Wettbewerb festlegt. Die 2008 einsetzende weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat gezeigt, dass es bestimmter Rahmenbedingungen bedarf (wie z.B. Bankenaufsicht und -regulierung), die auch durchgesetzt werden müssen. Der Staat hat offenbar in der Vergangenheit den Anspruch nicht befriedigend erfüllt – gemessen an den Maßstäben stetigen und angemessenen Wachstums, stabilen

12. Kapitel: Soll der Staat stabilisierend eingreifen?

371

Preisniveaus und voller Auslastung des Produktionspotenzials – Stabilität zu gewährleisten. Der dem Marktprozess eher skeptisch gegenüberstehenden Keynesianischen Auffassung wird eine andere Hypothese entgegengehalten wird: die Wirtschaftspolitik habe bei der Aufgabe versagt die Konjunkturzyklen zu dämpfen, und noch weitergehend, sie habe sie sogar erst erzeugt. Aus dieser Sicht sind Instabilitäten Ausdruck von Politikversagen. Die fallweise Wirtschaftspolitik verunsichert nach dieser Auffassung den privaten Sektor durch ihre ständigen Richtungsänderungen, eine falsche Dimensionierung nach Ausmaß und Zeit sowie schlecht prognostizierbare Effekte. Sie schafft so ein Klima der Unsicherheit, welches Grundlage für Fehldispositionen in den privaten Konsum- und Investitionsentscheidungen wird. Diese Position verneint die Auffassung, dass der vom privaten Sektor getragene dynamische Prozess in wichtigen Bereichen instabil sei; der private Sektor absorbiere vielmehr exogene Schocks und wandle sie in eine stabilisierende Bewegung um. Allerdings hätte das breite Spektrum regulierender Maßnahmen die Fähigkeit des privaten Sektors zur flexiblen Anpassung eingeschränkt. Hierzu hätten die Erwartungen der privaten Wirtschaftssubjekte beigetragen, bei Marktschwierigkeiten stets auf die Hilfe des Staates rechnen zu können. Diese Auffassung unterstellt den staatlichen Entscheidungsträgern zunächst einmal durchaus, dass sie gesamtwirtschaftliche Stabilität anstreben, nur erweisen sich die Instrumente der antizyklischen Politik als unzureichend oder werden mangelhaft eingesetzt. Jedenfalls wurde die Vorstellung einer systematischen und effizienten Beeinflussbarkeit der Makrovariablen seitens des Staates durch die Theorie der rationalen Erwartungen bzw. durch die Neue Klassische Makroökonomik erschüttert 1, wenn auch dagegen neue Positionen aufgebaut werden (vgl. Yellen/Akerlof 2006), insbesondere angesichts der jüngsten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise (vgl. Blanchard u.a. 2010; Adam/Vines 2010). Darüber hinaus ist es auch möglich, dass die Regierung zwar ein Interesse an Stabilität hat, aber bewusst keine diese stützenden Maßnahmen ergreift. In diesem Fall können Instabilitäten zum Beispiel dadurch erzeugt werden, dass die Regierung (z.B. weil sie Stabilitätspolitik für erfolglos hält) die Einflussnahme von Interessengruppen duldet oder fördert, die zu gesellschaftlicher Verschwendung, verzerrtem Preisgefüge und Inflexibilitäten auf den einzelnen Märkten führen und so Inflation und/oder Arbeitslosigkeit erzeugen oder verstärken. Eine am Downs-Modell der stimmenmaximierenden Politiker anknüpfende Theorie geht noch weiter. Sie wird im Anschluss an Nordhaus (1975) in der Literatur über den politischen Konjunkturzyklus (zumindest) als eine partielle Erklärung makroökonomischer Schwankungen in Preisen, Produktion und Beschäftigung verwendet. Die grundlegende Idee hierbei ist, dass das Verhalten der staatlichen Entscheidungsträger 1

Zu einem Überblick siehe Wagner (2004). Nach den auf der Theorie rationaler Erwartungen basierenden Ansätzen kann die Regierung reale Effekte auch nur begrenzt und nur durch nicht erwartete Maßnahmen auslösen. Vertreter der Theorie rationaler Erwartungen wie Lucas und Sargent rechneten im Übrigen nicht mit einer Krise im Privatsektor.

372

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

durch ihren Wunsch gekennzeichnet ist, solche Politik zu betreiben, die ihre Popularität erhöht und dadurch die Stimmen zur nächsten Wahl maximiert. Hierbei wird (auch) davon ausgegangen, dass diese persönlichen Zielsetzungen zu Entscheidungen führen, die geradezu die Ursache der gesamtwirtschaftlichen Instabilität sind. Mit anderen Worten: Die politisch Verantwortlichen wollen gar nicht streng antizyklisch handeln, sie nehmen Arbeitslosigkeit und/oder Inflation nicht nur (gleichsam passiv) hin, sondern halten Konjunkturschwankungen sogar für wünschenswert. Die Handlungen des Staates werden in diesem Modell endogen, denn die Stimmenmaximierung bestimmt S die Politik, die durchgeführt werden soll (z.B. Verringerung von Inflation, Arbeitslosigkeit oder Förderung des Wachstums), S die Gewichtung der politischen Ziele, soweit eine Austauschbeziehung (wie mit der kurzfristigen Phillips-Kurve unterstellt) zwischen ihnen besteht, und S die Wahl der Instrumente, weil diese verteilungspolitische Wirkungen haben. Hierbei nimmt Nordhaus an, dass die stimmenmaximierende Regierung sich opportunistisch an den Wählerwünschen orientiert, über die sie vollständig informiert ist. Bei den Wählern wird nur eingeschränkt rationales Verhalten unterstellt. Angenommen, die ökonomischen Agenten (Wähler) hätten wohldefinierte Präferenzen über ökonomische Variablen. Insbesondere Inflation und Arbeitslosigkeit seien zentrale Indikatoren der Lage der Volkswirtschaft. Weil die Wähler eine wohlfahrtsmindernde Wirkung unterstellen, sollen beide niedrige Werte haben. Die Unterstützungsfunktion durch die Wähler könnte so aussehen: (12-1)

s ) s 5 a (p" 5 p" *) 2 5 b(u 5 u*) 2

a, b > 0

Die Unterstützung (s) der Regierungspartei kann als Wähleranteil bei Wahlen oder in Meinungsumfragen gemessen werden. Auf s wirken sich die Abweichungen der realisierten von den makroökonomischen Zielgrößen aus, so bei der tatsächlichen Inflationsrate ( p" ) im Vergleich zur geplanten Inflationsrate ( p" * ) und bei der Abweichung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit (u) von einer langfristig tolerierbaren Arbeitslosigkeit (u*) 1. Bei der hier unterstellten quadratischen Form werden zunehmende Abweichungen überproportional bestraft. Da die Regierung wiedergewählt werden will, wird sie als beste Position Preisniveaustabilität und keine Arbeitslosigkeit wählen, wodurch s ) s . Die Parameter a und b zeigen die Gewichte an, die die Wähler den einzelnen (tatsächlichen oder angekündigten) Politikergebnissen beimessen. In der Partisan Theory (Hibb 1997) werden auch ideologische Ausrichtungen der Politik für Zyklen verantwortlich gemacht. So können die Parteien bzw. ihre Vertreter unterschiedliche Präferenzen z.B. für Inflation und Arbeitslosigkeit haben, die bei Regierungswechsel umgesetzt werden. Es muss aber nicht bei bloßen Reaktionen des 1

Weitere Größen können berücksichtigt werden, so die tatsächliche Wachstumsrate (g) im Vergleich zu einer durchschnittlich erwarteten Wachstumsrate (g*). g kann auch u ersetzen, wenn Arbeitslosigkeit bei hohem Wachstum gering ist.

12. Kapitel: Soll der Staat stabilisierend eingreifen?

373

Staates bleiben. Die Theorie des politischen Konjunkturzyklus geht noch weiter. Sie hält sogar eine bewusste Generierung von Zyklen durch die Regierung für möglich. Das gilt insbesondere für das Nordhaus-Modell. Angenommen, die Regierung stellt fest, dass ihre Unterstützung stärker durch hohe Arbeitslosigkeit als durch Inflation beeinträchtigt wird und glaubt nicht beides – hohe Beschäftigung und stabiles Preisniveau – erreichen zu können. Dann könnte die Regierung versuchen Instrumente (wahl)politisch so einzusetzen, dass gerade vor einer Wahl ein Boom erzeugt wird und die Arbeitslosigkeit gering ist. Gleichzeitig verringert sie ihre Bemühungen um die Kontrolle der Inflation oder trägt sogar zur Erhöhung des Preisniveauanstiegs bei. Die Wähler stimmen für die Regierung, wenn sie deren Maßnahmen bzw. Ergebnisse besser als die von der Opposition angekündigte Politik einschätzen. Da die Anreize gut informiert zu sein gering sind („rationale Ignoranz“), werden die Kandidaten aufgrund ihrer jüngsten Ergebnisse beurteilt, die fortgeschrieben werden. Die Erwartungen der Wähler hinsichtlich der Kompetenz der Regierung in der Periode t + 1 hängen also von der in t vorliegenden Kompetenzeinschätzung ab. Nach der Wahl wird die Regierung versuchen, die Inflation zu verringern 1. Gleichzeitig wird sie eine Zunahme der Arbeitslosigkeit zulassen. Dadurch können selbst in einem System, das von sich aus keine Zyklen erzeugt, solche von Arbeitslosigkeit und Inflation entstehen. Die Periodizität dieser Zyklen ist abhängig von den Wahldaten. Ein Beispiel hierfür gibt Abb. 12-1. In diesem Modell des polit-ökonomischen Konjunkturzyklus ist die Wirtschaftspolitik der Regierung durch das Ziel der Maximierung der Unterstützungsfunktion eindeutig bestimmt. Abb. 12-1 Schema eines politischen Wahlzyklus Inflationsrate Arbeitslosenquote

Zeit Wahl

Wahl

Umstritten ist die dem Modell zugrunde liegenden Informationsasymmetrie. Während für die Regierung vollständige Information unterstellt wird, lassen die Wähler sich systematisch täuschen. Sie berücksichtigen bei ihrer Wahlentscheidung vor allem die wirtschaftliche Lage im Wahljahr und weniger die unter Umständen recht negative Entwicklung in den ersten Jahren der Legislaturperiode. Die Wähler dürfen die von der Regierung gewählte Strategie nicht durchschauen, d.h. nicht erkennen, dass der Boom am Wahltag die Konsequenz einer möglicherweise prozyklischen und stimmenmaximierenden Regierungspolitik ist (Lenk 1982, S. 323). Zu fragen ist auch, ob 1

Das ist allerdings infolge der Erwartungsbildung bezüglich künftiger Inflationen ( p" et ) p" t 51 ) schwierig umzusetzen.

374

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

die Zielfunktion der Regierung mit der Beschränkung auf Arbeitslosigkeit und Inflation nicht zu eng gesehen wird. So könnten vielmehr die Auswirkungen ihres Handelns auf die Verteilungsposition ihrer Klientel von zentraler Bedeutung sind, und die kann im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit relativ schnell und dauerhaft beeinflusst werden. Andererseits sind gewünschte Anpassungsprozesse gegen etablierte Verteilungspositionen nur schwer durchzusetzen. In der Weiterentwicklung solcher Modelle des politischen Konjunkturzyklus wird zum einen von rationalen Erwartungen der betroffenen Wirtschaftssubjekte bzw. Wähler ausgegangen. Hier hängt die in einer Periode von den Wählern vorgenommene Kompetenzeinschätzung der Politiker von den in dieser Periode verwendeten Informationen ab. Jede geänderte Einschätzung muss also auf neuen Informationen beruhen. Im Grunde verlangt die Politik zur Erzeugung politischer Zyklen die gleichen Fähigkeiten, die bei der diskretionären Politik (vgl. das 13. Kapitel) als problematisch angesehen werden. Es überrascht daher nicht, dass die empirischen Daten in der Bundesrepublik die Hypothese nicht bestätigen, dass der Bund die Absicht verfolgt hat, politische Konjunkturzyklen hervorzurufen (Berger/Woitek 1997). Andererseits gibt es Beispiele zumindest dafür, dass stabilisierungspolitisch erforderliche Maßnahmen unter wahlpolitischen Gesichtspunkten (auch bei den Ländern) unterlassen worden sind. Offensichtlich haben sich zur Problematik der gesamtwirtschaftlichen Stabilität mehrere grundlegend verschiedene Auffassungen herausgebildet. Die jeweiligen Grundpositionen führen zu unterschiedlichen Beurteilungen der wirtschaftlichen Situation, der ökonomischen Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen und der Wirkungen staatlicher Eingriffe. Literatur zum 12. Kapitel Zum Stabilitätsziel siehe Enke (1974), Thieme (1977), Giersch (1977) und Diebalek (1983); verschiedene Definitionen des Gleichgewichtsbegriffs behandelt Jaeger (1981). Zur Notwendigkeit der Stabilisierungspolitik siehe Wagner (2004, 1. Kapitel). Einen Überblick über unterschiedliche stabilitätspolitische Konzeptionen liefern Cassel/Thieme (2003) und Pätzold (1998) und Wagner (2004). Die Theorie des politischen Konjunkturzyklus knüpft insbesondere an Nordhaus (1975) an; zu einer empirischen Überprüfung siehe Schneider/Frey (1988) und Petring (2010). Die Weiterentwicklung des Ansatzes im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomie untersuchen Gärtner (1994; 2003, ch. 11) und Berthold/Fehn (1994), zu einer Bewertung siehe Kirchgässner (1996). Überblicke zur theoretischen und empirischen Literatur geben Alesina/Roubini/Cohen (1997) und Franzese (2002). Makropolitische Schlussfolgerungen aus der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise untersuchen Blanchard u.a. (2010) und die Beiträge im Oxford Review of Economic Policy 25/4 (2009) und 26/1 (2010).

13. Kapitel Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“) 1. Finanzpolitische Konzepte und Strategien a) Vorbemerkung Die kurzfristig auf Verstetigung des Wirtschaftsablaufs gerichtete Finanzpolitik („Fiscal Policy“) setzt das Budget insbesondere zu einer konjunkturpolitisch erwünschten Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (,,Demand Management“) ein. Budgetveränderungen können sich automatisch ergeben oder durch diskretionäre Maßnahmen herbeigeführt werden1. Zunächst werden diese beiden Alternativen, dann ihre jeweiligen institutionellen Umsetzungen behandelt. Während der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1995 auf das Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren im Rahmen eines zyklischen Budgetausgleichs zielt, stellt das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 die Instrumente für eine diskretionäre Politik bereit. Die längerfristig ausgerichtete Stabilisierungspolitik zielt auf höheres Wachstum und Abbau lang anhaltender Arbeitslosigkeit2. Hierzu können im Rahmen der Globalisierung ein wettbewerbsfähiges Steuer- und Sozialabgabenrecht, das Einfluss auf Arbeits-, Spar-, Investitions- und Innovationsanreize hat, und wachstumsfreundliche staatliche Ausgabenstrukturen beitragen, die die Qualität von Produktionsfaktoren verbessern. Diese Strategie wird hier nicht behandelt3. b) Automatische Stabilisierungswirkungen Die Grundidee der automatische Stabilisatoren ist, dass Elemente der Finanzpolitik die von exogenen Schocks auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und den Output ausgehenden Wirkungen auch ohne explizites staatliches Handeln mildern können. Der Staat muss nur bestimmte Regeln (Gesetze) festlegen, z.B. die Steuer- und Transfertarife. Dann werden die betroffenen Ausgaben und Steuern/Sozialbeiträge automatisch antizyklisch reagieren. So tritt die automatische Stabilisierungswirkung (Builtin Flexibility) einer Steuerfunktion T = T (Y) im Gegensatz zu T = T0 bereits dann ein, wenn dT/dY > 0. Der Wirkung eines Schocks auf das laufende Einkommen steht eine sie bremsende Wirkung über die Änderung des verfügbaren Einkommens gegenüber. Bei [Y = 100 und ] = 30 gilt also: [Yverf = 70. In einem einfachen Multiplikatormodell mit konstantem Steueraufkommen ergibt sich bei folgendem Gleichungssystem

1 2 3

Sie könnten auch erfolgen, wenn bestimmte im voraus festgelegte Indikatorenwerte erreicht sind. Arbeitslosigkeit führt zu einer Entwertung von Humankapital und mindert so das Produktionspotenzial. Folglich sind beide Ziele nicht unabhängig voneinander. Vgl. aber Abb. 13-2.

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

376

(13-1) (13-2) (13-3) (13-4) (13-5)

Y) C9I9G C ) C 0 9 c(Y 5 T0 )

T ) T0 I ) I0

G ) G0

die Multiplikatorwirkung z.B. einer Veränderung der autonomen Investitionen als1 (13-6)

dY )

dI 15 c

Bei einer Steueraufkommensfunktion (13-7)

T ) T0 9 ]Y

beträgt der Einkommenseffekt hingegen (13-8)

dY )

dI 1 5 c(1 5 ])

Der Multiplikator wird durch die marginale Besteuerung der Einkommensschwankungen reduziert. Die Stabilisierungswirkung kann bei den Steuern, ferner bei den Sozialversicherungsbeiträgen und bei den vom Staat geleisteten Transfers auftreten. So verhalten sich insbesondere bei der Arbeitslosenversicherung die Einnahmen und Ausgaben antizyklisch zu den Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts oder der Beschäftigung des Faktors Arbeit: Die Beiträge nehmen in der Aufschwungsphase (bezogen auf den Trend) zu und gehen in der Abschwungsphase zurück, die Arbeitslosengelder fallen im Aufschwung und nehmen in der Rezessionsphase zu. Das Konzept der automatischen fiskalischen Stabilisierung ist also dadurch gekennzeichnet, dass ohne aktuelle politische Entscheidungen einerseits Veränderungen bei den Einnahmen (Steuern und Sozialtransfers) erfolgen, andererseits bestimmte Ausgabenposten (Löhne, Gehälter, Alterssicherung, Subventionen) eher stabil sind oder in die gleiche Richtung wie die Einnahmen wirken. Diese zwangsläufige Reaktion der Einnahmen und einzelner Ausgaben auf den Konjunkturverlauf zieht zudem einen sich selbst umkehrenden („self-reversing“) Effekt nach sich. Der staatliche Haushaltssaldo verändert sich hierbei, während die privaten Haushalte und Unternehmen eher ihre ursprünglichen Ausgabenpläne beibehalten können. Abb. 13-1 zeigt dies für einen Konjunkturverlauf, der regelmäßig und symmetrisch um ein bestimmtes Trendwachstum herum schwankt. Der graue Bereich zeigt die Auswirkungen der automatischen Stabilisatoren auf den Haushaltssaldo.

1

Von Crowding-out wird hier abgesehen.

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

377

Finanzierungssaldo (in % des BIP)/Wachstumsrate

Abb. 13-1 Die Wirkungsweise automatischer Stabilisatoren während des Konjunkturzyklus 4

4 3

Ist-Wachstum

3

Trendwachstum

2

2

1

1

0

0

-1

automatische Stabilisierung

-2

Haushaltssaldo

grundlegende Haushaltslage

-1 -2

-3 0

1

2

3

4

5

Zeit

6

7

8

9

10

-3

Quelle: Europäische Zentralbank, Monatsbericht, April 2002, S. 37.

Damit das Konzept der automatischen Stabilisierung erfolgreich sein kann, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein: S Determinanten der Konsumnachfrage sind vor allem das laufende Einkommen sowie die laufenden Steuern/Transfers1. Für die Wirkungen auf die Konsumnachfrage ist es ferner wichtig, wie die Einkommensänderungen verteilt sind, weil Haushalte mit unterschiedlichen Einkommen verschiedene Ausgabenreaktionen haben. S Die Abweichungen vom Trend müssen durch rein automatische Nachfragesteuerung gemildert werden können. Daher darf z.B. ein Preisniveauanstieg nur allein auf Übernachfrage beruhen, um beeinflussbar zu sein. S Die Steuereinnahmen – und entsprechend entgegengerichtet: die vom Staat geleisteten Transfers – müssen ohne Verzögerungen (Lags) auf Konjunktur- (= BIP-) Schwankungen reagieren. S Ein progressiver Tarif verstärkt die Effekte. S Bei stationärem Trend müssen die Staatsausgaben über den Zyklus hinweg konstant gehalten werden. Die im Aufschwung über die Ausgaben hinausgehenden Steuereinnahmen sind stillzulegen, die in Rezessionsphasen auftretenden Steuermindereinnahmen müssen durch Auflösung stillgelegter Mittel oder Zentralbankkredite aufgefüllt werden. Über den Zyklus hinweg ist das Budget auszugleichen (Cyclical Budgeting). Bei steigendem Trend muss die Bedingung konstanter Ausgaben etwa durch die Bedingung ersetzt werden, dass sich die Entwicklung der Staatsausgaben an den Trend des Produktionspotenzials anpasst. S Der Staatsanteil muss groß genug sein, damit eine ausreichende stabilisierende Wirkung möglich wird.

1

Nach der Lebenseinkommenshypothese würde der Konsum weniger mit dem laufenden Einkommen schwanken.

378

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Die bisher behandelte Wirkung automatischer Stabilisatoren muss aber nicht auf die Nachfrageseite beschränkt sein. Wie Auerbach/Feenberg (2000) zeigen, können bei direkt progressivem Tarif auch Angebotswirkungen auftreten. Einen solchen Fall zeigt Abb. 13-2. Im Arbeitsmarktgleichgewicht A stimmen die Arbeitsnachfrage D0 und das Arbeitsangebot S0 bei einer Beschäftigung L0 und dem Lohnsatz w0 überein. Angenommen, durch einen exogenen Schock sinkt die Nachfrage auf D1. Sieht man zunächst von der Besteuerung ab, führt dies zum Punkt B mit L1 und w1. Wenn L und w fallen, sinkt das Arbeitseinkommen wL und daher der Grenzsteuersatz. Das mindert den Rückgang des Nettolohns und stimuliert das Arbeitsangebot. Durch den Rückgang des Grenzsteuersatzes verläuft die Arbeitsangebotskurve steiler und gleicht so den Rückgang des Arbeitsangebots teilweise aus, der bei sinkendem Bruttolohn eintritt. Die Beschäftigung ist dann L2. Ob dieser stabilisierende Effekt auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich eintritt, hängt davon ab, wie die kurzfristigen und langfristigen Elastizitäten des Arbeitsangebots aussehen und ob die Belastungswirkungen des progressiven Tarifs wahrgenommen werden. Im 15. Kapitel werden die Wirkungen der Besteuerung auf das Arbeitsangebot weiter untersucht. Abb. 13-2 Stabilisierende Wirkungen auf der Angebotsseite w

S1 S0 A

w0 w1

D0

B

D1

C

L1

L2

L0

L

Automatische Stabilisatoren weisen verschiedene Vorteile auf: Keine Stelle braucht tätig zu werden. Probleme im Zusammenhang mit Prognose, Diagnose und Entscheidung entfallen. Es vermeidet, dass gerade staatliche Eingriffe für die Verletzung der Stabilitätsziele verantwortlich werden. Realistisch betrachtet bewirken automatische Stabilisatoren aber eigentlich nur eine Veränderung des Stabilisierungspotenzials. Entscheidend ist dessen Nutzung. Es kommt nämlich zu destabilisierenden Wirkungen, wenn z.B. automatische Steuermehreinnahmen im Boom in voller Höhe zu Ausgaben für Güter und Faktorleistungen führen. Dann wird die konjunkturelle Entwicklung durch die staatlichen Aktivitäten noch verstärkt. Wenn sich die Ausgaben an den Einnahmen orientieren und daher gleichgerichtet entwickeln, liegt eine Parallelpolitik vor1. 1

Einfaches analytisches Beispiel hierfür ist das Haavelmo-Theorem. Danach hat eine steuerfinanzierte Erhöhung der Staatsausgaben für Sachgüter und Dienstleistungen im einfachsten Modell einen Multiplikator von eins.

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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Die automatischen Stabilisatoren können allenfalls die konjunkturellen Schwankungen abschwächen, aber nicht eine Umkehr herbeiführen1. Sie reichen bei einer größeren Rezession (wie der Wirtschaftskrise nach 2008) nicht aus. Die gewünschte hohe Aufkommenselastizität kann (bei aufwärts gerichtetem Trend der Wirtschaftsentwicklung) zu einem ständigen Anstieg der Staatsquote führen2 und sich gerade beim Einsetzen der Aufschwungsphase als unerwünschter Bremseffekt (,,Fiscal Drag“) erweisen. Zu beachten ist auch, dass zwar die Lohnsteuer und die Umsatzsteuer schnell auf Veränderungen des BIP reagieren, andere Abgaben aber nicht, mit Lags oder im Aufund Abschwung unsymmetrisch. Letzteres ist für die Körperschaft- und veranlagte Einkommensteuer festgestellt worden. Dort erfolgt die Veranlagung, d.h. die Feststellung der Steuerschuld durch die Finanzämter, erst nach einem Jahr oder mehreren Jahren. Die auf die Steuerschuld zu leistenden Vorauszahlungen stehen nur in lockerer Beziehung zur aktuellen Einkommens- und Gewinnentwicklung. Für das EuroWährungsgebiet wird der Wirkungsgrad automatischer Stabilisatoren mit knapp ½ geschätzt (berechnet als Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Defizitquote im Verhältnis zu einer relativen Veränderung des BIP)3. c) Diskretionäre Fiskalpolitik Diskretionäre finanzpolitische Maßnahmen stellen bewusst auf die gegebene konjunkturelle Situation abzielende (Ad hoc-)Veränderungen der finanzpolitischen Parameter dar, um den privaten Verbrauch und/oder die privaten Investitionen zu beeinflussen. Zur erfolgreichen Stabilisierung muss der Fiskalimpuls rechtzeitig, zielgerichtet und befristet erfolgen. Vor Einsatz gezielter Maßnahmen muss geklärt werden, S ob eine Gefährdung der Stabilität besteht und wirtschaftspolitische Aktivitäten erforderlich sind; hierzu muss man sich einigen, welches Modell geeignet ist das Ausmaß eines Schocks zu quantifizieren, der die ökonomische Situation verändert; S (ob Geldpolitik hilfreich ist: sie kann am schnellsten reagieren und) welche finanzpolitischen Instrumente in Betracht kommen, zur Verfügung stehen und eingesetzt werden können; man muss also den Einfluss auf die ökonomischen Variablen quantifizieren, um sagen zu können S wann, in welchem Umfang und wie lange die Maßnahmen ergriffen werden sollen. Mit jeder praktischen Politik sind aber verschiedene Verzögerungen verbunden. Übersicht 13-1 zeigt, dass vom Auftreten der Störung (Disturbance), dem Erkennen (Recognition), der Diagnose, der Entscheidung (Decision) über das verwaltungsmäßige Umsetzen bis zur Wirkung einer Maßnahme verschiedenste Lags auftreten. Sie lassen befürchten, dass stabilisierend gedachte Maßnahmen nicht wirken oder, wenn sie im falschen Zeitraum wirksam werden, sogar destabilisierend sein können. Diese 1

2 3

Erfahrungsgemäß steigt bei einer Vergrößerung der (negativen) Produktionslücke um einen Prozentpunkt das gesamtstaatliche Budgetdefizit in Relation zum BIP um etwa 0,5 Prozentpunkte (Larch/Turrini 2009). Das trifft zu, wenn die Elastizität der (nichtkreditären) Einnahmen größer als eins ist. Siehe Deerose u.a. (2008).

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

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Übersicht 13-1 Die verschiedenen Arten von Lags in der Wirtschaftspolitik Zeitverzögerung der Wirtschaftspolitik (total policy lag) Innenverzögerung (inside lag) DurchführungsHandlungsverzögerung (policy preparation lag) verzögerung (administrative, Erkennungsverzögerung Aktionsverzögerung instrumental, (recognition lag) (action lag) intermediate lag) Diagnoseverzögerung (diagnostic lag) Wahrnehmung unerwünschter Zustände und Entwicklungen. Beschaffung von Informationen über die Problemaspekte sowie erklärungsrelevante Theorien und Anwendungsbedingungen. Erklärung der problematischen Sachverhalte (Ursachenanalyse).

Prognoseverzögerung (prognostic lag) Vorhersage der künftigen Entwicklung des Problems bei Verzicht auf wirtschaftspolitisches Handeln (Status-quo-Prognose). Entscheidung für ein bestimmtes Prognoseergebnis und Vergleich mit den politischen Zielsetzungen, Feststellungen des Handlungsbedarfs.

Planungsverzögerung (planning lag) Ermittlung alternativer Ziel-MittelKombinationen (Wirkungsanalyse). Ableitung geeigneter Maßnahmen zur Erreichung vorgegebener Ziele (Programmierung). Prognose des sachlichen und zeitlichen Wirkungsablaufs vorgesehener Maßnahmen (Wirkungsprognose).

Entscheidungsverzögerung (decision lag) Entscheidung zwischen den von der Wirkungsanalyse aufgezeigten Handlungsalternativen. Definitive Festlegung bestimmter Zielwerte und Maßnahmen. Innerparteiliche, parlamentarische und rechtliche Durchsetzung des Programms

Rechtsverbindliche Ausgestaltung und praktische Durchführung der Maßnahmen. Beteiligung nachgeordneter Körperschaften, Ressorts, Behörden usw. sowie autonomer sozialer Gruppen (Tarifpartner, Berufsverbände) und Internationaler Institutionen (EG-Kommission, EZB, IWF, BIZ). Überwindung rechtlicher (Normenkontrollverfahr en, Verfügungen) und tatsächlicher Widerstände (Boykott, Proteste), Ausschreibungen.

Außenverzögerung (outside lag) Wirkungsverzögerung (policy effect lag) ReaktionsDurchsetzungsververzögerung zögerung bei den Adressaten bei den Adressaten (reaction lag) (operational lag) Anweisung ausfühWahrnehmung gerender Betriebe planter oder ergrifusw. durch die fener Maßnahmen Unternehmensleiund Beschaffung von Informationen. tung. ArbeitsvorbeFeststellung der Be- reitung. Projektplatroffenheit durch nung, Koordination, die Maßnahmen. Einkommens-, Prognose der sich Vermögens- und durch die MaßnahKonsumdispositiomen möglicherwei- nen. Überwindung se ergebenden Vor- von Widerständen und Nachteile. z.B. bei geplanten Feststellung des Entlassungen, Handlungsbedarfs Neueinstellungen, und Entscheidung Überstunden, über zu ergreifende RationalisierungsMaßnahmen, Vorvorhaben, Betriebsbereitung des Maß- stillegungen und nahmenvollzugs erweiterungen, (Antragstellung, Neubauvorhaben, Vertragsabschlüsse Umweltbelastunoder -kündigungen, gen; schleppende Auftragserteilung). Auszahlungen

Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (2003), S. 263; modifiziert.

Probleme waren (teilweise) Anlass für die Verabschiedung des später darzustellenden Stabilitätsgesetzes, das wesentlich zur Verkürzung dieser Lags beitragen soll. An dieser Stelle soll nur die Entscheidungsverzögerung in Übersicht 13-1 angesprochen werden. Politische Entscheidungen erfordern in der Regel die Koordinierung verschiedener Entscheidungsträger, die in diesem Prozess ihre Anreize zum zurechenbaren Entscheiden verlieren und Verantwortlichkeiten abschieben können. Im Extremfall sind alle für alles verantwortlich ohne Verantwortung für irgendetwas zu übernehmen. Das Ergebnis der praktischen Politik kann auch daher wenig effektiv und effizient sein. Hinsichtlich der Art der stabilisierungspolitischen Maßnahmen geht es darum, ob einnahmen- oder ausgabenpolitische Maßnahmen wirksamer sind. Die Instrumente müssen rechtzeitig, d.h. im richtigen Zeitpunkt, einsetzbar sein. Bei den Ausgaben wirken kurzfristig in der Regel Käufe von Gütern und Dienstleistungen auf die Nachfrage, staatliche (Sach-)Investitionen eher mittel- bis langfristig. Bei den Investitionen werden rund 2/3 von den Gemeinden durchgeführt, die aber nicht als Träger der Stabilisierungspolitik in Frage kommen, allerdings über Zuweisungen zusätzliche Investitionen durchführen können. Meist ist es technisch und politisch schwierig, kurzfristig größere Projekte anzustoßen. Sie haben meist längere Vorbereitungsphasen infolge von Ausschreibungs- und Genehmigungsverfahren, selbst wenn das Vergaberecht vereinfacht wird. Auch kann es in einzelnen Bereichen zu Engpässen kommen, wenn z.B. die Kapazitäten der Bauwirtschaft nicht für eine starke Nachfrageausweitung ausrei-

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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chen. Ständige Auftragsschwankungen führen ferner kurzfristig zu größeren Veränderungen im Auslastungsgrad der Anlagen und zu entsprechenden Anpassungszwängen der Bauwirtschaft. Andererseits sind Sach- und Personalausgaben wegen ihrer Multiplikatorenwirkung in der kurzen Frist eher zur Stützung der Wirtschaft geeignet als Steuermultiplikatoren, die eher langfristig wirken1. Es wird auch die Auffassung vertreten, dass die Ausgaben für Güter und Faktorleistungen aufgrund langfristiger Bedürfnisse geplant und durchgeführt und nicht unter kurzfristigen Stabilisierungsgesichtspunkten variiert werden sollten. Das gilt für „normale“ Versorgungsleistungen etwa in den Bereichen Erziehung, Verkehr oder innere Sicherheit. Dieses Argument kann in seiner Bedeutung abgeschwächt werden, wenn ein Prioritätenkatalog vorliegt, nach dem entschieden wird. Bei Steuer- und Beitragssenkungen sind die Verzögerungen bei der Umsetzung gering. Wegen der meist großen Zahl unmittelbar Betroffener tritt eine schnelle Fühlbarkeit ein; das gilt insbesondere für die Lohnsteuer. Steuern wirken andererseits erst indirekt über die Determinanten privater Ausgaben. Hinsichtlich ihrer konjunkturellen Wirkung erscheinen Transfers an Haushalte mit hoher Konsumquote besonders geeignet. Sie müssen zeitlich eng beschränkt sein, sonst sind sie politökonomisch problematisch, weil sie im Aufschwung schwer abzuschaffen sind. Wenn bei einer Steuersenkung das verfügbare Einkommen steigt, kann dies der Ersparnisbildung zugute kommen. Häufige Steueränderungen können, besonders im Unternehmensbereich, Planungsunsicherheit auslösen. In den letzten Jahrzehnten begründeten Theorien und empirische Evidenz Zweifel an der makroökonomischen Steuerbarkeit überhaupt: S So sind bestimmte Ziele nicht unmittelbar, sondern erst (mittelbar) über andere Größen beeinflussbar. Das gilt etwa, wenn ein angestrebter hoher Beschäftigungsstand oder wenn eine bestimmte Inflationsrate erst über die Veränderung der Gesamtnachfrage und nicht direkt beeinflusst werden kann. S Die Wirkungen der Instrumente auf die endogenen Variablen (Ziele) lassen sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. Bei mehreren angestrebten Zielen müssen dann die jeweiligen Erwartungswerte und Risiken gewichtet werden. S Kurzfristig können Wirkungen beispielsweise der Steuerpolitik ausbleiben, wenn die Haushalte eher auf dauerhafte Änderungen reagieren. So legen die Permanente Einkommens- und die Lebenszyklustheorie nahe, dass die Konsumentscheidungen vom längerfristigen Durchschnittseinkommen der privaten Haushalte abhängen. S Beobachtete Regelmäßigkeiten können dann verschwinden, wenn die Entscheidungsträger sie ausnutzen wollen (Goothart´s Gesetz). So ist es möglich, dass festgestellte Korrelationen zwischen Instrumenten und Zielvariablen das Verhalten der Entscheidungsträger und nicht der Wirtschaft wiedergeben. 1

Das Standardergebnis einer größeren Multiplikatorwirkung von Ausgaben- im Vergleich zu Steueränderungen ist in jüngster Zeit infrage gestellt worden. Zu einem Überblick siehe Mankiw (2010), der insbesondere auf die Bedeutung der Änderung marginaler Anreize etwa zu arbeiten oder investieren verweist.

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Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

S Die strukturellen oder Verhaltensgleichungen makroökonomischer Modelle müssen bei Änderung der Entscheidungsregeln nicht stabil bleiben, weil die privaten Wirtschaftssubjekte ihr Verhalten dem der staatlichen Entscheidungsträger anpassen („Lucas-Kritik“). Folglich ist nicht vorherzusagen, ob und wie Politiken die Modellparameter verändern. Simulationen bestehender Modelle können sich daher – bei „rationalen“ Erwartungen – als ungeeignete Hilfe für die Wirtschaftspolitik erweisen1. Mit anderen Worten: wirtschaftspolitische Maßnahmen sind nur dann wirksam, wenn sie nicht erwartet oder falsch eingeschätzt werden. So haben fiskalpolitische Maßnahmen unter Umständen keinen makroökonomischen Effekt, wenn rational handelnde Wirtschaftssubjekte wissen, dass in der Zukunft umgekehrte Änderungen des äquivalenten Gegenwartswerts auftreten. Nach dem Ricardo-Äquivalenztheorem wirkt etwa ein Defizit heute wie eine Steuererhöhung morgen, die die Wirtschaftssubjekte heute antizipieren. Der Barwert dieser Steuerzahlungen entspricht daher der Kreditaufnahme. Gegen defizitfinanzierte staatliche Programme zur Herbeiführung hoher Beschäftigung spricht darüber hinaus: S Aus neoklassischer Sicht sind fiskalische Maßnahmen entweder irrelevant, weil nach dem Äquivalenztheorem Steuersenkungen nicht die private Nachfrage ausweiten. Oder aber das Deficit Spending kann von Verdrängungseffekten begleitet sein, die die beabsichtigten expansiven Wirkungen konterkarieren. S Der marktwirtschaftliche Sanktionsmechanismus, der ja gerade zu einer effizienten Ressourcenallokation führen soll, wird (weiter) außer Kraft gesetzt. Den Tarifparteien wird die Eigenverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung abgenommen, da die Wirkung der Sanktionskräfte des Marktes für Fehlverhalten beseitigt wird. Weder fühlen sich die Gewerkschaften an den Tatbestand gebunden, dass hohe Beschäftigung eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik voraussetzt, noch sehen die Unternehmer die Notwendigkeit, das Risiko zu übernehmen, neue Technologien einzuführen oder neue Märkte zu erschließen. Eine als Beschäftigungs- und Absatzgarantie verstandene Politik lädt geradezu zu wirtschaftlichem Fehlverhalten ein. S Die konjunkturellen Wendepunkte sind nur schwer und die eigentlichen Ursachen von Rezessionen nicht immer eindeutig zu diagnostizieren, die Wirkungen der Instrumente können nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. Ferner muss bei der antizyklischen Politik insbesondere mit großen, nicht stabilen Verzögerungen gerechnet werden, so dass eine zeitlich richtige und vor allem richtig dosierte Gegensteuerung außerordentlich schwierig ist. S Antizyklische Finanzpolitik tendiert zur Asymmetrie bei der Anwendung. Maßnahmen zur Bekämpfung rezessiver Tendenzen lassen sich politisch leicht durchsetzen, nicht aber entgegengerichtete Eingriffe in einer Boomphase. Während automatische Stabilisatoren je nach Lage zu- und abnehmen, erfordern diskretionäre Maßnahmen Gesetzesänderungen, um sie zu schaffen und (außer bei Sunset-Klauseln) zu beenden. Wird Letzteres unterlassen, können strukturelle Ungleichgewichte verstärkt werden. 1

Rationale Erwartungen bedeutet, dass die Wirtschaftssubjekte keine systematischen Fehler im Hinblick auf die Zukunft machen, also z.B. stochastische, aber unverzerrte Prognosen durchführen. Die Beeinflussung der Erwartungsentwicklung kann auch zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik sein. Das gilt etwa für die Gestaltung der Geldpolitik (vgl. Blinder et. al. 2008).

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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S Aktionistische Maßnahmen zielen häufig auf Unterstützung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Soll etwa der Konsum angeregt werden, müssen die Maßnahmen auf Verbraucher mit hoher Konsumquote abstellen. Unter Umständen kann die Zielorientierung politisch nicht durchgesetzt werden und mit allokativen Fehlanreizen (der z.B. über Einkommensgrenzen liegenden Personen) einhergehen. S Die Ursachen der Beschäftigungsprobleme werden nur im Nachfragemangel gesehen, liegen sie hingegen (auch) auf der Angebotsseite, versagt der Ansatz. Auch können bestehende Strukturprobleme gerade auf staatliche Eingriffe zurückzuführen sein. S Wenn unausgelastete Ressourcen ein Ausdruck des Marktversagens sind, ist keineswegs sicher, dass der Staat es besser machen kann bzw. besser macht. S Im deutschen föderalen System erfordern viele Gesetze die Zustimmung von Bund und Ländern. S In großen Wirtschaftsräumen reagiert die Produktion im Allgemeinen sicherer auf fiskalische Impulse als in kleinen offenen Volkswirtschaften. Der Grund ist, dass mit zunehmender Offenheit einer Volkswirtschaft ein steigender Teil der durch den fiskalischen Impuls erhöhten Konsumnachfrage auf Importe entfällt. Aus den theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen ist zu schließen, dass die Anforderungen an einen stabilitätsgerechten Einsatz hoch sind. Ob Politiker diesen Bedingungen im politischen Prozess Rechnung tragen, wurde schon untersucht (Kapitel 12.2). Andererseits können Haushaltskonsolidierung und kontraktive Politik nicht-keynesianische Effekte auslösen, nämlich expansive Effekte auf die Wirtschaftsaktivität, die die potenziellen kontraktiven Wirkungen defiziterhöhender Maßnahmen überkompensieren. Diese Effekte lassen sich „über die Rolle der Erwartungen der Haushalte und Unternehmen erklären. Wird die finanzwirtschaftliche Situation von den Verbrauchern und Investoren als schlecht und nicht tragfähig angesehen, weil beispielsweise die Schuldenstände oder die Staatsausgaben bereits ein sehr hohes Niveau erreicht haben, dann kann es sein, dass eine Verringerung der Staatsausgaben in der Gegenwart sogar zu höherem Konsum und höheren Investitionen führt“. Das ist zu erwarten, wenn der Anteil „ricardianischer“ Verbraucher hoch ist (Sachverständigenrat 2003, Tz. 459). Haushaltskonsolidierung verringert die Unklarheit darüber, wann und wie (z.B. Ausgabensenkungen, Steuererhöhung, Inflation) der Staat Schulden reduzieren wird1. d) Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007: Is Keynes back? Die oben vorgetragene Skepsis richtet sich gegen eine Fiskalpolitik bei länger anhaltender, chronischer Wachstumsschwäche. Sie gilt nicht für den Fall eines schweren makroökonomischen Schocks, der die EU bzw. die Euro-Länder gemeinsam trifft. Die Frage „Is Keynes back?“ ist angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 müßig. Sie ist keine klassische keynesianische Krise mangelnder gesamtwirtschaftlicher 1

Zu den nicht-keynesianischen Effekten tragen neben rationalen Erwartungen auch Steuerglättung, Risikoprämien auf Zinssätze bei staatlicher Verschuldung, Unsicherheit u.a. bei. Frühzeitige Konsolidierung vermeidet zudem höhere Anpassungskosten einer später notwendigen stärkeren Korrektur der Haushaltspolitik.

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Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Nachfrage (wie in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre) und konnte daher nur teilweise durch Demand Management und stimulierende Fiskalpolitik beseitigt werden. Die Krise brachte vielmehr verschiedene Ungleichgewichte in mehreren Zahlungsbilanzen und zwischen den Sektoren zum Ausdruck, die insbesondere in den USA bestanden. Die Krise kann (zumindest wesentlich) als durch Staatsversagen, also durch wirtschaftspolitisches Handeln und Unterlassen (Weber 2010) mitverursacht angesehen werden: Das gilt für extrem niedrige Zinsen, die in den ersten Jahren des 20. Jh. stark unter ihren langfristigen Trend gesunken waren und problematische Anreize auslösten. Es kam zu unsolider, leichtfertiger Kreditvergabe der Banken, die als Sicherheit unsolide Vermögenswerte akzeptierten. Bei mangelhafter oder fehlender Finanzaufsicht wurden neue und minderwertige Finanzprodukte (z.B. zweitklassige – subprime – Hypothekendarlehen) mit einem enormen Aufbau hoher, nicht transparenter Risiken bei Unterschätzung der erforderlichen Kapitalbasis eingeführt, die durch komplexe Instrumente zu ihrer Absicherung (Credit Default Swaps) noch verstärkt wurden. Fragwürdige Ratings trugen dazu bei. Schließlich platzte die Blase aus den Preissteigerungen bei Vermögenswerten (Immobilien, Wertpapiere) in den USA, schließlich auch in Irland, Spanien u.a. Interventionen richteten sich lange nicht auf die Bankbilanzen und die toxischen Papiere darin. Die Finanzmärkte wurden letztlich dort und weltweit verletzlich (Adam/Venis 2010, S. 1). Es zeigte sich, dass die Funktionsweise des Bankensystems im Wesentlichen auf Strukturen beruht, die sich als anfällig für die Weitergabe und Verstärkung von Schocks erwiesen haben (Deutsche Bundesbank 2010a, S. 31). Hinzu kamen Mängel in der Regulierung, der Unternehmensführung und – kontrolle sowie Schwächen in der Art und Weise, wie Anreize und Vergütungsregeln festgelegt werden (Stiglitz 2010, S. 16/17), die die Implikationen der Bankangestellten für das Überleben der Unternehmen vernachlässigten. Im Zuge dieser Krise, für die also auch die Geldpolitik wesentlich ist, wurde eine zweite sichtbar, die der fehlenden Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte vieler Staaten, die kurzfristig sogar (de facto) in der Insolvenznähe insbesondere Griechenlands bestand. Die wirtschaftspolitische Folgerung ist aber nicht ein weiteres Stop-and-go, sondern eine auf Konsolidierung setzende Politik und ein Einsatz der automatischen Stabilisierung. Das gilt national, europa- und weltweit. Dazu müssen verschiedene Rahmenbedingungen erfüllt werden, nämlich ein Regulierungssystem, das den Aufbau exessiver systemischer Risiken verhindert und die fiskalischen Ungleichgewichte reduziert, die längerfristig und durch kurzfristige Aktionen zur Bewältigung der Krise aufgebaut wurden. Das ist durch einen entsprechenden internationalen Rahmen abzusichern. 2. Maßstäbe zur Beurteilung der konjunkturellen Wirkungen öffentlicher Haushalte a) Der gesamte Budgetsaldo Zur Beurteilung der Stabilisierungseffekte öffentlicher Haushalte erscheint es wünschenswert, die verschiedenen konjunkturellen Anstöße (,,Impulse“) in einer Größe (,,Budgetmaß“) zusammenzufassen. Ein Budgetmaß soll möglichst einfach und an-

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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schaulich ein Urteil etwa zu folgenden Fragen geben helfen: Wie wirken die öffentlichen Haushalte im Jahre t, oder wirken sie mehr oder weniger expansiv (kontraktiv) als im Jahre t-1? Wie groß ist der Stabilisierungsbeitrag im Jahre t? Welche Wirkungen haben die öffentlichen Haushalte auf den Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials? Budgetmaße sollen zumindest eine zutreffende Einschätzung der Wirkungsrichtung finanzpolitischer Maßnahmen erlauben. Der (unbereinigte) Budgetsaldo (BS) könnte ein einfaches Maß zur Ermittlung der expansiven oder restriktiven Wirkungen eines gegebenen Haushalts sein. Er gibt Aufschluss über die Inanspruchnahme des Kapitalmarktes1. Ein gleicher Budgetsaldo dürfte aber bei unterschiedlicher Höhe von BIP oder Produktionspotenzial eher unterschiedliche konjunkturelle Impulse auslösen. Daher ist es zweckmäßig, den Budgetsaldo auf eine dieser Größen zu beziehen. Statt auf das Vorzeichen und die Höhe des absoluten Saldos bzw. auf die Quote kann auf die Veränderung abgestellt werden. Sie soll anzeigen, ob der (de)stabilisierende Einfluss der öffentlichen Haushalte im Zeitablauf zu- oder abgenommen hat. So wird eine Erhöhung des Budgetsaldos bzw. der Quotenänderung gegenüber der vorhergehenden Periode ( BS =  A –  T > 0) als expansiv interpretiert und entsprechend umgekehrt eine Verringerung ( BS < 0) als kontraktiv. Gegen Konzepte, die auf Höhe oder Änderung des Budgetsaldos abstellen, wird vorgebracht, dass diese Größen nicht allein von den staatlichen Maßnahmen, sondern wesentlich auch von der konjunkturellen Entwicklung beeinflusst wird. BS und [BS enthalten mithin eine passive Komponente (Built-in Flexibility), die sich auch ohne diskretionäre Maßnahmen im Saldo niederschlägt. Die aktive Komponente geht hingegen auf Entscheidungen der Finanzpolitik über das Niveau der Ausgaben und über die Einnahmeregelungen zurück. BS bzw.  BS geben allenfalls die von öffentlichen Haushalten ausgehenden Impulse, nicht aber die Wirkungen auf die inländische Produktion wieder. Aus dem Haavelmo-Theorem ist aber bekannt, dass Einkommenswirkungen selbst dann auftreten können, wenn  A =  T und daher  BS = 0. Unter der Bezeichnung Saldo des Vollbeschäftigungsbudgets (Full-employmentbudget-surplus – FEBS) wurde in den USA ein Konzept entwickelt, mit dem die konjunkturbedingte Saldenkomponente ausschaltet wird. Der FEBS soll bei gegebenem Steuersystem lediglich von diskretionären Maßnahmen bestimmt sein. In die Analyse wird eine Referenzgröße (Vollbeschäftigungssaldo) einbezogen. b) Das konjunkturelle und das strukturelle Defizit Defizit bzw. Defizitquote haben den Nachteil, dass sie das Ergebnis kurz- und langfristiger Entwicklung sind2. Sie lassen also nicht erkennen, wie die grundsätzliche Ausrichtung der Finanzpolitik ist. Bereits mit Konjunkturschwankungen ändert sich – oh1 2

Tatsächlich stimmen Defizit und Schuldenaufnahme nicht überein. Davon kann hier abgesehen werden. Sie wird als Analyse der Tragfähigkeit im 25. Kapitel behandelt

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Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

ne diskretionäre Maßnahmen – das Finanzierungsdefizit des Staates. Diese konjunkturelle Schwankungskomponente ist vom strukturellen Defizit zu trennen, indem es (zusammen mit einmaligen Effekten) aus dem gesamten Defizit herausgerechnet wird. Das strukturelle Defizit wird folglich als die Differenz aus den Einnahmen und Ausgaben des Staates verstanden, die sich ohne Konjunkturschwankungen ergeben würden. Entsprechend tritt in einer Volkswirtschaft ohne strukturelles Defizit nur ein geringeres, allein konjunkturell bedingtes Defizit auf. Durch die Konjunkturbereinigung soll erkennbar werden, ob die verbleibenden Finanzierungssalden robust genug sind, um unerwarteten Veränderungen von Produktion und Zinsen standhalten zu können. Das konjunkturbereinigte Defizit ist aber keine (auch nicht ex post) beobachtbare Größe. Es gelten dieselben Unsicherheiten wie bei der Schätzung des Produktionspotenzials. Daher kommen unterschiedliche Verfahren zur Konjunkturbereinigung zu deutlich abweichenden Ergebnissen für das strukturelle Defizit (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2010, S. 70). Der Sachverständigenrat verwendet für die Konjunkturbereinigung ein disaggregiertes Verfahren, in dem er die konjunkturbereinigten Einnahmen und Ausgaben identifiziert und bereinigt. Dabei greift er auf Bausteine zur Schätzung des Konjunktureffekts zurück, die auch für die EU verwendet werden. Die Berechnung des strukturellen Defizits für die Länder der Europäischen Währungsunion (EWU) erfolgt mit einer einheitlichen Methode. Zur Konjunkturbereinigung wird ein Potenzial- oder Trendwert für das BIP ermittelt werden, „woraus sich der Auslastungsgrad der Wirtschaft, die sog. Outputlücke, als Maß für den Konjunkturzyklus ableiten lässt. Mit Hilfe der Outputlücke wird dann ermittelt, wie die staatlichen Einnahmen und Ausgaben auf Abweichungen von der Normalauslastung reagieren“. Das potenzielle BIP wird mit Hilfe einer Produktionsfunktion geschätzt. Wie stark das Budget auf den Konjunkturzyklus reagiert, wird mit Hilfe von Elastizitäten ermittelt. Dabei wird untersucht, um wieviel Prozent sich die einzelnen Ausgaben- und Einnahmenkategorien ändern, wenn die Outputlücke eine Veränderung von 1 % erfährt. Die Ausgaben werden auf diejenigen Kategorien beschränkt, die sich aus der Arbeitslosigkeit ergeben. Andere Ausgabenkomponenten werden nicht in die Berechnungen mit einbezogen. Auf der Einnahmenseite werden verschiedene Steuern berücksichtigt. Das tatsächliche Defizit wird um den so ermittelten konjunkturellen Impuls bereinigt“ (Ullrich 2002, S. 9). Offensichtlich ist das strukturelle Defizite schwer zu schätzen. Hierzu bedarf es einer zuverlässigen Messung von Produktionspotenzial, Kapazitätsauslastung sowie Einnahmen- und Ausgabenelastizitäten. Je nach Schätzverfahren, Daten, Parametern und Zeithorizont fallen die Ergebnisse in den Rechnungen anders aus. Auch muss eine gute Datenlage gesichert sein. Allerdings bestehen schon in normalen Zeiten teils erhebliche Unsicherheiten am aktuellen Rand. Mit jeder Revision der Daten verändert sich die Höhe des strukturellen Defizits. Wenn die konjunkturelle Komponente nicht angemessen ermittelt wird, kommt es zu einer Fehleinschätzung des strukturellen Defizits und zu fehlerhaften finanzpolitischen Schlussfolgerungen.

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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3. Institutionen Grundlage der Stabilisierungspolitik in Deutschland ist einmal die Verpflichtung aus dem Stabilitätsgesetz, die dort aufgeführten Ziele zu realisieren. Mit dem Gesetz wird ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das der diskretionären Stabilisierungspolitik zuzurechnen ist. Die Duldung begrenzter Defizite nach dem EG-Vertrag und die Verpflichtung aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu einem mittelfristig mindestens ausgeglichenen Haushalt weisen auf das Konzept der automatischen Stabilisierung hin. a) Das Stabilitätsgesetz (StabG) Nach dem StabG haben Bund und Länder bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen ,,die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten“. In diesem Zusammenhang werden explizit als Einzelziele genannt: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wachstum. Mit dem StabG wurde erstmalig die konjunkturpolitische Verantwortung der Finanzpolitik festgestellt. Für die Stabilitätspolitik sind aber zwei mit diesem Gesetz geschaffene Möglichkeiten bedeutsamer: S Institutionen und Verfahren wurden eingeführt, die die Informationen der Entscheidungsträger erweitern und Koordinationen zwischen verschiedenen staatlichen Akteuren erleichtern sollen. Hierzu rechnen die (inzwischen nicht mehr eingesetzte) ,,Konzertierte Aktion“, die gegenseitige Auskunftspflicht von Bund und Ländern im Finanzplanungsrat, der Konjunkturrat1, die mittelfristige Finanzplanung, der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung und der Subventionsbericht. S Bei verschiedenen fiskalpolitischen Instrumenten wurde eine schnelle Einsatzmöglichkeit geschaffen. Sie verkürzt den Decision Lag, insbesondere soweit die Verzögerung auf das üblicherweise lange Gesetzgebungsverfahren (z.B. einer Steuerrechtsänderung) zurückzuführen ist. Übersicht 13-2 skizziert einige wichtige im StabG vorgesehene finanzpolitische Maßnahmen zur Konjunkturdämpfung und -belebung. Das Stabilitätsgesetz verbessert die Möglichkeiten diskretionärer Stabilisierungspolitik. Es verkürzt im Wesentlichen den Decision Lag. Die Probleme der zutreffenden Einschätzung von Lage und Entwicklung, des Erkennens der Notwendigkeit finanzpolitischer Maßnahmen, der Wahl der geeigneten Instrumente, des politischen Wollens und der politischen Durchsetzbarkeit bleiben aber bestehen. Auch sind die Gemeinden nur unzureichend in die Stabilisierungspolitik einbezogen. Das Stabilitätsgesetz enthält keine Konkretisierung und Operationalisierung der o.g. Teilziele. Damit ist der stabilitätspolitische Spielraum fast beliebig ausweitbar2. 1 2

Der praktisch funktionslose Konjunkturrat besteht aus Vertretern von Bund, Ländern, Gemeinden und (beratend) der Deutschen Bundesbank. Bemerkenswert ist, dass u.a. bei der Rezession ab 2008 nicht auf die Instrumente des StabG zurückgegriffen wurde.

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Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Übersicht 13-2 Finanzpolitische Maßnahmen nach dem StabG Beabsichtigte Wirkung Expansion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage

Beabsichtigte Wirkung Expansion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage

Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage

Veränderung der staatlichen Nachfrage SEntnahmen aus der obligatorischen Konjukturausgleichsrücklage SFinanzierung zusätzlicher Ausgaben (zum Haushaltsplan) aus der Konjunkturausgleichsrücklage oder zusätzlicher Investitionen durch zusätzliche Kreditermächtigung auf dem Geldmarkt SBeschleunigung der Planung und Vergabe von Investitionsvorhaben SEinnahmestilllegung durch Bildung einer freiwilligen Konjunkturausgleichsrücklage bei der Bundesbank und durch zusätzliche Schuldentilgung bei der Bundesbank SVerschiebung öffentlicher Ausgaben und Stilllegung der freigewordenen Mittel bei der Bundesbank SBeschränkung der Kreditaufnahmemöglichkeiten des Staates Veränderung der privaten Konsumnachfrage SAnpassung der ESt-Vorauszahlungen an konjunkturelle Entwicklung SLineare Herabsetzung der ESt-Sätze bis zu 10 % für max.1 Jahr

Veränderung der privaten Investitionsnachfrage SAnpassung der ESt-, KSt- und GewSt-Vorauszahlungen SInvestitionsprämie: Von ESt- oder KStSchuld können bis 7,5 % der Anschaffungs/ Herstellungskosten bestimmter Investitionsgüter abgezogen werden SHerabsetzung der ESt- und der KSt-Sätze um höchstens 10 % für längstens 1 Jahr SAnpassung der ESt-, KSt- und GewStSAnpassung der ESt-Vorauszahlung an die konjunkturelle Vorauszahlungen Entwicklung SBeschränkung der Abschreibungsmöglichkeiten (AfA) SHeraufsetzung der ESt-Sätze um bis zu 10 % für max. 1 SHeraufsetzung der ESt- und der KSt-Sätze Jahr um höchstens 10 % für längstens 1 Jahr

Quelle: in Anlehnung an Klump (2006), S. 156.

Gegenwärtig zeigt die Literatur überwiegend, dass eine diskretionäre Politik unsichere Effekte hat, die positiven und negativen Multiplikatoren von ganz speziellen Bedingungen abhängen (Hemming u.a. 2002) und Maßnahmen nach dem StabG politökonomisch gefährlich sein können1. Letzteres haben die Erfahrungen vieler Länder bestätigt, die mit einem hohen öffentlichen Schuldenstand bei Staat und Volkswirtschaft zu Inflexibilitäten führten. Ad-hoc-Maßnahmen größeren Ausmaßes sind daher praktisch nur in Phasen erheblicher Rezession zweckmäßig. b) Der Stabilitäts- und Wachstumspakt Der Vertrag von Maastricht und der Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichten die EU-Mitgliedsstaaten zu bestimmtem finanzpolitischen Verhalten. Die Regeln sind besonders wichtig für die Europäische Währungsunion (EWU), in der unterschiedliche Zuständigkeiten für die Fiskal- und Geldpolitik bestehen. Während die Finanzpolitik 1

Siehe hierzu bezogen auf die Verschuldungspolitik das 25. Kapitel.

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

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(noch) weitgehend dezentral von den einzelnen Mitgliedsländern der EWU gestaltet werden kann, ist die Geldpolitik außerhalb der direkten nationalen Kontrolle. Zwischen der Geld- und der Finanzpolitik ergeben sich Wechselwirkungen, weil beide Politikbereiche auf zentrale gesamtwirtschaftliche Variablen wirken, was wiederum zu gegenseitigen Abhängigkeiten bei der Verfolgung der jeweiligen Ziele führt (vgl. Europäische Zentralbank 2004). „Auf der einen Seite beeinflusst die Finanzpolitik die Preisentwicklung, Realzinsen und Risikoprämien sowie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das Produktionspotential – all dies Variablen, die auch systematisch in einer auf Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik einbezogen werden müssen. Auf der anderen Seite wirkt sich die Geldpolitik unter anderem auf die kurzfristigen Zinssätze, die Inflationserwartungen und die in langfristigen Zinssätzen enthaltenen Risikoprämien aus, was sich wiederum im wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Finanzpolitik agiert, niederschlägt“. Preisstabilität ist vorrangiges Ziel der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die unabhängig von etwaigen kurzfristigen, politisch motivierten Interessen der Mitgliedsländerregierungen zu betreiben ist1. Aufgabe der Finanzpolitik ist es dann, für ein stabiles und berechenbares Umfeld zu sorgen, in dem die Märkte effizient funktionieren können. Für die geld- und finanzpolitische Koordinierung ist nicht das Konzept abgestimmter kurzfristiger wirtschaftspolitischer Reaktionen auf Schocks maßgeblich, als vielmehr ein nicht diskretionäres, auf Regeln beruhendes System, das dem geld- und finanzpolitischen Entscheidungsträgern einen zeitkonsistenten Handlungsrahmen und damit einen zuverlässigen Anker für die privaten Erwartungen bietet. Eine makroökonomische ex ante-Koordination der verschiedenen Politikbereiche wird für unzweckmäßig gehalten (vgl. Issing 2002). Sie würde weitere Institutionen schaffen und so Intransparenz hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die einzelnen Zuständigkeiten bewirken. Angesichts der Unabhängigkeit der nationalen Finanzpolitiken sind in einer Währungsunion aber Regeln zur Wahrung von Haushaltsdisziplin und geeignete Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen notwendig. Die wichtigste finanzpolitische Regel für eine solide Finanzpolitik verlangt gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), dass die Mitgliedsstaaten ein übermäßiges Defizit vermeiden. Der öffentliche Gesamthaushalt soll mittelfristig ausgeglichen sein oder sogar einen Überschuss aufweisen, um eine Rückführung der Schuldenquote zu ermöglichen. Der Referenzwert für die allgemeine Schuldenstandsquote soll weniger als 60 % betragen2. Ziel der 1

2

Durch 2010 beschlossene Maßnahmen des Rettungsschirms wurde auch der Ankauf von Staatsanleihen (auch niedrigerer Qualität: „Ramschpapiere“) durch die EZB eingeführt. Sie zerstören das institutionelle Fundament der Währungsunion und machen die EZB politisch abhängig und unterwerfen ihre Geldpolitik Zwängen. Durch den Anleihenkauf kann die nationale Fiskalpolitik künftig die gemeinsame Geldpolitik dominieren, indem über den jeweiligen Repräsentanten im EZB-Rat nichtfunktionierende Märkte reklamiert und nationale Anleihekäufe des entsprechenden Landes gefordert werden. Diese Regeln werden im 25. Kapitel erläutert. Die Messung hat auf der Grundlage des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995) zu erfolgen. Wie wenig glaubwürdig die Regeln sind, wird dort erläutert.

390

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Einhaltung dieser Regeln ist es, negative Externalitäten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu vermeiden. Auf kurze Sicht können also auch negative Salden in Kauf genommen werden, die einen (automatisch) stabilisierenden Einfluss insbesondere von Steuern und Arbeitslosenunterstützung zum Ausdruck bringen. Für besondere Situationen (Sinken des BIP) sind darüber hinaus auch größere Defizite zulässig. Sie können notwendig sein, wenn Länder eine schwere Rezession durchmachen oder strukturelle Änderungen der öffentlichen Finanzen geboten sind. Die Praxis hat Zweifel an der Bindungswirkung des SWP bestätigt. Jede Regierung entscheidet kurzfristig über die Gestaltung des Budgets und die Verschuldung, die entscheidende Aktionsparameter im politischen Wettbewerb zur Sicherung der Wiederwahl und der eigenen Wählerklientel darstellen. Unterscheidet sich aus der Sicht der Regierung beispielsweise die optimale kurzfristige von der optimalen langfristigen (etwa mit Nullverschuldung) Strategie, so werden die Wirtschaftssubjekte die Anreize der Regierung, von der langfristigen Strategie abzuweichen, antizipieren. Eine langfristig optimale Strategie findet daher keinen Glauben und keine Aussicht auf ihre Durchsetzung. Die Glaubwürdigkeit, dass Politiker sich an den SWP halten bzw. der Pakt bei Verstößen automatisch zeitnah und wirkungsvoll sanktioniert, wurde spätestens 2003 zerstört, als Deutschland und Frankreich als größte Mitgliedstaaten der Euro-Zone gegen die Regeln verstießen und im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin) eine politische Mehrheit gegen Sanktionen organisierten. Die Strategie einer zentralen Geld- und dezentralen Finanzpolitik hat aber nicht funktioniert, weil sie Fehlentwicklungen nicht verhindert oder sogar gefährdet hat. So begünstigte die Geldpolitik mit ihren am Länderdurchschnitt orientierten niedrigen Zinsen Inflationsfreudige Länder und trug dort zur Überhitzung insbesondere im Bausektor und zu divergierenden Lohnstückkosten sowie Verlusten an Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder bei. Damit wird die Konzeption auch langfristig in Frage gestellt. Abb. 13-3 zeigt die Hauptkanäle der Finanzpolitik neben kurzer auch auf lange Sicht, die den Rahmen für die Verzahnung zur Geldpolitik bestimmen. Kurzfristig beeinflusst beispielsweise eine Erhöhung der Umsatzsteuersätze die Nachfrage und Preise. Das Ausmaß hängt von der Ausgestaltung der Maßnahmen im Einzelnen ab, ferner vom Grad der Kapazitätsauslastung, der Wettbewerbsintensität und der Erwartung hinsichtlich der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Diese werden auch davon bestimmt, ob die Maßnahme zur einmaligen Erhöhung der Preise beiträgt oder zu hohen Inflationserwartungen und einem Lohn- und Preisniveauanstieg. Aus der Sicht der EZB (2004) sind finanzpolitische Maßnahmen danach zu beurteilen, ob sie langfristige Tragbarkeit der öffentlichen Finanzen1 bewahren, das Potenzialwachstum erhöhen und ein für die Wirtschaftssubjekte vorhersehbares und stabiles Umfeld schaffen.

1

Vgl. hierzu das 25. Kapitel.

13. Kapitel: Die finanzpolitische Stabilisierungspolitik („Fiscal Policy“)

391

Abb. 13-3 Hauptkanäle von der Finanzpolitik zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität1 kurzfristig

langfristig

Finanzpolitik

Diskretionäre Feinsteuerungsmaßnahmen

Indirekte Steuern, administrierte Preise

Automatische Stabilisatoren

Nachfrage

Preise

Anpassungsfähigkeit des Angebots

Strukturelle finanzpolitische Maßnahmen

Wirtschaftswachstum

Ausgaben, Einnahmen Haushaltsssaldo und Verschuldung

Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

Haushaltssaldo

Kredit/ Geldmenge

Gesamtwirtschaftliche Stabilität1

1

Die EZB unterscheidet (institutionell bedingt) zwischen dem Beitrag auf gesamtwirtschaftliche Stabilität und Preise.

Quelle: EZB, Monatsbericht April 2004, S. 50, modifiziert.

In einer anderen Sicht wird antizyklische Fiskalpolitik damit begründet, dass die Geldpolitik in ihrem Handlungsspielraum beschränkt ist, üblicherweise mit einer gewissen Verzögerung wirkt und nicht auf Lücken zwischen tatsächlichem und potenziellem BIP reagiert. Zu einer solchen Situation kann es kommen, wenn Glaubwürdigkeitsprobleme bei einer Geldpolitik entstehen, die auf den Zyklus reagiert, oder wenn eine solche Reaktion Verwirrung über das Preisniveaustabilisierungsziel der Geldpolitik auslöst. So könnte beispielsweise eine Reaktion der Geldpolitik auf den realen Zustand der Volkswirtschaft als Nutzung der langfristigen Phillips-Kurve interpretiert werden und die Glaubwürdigkeit der EZB in Frage stellen. Wenn aber die Geldpolitik nicht reagieren kann, könnte dies eine Rechtfertigung für die Fiskalpolitik sein (Taylor 2000, S. 30). Die Zuweisung der Geldpolitik für die Geldversorgung und das Ziel eines stabilen Preisniveaus würde andererseits eine Zuweisung der Fiskalpolitik auf die Reduzierung von Wachstumsschwankungen nahe legen. Die oben vorgetragene Sicht der EZB bringt u.a. auch die Zweifel am Erfolg diskretionärer Politik zum Ausdruck. Literatur zum 13. Kapitel Einen Überblick über finanzpolitische Strategien und Konzepte geben Haller (1981a, B § 2), Mackscheidt/Steinhausen (1978, Teil C) und Neumark (1952). Zur automatischen Stabilisierung siehe Albers (1967), Haller (1981a, B § 2.1), Neumark (1970, § 11; 1979) und – grundlegend – Musgrave (1969a, Kapitel 17), ferner Auerbach/

392

Vierter Teil: Grundzüge finanzwirtschaftlicher Stabilisierungspolitik

Feenberg (2002). Die automatischen Stabilisierungswirkungen des deutschen Steuersystems untersucht Körner (1987). Zum Konzept der automatischen Stabilisatoren im Euro-Währungsgebiet siehe EZB (2002), die Bedeutung der US-Bundessteuern bei der automatischen Stabilisierung untersuchen Auerbach/Feenberg (2000). Zur neueren Literatur und einer empirischen Abschätzung der Wirkung automatischer Stabilisatoren in Deutschland und USA siehe Dolls/Fuest/Peichl (2010). Die diskretionäre Stabilisierungspolitik behandeln Gahlen/Schneider (1974), Haller (198l, B § 2.2) und Hesse (1998), eine umfassende Analyse bietet Wagner (2004). Hinweise auf Literatur zu nicht-keynesianischen Effekten der Haushaltskonsolidierung gibt EZB (2004, S. 53/54). Einen Literaturüberblick über die Wirksamkeit diskretionärer Fiskalpolitik geben Hemming/Kell/Mahfouz (2002). Die fehlende Evidenz für diskretionäre Stabilisierungspolitik in den USA macht Taylor (2009) deutlich. Zur neueren Literatur und Wirkungen in der Schweiz siehe Schaltegger/Weder (2010). Die Multiplikatoren jüngerer Konjunkturpakete untersuchen Cwik/Wieland (2010). Die ausgaben- versus einnahmeorientierte finanzpolitische Konjunktursteuerung vergleichen Heckhausen (1974) und Haller (1981a). Zur Regelbindung durch den Stabilitätsund Wachstumspakt siehe Ohr/Schmidt (2004). Seine Messmethode des strukturellen Defizits erläutert der Sachverständigenrat im JG 2004/05 Anhang IV. Wie schwierig die Entscheidung über Form und Ausmaß des Einsatzes der geeigneten Instrumente bei extremer Krisensituation ist und welche Kriterien erfüllt werden sollten, zeigt der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (2009).

Fünfter Teil Theorie der Besteuerung 14. Kapitel Grundlagen der Besteuerung 1. Begriff und Abgrenzung der Steuern Unter den staatlichen Einnahmen haben in Deutschland die Steuern aufkommensmäßig die größte Bedeutung1. Sie sind Teil der öffentlichen Abgaben, zu denen auch Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben rechnen. Nach der Legaldefinition von § 3 I Abgabenordnung2 sind Steuern definiert als „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein. Zölle und Abschöpfungen sind Steuern.“ Wesentliche Merkmale der Definition sind folglich: S Steuern werden auferlegt, sind Zwangsabgaben. Im Gegensatz hierzu stehen die „marktwirtschaftlichen“ Einnahmen des Staates aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages, öffentliche Kredite (außer Zwangsanleihen) und Erwerbseinkünfte öffentlicher Unternehmen. S Steuern sind Geldleistungen, keine Naturalleistungen. Insofern rechnen die als Folge der Wehrpflicht für den Staat zu erbringenden Leistungen rechtlich nicht zu den Steuern (obwohl sie ökonomisch weitgehend als solche qualifiziert werden können). Die Erfüllung dieser Pflicht wird auch nicht auf die Steuerschuld angerechnet und Nichtwehrpflichtige werden keiner Ausgleichsabgabe unterworfen. Auch die als „versteckter öffentlicher Bedarf“ bezeichneten diversen Mitwirkungspflichten können so gesehen werden. S Mit Steuern ist kein Anspruch auf Gegenleistungen verbunden; sie stellen keine spezielle Gegenleistung für besondere Leistungen des Staates dar. Es besteht also kein Zusammenhang zwischen der individuellen Steuerzahlung und einer speziellen vom Steuerzahler genutzten öffentlichen Leistung. (Daher kann die Steuerzahlung nicht mit dem Argument verweigert werden, dass bestimmte öffentliche Leistungen abgelehnt oder anders bewertet werden.) S Das Recht, Steuern zu erheben, besitzen nur öffentlich-rechtliche Gemeinwesen (EU, Bund, Land, Gemeinde, Religionsgemeinschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentliches Rechts).

1 2

Rund 5 % (2009) des deutschen Steueraufkommens stehen der EU zu. Für die Steuererhebung sind in Deutschland die Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) und der speziellen Steuergesetze maßgebend. Die AO ist ein Rahmengesetz der Besteuerung. Sie bestimmt den Steuerbegriff und die Zuständigkeit der Finanzbehörden und legt fest, wer Steuerpflichtiger ist. Sie regelt das Steuerschuldverhältnis, das Besteuerungsverfahren, die Mitwirkung des Steuerpflichtigen (Führen von Büchern, Steuererklärungen), das Erhebungsverfahren, die Vollstreckung und enthält schließlich Straf- und Bußgeldvorschriften. Das Steuerrecht ist aber nicht nur in Steuergesetzen, sondern auch in Durchführungsverordnungen, in der Steuerrechtsprechung und in Verwaltungsanweisungen (Steuerrichtlinien und Einzelerlasse) niedergelegt.

394

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

S Steuern werden aufgrund von Gesetzen (nicht Verordnungen oder Verträgen) erhoben. Steuern sind nur zu zahlen, wenn der Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz die Steuerpflicht knüpft. Es ist daher legal, durch Vermeidung der steuerlichen Tatbestände der Steuer auszuweichen. S Die Erzielung von Einnahmen kann auch Nebenzweck sein. Daher kann eine Steuer auch primär aus Gründen der Verhaltensbeeinflussung (z.B. Energiesparen) erhoben werden. Geldstrafen und Geldbußen fallen nicht unter den Steuerbegriff, weil sie nur (zumindest theoretisch) das gesetzwidrige Verhalten sanktionieren. Entsprechendes gilt für sog. Erdrosselungssteuern, deren Ziel es ist, das belastete Verhalten ganz zu unterbinden, so dass im Ergebnis keine Steuererträge anfallen. Sie dienen nicht der Erzielung von Einnahmen.

Ökonomisch gelten Steuern als von staatlichen Institutionen erhobene Zwangsabgaben (-leistungen), mit denen kein Anspruch auf ökonomische Gegenleistung einhergeht1. Sie stellen einen Grenzfall im Spektrum öffentlicher Einnahmen dar, das nach dem abnehmenden Grad staatlichen Zwangs (und damit auch abnehmender politischer Determinierung) und zunehmender marktlicher Bestimmung von Steuern, Beiträgen, Gebühren und Erwerbseinkünften bis zu den aufgenommenen Krediten reicht. Mit zunehmender marktlicher Komponente wird der Bezug zwischen individueller Leistung an den Staat und von diesem empfangener Gegenleistung (Äquivalenzprinzip) stärker. Je mehr die vom Staat bereitgestellten Güter die Eigenschaft öffentlicher Güter haben (fehlende Rivalität, keine Ausschließbarkeit), um so eher müssen die zu ihrer Durchführung erforderlichen Einnahmen durch generelle Entgelte, insbesondere Steuern finanziert werden. Zwischen öffentlichen Einnahmen und reinen Umverteilungsausgaben, z.B. Sozialhilfe, besteht ebenfalls keine Äquivalenz. Wenn die marktwirtschaftliche Komponente stärker ausfällt, erfolgt die Finanzierung der Gegenleistung eher durch die Erhebung einer Gebühr, die häufig ein spezielles Entgelt darstellt. Zwischen genereller und spezieller Entgeltlichkeit ist auch eine gruppenmäßige Beziehungen zwischen Leistung und Gegenleistung möglich. Erwerbseinkünfte (= Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit) erzielt der Staat, indem er die durch Einsatz seines Erwerbsvermögens erstellten Leistungen am Markt anbietet und gegen spezielles Entgelt (Preise) abgibt. Erwerbseinkünften fehlt weitgehend der hoheitliche Zwang. Zum staatlichen Erwerbsvermögen rechnen öffentliche Betriebe (z.B. Versorgungs- und Verkehrsbetriebe), gewerbliche Unternehmen (Banken, Sparkassen), öffentliche Beteiligungen, allgemeines Kapitalvermögen (Forderungen), Grundvermögen außerhalb der Verwaltung (Bauten, unbebaute Grundstücke). Erwerbseinkünfte haben heute lediglich auf Gemeindeebene eine größere Bedeutung. Allerdings brauchen Zwangsmaßnahmen zur Einnahmenerzielung nicht nur auf (z.B. Steuer-) Gesetzen zu beruhen. Der Staat kann Einnahmen durch andere Formen des Zwangs beschaffen, etwa wenn er eine Monopolstellung in bestimmten Bereichen nutzt. So stellen auch Monopolgewinne aus Finanzmonopolen tatsächlich eine besondere Form der (Verbrauchs-) Besteuerung dar, selbst wenn sie nicht als solche nachgewiesen werden. Ein Finanzmonopol 1

Auch wenn tatsächlich kein Anspruch auf unmittelbare Gegenleistung besteht, können bei der Wahl und der Ausgestaltung von Steuern entsprechende Beziehungen untersucht werden.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

395

ist die alleinige Befugnis der Staates, bestimmte Waren wie Tabak, Branntwein, Zündhölzer als Monopolist herzustellen und/oder zu vertreiben.

Bei der öffentlichen Kreditaufnahme konkurriert der Staat mit privaten Kreditnachfragern am Markt, wenn es sich um freiwillige Kredite handelt. Schreibt der Staat allerdings Höhe und Bedingungen der ihm zu gewährenden Kredite vor (Zwangsanleihen), wird der Unterschied zu den Steuern im Hinblick auf den Zwang gering, auch wenn eine Kreditrückzahlung in Aussicht gestellt sein mag1. Gebühren fallen bei tatsächlicher (nicht immer freiwilliger) individueller Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen an. Zwischen der Bemessungsgrundlage der Gebühr und den Leistungen besteht prinzipiell ein Zusammenhang. Allerdings hat die Gebühr keine Lenkungsfunktion wie der Marktpreis: Das Angebot wird politisch bestimmt, die Berechnung der Gebühren soll nach dem Kostendeckungsprinzip erhoben werden. Hierbei sind betriebswirtschaftliche Kosten (einschließlich kalkulatorische Posten, Abschreibungen und Zinsen) zugrunde zu legen. Juristisch wird zwischen Verwaltungs- und Benutzungsgebühren unterschieden: Verwaltungsgebühren gelten als Entgelt für die Vornahme von Amtshandlungen oder einer sonstigen Tätigkeit (Bescheinigungen, Genehmigungen, Kosten der Zwangsvollstreckung, Kosten des Bußgeltverfahrens). Gerade Verwaltungsgebühren zeigen, wie fraglich der Entgeltcharakter – auch im Sinne „kostenmäßiger“ Äquivalenz – ist. Benutzungsgebühren werden für die Inanspruchnahme anderer öffentlicher Einrichtungen und Anlagen wie Häfen, Büchereien, Müllabfuhr, Badeanstalten u.ä. erhoben.

Den Beiträgen steht die Möglichkeit der Nutzung öffentlicher Leistungen gegenüber. Sie werden auch erhoben, wenn tatsächlich keine individuelle Inanspruchnahme dieser Leistungen vorliegt. Hier erfolgen der Ausschluss von der Nutzung und die Verteilung der Kosten in der Regel gruppenspezifisch. Allerdings ist es in den meisten Fällen zweifelhaft, wem in welcher Höhe die Nutzen zugerechnet werden bzw. wer die Kosten öffentlicher Leistungen über die Beiträge tragen soll. Beispiele für solche „zwangserhobenen Aufwendungsersatzleistungen“ sind Anliegerbeiträge, Beiträge an Kammern sowie Kurtaxen; quantitativ am bedeutsamsten sind die Beiträge an die Sozialversicherungen. Der Übergang zur Steuer ist fließend, „wenn die externen Ersparnisse, für die eine besondere Vorteilsausgleichung gefordert wird, rein fiktiver Natur sind, wenn es sich de facto um eine Zwangsabgabe ohne konkretisierbare Gegenleistung handelt. Der Unterschied zur Besteuerung besonderer Gruppen, z.B. der Kraftfahrzeughalter, ist dann kaum noch zu ergründen“ (Hedtkamp 1977, S. 288). Auch Beiträge für Zwangsmitgliedschaften in parafiskalischen Einrichtungen, wie z.B. Berufskammern, haben eher Steuercharakter. Bestimmte Berufe können ohne Zugehörigkeit zu solchen Organisationen nicht ausgeübt werden.

1

Ein Beispiel hierfür ist der unverzinsliche, rückzahlbare Konjunkturzuschlag von 1970-1972.

396

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Sozialversicherungsbeiträge haben ebenfalls steuerähnlichen Charakter, weil die Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung (auf der Basis bestimmter Wahrscheinlichkeiten für den Versicherungsfall) insbesondere durch das Umlageverfahren, durch Staatszuschüsse und durch die Übernahme versicherungsfremder Risiken individuell (und gruppenmäßig) durchbrochen ist. Sonderabgaben werden nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur von bestimmten Gruppen erhoben, also nicht von allen Staatsbürgern. Ihr Aufkommen dient der Finanzierung besonderer Aufgaben und wird oft in Sonderfonds verwaltet. Sonderabgaben dürfen nicht für den allgemeinen Finanzbedarf eines öffentlichen Gemeinwesens erhoben werden. Durch diese Abgaben sollen insbesondere solche Gruppen zur Finanzierung einer staatlichen Aktivität herangezogen werden, die diese Aktivität notwendig machen oder besonders von ihr profitieren. Beispiel: Berufsbildungsabgabe. Die Abwasserabgabe wird für die Einleitung von Abwasser in ein Gewässer erhoben, ihre Einnahmen sind für die Erhaltung und Verbesserung der Gewässergüte zweckgebunden. 2. Steuertechnische Begriffe Zur Beschreibung eines Steuersystems werden mehrere steuertechnische Begriffe verwendet1: S Steuergegenstand oder Steuerobjekt: Sache, Handlung oder Geldsumme, auf die sich der Zugriff richtet. Der Steuergegenstand begründet die Steuerpflicht. Beispiele: Das Halten von Kraftfahrzeugen für die Kraftfahrzeugsteuer; der Gewerbebetrieb für die Gewerbesteuer; das Einkommen für die Einkommensteuer. S Steuerbemessungsgrundlage: Die technisch-physische oder monetäre Größe, die der Ermittlung der Steuerschuld zugrunde gelegt wird. Beispiele: Der Gewerbeertrag für die Gewerbesteuer; Hubraum oder Gewicht bei der Kraftfahrzeugsteuer; das zu versteuernde Einkommen bei der Einkommensteuer. S Besteuerungseinheit: Die vom Gesetzgeber festgelegte Einheit der Bemessungsgrundlage, auf die der Steuertarif angewandt wird. Beispiele: Euro Einkommen, m2 Boden. S Steuerbetrag oder Steuerschuld: Absoluter Betrag der zu entrichtenden Steuer. S Steuertarif: Die für eine Einzelsteuer vorgenommene vollständige Zuordnung von Bemessungsgrundlage und Steuerbeträgen. S Steuersatz: Verhältnis von Steuerbetrag zu Bemessungsgrundlage. S Steuerschuldner (oder -pflichtiger oder -subjekt): Natürliche oder juristische Personen, die für eine Steuer schulden, für eine Steuer haften, eine Steuer für Rechnung eines Dritten einzubehalten oder abzuführen haben oder andere durch die Steuergesetze auferlegte Verpflichtungen zu erfüllen haben. S Steuerzahler: Derjenige, der die Steuern an das Finanzamt abführt (zahlt).

1

Die Begriffe lassen sich auf die Ausgabenseite, insbesondere auf Subventionen und auf Transfers an Haushalte übertragen.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

397

S Steuerträger: Derjenige, der ökonomisch den Steuerbetrag zu leisten hat, d.h. dessen Einkommen oder Vermögen durch die Besteuerung gekürzt wird. Aufgrund von Steuerüberwälzungsvorgängen fallen Steuerpflichtiger und -träger nicht immer zusammen. Sofern eine Steuerüberwälzung vom Gesetzgeber gewollt wird, bezeichnet man denjenigen, dem die definitive Steuerbelastung gesetzlich zugedacht ist, als Steuerdestinatar. S Steuergläubiger: Die Fiskalgewalt mit der Ertragshoheit über die Abgabe. 3. Steuertariflehre Die Höhe des Steueraufkommens wird wesentlich durch die Ausgestaltung der Steuern bestimmt. Hierzu rechnen die Auswahl und die Abgrenzung der Steuerobjekte, die Festlegung der Bemessungsgrundlagen und der Steuertarife. Schließlich sind auch die Steuerzahlungsmodalitäten von Bedeutung. Der Steuertarif ist die eindeutige Zuordnung zwischen der Steuerbemessungsgrundlage (X) und dem Steuerbetrag (T). Die Steuerbetragsfunktion (14-1)

T = T(X)

muss nicht unbedingt stetig und differenzierbar sein. Zur Charakterisierung einer Steuer werden ferner der Durchschnittssteuersatz (14-2)

T(X) ) ](X) X

und der Grenzsteuersatz (14-3)

dT ) T ' ( X ) ) ]( X ) dX

verwendet. Je nach Entwicklung der Steuerbelastung bei Variation der Bemessungsgrundlage unterscheidet man proportionale, progressive und regressive Steuertarife. Als Maße (0) hierfür können gelten: S Differenz von Grenz- und Durchschnittssteuersatz (14-4)

01 ) ](X ) 5 ]( X )

S Änderungsrate des Durchschnittssteuersatzes bei Änderung der Bemessungsgrundlage

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

398

(14-5)

02 )

d ](X ) 1 ) [ ](X ) 5 ](X )] , dX X

S Elastizität des Steuerbetrags in Bezug auf die Bemessungsgrundlage (14-6)

03 )

dT / T dT / dX ](X ) , ) ) dX / X T/X ]( X )

03 (oder im folgenden ET,X) ist das Verhältnis der relativen Änderung des Steuerbetrags (Steueraufkommens) bei einer relativen Änderung der Bemessungsgrundlage, oder gleichbedeutend: der Quotient aus dem marginalen und dem durchschnittlichen Steuersatz. S Residualelastizität (Verfügbarkeitselastizität) als Verhältnis der relativen Änderungsrate der nach Abzug des Steuerbetrages verbleibenden Steuerbemessungsgrundlage zur relativen Änderungsrate der Steuerbemessungsgrundlage (wobei X und T(X) in gleichen Einheiten gemessen werden müssen). (14-7)

04 )

X d[X 5 T (X )] / dX 1 5 ](X ) [](X ) 5 ](X )] ) ) 15 X 5 T(X) (X 5 T (X )) / X 1 5 ]( X )

(5) Änderung des Grenzsteuersatzes bei Änderung der Bemessungsgrundlage (14-8)

05 )

d](X) d 2 T (X) . ) dX dX 2

Dieses Maß kann nicht die indirekte Progression beschreiben. Ansonsten lässt sich anhand dieser Maße für jeden Wert der Bemessungsgrundlage die Tarifeigenschaft angeben: Tab. 14-1 Tarifeigenschaften nach verschiedenen Maßen

progressiv proportional regressiv 1

01

02

03

04

05

>0 =0 0 =0 1 =1 0 = 01 XF gleich, nämlich ] c X F . Daher entspricht hier die Einräumung eines konstanten Abzugsbetrages A = ] c X F von T = ] c X der Wirkung des Freibetrags. Das ist anders bei direkter Progression und Freibetrag (14-12) T ) ](X )(X 5 X F ) mit d] / dX ' 0 , hier steigt die durch den Freibetrag XF bewirkte Steuerminderung mit zunehmender Bemessungsgrundlage. Dies „wird häufig als unsozial gegenüber einer absolut gleichen Steuerentlastung für alle Steuerpflichtigen durch einen konstanten Abzugsbetrag kritisiert. Dieses Argument ist dann nicht haltbar, wenn der die Freibetragsgewährung auslösende Tatbestand den Berechtigten in genau die gleiche steuerlich relevante Situation versetzt, in der sich ein Steuerpflichtiger befindet, der ohne diesen Tatbestand von vornherein“ eine um XF kleinere Steuerbemessungsgrundlage aufzuweisen hat. „Die höhere Entlastung stellt nur den Ausgleich für die höhere Mehrbelastung dar, die den Freibetragsberechtigten treffen würde, wenn der den Freibetrag begründende Tatbestand ungerechtfertigterweise nicht berücksichtigt worden wäre. Die Kritik an konstanten Freibeträgen ist jedoch dann berechtigt, wenn etwa durch eine steuerliche Vergünstigung bestimmte Personenkreise oder bestimmte Verhaltensweisen gefördert werden sollen. Die bei Abzugsbeträgen von der Steuerschuld gegebene Möglichkeit, die Steuervergünstigung konstant zu halten oder beliebig zu variieren, erlaubt eine bessere Anpassung an die zugrundeliegende spezielle Zielsetzung der Vergünstigung als die von der Ausgestaltung des Grundtarifs abhängige Entlastungswirkung von Freibeträgen“ (Pollak 1980a, S. 254). Wenn gelegentlich ein Betrag XB wie ein Freibeträge als steuerfrei deklariert wird (14-13) T* ) ](X )(X 5 X B ) , gleichzeitig aber XB bei der Festlegung des allgemeinen Durchschnittssteuersatzes unberücksichtigt bleibt, spricht man vom Progressionsvorbehalt. Er wird z.B. bei der Freistellung ausländischer Einkünfte von der inländischen Einkommensteuer oder bei der Besteuerung des Arbeitslosengeldes angewendet. Vom Freibetrag ist die Freigrenze XG zu unterscheiden, die in Abb. 14-3 im Zusammenhang mit einem proportionalen Tarif dargestellt ist. Sie gibt die Bemessungs-

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

401

grundlage an, bis zu der Steuerfreiheit gewährt wird. Auf die darüber liegende Bemessungsgrundlage wird aber der Steuersatz voll angewendet. Die Steuerbetragsfunktion ist hier also (14-14) T ) ](X)X mit

I ] ) 0 für X Z X G H F ] ) ] c für X ' X G

Abb. 14-3 Wirkung der Freigrenze ]

] ]) ]

0

XG

X

Freigrenzen führen zu Sprüngen in der Steuerbetrags- (vgl. Abb. 14-1), Durchschnitts- und Grenzsteuersatzfunktion (Abb. 14-3). Der Tarif kann weiter nach dem Grad der Progressionseigenschaft unterschieden werden. Für den Progressionsgrad gilt d2 ]

(14-15)

dX 2

I' 0 E H) 0 E+ 0 F

beschleunigte Progression gleichmäßige (oder lineare) Progression verzögerte Progression

Abb. 14-4 Progressionstypen und Proportionalität T/X

gleichmäßige (lineare) Progression beschleunigte Progression verzögerte Progression Proportionalität

0

X

Steuertarife werden durch mathematische Formeln für den gesamten Gültigkeitsbereich oder abschnittsweise durch eine Treppenfunktion (Stufentarife) beschrieben. Bei Stufentarifen können T, ] oder ] über Bereiche der Bemessungsgrundlage konstant sein. Beim Stufenbetragstarif (Abb. 14-5) ergibt sich bei jeweils konstantem T

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

402

über die einzelnen Besteuerungsabschnitte innerhalb der Besteuerungsabschnitte eine innere Regression, d.h., die Durchschnittssteuerbelastung sinkt in einer Stufe mit zunehmender Bemessungsgrundlage. Abb. 14-5 Innere Regression beim Stufenbetragstarif T

T/X

X

X

Beim Anstoßtarif sind die Grenzsteuersätze auf den einzelnen Stufen konstant1 und der Steuerbetrag nimmt in den einzelnen Stufen linear bei gleichbleibender Steigung zu. Der Stufensatztarif (Abb. 14-6) weist einen jeweils auf den einzelnen Stufen konstanten Durchschnittssteuersatz auf. Abb. 14-6 Stufensatztarif T

T/X

X

X

4. Die Klassifizierung von Steuern a) Verschiedene Klassifizierungsmöglichkeiten

Historische Steuersysteme sind regelmäßig durch eine Vielfalt von Steuern gekennzeichnet, die sich auf verschiedenste Art und Weise gleichen bzw. unterscheiden. In Deutschland werden z.Z. über 50 verschiedene Steuern erhoben. Fast jährlich werden neue Steuern erhoben (z.B. Bauabzugsteuer in 2002, Alkopopsteuer2 in 2004, Beherbergungsteuer 2010), neubezeichnet (z.B. Teile der Mineralölsteuer als Ökosteuer) 1 2

Hierzu hätte man im linken Bild von Abb. 14-5 auf der Ordinate T durch T’ zu ersetzen. Die amtliche Bezeichnung ist Sondersteuer auf alkoholhaltige Süßgetränke.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

403

oder verändert (z.B. Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer); manche Steuern werden fast nicht wahrgenommen (z.B. Zwischenerzeugnissteuer1). Eine Systematisierung erweist sich als schwierig, ist aber für die Beurteilung der Zielgerechtigkeit des Steuersystems, für internationale Steuerbelastungsvergleiche und für Harmonisierungsbemühungen von Interesse. Steuern können u.a. danach gegliedert werden, (1) was besteuert wird (Steuerobjekt, Bemessungsgrundlage ...); (2) ob die Besteuerung direkt oder indirekt erfolgt; (3) wie besteuert wird (Tarifform, Steuererhebungstechnik ...); (4) welche Wirkung die Steuer hat; (5) mit welcher Absicht besteuert wird (Ziele der Besteuerung); (6) wem der Steuerertrag zufließt (Bundes-, Länder-, Gemeindesteuern; Gemeinschaftssteuern) und (7) wie oft besteuert wird (einmalig, laufend). Die ersten beiden stellen häufig verwendete Kriterien dar und werden im folgenden behandelt. Die Gliederung nach (3) ist für die Steuerwirkungsanalyse (vgl. 15. Kapitel) insofern von Bedeutung, als Unterschiede der einzelnen Steuern in Tarif- und Erhebungsform andere Wirkungen hervorrufen können. (5) ist problematisch, weil sich die Zielsetzungen im Zeitablauf ändern können und jeweils neue Zuordnungen erfordert. Die Gliederung nach (6) ist von Interesse, soweit die Ertragshoheit über einzelne Steuern die Ausgabenentscheidungen der jeweiligen Ebene beeinflusst, trägt jedoch wenig zur Charakterisierung der Steuern bei. (7) hat keine Bedeutung, weil einmalig erhobene Steuern (z.B. Vermögensabgabe, Konjunkturzuschlag) selten vorkommen. Wichtig ist (4), setzt aber die Kenntnis der Wirkungen voraus und kann angesichts der Mängel in der Steuerwirkungsanalyse nicht befriedigend realisiert werden. Das gilt auch für direkte und indirekte Steuern, deren Abgrenzung aber uneinheitlich erfolgt. In den VGR ist für die Zuordnung2 entscheidend, ob die Steuer bei Produzenten erhoben wird und ob sie formal (steuerrechtlich) bei der Gewinnermittlung abzugsfähig ist. Meist wird die Überwälzbarkeit, d.h. die Möglichkeit des Steuerzahlers, die Steuerlast auf andere Wirtschaftssubjekte zu verlagern, als Merkmal genannt. Auch das BMF geht davon aus, dass bei direkten (indirekten) Steuern Steuerzahler und -träger (nicht) identisch sind. Übereinstimmend gelten die Einkommensteuer als direkte und die Umsatzsteuer als indirekte Steuer, darüber hinaus sollte man wegen ihrer Strittigkeit die Begriffe möglichst vermeiden. b) Die Klassifikation nach dem Steuerobjekt

Neue Anknüpfungspunkte der Besteuerung sind leicht zu finden. Der jeweilige steuerpflichtige Tatbestand muss nur eindeutig definiert und tatsächlich ermittelt werden können. Drei mögliche Anknüpfungspunkte sind: Personen, Vermögen und wirtschaftliche Aktivitäten.

1 2

Auf alkoholische Getränke, die zwischen Wein und Spirituosen anzusiedeln sind. Wobei direkte Steuern in den VGR als Einkommen- und Vermögensteuern bezeichnet werden, indirekte Steuern sind Produktions- und Importabgaben; vgl. das 2. Kapitel.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

404

Personen Steuerpflichtige sind stets Personen. Stellt man auf die Personeneigenschaft ab, ergibt sich eine Personen- oder Kopfsteuer bei natürlichen und eine Gesellschaftsteuer bei juristischen Personen. Steuerpflichtige und Steuerobjekt fallen hier zusammen. Allerdings kann die Person selbst nie Steuerquelle sein. Hierzu sind Vermögen oder Einkommen (bzw. Erträge) erforderlich, aus denen die Steuern zu entrichten sind1. Vermögen Neben der Person selbst kann auch ihr Vermögen Gegenstand der Besteuerung sein, wobei das Vermögen verschieden weit abgegrenzt werden kann. Beispiele: (allgemeine) Vermögensteuer, Grundsteuer, Kfz-Steuer. Das Vermögen V eines Wirtschaftssubjekts im Zeitpunkt t kann als Summe der Produkte aus den verschiedenen Vermögensposten vit mit den jeweiligen Preisen pit definiert werden:

(14-16) Vt ) 4 pit vit i

Daher muss für jede Vermögensbesteuerung das Problem der Abgrenzung, der Erfassung und der Bewertung gelöst werden. Es muss also festgelegt werden, was zum Vermögen rechnen soll. Für die Bewertung zu einem bestimmten Stichtag bedarf es fiktiver Werte. Hierzu können aktuelle Verkehrswerte mehr oder weniger identischer Transaktionen geeignet sein. Sind aber auch (nicht realisierte) Vermögenswertsteigerungen zu berücksichtigen? Und wie soll ein fiktiver Wert bei Vermögensarten aussehen, die nicht so einfach wie Wertpapiere austauschbar sind (z.B. Grundstücke, Immobilien, Betriebsvermögen, Kunstgegenstände). Die Vermögensteuer kann als Sollertragsteuer interpretiert werden. Sie belastet auch ertragloses Vermögen. Bei einem durchschnittlichen Vermögensteuersatz von ] V ) 0,05 wird der Vermögensertrag von 1 % faktisch mit 50 % belastet. Die Vermögensteuer greift so auch hier in die Substanz ein und stellt daher eine Enteignung dar. Wirtschaftliche Aktivitäten Wichtigste Anknüpfungspunkte der Besteuerung sind jedoch die Größen des Wirtschaftsprozesses. Die meisten bekannten Steuern knüpfen an wirtschaftlichen Aktivitäten an. Das verdeutlicht das folgende einfache Kreislaufschema einer geschlossenen Wirtschaft. Abb. 14-7 macht einen Grundzusammenhang des volkswirtschaftlichen Kreislaufs deutlich: Abgesehen von intrasektoralen Übertragungen fließt jeder Strom von einem Pol (oder Sektor) zu einem anderen. Er stellt meist bei einem Pol eine Einnahme, bei einem anderen eine Ausgabe dar. Daher kann die Besteuerung mit demselben makroökonomischen Aggregat als Steuerobjekt (z.B. Bruttoinlandsprodukt) meist an verschiedenen Punkten anknüpfen. In der Praxis sind die Bemessungsgrundlagen allerdings unterschiedlich abgrenzt. Steuern können abknüpfen an (1) den Haushaltseinkommen (YUH). Wird dort besteuert, wo die Einkommen hinfließen, spricht man von Einkommensteuern. Belastet werden können das Individuum 1

Eine spezielle Personensteuer ist auch die Wehrpflicht, die junge Männer, die sich ihr nicht entziehen, mit einer impliziten Steuer belastet, die bewusst nach dem Geschlecht diskriminiert.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

405

Abb. 14-7 Ansatzpunkte der Besteuerung im Wirtschaftskreislauf D

Ib SU nicht ausgeschüttete Gewinne

SH

Übertragungen

ÜHU

Lohnsumme

YHU

@

Unternehmen

Vermögensveränderung

Zinsen, ausg. Gew.

intrasektorale Übertragungen ÜHH

@

Löhne, Gehälter Zinsen, ausg. Gew.

Haushalte

C

oder eine Gruppe von Personen wie der Haushalt. Ferner kann auf das Einkommen insgesamt abgestellt oder nach Herkunftsformen differenziert werden. (2) den Ausgaben der Haushalte (C). Hier wird auf die Verwendung des Einkommens (also auf die andere Seite des Einkommenskontos der Haushalte) abgestellt. Solche an den Ausgaben der einzelnen privaten Haushalte anknüpfenden Steuern werden als Ausgabensteuern bezeichnet. Neben solchen auf die gesamten Konsumausgaben abstellenden allgemeinen Ausgabensteuern1 können auch selektive Steuern auf einzelne Konsumgüterkäufe konzipiert werden2. Bei ihnen ist es im Gegensatz zur Einkommensteuer und zur allgemeinen Ausgabensteuer nicht möglich, den persönlichen Umständen Rechnung zu tragen. (3) den Einnahmen der Unternehmen aus dem Verkauf von Konsumgütern (C). Es können einzelne oder alle Konsumgüterverkäufe belastet werden. Beispiele hierfür sind eine Umsatzsteuer (ohne Belastung der Investitionen) oder spezielle Verbrauchsteuern (wie z.B. Tabaksteuer). Hier können die gleichen Größen wie bei den Ausgabensteuern belastet werden, wobei allerdings an einem anderen Wirtschaftssektor und in einer anderen Phase des Kreislaufs angeknüpft wird. Ferner lassen sich hier spezifische Umstände (z.B. Rechtsform) der Unternehmen, nicht aber der Haushalte berücksichtigen. Eine Konsumsteuer entspricht einer Wertschöpfungsteuer nach Abzug der Investitionen. (4) den gesamten Einnahmen der Unternehmen (C + I), wobei die Brutto- oder die Nettoinvestitionen zugrunde gelegt werden können. Steuern auf der Verwendungsseite des Einkommenskontos der Haushalte (C + S) haben hier ihr Gegenstück. Die Steuer auf (C + I) entspricht einer Belastung der gesamten Wertschöpfung. (5) den auf die eingesetzten Faktoren entfallenden Entgelten, die die Wertschöpfung der Unternehmen darstellen. Hier wird auf die Einkommensentstehungs-(Input-)Seite 1 2

Obwohl die Bemessungsgrundlage kleiner ist, werden die Ausgabensteuern gelegentlich auch zu den Einkommensteuern gerechnet. Diese führen teilweise zu Bagatellsteuern, d.h. Einzelsteuern, die nur im geringen Maße zum Gesamtsteueraufkommen beitragen. Sie können allerdings aus der Sicht einer einzelnen Gebietskörperschaft (Gemeinde) größeres Gewicht haben.

406

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

des Produktionskontos der Unternehmen abgestellt, wobei die Bemessungsgrundlage mit der auf die Einnahmen abstellenden Steuer identisch sein kann. Die Besteuerung kann bei den einzelnen oder allen Entgelten der eingesetzten Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital...) ansetzen. Bei zwei Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital kommt eine Arbeitsertragsteuer auf die Arbeitseinkommen und eine Kapitalertragsteuer auf die Gewinne (einschließlich Zinsen) in Betracht. Die in den Unternehmen entstandenen Faktorentgelte werden zu Einkommen, wenn sie den Haushalten zufließen. Auch hier kann die gleiche makroökonomische Größe Bemessungsgrundlage verschiedener Abgaben sein. Im einen Fall werden zielmäßig die ertragbringenden Objekte, im anderen die Haushalte belastet. (6) intrasektoralen Übertragungen (ÜUH), die zwischen Wirtschaftssubjekten desselben Sektors (Schenkungen, Erbschaften) erfolgen. Hier sind die beim Vermögen genannten Bewertungsprobleme ebenfalls zu lösen. Aber auch intersektorale Übertragungen wie die in Abb. 14-7 unberücksichtigten geleisteten Übertragungen des Staates in Form von Kindergeld, Arbeitslosengeld und Renten u.a. kommen in Betracht. 5. Die Struktur des deutschen Steuersystems

Abb. 14-8 zeigt grob die Entwicklung der Steuerstruktur seit 1925. Seit Mitte der 70er Jahre findet eine Verschiebung zu Lasten der direkten Steuern statt. Tab. 14-2 zeigt detaillierter die Zusammensetzung des Steueraufkommens nach den wichtigsten in der Bundesrepublik Deutschland erhobenen Steuern seit 1950. Der Einkommen- und Körperschaftsteuer kommen gegenwärtig mit fast 40 % und der Umsatzsteuer mit einem Drittel des Steueraufkommens die zentrale Bedeutung zu. Größeres Gewicht haben ferner die Mineralöl- und die Gewerbesteuer. Abb. 14-8 Die langfristige Struktur des Steueraufkommens

Quelle: Bach (2006), S. 119.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

407

Tab. 14-2 Das Aufkommen wichtiger Steuern1 19502

1960

0,9 1,1 0 . 0,7 . 2,6

4,1 4,6 0,4 . 3 . 8,2

1970

1980

1990

2000

2005

2009

57 18,8 2,1 . 10,9 . 47,8

92,6 18,7 5,5 . 15,4 . 79

135,7 12,2 13,5 7,3 23,6 11,8 140,9

118,9 9,8 10,0 7,0 16,3 10,3 139,7

135,2 26,4 12,5 12,4 7,2 11,9 177,0

Mrd. Euro Lohnsteuer Veranlagte Einkommensteuer Nicht veranl. Steuern v. Ertrag Zinsabschlag/Abgeltungsteuer3 Körperschaftsteuer Solidaritätszuschlag Steuern vom Umsatz4 Stromsteuer5

17,9 8,2 1 . 4,5 . 19,5

.

.

.

.

.

3,4

6,5

6,3

Energiesteuer6

0,1

1,4

5,9

10,9

18,7

37,8

40,3

39,8

Tabaksteuer Vermögensteuer Erbschaftsteuer Kfz-Steuer Gewerbesteuer7

1,1 0,1 0 0,2 0,6

1,8 0,6 0,1 0,8 3,8

3,3 1,5 0,3 2 6,2

5,8 2,4 0,5 3,4 14,3

9,4 3,2 1,5 4,3 19,8

11,4 0,4 5,1 7 27

14,3 0,1 4,1 8,7 32,1

13,4 0,0 4,6 4,4 32,4

0,6 10,8

0,8 35

1,4 78,8

3 186,6

4,5 289,9

8,8 467,3

9,9 452,1

10,9 524,0

31,9 6,5 1,9 . 5,3 . 27,3

29,0 2,6 2,9 1,6 5,1 2,5 30,2

26,3 2,2 2,2 1,5 2,9 2,3 30,9

25,8 5,0 2,4 2,4 1,4 2,3 33,8

Grundsteuer Steuern insgesamt8

Anteil am Gesamtsteueraufkommen in % Lohnsteuer 8,3 Veranlagte Einkommensteuer 10,2 Nicht veranl. Steuern v. Ertrag 0,0 Zinsabschlag/Abgeltungsteuer3 . Körperschaftsteuer 6,5 Solidaritätszuschlag . Steuern vom Umsatz4 24,1 Stromsteuer5 Energiesteuer6 Tabaksteuer Vermögensteuer Erbschaftsteuer Kfz-Steuer Gewerbesteuer7 Grundsteuer Steuern insgesamt8 1

11,7 13,1 1,1 . 8,6 . 23,4

30,5 10,1 1,1 . 5,8 . 25,6

.

.

.

.

.

0,7

1,4

1,2

0,9

4,0

7,5

5,8

6,5

8,1

8,9

7,6

10,2 0,9 0,0 1,9 5,6

5,1 1,7 0,3 2,3 10,9

4,2 1,9 0,4 2,5 7,9

3,1 1,3 0,3 1,8 7,7

3,2 1,1 0,5 1,5 6,8

2,4 0,1 1,1 1,5 5,8

3,2 0,0 0,9 1,9 7,1

2,6 0,0 0,9 0,8 6,2

5,6 100,0

2,3 100,0

1,8 100,0

1,6 100,0

1,6 100,0

1,9 100,0

2,3 100,0

2,1 100,0

Bis 3.10.90 Westdeutschland, danach Deutschland. Ohne Saarland. 3 Bis 2008 Zinsabschlag; ab 2009 Abgeltungsteuer. 4 Bis 1967 Umsatzsteuer, Umsatzausgleichsteuer, Beförderungsteuer; ab 1986 Umsatzsteuer (MWSt) und Einfuhrumsatzsteuer; 1969 bis 1972 einschl. Straßengüterverkehrsteuer.

2

22,7 10,4 1,3 . 5,7 . 24,7

5

Seit 1999 erhoben. Besteuerung von Mineralöl, Gas und Kohle. 7 Bis 1981 einschl. Lohnsummensteuer; bis 1997 einschl. Gewerbekapitalsteuer. 8 Darin sind die EU-Eigenmittel enthalten. 6

Quelle: Sachverständigenrat, JG 1993/94, Tab. 36*; Bundesministerium der Finanzen, Finanzbericht 2011, Tab. 11; eigene Berechnungen.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

408

6. Die Steuerschätzung

Die Steuerschätzung ist als Grundlage zur Aufstellung des Haushaltsplans (einschl. der mittelfristigen Finanzplanung) und der Politikgestaltung insgesamt erforderlich. Das vom „Arbeitskreis Steuerschätzung“ vorlegte Ergebnis hängt ab von S einer verlässlichen Prognose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In der Steuerschätzung wird diese durch die von der Bundesregierung vorgelegte Projektion des BIP als verbindliche Vorgabe ersetzt, deren Zielcharakter die Schätzergebnisse prägt und so die Möglichkeit der politischen Einflussnahme gibt1. S dem Zusammenhang zwischen der BIP-Entwicklung und den Bemessungsgrundlagen der Steuern. Die übliche Methode der Steuerschätzung2 orientiert sich an der gesamtwirtschaftlichen Aufkommenselastizität (14-17) E T , Y )

[T / T [T / [Y . ) T/Y [Y / Y

Die Aufkommenselastizität drückt aus, wieviel das Steueraufkommen (T) prozentual zu- oder abnimmt, wenn sich das Bruttoinlandsprodukt (Y) um ein Prozent verändert. Das nominale Inlandsprodukt dient als Indikator für die Entwicklung der Einkommen, der Ausgaben oder der Umsätze der Wirtschaft. Alternativ lässt sich (14-17) E als Differenzenquotient der Logarithmen von T und Y schreiben: (14-18) E T , Y )

[ ln T . [ ln Y

Die Aufkommenselastizität des gesamten Steueraufkommens ergibt sich aus der Aggregation der für jede einzelne Steuer getrennt ermittelten Aufkommenselastizität, die wiederum in eine Bemessungsgrundlagen- und eine Steuersatzelastizität aufgeteilt werden kann. In einem ersten Schritt wird die Elastizität der Bemessungsgrundlage in Bezug auf das Inlandsprodukt geschätzt: (14-19) E B, Y )

[B / B . [Y / Y

In einem zweiten Schritt wird das kassenmäßige Steueraufkommen aus den Bemessungsgrundlagen unter Berücksichtigung der Steuersatzelastizität abgeleitet; diese ist definiert als

1 2

Die Überschätzung des Steueraufkommens ist ein Substitut für explizite Defizite. Die einzelnen Mitglieder des Arbeitskreises können eigene Schätzvorschläge mit eigenen Methoden und Modellen vorlegen. Diese werden im Arbeitskreis erörtert. Das Ergebnis ist letztlich ein Kompromiss. Auf der Grundlage der Einzelsteuerschätzungen werden dann die auf Bund, Länder, Gemeinden und EU entfallenden Einnahmen ermittelt (vgl. BMF, Monatsbericht 06/2002).

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

(14-20) E ], B )

409

[] / ] . [B / B

Die Aufkommenselastizitäten einzelner Steuern sind unterschiedlich hoch. In der Vergangenheit führte ein Wachstum der Volkswirtschaft zu überproportionalen Einnahmen bei der Einkommensteuer wegen ihres progressiven Tarifs. Insgesamt ließ sich für das deutsche Steuersystem langfristig eine Aufkommenselastizität von ungefähr eins feststellen. Bemerkenswert ist insbesondere die hohe Aufkommenselastizität der Lohnsteuer. Zu ihrer Schätzung wird von den Bruttolöhnen und -gehältern als Bemessungsgrundlage ausgegangen. Die Elastizität wird wesentlich bestimmt durch Veränderungen in der Einkommenspyramide. Ferner fallen mit steigendem Nominaleinkommen immer mehr Lohn- und Gehaltsbezieher in höhere Bereiche der direkten Progression. Die Werte der Aufkommenselastizitäten der einzelnen Steuern können im Zeitablauf stark schwanken. Das ist einmal auf Veränderungen von EB,Y, aber auch u.a. auf Unterschiede zwischen Steuerschuld und kassenmäßigem Aufkommen, insbesondere bei den Veranlagungssteuern, zurückzuführen. Ferner können sich in der Vergangenheit eingeräumte Steuervergünstigungen und angesammelte Verluste zum Teil erheblich auf das kassenmäßige Steueraufkommen auswirken1. Auch legale und illegale Steuerausweichungen führen zu Steuerausfällen. Steuerschätzungen werden disaggregiert nach Steuerarten nicht nur unter Verwendung der Elastizitäten, sondern auch mit Hilfe ökonometrischer Prognosemodelle und iterativer Prognoseverfahren anhand makroökonomischer Daten der Inlandsproduktberechnungen durchgeführt.

7. Anforderungen an ein gutes Steuersystem2

Zur systematischen Gestaltung mehrerer Steuern bedarf es eines Leitbildes, um sie in einer konsistenten und integrierten Gesamtstruktur zusammen zu führen. Auf dieses Leitbild kann die Gesamtheit der Steuern, aber auch jede einzelne Steuer (z.B. die Einkommensteuer) ausgerichtet sein. Üblicherweise bestehen solche Leitbilder aus einer Reihe von Anforderungen, zu denen rechnen S ökonomische Effizienz, S Transparenz der Steuerlasten, S Achtung der individuellen Präferenzen, S geringe Entrichtungskosten der Steuerpflichtigen, S geringe Erhebungskosten, S Stabilität der steuerlichen Rahmenbedingungen, 1 2

Ein Beispiel ist die Körperschaftsteuer im Jahre 2001. Sie wurden schon 1776 von Adam Smith (1993, 5. Buch, 2. Kapitel) formuliert und in den Steuergrundsätzen weiterentwickelt, wie sie beispielsweise Neumark (1970) aufgestellt hat. Die Anforderungen werden auch weitgehend als Merkmale eines „rationalen“ Steuersystems betrachtet.

410

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

S Schutz des Existenzminimums, S Besteuerung nach dem Äquivalenz- und/oder Leistungsfähigkeitsprinzip, S Gerechtigkeit bzw. Fairness, und wenn diese schwierig zu konkretisieren sind, Verwendung nachvollziehbaren Kriterien. Ökonomische Effizienz1 erfordert, dass Steuern nicht eine vom Markt erzielte effiziente Ressourcenallokation beeinträchtigen, d.h. die Auswahlentscheidungen von Haushalt und Unternehmen zwischen Alternativen nicht verzerren. Aber jede praktikable Steuer verändert die relativen Preise und darüber die Allokation. Steuern (wie Regulierungen) rufen Anpassungsreaktionen hervor. Wenn Verzerrungswirkungen unvermeidlich sind, geht es darum, diese möglichst gering zu halten, d.h. Zusatzlasten zu minimieren. Problematisch kann auch sein, dass vor Besteuerung effiziente Aktivitäten eingestellt und ineffiziente andere nur als Folge steuerlicher Regelungen durchgeführt werden. Die nächsten vier Anforderungen haben etwas damit zu tun, dass Steuern unabhängig von ihren kassenmäßigen Wirkungen verschiedenste Formen von Transaktionskosten hervorrufen. Das Steuersystem sollte möglichst einfach (verständlich) und durchsetzbar sein. Wenn die Durchführung einer an den Staat zu leistenden Übertragung von 100 Euro zu einer Belastung von 100 Euro Steuern und 50 Euro Transaktionskosten führt, erleidet die Gesellschaft als Ganzes einen Verlust von 50 Euro. Transparenz heißt, dass die Gesetze überschaubar und auch für den Normalbürger verständlich und nicht zu kompliziert sein müssen2. Es geht aber nicht nur um Gesetze, sondern u.a. auch um Rechtsprechung und Ausführungsbestimmungen. Von privaten Banken wird gefordert, dass sie ihren Kunden die wahren Kosten eines Kredits offen legen und keine Verschleierungsversuche unternehmen. Zwar wird in diesem Bereich immer wieder dagegen verstoßen (Kleingedrucktes u.ä.), das rechtfertigt aber nicht die beim Staat häufig zu findende Intransparenz. Die Vielzahl steuerpflichtiger Tatbestände, unterschiedlicher Begriffe, differenzierender Ausgestaltungen usw. macht es nur schwer möglich, die tatsächliche Abgabenbelastung zu erkennen. Die Begriffssysteme sind darüber hinaus häufig mangelhaft und auf Täuschung angelegt3. Häufige Veränderungen der steuerlichen Rahmenbedingungen verringern die Transparenz und erhöhen die Entrichtungs- und Erhebungskosten. Steuern fließen in die Planungen von Unternehmen und Haushalten ein, (selbst potentiellen) Änderungen muss z.B. im Hinblick auf künftige Einkommensströme Rechnung getragen werden. Auch Nichtentscheiden angekündigter und beratener Steuerrechtsänderungen oder „Aussitzen“ von Entscheidungen rufen daher Kosten hervor. Mehrere dieser Kriterien stellen auf den Umgang des Staates mit seinen Bürgern ab. Wenn der Staat sich möglichst wenig in die Wahlentscheidungen der Bürger und Un1 2 3

Vgl. auch ausführlicher Kapitel 22.1.c). Gelegentlich sind selbst Juristen vor Gericht erfolgreich mit dem Argument, sie hätten kein Steuerrecht in ihrer Ausbildung gehabt und würden die Steuergesetze nicht verstehen. Gesetze werden unverständlich und auch unsinnig formuliert. Ein Beispiel hierfür liefert der Sachverständigenrat (2003, Tz. 549).

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

411

ternehmen einmischt, könnte das dazu beitragen, dass die Besteuerung als gerecht oder fair angesehen wird1. Eine solche faire Behandlung könnte die konsequente Ausrichtung der Besteuerung nach anerkannten Grundsätzen sein, beispielsweise nach der Leistungsfähigkeit oder nach einem anderen Gerechtigkeitskriterium. Zu diesen Grundsätzen gehört auch, dass das Steuersystem nicht Korruption erleichtert, d.h. legalen und illegalen Gestaltungen, Betrug und Einflussnahme auf staatliche Entscheidungsträger. Wenn es Leitbilder wie Einfachheit, Transparenz oder Leistungsfähigkeit gibt und politische Entscheidungsträger sie bei Steuerrechtsänderungen nennen, ist zu fragen, warum das Ergebnis der tatsächlichen Politik regelmäßig gegenteilig ist. Darauf wird im 21. Kapitel eingegangen. Allerdings können die Grundsätze unterschiedlich interpretiert werden, unterschiedliches Gewicht haben widersprüchlich und unter Umständen nur schwer operationalisierbar sein. Daher kann es sein, dass die Steuerpolitik einzelnen Anforderungen, anderen aber nicht genügt. So wird eine auf Gemeindeebene erhobene Pauschalsteuer im Vergleich zu einer Einkommensteuer als weniger gerecht angesehen, weist aber weniger negative Anreize auf die Arbeitsentscheidungen auf und ist einfacher zu verwalten. Das Abwägen zwischen verschiedenen Anforderungen geschieht theoretisch im Rahmen der optimalen Besteuerung. 8. Steuerverteilungsprinzipien a) Verschiedene Steuerverteilungsprinzipien

Zur Beantwortung der Frage, wie ein Steuersystem gestaltet und wie die Last der Steuern auf die Staatsbürger verteilt werden soll, wurden das Äquivalenz- und das Leistungsfähigkeitsprinzip entwickelt. Das sind zwei Steuerverteilungslehren, auf die häufig zur Rechtfertigung bei der praktischen Ausgestaltung von Steuern Bezug genommen wird. Haller (1981) spricht von den Fundamentalprinzipien der öffentlichen Abgabenerhebung. Beide Prinzipien können – in bestimmter Interpretation – als Teilkomplex einer gerechten Besteuerung interpretiert werden. Gerechtigkeit der Besteuerung schließt zunächst einmal das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ein. Danach ist (wesensmäßig) Gleiches steuerlich gleich zu behandeln. Dieser Grundsatz entspricht dem Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG). Eines der Prinzipien (Äquivalenz) wird aber auch oder sogar primär im Hinblick auf allokative Effizienz herangezogen. Wichtiger als der Bezug auf diese Prinzipien dürfte die Ausgestaltung von Steuern hinsichtlich ihrer allokativen (Vermeidung einer Mehrbelastung, optimale Besteuerung) und verteilungs- (oder auch stabilitäts-) politischen Ziele sein. Diese Aspekte werden im 15. Kapitel behandelt.

1

Tatsächlich nimmt die bewusste Einflussnahme der Steuerpolitik auf die Entscheidungen (Lenkungsteuern) ständig zu.

412

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

b) Das Äquivalenzprinzip

Nach dem Äquivalenzprinzip (Benefit Principle) ausgestaltete Steuern haben einen mehr oder weniger direkten Bezug zu den vom Staat bereitgestellten Leistungen. Interpretiert man das Äquivalenzprinzip unter dem Gesichtpunkt der Gerechtigkeit, so wäre es gerecht, für das zu zahlen, was man erhält oder an Kosten verursacht. Zu einer Gleichbehandlung von Personen käme es, wenn die Personen mit gleichem Nutzen aus den Staatsleistungen bzw. gleicher Kostenverursachung auch gleich hohe Steuern zahlen. So wird verhindert, dass Einzelne zu Lasten Anderer privilegiert werden. Historischer Hintergrund des Äquivalenzprinzips ist die individualistische Staatsauffassung. Der Staat beruht danach auf dem zweckgerichteten Vertragsschluss der Bürger, er erfüllt Vertragszwecke und erhält auf Basis des „do ut des“ Steuereinnahmen mit Entgeltcharakter. (1) Marktwirtschaftliche Äquivalenz

Kommt es zu einer Lösung, bei der die Leistungsabgabe an den Präferenzen der Staatsbürger orientiert ist, und zahlen diese einen (Steuer-)„Preis“ in Höhe ihrer marginalen Wertschätzung, wird von marktwirtschaftlicher Äquivalenz gesprochen. Um das Prinzip operational zu machen, müssen die Nutzer definiert und gemessen werden, was den Einzelnen zufließt. Es kommt somit zu einer Finanzierung staatlicher Leistungen mit Hilfe von Lindahl-Preisen. Totale marktwirtschaftliche Äquivalenz ist allerdings nicht zu realisieren. Weil Nichtrivalität und fehlende Ausschließbarkeit bei einem großen Teil öffentlicher Leistungen vorliegen, kommen diese vielen oder allen Wirtschaftssubjekten zugute, eine unmittelbare Zurechnung ist dann nicht möglich. In der Regel fehlen Anreize, die Präferenzen wahrheitsgemäß zu offenbaren, und Indikatoren, mit denen die Nutzung der Leistungen und der Nutzen hieraus gemessen werden können. Ferner gilt in der Regel ASt L T. Bei der Finanzierung von Übertragungen, also für Umverteilungsmaßnahmen, versagt das Prinzip vollständig. Weil einige Staatsleistungen (z.B. für innere und äußere Sicherheit) alle, andere (z.B. Bildungsleistungen) nur einzelne Wirtschaftssubjekte nutzen, könnte man allgemeine, umfassend angelegte Steuern für den ersten Fall, spezielle Steuern für den zweiten Fall konzipieren. Wegen ihres Zwangscharakters und eines fehlenden individuellen Anspruchs auf Gegenleistung kann das Äquivalenzprinzip aber nur als ein Maßstab bei der Wahl geeignete Steueranknüpfungspunkte und Bemessungsgrundlagen sein. Die Diskussion um die Anwendung des Äquivalenzprinzips hat sich auf die Frage konzentriert, ob es nicht bei der Finanzierung einzelner staatlicher Leistungen herangezogen werden sollte, durch die Wirtschaftssubjekte einen Sondernutzen empfangen. Dann könnte die Äquivalenz in einem Teilbereich (partielle oder gruppenmäßige Äquivalenz)1 angestrebt werden. So ließe sich z.B. die Kfz-Steuer als Äquiva1

Das Äquivalenzprinzip hat auch eine gewisse Bedeutung in einer Föderation: Die Nutzerkreise von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen sollten übereinstimmen (vgl. das 26. Kapitel).

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

413

lent für den Teil der Nutzung der Straßen ansehen, der auf die Gruppe der Kfz-Halter entfällt. Benutzergebühren wären genauer. Der Vorteil der Äquivalenzbesteuerung besteht darin, dass den Nutzern – z.B. von Straßen – ihre besondere Beanspruchung von Staatsleistungen deutlich wird. Das trifft selbst dann zu, wenn, wie z.B. bei der Kfz-Steuer, die Nutzung der Straßen nicht nur durch die Gruppe der Kfz-Halter, sondern auch durch andere Gruppen (z.B. Fußgänger) erfolgt. Die spezielle Belastung der Kfz-Nutzer etwa durch die Mineralölsteuer kann ferner als Äquivalent für die Beanspruchung natürlicher Ressourcen wie die Umwelt erfolgen, d.h. mit dem Ziel der Internalisierung. (2) Kostenmäßige Äquivalenz

Da Ermittlung und Messung des individuellen Nutzens kaum lösbare Probleme bereiten, können die Kosten der Staatsleistungen mit ihrer Finanzierung in Verbindung gebracht werden (kostenmäßige Äquivalenz). So könnte z.B. versucht werden, eine Kostendeckung im Bereich spezifischer Leistungen zu erreichen, bei denen eine Zurechenbarkeit (Radizierbarkeit) gegeben ist. Offensichtlich ist in solchen Fällen der Übergang zu nichtsteuerlichen Einnahmen des Staates fließend. Das Äquivalenzprinzip hat bei der Erhebung von Benutzungsgebühren und Beiträgen für kommunale Leistungen praktische Bedeutung. Bei Gemeinden handelt es sich um räumlich abgegrenzte Gruppen, hier werden mehr oder weniger zurechenbare Leistungen erbracht. Das Äquivalenzprinzip wird im Hinblick auf die positiven Allokationswirkungen empfohlen, die eine Verknüpfung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben verspricht. Es schärft durch die Beteiligung an der Finanzierung das Kostenbewusstsein für die bereitgestellten staatlichen Leistungen. Die Durchsetzung von Sonderinteressen zu Lasten der Gesellschaft („Rent Seeking“) wird erschwert. Tatsächlich sind bei Gebühren unterschiedliche Kostendeckungsgrade1 und Quersubventionierungen festzustellen, die das Kostenbewusstsein beeinträchtigen. Praktisch lässt sich aus dem Äquivalenzprinzip kein bestimmter Tarif herleiten. Theoretisch kann er je nach Nutzung staatlicher Leistungen verschieden sein. Für die Begründung eines progressiven Tarifs müssen die Bezieher höherer Einkommen die Leistungen relativ stärker als die Bezieher geringer Einkommen nachfragen (vgl. Hines 2000).

1

Vgl. Tab. 7-2.

414

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

c) Das Leistungsfähigkeitsprinzip (1) Interpretation und Indikatoren

Nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip (Ability to Pay Principle) soll sich der Finanzierungsbeitrag des Einzelnen nach seiner Fähigkeit bemessen Abgaben zu leisten. Für die Steuerlastverteilung interessiert nicht, wem die staatlichen Leistungen zufließen. Zu klären ist aber, wie die Leistungsfähigkeit gemessen werden kann oder soll. „Die Norm ist offensichtlich allgemein bzw. unscharf genug, so daß sie von vielen bejaht werden kann; Konsens über den konkreten Inhalt läßt sich (ähnlich wie bei der steuerlichen Gerechtigkeit) indessen nicht feststellen“ (Schmidt 1980, S. 141). Der Versuch, Leistungsfähigkeit1 zu interpretieren, hat zwei weitgehend akzeptierte Anforderungen an die steuerliche Belastung der wirtschaftlichen Lage der Pflichtigen hervorgebracht, in der die Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt: S Pflichtige in gleichen Positionen müssen gleich besteuert werden (horizontale Gleichbehandlung); S Pflichtige in unterschiedlichen Positionen müssen unterschiedlich besteuert werden (vertikale Gleichbehandlung). Im ersten Fall muss bestimmt werden, worin die Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt, was also besteuert werden und wann was als gleich gelten soll. Auch ist zu klären, ob es um die steuerliche Leistungsfähigkeit natürlicher Personen (Individuen, Haushalte) oder die von Institutionen (z.B. Unternehmen) geht. Im allgemeinen wird die Leistungsfähigkeit mit der wirtschaftlichen Lage der einzelnen Person oder des Haushalts in Beziehung gebracht. Dann dürfen Institutionen nicht selbständig definitiv belastet werden. Im zweiten Fall ist zu entscheiden, ob und wie vertikal differenziert werden soll (das findet im Steuertarif seinen Niederschlag). Zur Umsetzung der horizontalen Gleichbehandlung muss der Indikator bestimmt werden, der die wirtschaftliche Lage der Steuerpflichtigen zum Ausdruck bringen soll. Mit dieser Wertungsfrage ist auch entschieden, welchen Faktoren bei der Bestimmung der Steuerlast Rechnung zu tragen ist. Dadurch soll eine zufällige oder willkürliche Besteuerung vermieden werden. Die ökonomischen Positionen werden in der Literatur häufig als Nutzen interpretiert (Haller 1981; Feldstein 1976b). So lassen sich verschiedenste Aspekte (Mühe, Anstrengungen, Freizeit und andere persönliche Umstände) in einer Größe integrieren. Bei identischen Individuen ist die Aufgabe der horizontalen Gleichbehandlung ohne Bedeutung. Sind die Individuen aber verschieden, scheidet der Nutzen als unmittelbar verwendbare Bemessungsgrundlage aus, da steuerliche Leistungsfähigkeit eine Maßgröße bezeichnet, über die zum Zwecke der Gleichbehandlung der Besteuerung empirische Sachverhalte vergleichbar gemacht werden sollen (Schneider 1985, S. 24).

1

Die deutsche Rechtswissenschaft räumt dem Leistungsfähigkeitsprinzip einen hohen Rang unter Bezug auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ein.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

415

Als messbare Indikatoren der Leistungsfähigkeit – die, je nach Interpretation, Nutzen, ökonomische Verfügungsmacht oder Mittelerwerb zum Ausdruck bringen sollen – kommen insbesondere Einkommen, Vermögen und Konsum in Frage. In der Regel verbessert sich die wirtschaftliche Lage des Einzelnen mit zunehmendem Vermögen. Stellt man hierbei primär auf ertragbringendes Vermögen ab, wird die Beziehung zwischen Einkommen und Vermögen eng. Die Erhaltung des Anfangsvermögens gilt regelmäßig als Voraussetzung dafür, dass Einkommen vorliegt. Muss das Vermögen aber nicht auch nach seiner Herkunft (aus Sparen oder aus Übertragungen, wie z.B. Erbschaften) differenziert behandelt werden? Stammt das Vermögen aus bereits versteuertem Einkommen, erfolgt eine Mehrfachbesteuerung derselben Bemessungsgrundlage. Eine Vermögensbesteuerung beschneidet die künftige Erwerbsmöglichkeit. Das Vermögen wird – wenn überhaupt – nur als ergänzender Indikator der Leistungsfähigkeit vorgeschlagen. Meist wird das Einkommen (allein oder primär) als Indikator der steuerlichen Leistungsfähigkeit gewählt. Leistungsfähigkeit könnte nach einer Interpretation im realisierten Mittelerwerb zum Ausdruck kommen. Es ist bei dieser Interpretation eine objektive Größe, bei der nicht nach in der Person liegenden Umständen differenziert wird. Nach einer anderen Auffassung ist ein nach persönlichen Umständen differenzierendes Einkommen der geeignete Indikator der Leistungsfähigkeit. Hierbei wird nicht, wie bei der ersten Interpretation, allein auf den einzelnen an der Entstehung beteiligten Einkommensbezieher, sondern auf mehrere oder alle Haushaltsmitglieder als Einheit abgestellt. Einkommen kann bei dieser Interpretation nur unter sonst gleichen Umständen gleiche wirtschaftliche Lage signalisieren. Die gleichen Umstände (Anstrengungen, Risiken, Freizeit, andere Haushaltsmitglieder usw.) sind aber regelmäßig nicht gegeben. Daher bedeutet eine Gleichbehandlung im Sinne einer gleich hohen Steuerbelastung der Personen mit gleich hohem Einkommen durchaus nicht auch die Gleichbehandlung der Wirtschaftssubjekte nach ihrer Leistungsfähigkeit. Fallen beide auseinander, kann es ebenfalls nicht gelingen, ungleicher Leistungsfähigkeit gerecht zu werden. Bei dieser zweiten Sicht des Einkommens darf also nicht zum Zwecke der Gleichbehandlung von den in der Person liegenden Unterschieden abstrahiert werden. Allerdings kann den unterschiedlichen Umständen der Einkommenserzielung kaum befriedigend Rechnung getragen werden. Beispielsweise Freizeit ist individuell praktisch nicht zu überprüfen und nur schwer zu bewerten. So kann niemand die Denkoder Vorbereitungszeit von Schriftstellern, Sängern, Berufssportlern und die Aus- und Weiterbildungszeit abhängig Beschäftigter oder Selbständiger oder den Umfang an Mühe, Risiko oder Stress bei der Einkommenserzielung überprüfen, obwohl diese Interpretation von Leistungsfähigkeit es gebietet1.

1

Wie schwierig Einkommen abzugrenzen ist, zeigt auch die Interpretation Gawels (2000, S. 102), dass die Inanspruchnahme von Umweltgütern Mehrung des Realeinkommens durch unentgeltlichen Einsatz des Indikators „Natur“ bedeuten kann. „Wer es versteht, Umweltgüter, die keinem Verfügungsrechteregime unterliegen, stärker zu nutzen als andere, steigert sein Realeinkommen und damit seine Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten“.

416

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Für eine Differenzierung nach Einkunftsarten könnte sprechen, dass Bezieher von Vermögens- („fundierten“) Einkommen einen Vorteil gegenüber Empfängern von Arbeits- („unfundierten“) Einkommen haben. Mehrere Einkunftsquellen lassen höhere Einkommenserwartungen zu. Vermögensbesitzer haben auch eher die Möglichkeit mehr Muße zu wählen. Sie können unter Umständen mit dem Angebot anderer Faktorleistungen (Arbeit) warten. Schließt man aus dem Vorhandensein von Vermögenseinkünften auf höhere Leistungsfähigkeit, könnte das für eine höhere Besteuerung der fundierten Einkommen sprechen1. Diese Argumentation verwendet allerdings regelmäßig einen engen Vermögensbegriff. Insbesondere Erträge, die auf eine qualifizierte Ausbildung zurückgehen, werden hierbei nicht beachtet. Das ist dann besonders bedenklich, wenn das Humankapital gratis von staatlichen Bildungseinrichtungen bezogen, das individuelle Vermögen aber aus versteuertem Einkommen gebildet wurde (Schmidt 1980, S. 142). Während das Einkommen auf die Entstehung des Inlandsprodukts (oder Nationaleinkommens) zielt, geht es beim Konsum um die Inanspruchnahme des Inlandsprodukts. Der Einzelne (Person oder Haushalt) wird hier auf Grund seiner Ausgaben veranlagt, egal ob diese aus Einkommen, Vermögen oder Kreditaufnahme finanziert werden. (Konsum-)Ausgaben können wie das Einkommen eine individuelle Kategorie sein. Wenn (letztlich) ein Indikator für die im Nutzen gesehene Leistungsfähigkeit gesucht wird, sehen viele Ökonomen im Konsum eine geeignetere Annäherung an den Nutzen als das Einkommen. Neben den gesamten Verbrauchsausgaben werden auch einzelne Konsumgüter als (ergänzende) Indikatoren der Leistungsfähigkeit diskutiert. Jede Festlegung solcher Güter ist aber willkürlich. Auch braucht eine Tendenz zum schichtenspezifischen Verbrauch einzelner Güter (z.B. sog. Luxusgüter) tatsächlich nicht für alle Wirtschaftssubjekte dieser Gruppe zu gelten. Ferner können einzelne Güter im Zeitablauf eine unterschiedliche Bedeutung in den individuellen Konsumplänen haben. Jedenfalls dürfte unbestritten sein, dass eine „steuerliche Leistungsfähigkeit sich kaum im Konsum lebensnotwendiger oder selten gekaufter geringwertiger Güter zeigen wird. Für eine Besteuerung bieten sich daher in diesem Zusammenhang nur Güter an, die mindestens einen gehobenen Konsumstandard repräsentieren und gleichzeitig beim einzelnen Konsumenten mit nennenswerten laufenden oder einmaligen Ausgaben verbunden sind. Welche Konsumgüter zum gehobenen Lebensstandard gehören, läßt sich am besten noch anhand der Einkommenselastizität des Verbrauchs entscheiden; je mehr diese auch bei überdurchschnittlich hohen Einkommen noch über Eins liegt, desto ausgeprägter dürfte der Luxuscharakter eines Verbrauchsgutes sein. Mit wachsendem Wohlstand wird jedoch der Kreis von Verbrauchsgütern immer kleiner, die generell Ausdruck eines gehobenen Lebensstandards sind“. Spezielle Verbrauchsteuern eignen sich daher immer weniger zur ergänzenden Erfassung der steuerlichen Leistungsfähigkeit (Pollak 1980, S. 197/198). 1

Gegen eine gleiche oder höhere Besteuerung der Kapitaleinkünfte können die später behandelten allokativen Verzerrungen sprechen. Auch wird bei der dualen Einkommensteuer genau umgekehrt verfahren.

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

417

Statt auf realisierte Größen als Indikatoren der wirtschaftlichen Lage kann prinzipiell auch auf das Potenzial abgestellt werden. Kommt dies in den Fähigkeiten zum Ausdruck, lässt sich eine Fähigkeitssteuer rechtfertigen. Entsprechend wurde z.B. eine auf das erzielbare und nicht auf das tatsächlich erzielte Einkommen abstellende Einkommensteuer, also eine Solleinkommensteuer, vorgeschlagen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist nur bei solchen Steuern anwendbar, deren Bemessungsgrundlagen als Indikatoren der Leistungsfähigkeit angesehen werden. Hierbei geht es nicht um die Rechtfertigung einer einzelnen Steuer, sondern um eine gerechte Verteilung der gesamten Steuerlast, soweit diese nicht äquivalenzmäßig erfolgt. Daher muss nicht jede Steuer für sich allein den gestellten Anforderungen genügen. Soll aber die Belastung nach der Leistungsfähigkeit mit einer Steuer bei Existenz weiterer Abgaben erfolgen, so ist dies nur zu erreichen, wenn die Ausgestaltung der übrigen Steuern hierbei ausreichend berücksichtigt wird1,2. Angenommen zur Messung der ökonomischen Lage (Leistungsfähigkeit) wird ein in bestimmter Weise abgegrenztes Einkommen gewählt. Dann muss ein Steuersystem die folgenden Bedingungen erfüllen, um eine vollständige horizontale Gleichbehandlung zu gewährleisten: (1) Die gesamte Besteuerung muss3 auf das Einkommen bezogen sein; (2) alle wichtigen Einkommensbestandteile müssen in der Steuerbemessungsgrundlage enthalten sein; (3) alle Teile der Bemessungsgrundlage müssen demselben Steuertarif unterliegen. In den tatsächlich bestehenden Steuersystemen werden in der Regel alle drei Bedingungen verletzt. So gibt es neben der Einkommensteuer andere Abgaben (z.B. Umsatz-, Kfz-Steuer, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung) mit unterschiedlichen, nicht abgestimmten Bemessungsgrundlagen. Aus diesen Abweichungen folgt, dass Wirtschaftssubjekte in gleichen Umständen durch das Steu-ersystem tatsächlich ganz unterschiedlich behandelt werden dürften (vgl. Hettich 1983, S. 418). Nach Festlegung der Indikatoren der Leistungsfähigkeit und der Bezugseinheit sowie ggf. der Berücksichtigung persönlicher Umstände ist zu untersuchen, wie unterschiedlicher Leistungsfähigkeit – gemessen an der Höhe der Maße – Rechnung getragen werden soll. Dieser Frage gehen die Opfertheorien nach. (2) Die Opfertheorien

Die Opfertheorien werden als eine Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips versucht. Jeder soll nach seiner Fähigkeit, Opfer zu tragen, in Anspruch genommen werden. Das Opfer wird als eine (aus der Belastung des Einkommens resultierende) Min1 2

3

Zur Problematik siehe Hackmann (1983b). „Gleichmäßigkeit der Besteuerung muss für verschiedene Personen in bezug auf alle sie treffenden Steuerarten insgesamt verwirklicht sein. Jedes Mehr-Steuerarten-System schafft für die Verwirklichung von Gleichmäßigkeit der Besteuerung die zusätzliche Schwierigkeit, daß die einzelnen Steuerbemessungsgrundlagen in eine allgemeine Bezugsgröße steuerlicher Leistungsfähigkeit umzurechnen sind“ (Schneider 1984, S. 412). Von steuerpraktischen Problemen abgesehen.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

418

derung der Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeit interpretiert. Diese ist nach den Opfertheorien von zentraler Bedeutung, wobei es darauf ankommt, dass jedes Individuum ein gleiches Opfer für die Allgemeinheit erbringt. Es wird unterstellt, dass S der Nutzen des Individuums i eine kardinale Funktion allein des Einkommens ist: Ui = Ui(Yi) S die Nutzenfunktion bekannt ist und die Eigenschaften Ui' (Yi) > 0; U''i > 0 hat; S alle Wirtschaftssubjekte die gleichen Nutzenfunktionen haben, also gilt: Ui(Yi) = U(Y) Auf diesen Annahmen haben sich die Konzepte des gleichen absoluten, relativen und marginalen Opfers entwickelt, die eine vertikale Gerechtigkeit der Besteuerung bewirken sollen. Unter diesen Annahmen ist im Übrigen – bei einer additiven sozialen Wohlfahrtsfunktion W = 4Ui – die optimale Einkommensverteilung bei vollkommen gleichen Einkommen gegeben. Gleiches absolutes Opfer liegt vor, wenn (14-21) U(Y) 5 U(Y 5 T) ) [U ) const. Abb. 14-9 zeigt eine gleiche Nutzeneinbuße [U1 = [U3 bei verschiedenen Einkommen Y1 und Y3. Der bei dem jeweiligen Einkommen erforderliche Steuersatz ] ) T / Y , mit dem eine absolut gleiche Nutzeneinbuße bewirkt werden soll, verändert sich mit dem Einkommen. Ob allerdings d] / dY >< 0 sein muss, hängt vom Verlauf der Nutzenfunktion ab. Grundsätzlich sind mit diesem Konzept verschiedene Steuertarife vereinbar. Gleiches absolutes Opfer bedeutet horizontale Gleichbehandlung insofern, als Personen mit gleichem Nutzen vor Besteuerung sich nach Besteuerung nutzenmäßig nicht unterscheiden dürfen. Mit dem Konzept wird allerdings gegen die Regel der vertikalen Gerechtigkeit verstoßen, da Individuen mit verschiedenem Nutzenniveau nicht auch nutzenmäßig ungleich belastet werden. Abb. 14-9 Die drei Opferkonzepte U U2 U3

U2 U1 1

U1

U1 1

T1 T1

T2 Y1 Y2

Y3

Y

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

419

Das Konzept des gleichen relativen Opfers erfordert (14-22)

U(Y) 5 U(Y 5 T) ) const. U(Y)

Die relativ gleiche Nutzeneinbuße [U11 / U1 = [U3/U3 führt in Abb. 14-9 zu den Steuersätzen T11 / Y1 und T2 / Y2. Für den Steuertarif kommt es auch hier entscheidend auf den Nutzenverlauf an. Aus diesem Opferkonzept folgt ebenfalls nicht notwendig eine bestimmte Tarifform – z.B. Proportionalität. Das gleiche proportionale Opfer genügt den Anforderungen der horizontalen und vertikalen Gerechtigkeit. In gleichen Umständen lebende Personen werden gleich, in ungleichen Umständen lebende Personen ungleich behandelt. Das gleiche marginale Opfer ist gegeben bei (14-23) U=(Y 5 T) ) const. Die Höhe der Steuerzahlung wird hier so bemessen, dass der Grenznutzen des gerade noch von der Besteuerung verschonten Einkommens für alle Besteuerten (unabhängig vom Einkommen vor Besteuerung) gleich wird. Dieses Opferprinzip führt bei identischen Nutzenfunktionen zu einer Angleichung der Nettoeinkommen (Y-T). Mit dem gleichen marginalen Opfer ist das Prinzip des Minimalopfers für die Gesellschaft verbunden1. Die Regel des gleichen marginalen Opfers stellt daher eine Effizienzregel der Einkommensbesteuerung dar. Eine Besteuerung, die ggf. zu einem für alle gleichen Nettoeinkommen führt, wird erhebliche Beeinträchtigungen in der Leistungsbereitschaft (incentives to work usw.) zur Folge haben. Für die Konzeption einer optimalen Einkommensteuer müssen daher auch die Kosten berücksichtigt werden, die die Verwirklichung von mehr Gleichheit hervorruft (vgl. 15. Kapitel). Das gleiche marginale Opfer ist mit einer nutzenmäßig verstandenen Gleichbehandlung nicht vereinbar. Die Umsetzung der drei Versionen des Opfers in konkrete Steuertarife erfordert die genaue Kenntnis über den Verlauf der (unterschiedlichen) individuellen Nutzenfunktionen. Ersetzt man die Vielzahl der möglichen Nutzenverläufe durch Annahmen über normal oder durchschnittlich geltende Nutzenverläufe, sind je nach deren Verlauf verschiedene Tariftypen möglich (siehe Petersen 1993, S. 252). In der Praxis werden daher Eckdaten (Grundfreibetrag, Eingangs- und maximaler Grenzsteuersatz, gewünschtes Aufkommen) gesetzt und ein Tarif angepasst, wobei verschiedene Zielsetzungen in die Wahl der Eckdaten einfließen können.

1

Dies ist eine Anwendung von Benthams utilitaristischer Maxime des größten Glücks der größten Zahl = geringsten Schadens für die kleinste Zahl.

420

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

d) Abschließende Beurteilung beider Prinzipien

Nach dem Äquivalenzprinzip wird das staatliche Handeln danach beurteilt, wie stark es individuellen Präferenzen entspricht (zumindest bei nutzenmäßiger Äquivalenz). Die Abgaben (nach Höhe und Zusammensetzung) und die daraus resultierenden Ausgaben werden simultan berücksichtigt. So wird gleichzeitig über die Allokation der Ressourcen zwischen privatem und öffentlichem Sektor und über die Struktur des öffentlichen Sektors entschieden. Die praktische Bedeutung liegt in der Einnahmengestaltung für vom Staat bereitgestellte Güter, deren Nutzung oder Kostenverursachung individuell zurechenbar sind. Wenn die Kosten näher an die Nutznießer bzw. Verursacher herangetragen werden, kann dies zu einem veränderten Verhalten gegenüber dem Staat und seinen Leistungen veranlassen. Das trifft z.B. auf die Rechtfertigung einer Gewerbesteuer zu, die die von den Gewerbebetrieben den Gemeinden auferlegten Lasten (z.B. durch Bereitstellung von Verkehrsanlagen) ausgleichen soll, und für die Erhebung von Kurtaxen, Gebühren und Beiträgen. Fiskalillusion wird in Fällen abgebaut, in denen die Bürger glauben, staatliche Leistungen würden kostenlos abgegeben. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist von der Ausgabenseite des Budgets völlig abgekoppelt. Es zielt nur auf die Finanzierung der staatlichen Aktivität. Hierzu sind Indikatoren der wirtschaftlichen Lage zu bestimmen, die beim realisierten Mittelerwerb im Einkommen gesehen werden können. Einkommen ist dann eine objektive Größe, die nicht nach in der Person (oder im Haushalt) liegenden Umständen differenziert. Nach einer anderen Auffassung wird als Indikator der (subjektiven) Leistungsfähigkeit ein nach persönlichen Umständen differenzierendes Einkommen gewählt und nicht auf den einzelnen Einkommensbezieher, sondern auf mehrere oder alle Haushaltsmitglieder als Einheit abgestellt. Eine Interpretation der subjektiven Leistungsfähigkeit erlaubt durch unterschiedliche Breite der Bemessungsgrundlage einen größeren Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Auch die Entscheidung, wie die Leistungsfähigkeit mit dem Einkommen (und/oder mit anderen Indikatoren) variieren soll, beruht letztlich auf einer politischen Wertungsfrage. Diese läuft in der praktischen Politik – häufig unter Berufung auf die Leistungsfähigkeit – auf eine Beeinflussung der Einkommensverteilung hinaus. Die Anreizproblematik ist bei der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausgeklammert. Literatur zum 14. Kapitel

Zu den verschiedenen Einnahmen siehe Hansmeyer (1979), Hedtkamp (1977, Kapitel VII) sowie unter rechtlichem Aspekt Tipke/Lang (2009, § 3). Gebühren und Beiträge werden von Bohley (1980) und Zeitel (1981) behandelt. Eine ökonomische Betrachtung der Wehrpflicht liefern auch Beck/Prinz (1994). Zur Steuertariflehre sind Bös/Genser (1977) und Pollak (1980) heranzuziehen; über die Steuerschätzung informiert Gebhardt (2001). Fragen der Steuergliederung und des Steuersystems behandeln

14. Kapitel: Grundlagen der Besteuerung

421

Musgrave u.a. (II, 1979), Neumark (1980) und Schmidt (1980). Die jeweiligen Steuerrechtsänderungen werden im Finanzbericht des Bundesministeriums der Finanzen bzw. in den Gutachten des Sachverständigenrates zusammengestellt. Das Ministerium legt ferner eine Datensammlung zur Steuerpolitik vor. Überlegungen zu Anforderungen an ein rationales Steuersystem bzw. an gute Steuern finden sich bei Haller (1981) und Neumark (1980). Zur Problematik der Steuerlastverteilung siehe Krause-Junk (1977a) und Schmidt (1980). Eine ausführliche Behandlung der beiden Steuerverteilungsprinzipien ist bei Haller (1981) und bei Musgrave (1959 sowie gekürzt: 1969a) zu finden. Zur Bedeutung des Äquivalenzprinzips siehe Hansjürgens (1997, 2001), zum Leistungsfähigkeitsprinzip Schneider (1979a, b). Überblicke zum Leistungsfähigkeitsprinzip geben Pohmer/Jurke (1984). Zu den erforderlichen Annahmen um opfertheoretisch eine Progression zu begründen, siehe die Literaturangaben bei Seidl (2006, Fußn. 17). Zu anderen fiskalischen und zu nichtfiskalischen Steuerverteilungstheorien siehe Krause-Junk (1977a) und Genser (1980).

15. Kapitel Allokations- und Verteilungsanalyse 1. Die Wirkungen der Besteuerung und die Analysemethoden im Überblick In diesem Kapitel werden die Wirkungen von Steuerrechtsänderungen untersucht1. Steuern verringern die Kaufkraft des privaten Sektors dadurch, dass Ressourcen von privater in öffentliche Verwendung umgeleitet werden. Dieser Einkommenseffekt stellt nicht die gesamte Wirkung dar. Durch die Besteuerung werden auch die relativen Preise und hierdurch beispielsweise die Zusammensetzung des Konsums bzw. der produzierten Güter und der eingesetzten Produktionsfaktoren verändert (Substitutionseffekt). Die daraus resultierende Beeinflussung der Einkommen der Besitzer der Produktionsfaktoren ist ferner verteilungspolitisch von Bedeutung. Übersicht 15-1 Wirkungen von Steuerrechtsänderungen

Steuerankündigung Steuerrechtsänderung Verhaltensänderung Einkommenseffekte

Preiseffekte (Steuerüberwälzung)

Substitutionseffekte (Steuerausweichung) - zeitlich - sachlich - räumlich - persönlich - rechtlich

Steuerzahlung Wohlfahrtseinbuße

Zusatzlast Entrichtungskosten Erhebungskosten

zusätzliche Wohlfahrtsminderung

Quelle: in Anlehnung an Recktenwald (1984), S. 395.

Mit jeder Einführung (Erhöhung) einer Steuer gehen notwendig Wohlfahrtseinbußen einher. In Höhe des Einkommenseffekts sind die Nutzeneinbußen im Vergleich zu einer Situation ohne Steuererhebung unvermeidbar. Das ist anders bei über den Einkommenseffekt hinaus gehenden Nutzeneinbußen der Besteuerung. So können negative Anreize (Disincentive Effects) beispielsweise dazu beitragen, weniger Leistungen zu erbringen, weniger Risiken einzugehen oder weniger Auto zu fahren. Selbst wenn 1

Die vom Staat geleisteten Übertragungen können als negative Steuern interpretiert werden. Daher lässt sich die Analyse der Steuerwirkungen z. T. einfach um die der entgegengesetzten Effekte der Transfers an Haushalte und der Subventionen ergänzen (siehe hierzu Pohmer 1977, § 6).

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

423

kein Steueraufkommen erzielt wird, wirkt die Steuer wohlfahrtsmindernd. Das zeigt eine Erdrosselungssteuer, bei der als Folge hoher Belastung die besteuerte Aktivität auf null zurückgeht1. Je nach Steuerart und -ausgestaltung treten unterschiedlich starke Substitutionseffekte auf, die die Zusatzlasten (auch Mehrbelastung, Excess Burden genannt) bestimmen. Schon die Ankündigung einer Steuerrechtsänderung kann Reaktionen der Wirtschaftssubjekte auslösen. Ankündigungseffekte lassen sich regelmäßig in der zeitlichen Vorverlagerung der Nachfrage nach Tabakwaren oder alkoholischen Getränken bei Ankündigung einer Steuererhöhung auf diese Produkte beobachten. Mit einem, hier zeitlichen Substitutionseffekt versuchen die Haushalte und/oder Unternehmen der Steuer auszuweichen. Dazu vermeiden die Zensiten den Tatbestand, an den das Gesetz die Steuerpflicht knüpft, schränken ihn ein oder ersetzen ihn durch andere, nicht oder weniger belastete Tatbestände. Der Substitutionseffekt kann sachlich (Tee statt Kaffee), zeitlich (Gewinnverlagerung), räumlich („Steueroasen“), persönlich (Einkommensaufteilung unter Personen) oder rechtlich (Wahl der Unternehmensform) erfolgen. Von der legalen Steuerausweichung ist die illegale Steuerhinterziehung zu unterscheiden, bei der der steuerpflichtige Tatbestand nicht oder falsch deklariert wird. Durch die Besteuerung ausgelöste Substitutionseffekte haben Wohlfahrtseinbußen zur Folge. Wohlfahrtsmindernd sind auch die Folgekosten bei allen Steuerrechtsänderungen für die Privaten. So fallen Entrichtungskosten z.B. bei der Berechnung und Abführung der Steuern2 an. Sie kommen in einer isoliert betrachteten Steuerrechts- und Steueraufkommensänderung nicht zum Ausdruck. Weitere Transaktionskosten entstehen in Form von Entscheidungs- und Erhebungs- (einschließlich Kontroll-) Kosten beim Staat3. Sie sind wohlfahrtsmäßig von Bedeutung, da sie das Nettosteueraufkommen beeinflussen. Die Steuereinnahmen stehen also nicht in voller Höhe für die eigentlichen Aufgaben zur Verfügung. Zu Preis- (und Mengen-)Effekten kann es kommen, wenn die Besteuerten versuchen, die zu zahlende Last andere tragen zu lassen, indem sie den Lieferanten der Vorleistungen und den Besitzern der Produktionsfaktoren für ihre Leistungen niedrigere Preise gewähren bzw. von den Abnehmern ihrer Produkte höhere Preise verlangen. Solche Preiswirkungen werden auch als Überwälzung bezeichnet. Sie bringen zum Ausdruck, dass ein Steuerzahler nicht die Person sein muss, die letztlich mit ihr belastet ist. Solche Preiswirkungen können auch intertemporal auftreten, indem bei Steuerkapitalisierung der Gegenwartswert der künftigen Steuerzahlungen im Preis eines Vermögensgegenstandes (z.B. eines Grundstücks) berücksichtigt wird. Die Wirkungsanalyse geht von einer (erwarteten oder beschlossenen) Steuerrechtsänderung aus. Diese besteht in der Einführung oder Veränderung einer Steuer oder 1 2 3

Siehe das später erwähnte Beispiel der Fenstersteuer. Bei Subventionen wären es entsprechend z.B. die Kosten für den Subventionsberater. Erhebungskosten (Administrative Costs) und Entrichtungskosten (Compliance Costs) werden zusammen als Vollzugskosten bezeichnet.

424

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

ihrer (teilweisen oder vollständigen) Ersetzung durch eine andere Steuer. Hierbei kann der Staat nur die Technik gestalten, also Steuerobjekt, -bemessungsgrundlage und -tarif festlegen, das Steueraufkommen hingegen ist Erwartungsparameter. Die einzelwirtschaftlichen Steuerzahlungen und somit das empirisch feststellbare Steueraufkommen ergeben sich nach den Anpassungsprozessen an die Änderung der steuerlichen Parameter. Als Inzidenz wird in der Regel die Wirkung finanzpolitischer Maßnahmen auf die Einkommensverteilung bezeichnet, die in einer Änderung von Zustand oder Entwicklung als Folge der Maßnahme im Vergleich zu der Situation ohne den finanzpolitischen Eingriff besteht. Die Analyse beruht also stets auf dem Vergleich tatsächlicher Zustände (Entwicklungen) mit hypothetischen Zuständen (Entwicklungen) oder zweier hypothetischer Zustände (Entwicklungen). Anhand der Verteilung der tatsächlichen Steuerzahlungen (Inzidenz der Steuerzahlungen) kann jedenfalls nur gesagt werden, wer Steuern abführt. Davon zu unterscheiden und hier von Interesse ist, wer letztlich nach verschiedenen Anpassungsprozessen mit der Steuer belastet wird (effektive Inzidenz). Jede finanzpolitische Maßnahme hängt in ihrer Wirkung davon ab, welcher Art die Maßnahme (z.B. Steuererhöhung) ist und wie die Betroffenen darauf reagieren. Am Anfang jeder Wirkungsanalyse muss geklärt werden, was untersucht und welcher methodische Ansatz gewählt werden soll. So kann etwa eine Erhöhung des Einkommensteuertarifs mikro- oder makroökonomisch, partiell oder total, kurz- oder langfristig und mit der Methode der absoluten, Differential- oder Budgetinzidenz analysiert werden und zu jeweils anderen Ergebnissen führen. Mit der Methode der absoluten (oder spezifischen) Inzidenz wird die Wirkung lediglich einer einzelnen isolierten Maßnahme – die Änderung eines einzelnen staatlichen Instruments (z.B. Steuertarif) oder eines Instrumentindikators (z.B. Steueraufkommen) – untersucht. Je nachdem, ob eine Parameteränderung bei den Einnahmen oder Ausgaben betrachtet wird, spricht man von einer spezifischen Einnahmen- oder Ausgabeninzidenz. Eigentlich ist eine spezifische Maßnahme nicht möglich. So müssen ausgehend von einem ausgeglichenen Budget Steuererhöhungen z.B. von einem Budgetüberschuss begleitet sein. Daher wird beim Verfahren der spezifischen Inzidenz angenommen, dass freiwerdende oder zusätzlich benötigte Mittel bei der Zentralbank stillgelegt bzw. dort als Kredit beschafft werden. Das Konzept der Differenzialinzidenz untersucht die Substitution einer finanzpolitischen Maßnahme durch eine andere (z.B. Ersetzung von Steuer A durch Steuer B) bei konstantem Budgetvolumen. Auch hier werden die Wirkungen der Ausgabenseite vernachlässigt. Dies kann aber u.a. dann problematisch sein, wenn die Steuerstrukturänderung Preisniveau und -struktur verändert und der Staat seine Ausgaben real nicht mehr aufrechterhalten kann. Das Konzept der Differenzialinzidenz wird häufig verwendet, indem eine Steuer – z.B. eine proportionale Einkommensteuer – als Vergleichsmaßstab gewählt wird.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

425

Als Budgetinzidenz bezeichnet man die gleichzeitige und gleich hohe Einnahmenund Ausgabenvariation, durch die das Budgetvolumen sich verändert1. Die Inzidenz etwa einer Steuererhöhung hängt hier also immer davon ab, wie die zusätzlichen Einnahmen ausgegeben werden. Die Reaktion der Zensiten auf die steuerliche Belastung wird in diesem Kapitel zunächst mikroökonomisch und partiell untersucht. Es wird vorausgesetzt, dass die betroffenen Wirtschaftssubjekte (oder Märkte) innerhalb der Volkswirtschaft so klein sind, dass die allgemeine Interdependenz vernachlässigt werden kann. Dann können die Wirkungen einer Steuerrechtsänderung auf andere Märkte und die Rückwirkungen ebenso vernachlässigt werden wie die Verausgabung der Steuern durch den Staat. Die Angebots- und Nachfragekurven werden als gegeben angenommen, sichere Erwartungen unterstellt. Mittels der komparativen Statik sollen Unterschiede zwischen Gleichgewichtszuständen ermittelt werden. Die Analyse ist ferner kurzfristig, so dass in der Regel von einer gegebenen Betriebsgröße der Anbieter ausgegangen wird. Die mikroökonomischen Analysen zur Inzidenz der Steuern bedienen sich insbesondere der Verhaltensannahmen der Nutzen- und Gewinnmaximierung. Neben der Gewinnmaximierung werden aber als zusätzliche Annahmen unter anderem die Erlösmaximierung und die Fixierung eines angemessenen Gewinnaufschlags auf die Kosten der Unternehmen berücksichtigt. Makroökonomische Analysen beruhen kurzfristig auf der postkeynesianischen Kreislauftheorie, langfristig bedienen sie sich des Instrumentariums der neoklassischen Theorie mit der Annahme eines ex anteGleichgewichts von Sparen und Investieren. 2. Preis- und Mengeneffekte der Besteuerung auf dem Gütermarkt Unternehmen, die durch (zusätzliche) Steuern belastet werden, können versuchen, ihre Zahllast zu verringern, indem sie die Steuer auf andere Wirtschaftssubjekte über Preisänderungen weiterzugeben versuchen. Kommt ein solcher Preiseffekt zustande und müssen hierdurch andere die Steuern tragen, so dass der Gewinn der besteuerten Unternehmen nicht oder um einen geringeren als den Steuerbetrag abnimmt, spricht man von vollständiger bzw. teilweiser Überwälzung2 (Shifting). Bei „normal“ geneigten Angebots- und Nachfragekurven führt die Preiserhöhung zu einer Verringerung des Absatzes und damit kurzfristig zu einer Beschäftigungsverringerung und längerfristig zu Kapazitätsanpassungen. Die Veränderung des Nettogewinns hängt von der Stärke des Preis- und Mengeneffekts der Steuer ab. Nach ihrer unterschiedlichen Bemessungsgrundlage werden im Folgenden verschiedene Steuerarten betrachtet: Mengensteuern, Umsatzsteuern, Kostensteuern und Gewinnsteuern.

1 2

Diese Vorgehensweise liegt dem Haavelmo-Theorem zugrunde. Die Überwälzung wird hier als Fortwälzung auf der Anbieterseite und nicht als Rückwälzung auf die Faktoranbieter untersucht.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

426

a) Preis- und Mengeneffekte verschiedener Steuern bei Gewinnmaximierung (1) Mengensteuern1 (i) Vollkommene Konkurrenz Zunächst sollen die Wirkungen einer Mengensteuer auf ein spezielles Gut untersucht werden, das auf einem Wettbewerbsmarkt gehandelt wird, auf dem einzelne Anbieter oder Nachfrager keinen Einfluss auf den Preis haben2. Vor Besteuerung sei das Marktgleichgewicht durch den Schnittpunkt der Angebotskurve3 A(x) und der Nachfragekurve N(x) = p(x) bestimmt (15-1)

A ( x ) ) p( x ) .

Das ist in beiden Darstellungen von Abb. 15-1 bei dem Gleichgewichtspreis p0 und der Gleichgewichtsmenge x0 gegeben4. Abb. 15-1 Wirkungen einer Mengensteuer bei vollkommener Konkurrenz

(a) Sicht der Anbieter

(b) Sicht der Nachfrager

p

p

F

F

G1

p1 p0

E

pn

]> G0

A0

Nn

B 0

x1

x0

G1

p1 p0

N0

Gn

A1

x

E

pn

]> G0

A0 N0

Gn

B 0

x1

x0

x

Nun werde eine Mengensteuer eingeführt, deren Bemessungsgrundlage die Menge des produzierten oder auf dem Markt abgesetzten Gutes ist. Beispiele hierfür sind die Mineralöl- und die Biersteuer. Das Steueraufkommen TM ist (15-2) TM ) ] M x . Die Mengensteuer mit dem festen Betrag ]M je Mengeneinheit (d]/dx = 0) bewirkt, dass die Unternehmen einen Abzug vom Bruttopreis p erfahren. Die Nettopreiskurve, die sich nach Abzug des Steuerbetrags/Stück ergibt, erhält man durch Parallelverschiebung von N0 nach unten: 1

2 3 4

Die für die Mengensteuer abgeleiteten Ergebnisse gelten grundsätzlich auch mit umgekehrtem Vorzeichen für entsprechend gestaltete, auf die Menge bezogene Subventionen (siehe Andel 1977b). Die Analyse ist formal gleich hinsichtlich der Steuerwirkungen auf Produktionsfaktoren. Die Angebotsfunktion ist die aggregierte Grenzkostenfunktion der Mengenanpasser. Vereinfachend werden hier lineare Angebots- und Nachfragekurven verwendet.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

(15-3)

427

A ( x ) ) p( x ) 5 ] M .

Die Erhebung einer Mengensteuer kann aber auch alternativ als Kostenerhöhung interpretiert werden. Die Unternehmen werden als Folge der Besteuerung nicht p, sondern p+]M für ein Angebot x verlangen. Die Angebotskurve verschiebt sich parallel nach oben, das neue Gleichgewicht wird durch p1 und x1 beschrieben. Der für die Konsumenten maßgebliche Preis (Bruttopreis) ist dann (15-4)

A ( x ) 9 ] M ) p( x ) .

Die Differenz zwischen dem Bruttopreis der Konsumenten p und dem Nettopreis der Produzenten pn = p – ]M spiegelt einen ersten Effekt der Steuererhebung wider. Die Steuer treibt einen Keil zwischen Anbieter und Nachfrager. Das Ergebnis ist aber prinzipiell davon unabhängig, ob die Steuer bei den Anbietern oder Nachfragern erhoben wird. Um die Wirkungen einer Mengensteuer genauer beschreiben zu können, wird (15-4) nach ]M abgeleitet: (15-5)

dA dx dp dx 91 ) dx d] M dx d] M

Die Änderung der Gleichgewichtsmenge ist daher (15-6)

dx 1 ) d] M dp dx 5 dA dx

und die Änderung des Gleichgewichtspreises (Bruttopreises) (15-7)

dp dp dx dp dx . ) ) d] M dx d] M dp dx 5 dA dx

Für „normal“ geneigte Angebots- und Nachfragekurven (dA/dx > 0, dp/dx < 0) sinkt die Gleichgewichtsmenge und der Gleichgewichtspreis steigt durch Einführung der Steuer. In Abb. 15-1 liegt der Gleichgewichtspreis nach Besteuerung p1 höher als p0, der Produzentenpreis ist pn = p1 - ]M. Das Steueraufkommen beträgt TM = ]Mx1 und entspricht dem Viereck pnp1G1Gn, davon tragen die Konsumenten p0p1G1E, die Produzenten p0pnGnE. Die Steuerlast verteilt sich in diesem Beispiel zu gleichen Teilen auf Anbieter und Nachfrager. Den Anbietern ist es hier also nicht gelungen, die Steuerlast vollständig über die Preiserhöhung weiterzugeben. Folgende besonderen Grenzfälle sind möglich: Bei dp/dx = 0 und dA/dx > 0 gilt x1 = x0 und p1 > p0; der Konsument trägt die gesamte Steuerlast. Der Preis steigt um die Steuer auf p1 = p0 + ]M. Der Nettopreis (Produzentenpreis) verändert sich nicht. Nur in

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

428

diesem Fall bleibt der Nettogewinn der Anbieter nach Erhöhung der Steuer gleich (vgl. Abb. 15-2a). Bei dp/dx < 0 und dA/dx = € gilt ebenfalls ‘p = ] M (Abb. 15-2b). Hier ändert sich allerdings der Nettogewinn. Abb. 15-2 Preiseffekt einer Mengensteuer bei unterschiedlichen Angebots- und Nachfrageelastizitäten (a)

p

(b)

p A1

p1 ]>

A0

p1

A1

]>

p0

p0

A0

N x0

x

x1

(c)

p

p A1

p0

]>

A0 N

A0

x0

x

(d)

p0 ]> N0 Nn

x1

x0 x

x0

x

Ein Preiseffekt ‘p = 0 ergibt sich, wenn ‘p/‘x = € und dA/dx > 0. In diesem Fall tragen die Produzenten voll die Steuerlast. Es kommt zu einem Mengeneffekt in Höhe von x1 - x0 (Abb. 15-2c). Bei dp/dx < 0 und dA/dx = 0 gilt ebenfalls ‘p = 0. Hier sinkt nur der Nettopreis der Produzenten; die Menge x0 bleibt unverändert (Abb. 15-2d). Teilt man die Glieder des rechten Terms von (15-7) durch p/x, zeigt sich, dass die Angebots- und Nachfrageelastizitäten maßgeblich für die Verteilung der Steuerlast zwischen Konsumenten und Produzenten sind. (15-8)

Jb dp (dp / dx ) /( p / x ) ) ) d] M (dp / dx ) /( p / x ) 5 (dA / dx ) /( p / x ) J b 5 J n

Hierbei sind (dp/dx)/(p/x) = Jb die Elastizität des Bruttopreises, Jn die Elastizität des Nettopreises. Bei Jn ist zu beachten, dass in der Ausgangssituation der Brutto- und der

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

429

Nettopreis gleich sind, also A(x) = p(x). Der Bruttopreis steigt bei Jb = X bzw. bei Jn = 0 und „normalen“ Werten für die jeweils andere Elastizität um den Betrag der Steuer/Stück ]M. Im Extremfall ist sogar dp/d]M > 0 möglich, wenn Jb > Jn > 01. (ii) Monopol Der Angebotsmonopolist steht einer geneigten Preis-Absatz-Funktion gegenüber. Er kann davon ausgehen, dass andere Unternehmen auf seine Preisänderungen nicht reagieren oder solche Reaktionen ohne Einfluss auf seine Absatzmöglichkeiten sind (= Kreuzpreiselastizität von null). Im Monopolfall (Abb. 15-3)2 ändert sich an den oben für den Wettbewerbsfall abgeleiteten Ergebnissen grundsätzlich wenig. Gleichgewicht vor Besteuerung ist hier gegeben bei (15-9)

A(x ) )

dp x 9 p( x ) , dx

wobei A(x) die Grenzkosten3 und der Ausdruck auf der rechten Seite den Grenzerlös GE = dE/dx = d[p(x)x]/dx angeben. Nach Einführung der Mengensteuer ist das neue Gleichgewicht durch (15-10) A ( x ) 9 ] M )

dp x 9 p( x ) dx

beschrieben. Zur Klärung, ob und wie eine Mengensteuererhöhung die Gleichgewichtsmenge ändert, wird wieder nach ]M abgeleitet. Es ergibt sich (15-11)

dx 1 ) d] M p==x 9 2p= 5 A =

Die Wirkung auf den Gleichgewichtspreis ist (15-12)

dp dp dx p= ) ) d] M dx d] M p==x 9 2p= 5 A =

wobei p' = dp/dx, p'' = d(dp/dx)dx und A' = dA/dx. Gegenüber dem Fall vollkommenen Wettbewerbs ist hier für den Preis- und Mengeneffekt auch der Differentialquotient zweiten Grades (die Krümmung der Nachfragekurve) bedeutsam. Bei linearer Nachfragefunktion (p''x = 0) und konstanten Grenzkosten (A' = 0) beträgt die Preisänderung die Hälfte der Mengensteuererhöhung. Für den in Abb. 15-3 dargestellten Fall kann abgelesen werden, dass die Gleichgewichtsmenge von x0 auf x1 sinkt und der 1 2 3

In diesem Fall haben Angebots- und Nachfragekurve eine positive Steigung. Zur besseren Vergleichbarkeit sei eine unveränderte Nachfrageseite unterstellt. Ferner sollen die Angebotskurven jeweils den gleichen Verlauf haben. Weil beim Monopolisten für seine Grenzkostenkurve keine eindeutige Beziehung zwischen alternativen Preisen und angebotenen Mengen besteht, stellt A(x) keine Angebotskurve dar.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

430

Preis von p0 auf p1 steigt1. Das Steueraufkommen beträgt ] M W x 1 . Wieder treibt die Steuer einen Keil zwischen den vom Nachfrager zu zahlenden Preis p1 und dem, was dem Anbieter nach Abzug der Steuer verbleibt (p1 - ]M). Abb. 15-3 Wirkungen einer Mengensteuer im Monopolfall p

G1

p1 p0

A1 G0

A0 N0

]> 0

GE

Q x1

x0

x

Bei gleichem Verlauf der Angebots- und Nachfragekurven trägt der Produzent eine größere Steuerlast als im Fall der vollkommenen Konkurrenz. (2) Umsatzsteuern (i) Vollkommene Konkurrenz Die Bemessungsgrundlage einer Umsatzsteuer (= Erlössteuer) ist der Erlös E = px. Die Steuerbelastung ergibt sich als (15-13) TE ) ] E p( x ) x

] E ) const. 2

In diesem Fall ist der Nettoerlös (15-14) E n ) p( x ) x 5 ] E p( x ) x ) p( x ) x (1 5 ] E ) . Bei linearer Nachfragekurve erhält man die Nettodurchschnittserlöskurve [En/x = pn = p(x)(1 - ]E)] durch Drehung der Nachfragekurve um ihren Schnittpunkt mit der Abszisse. Wie Abb. 15-4a zeigt, werden die Anbieter ihr ursprüngliches Angebot x0 zum Preis p0 nicht aufrechterhalten. Sie werden vielmehr zur Gewinnmaximierung diejenige Menge anbieten, für die die Grenzkosten A(x) gleich dem Nettopreis sind (15-15) A ( x ) ) p( x )(1 5 ] E ). 1

2

Alternativ kann auch hier die Besteuerung als eine Minderung des Durchschnittserlöses interpretiert werden. Im Gleichgewicht schneidet dann die neue Nettogrenzerlöskurve die alte Grenzkostenkurve. ]E kann auch mit E variieren, dann gilt: ]E = ]E (E), d]E /dE '+ 0 .

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

431

Abb. 15-4 Erlössteuer bei vollkommener Konkurrenz (a) und im Monopol (b) p

p

(a)

G1

p1

D

p0 pn

(b)

p1 p0

A G0 p(1-"E)

Q

G1 GE Q

pn

p(1-]E)

N x1

0

x0

A

G0

N

x

0

x1

x0

x

Im Fall der linearen Angebots- und Nachfragekurven steigt im Normalfall der Preis von p0 auf p1 und die Menge sinkt von x0 auf x1. Für den generellen Fall erhält man den Mengeneffekt durch Differenzierung von (15-16) nach ]E (15-16)

dx p( x ) . ) d] E p=( x )(1 5 ] E ) 5 A =( x )

Die Preisänderung ist dann (15-17)

dp dp dx p( x ) . ) ) d] E dx d] E (1 5 ] E ) 5 A =( x ) p=( x )

Im „Normal“fall mit A'(x) > 0 > p'(x) ändert sich daher dp/d]E direkt mit p' (x) und entgegengesetzt zu A'(x). Bei konstanten Grenzkosten (A'(x) = 0) oder vollkommen unelastischer Nachfrage (p'(x) = 0) ist die Preisänderung eine direkte Funktion des Durchschnittserlöses. Das Aufkommen aus der Umsatzsteuer ist (p1 – pn)x1; hiervon tragen die Anbieter pnQDp0, die Nachfrager p0DG1p1. Will man das gleiche Steueraufkommen durch eine Mengensteuer erzielen, muss zur Nachfragekurve eine Parallele durch Q zur Ermittlung der Nettonachfragekurve (oder alternativ zur Angebotskurve durch G1) gezogen werden. Es zeigt sich, dass unter Wettbewerbsbedingungen für Mengen- und Wertsteuern gleichen Aufkommens der Preis- und Mengeneffekt übereinstimmen. Im Monopolfall ist allerdings der Preis bei einer Mengensteuer höher als bei einer Wertsteuer gleichen Aufkommens (Musgrave 1969, S. 266/267). (ii) Monopol Im Monopolfall ist ein Gleichgewicht nach Einführung der Umsatzsteuer gegeben, wenn

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

432

R dp " (15-18) A ( x ) ) O x 9 p( x ) ^ (1 5 ] E ) . K dx \

Wegen der grundsätzlich gleichen Verfahrensweise wie im Konkurrenzfall (siehe Musgrave 1969, S. 254 ff.) wird die Mengen- und Preiswirkung nur graphisch in Abb. 15-4b dargestellt. Das Steueraufkommen ist dort pnDG1p1. (3) Kostensteuern Kostensteuern können je nach Bemessungsgrundlage und Steuertarif verschiedene Auswirkungen haben. Wird eine Kostensteuer auf die Fixkosten erhoben, verändern sich die Marginalbedingungen nicht. Bemessungsgrundlage einer Kostensteuer sind regelmäßig nicht die gesamten Fixkosten, sondern einzelne Kostenbestandteile. So ist die deutsche Grundsteuer praktisch eine solche Fixkostensteuer, deren Bemessungsgrundlage von der Ausbringungsmenge (kurzfristig) unabhängig ist. Variiert die Steuerbelastung hingegen mit der Ausbringung – TK = TK(x) – werden auch die Grenzkosten (einschließlich Steuer) verändert. Dies wurde schon im Fall der Mengensteuer gezeigt. Werden die variablen Kosten mit dem Steuersatz ]K proportional belastet, dann ist das Gleichgewicht im Konkurrenzfall1 gegeben bei (15-19) A ( x )(1 9 ] K ) ) p( x ) . Für den Monopolisten gilt das gleiche wie bei den übrigen Steuern: Er verändert immer dann die Ausbringungsmenge, wenn als Folge der Steueränderung E' L *K', wobei *K' die Grenzkosten unter Einschluss der Steuern auf die variablen Kosten angibt. Bei linearer Angebots- und Nachfragefunktion und einer proportionalen Steuer (d]K/dx = 0) auf K ist die Angebotsmenge x1 mit maximalem Nettogewinn kleiner als die Menge x0, bei der der Bruttogewinn vor Besteuerung maximal ist. Abb. 15-5 Die Wirkung von Steuern auf die variablen und fixen Kosten, Monopolfall Gbr TK TKF

TK

Gbr TKF 0

1

x1

x0

x

In diesem Fall würde die Angebotskurve im Gegensatz zur Mengensteuer nicht parallel nach oben verschoben werden, sondern sich nach oben drehen.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

433

Abb. 15-5 zeigt für den Monopolfall zunächst die Wirkung einer Fixkostensteuer (TFK). Sie ändert die Marginalbedingungen nicht und ist daher ohne Einfluss auf das Gleichgewicht (x0). Wird die Kostensteuer in Form einer Mengensteuer oder einer proportionalen Belastung der variablen Kosten1 erhoben, kommt es z.B. zum neuen Gleichgewicht x1. (4) Gewinnsteuern Die Einführung einer Steuer auf den Bruttogewinn (15-20) TG ) ] G (G )G ist unter den Bedingungen der mikroökonomischen Partialanalyse und bei Gewinnmaximierung unabhängig von der Marktform nicht überwälzbar. Im Falle der vollkommenen Konkurrenz trifft die Steuer den gewinnlosen Grenzanbieter nicht, Gleichgewichtspreis und -menge bleiben unverändert, der Branchengewinn sinkt um den vollen Steuerbetrag. Abb. 15-6 verdeutlicht diese Wirkung bei einem konstanten Grenzsteuersatz von 50%. Abb. 15-6 Inzidenz der Gewinnsteuer bei vollkommener Konkurrenz p

GK

p0 TG x0

x

Abb. 15-7 zeigt die auf den Gewinn eines Monopolisten entfallende Steuer (bei G > 0 und ]G = const.). Offensichtlich liegt das Gewinnmaximum vor und nach Einführung der Gewinnsteuer bei derselben Menge x0. Der maximale Gewinn vor Besteuerung wird erreicht, wenn E(x) – K(x) < max, folglich bei E'(x) = K'(x). Der Nettogewinn Gn des Unternehmens ist (15-21) G n ) [1 5 ] G (G )]G ( x ) , wobei G n ) G 5 TG Die notwendige Bedingung für den maximalen Nettogewinn ist (15-22)

1

d] " dG n dG R 1 5 ] G (G ) 5 G G ^ ) 0 . ) O dG \ dx dx K

Diese werden als linear angenommen.

434

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Abb. 15-7 Inzidenz der Gewinnsteuer im Monopol K E

K E TG Gn

x0

x

Wenn dG/dx = 0 T dGn/dx = 0 . Der maximale Brutto- und Nettogewinn werden also bei der gleichen Ausbringungsmenge erreicht. Die Steuer beeinflusst weder E' noch K'. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Steuer progressiv oder proportional ist (0 Z d]G/dx = Gmin. Das ist in Abb. 15-9 bei Gn(x0) gewährleistet. Wenn allerdings der erforderliche höher als der tatsächliche Gewinn ist, also Gn(x0) < Gmin, wären eine Produktionsverringerung und eine Preiserhöhung zu erwarten. Offensichtlich sind die Preiseffekte um so größer, je stärker die Steuersatzerhöhung ausfällt und je höher Gmin festgelegt sind. Abb. 15-9 Wirkung einer Gewinnsteuer bei Umsatzmaximierung

E K T G

E G K Gmin Gn x0

x

Zu beachten ist, dass der Mindestgewinn netto interpretiert wird und daher nicht von der steuerlichen Maßnahme beeinflusst wird. Diese Annahme ist problematisch, weil der Nettogewinn gerade im Verhältnis zu anderen Unternehmen/Branchen kaum isoliert, d.h. ohne Beachtung der Interdependenzen, festgelegt werden kann. (2) Aufschlagskalkulation Die Aufschlagskalkulation (Mark up-pricing) hat sich bei Märkten mit größerer und mittlerer Unternehmenskonzentration als eine mehr praxisorientierte Regel der Preisbestimmung als die Marginalanalyse herausgebildet. In vielen Fällen kennen die Unternehmen ihre GK und GE nicht. Sie orientieren sich zur Preissetzung bei Unsicherheit über die zukünftige Nachfrage an bekannten oder am wenigsten unsicheren Größen. Hierzu werden sie z.B. die Stückkosten oder durchschnittlichen variablen Kosten zugrunde legen und auf diese eine Gewinnspanne aufschlagen. So werden ein „normaler“ Gewinn und langfristige Gewinnmaximierung angestrebt. Angenommen, auf die Stückkosten k(x) wird ein Aufschlagssatz a kalkuliert, dann liegt das Gleichgewicht bei A(x) = p(x), also bei (15-23) k ( x )(1 9 a ) ) p( x ) .

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

437

G0 mit p0 und x0 kennzeichnen das Gleichgewicht vor Besteuerung. Die Einführung einer Mengensteuer, die in das Zuschlagsverfahren einbezogen wird, führt zu (15-24) (k ( x ) 9 ] M )(1 9 a ) ) p( x ) , das neue Gleichgewicht nach Besteuerung1 ist G1. Wie bei anderen Kostenerhöhungen auch steigt der Preis bei konstantem a im Normalfall stärker als die Steuerbelastung. Bei dp/dx = X steigt der Preis um mehr als ]M (bei a = 1 ist dp = 2]M). Bei völlig elastischer Nachfrage (dp/dx = 0) gilt auch hier (wie bei den oben behandelten Fällen der Mengensteuer) dp = 0, dx < 0. Die Steuer kann nicht überwälzt werden. Bei normal geneigten Angebots- und Nachfragekurven sinkt der absolute Nettogewinn (Gn = G - TM) als Folge der Besteuerung. Bei Einführung einer Gewinnsteuer gelangt man zu ähnlichen Ergebnissen. Wenn die Gewinnsteuer als ein Element der Durchschnittskosten betrachtet wird, geht sie nicht in die Gewinnspanne ein. Ob und wie Preis, Menge und Nettogewinn durch die Besteuerung verändert werden, hängt von den Bedingungen ab, die bei der Mengensteuer genannt wurden. Abb. 15-10 Preis- und Mengeneffekte einer Mengensteuer bei Aufschlagskalkulation p A1

p1

G1

A0 G0

pn

k(x)

]>{

N x1

x0

x

Angenommen, es würde eine Gewinnsteuer von 50% eingeführt. Dann könnte die neue Angebotskurve in Abb. 15-10 um die Differenz (A0 - k(x)), also um den Bruttostückgewinn, über A0 liegen2, wenn der Gewinnaufschlag pro Einheit netto erhalten bleiben soll. Ist die Aufschlagskalkulation allerdings eine Annäherung an den optimalen Preis, sind für die Nettobetrachtung Grenzen gezogen. c) Preis- und Mengeneffekte von Sozialbeiträgen auf dem Arbeitsmarkt Die Hypothesen zur Steuerinzidenz können auch auf die Sozialversicherungsbeiträge angewendet werden. Wie im 11. Kapitel gezeigt, wird das Arbeitnehmereinkommen, soweit es sozialversicherungspflichtig ist, mit Beiträgen (Arbeitslosen-, Kranken-, 1 2

Wird die Steuer nicht in das Aufschlagverfahren einbezogen, ergibt sich das Gleichgewicht bei k(x)(1+a) + ]M = p(x). Dieser Fall ist leicht in Abb. 15-10 zu ergänzen.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

438

Pflege- und Rentenversicherung) belastet. Die Abgaben werden formal jeweils hälftig als Arbeitgeberbeiträge und als Arbeitnehmerbeiträge ausgewiesen. Diese Aufteilung ist ökonomisch allerdings unbedeutend, soweit beide Seiten, d.h. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, keiner Fiskalillusion unterliegen. Arbeitnehmer interpretieren dann den Gesamtbetrag der Beiträge als vorenthaltenen Teil ihres Bruttolohns und Unternehmen als Teil des Bruttolohns, der nicht an Arbeitnehmer sondern an die Sozialversicherungen zu zahlen ist. Wer trägt die Beiträge? Abb. 15-11 zeigt das Arbeitsmarktgleichgewicht G0 bei einem Lohnsatz w0 vor Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge. Das Arbeitsangebot des Arbeitnehmers ist hierbei eine Funktion des Lohnsatzes. Nach ihrer Einführung bleibt der Bruttolohn w maßgeblich, den die Unternehmen zu zahlen bereit sind. Sie haben allerdings bei einer proportionalen Abgabe auf das Arbeitseinkommen mit dem Satz ]w pro Stunde nun w(1–]w ) an die Arbeitnehmer und w] an das Finanzamt zu zahlen1. Die Arbeitsangebotskurve verschiebt sich so auf A1, dass nach Abzug der Sozialbeiträge die alte Angebotskurve erreicht wird. Gleichgewicht nach Einführung der Beiträge besteht dann, wenn das nettolohnabhängige Arbeitsangebot zuzüglich der Abgaben mit der bruttolohnabhängige Arbeitsnachfrage übereinstimmen. Das ist im Gleichgewicht G1 bei einem Lohnsatz w1 der Fall. Wer trägt die Abgabenbelastung? Auf den ersten Blick vermutet man die Arbeitnehmer, da die Arbeitgeber immer den Bruttolohn entsprechend der Grenzproduktivität der Arbeit zahlen. Tatsächlich tragen die Arbeitgeber in Höhe von w1G1Bw0 zum Steueraufkommen bei, die Arbeitnehmer in Höhe von Abb. 15-11 Inzidenz der Sozialbeiträge Lohnsatz

w1 w0 D

A1

G1 B

A0

G0

N C w (1 - ]w) S1

1

Von der Lohnsteuer wird hier abgesehen.

S0

Arbeitsstunden

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

439

w0BCD1. Bei völlig unelastischem Arbeitsangebot bliebe es beim Lohnsatz w0 und die Arbeitnehmer hätten die gesamten Sozialversicherungsbeiträge zu tragen. Unterliegen die Arbeitnehmer einer Fiskalillusion, d.h. sie schätzen die Abgabenbelastung zu niedrig ein, verschiebt sich die Arbeitsangebotskurve in geringerem Ausmaß nach oben. In diesem Fall wird ihre anteilige Belastung am Steueraufkommen größer. d) Würdigung der Partialanalyse der Besteuerung Selbst wenn die Analyse einer Steuerrechtsänderung keinen Preiseffekt zeigt, ist offen, ob die Steuer aus dem Gewinn, aus Änderungen der übrigen Faktorpreise oder durch die Verbindung zu anderen Märkten getragen wird. So ruft eine Steuer auf heimische Kapitaleinkommen negative Anreize zu inländischen Investitionen und positive zu Auslandsanlagen hervor. Hierdurch sinkt das heimische Arbeitseinkommen, weil es von der Kapitalausstattung der Produktion abhängt. Die Kapitaleinkommensteuer beeinflusst daher die künftigen Arbeitseinkommen. Alle sekundären Wirkungen als Folge des verringerten Einkommens und die Verausgabung der zusätzlichen Einnahmen durch den Staat wurden aber vernachlässigt. Diese Annahmen sind typisch für die kurzfristige Partialbetrachtung. Längerfristig ist zu berücksichtigen, dass sich Einkommen, Nachfragekurven und die Produktionsanlagen verändern können. Auch Fixkostensteuern können dann Substitutionseffekte hervorrufen, wenn es den Unternehmen gelingt, den Einsatz des „fixen Faktors“ zu reduzieren. Solche Effekte durch Veränderung der Kostenkurven sind insbesondere zu erwarten, wenn einzelne Kostenbestandteile Bemessungsgrundlage der Steuer sind und besteuerte durch nicht besteuerte Faktoren ersetzt werden. Entscheidend sind die Faktorsubstitutionselastizität und der Anteil des besteuerten Faktors an den Produktionskosten. Die Wirkungen auf andere Güter und Faktoren werden um so stärker ausfallen, je größer die Bedeutung der belasteten Bereiche für andere Märkte ist. Auch die Bestände spielen eine Rolle. So wird der Preiseffekt umso größer sein, je geringer die Vorräte am besteuerten Gut sind und je häufiger es gekauft wird. Sekundäre Effekte dürfen insbesondere dann nicht vernachlässigt werden, wenn es sich um Steuern mit einer breiten volkswirtschaftlichen Bemessungsgrundlage handelt. Hier sind mehrere Märkte gleichzeitig betroffen. Daher kann aus den für einzelne Unternehmen (oder einen Markt) abgeleiteten Ergebnissen nicht ohne weiteres auf die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen geschlossen werden. Die partielle Gleichgewichtsanalyse ist damit aber nicht wertlos. Sie stellt die ursprünglichen Wirkungen von Steuerrechtsänderungen dar, und diese können durchaus die wichtigsten sein. Für bestimmte Fragestellungen ist aber die Verausgabung wichtig und/oder die allgemeine Gleichgewichtsanalyse ist heranzuziehen.

1

Die später erläuterte Renteneinbuße der Arbeitnehmer beträgt w0G0CD, die Renteneinbuße der Arbeitgeber ist w1G1G0w0. Der Wohlfahrtsverlust für die Gesellschaft beträgt G1G0C.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

440

3. Überwälzung in makroökonomischer und totalanalytischer Sicht a) Kreislaufmodell Bei der Analyse der Gewinnbesteuerung im Rahmen eines makroökonomischen Modells geht es um die Wirkungen auf funktionelle Verteilung. Ausgangspunkt sei der Kreislaufzusammenhang einer geschlossenen Volkswirtschaft von Abb. 15-12 mit G = Gewinne der Unternehmen, L = Arbeitnehmerentgelt, CG = Verbrauch der Unternehmerhaushalte (kurz: Unternehmer), CL = Verbrauch der Nichtunternehmerhaushalte (kurz: Arbeitnehmer) und SL, SG das Sparen dieser Gruppen. Die Ströme vom und zum Staat seien null. Abb. 15-12 Wiederverausgabung der Gewinnsteuer im Kreislaufbild TG - ASt I TG St

ASt

U

[V

SL SG

G

HG

L CL

HL

CG

Das Inlandsprodukt (Y) wird dann von der Verteilungsseite bestimmt als (15-26) Y ) L 9 G und am Vermögenspol ist folgende Identität abzulesen1 (15-27) I ) SL 9 SG . Unter Berücksichtigung von (15-28) G ) C G 9 SG erhält man bei staatlicher Aktivität von null die Definitionsgleichung2 (15-29) G ) I 9 C G 5 S L .

1 2

In der offenen Wirtschaft muss auf der linken Seite I um den Leistungsbilanzsaldo (X-M) ergänzt werden. Sie ist Ausgangspunkt verschiedener makroökonomischer Verteilungstheorien, wurde bereits von Keynes (ohne SL und ASt) verwendet und findet sich u.a. in den Modellen von Föhl und Kaldor (1955/56) wieder. Die Darstellung hier folgt Föhl (1953/54 und 1956/67).

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

441

Um die Überwälzungsmöglichkeit von Gewinnsteuern in einer makroökonomischen Analyse unter der Bedingung der Budgetinzidenz zu untersuchen, wird nun die Beziehung St < U U aus Abb. 15-12 berücksichtigt. Hierbei sind TG die bei den Unternehmen erhobenen Gewinnsteuern und ASt die Ausgaben des Staates für Sachgüter und Dienstleistungen, die vollständig von den Unternehmen gekauft werden. G ergibt sich jetzt als (15-30)

G ) I 9 C G 5 S L 5 TG 9 A St

wonach der (Netto-) Gewinn von ASt und TG abhängt. Eine (Einführung oder) Erhöhung von TG zur Finanzierung von ASt kann, so die These von Föhl, voll überwälzt werden, ist also ohne Wirkung auf die funktionelle Verteilung. Die Annahmen hierbei sind: (1) I ist von TG und ASt unabhängig; (2) das Kreditangebot ist ausreichend elastisch, (3) CG wird durch die staatliche Aktivität nicht eingeschränkt und (4) SL ändert sich nicht. Dann bewirkt bei gleichbleibendem Angebot und Vollbeschäftigung die Nachfrageerhöhung des Staates einen Preisniveauanstieg, der sich in erhöhten Einnahmen der Unternehmen niederschlägt. Die Bruttogewinnsteigerung entspricht dem Budgetumfang1. Verzichten die Unternehmen z.B. in Höhe von TG auf Investitionsausgaben, so kommt es nicht zu Preissteigerungen, sondern nur zu einer reinen Kaufkraftverschiebung von den Unternehmen zum Staat. Eine Überwälzung gelingt dann nicht. Erhöht sich SL und sinkt damit CL, so verringert sich der Nettogewinn, da die Gesamtnachfrage nicht um den vollen Steuerbetrag steigt. Ferner verlieren die nominal konstant gebliebenen Größen bei steigendem Preisniveau an realer Kaufkraft. Auch treten Vermögenswertänderungen und damit wahrscheinlich Änderungen der Vermögensstruktur auf.

Die makroökonomische Erfüllung der Überwälzungsbedingungen bedeutet nicht, dass jedem Unternehmer die Überwälzung gelingt. So werden die Gewinnsteuer teils gesondert mit der Körperschaftsteuer, teils zusammen mit anderen Einkünften in der Einkommensteuer belastet. Auch fließen die Staatsausgaben nicht gerade an die von der Steuer betroffenen Unternehmen, so dass diesen höchstens eine teilweise Überwälzung gelingt. Das Inzidenzergebnis stellt sich auch bei unverändertem Budetsaldo ein, wenn z.B. anstelle von ASt Subventionen geleistet bzw. Umsatzsteuern oder andere Abgaben statt Gewinnsteuern bei den Unternehmen erhoben werden. Ein Budgetsaldo (TG - ASt " 0) bewirkt tendenziell, dass [G >< 0. Das hängt damit zusammen, dass sich das private Sparen über Änderungen in der Einkommensverteilung im Allgemeinen an Veränderungen des Budgetsaldos anpasst. Letztlich stellt der Ansatz nur tautologische Umformungen dar, solange nicht durch Einbeziehung von Verhaltensgleichungen die verschiedenen Größen miteinander verknüpft und Ursache-Wirkungsbeziehungen nachgewiesen werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die problematische Investitionsfunktion I = œ. Wenn als Folge der Preisniveausteigerungen die Gewinne und der interne Zins der Kapitalanla1

Die relative Einkommensposition hat sich aber brutto und netto geändert, weil jetzt statt G/Y infolge der Nachfrageausweitung (G + ASt)/(Y + ASt) bzw. netto G/(Y + ASt) gilt.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

442

gen bzw. der Anlageinvestitionen real sinken, ist eher eine die Investitionstätigkeit hemmende Wirkung durchaus wahrscheinlich. Diese Kritik lässt sich weitgehend auch gegen die postkeynesianische Verteilungstheorie vorbringen, die etwa in den Modellen von Kaldor zum Ausdruck kommt. Es geht dort um die an der Gewinnquote gemessene funktionelle Einkommensverteilung. Diese Modelle unterscheiden sich von dem oben dargestellten Modell dadurch, dass sie einfache Spar- und Investitionsfunktionen sowie – bei Erweiterung um den Staat – einfache Steuer- und Staatsausgabenfunktionen berücksichtigen. Entscheidend zur Erfüllung der I = S-Gleichgewichtsbedingung ist bei ihnen das Verhältnis der Sparquoten der verschiedenen Gruppen. Ersetzt man nämlich I = œ und SL ) SL bzw. SG ) SG durch vom jeweiligen Einkommen abhängige, proportionale Investitions- und Sparfunktionen, ergibt sich als Gewinnquote (15-31)

sL i 5 sL G 1 . ) i5 ) Y sG 5 sL sG 5 sL sG 5 sL

Demgemäß ist die Lohnquote (15-32)

s 5i L G . ) 15 ) G Y Y sG 5 sL

Die Gewinnquote ist also um so größer, je größer die Investitionsquote i und je kleiner die Sparquote der Lohnbezieher sL und die Differenz sG – sL der Sparquoten von Gewinn- und Lohnbeziehern sind. Die Verteilung hängt mithin wesentlich von der Investitionsquote und den Sparquoten ab. Die Koordination von Sparen und Investieren erfolgt hier bei konstantem Y über die Veränderung der Einkommensverteilung. Bezieht man in das Modell ein, dass der Staat eine Einkommensteuer TY erhebt (15-33) TY ) ] Y Y und Ausgaben für Güter tätigt (15-34) A St ) aY ist die erweiterte Gleichgewichtsbedingung nun wegen (15-35) S 9 TY ) I 9 A St (15-36) s L (1 5 ] Y )L 9 s G (1 5 ] Y )G 9 ] Y Y ) iY 9 aY . Daraus ergeben sich die Gewinnquote

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

(15-37)

443

G i 5 ( ] Y 5 a ) 5 s L (1 5 ] Y ) ) Y (s G 5 s L )(1 5 ] Y )

und die Lohnquote (15-38)

L s G (1 5 ] Y ) 5 i 9 (] Y 5 a ) . ) Y (s G 5 s L )(1 5 ] Y )

Ferner erhält man (15-39)

d (G / Y ) 1 ) '0 da (s G 5 s L )(1 5 ] Y )

(15-40)

sL 51 d (G / Y ) + 0. ) d] Y (s G 5 s L )(1 5 ] Y )

Danach haben Erhöhungen der Ausgabenquote einen positiven und Erhöhungen der Steuerquote einen negativen Effekt auf die Gewinnquote, auch eine gleichgroße Veränderung (da = d]Y) steigert die Gewinnquote. Weitere Differenzierung des Modells sind möglich, indem (1) angenommen wird, dass Steuern nur von einer Gruppe zu entrichten sind; (2) die Gruppen mit verschiedenen Abgaben belastet werden; (3) neben ASt auch Transferausgaben getätigt werden; (4) auch indirekte Steuern erhoben werden, (5) andere Gewinnfunktionen und das Ausland berücksichtigt werden. Auch gegenüber diesem verteilungstheoretischen Modell von Kaldor sind Einwände geltend zu machen, die sich vor allem gegen die als unabhängig vom staatlichen Verhalten angenommene Investitionsfunktion richten. Die Bedeutung des Modells besteht darin zu zeigen, dass die Verteilung auf L und G hauptsächlich durch die gütermäßige Verwendung des Inlandsprodukts und durch das Sparverhalten der privaten Haushalte bestimmt wird. Ausschlaggebend ist die Vermögensbildung, nicht der Vermögensbestand. b) Allgemeine Gleichgewichtsmodelle Bei jeder Einführung einer größeren Abgabe, aber auch hinsichtlich der Staatsausgaben, ist die allgemeine ökonomische Interdependenz zu berücksichtigen, die sich in Anpassungswirkungen auf allen (Güter- und Faktor-)Märkten niederschlägt. So trifft z.B. die Mineralölsteuer nicht nur Preise und Mengen im Transportbereich und im Energiemarkt. Für die Analyse dieser Wirkungen sind allgemeine Gleichgewichtsmodelle zweckmäßig, mit denen versucht wird ein allgemeines oder umfassendes Bild aller Märkte einer Volkswirtschaft zu geben. Sie bestehen in rechnergestützten mikroökonomischen Totalmodellen, mit denen die Verbindung der verschiedenen Märkte analysiert werden kann. Einen Ansatz in dieser Richtung stellt das sog. Harberger-

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

444

Modell1 dar. Es weist auf die Substitutionsbeziehungen als Determinanten der Steuerwirkungen hin. Entscheidend sind die Effekte auf die relativen Preise. Das Modell wurde zunächst zur Analyse der Wirkungen der Körperschaftsteuer entwickelt. Ebenso wie in der keynesianisch orientierten kreislauftheoretischen Inzidenzanalyse geht es in den neoklassischen Modellen um das gesamtwirtschaftliche Ergebnis der Einführung einer Steuer nach Ablauf aller Anpassungsprozesse, also um die steuerlich bedingte Änderung der funktionellen Einkommensverteilung. Die allgemeine Gleichgewichtsanalyse einer Steueränderung trägt explizit den Änderungen von Preisen und Mengen Rechnung, die auf allen Märkten für Güter und Faktoren als Ergebnis der Maßnahme auftreten. In der Realität ist dies aber eine nicht lösbare Aufgabe, da eine große Zahl von Märkten existiert, die mehr oder weniger interdependent sind. Daher muss vereinfachend angenommen werden, dass die Wirtschaft aus einer geringeren Zahl an Güterund Faktormärkten besteht. Die allgemeine Gleichgewichtsanalyse einer Steueränderung kann aber schon sinnvoll sein, wenn man sich auf eine Wirtschaft beschränkt, die aus zwei Gütern und zwei Faktoren besteht.

Im einfachsten Fall enthält das Modell folgende Annahmen: In zwei Sektoren werden jeweils die Produkte X bzw. Y mit Hilfe der Produktionsfaktoren Arbeit (L) und Kapital (K) auf der Basis linear-homogener Produktionsfunktionen sowie unter der Bedingung vollkommenen Wettbewerbs produziert. Die Produktionsfaktoren werden als gegeben angenommen. Es besteht vollkommene Faktormobilität zwischen den Sektoren. Die Volkswirtschaft wird durch folgende Gleichungen beschrieben: Das Angebot wird durch die Produktionsfunktion festgelegt. Es ist für Sektor X (15-41) X ) X (L X , K X ) . Durch totale Differenzierung erhält man (15-42) dX ) f L dL X 9 f K dK X wobei fL = MX/MLX und fK = MX/MKX die Grenzproduktivitäten der Faktoren sind. Bei vollkommenem Wettbewerb ist das jeweilige Faktorentgelt dem Wert des Grenzprodukts gleich (z.B. lX = pXfL). Berücksichtigt man dies in (15-42), erhält man (15-43) dX ) dL X 1X / p X 9 dK X rX / p X und bei Teilung durch X (15-44) dX / X ) $ LX dL X / L X 9 $ KX dK X / K X

1

Das im Folgenden skizzierte Modell geht auf Harberger (1962) zurück und wurde u.a. von Mieszkowski (1967) weiterentwickelt.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

445

Diese Gleichung beschreibt die Reaktion der angebotenen Gütermenge auf Änderungen der Faktoreinsatzmengen; $LX bzw. $KX stellen die Anteile der Arbeits- bzw. der Kapitalkosten am Wert des Produktes X dar ($LX = 1XLX/pXX). Bei Annahme einer linear homogenen Produktionsfunktion gilt $LX + $KX = 1. Für den Sektor Y erhält man ein (15-44) entsprechendes Ergebnis. Zur Charakterisierung des Angebots werden auch die Substitutionselastizitäten der Faktoren herangezogen. Für den Sektor X ist sie (15-45) ! X ) 5

d (K X / L X ) /( K X / L X ) . d ( rX / 1X ) /( rX / 1X )

Die Substitutionselastizitäten der Sektoren können verschieden sein. Die Faktorsubstitution hängt von den relativen Preisen ab. Setzt man die Faktorpreise r = l = 1, erhält man (15-46) dK X / K X 5 dL X / L X ) 5! X (drX 5 d1X ) . Entsprechendes gilt für Y (15-47) dK Y / K Y 5 dL Y / L Y ) 5! Y (drY 5 d1Y ) . Die Nachfrage nach X sei eine Funktion der relativen Preise (15-48) X ) X(p X / p Y ) . Differenziert man (15-48) und teilt durch X und setzt pX = pY = 1, erhält man (15-49) dX / X ) J(dp X 5 dp Y ) . wobei J die Nachfrageelastizität für Gut X in Bezug auf die relativen Preise ist. Aus der Annahme konstanter Faktorangebote folgt (15-50) dK X ) 5dK Y (15-51) dL X ) 5dL Y Zwischen Änderungen der Faktorpreise und der Produktpreise bestehen folgende Beziehungen (15-52) dp X ) $ LX dl X 9 $ KX drX (15-53) dp Y ) $ LY dl Y 9 $ KY drY

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

446

Die Summe der Veränderungen des Arbeits- und des Kapitaleinsatzes multipliziert mit dem $-Koeffizienten muss in beiden Sektoren jeweils null sein. Der Preis für den Faktor Arbeit wird, da in diesem Modell die relativen Preise in den Vordergrund der Betrachtung gestellt werden, als Numéraire gewählt, so dass man folgende zusätzliche Gleichung erhält: (15-54) d1 ) 0 . Die Wirkungen einer Faktorbesteuerung Die Wirkungen einer Besteuerung des Faktors Kapital auf die funktionelle Einkommensverteilung zeigen sich in diesem Modell in Änderungen der relativen Faktor- und Produktpreise. Das Kapital soll im Sektor X (Körperschaften) durch eine Körperschaftsteuer mit dem Satz ]KX belastet werden, der Sektor Y besteht aus Nichtkörperschaften. Abb. 15-13 gibt einen Überblick über die Wirkungen der Körperschaftsteuer. Zunächst werden die Kapitalanleger im Sektor X betroffen, denn dort sinkt die Nettokapitalrendite. Doch diese erste, unmittelbare Wirkung sagt nichts über die sich letztlich ergebende Inzidenz aus. Die durchgezogenen Pfeile in Abb. 15-12 zeigen die sich in Preis- und Mengenänderungen niederschlagenden Reaktionsketten, die gestrichelten Linien markieren den Einfluss der exogenen Parameter, die durch die gegebenen Produktionsfunktionen und Verhaltensweisen fixiert sind, auf das Ausmaß der Preis- und Mengenvariationen. Voraussetzung für den Anpassungsprozess ist die langfristige vollkommene Mobilität der Produktionsfaktoren. Der Anpassungsprozess führt zur letztendlichen Steuerlastverteilung in Abhängigkeit von den diesen Prozess beeinflussenden Faktoren. Die Faktoren werden ersichtlich, wenn man die Steuer auf das in X eingesetzte Kapital mit dem Betrag ]KX pro Ertragseinheit in den Gleichungen (15-47) und (15-52) berücksichtigt. Dann verändert sich die rechte Seite von (15-47) zu [-!X (drX + ]KX – dlX)] und die rechte Seite von (15-52) zu [$LXdlX + $KX(drX + ]KX]. Die übrigen Gleichungen bleiben unverändert. Die Einführung der Steuer verändert den Preis des Faktors Kapital daher in Höhe von (15-55) dr )

J($ KY

J$ KX ( K X / K Y 5 L X / L Y ) 9 ! X ($ LX K X / K Y 9 $ KX L X / L Y ) ] KX 5 $ KX )(K X / K Y 5 L X / L Y ) 5 ! Y 5 ! X ($ LX K X / K Y 9 $ KX L X / L Y )

worin ]KX den Steuersatz auf die Gewinne der Körperschaften darstellt. Maßgröße für die Inzidenz der Körperschaftsteuer ist also – bei Konstanz des Preises für den Faktor Arbeit – die Veränderung des Preises des Kapitals. Ist dr negativ (positiv), so tragen die Kapitalbesitzer einen größeren (kleineren) Teil der Steuerbelastung. Bei dr = 0 ändert sich die Einkommensverteilung zwischen den beiden Gruppen der Faktoreigner nicht. Da der Nenner in (15-55) immer positiv ist, hängt das Vorzei-

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

447

chen von dr vom Vorzeichen des Zählers und den ihn bestimmenden Einflussfaktoren ab. Im Verlauf des Anpassungsprozesses sind zwei Effekte wirksam, der Outputeffekt (J$KX(KX/KY – LX/LY)) und der Faktorsubstitutionseffekt (!X($LXKX/KY + $KXLX/LY)), deren Einfluss auf die Körperschaftsteuer-Inzidenz in Abhängigkeit von den Bestimmungsfaktoren Preiselastizität der Nachfrage, Faktorintensität, ursprüngliche Faktoranteile sowie Substitutionselastizität im Folgenden analysiert werden sollen. ]KX veranlasst als Folge der Senkung der Nettokapitalrendite im Sektor X die Kapitaleigner, Kapital aus X abzuziehen und im unbesteuerten Y anzulegen. Als Folge der Kapitalwanderung steigt die Nettokapitalrendite in X wieder an und sinkt in Y. Dieser Prozess dauert - bei unterstellter vollständiger Faktormobilität – so lange, bis die Nettokapitalrendite in beiden Sektoren auf nun niedrigerem Niveau wieder gleich sind. Sonst könnten die Nettoerträge durch eine Reallokation gesteigert werden. Von der Körperschaftsteuer sind folglich alle Kapitalbesitzer betroffen. Es gilt: (15-56) r ) rY ) rX (1 5 ] X ) . Der Outputeffekt: Die Änderung der Allokation des Faktors Kapital zwischen den Sektoren und der damit verbundene Ausgleich der Nettokapitalerträge hat eine Änderung der relativen Faktorpreise und damit auch der relativen Produktpreise zur Folge. In X sind aufgrund der Abwanderung des Kapitals die Kapitalkosten, die sich hier aus dem für beide Sektoren gleichen Nettokapitalertrag sowie dem Steuerbetrag zusammensetzen, relativ zu den Kapitalkosten in Y gestiegen. Die Folge ist ein relativer Preisanstieg des Gutes X und eine Verlagerung der Nachfrage von Gut X nach Y. Determinanten dieses Outputeffekts sind $KX, (KX/KY - LX/LY) und J. War der ursprüngliche Anteil des Kapitals an den gesamten Produktionskosten des Gutes X hoch, steigen die Produktionskosten durch die Erhebung der Körperschaftsteuer und damit auch der relative Preis des Gutes X stärker als bei geringem Anteil. Die Konsumenten reagieren entsprechend der Preiselastizität mit einer Einschränkung der nachgefragten Menge nach Gut X. Über die Richtung des Outputeffekts (positives oder negatives Vorzeichen) und damit der Erhöhung oder Senkung von r entscheidet die relative Faktorintensität der Sektoren. Ist die Produktion des Gutes X relativ kapitalintensiv – (KX/KY – LX/LY) > 0 – so ist der gesamte Ausdruck J$KX (KX/KY – LX/LY) negativ. Sektor X setzt aufgrund des Produktionsrückgangs mehr Kapital frei als zum bestehenden Preis vom Sektor Y absorbiert wird, so dass der Preis für diesen Produktionsfaktor sinken muss. Die Einkommensverteilung ändert sich folglich zu Lasten der Gruppe der Kapitalbesitzer. Doch auch eine stärkere Belastung der Bezieher von Arbeitseinkommen ist denkbar. Ist der Sektor X arbeitsintensiver als Y und damit (KX/KY – LX/LY) < 0, so wird bei der Einschränkung der Produktion in X weniger Kapital freigesetzt als von Y preisneutral aufgenommen wird. r muss daher steigen, und die Körperschaftsteuer wird weitgehend auf die Anbieter von Arbeitsleistungen überwälzt.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

448

Abb. 15-13 Die Wirkungen einer Körperschaftsteuer im neoklassischen Modell Besteuerter Wirtschaftsbereich X (relativ arbeitsintensive Produktion)

Unbesteuerter Wirtschaftsbereich Y (relativ kapitalintensive Produktion)

Einführung einer KÖRPERSCHAFTSTEUER Senkung der Nettokapitalrendite

Erhöhung des Kapitalangebots PEKA

Verringerung des Kapitalangebots

Erhöhung der (Brutto- und Netto-) Kapitalrendite, Kostensteigerung

PEFN

Relative Verteuerung des Faktors Arbeit relative Verbilligung des Faktors Arbeit

Erhöhung der Absatzpreise, Absatzrückgang

Senkung der Absatzpreise, Nachfragesteigerung

SEGN

Zusätzliche Nachfrage nach Kapital und Arbeit, zusätzliches Angebot von Kapital und Arbeit

KI

DFEV

Freisetzung von Kapital und Arbeit

Erhöhung des Güterangebots1

Überschuss des Faktors Arbeit Variation des Faktoreinsatzverhältnisses, Kostensenkung

Freisetzung von Kapital, erhöhte Arbeitsnachfrage

Senkung der Absatzpreise

Senkung der Kapitalrendite (brutto = netto)

Variation des Faktoreinsatzverhältnisses, Kostensenkung

Verbilligung des Faktors Arbeit SEFN

Freisetzung von Arbeit, erhöhte Kapitalnachfrage2

Veränderung der relativen Güterpreise

Senkung der Absatzpreise

Weitere Auswirkungen auf Nachfragestruktur, Faktorpreisrelation usw.

Erläuterungen und Anmerkungen PEKA = Preiselastizität bzw. Mobilität des Kapitalangebots PEFN = Preiselastizität der Faktornachfrage SEGN = Substitutionselastizität der Güternachfrage SEFN = Substitutionselastizität der Produktionsfaktoren KI = Kapitalintensität der Produktion DFEV = Differenz der Faktoreinsatzverhältnisse

Quelle: Stolz (1983), S. 35.

1

Angebotssteigerung ohne Preiserhöhung nur möglich bei konstanten Skalenerträgen 2 Annahme: Der Effekt des Ausgleichs der Nettorentabilität überwiegt den der Differenz der Faktoreinsatzverhältnisse

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

449

Auswirkungen auf dem Faktormarkt (Faktorsubstitutionseffekt): Als Folge der durch die Kapitalwanderung bedingten Änderung der Kapitalkosten findet in beiden Sektoren ein Substitutionsprozess zwischen den Produktionsfaktoren statt. Im Sektor X, wo die Kapitalkosten gestiegen sind, erfolgt eine Substitution des Faktors Kapital durch den nun relativ billigeren Faktor Arbeit. In Y wird wegen der gesunkenen Kapitalkosten Arbeit durch Kapital substituiert. Determinanten dieses Faktorsubstitutionseffekts sind $KY und $LY, KX/KY und LX/LY sowie !X. Der Faktorsubstitutionseffekt wirkt auf eine Senkung von r hin, denn der Ausdruck !X($LXKX/KY + $KXLX/LY) ist wegen des negativen Vorzeichens von !X immer negativ1. Für den Gesamteffekt auf r ergibt sich nun Folgendes: Ist der Sektor X im Vergleich zu Y kapitalintensiv, findet eine Umverteilung des Volkseinkommens zu Lasten der Kapitaleigner unabhängig davon statt, ob sie ihr Kapital im besteuerten Sektor X oder in Y angelegt haben. Der Zähler der Gleichung (15-55) ist eindeutig negativ, so dass dr < 0. Für den Fall, dass Gut X arbeitsintensiver als Gut Y produziert wird, ergibt sich eine im Vergleich zum Faktor Arbeit stärkere Belastung des Kapitals, wenn der Substitutionseffekt den (positiven) Outputeffekt überkompensiert. Findet dagegen nur eine schwache Substitution zwischen den Produktionsfaktoren statt (dr > 0), haben die Anbieter von Arbeitsleistung den größeren Teil der Steuerlast zu tragen. Die Bedeutung des Harberger-Modells besteht darin, dass es die strukturellen Parameter bestimmt, die die Richtung und das Ausmaß der durch Steuern verursachten relativen Preisänderungen festlegen. Die wesentlichen hier erkennbaren Strukturparameter sind (1) die relativen Preiselastizitäten der Nachfrage nach verschiedenen Konsumgütern, (2) die Substituierbarkeit verschiedener Faktoren bei der Produktion verschiedener Güter, (3) die relativen Intensitäten der Verwendung verschiedener Faktoren im Produktionsprozess und (4) die Mobilität der verschiedenen Produktionsfaktoren. In dem oben verwandten Modell wird ferner implizit die Annahme identischer Präferenzen für alle Konsumenten getroffen. Eine Steuer kann daher keine Verteilungseffekte hervorrufen, indem sie die Einkommensverwendung beeinflusst. Aufgrund dieser Annahme kann man sich auf die Wirkung der Steuern auf Einkommensquellen beschränken. Gibt man die Annahme auf, hängt die Gesamtinzidenz einer Steuer auf X von der Entstehungs- und Verwendungsseite ab. Harbergers Analyse der intersektoralen Verzerrung der Kapitalverteilung gilt allerdings nur unter der Annahme reiner Beteiligungsfinanzierung. Die anderen Finanzierungswege der Unternehmung (Fremdfinanzierung und Selbstfinanzierung) werden vernachlässigt. Bei Fremdfinanzierung kann wegen der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Schuldzinsen eine Senkung von rX bis r erfolgen. Selbstfinanzierung ermöglicht den Aktionären anstelle von Dividenden weitgehend einkommensteuerfreie Kursgewinne, Bezugsrechtabschläge u.ä. Wenn Unernehmen aber die reine Beteiligungsfinanzierung durch eine Kreditaufnahme und eine Gewinnthesaurierung ersetzen, bleibt 1

Nur im Falle einer limitationalen Produktionsfunktion ist !X = 0, und es kann keine Substitution stattfinden.

450

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

die Körperschaftsteuerbelastung ohne Einfluss auf das Rentabilitatskalkül der Körperschaften und deshalb auch ohne Einfluss auf die Kapitalverteilung zwischen den Sektoren. Ferner erscheint auch die Annahme unrealistisch, dass die jeweils gewählte Technologie von der Rechtsform der Sektoren abhängt. Schließlich sind andere Wirkungen zu erwarten, wenn die Mobilität der Faktoren eingeschränkt ist und diese nicht die höchstmögliche Ertragsrate suchen können. Auch ist bei der Beschränkung auf zwei Sektoren zu erwähnen, dass Substitutionsprozesse innerhalb der Sektoren nicht sichtbar werden. Die bisher für die Körperschaftsteuer dargestellten Abhängigkeiten der effektiven Inzidenzergebnisse gelten entsprechend für den Fall einer speziellen Verbrauchsteuer. Abb. 15-14 verdeutlicht den Anpassungsprozess, den eine Steuer auf Gut X auslöst. Zunächst erhöht sich der relative Preis von X. Das Ausmaß der Veränderung hängt von den Reaktionen der Produzenten und Nachfrager des Gutes ab, wobei Substitutionsprozesse zugunsten des anderen Gutes Y stattfinden können. Folglich werden weniger von X und mehr von Y produziert. Zuvor für X eingesetzte Faktoren werden nach Y abgezogen, wobei die relative Nachfrage nach den Faktoren von deren Preisverhältnis abhängt. Produziert X kapitalintensiv, muss relativ viel Kapital von Y absorbiert werden, was zu einem Sinken des relativen Kapitalpreises führt. Dadurch wird im neuen Gleichgewicht alles Kapital und das bereits eingesetzte im Sektor X schlechter gestellt. Die Steuer auf das Gut eines Sektors verursacht daher eine Verringerung des relativen Preises des intensiv genutzten Inputs dieses Sektors. Der Nachfragerückgang nach X wird ferner um so größer sein, je höher hier die Nachfrage Elastizität ist. Je größer der Faktoreinsatz in dem besteuerten Bereich, der Unterschied in den Faktoranteilen beider Güter also ist, um so stärker werden die Faktorpreise in dem nichtbesteuerten Bereich verändert. Eine Einkommensteuer (ohne Körperschaftsteuer) entspräche einer Steuer auf Kapital und Arbeit mit der gleichen Rate. Wegen der Annahme eines gegebenen Faktorangebots und damit fehlender Möglichkeit sie aus der Produktion abzuziehen, kann die Steuer nicht überwälzt werden. Interessant ist natürlich, wie dieses Ergebnis zu modifizieren ist, wenn die Annahme des konstanten Faktorangebots – insbesondere für eine offene Wirtschaft – aufgegeben wird1. Eine allgemeine Steuer auf die Arbeitsleistungen der Unselbständigen, also in den Bereichen X und Y, gibt keinen Anreiz, zwischen den Sektoren zu wechseln. Wegen der Annahme gegebener Faktormengen muss Arbeit die gesamte Steuerlast tragen. In jüngerer Zeit sind weitere allgemeine Gleichgewichtsmodelle z.B. von Shoven/Whalley (1992) und Fehr/Wiegard (1996) entwickelt worden. Sie legen ebenfalls die Annahme flexibler Preise zugrunde. Die komplexen, formal anspruchsvollen Modelle erlauben es, Gleichgewichte mit mehr als zwei Sektoren zu bestimmen. Sie sollen u.a. dazu verhelfen, den wahrscheinlichen Wirkungen komplexer alternativer Steuerpakete durch die Volkswirtschaft nachzuspüren.

1

Vgl. hierzu das 22. Kapitel zur internationalen Besteuerung.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

451

Abb. 15-14 Die Wirkungen einer partiellen Umsatzsteuer im neoklassischen Modell* Besteuerter Wirtschaftsbereich X (relativ arbeitsintensive Produktion)

Unbesteuerter Wirtschaftsbereich Y (relativ kapitalintensive Produktion) Einführung einer PARTIELLEN UMSATZSTEUER

Verringerung des Angebots durch Ausscheiden der Grenzanbieter

Erhöhung der Güternachfrage SEGN

Erhöhung der Nachfrage für einzelne Unternehmen

Erhöhung der Absatzpreise, Absatzrückgang

Zusätzliche Nachfrage nach Kapital und Arbeit, zusätzliches Angebot von Kapital und Arbeit

KI

Erhöhung der Güterangebots1

relative Verbilligung des unbesteuerten Gutes

Freisetzung von Kapital und Arbeit DFEV

Überschuss des Faktors Arbeit Variation der Faktoreinsatzverhältnisse, Kostensenkung

Variation des Faktoreinsatzverhältnisses, Kostensenkung

Verbilligung des Faktors Arbeit

SEFN

Freisetzung von Kapital, erhöhte Arbeitsnachfrage

Senkung der Absatzpreise

Freisetzung von Kapital, erhöhte Arbeitsnachfrage

relative Verbilligung des besteuerten Gutes A

Senkung der Absatzpreise

Nachfragesteigerung

Nachfrage- und Absatzrückgang SEGN

Weitere Auswirkungen auf Angebotsstruktur, Faktorpreisrelation etc.

* Erläuterungen und Anmerkungen PEKA = Preiselastizität bzw. Mobilität des Kapitalangebots PEFN = Preiselastizität der Faktornachfrage SEGN = Substitutionselastizität der Güternachfrage SEFN = Substitutionselastizität der Produktionsfaktoren KI = Kapitalintensität der Produktion DFEV = Differenz der Faktoreinsatzverhältnisse

Quelle: Stolz (1983), S. 38.

1

Angebotssteigerung ohne Preiserhöhung nur möglich bei konstanten Skalenerträgen 2 Annahme: Der Effekt des Ausgleichs der Nettorentabilität überwiegt den der Differenz der Faktoreinsatzverhältnisse

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

452

c) Ergebnis Die hier angedeuteten Verfahren der Analyse der materiellen Inzidenz führen (unter Ergänzung um die mikroökonomischen Analysen) zu einem breiten Spektrum widersprüchlicher Ergebnisse1. Einigkeit besteht praktisch nur darüber, dass die Wirkung der Steuern von der Verausgabung durch den Staat, von den Konsum-(bzw. Spar-)Quoten der Belasteten und von der Ausgestaltung der Steuern hinsichtlich Bemessungsgrundlage und Tarif (einschließlich Freibeträgen, Vergünstigungen) abhängen. Die Basis für eine darauf aufbauende Politik ist daher sehr eingeschränkt. 4. Effizienzeinbußen der Besteuerung a) Überblick Im Folgenden sollen die Wirkungen verschiedener Steuern zunächst auf die Entscheidungen des privaten Haushaltes untersucht werden. Der Haushalt verfügt am Anfang der Periode über eine bestimmte Vermögensausstattung. Er kann über die Vermögensstruktur und damit über die Vermögenseinkommen entscheiden. Dieser Aspekt wird hier nicht behandelt. Ferner hängt das Einkommen mit den Entscheidungen über das Arbeitsangebot zusammen. Arbeitseinkommen, Vermögenseinkommen und empfangene Übertragungen (Erbschaften, private Schenkungen, staatliche Transfers) bilden die für den Haushalt verfügbaren Ressourcen. Sie können für Vermögensbildung (Sparen), Verbrauch und Übertragungen verwendet werden. Die Entscheidungen werden durch Steuern (entsprechend durch staatliche Transfers als negative Steuern) beeinflusst. Hierbei ist es wichtig, ob eine Steuer speziell (auf einzelne Güter oder Branchen) oder allgemein erhoben wird. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen der Einkommens- und der Substitutionseffekt: Steuern verringern das verfügbare Einkommen und damit die Konsummöglichkeit. Dieser Einkommenseffekt hängt vom Durchschnittssteuersatz ab. Allerdings werden regelmäßig nicht alle Aktivitäten (gleich) belastet. Daher wird infolge der Besteuerung die nicht besteuerte Alternative relativ preisgünstiger, so dass sie vorgezogen werden kann (Substitutionseffekt). Durch Substitutionseffekte, die vom Grenzsteuersatz abhängen, wird die ursprüngliche Allokation verzerrt. Ineffizienzen können entstehen, wenn z.B. besteuerte Arbeit durch unbesteuerte Freizeit oder Marktaktivitäten durch Haus- oder Schwarzarbeit ersetzt werden. Die Bedeutung der verschiedenen Formen von Ineffizienz wird durch das Ausmaß des Substitutionseffekts bestimmt. Dieser ist allerdings empirisch schwer zu bestimmen. Aus der geringen Gesamtwirkung einer Steueränderung kann jedenfalls nicht geschlossen werden, dass keine verzerrende Wirkung vorliegt. So kann der Einkom1

Sie schlagen sich in den unterschiedlichen Annahmen der formalen Inzidenzanalysen nieder; vgl. das 9. Kapitel.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

453

menseffekt u.U. den Substitutionseffekt ausgleichen, der in der Vermeidung des steuerpflichtigen Tatbestandes besteht. Wenn die erwarteten Substitutionseffekte groß sind, ist es zur Vermeidung von Ineffizienzen offenbar zweckmäßig, in diesem Bereich möglichst geringe steuerliche Belastungen zu wählen. Ein Beispiel für unerwünschte Substitutionswirkungen ist die früher in mehreren Staaten erhobene Fenstersteuer. Die Größe der Häuser galt vor Einführung der Steuer als Indikator des Wohlstandes. Da große Häuser viele Fenster hatten, wurde als Bemessungsgrundlage die Zahl der Fenster eines Hauses gewählt. Die „natürliche“ Folge war, dass die Zahl der Fenster bei Neubauten auf ein Minimum reduziert und die Fenster bestehender Häuser zugemauert wurden, um Steuern zu sparen.

Der „richtigen“ Wahl und Definition von Steuerobjekt und -bemessungsgrundlage kommt also eine große Bedeutung zu. Bei der Planung einer Steuer muss geschätzt werden, welcher Kreis der Betroffenen welche möglichen Anpassungsmaßnamen ergreifen wird. Wenn durch unvorhergesehene Steuervermeidung die Steuern geringer als erwartet ausfallen, müssen zur Erzielung eines bestimmten Aufkommens die Steuersätze erhöht werden, so dass weitere Verzerrungen entstehen können1. b) Die Zusatzlast im Ein-Güter-Modell Wenn mit einer Steuer ein bestimmtes Aufkommen erzielt wird, ist damit noch nicht die Gesamtbelastung der Besteuerten beschrieben. Die Steuerpflichtigen werden neben den eigentlichen Abgaben mit den Transaktionskosten (Entrichtungskosten) belastet. Auch steht das Steueraufkommen erst nach Abzug weiterer Transaktionskosten (Erhebungskosten) für die Erfüllung der eigentlichen Aufgaben des Staates zur Verfügung. Die beiden Formen von Transaktionskosten werden wieder vernachlässigt. Es gibt mit der Zusatzlast noch einen weiteren Effekt, der jetzt behandelt werden soll. Hierzu soll nochmals die Mengensteuer von Abb. 15-1 (b) betrachtet werden. Die ursprüngliche Konsumentenrente2 ist dort p0FG0, sie sinkt nach Einführung der Steuer um p0p1G1G0, die Produzentenrente vermindert sich von Bp0G0 um pnp0G0Gn. Die gesamte Einbuße an Produzenten- und an Konsumentenrente (pnp1G1G0Gn) ist um das Dreieck G1G0Gn größer als die Steuereinnahmen. Dieses Dreieck ist die Zusatzlast (Excess Burden oder Deadweight Loss) der Besteuerung3. Sie zeigt, in welchem Ausmaß Käufer und 1

2

3

Nicht wenige der sog. Folgesteuern verdanken ihre Entstehung lediglich einer unzulänglichen Formulierung der Steuertatbestände, deren wirtschaftliche Auswirkungen und deren Ausweichmöglichkeiten nicht genügend berücksichtigt worden sind (Schmölders/Hansmeyer 1980, S. 81). Das Konzept der Konsumentenrente verlangt die Verwendung kompensierter Nachfragekurven. Zu einer Erklärung der verschiedenen Arten von Nachfragekurven vgl. Rosen (1999) oder Varian (2007). Da Subventionen als negative Steuern angesehen werden können, ist bei ihnen – wie bei einer Steuer – eine Mehrbelastung zu erwarten. In Abb. 15-1 seien die Nachfrage nach einem Gut vor Einführung der Subvention N0 und das Angebot A1. Gleichgewicht herrsche bei G1. Durch Einführung einer Stücksubvention !M verschiebt sich die Angebotskurve bei konstanter Stücksubvention (d!M/dx = 0) um p1pn parallel nach unten auf A0. Gleichgewicht liegt jetzt bei G0 vor. Die Konsumentenrente erhöht sich durch die Subvention von Fp1G1 auf Fp0G0, die Produzentenrente von (pnp1G1=) BpnGn auf Bp0G0. Für die Einheiten zwischen x0 und x1 gilt, dass der Grenznutzen jeder weiteren Einheit laufend abnimmt und jeweils kleiner als die der Gesellschaft entstehenden

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

454

Verkäufer einen Wohlfahrtsverlust erleiden, der nicht durch einen Anstieg des Steueraufkommens kompensiert wird. Ihnen wird der Anreiz genommen, die optimale Menge x0 zu verwirklichen. Wie Abb. 15-15 zeigt, steigt das Steueraufkommen mit höherem ] zunächst an, erreicht ein Maximum, sinkt dann und wird schließlich null. Die Steuer greift in das Marktvolumen ein und wird schließlich für die Marktteilnehmer zu einer Prohibitivsteuer, die die Marktaktivität beendet. Für die Zusatzlast (ZL) gilt: ZL ) 1 2 ]dx , sie kann unter Benutzung der Preiselastizität E = dx/x:dp/p nach Umformung von dx geschrieben werden als (15-57) ZL )

1

2 ]Ex

dp ) p

1

2E

x 2 ] p

Da dp ) ] , nimmt ZL überproportional mit steigendem Steuersatz und proportional zur Elastizität zu. Bei einer gegebenen Steueränderung ist die Zusatzlast umso größer, je elastischer die Nachfrage ist. Abb. 15-15 Steueraufkommen und Zusatzlast TM

ZL

]M

]M

c) Wirkungen von Steuern auf die Konsumstruktur: Zwei-Güter-Fall Eine spezielle und eine allgemeine Verbrauchsteuer und eine Einkommensteuer sollen hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die Güternachfrage und Wohlfahrt verglichen werden. Hierzu wird ein einfaches Einperiodenmodell ohne Ersparnis verwendet. Bei gegebenen Präferenzen in Bezug auf die Güter x1 und x2, gegebenem Faktorangebot und Einkommen sowie gegebenen Preisen stellt der Punkt G0 das Haushaltsgleichgewicht in Abb. 15-16 dar. Nach Einführung einer speziellen Verbrauchsteuer (als Wertsteuer) auf Gut 1 mit dem Steuersatz AC/OC steigt der Preis des Gutes. Die Budgetgerade dreht sich von CD auf AD. Neues Gleichgewicht ist G2. Das Steueraufkommen ist hier G2F gemessen in Einheiten von x1. Grenzkosten p1pn ist. Der durch die Subvention verursachte zusätzliche Verbrauch wird also geringer gewertet als die hierbei anfallenden Kosten. Daher ist die Maßnahme ineffizient.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

455

Abb. 15-16 Wirkung einer speziellen und einer allgemeinen Verbrauchsteuer auf die Güternachfrage x2 D E G2

F

G0

G1

U0 U2

0

A

U1

B

C

x1

Soll das gleiche Aufkommen G2F durch eine Einkommensteuer erzielt werden, ist ein Steuersatz G2F/OC = BC/OC = ED/OD erforderlich. Da die relativen Preise durch die Einführung der Einkommensteuer nicht verändert werden, verschiebt sich die Bilanzgerade parallel von CD nach BE. Neues Gleichgewicht ist G1. Das Ergebnis stellt sich auch ein, wenn statt der Einkommensteuer1 eine allgemeine Verbrauchsteuer mit gleichem Aufkommen (G2F = BC gemessen in Einheiten von x1 oder DE in Einheiten von x2) erhoben wird. Eine prozentual gleiche Preiserhöhung tritt hier an die Stelle der direkten Einkommensminderung. Ökonomisch sind also eine Besteuerung des (gesamten) Konsums und des Einkommens äquivalent. Das leuchtet auch ein: Angenommen, das Einkommen bestehe nur als Lohn, der Reallohn sei (wWN)/P. Für die Belasteten ist es irrrelevant, ob durch die Besteuerung ihr Nominallohn wWN sinkt oder die Güterpreise steigen. Durch die spezielle Verbrauchsteuer sinkt der Nutzen von U0 auf U2, bei der Einkommensteuer mit gleichem Aufkommen nur auf U1. Da der Haushalt in G2 nicht weniger Steuern entrichtet als in G1, ist er durch eine spezielle Verbrauchsteuer unnötig hoch belastet. Die Kosten der Besteuerung im Sinne von Wohlfahrtsverlusten bei den Zensiten gehen bei speziellen Verbrauchsteuern über das hinaus, was bei einem reinen Entzugseffekt unvermeidlich ist. Diese Zusatzlast, nämlich U1 – U2 in Nutzen gemessen, ist bei den einzelnen Steuern in der Regel unterschiedlich. Sie ist um so größer, je stärker die Substitutionseffekte sind. Diese Zusatzlast scheint vermeidbar zu sein: Durch einen Übergang von der speziellen Verbrauchsteuer zur allgemeinen Verbrauchsteuer oder (bei Konstanz des Faktorangebots) zur Einkommensteuer verbessert sich der Haushalt im 2-Güter-Fall (Pareto-Verbesserung), ohne dass das Steueraufkommen (also das fiskalische Ziel) beeinträchtigt werden muss. Steuern gelten im Hinblick auf die Allokation der Ressourcen als nicht verzerrend, wenn sie die relativen Preise unverändert lassen. Spezielle Verbrauchsteuern ändern 1

Oder eine Pauschalsteuer.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

456

die relativen Preise und führen (Abb. 15-17) neben dem Einkommenseffekt (Bewegung G0—H) zu einem Substitutionseffekt (Bewegung H—G2)1. Der Substitutionseffekt zeigt keine Nutzenänderung, sondern eine nutzenneutrale Anpassung des Güterkorbes an das neue Preisverhältnis. Der Einkommenseffekt stellt die preisbedingte Realeinkommenssenkung durch die Besteuerung dar, die von G0 nach H führen würde. Er zeigt die Wirkung einer alle Konsummöglichkeiten gleichermaßen treffenden Reduktion des Einkommens, mit der U2 erreicht werden kann. Der Substitutionseffekt ist immer negativ: er drückt die Zusatzlast gegenüber der Einkommensteuer bei gleichem Steueraufkommen aus. Der Einkommenseffekt gemessen in Einheiten von Gut 1 ist mit EE beschrieben2, der Substitutionseffekt mit SE. Abb. 15-17 Einkommens- und Subventionseffekte einer speziellen und einer allgemeinen Verbrauchsteuer x2 D E G2

G0 U0

H U2 0

SE

A EE

B

C

x1

Der Substitutionseffekt tritt nicht auf, wenn Güter vollkommen komplementär sind (Abb. 15-18). Eine relative Preisänderung führt zum gleichen Ergebnis G1 wie die Einkommensteuer, so dass die Zusatzbelastung hier null ist. Dies zeigt, dass die Zusatzlast von der Substitutionsbeziehung zwischen den Gütern abhängt. Auch gesamtwirtschaftlich sind die allgemeine Verbrauchsteuer (bzw. Einkommensteuer) und die spezielle Verbrauchsteuer unterschiedlich zu beurteilen. Im 2-GüterFall bei Konkurrenz ist das Optimum ohne Besteuerung gegeben bei (15-58) GRS12 ) p 2 p1 ) GK 2 GK1 ) GRT12

1

2

Der Einkommens- und der Substitutionseffekt können unterschiedlich ermittelt werden. In Abb. 15-16 wird mit der äquivalenten Variation zunächst die erforderliche Einkommensänderung bestimmt, die bei gleicher Preisrelation wie vor Besteuerung zum neuen Nutzenniveau U2 führt. Somit wird der Substitutionseffekt durch Bewegung auf dem neuen Nutzenniveau U2 ermittelt. Bei der kompensierenden Variation würde gefragt, welcher Punkt auf der ursprünglichen Nutzenkurve U0 dem neuen Preisverhältnis entspricht. Die (nicht eingezeichnete) Bewegung auf U0 stellt dann den Substitutionseffekt dar. Die Tangente an U0 parallel zur neuen Budgetgeraden AD bestimmt den für die Ermittlung beider Effekte relevanten Punkte. Die Einkommensminderung senkt hier die Nachfrage, so dass ein normales Gut vorliegt.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

457

Abb. 15-18 Kein Substitutionseffekt der speziellen Verbrauchsteuer x2 D

E

G0 G1

0

A

B

C

x1

Bei Einführung einer speziellen Steuer in Höhe von ]x1p1 werden sich die Verbraucher so verhalten, dass ihre Grenzrate der Substitution zwischen beiden Gütern (GRS12) dem Preisverhältnis p2/p1(1 + ]1) entspricht. Die Produzenten passen sich an das für sie wichtige (Netto-)Preisverhältnis p2/p1 so an, dass GRT12 = p2/p1. Daher gilt (15-59) GRS12 )

p2 p GK 2 L 2 ) ) GRT12 . p1 (1 9 ]1 ) p1 GK 1

Die Bedingungen für die gesamtwirtschaftliche Pareto-Optimalität sind nicht mehr erfüllt (wohl aber jeweils die des Tauschoptimums und des Produktionsoptimums). Die Steuer treibt also einen Keil („wedge“) zwischen die für Produzenten und Konsumenten relevanten Preise. Anders sind die allgemeine Verbrauch- und die Einkommensteuer zu beurteilen, weil hier die Bedingung GRS12 = GRT12 erhalten bleibt. Bei der allgemeinen Verbrauchsteuer (als Wertsteuer) gilt (15-60) GRS12 )

p 2 (1 9 ]1 ) p 2 ) ) GRT12 p1 (1 9 ] 2 ) p1

mit ]1 ) ] 2 .

Hier bleiben die relativen Preise für Produzenten und Konsumenten gleich. Es kommt nur zu einem Preisniveau-, nicht aber Preisstruktureffekt. Das ist anders bei einer Mengensteuer auf Gut 1 und Gut 2 mit ] M ) ]1 ) ] 2 , hier kommt auch ein Preisstruktureffekt zustande. Abb. 15-19 verdeutlicht die verschiedenen Effekte. AB zeigt die Transformationskurve, die sich ergibt, wenn Ressourcen durch eine Einkommensteuer aus dem privaten Sektor abgezogen werden. Gleichgewicht nach Besteuerung ist G1. Ein repräsentativer Konsument habe die Indifferenzkurve U1, die GRT und GRS stimmen bei dem gleichen Preisverhältnis P1 wie ohne Besteuerung überein. Bei Ersatz der Einkommensteuer durch eine aufkommensgleiche Steuer auf Gut 1 ändern sich die relativen Preise (wie in Gleichung 15-59) für den Konsumenten zu P2, die Steigung dieser Preislinie P2 ist größer, Konsumentengleichgewicht ist G2. Der Konsument substituiert Gut 1 durch Gut 2, das folglich stärker nachgefragt wird. Der Nutzen U2 ist bei G2 geringer als U1

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

458

von G1. Die Differenz der Nutzen von G1 und G2 stellt den Excess burden dar. Die Unternehmen passen sich dem Preisverhältnis P3 an, das ihrem Grenzkostenverhältnis entspricht. Abb. 15-19 Wohlfahrtswirkungen der Besteuerung

x2 A

G2 P3 P2

U2

G1

B

U1 P1

x1 Fazit: Mit einer speziellen Verbrauchsteuer kann ein Allokationsoptimum bei vollkommener Konkurrenz nicht erreicht werden, wenn ohne die Maßnahme eine optimale Allokation der Ressourcen vorlag. Allgemeine Steuern (Steuern mit einer breiten Bemessungsgrundlage wie die Einkommensteuer) scheinen also speziellen Steuern allokativ überlegen zu sein. Bei allgemeinen Steuern wird ein so großer Bereich der wirtschaftlichen Aktivität getroffen, dass hier die Substitution einer nichtbesteuerten durch eine besteuerte Aktivität nur schwer möglich ist. Das gilt insbesondere für die Pauschalsteuer, die einen Grenzsteuersatz von null hat und als allokationsneutral definiert ist. Sie muss unabhängig vom Verhalten des Besteuerten geleistet werden, der daher keinerlei Einfluss auf die Bemessungsgrundlage und damit auf die Steuerschuld hat. Solche Steuern stellen auf nichtveränderliche Merkmale wie Personeneigenschaft, Alter, Geschlecht u.ä. ab. Pauschalsteuern sind zwar prinzipiell konzipierbar, in der Praxis wegen ihrer Verteilungswirkungen aber nicht durchsetzbar. Pauschalsteuern werden in der theoretischen Analyse dennoch als ein Referenzpunkt für die Beurteilung steuerpolitischer Maßnahmen herangezogen. Die bisherigen Aussagen sind allerdings zu differenzieren: S Zunächst einmal ist von Bedeutung, dass bei der Verwendung der Steuereinnahmen keine Verzerrungen verursacht werden. S Eine spezielle Steuer kann gerade dann erwünscht sein, wenn vor Einführung der Steuer keine Pareto-optimale Allokation vorlag. Wird eine Steuer auf Gut (oder Branche) 1 erhoben, die exakt den monopolistischen Elementen im Angebot des Gutes entspricht, kann die Verzerrung der relativen Preise neutralisiert werden. Ebenso lassen sich allokativ schädliche Wirkungen negativer Externalitäten durch eine steuerliche Korrektur der relativen Preise beheben. S Schließlich wurde ein konstantes Einkommen unterstellt. Nur dann entsprechen sich Einkommen- und Pauschalsteuer, weil die Freizeit/Arbeitszeitwahl entfällt.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

459

Wenn z.B. monopolistische Bedingungen oder Externalitäten auftreten, stimmen die sozialen Grenzkosten mit den sozialen Grenzerträgen nicht überein und die Wirtschaft tendiert weg von der effizienten Ressourcenallokation. Bei einem Angebot z.B. von Gut 1 unter monopolistischen Bedingungen dürfte sein Preis die Grenzkosten übersteigen. Dann ist eine Verlagerung der Ressourcen in andere Bereiche zu erwarten. Ist G2 in Abb. 15-19 Ausgangspunkt der Analyse bei monopolistischer Verzerrung für Gut 1, sind Einkommen- und spezielle Verbrauchsteuer anders zu beurteilen. In dieser Situation kann nämlich nicht die Einkommensteuer, wohl aber die spezielle Verbrauchsteuer die relativen Preise so verändern, dass die Wirtschaft sich zum Gleichgewicht G1 bewegt. Trotz der überraschenden Implikation, dass im Wettbewerb erstellte Gut 2 zu besteuern, ist dann die spezielle Besteuerung allokativ überlegen.

d) Wirkungen auf die Konsum-Sparentscheidungen Nun werden die Wirkungen verschiedener Steuern auf die Konsum-Sparentscheidungen des Haushalts untersucht. Sparen wird als Zwecksparen (Zukunftskonsum) aufgefasst. Es wird von einem Zweiperiodenmodell ausgegangen. Das gegebene Erwerbseinkommen Y ist in der Gegenwart (Periode 1) so auf Konsum und Sparen aufzuteilen1, dass der Konsumnutzen über die gesamte Zeit hinweg maximiert wird. Bei gegebenen Zeitpräferenzen, die in der Nutzenfunktion U(C1, C2) zum Ausdruck kommen, entscheidet ohne Steuern der Zinssatz i über die Aufteilung des gegebenen Einkommens auf den Gegenwartskonsum C1 und den Zukunftskonsum C2. Die intertemporale Budgetrestriktion ist (15-61) C1 9

C2 ) Y1 , wobei C 2 /(1 9 i) ) S1 19 i

Zur Berechnung des Gleichgewichts wird die Lagrange-Funktion gebildet: C " R (15-62) L ) U(C1 , C 2 ) 9 C OY1 5 C1 5 2 ^ . 19 i\ K

Differenziert man nach C1 und C2 und formt um, ergibt sich (15-63)

U =(C1 ) dC 2 1 ) ) ) 19 i U =(C 2 ) dC1 1 /(1 9 i)

wobei

U =(C1 ) ) /U / /C1 bzw. U =(C 2 ) ) /U / /C 2

Der Nutzen wird maximiert, wenn das Verhältnis der Grenznutzen bzw. die Grenzrate der Substitution zwischen künftigem und heutigem Konsum gleich (1 + i) ist.

1

Die Annahme wird also aufgegeben, dass das Sparen der Haushalte konstant und außerhalb des Modells bestimmt ist.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

460

Wird eine Einkommensteuer mit dem Satz ]Y eingeführt, die die Zinsen von der Besteuerung freistellt, lautet die Budgetrestriktion (15-64) C1 9

C2 ) Y1 (1 5 ] Y ) 19 i

Unter Verwendung der Lagrange-Funktion C " R (15-65) L ) U (C1 , C 2 ) 9 C OY1 (1 5 ] Y ) 5 C1 5 2 ^ 19 i \ K erhält man, wiederum durch Ableitung nach C1 und C2 und Umformung, mit (15-63) die Gleichgewichtsbedingung wie vor Einführung der Steuer. Die Steuer – z.B. auf das Arbeitseinkommen – ist ohne Wirkung auf die Entscheidung zwischen gegenwärtigem und künftigem Konsum. Sie senkt C1 und C 2 gleichermaßen.

Eine Einkommensteuer, die auch die Zinseinkünfte belastet, wirkt anders. In diesem Fall ist die Budgetrestriktion (15-66) C1 9 C 2 /[1 9 i(1 5 ] Y )] ) Y1 (1 5 ] Y ) . Wenn der Haushalt C1 um eine Einheit verringert, kann er C 2 nicht mehr um (1+i), sondern nur um [1 9 i(1 5 ] Y ) ] Einheiten erhöhen. Die Opportunitätskosten des Gegenwartskonsums verringern sich. Bei dieser Form der Einkommensteuer gilt nun (15-67) U =(C1 ) U =(C 2 ) ) dC 2 dC1 ) 1 9 i(1 5 ] Y ) . Der Haushalt entscheidet sich so, dass seine Gegenwartsvorliebe gleich eins zuzüglich dem um den Steuersatz korrigierten „Netto“-Zinssatz ist. Die Grenzrate der Substitution wird gegenüber (15-64) geändert und ein Substitutionseffekt ausgelöst. In Abb. 15-20 ist G0 das Gleichgewicht vor Besteuerung. Eine die Zinsen belastende Einkommensteuer dreht die Budgetgerade von AF auf BF. Neues Gleichgewicht ist G1. Wo das neue Gleichgewicht liegt, hängt vom Verlauf der Indifferenzkurve ab. Die Zinsbelastung führt zu einem Substitutionseffekt H — G1; er erhöht den Gegenwartskonsum und senkt das Sparen. Dem Substitutionseffekt wirkt der Einkommenseffekt G0 — H entgegen, bei dem ein niedrigerer (Netto-) Zinssatz zu geringerem Gegenwartskonsum (höherer Ersparnis) tendiert. Da für die Unternehmen der für Kredite zu zahlende Brutto-Zinssatz maßgebend ist, wird die optimale Konsum-Spar-Relation nicht erreicht1: Eine die Zinseinkünfte miter1

Die effiziente volkswirtschaftliche Konsum-Spar-Relation ist dann gegeben, wenn die Gegenwartsvorliebe der Haushalte gleich der Grenzproduktivität der Unternehmen ist. Treffen die Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen so, dass die Grenzproduktivität gleich dem Zinssatz ist, dann wird bei vollständigem Kapitalmarkt in einer Situation ohne Steuern die Pareto-optimale Konsum-Spar-Relation realisiert.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

461

fassende Einkommensteuer verursacht also eine Zusatzlast. Sie treibt einen Keil zwischen die Zinssätze, an denen die Konsumenten einerseits und die Produzenten andererseits ihre Entscheidungen ausrichten. Das gesamtwirtschaftliche Pareto-Optimum wird immer verfehlt, wenn die Zinselastizität der Ersparnis größer als null (ES,i > 0) ist. Dann wird das Sparen und damit zu Lasten derjenigen diskriminiert, die eine starke Neigung zugunsten der relativ stärker belasteten Einkommensverwendung haben1. Bei ES,i = 0 reagiert die Ersparnis nicht auf Zinsänderungen. Abb. 15-20 Wirkung der Einkommensteuer mit Zinsbelastung auf die Konsum/Sparentscheidungen C2 A

G0 B

U0

H G1

U1 0

F

C1

Wie wirkt eine allgemeine Verbrauchsteuer mit dem Satz ]C auf die KonsumSparentscheidungen? Die Budgetrestriktion ist jetzt (15-68) C1 (1 9 ] C ) 9 C 2

1 9 ]C ) Y1 19 i

Bildet man die Lagrange-Funktion und differenziert nach C1 und C2, gelangt man auch zum Ergebnis (15-63) wie bei der Einkommensteuer mit Befreiung des Zinseinkommens. Auch die allgemeine Verbrauchsteuer verzerrt also die Konsum-SparEntscheidungen nicht. Wenn der Satz ]C über die Perioden gleich bleibt und die Steuersätze von Verbrauch- und Einkommensteuer in einem bestimmten Verhältnis2 stehen, sind beide Steuern äquivalent. Allerdings kommt es bei ]C1  ]C2 zu intertemporalen Verzerrungen. Die allgemeine Verbrauchsteuer kann auch dann zugunsten des Zu-

1

2

Die absoluten Beträge der Steuerwirkungen können selbst bei einem geringen Wert von ES,i groß werden, wenn der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer einschließlich Zuschlag bei etwa 50 % liegt. ]Y = ]C/(1+]C).

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

462

kunftskonsums diskriminieren, wenn man im Modell Nutzen aus der durch Sparen erfolgenden Bildung von Vermögen ([V) unterstellt1. Die Nutzenfunktion wäre dann (15-69) U ) U (C1 , C 2 , [V ) . Der Nutzen kann in der Zunahme an Macht und Prestige, Sicherung gegen Risiken, stärkerer Unabhängigkeit u.ä. bestehen. In diesem Fall würde eine Vermögensteuer zusammen mit der allgemeinen Verbrauchsteuer eher zu einem neutralen Steuersystem führen (Brennan/Nellor 1982). Die allgemeine Verbrauchsteuer ist auch dann nicht neutral, wenn die Ersparnisse langfristig etwa zur Selbstfinanzierung der Investitionen verwendet und später nicht für Konsumzwecke aufgelöst werden sollen. In empirischen Studien, die den Einfluss der Besteuerung auf das Sparen untersuchen sollen, werden das Sparvolumen als zu erklärende Variable und der Zins, das verfügbare Einkommen und andere plausible Größen, die das Sparen beeinflussen können, als erklärende Variable gewählt. Die Ergebnisse fallen unterschiedlich aus, insbesondere, weil die Ertragsraten nicht einheitlich hinsichtlich Inflation und Steuern korrigiert werden sowie unterschiedliche Stichproben, Perioden und statistische Techniken verwendet werden. e) Wirkungen auf das Arbeitsangebot Die bisherige Annahme gegebenen Einkommens – von Zinsen in c) abgesehen – wird nun ersetzt. Ein typisches Individuum soll (lediglich) ein variables Arbeitseinkommen beziehen. Es kann seine maximal verfügbare Zeit M zwischen Arbeitszeit und Freizeit (F) aufteilen. Das Wirtschaftssubjekt wählt jene Kombination, die seine Nutzenfunktion2 (15-70) U ) U ( Y, F) unter der Nebenbedingung Y = w(M - F) maximiert. Hierbei geben w den Lohnsatz und M die maximal mögliche Arbeitszeit an. Gearbeitet werde nur zur Erzielung von Einkommen (Y), das für Konsumgüterkäufe verwendet wird. Zur Lösung wird die Lagrange-Funktion (15-71) L ) U ( Y, F) 9 C[ Y 5 w ( M 5 F)] gebildet. Leitet man nach Y und F ab und formt um, ergibt sich (15-72) GRS FY ) (/U / /F) /(/U / /Y) ) w .

1 2

Bedeutsamer als [V dürfte allerdings V sein; im Zwei-Perioden-Modell gilt ‘V = V, sieht man von empfangenen Erbschaften ab. Y steht hier auch für Konsumsumme.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

463

Das Optimum ist erreicht, wenn die Grenzrate der Substitution zwischen Einkommen und Freizeit (GRSFY) gleich dem Lohnsatz ist. In Abb. 15-21 geben 0A die maximal zwischen Freizeit und Arbeitszeit aufzuteilende Zeit (24 Stunden pro Tag abzüglich Regenerationszeit) und AK die mit dem Lohnsatz w bewerteten Opportunitätskosten zwischen Freizeit und Arbeitszeit an. w bestimmt daher die Steigung von AK. Gleichgewicht ohne Besteuerung ist G0. Abb. 15-21 Arbeits-/Freizeitwahl bei verschiedenen Steuern und Steuersätzen Y K

I G0 G1 E

U1

L G2

0

U0

P

H

C

U2

B

U3 A

M

Zeit

Die Einführung einer (proportionalen) Arbeitseinkommensteuer ändert die Wahlmöglichkeiten. Bei einer Netto-Opportunitätskostenkurve Yn = (1 - ]Y)w(M - F) mit dem Nettolohnsatz w(1 - ]Y) ist die neue Gleichgewichtsbedingung1 (15-73) GRS FY ) w (1 5 ] Y ) . Bei steigenden Steuersätzen dreht die Budgetgerade um A nach unten auf AI und AE. Neue Gleichgewichte sind G1 bzw. G2. Bei einem Gleichgewicht G2 beträgt das Steueraufkommen G2P. Die (nicht eingezeichnete) Arbeitsangebotskurve wird bei verschiedenen Einkommensteuersätzen aus den Punkten G0G1G2A gebildet. Sie zeigt die Beziehung zwischen Nettolohnrate und Arbeitszeit. Wo letztlich die neuen Gleichgewichte tatsächlich liegen, ob und wie also das Arbeitsangebot verändert wird, hängt vom Verlauf der Indifferenzkurven und damit von den Substitutions- (Freizeit wird relativ billiger) und Einkommenseffekten ab2.

1 2

Vereinfachend wird hier von anderen (z.B. Zins-) Einkommen und von einem Grundfreibetrag abgesehen. Zum Fall eines unelastischen Angebots siehe 5a) unten.

464

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Welche Anreize löst die Besteuerung aus? Die Einführung einer Arbeitseinkommensteuer kann man sich aus zwei Reformmaßnahmen zusammengesetzt vorstellen. Zunächst kommt es zu einem isolierten Effekt einer Einkommensminderung bei gegebener Arbeitszeit: höhere Steuern führen zu geringerem verfügbaren Einkommen. Dadurch wird ein Druck ausgeübt mehr zu arbeiten und auf Freizeit zugunsten einer geringeren Einbuße des Nettoeinkommens zu verzichten. Dieser Einkommenseffekt bewirkt Arbeitsanreize. Der Substitutionseffekt schränkt die Leistungsbereitschaft ein, weil der Grenzertrag der Arbeit und somit die Kosten des Verzichts auf Freizeit als Folge der Besteuerung fallen. Er hängt ausschließlich von der Höhe des Grenz- (nicht Durchschnitts-) Steuersatzes ab. Da Freizeit Konsum bedingt, trifft die Arbeitseinkommensteuer auch die Freizeit und verringert so den Substitutionseffekt. Die Erhebung eines Steueraufkommens G2P mittels einer Kopfsteuer führt zum Gleichgewicht L bei einem größeren Arbeitsangebot 0C als das einer proportionalen Einkommensteuer (0B beim Gleichgewicht G2) entsprechende Angebot AB. Für ] = 0,66 zeigt die Bewegung G0 — H den Einkommenseffekt und H — G2 den Substitutionseffekt. Die Wohlfahrtseffekte erkennt man im Vergleich mit einer nichtverzerrenden Steuer beispielsweise bei einem Steueraufkommen PG2. Sie verändert die Einkommen/Freizeit-Entscheidung nicht und führt zum Punkt L. Durch Belastung allein des Einkommenserzielungspotentials und nicht des tatsächlichen Einkommens wird nur die unvermeidbare Wohlfahrtseinbuße des Einkommenseffekts ausgelöst. Der Grenzsteuersatz auf das veränderte Arbeitsangebot ist hier null. Bei der Einkommensteuer ist er aber größer als null, so dass es zu einer zusätzlichen Wohlfahrtseinbuße kommt, der kein Wohlfahrtsgewinn der Gesellschaft gegenübersteht. Ersetzt man die Einkommensteuer mit dem Betrag G2P durch eine Pauschalsteuer, verschiebt sich die NettoOpportunitätskostenkurve parallel zu AK nach unten durch G2. Das neue Gleichgewicht L liegt auf einer höheren Indifferenzkurve als G2. U2-U3 stellt die nutzenmäßige Mehrbelastung dar. Die Höhe der Zusatzlast kann anhand von Abb. 15-11 gezeigt werden. Eine Lohnsteuer in Höhe von CG1 bewirkt eine Zusatzlast von CG1G0, von der auf die Arbeitnehmer BG0C entfällt; die Unternehmen habe eine Ertragseinbuße von BG1G0. Empirische Untersuchungen, die auf Befragungen oder auf dem beobachteten Marktverhalten beruhen, lassen bisher keine eindeutigen Schlüsse über die Reaktion des Arbeitsangebots auf verschiedene Steuerbelastungen zu. Ob eine Änderung der Arbeitszeit erfolgt, hängt neben den Möglichkeiten der persönlichen Zeitanpassung von verschiedenen Faktoren ab. Generell sind die Entscheidungsbedingungen daher komplexer als in dem Modell. So sind Prestige und andere nichtmonetäre Argumente wie Macht (insbesondere bei höheren Einkommen) von Bedeutung. Pensionszusagen und andere Alterssicherungen können steuerpflichtiges Einkommen durch solches in (nichtmonetärer) unversteuerter oder in geringer besteuerter Form ersetzen. Institutionelle Beschränkungen, darunter festgelegte Arbeitszeiten als Folge von Tarifverträgen, verringern mögliche Substitutionseffekte. Steuern dürften die Arbeitsentscheidungen eher über die Wahl der Überstunden, der Arbeitsintensität und zwischen Teil/Vollzeitbeschäftigung beeinflussen. In ökonometrischen Studien ist die Schätzgleichung für das Arbeitsangebot beispielsweise:

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

465

(15-74) Z ) - 0 9 -1Y 9 - 2 W '9- 3S 9 - 4 A 9 - 5 F 9 - 6 R 9 J , wobei Z die gewünschten Arbeitsstunden, Y das Nettoeinkommen1, W’ der Grenzlohnsatz (Teilzeit und Überstunden werden teils abweichend von Regelzeiten entlohnt), S das Geschlecht, A das Alter, F der Familienstand und R weitere Faktoren (Erziehung, Kinder u.a.), die -s die zu schätzenden Parameter und J die Restgröße angeben. Nach den Überblicken zu Besteuerung und Arbeitsangebot von Blundell (1992) und Feldstein (1995) ist die Arbeitsangebotselastizität bei Frauen größer als bei Männern. Für Hauptverdiener liegt sie bei null. Die Ergebnisse gelten für Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen, Selbständige und Spitzenverdiener. Bisher wurde implizit davon ausgegangen, dass der Steuergegenstand – hier das Einkommen – relativ problemlos definiert werden kann. Tatsächlich sind verschiedene Definitionen und praktische Abgrenzungen des Einkommens möglich (vgl. 16. Kapitel). Je nach Abgrenzung ihrer Bemessungsgrundlage können aber unterschiedliche Substitutionseffekte und daher Mehrbelastungen hervorgerufen werden. Wenn z.B. Einkommen real, also in Form von Sachgütern und Dienstleistungen (Dienstwagen, Jahreswagen, Deputate) und ähnlichen Vergünstigungen („fringe benefits“) steuerlich nicht oder nur teilweise als Einkommen erfasst wird bzw. werden kann, ist eine Substitution von Einkommen in Form von Geld durch solches in Gütern zu erwarten2. Das ist aber ineffizient, weil die Wirtschaftssubjekte mit den Formen des Realeinkommens in ihrer Verfügungsmöglichkeit eingeschränkt sind. Für nahezu alle Formen des „do-ityourself“, auf die keine Einkommensteuer entfällt, gilt Entsprechendes. Eine Einkommensteuer, die selbsterstellte Güter ausklammert, regt zur Selbstgenügsamkeit an3. Die Wirkung wird durch weitere Abgabenbelastungen (z.B. Sozialversicherungsbeiträge) verstärkt. Ferner können die Belastungen dazu beitragen, dass auf dem „offiziellen“ Markt erbrachte Leistungen in den Bereich der Schattenwirtschaft (Schwarzarbeit, Hausarbeit) verlagert werden. Während die „offizielle“ Arbeitszeit in vielen Fällen individuell nur begrenzt gestaltbar ist, kann die Gesamtarbeitszeit durch Aktivitäten auf dem nichtamtlichen Arbeitsmarkt variiert werden. Differenzen zwischen Brutto- und Nettopreisen können hierfür maßgeblich sein. Die Verlagerung aus amtlich erfassten Bereichen in nicht erfasste bzw. erfassbare Bereiche wird häufig unter Verzicht auf die Vorteile der Arbeitsteilung mit Produktivitätsverlusten einhergehen Schließlich kann die Einkommensteuer auch allokative Verzerrungen hinsichtlich der Form der Arbeitsleistungen (selbständig/unselbständig) verursachen, wenn diese nach (l) den Möglichkeiten, Kosten der Einkommenserzielung abzusetzen, (2) der Höhe der steuerlichen Belastungen und (3) der Art der Steuererhebung (Quellenabzug, Veranlagung) unterschiedlich behandelt werden. So können Selbständige ihr steuer1 2 3

Bruttoeinkommen nach Korrektur um Steuern und Transfers. Hier zeigt sich die gleiche Problematik wie beim Vergleich gebundener und ungebundener Transfers. „It is a curious effect of the modern income tax that is may be encouraging the economy back to the system of barter from which it took mankind an age to escape“ (James/Nobes 1978, S. 31).

466

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

pflichtiges Einkommen eher durch teilweise den Kosten der Einkommenserzielung zugerechnete Ausgaben für Reisen, Geschenke, Bewirtung u.a. mindern („Spesenritter“) als dies unselbständig Beschäftigten möglich ist. Selbst wenn solche Ausgaben Geschäftszwecken dienen, mag der Selbständige hieraus persönliche (Konsum-)Erträge erzielen (Goode 1976, S. 93 ff.). Der Steuertarif ist ebenfalls von Bedeutung. Für den Vergleich eines proportionalen mit einem progressiven Tarif ist zweckmäßigerweise von einem gleichen Steueraufkommen auszugehen. Da die Grenzbelastung bei einem progressiven Tarif höher ist, dürften hier der Substitutionseffekt und die negativen Arbeitsanreize in der Regel größer sein1. Andererseits trifft der durchschnittliche Steuersatz eher Personen mit niedrigeren Einkommen und steigt mit höheren Einkommen. Der Einkommenseffekt kann die unteren Einkommensgruppen zu weniger und die oberen zu mehr Arbeit veranlassen. Auch wenn nichts Genaues über die Wirkungen der Einkommensteuer auf das Arbeitsangebot ausgesagt werden könnte, ist doch von einem Effizienzverlust auszugehen: Die Unternehmen fragen die Arbeitsleistungen nach, bis deren Grenzproduktivität gleich dem Bruttolohnsatz w ist. Arbeitnehmer erhalten nur den Nettolohnsatz w(1 – ]Y) und bestimmen die Arbeitszeit so, dass die Grenzrate der Substitution von Freizeit durch Arbeitszeit gleich dem Nettolohnsatz ist. Der Steuerkeil zwischen Brutto- und Nettolohn verhindert also die Erreichung des Pareto-Optimums: Die jeweiligen Gleichgewichte von Haushalten und Unternehmen fallen auseinander. Diese Wirkung wird bei progressiven statt proportionalen Tarifen verstärkt. In einem 3-Güter-Modell mit x1, x2 und F soll zwischen Freizeit (= kein Arbeitsangebot) und Einkommen entschieden werden, das für x1 und x2 verwendet wird. Freizeit kann in diese Güter gemäß der Grenzrate der Transformation GRTFx1 und GRTFx 2 transformiert werden. So wie zur Nutzenmaximierung die Grenzrate der Substitution zwischen zwei Gütern gleich ihrem Preisverhältnis sein muss, ist die Grenzrate der Substitution zwischen Freizeit und einem Gut gleich dem Verhältnis Lohnsatz (Preis der Freizeit) und dem Preis des Gutes. Zur Pareto-effizienten Allokation müssen die Bedingungen erfüllt sein: (15-75) GRSFx1 ) GRTFx1 (15-76) GRSFx 2 ) GRTFx 2 (15-77) GRSx1x 2 ) GRTx1x 2 Die Einführung einer proportionalen Einkommensteuer, die einer Verbrauchsteuer mit gleichem Satz auf x1 und x2 äquivalent ist, lässt (15-77) unverändert; Produzenten und Konsumenten finden dieselbe Preisrelation für x1 und x2 vor. Zwischen die ersten 1

Im Grenzfall eines Substitutionseffekts von Null arbeitet das Wirtschaftssubjekt im gleichen Umfang unabhängig vom Nettolohn.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

467

beiden Bedingungen wird aber ein Keil getrieben. Im Falle einer Pauschalsteuer bleiben hingegen alle drei Gleichungen unverändert. Der Umstand, dass durch die Einkommensteuer zwei, durch Verbrauchsteuern mit unterschiedlichen Sätzen alle drei Bedingungen verletzt werden, ist für die Bestimmung eines effizienten Systems irrelevant. Sobald eine Gleichung nicht mehr stimmt, kommt es zum Effizienzverlust, und der Umfang der jeweiligen Wohlfahrtseinbuße kann nicht durch bloßes Addieren der Keile verglichen werden. Eine Steuer, die nicht die Lenkungsfunktion der Preise im Hinblick auf mindestens eine für die volkswirtschaftliche Allokation wichtige Größe stört, scheint - neben der Pauschalsteuer - eine allgemeine, auch die Freizeit mitbesteuernde Verbrauchsteuer zu sein. Wenn die Wirtschaftssubjekte die Wahl zwischen Freizeit und Gütern haben, ist ihre Budgetgleichung (bei Sparen = 0) (15-78) w (M 5 F) ) p1x1 9 p 2 x 2 oder, anders geschrieben (15-79) wM ) p1x 1 9 p 2 x 2 9 wF . Die linke Seite gibt den Wert der maximal zur Verfügung stehenden Zeit an. Gut 1 und 2 und Freizeit sollen mit dem gleichen Wertsteuersatz ] belastet werden. Dann verändert sich die Budgetgleichung nach Besteuerung zu (15-80) wM ) (1 9 ])p1 x 1 9 (1 9 ])p 2 x 2 9 (1 9 ]) wF . Teilt man (15-80) durch (l + ]), erhält man (15-81)

1 wM ) p1 x 1 9 p 2 x 2 9 wF 19 ]

Ein Vergleich von (15-80) und (15-81) zeigt, dass eine die Freizeit einschließende allgemeine Verbrauchsteuer mit demselben Satz ] einer Verringerung des Wertes der Zeitausstattung von wM auf [l/(l + ])]wM äquivalent ist. Da M nicht verändert werden kann, wirkt die Abgabe wie eine Pauschalsteuer bzw. bei individuell unterschiedlichen Lohnsätzen wie eine Steuer auf das „Einkommenserzielungspotenzial“. Also verursacht eine Verbrauchsteuer, die alle Konsumgüter unter Einschluss der Freizeit belastet, keine Zusatzlast. Gegen eine Freizeitbesteuerung spricht allerdings: (1) Freizeit ist zugleich (lebens) notwendige Erholungszeit; (2) bei vielen Personen sind Freizeit und Arbeitszeit nicht exakt zu trennen; (3) die Bewertung der Freizeit mit dem Stundenlohn ist problematisch; (4) jeder wird unabhängig von seinem erzielten Einkommen besteuert, was als Verstoß gegen die Vorstellung von Steuergerechtigkeit angesehen werden dürfte.

468

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Um einen Ausgleich für die Störung der Preisstruktur durch die Einkommensteuer zu bewirken, wird auch diskutiert, wenn schon nicht die Freizeit direkt so doch mit der Freizeit verbundene (komplementäre) Güter zu besteuern und sich so dem richtigen Preisverhältnis zu nähern: Wenn für Freizeit verwendete Güter hoch besteuert werden, kann dies auch den Wert der Freizeit beeinträchtigen. Zu beachten ist ferner, dass die Freizeitkomponente auch als Ausdruck für alle Größen interpretiert werden kann, die der Besteuerung nicht zugänglich sind. f) Allokative Beurteilung von Steuern: Ergebnis Zunächst könnte vermutet werden, dass Steuern, die mit niedrigen Sätzen und einer großen Steuerbasis ein bestimmtes Aufkommen erzielen sollen, geringere Substitutionswirkungen hervorrufen, als wenn das gleiche Steueraufkommen mit dem Mittel hoher Steuersätze erzielt wird, die sich auf wenige Aktivitäten beschränken. Daher ist es bei sog. allgemeinen Steuern (wie Einkommen- und allgemeinen Verbrauchsteuern) wichtig, ob die Allgemeinheit der Steuerbasis nicht durch Freibeträge, Nichtberücksichtigung von Einkommensteilen, nichtproportionale Tarife usw. eingeschränkt ist. Ferner scheint es allokativ eher günstig zu sein, dass das Steuersystem aus mehreren verschiedenen Steuern und nicht nur aus einer oder zwei Steuern besteht, so dass die Grenzsteuersätze auf jede Aktivität relativ gering gehalten werden können. Die vorstehenden Ausführungen haben aber gezeigt, dass praktisch jede Steuer die Lenkungsfunktion der Preise einer Marktwirtschaft in irgendeiner Weise stört. So wird verhindert, dass die Grenzrate der Substitution der Konsumenten und Produzenten zwischen Gütern bzw. Faktoren mit der Grenzrate der Transformation dieser Güter bzw. Faktoren übereinstimmt. Tab. 15-1 fasst die durch einzelne Steuern verursachten Verzerrungen zusammen. Die allokative Überlegenheit von Steuern mit breiter Bemessungsgrundlage (Einkommen-, allgemeine Verbrauchsteuer) gegenüber Steuern mit enger Bemessungsgrundlage (spezielle Verbrauch-, Faktorsteuer) entfällt so. Verzerrungen ruft in gewissem Sinne selbst die Pauschalsteuer hervor. Sie ist zwar als theoretisches Konstrukt neutral, weil sie die ökonomischen Entscheidungen der Besteuerten (definitionsgemäß) nicht tangiert. Tatsächlich wird aber jede praktisch vorstellbare Pauschal- oder Kopfsteuer nicht neutral sein, weil sie z.B. das intergenerative Verhalten beeinflussen oder zum Auswandern (bzw. zur Standortverlagerung) veranlassen kann. Die Steuer dient nur als Referenzgröße, ist also ansonsten unrealistisch und wegen ihrer verteilungspolitischen Problematik für die finanzpolitische Praxis bedeutungslos. 5. Optimale Besteuerung Wenn praktisch alle Steuern allokative Verzerrungen verursachen, auf Steuern aber nicht verzichtet werden kann, ist in einer Marktwirtschaft mit einem steuererhebenden Staat kein Allokationsoptimum erreichbar. Zwar könnte die durch die Belastung von Gut l mit einer proportionalen Steuer ]x1 hervorgerufene Verzerrung durch eine entsprechende Belastung von Gut 2 ausgeglichen werden, so dass

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

(15-82) GRS12 )

469

p1 (1 9 ] x1 ) p1 ) ) GRT12 p 2 (1 9 ] x 2 ) p 2

Tab. 15-1 Verzerrte Entscheidungen durch verschiedene Steuern Steuer

verzerrte Entscheidung

Pauschalsteuer allgemeine Einkommensteuer

Wohnsitz Arbeit/Freizeit; gegenwärtiger versus künftiger Konsum; Markt-/Nichtmarkteinkommen Arbeit/Freizeit; Arbeit/Güter; Markt-/NichtMarkteinkommen Rendite; Risiko Arbeit/Freizeit; Markt-/Nichtmarktverbrauch besteuerte versus nichtbesteuerte Güter; Arbeit/Freizeit besteuerte versus nichtbesteuerte Faktoren; Markt-/Nichtmarkteinsatz besteuerter Faktoren

allg. Einkommensteuer (ohne Zinsen) allg. Einkommenst. (ohne Verlustausgleich) allgemeine Verbrauchsteuer spezielle Verbrauchsteuer spezielle Faktorsteuer (auf den Arbeitsoder Kapitaleinsatz)

Da aber die Steuerbelastung von Gut 1 auch die Relation zwischen p1 und dem Faktorpreis w stört, muss w ebenfalls einer ausgleichenden Korrektur unterzogen werden: (15-83) GRS Fx1 )

w (1 9 ] w ) w ) ) GRTFx1 p1 (1 9 ] x1 ) p1

Nun ruft die Arbeitseinkommensbesteuerung ihrerseits Verzerrungen der ArbeitsFreizeit-Relation hervor usw. Wenn allerdings einzelne Aktivitäten extrem niedrige Substitutionsmöglichkeiten zulassen, tangieren Steuern die Entscheidungen nicht. So ruft eine spezielle Verbrauchsteuer auf Gut l keine Mengenanpassungen und keine Mehrbelastungen bei vollständig elastischer Nachfrage nach diesem Gut hervor. Oder: wenn die für die Produktion von 1 verwendeten Ressourcen nicht anders eingesetzt werden können, ist das Angebot von l gegeben, und eine Steuer auf 1 ändert Gleichgewichtspreis und -menge nicht. Nur die Faktoreinkommen der bei der Produktion von l eingesetzten Faktoren werden verringert. Die Allokation der Ressourcen wird also bei unelastischer Nachfrage und unelastischem Angebot nicht verändert. Wie ist das Steuersystem zu gestalten, wenn die Effizienzverluste bei verschiedenen Steuerarten unterschiedlich groß sind? Mit der Analyse der optimalen Besteuerung soll das Steuersystem mit den geringsten Effizienzkosten bestimmt werden. Die Wohlfahrtseinbußen durch Verzerrung der relativen Preise sind also zu minimieren und eine sog. Second-best-Lösung zu erreichen1. Dabei ist zu beachten, dass Steuern mit rela1

In einem umfassenden Ansatz allokativer Effizienz müssen auch die Vollzugskosten der Besteuerung berücksichtigt werden.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

470

tiv geringen Effizienzeinbußen (z.B. Grundsteuer) wenig aufkommenswirksam sind, folglich auf aufkommensstarke, aber verzerrende Steuern nicht verzichtet werden kann. Ferner dürfen Steuern nicht nur hinsichtlich ihrer Effizienzeinbußen beurteilt werden, auch mögliche Verteilungswirkungen sind zu berücksichtigen. Das zentrale Problem hierbei ist, dass häufig ein Trade-off zwischen Anreizen und Gerechtigkeit besteht. So mag eine progressive Einkommensteuer als gerecht angesehen werden aber die Arbeitsanreize beeinträchtigen. Wie sieht daher der Steuertarif aus, der den besten Trade-off bewirkt? In der Analyse wird implizit davon ausgegangen, dass ohne Besteuerung eine optimale Allokation gewährleistet ist. Da eine Vielzahl von Verletzungen der Optimalbedingungen unterstellt werden kann, ist das unter dem Stichwort „optimale Besteuerung“ in der finanzwissenschaftlichen Literatur diskutierte Problem komplex. Im Folgenden werden zuerst die Ansätze der optimalen indirekten Besteuerung skizziert, bevor auf die Diskussion der optimalen direkten Besteuerung kurz eingegangen wird. a) Indirekte Besteuerung Welche Belastung mit Verbrauchsteuern bei verschiedenen Gütern jeweils gewählt werden soll, hängt allgemein von den Eigenschaften der Nachfragefunktionen nach diesen Gütern – einschließlich ihrer Substitutions- oder Komplementaritätseigenschaften zu anderen Gütern – ab. Vereinfachend soll hier von KreuzPreiselastizitäten der Nachfrage vorerst abgesehen werden. Unterstellt man ferner, dass für ein repräsentatives Individuum das entscheidende Argument in der Nachfrage nach einem Gut dessen Preis ist, erhält man folgende optimale Besteuerungsregel: Die optimalen Steuersätze sind umgekehrt proportional zu den entsprechenden Nachfrageelastizitäten festzusetzen („Inverse-Elastizitäten-Regel“): (15-84)

] x1 ] x2

)

E x2 E x1

,

wobei E x1 bzw. E x 2 die Preiselastizitäten der Nachfrage nach Gut l bzw. 2 angeben1. Die Höhe der jeweils erforderlichen Steuersätze hängt vom gewünschten Steueraufkommen ab. Güter mit der geringsten Nachfrageelastizität sollten gemäß dieser Regel die höchsten Steuersätze haben. Bei vollständig unelastischer Nachfrage eines Gutes sollte das gesamte Steueraufkommen aus der Belastung dieses Gutes erzielt werden. Es käme so zu keiner Mehrbelastung. Diese Nachfragekonstellation ist bei Gütern des lebensnotwendigen Bedarfs und bei Genussmitteln wie Tabak und Alkohol zu finden. Die aus der Befolgung dieser Regel resultierende verteilungspolitische Problematik ist daher offensichtlich. In Abb. 15-22 wird zur Vereinfachung von einem vollkommen elastischen Angebot A0 ausgegangen. Zwei alternative Nachfragekurven werden betrachtet, wobei N2 die 1

Zum Beweis siehe Sandmo (1976).

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

471

elastischere, N1 die weniger elastische Nachfrage angeben. Gleichgewicht vor Besteuerung liegt bei G0 bzw. G1. Durch Einführung einer Mengensteuer mit dem Satz ]E = p2 - p0 soll sich das Angebot auf A1 verschieben. Das neue Gleichgewicht liegt jeweils bei G2. Die Nachfrage geht in beiden Fällen auf x2 zurück, allerdings ist der Nachfragerückgang (x0 - x2) bzw. (x1 - x2) unterschiedlich groß. Das Steueraufkommen ist jeweils p0p2G2B. Die Einbuße an Konsumentenrente ist bei N2 um die Fläche G0G1G2 größer als bei der weniger elastischen Nachfrage N1. Bei völlig unelastischer Nachfrage ist die Zusatzlast null. Hier bringt die Steuerzahllast allein die gesamte Wohlfahrtsminderung der Konsumenten zum Ausdruck1. Abb. 15-22 Wohlfahrtseinbußen bei unterschiedlichen Nachfrageelastizitäten p

G2

p2 p0

B

A1 G0

G1

A0

N1 0

x2

x1

N2 x0

x

Die Bedeutung der Nachfrageelastizität für die Wohlfahrtswirkung ist bei der Angebotselastizität entsprechend. Bei völlig unelastischem Angebot (wie A0 in Abb. 15-2d) ändert die Steuer weder Menge noch Preis. Die gesamte Last trägt der Anbieter. Eine Zusatzlast tritt nicht auf. Das könnte eine Rechtfertigung für die Besteuerung immobiler Faktoren sein. So ändert z.B. die Besteuerung von Land nicht dessen für die Produktion verfügbare Menge. Abb. 15-23 zeigt, dass bei einer größeren Elastizität des Arbeitsangebots auch die Zusatzlast größer ausfällt (AG2G0 > AG1G0). Abb. 15-23 Zusatzlast der Arbeitseinkommensteuer bei verschiedenen Angebotselastizitäten w

A G1

G0

G2

w + ]w w

Arbeitsstunden

1

Die Ergebnisse gelten entsprechend für unterschiedliche Angebotselastizitäten. Je unelastischer die Angebotskurve ist, um so größer fällt die Einbuße an Produzentenrente aus.

472

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

Allgemein gilt für die Besteuerung der Güter und Faktoren, dass für die Höhe des Wohlfahrtseffekts einer Steuer die Preiselastizitäten von Angebot und Nachfrage maßgeblich sind. Bei größeren Elastizitätswerten werden die Verhaltensweisen der Arbeitskräfte und die Marktergebnisse bei Veränderung der Steuern (und Sozialabgaben) stärker beeinflusst. Eine weitere, sehr spezielle Regel für die optimale Güterbesteuerung, die jedoch Kreuzpreiseffekte zulässt, geht aus dem Ansatz von Corlett und Hague hervor, der für die Existenz dreier Güter (zwei herkömmliche Güter und Freizeit) Gültigkeit hat. Annahmegemäß kann Freizeit nicht besteuert werden. Nach der „Corlett-HagueRegel“ist dann dasjenige der zwei Güter relativ schwächer zu besteuern, das die größere kompensierte Kreuzpreiselastizität zur Arbeit aufweist. M.a.W. ist es optimal, das zur Freizeit komplementäre Gut relativ stärker zu besteuern. Die Belastung der Freizeit soll so, wenn es nicht unmittelbar möglich ist, doch wenigstens mittelbar über die mit der Freizeitgestaltung verbundenen Güter erfolgen. Man hat damit eine Kombination von Einzelverbrauchsteuern gefunden, durch die ein bestimmter Steuerbetrag von einer bestimmten Person mit dem geringsten Wohlfahrtsverlust erhoben werden kann. Nimmt man weiter an, dass alle Menschen ähnliche Nutzenvorstellungen haben, kann diese Lösung verallgemeinert und ein optimaler Steuersatz festgelegt werden, der für alle gilt. Die Inverse-Elastizitäten-Regel und die Corlett-Hague-Regel sind dadurch in ihrer Relevanz beschränkt, dass hier die Nachfrage nach einem Gut von seinem Preis abhängt. Sie stellen daher lediglich Spezialfälle der allgemeineren Ramsey-Regel dar, der bekanntesten Regel der Theorie der optimalen Verbrauchsbesteuerung (Optimal commodity taxation). Sie besagt, dass die Gütersteuersätze derart gewählt werden sollen, dass der resultierende relative Rückgang der kompensierten Nachfrage1 für alle Güter gleich ist. Bei einer optimalen Gütersteuer müssen daher nicht alle Preise proportional gleich erhöht werden, um die Verzerrungen durch das Steuersystem zu minimieren. Es geht um Mengen, weil diese den Nutzen bestimmen (Preise sind sekundär im Vergleich zu den Mengen). Voraussetzung für diese Optimalitätsregel sind gleiche Einkommenselastizitäten aller besteuerten Güter, so dass die Güterbesteuerung die Arbeitsentscheidung nicht verzerrt. Aus der Ramsey-Regel folgt, dass eine einheitliche Verbrauchsteuer, d.h. die Besteuerung aller Güter mit einem einheitlichen Prozentsatz optimal ist, wenn das Arbeitsangebot exogen gegeben ist oder wenn die Nachfrage nach allen Gütern freizeitneutral ist2. Zwei Güter werden hierbei in ihrem Verhältnis zueinander dann als freizeitneutral bezeichnet, wenn sich ihre Nachfrage für den Fall, dass dem Haushalt eine höhere Arbeitszeit (geringere Freizeit) und ein mit gleicher Rate steigender Konsum aller anderen Güter auferlegt wird, relativ gleich verändert. Ein zentrales Problem der Optimal-Besteuerung besteht darin, dass sie mit Zunahme der erfassten Verzerrungen komplexere Lösungen erforderlich macht, die kaum 1

2

Die kompensierte Nachfrage stellt allein auf die Stärke des Substitutionseffekts ab. Sie zeigt die Reaktion auf eine Preisänderung unter der Voraussetzung, dass das Individuum kompensiert wird, um sein Realeinkommen zu halten. Eine einheitliche Verbrauchsteuer wird auch Ausgabensteuer genannt und in Kapitel 20.2 ausführlicher behandelt.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

473

interpretierbar und nicht in die finanzpolitische Praxis umsetzbar sind1. So sind insbesondere die Informationserfordernisse umfangreich. Dehnt man die Einkonsumentenwelt auf zahlreiche Konsumenten mit unterschiedlichen Präferenzen aus, so erfordert beispielsweise die Corlett-Hague-Regel, dass bei den einzelnen Konsumenten eines Produkts unterschiedliche Steuersätze anzuwenden sind, die von den jeweiligen Komplementaritäts- und Substitutionalitätseigenschaften zwischen Freizeit und anderen, in den Präferenzfunktionen enthaltenen Gütern abhängen. Und bei vollständiger Analyse – wann liegt sie vor? – müsste jede Transaktion einen anderen Steuersatz haben. Ferner gelten diese Ergebnisse nur in einer Welt ohne Transaktionskosten. Tatsächlich sind Transaktionskosten allgegenwärtig. Daher sind neben den Entrichtungskosten der Privaten auch die Erhebungskosten des Staates einschließlich der Kosten des politischen Entscheidungsprozesses zu beachten. Dann kann die Belastung aller Güter mit einem einheitlichen Satz zweckmäßiger als die Ramsey-Regel sein. Schließlich ist zu beachten, dass es hier um Effizienzregeln geht, die unter dem Ziel der Gerechtigkeit nicht akzeptabel sein dürften. b) Direkte Besteuerung

Alternativ zu einer Besteuerung der Güter kann auch mittels einer Einkommensbesteuerung das Ziel verfolgt werden, die Zusatzlast der Besteuerung zu minimieren. Die theoretischen Ansätze, die dieser Idee folgen, haben bisher aufgrund der Komplexität der zugrundeliegenden Zusammenhänge nur geringe Ergebnisse gebracht. Eine der ersten Untersuchungen stammt von Mirrlees (1971). Unter bestimmten Annahmen erhält er eine optimale Einkommensteuer, deren Verlauf approximativ linear ist und einen negativen Ordinatenabschnitt sowie relativ geringe Grenzsteuersätze (ungefähr 20%) aufweist. Allerdings ergeben sich mit einer anderen als der von Mirrlees verwendeten sozialen Wohlfahrtsfunktion auch andere Grenzsteuersätze (vgl. Bradford/Rosen 1976). Weicht man von der Annahme eines linearen Tarifverlaufs ab und erlaubt allgemeine Steuertarife mit nichtlinearen Steuersätzen, so erhält man das überraschende Ergebnis, dass der Grenzsteuersatz des Individuums mit dem höchsten Einkommen null sein soll (Seade 1977). Relativ allgemein lässt sich sagen, wieder unter der Einschränkung linearer Tarifverläufe, dass der optimale Grenzsteuersatz negativ mit den kompensierten Lohnelastizitäten des Arbeitsangebots variiert (Stern 1976). Der Effizienzverlust durch die Besteuerung ist demnach umso geringer, je unelastischer das Arbeitsangebot bezogen auf den Lohnsatz ist. Um ein bestimmtes Steueraufkommen zu erzielen, sollte der Staat analog zur optimalen Güterbesteuerung die Ramsey-Regel anwenden. Hierzu wählt er 1

Brennan/Buchanan (1977, S. 255) bezeichnen die Modelle der optimalen Besteuerung als „institutionell leer“. Sie legen allerdings auch einen entscheidungspolitischen Rahmen zugrunde. Der kann einen Entscheidungsträger einbeziehen, der zwischen verschiedenen Politiken zur Maximierung der Wohlfahrt eines repräsentativen Wirtschaftssubjekts wählt, oder einen Planer, der eine Wohlfahrtsfunktion maximiert, die außerhalb des Modells determiniert ist.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

474

im 2-Personen-Modell die konstanten Steuersätze ]1 und ]2. Bei Elastizitäten des individuellen Arbeitsangebots E1 und E2, die die Substitutionswirkungen zwischen Arbeit und Freizeit angeben, ist es nach der Ramsey-Regel bei effizienten proportionalen Einkommensteuern auf zwei Personen erforderlich, dass (15-85)

]1 E 2 , ) ] 2 E1

d.h. beiden Personen sollten Steuersätze zugeordnet werden, die invers zu ihren Marktangeboten sind. Die Problematik der optimalen Besteuerung stellt sich auch, wenn die Mehrbelastung möglichst gering gehalten und eine sozial erwünschte Umverteilung erreicht werden soll. Dann geht es um die Formulierung eines gesellschaftlich akzeptierbaren Gleichgewichts zwischen distributiver Gerechtigkeit, die im bisher dargestellten Typ der Optimalbesteuerung ausgeklammert wurde, und allokativer Effizienz. Gesucht wird nun dasjenige Steuersystem, das ceteris paribus die volkswirtschaftliche Wohlfahrt maximiert1. Zur Lösung des Problems werden streng formalisierte mikroökonomische Totalmodelle verwendet, die durchweg auf den Annahmen des neoklassischen Gleichgewichtsmodells basieren. Die Ergebnisse hängen unter anderem von der jeweils zugrunde gelegten Wohlfahrtsfunktion ab. Ferner werden in der Regel für alle Haushalte identische Nutzenfunktionen unterstellt und insofern Unterschiede in den individuellen Präferenzen ausgeschlossen2. Gegen die Verwendung der Wohlfahrtsfunktion für politische Entscheidungen spricht, dass es nicht möglich ist, die erforderlichen interpersonellen Nutzenvergleiche durchzuführen. Hinzu kommt ein weiteres Problem der Umsetzbarkeit. Weil Steuern Umverteilung bedeuten, wird ein jegliches Optimalsteuersystem erhebliche politische Kosten hervorrufen; Gruppen versuchen möglichst wenig belastet zu werden. Das dürfte bei Progression, aber auch bei Freibeträgen und verschiedenen Vergünstigungsformen bedeutsam sein. Neuere dynamische Modelle befassen sich mit optimaler Besteuerung in der zeitlichen Dimension. Zu unterscheiden sind hierbei Modelle, bei denen Individuen mit unbegrenzter Lebensdauer ihren intertemporalen Nutzen maximieren, und Modelle mit mehreren „überlappenden“ Generationen (Overlapping Generations). Wiederum werden unter restriktiven Annahmen nach Effizienz- und Verteilungsgesichtspunkten Empfehlungen bezüglich der Eignung von Bemessungsgrundlagen und Tarifen einzelner Steuerarten abgeleitet. Aus der Sicht der dynamischen Besteuerungstheorie finden sich Hinweise auf die Überlegenheit der Verbrauchsbesteuerung gegenüber der Einkommensbesteuerung.

1

2

So kann die Gesellschaft z.B. eine stark progressive Besteuerung für gerecht halten. Diese kann aber die Arbeitsanreize beeinträchtigen. Zu bestimmen sind dann die Steuersätze, die die beste Kombination zwischen Gerechtigkeit und Anreizen darstellen. Diese Annahme liegt schon den Opfertheorien zugrunde (vgl. Kapitel 14.7).

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

475

6. Die Wirkungen von Steuern auf private Investitionen a) Die Kapitalwertmethode ohne Besteuerung

Bei der Analyse der Preiseffekte von Steuern wurde davon ausgegangen, dass der Kapitalbestand gegeben ist. Nun soll in einem einfachen Modell für ein repräsentatives Unternehmen dargestellt werden, welche Wirkungen finanzpolitische – primär einkommensteuerliche – Maßnahmen auf die privaten Investitionen, also auf die Veränderungen des Kapitalbestandes haben können. Investitionsentscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass eigene und/oder fremde Mittel für Anlagen eingesetzt werden, die im Zeitablauf der (rechnerisch durch Abschreibungen erfassten) Wertminderung unterliegen. Finanzpolitische Maßnahmen wirken dann entscheidungsneutral, d.h. sie verändern die unternehmerischen Entscheidungen nicht, wenn sie (1) alle Finanzierungsformen steuerlich gleich behandeln (Finanzierungsneutralität), also keine Substitutionseffekte zwischen Eigen- und Fremdkapital auslösen; (2) bei Finanzierungsneutralität die Investitionstätigkeit und die Rangfolge unterschiedlich rentabler Investitionen nicht verändern (Investitionsneutralität). Die Vorteilhaftigkeit einer Investition soll zunächst mit Hilfe der Kapitalwertmethode gemessen werden1. Der Kapitalwert (W) einer Zahlungsreihe ist der auf einen Bezugszeitpunkt berechnete, abgezinste Wert aller Zahlungen; er wird für den Zeitpunkt t = 0 einer Investition berechnet als n

(15-86) W0 ) 4 Ü t (1 9 i) 5 t 5 I 0 . t )1

Hierbei sind I0 die Anschaffungsausgaben für Investitionen, Üt die Einzahlungsüberschüsse in den Perioden t = 1, 2, ... n und i die Kapitalkostenrate (Zins). Der Kapitalwert wird nach (15-85) von Höhe und Verlauf der Einzahlungsüberschüsse, deren Barwert als Ertragswert bezeichnet wird, sowie von Zinssatz und Investitionsausgaben bestimmt. b) Die Berücksichtigung einkommensteuerlicher Maßnahmen

Durch Einführung einer Gewinnsteuer wird W dadurch verändert, dass Ü und/oder i gesenkt werden. Zu beachten ist, dass z.B. Umsatzsteuern bereits als Minderung von Ü enthalten sind. Belastet die Gewinnsteuer die Zinsen nicht, erhält man als Kapitalwert n

(15-87) W0 ) 4 [ Ü t 5 ]( Ü t 5 D t )](1 9 i) 5 t 5 I 0 . t )1

1

Alternativ wird auch die interne Zinsfußmethode benutzt, bei der die interne Ertragsrate und die Kapitalkostenrate verglichen werden. Die interne Ertragsrate erhält man, wenn man den Kapitalwert einer Investition in (15-85) null werden lässt.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

476

Hierbei sind ] der Einkommensteuersatz, D die Abschreibungen und (Üt - Dt) das steuerpflichtige Einkommen als Bemessungsgrundlage. Es wird angenommen, dass die Ein- und Auszahlungen des Investitionsprojekts vor und nach Steuern gleich sind, also z.B. keine Steuerüberwälzung stattfindet1. Die Steuer verringert vom Ertragswert nur die Größen im Zähler, also nicht den (Brutto =)Nettozins. Sie ist nicht finanzierungsneutral, weil die Zinserträge bei Geldanlage auf dem Kapitalmarkt nicht reduziert werden. Es ist auch keine Investitionsneutralität gegeben, weil die Entscheidungen zwischen Sach- und Finanzanlagen zugunsten der Finanzanlagen verzerrt werden. Weitere Verzerrungen können entstehen, wenn ÜSt nicht nach dem Nettoprinzip berechnet werden darf (z.B. die Kosten der Einkommenserzielung nicht vollständig abgesetzt werden dürfen) und DSt nicht ökonomisch „richtige“ Abschreibungen sind. Werden alle Erträge (im In- und Ausland) gleich besteuert, ist auch beim Zins die Belastung zu berücksichtigen, weil dann realistischerweise anzunehmen ist, dass auch die finanziellen Anlagealternativen der Unternehmen besteuert werden. Es gilt: n

(15-88) W0 ) 4 [ Ü t 5 ]( Ü t 5 D t )](1 9 i ] ) 5 t 5 I 0 . t )1

Hierbei ist i] = i(1 - ]) der Zinssatz nach Besteuerung. Der Kapitalwert ist bestimmt als der zum Zinssatz nach Steuern abdiskontierte Wert der zukünftigen Nettogewinne aus der Investition. Die Steuer verringert den Zähler und den Nenner des Ertragswertes, d.h. die Erträge der Investitionen sowie die Erträge der Alternativanlagen und Zinskosten. Diese Form der Besteuerung ist daher finanzierungsneutral, weil alle Einkommen, also Zinserträge der Anlagen aus Kapitalmarkt und Zinskosten der Kreditaufnahme, einem einheitlichen Steuersatz unterliegen2. Die Kapitalkostenrate verringert sich bei beiden Finanzierungsformen von i auf i(1 – ]Y). Dabei kommt es zu keinem Substitutionseffekt. Verzerrungen können auch hier und in (15-89) wieder durch eine vom Gewinn abweichende steuerliche Bemessungsgrundlage auftreten. Bleiben alle Kapitalerträge unversteuert, kommt es ebenfalls zur Finanzierungs- und Investitionsneutralität. Nach Gleichung n

(15-89) W0 ) 4 (1 5 ])( Ü t 5 D t )(1 9 i) 5 t 5 I 0 (1 5 ]) bzw. t )1

n ) (1 5 ]) R 4 ( Ü t 5 D t )(1 9 i) 5 t 5 I 0 " OK t )1 ^\

werden Ertragswert und Investition gleichermaßen um den Steuersatz reduziert.

1 2

Gleichung (15-86) ist auch dann relevant, wenn es ausländische Alternativanlagen gibt, deren Erträge dort unversteuert sind und in Deutschland nicht nachbelastet werden. Hierbei wird als weitere, an dieser Stelle nicht behandelte Bedingung die Ertragswertabschreibung unterstellt, die einen Vergleich der Ertragswerte am Beginn und Ende einer Periode zugrunde legt.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

477

Weitere Prämissen sind vollständige Kenntnis der Zahlungsströme, einfache Gewinndefinition, keine Verluste, d.h. Abschreibungen und Zinskosten müssen immer steuerlich verrechenbar sein, sofortige Kapitaleinkommensbesteuerung im Zeitpunkt des Zuflusses der Einnahmen und proportionale Besteuerung. Nun sollen die Auswirkungen verschiedener einkommensteuerlicher Maßnahmen skizziert werden. Eine Erhöhung von ] dürfte W in der Regel negativ beeinflussen. Bei einkommensteuersatzunabhängigem i ist dies offensichtlich. Im Hinblick auf die Größe i] ist anzumerken, dass die abdiskontierten Periodengewinne steigen, wenn i] sinkt. Andererseits wirkt der steigende Wert der abdiskontierten Steuerzahlung kapitalwertmindernd. Der Gesamteffekt ist in der Regel negativ. Bei temporären Steuersatzvariationen1 bleiben die Steuerwirkungen in den späteren Perioden unverändert. Für den Kapitalwert ist hier daher entscheidend, wie bedeutsam der (Brutto-)Gewinn der betroffenen Periode im Verhältnis zum Gesamtgewinn ist. Fallen Verluste an, müssen diese mit Gewinne anderer Investitionsprojekte in derselben Periode oder Gewinne anderer Perioden verrechnet werden können. Ist das nicht möglich oder nicht zulässig, tritt eine Verzerrung durch den Barwert von Dt (1 – ]) auf. Unzureichender Verlustausgleich verhindert also Investitionsneutralität. Bei einem intertemporalen Verlustausgleich können Einzahlungsüberschüsse (Gewinne) einer Periode mit Verlusten anderer Perioden verrechnet werden, dann ist der zweite Term in der eckigen Klammer zu ergänzen in (Üt - Dt - At) mit At = -Üt-r, wobei r den Verrechnungszeitraum kennzeichnet. Änderungen des Abschreibungsverfahrens wirken sich über die Größe Dt(1 + i])-t aus. Eine Verkürzung der Abschreibungsdauer, eine Verlagerung des Schwergewichts der Abschreibungen zur Gegenwart hin (einschließlich Sonderabschreibungen) erhöhen den Barwert der Abschreibungen und damit W. Das gilt sicher aber nur bei ] = const., denn bei einer Erhöhung des Steuersatzes im Zeitablauf und bei einem progressiven Tarif stehen dieser Wirkung cet. par. höhere künftige steuerpflichtige Einkommen und höhere Steuern gegenüber. Die Analyse wird komplizierter, wenn man der nach Rechtsformen (Einkommen-, Körperschaftsteuer) und nach Einkommensarten differenzierenden Besteuerung Rechnung trägt. c) Die Berücksichtigung von Investitionsprämien

Durch verschiedene Maßnahmen kann W ferner über die Veränderung der Investitionsausgaben beeinflusst werden. So führt eine Investitionsprämie mit dem Satz z1, die nicht auf die Abschreibungen und die Steuerschuld angerechnet wird, zum Kapitalwert n

(15-90) W ) 4 [ Ü t 5 ]( Ü t 5 D t )](1 9 i ] ) 5 t 5 I 0 (1 5 z1 ) . t )1

1

Beispiel ist ein Zuschlag zur Einkommensteuer (Solidaritätszuschlag u.ä.).

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

478

Die Wirkung der Investitionsprämie (entsprechend mit umgekehrtem Vorzeichen: Investitionssteuer) ist unabhängig vom Vorhandensein von Gewinnen. Im Gegensatz hierzu schlägt sich ein Investitionsfreibetrag (oder -zuschlag) mit dem Satz z2 im Kapitalwert nieder als n

(15-91) W ) 4 [ Ü t 5 ]( Ü t 5 D t )](1 9 i ] ) 5 t 5 I 0 (1 5 ]z 2 ) . t )1

Die Wirkung des Freibetrags hängt von z, ], I0 und der Höhe des Gewinns ab. Dieser muss in t = 0 mindestens z2I0 sein, ansonsten kann z2I0 nur über den intertemporalen Verlustausgleich geltend gemacht werden (und wirkt sich z.B. in t = 1 als ]z2 I0(1+])-1 aus). d) Abschließende Bemerkungen

Das hier verwendete Modell vernachlässigt die Unsicherheit allgemein und insbesondere die, die gerade von staatlichen Maßnahmen ausgeht. So besteht regelmäßig Unsicherheit über die künftige Steuerpolitik. Die Beständigkeit des Steuerrechts ist eingeschränkt (Neumark 1988, S. 53): Steuerliche Regelungen werden kurz nach ihrer Verabschiedung bereits wieder aufgehoben oder modifiziert, teils sogar mit rückwirkendem Charakter. Ähnliches gilt hinsichtlich anderer wirtschaftspolitischer und verfahrensrechtlicher (z.B. Zulassungsbedingungen) Maßnahmen. 7. Steuern bei Risiko und Unsicherheit

Alle hier betrachteten finanziellen und Sachanlageentscheidungen erfolgen unter Unsicherheit. Unsicher sind auch die künftigen Einnahmen1. Angenommen die Lebensdauer einer Investition betrage eine Periode. Die Wahrscheinlichkeit für einen Gewinn G sei p und (1 – p) für einen Verlust V. Dann gilt bei risikoneutralem Verhalten (15-92) EW(E) ) G W p 9 (1 5 p)V mit V < 0. Eine Investition ist vorteilhaft, wenn (15-93) EW(E) 6 Z , wobei Z die (sicheren) Zinseinkommen angibt. Wird nun eine die positiven und negativen Erträge gleichmäßig belastende Einkommensteuer eingeführt, gilt (15-94) EW(E)(1 5 ]) ) G W p(1 5 ]) 5 (1 5 p)V(1 5 ]) ) Z(1 5 ]) .

1

Selbst bei festverzinslichen Wertpapieren sind Kurs- und Preisniveauveränderungen zu berücksichtigen.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

479

Liegt ein vollkommener Verlustausgleich vor, führen Gewinne zu Steuerzahlungen und Verluste zu Zahlungen des Staates, wobei ein einheitlicher Satz zugrunde gelegt wird. Bei Risikoaversion schätzen die Investoren eine Anlage mit gleichem Ertragswert besser ein, wenn es sich um ein als sicher geltendes Wertpapier handelt. Gleichhohe Erträge sind daher nicht nutzenäquivalent. (15-95) EWU(E) ) pU(G ) 9 (1 5 p) U(V) Die Vorteilhaftigkeit einer Investition ist dann gegeben, wenn (15-96) pU:G (1 5 ])8 9 (1 5 p) U:V(1 5 ])8 ) U:Z(1 5 ])8. Wenn sich vor Besteuerung beide Seiten nach (15-95) gleichen, übersteigt nach Besteuerung der Nutzenerwartungswert der (unsicheren) Sachinvestitionserträge den der sicheren Zinsen. 8. Steuerhinterziehung a) Theoretische Grundlagen

Während bisher Substitutionseffekte in Form der legalen Steuervermeidung (Tax Avoidance) betrachtet wurden, ist nun auch auf die Steuerhinterziehung (Tax Evasion) als illegale Form der Steuerausweichung einzugehen. Steuerhinterziehung besteht in den absichtlichen und illegalen Handlungen zur Reduzierung der Abgabenpflicht. Sie kann durch fehlende Deklarierung von Einkommen(steilen), Umsätzen u.ä. erfolgen. Der Übergang von der legalen Steuerausweichung zur Steuerhinterziehung ist häufig fließend1. In welchem Ausmaß die jeweilige Verhaltensweise gewählt wird, dürfte vor allem von der Höhe der Steuersätze, der Ungenauigkeit der Gesetze (Existenz von Schlupflöchern: Loopholes), der Komplexität des Steuer“systems“, der empfundenen Ungerechtigkeit der Steuergesetze und auch vom vermuteten verschwenderischen Umgang der Regierung mit Abgaben abhängen. Geringe Strafen begünstigen die Steuerhinterziehung. Mit steigenden Steuersätzen wird es lohnender, mehr Beratung (Steuerberater, -anwälte usw.) heranzuziehen, umfassender zu planen und auch größere Risiken der Steuerhinterziehung einzugehen. Die große Zahl der Steuerdrucksachen, hier ist Deutschland Weltmeister, mag als grober Indikator für die Komplexität des Steuersystems herangezogen werden, die die Steuerhinterziehung begünstigen dürfte. Aber auch der Umgang der staatlichen Verwaltung mit dem Steuerzahler wird für wichtig erachtet. 1

Im internationalen Vergleich ist auch zu beachten, dass unterschiedliche Spielräume für Steuergestaltung bestehen. Das gilt auch national, wenn man auf die regional unterschiedliche Steuerprüfungsdichte schaut.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

480

In der Literatur werden verschiedene Faktoren als maßgeblich für die Hinterziehung insbesondere von Einkommen- und Umsatzsteuer genannt. Diese Faktoren sind u.a. (l) die angenommene Fairness der Steuergesetze1; (2) die Haltung der Steuerzahler im Hinblick auf den Staat; (3) grundlegende (steuer)moralische Charakteristika; (4) die Schwere der Strafen, die bei nachgewiesener Steuerhinterziehung zu erwarten sind; (5) die Leichtigkeit, mit der Steuern hinterzogen werden können; und (6) der monetäre Ertrag, der aus der vermiedenen Steuerzahlung zu erwarten ist. Es geht also weitgehend um erwartete Kosten und Nutzen der Steuerhinterziehung. Zwischen den einzelnen Faktoren können wechselnde Beziehungen bestehen. Das gilt etwa für Steuermoral und Abschreckung. Aus den Faktoren kann eine Steuerhinterziehungsfunktion gebildet werden (15-97) H ) H(TH, F, P,..., A) , wobei H das Maß für die Steuerhinterziehung, TH den Umfang der erwarteten Steuerersparnis2, F die Leichtigkeit der Steuerhinterziehung ausgedrückt in der Wahrscheinlichkeit überführt zu werden, P das Strafmaß unter Berücksichtigung des Entdeckungsrisikos wiedergeben und A alle zufälligen und nicht messbaren Faktoren umfassen. Es ist zu erwarten, dass eine Erhöhung von F zu einer Zunahme von H führt: je stärker die Preis-, Ertrags- bzw. Einkommensunterschiede mit und ohne Steuern und andere Abgaben auseinander fallen, um so größer dürfte der Anreiz zur Verlagerung in die nichtoffiziellen Güter- und Arbeitsmärkte (Schattenwirtschaft) sein3. H wird auch mit F zunehmen. Von einer Erhöhung des Strafmaßes P dürfte jedoch ein negativer Einfluss auf H ausgehen. In einem einfachen Standardmodell zur Steuerhinterziehung wird angenommen, dass ein Individuum seinen erwarteten Nutzen maximieren möchte, der allein vom Einkommen abhängt. Steuerhinterziehung wird also z.B. nicht als sportliche nutzensteigernde Tätigkeit behandelt. Die Betrachtung ist kurzfristig. Das in der Periode gegebene Einkommen sei Y, der auf das deklarierte Einkommen D angewendete konstante Steuersatz sei ]. Die Wahrscheinlichkeit, bei der Steuerhinterziehung überführt und bestraft zu werden sei p. Die auf das nichtdeklarierte Einkommen H = Y - D zu zahlende Strafe sei G (Y - D) mit G > ]. Bei Gelingen der Steuerhinterziehung ist das Nettoeinkommen (15-98) Yn ) Y 5 ]D

1

2 3

Es besteht die Gefahr, dass erfolgreiche Steuervermeidungshandlungen das Steuersystem als Ganzes in den Augen der großen Mehrheit jener Steuerzahler diskreditieren können, deren Möglichkeiten der Steuervermeidung relativ begrenzt sind. Die Steuerersparnis hängt davon ab, was (nicht) deklariert wird und wie belastet wird. Von Interesse ist im Übrigen, dass jede in einer Periode begangene Steuerhinterziehung Folgewirkungen haben kann. So müssen die Zinsen aus nichtdeklarierten Einkommen (Vermögen) ebenfalls hinterzogen werden, um nicht entdeckt zu werden. Siehe hierzu Schult (1986).

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

481

mit Y = Yn bei vollständiger Hinterziehung (D = 0); der hinterzogene Betrag ist dann ]Y. Bei Nichtgelingen gilt hingegen (15-99) Yn* ) Y 5 ]D 5 G (Y 5 D) mit Yn* ) Y(1 5 G ) bei D = 0. Bei Steuerehrlichkeit (Y = D) ist Yn ) Y(1 5 ]) ) Yn* Der Steuerpflichtige hat also zwischen Yn und Y*n zu wählen. Er wird das hinterzogene Einkommen (D < Y) so wählen, dass das erwartete Einkommen nach Steuer und Strafe (15-100) E(Y) ) (1 5 p)(Y 5 ]D) 9 p[Y 5 ]D 5 G (Y 5 D)] maximal ist. Für die Situationen („überführt“ und „nichtüberführt“) werden die Gewichte p bzw. (1 - p) verwendet. Wenn E(Y) durch Nichterklären gesteigert werden kann, wird hinterzogen. Entscheidungsvariable des Individuums (bei gegebenem Y) ist also D. Bildet man die erste Ableitung {E/{D und setzt diese gleich null, ergibt sich (15-101) (ME / MD) ) (1 5 p)(5]) 9 p(5] 9 G ) ) 0 Durch Umformung und Multiplikation erhält man (15-102) pG ) ] . Demnach maximiert das Individuum sein erwartetes Einkommen dann, wenn die erwarteten Grenzkosten der Nichtdeklaration des Einkommens pˆ gleich dem Grenzertrag, d.h. der marginalen Steuerersparnis, sind. Bei pˆ < z liegt demnach noch kein Gleichgewicht vor, es wird weniger deklariert. Dieser Zusammenhang wird in Abb. 15-24 wiedergegeben1. Der optimale nichtdeklarierte Betrag ist (Y-D)*. Es kann aber auch zweckmäßig sein, die Steuern ehrlich zu deklarieren. Das ist dann der Fall, wenn die Grenzkosten der Steuerhinterziehung durchgängig (GK2) über dem Grenzertrag der Steuerhinterziehung liegen. Das Optimum ist dann (Y-D) = 0. Das Modell vereinfacht insofern, als die psychischen Belastungen des Steuerbetrugs, Unterschiede in der Risikoneigung und in den Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Einkommenserzielungsmöglichkeiten vernachlässigt werden.

1

In der Abbildung wird angenommen, dass der Strafsatz mit steigender Nichtdeklarierung zunimmt.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

482

Abb. 15-24 Optimale Steuerhinterziehung

GK GE

GK2 GK1

GE (= ])

0

(Y-D)*

nichtdeklarierter Betrag (Y-D)

Dieses Modell ist in verschiedener Hinsicht ausgebaut und differenziert worden. So kann die Strafe für Hinterziehung sich statt auf das hinterzogene Einkommen auf die Steuerschuld beziehen. Zu beachten ist weiter, dass die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, als gegeben und zufällig angenommen wurde. Tatsächlich prüfen die Steuerbehörden aber nicht alle Steuerpflichtigen gleich und berücksichtigen hierbei Vorkenntnisse. Auch kann – wie in Abb. 15-24 angenommen – der Strafsatz umso größer ausfallen, je mehr hinterzogen wird (dG/d(Y-D) > 0). In der Regel dürfte bei höherem Wert von p und G das deklarierte Einkommen steigen, die Wirkung einer Einkommenserhöhung hängt von der Risikoneigung ab. Eine Erhöhung von ] hat ein zweideutiges Ergebnis auf das deklarierte Einkommen: Ein höheres ] verringert das (deklarierte) Einkommen, der Ertrag der Hinterziehung steigt und trägt zu einem höheren D bei. Unterstellt man eine abnehmende absolute Risikoneigung wird das niedrigere Einkommen als Ziel der Steuerhinterziehung weniger attraktiv sein lassen und das deklarierte Einkommen steigt demgemäß. Die Ergebnisse der Steuerhinterziehung hängen also entscheidend von den staatlichen Durchsetzungsmaßnahmen ab. Es wird geschlossen, dass der Einzelne nur Steuern zahlt, weil er Angst vor Entdeckung und Strafe hat. b) Bedeutung der Steuerhinterziehung

Legale Formen der Schattenwirtschaft (z.B. beim Eigenheimbau) rufen Substitutionseffekte zu Lasten der in der offiziellen Wirtschaft eingesetzten Ressourcen hervor. Allokativ kann aber auch positiv sein, dass Faktoren eingesetzt werden, die sonst zu den Preisen auf den offiziellen Märkten ohne Verwendung geblieben wären. Das ist bei Steuerhinterziehung (z.B. Handwerksleistungen ohne Rechnungen, Schwarzarbeit) ähnlich. Es kommt neben den offiziellen zu inoffiziellen Preisen, die zu verzerrten Entscheidungen führen. Auch wird durch Steuerhinterziehung die Verteilung in nicht durchschaubarer Weise verändert und die Genauigkeit makroökonomischer Statistiken, insbesondere der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, beeinflusst.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

483

Wenn durch Hinterziehung das Steueraufkommen sinkt, werden staatliche Leistungen geringer ausfallen und/oder zur Erzielung eines bestimmten Steueraufkommens größere Bemessungsgrundlagen gewählt und/oder höhere Tarife als bei Steuerehrlichkeit verlangt. Korrekte Steuerzahler werden daher mit höheren Sätzen belastet, um die fehlenden Abgaben der Steuerhinterzieher auszugleichen1. Sie werden auch mit den Kosten daraus belastet, dass der Staat Ressourcen einsetzt, um die Bereitschaft zur Hinterziehung zu verringern, ihr Ausmaß zu entdecken und zu bestrafen. Das Ausmaß der tatsächlichen Steuerhinterziehung ist unbekannt. Es liegen allenfalls Angaben über die Höhe der gerichtlich festgestellten Steuerhinterziehungsbeträge vor. Die Steuerhinterziehung ist auch deshalb so schwer feststellbar, weil Personen kaum Angaben über Gesetzesbrüche machen. Die allgegenwärtigen Kontrollen in verschiedensten Versionen belegen, wie hilflos im Grunde die Reaktionen auf dieses Phänomen sind. Hohe marginale Abgabensätze ziehen weitreichende Interventionen nach sich, die ständig durch neue Formen der Regulierung (staatliche Gebote, Verbote, Zulassungsbeschränkungen, Nachweise u.a.) perfektioniert werden. Das zeigt sich in Deutschland z.B. bei den amtlichen Versuchen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Das Abstimmungsverhalten und die Wirtschaftspolitik können durch die hinterziehungsgeprägte Verteilung der Steuerlast beeinflusst werden. Während ehrliche Steuerzahler u. U. gegen staatliche Maßnahmen stimmen würden, wenn die Steuerlasten die erwarteten Erträge übersteigen, werden Steuerhinterzieher in Wahlen für staatliche Leistungen stimmen: Sie tragen nichts zu ihrer Finanzierung bei und bekommen die Leistungen so gratis. 9. Transaktionskosten der Besteuerung

Oben wurden verschiedene Wohlstandseinbußen untersucht, die dadurch entstehen, dass Steuern einen „Keil“ zwischen die GRS und die GRT treiben. Die Effizienzkosten der Besteuerung wurden so aber nur unvollständig berücksichtigt. Hinzu kommen, wie Übersicht 15-1 zeigt, auch Transaktionskosten. Diese stellen, soweit es sich um Verwaltungskosten (Administration Costs) handelt, Wohlfahrtskosten dar, weil sie die verwendbaren Einnahmen des Staates verringern. Verwaltungskosten bringen aber noch nicht alle Kosten der Steuererhebung zum Ausdruck. Zuzurechnen sind die bei den Steuerzahlern anfallenden Kosten der Erfüllung ihrer Steuerpflicht (Compliance Costs): Zeit zum Lesen und Verstehen von Gesetzen und zum Ausfüllen von Steuerformularen, Heranziehen von Steuerberatern und Rechtsanwälten, Unsicherheiten über die Entscheidungen der Finanzverwaltung (z.B. Nichtanwendung von Urteilen des Bundesfinanzhofs, rückwirkende Änderung der Verwaltungspraxis), Überweisung der Steuern, aber auch psychische Kosten des Steuerwiderstandes. Die Effizienzeinbußen sind daher höher zu veranschlagen, wenn auch

1

Ein Teil der Steuerersparnis dürfte allerdings wieder für besteuerte Güter verwendet werden und so den Umfang des Steuerausfalls verringern.

Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

484

diese versteckten (Folge-)Kosten der Besteuerung berücksichtigt werden sollen. Sie erhöhen die Belastung der Besteuerten. Die gesamten Wohlfahrtseinbußen verschiedener Steuern müssen bekannt sein, wenn Steuern verglichen und diejenigen mit den geringsten Wohlfahrtseinbußen bestimmt werden sollen. Dies zeigt stark vereinfacht Abb. 15-25. Ohne Berücksichtigung der verschiedenen Wohlfahrtseinbußen der Besteuerung würde der optimale Budgetumfang bei A liegen. Bezieht man hingegen die Transaktionskosten der Besteuerung bei Staat und Belasteten ein, so liegt der optimale Umfang der Staatsausgaben bei B. Wenn sich auch die Mehrbelastungen erfassen lassen, verschiebt sich der optimale Umfang weiter auf C. Je nach Struktur und Höhe der Steuerbelastung kann es zu unterschiedlichen Optimalpunkten kommen. Abb. 15-25 Auswirkungen der verschiedenen Formen von Wohlfahrtseinbußen Grenzkosten, Grenzerträge staatl. Aktivität

gesamte Grenzkosten einschl. Transaktionskosten und Zusatzlasten

Grenzkosten einschl. Transaktionskosten direkte Grenzkosten der Besteuerung Grenzerträge der Ausgaben

C

B

A

Staatsausgaben, Steuern

Die mit den einzelnen Steuern verbundenen Transaktionskosten sind sehr unterschiedlich insgesamt und für die Mitglieder der jeweiligen Gruppen, die von einer Steuer belastet werden. Sie können unter Umständen die Wahl der Tätigkeit (z.B. selbständig zu werden) entscheiden oder dazu beitragen, dass Steuern durch Nichterklären ganz vermieden werden. Wie hoch sind die Transaktionskosten der Besteuerung? In einer Schätzung für das Jahr 1995 kommt das RWI bei fünf Steuern auf die in Tab. 15-2 enthaltenen Ergebnisse. Dabei zeigt sich, dass die Körperschaftsteuer besonders aufwändig war mit 10,5 % des Steueraufkommens.

15. Kapitel: Allokations- und Verteilungsanalyse

485

Tab. 15-2 Die Vollzugskosten der Steuererhebung

Umsatzsteuer Einkommensteuer Körperschaftsteuer Gewerbesteuer Kraftfahrzeugsteuer Insgesamt 1 2 3

Verwaltungskosten1 in Mrd. € in %1 0,6 0,5 3,6 2,2 0,5 5,0 0,3 1,2 0,2 2,9 5,2 1,6

Befolgungskosten2 in Mrd. € in %1 3 3,0 2,6 5,6 3,4 0,5 5,0 0,8 3,8 0,1 1,4 10,0 3,1

Abdiskontiert mit dem Tarifindex für Gebietskörperschaften. Opportunitätskostenansatz. Abdiskontiert mit dem durchschnittlichen Zuwachs der Lieferungen und Leistungen.

Vollzugskosten in Mrd. € in %1 3,8 3,1 9,3 5,7 1,0 10,5 1,0 5,0 0,3 4,3 15,2 4,7

Quelle: von Loeffelholz/Rappen (2003), S. 87; im Original in DM.

Literatur zum 15. Kapitel

Pohmer (1977, 214-232) gibt einen Überblick über Methoden und Wirkungen der Besteuerung; zu den Inzidenzbegriffe siehe ferner Krause-Junk (1981, §5). Die Preiseffekte der Steuern untersuchen in mikroökonomischer Betrachtung Musgrave (1969a, Kap. 9) und Schneider/Nachtkamp (1980); zu den Preiseffekten der Verbrauchsteuern bei der Verhaltensweise kurzfristiger Gewinnmaximierung siehe ferner Pollak (1980). Verschiedene Unternehmensziele diskutiert Herendeen (1975). Kritisch zum Begriff und Erkenntniswert der Überwälzung äußert sich Schneider (1982). Das KaldorModell skizziert Scherf (1998). Zur allokativen Wirkung allgemeiner und spezieller Steuern siehe Boadway/Wildasin (1984) und Musgrave (1969a). In Boadway/Wildasin (1984) wird auch das Harberger-Modell beschrieben. Eine Einführung in die allgemeine Gleichgewichtsanalyse geben Böhringer/Wiegard (2002) und Böhringer/Rutherford/Wiegard (2003). Die Wirkung von Steuern auf die privaten Haushalte und Unternehmen behandeln ferner Atkinson/Stiglitz (1980). Zu den Wirkungen auf das Arbeitsangebot mit empirischen Informationen über die Reaktionen u.a. auf steuerliche Daten siehe Franz (2005, 2. Kap.). Einen Überblick über und eine Würdigung der Theorie der optimalen Besteuerung geben Krause-Junk/von Oehsen (1982). Ferner sind Rose/Wenzel/Wiegard (1981, Teil III) und die Beiträge in Häuser (1983) zu empfehlen. Überblicke geben auch Richter/Wiegard (1993), Sandmo (1984), Stern (1984) und Auerbach (1985). Einen Überblick über theoretische Arbeiten zur Steuerhinterziehung geben Myles (1998) und Schneider/Enste (2000). Empirische Befunde und allgemeine Betrachtungen zur Steuerhinterziehung liefern Pommerehne/Weck-Hannemann (1993). Zur Steuerhinterziehung im Rahmen der Schattenwirtschaft siehe Feld/Schneider (2010). Zum Einfluss der Steuern auf die privaten Investitionen siehe Schneider (1980), Schneider/Nachtkamp (1980), Siegel (1982) und Siedenberg (1976); ferner Atkinson/Stiglitz

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Fünfter Teil: Theorie der Besteuerung

(1980) und Sumner (1983), die neoklassische Modelle auf der Grundlage von Jorgenson (1963) verwenden. Zu einer nicht nur finanzwirtschaftlichen Betrachtung siehe Folkers/Pech (1999). Transaktionskosten der Besteuerung untersuchen Raab (1995), von Loeffelholz/Rappen (2003) und Bennett/Brewer/Shaw (2009). Einen Überblick über Tax Compliance geben auch Andreoni/Erard/Feinstein (1998).

Sechster Teil Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen 16. Kapitel Die Einkommensteuer 1. Einleitung Die Einkommensteuer ist eine Abgabe, deren Steuergegenstand unmittelbar das Einkommen, eine personenbezogene Größe, ist. Bei ihr fallen Steuerquelle (aus der die Steuer zu zahlen ist), Steuergegenstand und (unter bestimmten Bedingungen) Steuerbemessungsgrundlage zusammen. Die Einkommensteuer ist fiskalisch bedeutsam. Sie gilt auch als ein finanzpolitisches Instrument, das zur Verwirklichung verteilungs- und stabilisierungspolitischer Zielsetzungen geeignet ist, mit dem man – wie kaum bei einer andere Steuer – den persönlichen Umständen der Besteuerten Rechnung tragen kann, eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit erlaubt und die meisten Haushalte trifft1. 2. Drei Einkommenskonzepte Von zentraler Bedeutung für die Einkommensteuer sind der Einkommensbegriff und die daraus abgeleitete Bemessungsgrundlage. Damit hängt die Frage nach der Länge der der Besteuerung zugrunde liegenden Einkommensperiode zusammen. Jede dieser Festlegungen, darunter die der Bemessungsgrundlage einer Steuer, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Unterschiedliche Ziele und unterschiedliche nationale und internationale Rahmenbedingungen schlagen sich in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer nieder. Bei einer weiten Definition des Einkommens und damit einer umfassenden Bemessungsgrundlage kann ein bestimmtes Steueraufkommen, so scheint es, mit geringeren Steuersätzen als bei einer engen Bemessungsgrundlage erzielt werden. Tatsächlich sind die Zusammenhänge komplizierter, weil die jeweiligen Bemessungsgrundlagen verschiedene Anreizwirkungen auslösen, nicht immer (technisch oder politisch) umzusetzen sind und sich mehr oder weniger gut kontrollieren lassen. Bei der Beurteilung einer Einkommensteuer ist es hilfreich, Maßstäbe zu haben. Diese liefern die drei Einkommenskonzepte der synthetischen Einkommensteuer, der Schedulensteuer und der Einkommensteuer vom Konsumtyp. Keines dieser Konzepte wurde bisher in Deutschland vollständig umgesetzt.

1

Aus der Theorie der quantitativen Wirtschaftspolitik ist bekannt, dass mit einem Instrument nicht gleichzeitig verschiedene Ziele erreicht werden können.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

488

a) Die synthetische Einkommensteuer Die synthetische Einkommensteuer fasst die verschiedenen Einkünfte in einer Bemessungsgrundlage zusammen und wendet darauf einen einheitlichen Tarif an. Nach Herkunft und Verwendung des Einkommens wird nicht differenziert. Der einheitliche Einkommensbegriff erfordert, dass alle Einkünfte gleich belastet werden müssen. Dem entspricht die Reinvermögenszugangstheorie, die das Einkommen umfassend definiert. Eine so konzipierte Abgabe wird auch als Einkommensteuer vom SHS-Typ bezeichnet (nach ihren historischen Befürwortern von Schanz, später Haig, Simons)1. Wenn das Einkommen in einer Periode t (Yt) der Betrag ist, der für Konsum verwendet werden kann, ohne das am Periodenanfang bestehende Vermögen zu vermindern2, lässt es sich als Reinvermögenszugang ([Vt) zwischen zwei Stichtagen zuzüglich Konsum bzw. Entnahmen (Ct) in der Einkommensperiode messen: (16-1)

Yt ) [Vt 9 C t

Die umfassende Einkommensdefinition (Comprehensive Income) hat den Vorteil, dass nicht geprüft werden muss, ob Einkünfte einmalig oder laufend sind und inwieweit bestimmte Beträge einzelnen Einkommensquellen zuzuordnen sind. So lassen sich z. B. nicht immer eindeutige Grenzen zwischen Kapitalgewinnen (= Vermögenswertzuwächsen) und anderen Vermögenserträgen ziehen. Allerdings lässt der Begriff des Einkommens als potenzieller Konsum ohne Verminderung des Vermögens die Frage der Kapitalerhaltung offen. Die Art der Kapitalerhaltung bestimmt, ob Kapitalgewinne zum Einkommen rechnen oder nicht. Der Idealtyp eines umfassend konzipierten synthetischen Welteinkommens gilt häufig als guter Indikator für die Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Sinne horizontaler Gerechtigkeit. Ferner wird horizontale Steuergerechtigkeit, d.h. eine formale Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen, dadurch gewährleistet, dass alle Einkommensformen zusammen zählen. Durch die breite Bemessungsgrundlage werden eher Diskriminierungen zwischen Wirtschaftssubjekten in weitgehend vergleichbaren ökonomischen Umständen und zwischen Faktoren vermieden. Auch für eine ggf. gewünschte vertikale Differenzierung erscheint eine Bemessungsgrundlage zweckmäßig, die selbst ein gutes Maß der relativen ökonomischen Position ist. Die umfassende Bemessungsgrundlage verspricht auch ein gewisses Maß an Neutralität, d.h. willkürliche Verzerrungen in der Allokation der Ressourcen lassen sich hierdurch gering halten. Das wird allerdings bei Einbeziehung des Sparens in die Bemessungsgrundlage auch anders gesehen. Bei einer breiten Bemessungsgrundlage scheint die Möglichkeit der Steuervermeidung geringer

1

2

In der Interpretation ihres Begründers von Schanz gilt als besteuerbares Einkommen alles, „was in einem bestimmten Zeitabschnitt einer Person derart zugeflossen ist, dass dieselbe darüber disponieren kann, ohne ihr bisheriges Vermögen selbst zu vermindern.“ Zum Einkommen rechnet er „alle Reinerträge und Nutzungen, geldwerte Leistungen Dritter, alle Geschenke, Erbschaften, Legate, Lotteriegewinne, Versicherungskapitalien, Versicherungsrenten, Konjunkturgewinne jeglicher Art“ abzüglich Schuldzinsen und Vermögensverluste (von Schanz 1896, S. 23/24) So lautet eine Definition von Hicks.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

489

zu sein1. Allerdings stellen sich der Realisierung dieser umfassenderen Definition Probleme der Zurechnung, der verwaltungsmäßigen Durchführung und der politischen Durchsetzbarkeit entgegen. Die zuvor beschriebenen Eigenschaften grenzen die Reinvermögenszugangstheorie gegenüber der Quellentheorie ab. Diese bildet zwar auch Einkommen als Summe verschiedener Einkommensformen, setzt aber für die Entstehung von Einkommen dauerhafte Einkommensquellen voraus: Arbeit für Arbeitseinkommen, Kapital für Kapitaleinkommen, ein Betrieb für Unternehmergewinne. Ferner wird die Forderung gestellt, dass die Einkünfte regelmäßig fließen. Aus gelegentlichen Verkäufen, Erbschaften, Lotteriegewinnen oder Wertänderungen der Einkommensquellen kann daher kein Einkommen erzielt werden. Der Begriff „Einkommen“ im Sinne der Quellentheorie ist eng mit dem der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung verbunden. Es ist allerdings nur schwer einzusehen, warum Einkommenselemente, die nicht aus dauernden Quellen fließen, grundsätzlich aus der Einkommensbesteuerung ausgeklammert sein sollen. Die Quellentheorie hat eine engere Bemessungsgrundlage als die Reinvermögenszugangstheorie; beide knüpfen (im Gegensatz zur Schedulensteuer) am – wenn auch unterschiedlich abgegrenzten – Einkommen als Gesamtgröße an. Die Quellentheorie hat den Vorteil, dass nur die regelmäßig fließenden Quellen bekannt sein müssen, um den Einkommensstrom zu kontrollieren. Der engere Einkommensbegriff begünstigt aber diejenigen, die nicht besteuerte Einkommensformen wählen können. Historisch ist von Interesse, dass beide Theorien bereits im deutschen Einkommensteuerrecht ihren Niederschlag gefunden haben. So stützte sich das Preußische Einkommensteuergesetz von 1891 auf die Quellentheorie, das deutsche Einkommensteuergesetz von 1920 auf die Reinvermögenszugangstheorie.

Die Praxis der deutschen Einkommensteuer folgte bis 2008 zumindest prinzipiell der Reinvermögenszugangstheorie, von der insbesondere angenommen wird, dass sie besser die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen erfasst als die Quellentheorie. Es lagen aber auch schon Elemente der Quellentheorie, der Schedulensteuer und der Einkommensteuer vom Konsumtyp vor. International ist zwar häufig eine Orientierung an der Einkommensteuer vom SHS-Typ erkennbar, allerdings findet ebenfalls verstärkt eine Entwicklung zur Schedulensteuer statt. Sie zeigt sich in Deutschland seit 2009 insbesondere mit der Einführung der Abgeltungsteuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen, wodurch de facto eine Duale Einkommensteuer vorliegt.

1

Wegen dieser Wirkung befürworten Brennan/Buchanan (1980) gerade Steuern mit enger Bemessungsgrundlage. Sie würden stärkere Möglichkeiten der Steuerausweichung eröffnen und so nach ihrer Meinung den Zugriff des Staates beschränken und zur Begrenzung der staatlichen Aktivität beitragen.

490

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

b) Die Schedulensteuer, insbesondere Duale Einkommensteuer Knüpft man an den einzelnen Einkünften an (daher auch analytische Einkommensteuer genannt) und sieht davon ab, sie zu einem steuerpflichtigen Gesamteinkommen zusammenzufassen, liegt eine Schedulensteuer vor. Diese Form der Einkommensteuer unterteilt grundsätzlich nach der Herkunft und damit nach Art der Einkommensströme. Für jede Einkommensart wird eine Bemessungsgrundlage ermittelt und gesondert besteuert, eine Gesamtgröße „Einkommen“ ist irrelevant und wird nicht mehr berechnet. Eine Schedulensteuer ist die schon bisher in den skandinavischen Ländern verwendete Duale Einkommensteuer. Sie behandelt die beiden Einkommensteile Kapitaleinkommen und übrige Einkommen – gesondert und wendet bei den Kapitaleinkommen einen niedrigeren Steuersatz an. Auch in Deutschland werden Kapitaleinkommen einer Abgeltungsteuer1 mit niedrigerem Steuersatz unterworfen. Eine Absenkung auf null würde zu einer konsumorientierten Besteuerung führen. Während die synthetische Einkommensbesteuerung eher auf die Gewährleistung einer horizontalen Gerechtigkeit zielt – gleiche Einkommen werden unabhängig von ihrer Herkunft und Verwendung gleich besteuert –, kann eine systematische Schedulensteuer aufgrund ihrer Flexibilität dem Effizienzziel besser Rechnung tragen (Sachverständigenrat 2003, Tz. 534) und auch Verwaltungsvorteile (Kontrolle) bringen. Es lässt sich besser darauf reagieren, dass hohe Steuersätze auf mobile Faktoren insbesondere international zur Steuerausweichung, z.B. durch Verlagerung des Investitionsstandorts in Länder mit niedrigerer Belastung der Kapitaleinkommen führen. Eine moderate Besteuerung der Kapitaleinkommen könnte die Neigung zur Steuergestaltung und -flucht reduzieren2. Die im Vergleich zur synthetischen Einkommensteuer größere Flexibilität der Schedulensteuer ist bei Zugrundelegung der Leviathanhypothese auch negativ zu bewerten. Als vereinbar mit der Schedulensteuer wird eine differenzierende Belastung der Arbeits- (Earned) und Kapitaleinkommen (Unearned Income) gesehen3. Die Differenzierung ist über unterschiedliche Steuersätze oder durch unterschiedliche Freibeträge bei den einzelnen Einkommensarten zu erreichen. Mit der Schedulensteuer kann unterschiedlichen Faktorelastizitäten Rechnung getragen werden. Allerdings ist die Grenze zwischen den Einkommensarten insbesondere bei den Selbständigen schwer zu ziehen, deren Einkommen teilweise beiden Kategorien zuzurechnen ist (Arbeitsleistung und Verzinsung des eingesetzten Kapitals). Gelingt diese Abgrenzung jedoch, scheinen die Veranlagungskosten bei einer proportionalen Belastung der Kapitaleinkommen als Quellensteuer und einer ggf. nichtproportionalen Lohnsteuer durch Lohnsteuerabzug geringer (als bei der bisherigen Einkommensteuer) zu sein. Auf die Erhebung einer separaten Quellensteuer auf Dividenden und Gewinnanteile kann verzichtet werden, wenn der Körperschaftsteuersatz mit dem Proportionalsatz auf die Kapitaleinkünfte 1 2 3

Bzw. Quellenlandbesteuerung (vgl. das 21. Kapitel). Eine Differenzierung widerspräche der synthetischen Besteuerung. Während historisch gesehen es eher als gerechtfertigt galt, Unearned Income als Indikator höherer Leistungsfähigkeit stärker zu besteuern, wird bei der Dualen Einkommensteuer moderner Prägung genau umgekehrt verfahren.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

491

zusammenfällt und daher die Gewinnausschüttungen bereits durch die Körperschaftsteuer endbesteuert sind. Misslingt die Abgrenzung, werden Einkommensteile nicht oder doppelt erfasst, so dass Substitutionseffekte ausgelöst werden können. Eine die verschiedenen Einkommensarten gesondert und unterschiedlich treffende Abgabe erlaubt keine Belastung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit. Zwei Bürger mit gleich hohem Gesamteinkommen werden nur dann gleich hoch besteuert, wenn die Einkommensteile – ohne Freibeträge – dem gleichen proportionalen Tarif unterliegen. Auch lässt sich eine am Einkommen ausgerichtete Verteilungspolitik mit dieser Grundlage schwer abstimmen. c) Die konsumorientierte Einkommensteuer Eine weitere Alternative zum Einkommen im Sinne der Reinvermögenszugangstheorie wird in den Konsumausgaben gesehen. Bei dem Vorschlag einer konsumorientierten Einkommensteuer (oder Ausgabensteuer) handelt es sich eigentlich um keine Einkommensteuer, denn es wird nur auf eine bestimmte Einkommensverwendung (Konsum) abgestellt. Wenn die Steuer auf die Leistungsfähigkeit ausgerichtet sein soll, legt sie anstelle des umfassend definierten Einkommens den Konsum als Indikator zugrunde1. Einkommen (einschließlich Vermögenswertsteigerungen) bleiben steuerfrei, wenn sie nicht verausgabt werden. Das Konzept der Ausgabensteuer hat in der Theorie größere Bedeutung erlangt, kommt aber in entwickelten Volkswirtschaften selten als Konzept zur Anwendung. Begründet wird die Ausgabensteuer vor allem mit der intertemporalen Neutralität bei den Investitions- und Konsumentscheidungen. Die bei der umfassenden Einkommensteuer auftretende verzerrende Belastung des Sparens soll vermieden werden. Zur konsumorientierten Einkommensteuer gelangt man, indem S das Sparen steuerfrei gestellt wird (sog. Sparbereinigung) oder S Zinserträge, Dividenden und Kapitalgewinne in Höhe einer gesetzlichen Standardverzinsung unbesteuert belassen werden (sog. Zinsbereinigung). Insofern geht die konsumorientierte Einkommensteuer weiter als die Duale Einkommensteuer, die Kapitaleinkommen besteuern will, wenn auch mit eigenem Tarif. Insbesondere die Anhänger der synthetischen Einkommensteuer sehen die Bemessungsgrundlage der Ausgabensteuer als zu eng an, weil für sie das Einkommen als der geeignete Indikator der Leistungsfähigkeit gilt. Tatsächlich hat die deutsche Einkommensteuer u.a. mit der nachgelagerten Besteuerung bei der Alterssicherung Elemente der Konsumsteuer.

1

Bei der Konsumsteuer wird eine Besteuerung der Leistungsfähigkeit dann als erfüllt angesehen, wenn Personen mit gleichem Konsum die gleichen Steuern zu zahlen haben, Personen mit höherem Konsum stärker belastet werden.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

3. Merkmale einer Einkommensteuer vom SHS-Typ und ihre Umsetzung in der deutschen Einkommensteuer Die Idealform der Einkommensteuer vom SHS-Typ weist einige Merkmale auf, die in der Literatur und/oder in der Praxis als bedeutsam für diese Form der Einkommensteuer genannt werden: S Die Einkommensteuer ist synthetisch, sie bezieht sich auf das Gesamteinkommen, das als Indikator der Leistungsfähigkeit gilt. S Das Einkommen ist eine Nettogröße. S Die Einkommensteuer differenziert nicht nach den Quellen, aus denen sie fließt, und nach den Bedingungen der Einkommenserzielung und -verwendung. S Der Einkommensteuer liegen die tatsächlich erzielten Einkommen zugrunde. Gegen diese Prinzipien wird bei der deutschen Einkommensteuer teils so massiv verstoßen, dass de facto die Grenze zu den beiden anderen Typen von Einkommensteuern fließend war. a) Gesamteinkommen als Gegenstand der Einkommensbesteuerung Einkommen soll die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zum Ausdruck bringen1 und so (horizontale) Steuergerechtigkeit verwirklichen helfen. Aus dieser normativen Feststellung wird abgeleitet, dass Personen mit gleichem (Gesamt-) Einkommen auch die gleiche Steuerlast zu tragen haben. Verlangt wird also eine aus allen Einkommensformen bestimmte Gesamtgröße, die das steuerpflichtige Einkommen (synthetisch) als Summe der positiven und negativen Einkünfte definiert. Teileinkommen gelten nicht als Indikator der Leistungsfähigkeit und erlauben auch keine nach der Höhe des (Gesamt-) Einkommens differenzierende Behandlung. Bei rein proportionalem Tarif und einheitlichem Steuersatz ist es ohne Bedeutung, ob die Teileinkommen gesondert oder ob das Gesamteinkommen belastet werden. Allerdings muss zur Besteuerung von Teileinkommen das Abgrenzungsproblem gelöst werden. Die deutsche Einkommensteuer legt nicht das Gesamteinkommen zugrunde, weil das „zu versteuernde Einkommen“ die durch die Abgeltungsteuer belasteten Einkünfte aus Kapitalvermögen in der Regel ausschließt. Ferner wird eine einheitliche Bemessungsgrundlage „Gesamteinkommen“ durch eine umfassende Nichteinnahmenregel, unterschiedliche Einkommensermittlungsmethoden, weitere Sonderbehandlungen einzelner Einkunftsarten und infolge von Doppelbesteuerungsabkommen sowie durch Sondertarife (ermäßigte Steuersätze) durchbrochen. Auch weist die teilweise Freistellung des Sparens in die Richtung einer konsumorientierten Einkommensteuer. Die Abgeltungsteuer für Einkünfte aus Kapitalvermögen ist eine Abkehr von der syntheti1

„In der Einkommensteuer läßt sich wie kaum in einer anderen Steuer das Prinzip der Steuergerechtigkeit verwirklichen, jeden Bürger nach Maßgabe seiner finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Steuern zu belasten“ (Bundesrat 1973, S. 211/212). Ähnliche Äußerungen lassen sich im Zusammenhang mit fast jeder Änderung des Einkommensteuerrechts finden.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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schen Besteuerung des Gesamteinkommens zur analytischen Besteuerung von Teileinkünften. b) Einkommen als Nettogröße Grundsätzlich besteht Übereinstimmung darüber, dass Einkommen eine Nettogröße ist. Das trifft auf Einnahmen oder Einzahlungen nicht zu. Einkommen ergibt sich erst nach Abzug der Kosten der Einkommenserzielung, es ist eine rechnerische Größe. Eines der größten Probleme bei der Einkommensermittlung in der Praxis ist daher die Abgrenzung zwischen Einkommen(sverwendung) und Kosten der Einkommenserzielung. Auch gegen diese Norm wird verstoßen, wenn im Zusammenhang mit der Einkommenserzielung anfallende Zinsen nicht (vollständig) abgezogen werden dürfen („Zinsschranke“). c) Keine Differenzierung nach Quellen und Bedingungen der Einkommenserzielung und nach Formen der Einkommensverwendung Bei der synthetischen Besteuerung wird das Einkommen unabhängig von der Zusammensetzung und den Bedingungen seiner Erzielung als Ausdruck der Leistungsfähigkeit gesehen. Dies ist eine unter Praktikabilitätsgesichtspunkten (Nachprüfbarkeit steuerrelevanter Angaben) erforderliche Konvention, durch die nur auf den realisierten Mittelerwerb abgestellt wird. Sie ist aber unter dem Aspekt horizontaler Gleichbehandlung nicht unproblematisch1. Faktisch bestehen unterschiedliche Einkommensermittlungsmethoden, die die Einkünfte mehr oder weniger vollständig erfassen, zahlreiche Einnahmen sind von der Steuer befreit und es bestehen verschiedene Sonderbestimmungen (z.B. begünstigte Nachtarbeitszuschläge). Da die Steuer an der Einkommenserzielung anknüpfen soll, spielt die Einkommensverwendung grundsätzlich keine Rolle. Es ist also für das zu versteuernde Einkommen unerheblich, ob konsumiert oder gespart wird. Die Abgabe „ist unabhängig von individuellen Präferenzen, Erwartungen und Dispositionen im Bereich der Einkommensverwendung der von der Steuer betroffenen Pflichtigen“ (Ebnet 1978, S. 35). In der Praxis wird auch hiergegen verstoßen, wie die unterschiedliche Behandlung des Sparens zeigt.

1

„Im Prinzip behandelt das Einkommensteuergesetz alle Einkünfte gleich, nimmt es insbesondere keine Rücksicht darauf, ob die Einkünfte mit mehr oder weniger Begabung, Intelligenz, Talent, Vitalität, Willens- oder Gestaltungskraft, Phantasie etc., kurzum: mit mehr oder weniger Arbeitsleid, zustande gekommen sind, auch nicht darauf, unter welchen außerhalb der Sphäre des Steuerpflichtigen liegenden wirtschaftlichen und rechtlichen Sonderbedingungen die Einkünfte erzielt worden sind“ (Tipke 1978, S. 189).

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

d) Besteuerung des Ist-Einkommens Grundsätzlich soll die Einkommensteuer auf die in der Vergangenheit erzielten („Ist“-) Einkommen abstellen, auf die tatsächlich erzielten Ergebnisse also („Realisationsprinzip“), und nicht auf Potenzialgrößen. Im Gegensatz hierzu sind Soll-Steuern auf fiktive Größen ausgerichtet. In einigen Fällen können Normen oder Richtwerte zur Reduzierung von Transaktionskosten führen. So wird der Grundsatz der Besteuerung des IstEinkommens beispielsweise bei den landwirtschaftlichen Einkünften oder durch Einschränkung des Verlustausgleichs durchbrochen. e) Die Einkommensperiode Grundsätzlich ist die Festlegung jeder Periode willkürlich, für die das Einkommen berechnet wird. Es lassen sich stets andere Perioden wählen und rechtfertigen. Für manche Zwecke mag die Periode eines Jahres zu lang sein. In anderen Fällen reicht das Jahr nicht aus, so insbesondere bei kurzfristig stark schwankenden Einkommen(steilen), aber auch hinsichtlich der unterschiedlichen Lebenseinkommensprofile. Gründe für Einkommensschwankungen sind Krankheit, Arbeitslosigkeit, mit dem Erwerb verbundene Risiken u.ä. Je kürzer die Einkommensperiode ist, desto wichtiger sind transitorische Einkommen. Auch über den Lebenszyklus schwanken Einkommen, in dem sie nur einen kleinen Ausschnitt bilden. Für die Beurteilung des Einkommens innerhalb gleicher und zwischen den Generationen ist auch die Erwerbstätigkeitsdauer bedeutsam, die je nach Ausbildung, Schulung, Freizeit usw. unterschiedlich ist.

In Deutschland wird aus praktischen Gründen die Abschnittsbesteuerung durchgeführt, die grundsätzlich auf die Periode eines Jahres abstellt („Periodizitätsprinzip“). Das deutsche Einkommensteuerrecht sieht nicht vor, die Einkommensperiode generell über ein Jahr hinaus auszudehnen und unterschiedlichen Lebenserwerbs-, insbesondere Arbeitszeiten Rechnung zu tragen. Für einkommensteuerliche Zwecke ist die Frage der Einkommensperiode dann von geringer Bedeutung, wenn im Zeitablauf ein konstanter Grenzsteuersatz vorliegt und die Freibeträge gering sind. Bei direkt progressiven Tarifen verschlechtert sich hingegen die relative Position der Steuerpflichtigen um so mehr, je stärker ihre Einkommen schwanken. Um diese Wirkung zu mildern, werden verschiedene mehr oder weniger weitreichende Vorschläge gemacht und praktiziert: S intertemporaler Verlustausgleich; S Verteilung einmaliger Einnahmen auf mehrere Jahre; S ermäßigte Besteuerung einmaliger Einnahmen oder ihre Belastung (allein) durch eine Sondersteuer; S Durchschnittsbesteuerung über mehrere Jahre (generell oder nur, wenn sich das Einkommen gegenüber dem Vorjahr um einen bestimmten Prozentsatz – beispielsweise 20 % - verändert); S Lebenseinkommensbesteuerung.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

495

Die ersten drei Verfahren sollen die Spitzenbelastungen einzelner Jahre mildern, die letzteren beiden sind umfassender angelegt. Der intertemporale Verlustausgleich ist im Einkommensteuerrecht vorgesehen; die Verteilung einmaliger Einnahmen ist nur in Sonderfällen (z.B. bei Lohnnachzahlung für mehrere Jahre) möglich; der Belastung durch Sondersteuern unterliegen Erbschaften und Schenkungen. Die Durchschnitts- und die Lebenseinkommensbesteuerung dehnen die Einkommensperiode eines Jahres auf mehrere Jahre aus. Da die Lebens- und die Einkommenserwartung des Einzelnen nicht feststehen, werden jeweils ex post neben dem laufenden Einkommensjahr die vorangegangenen Einkommensjahre in die Berechnung des gesamten steuerpflichtigen Einkommens und der Steuerschuld einbezogen. Dieses Verfahren kann sich auf mehrere Jahre erstrecken oder bis zum Tode fortgeführt werden. Dabei ist es zweckmäßig, auf das Personen- und nicht auf das Haushaltseinkommen wegen der fehlenden Kontinuität der Haushaltsgröße aufgrund von Eheschließung, Kindern, Scheidung und Tod abzustellen. Hier könnte mit Lebensabschnitten und fiktiven Teileinkommen (etwa analog dem Splitting) gerechnet werden. Probleme ergeben sich auch, wenn die Steuerpflicht nicht kontinuierlich in Deutschland bestanden hat. Unterschiedliche Lebensdauer, Verzinsungsfragen und Änderungen des Steuerrechts komplizieren das Verfahren weiter. Ferner führt jede Ausdehnung der Steuerperiode und damit Einbeziehung vergangener Steuerjahre dazu, dass ein Steuerpflichtiger die Berechnung der Einkommensteuer noch weniger nachvollziehen kann, als dies schon bei einer Jahressteuer der Fall ist. Hinzu kommen die Schwierigkeiten für die Steuerverwaltung. Schließlich ist fraglich, ob die Ausdehnung der Einkommensperiode zweckmäßig ist, wenn sie nicht auch für die empfangenen Transfers erfolgt. 4. Die Berechnung des steuerpflichtigen Einkommens in der deutschen Einkommensteuer a) Das Verfahren Im deutschen Einkommensteuerrecht wird das zu versteuernde Einkommen unter Verwendung verschiedener Hilfskonstruktionen (wie „Einkünfte“ und „Einnahmen“) ermittelt. Der Rechengang ist kompliziert. Im Einzelnen wird aufgezählt, was zum Einkommen rechnet und was nicht. Die Einkommensteuer ist eine Jahressteuer. Ausgangspunkt der Berechnung des zu versteuernden Einkommens sind die aus verschiedenen Quellen stammenden Einkünfte des Steuerpflichtigen1 (vgl. Übersicht 16-1). Mit dem Begriff der Einkünfte wird an die Quellentheorie angeknüpft; die Art der zu berücksichtigenden Einkünfte, teilweise ihre Berechnung und die Zusammenfassung weisen Aspekte der Reinvermögenszugangtheorie auf. Die Einbeziehung der 1

Der Einkommensbesteuerung unterliegt die natürliche Person. Sie ist unbeschränkt steuerpflichtig, wenn sie in Deutschland wohnt oder zumindest während des überwiegenden Teils des Jahres ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Wer seinen Lebensmittelpunkt und gewöhnlichen Aufenthalt überwiegend im Ausland hat, ist in Deutschland nur beschränkt steuerpflichtig. Er hat lediglich seine Inlandseinkünfte in Deutschland zu versteuern.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

496

Übersicht 16-1 Die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens und der Steuerschuld Gewinneinkunftsarten

I H F

Überschusseinkunftsarten

I H F

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft Einkünfte aus Gewerbebetrieb Einkünfte aus selbständiger Arbeit Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit Einkünfte aus Kapitalvermögen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung Sonstige Einkünfte

Summe der Einkünfte aus den Einkunftsarten + nachzuversteuernder Betrag + Hinzurechnungsbetrag . /. ausländische Verluste bei Doppelbesteuerungsabkommen Summe der Einkünfte . /. Altersentlastungbetrag . /. Entlastungsbetrag für Alleinerziehende Gesamtbetrag der Einkünfte . /. Sonderausgaben . /. außergewöhnliche Belastungen . /. Verlustabzug Einkommen . /. Kinderfreibetrag Zu versteuerndes Einkommen ; Steuertarif (Grundtabelle, Splittingtabelle) ; Tarifliche Einkommensteuer +/- Korrekturen (Steuerermäßigungen, Nachsteuer) Festzusetzende Einkommensteuer

„sonstigen Einkünfte“ erweckt den Eindruck einer offenen Restkategorie. Tatsächlich werden hier abschließend exakt abgegrenzte Einkünfte (z.B. Renten) aufgezählt. Die einzelnen Einkünfte können positiv oder negativ (Verluste) sein. Verluste bei einer Einkommensart können innerhalb derselben Einkunftsart und weitgehend1 mit anderen positiven Einkünften desselben Kalenderjahres verrechnet werden (innerperiodischer Verlustausgleich). Die Einkünfte werden nach einigen Korrekturen als Summe der Einkünfte in einem globalen Einkommensmaß zusammengefasst. Es schließt grundsätzlich die Gesamteinkünfte eines Steuerpflichtigen aus dem In- und Ausland ein (Welteinkommensprinzip). Hierbei finden spezielle Regelungen zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung Anwendung2. 1 2

Verluste aus Spekulationsgeschäften dürfen nur bis zur Höhe der im gleichen Jahr erzielten Spekulationsgewinne und nicht mit anderen Einkunftsarten ausgeglichen werden. Beispielsweise Doppelbesteuerungsabkommen, Anrechnung ausländischer Steuern; s. hierzu das 21. Kapitel.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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Mit der Summe der Einkünfte beginnt der weitere Rechengang. Zieht man den Altersentlastungsbetrag1 und weitere Positionen ab, gelangt man zum Gesamtbetrag der Einkünfte. Der Gesamtbetrag der Einkünfte bildet, vermindert um Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen und Verlustabzug2, das Einkommen im Sinne des Einkommensteuergesetzes. Nach Abzug weiterer Beträge wie Kinderfreibeträge, Haushaltsfreibetrag ergibt sich das zu versteuernde Einkommen, das die Bemessungsgrundlage für die tarifliche Einkommensteuer ist. Von der tariflichen Einkommensteuer gelangt man, insbesondere nach Abzug bestimmter Steuerermäßigungen, zur festzusetzenden Einkommensteuer. b) Was nicht zum Einkommen rechnet Allein in § 3 EStG werden in 69 Unterpunkten steuerfreie Einnahmen aufgeführt3. Quantitativ bedeutsam ist die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertagsund Nachtarbeit. Sie diskriminiert etwa zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen in vergleichbaren Tätigkeiten (z.B. angestellte und selbständige Hebammen oder Taxifahrer). Eine solche Steuervergünstigung lässt sich weder für einzelne Gruppen noch allgemein begründen. Im Katalog der Einkünfte werden zudem bei den abschließend aufgeführten „sonstigen Einkünften“ unter anderem Vermögenszuwächse durch Gewinne aus Glücksspielen und Kapitalgewinne aus dem Verkauf bestimmter Vermögensanlagen und Wertgegenstände außerhalb der Spekulationsfrist nicht eingeschlossen. c) Die Ermittlung der Einkünfte Einkünfte können nur in den sieben aufgeführten Einkunftsarten bestehen. Die Ermittlung der ersten drei unterscheidet sich grundsätzlich von der der übrigen vier Einkunftsarten. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit werden als Gewinn bezeichnet. Hierbei handelt es sich um den Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen (Betriebsvermögensvergleich). Einkommensteuerpflichtig sind grundsätzlich nicht die Betriebe, sondern ihre Eigentümer (Ausnahme: bei Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit unterstellt der Gesetzgeber, dass sie eigenes Einkommen haben können und unterwirft sie der Körperschaftsteuer).

1 2 3

Hier wird bei über 64 Jahre alten Steuerpflichtigen ein Abzug für andere Einkünfte als solche aus Renten oder Pensionen gewährt, der bis 2040 (!) stufenweise abgebaut wird. Verlustabzug (= Verlustvortrag bzw. betragsmäßig begrenzter Verlustrücktrag) mit denselben Einschränkungen wie beim Verlustausgleich. Gelegentlich wird eine Position abgeschafft, wie die steuer- und versicherungsfreie Bergmannsprämie, die mit der Schwierigkeit der Tätigkeit (und mit wirtschaftspolitischen Gründen) gerechtfertigt wurde.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Steuerpflichtige, die nicht zur Führung von Büchern verpflichtet sind und auch keine Bücher führen, können als Gewinn den Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ansetzen. Das gilt insbesondere für Angehörige freier Berufe, Gewerbetreibende und Handwerker, bei denen das Betriebsvermögen gering ist und nicht wesentlichen Schwankungen unterliegt. In bestimmten Fällen wird der Gewinn auch nach Durchschnittssätzen berechnet oder geschätzt. So wird zum Beispiel der Gewinn der Land- und Forstwirtschaft vor allem als Prozentsatz der Einheitswerte festgelegt.

Zentrale Probleme bei der Gewinnermittlung sind die Vermögensbewertung, die Berechnung der Abschreibungen (= Absetzung für Abnutzung, Afa) und die Abgrenzung der Ausgaben zur Erzielung von Einkünften (bei den Gewinneinkunftsarten als „Betriebsausgaben“ bezeichnet) gegenüber den Entnahmen (= Einkommensverwendungen). Betriebsausgaben sind als Aufwendungen definiert, die durch den Betrieb veranlasst werden. Ebenso wie bei den Einkünften 4-7 lässt sich im einzelnen schwer feststellen, welche Ausgaben der Einkommenserzielung und welche der privaten Lebenshaltung zuzurechnen sind. Hierauf wird im Zusammenhang mit den Kosten der Erzielung der Einkünfte 4-7 („Werbungskosten“) eingegangen. Einkommen der ersten drei Einkunftsarten setzt Kapitalerhaltung voraus. Hierzu muss zunächst einmal das Vermögen abgegrenzt werden. Es wird üblicherweise auf dauerhaftes betriebliches Sachvermögen beschränkt1. Dann muss den Wertminderungen des Betriebsvermögens infolge von Abnutzung oder Überalterung durch Abschreibungen Rechnung getragen werden. Durch Berücksichtigung der Abschreibungen soll also gewährleistet werden, dass Einnahmen, die lediglich der Wiedergewinnung des investierten Kapitals dienen, nicht besteuert werden. Hierbei geht es nicht um eine Frage der Abgrenzung der Betriebsausgaben gegenüber den Aufwendungen für die Lebenshaltung, sondern um die einer periodengerechten Verteilung des Kapitalverbrauchs. Vorgezogene steuerliche Abschreibungen sind dem Wesen nach im Rahmen der Einkommensteuer ein Darlehen des Staates, ihnen stehen in späteren Jahren entsprechend niedrigere Abschreibungen gegenüber. Nichtproportionale Tarife bewirken neben Zins- und Liquiditätswirkungen weitere Belastungsdifferenzen. Nur unter bestimmten Bedingungen - Zinssatz von null, proportionale Besteuerung, unbegrenzte Lebenszeit - ist die Periodisierung ohne Bedeutung. Ferner stellt sich die Frage, ob das Kapital real (= unter Berücksichtigung der Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus, nicht des speziellen für die eingesetzten Investitionsgüter) oder nominell erhalten werden soll. Auch hier gilt, dass unter der Bedingung der Gleichbehandlung bei einer Entscheidung für die reale Kapitalerhaltung letztlich das Nominalwertprinzip generell aufgegeben werden muss.

1

Die Beschränkung des abschreibungsfähigen Vermögens (weitgehend) auf dauerhafte Sachgüter der Unternehmen bedeutet, dass andere Güter mit Investitionscharakter (z.B. Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Bildung von Humanvermögen) nicht aktiviert und als laufender Aufwand praktisch sofort abgeschrieben werden.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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Das bei den Einkünften 1 bis 3 angewandte Verfahren zur Gewinnermittlung wird nicht bei den übrigen Einkünften eingesetzt. Um festzustellen, was einem Wirtschaftssubjekt in der Periode an Werten zugeflossen ist, müsste nämlich auch hier am Ende jeden Jahres das Vermögen des Steuerpflichtigen ermittelt und bewertet werden. Einfachheit und Praktikabilität sprechen dagegen, auch das Haushaltsvermögen zur Bemessung der Steuer heranzuziehen. Die Einkünften 4-7 werden daher nicht über den Vermögensvergleich berechnet. Als Einkünfte dieser Gruppen gilt der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Einnahmen sind alle Güter, die in Geld oder Geldeswert bestehen und dem Steuerpflichtigen im Rahmen einer Einkunftsart 4-7 zufließen. Ein „Gestaltungsprivileg“ ist beim „Zufließen“ im Gegensatz zur Gewinnermittlung weitgehend ausgeschlossen. Werbungskosten im Sinne des EStG sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Als solche steuerlich anerkannt werden z.B. Aufwendungen für Berufskleidung, Beiträge zu Berufsverbänden, Fachliteratur oder notwendige Mehraufwendungen eines Arbeitnehmers aus Anlass einer doppelten Haushaltsführung. Stets muss ein klarer Zusammenhang der Ausgaben mit der jeweiligen Einkunftsart vorliegen, daher können Werbungskosten nur auf einzelne Einkunftsarten bezogen und dort jeweils als Kosten der Einkunftserzielung abgesetzt werden. In vielen Fällen ist allerdings die Abgrenzung zu den Ausgaben für die Lebenshaltung fließend. So kann ein Kfz beispielsweise zum persönlichen Vergnügen für die Freizeit oder für berufliche oder geschäftliche Zwecke verwendet werden. Anders formuliert: Ausgaben hierfür können ein Endprodukt oder ein Zwischenprodukt sein, das weitere Aktivitäten induziert oder erst ermöglicht. Theoretisch dürften Ausgaben dann nicht als Werbungskosten oder Betriebsausgaben anerkannt werden, wenn sie auch bei Wegfall des Erwerbszieles überhaupt und in der vorliegenden Höhe getätigt würden (beispielsweise dann, wenn das Wirtschaftssubjekt den gleichen Lebensstandard erreichen soll und kein Erwerbseinkommen zu erzielen braucht, weil es Transfers erhält). Da dies in der Praxis meist nicht feststellbar ist, werden konkrete Abgrenzungen für steuerlich anzuerkennende Werbungskosten festgelegt, wobei auch andere, meist fiskalische Zielsetzungen einfließen. Die starken Unterschiede in der Anerkennungspraxis von Kosten der Einkommenserzielung national und international sind u.a. Ausdruck der Unsicherheit in diesem Bereich, spiegeln aber auch wechselnde Zielsetzungen wider. So zählen Fahrtkosten in den USA und in Großbritannien zu den Ausgaben der Lebenshaltung, sind also steuerlich nicht abzugsfähig. Begründet wird dies mit der Feststellung, Arbeit beginne erst an der Arbeitsstätte. Die Wahl des Wohnsitzes stelle folglich eine Konsumentscheidung dar1. Anhänger des Werktorprinzips gehen davon aus, dass die Wohnortentscheidung der Arbeitsplatzentscheidung folgt. Die Wahl zwischen Stadt/Land und verschiedenen Entfernungen ist dann Teil der Konsumentscheidung. Allerdings ersetzt der typische Pendler aus ländlichen Räumen mit der Fahrt keine steuerpflichtige Marktproduktion durch steuerfreie

1

Dagegen spricht, dass u.a in Deutschland die Fahrt zur Arbeitsstätte arbeitsrechtlich vom Staat unter Arbeits- und Unfallversicherungsschutz gestellt ist.

500

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Haushaltsproduktion. Die Entfernung ist nicht freizeitneutral, d.h. das Pendeln geht allein zu Lasten der Freizeit. Die Arbeitszeit ist hier völlig unelastisch1. Bei Anerkennung als Werbungskosten können grundsätzlich die tatsächlich entstandenen oder nur die notwendigen Mindestaufwendungen abzugsfähig sein. Wenn man am billigsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Arbeitsplatz gelangen kann, stellen deren Kosten den Mindestabzugsbetrag dar. Ist aber die Vernachlässigung der Zeitkosten gerechtfertigt, die meist bei öffentlichen Verkehrsmitteln höher sind? Bei Benutzung des eigenen Autos sind die tatsächlichen höher als die anerkannten Kosten. So durften pro Entfernungskilometer mehrfach geänderte Beträge abgezogen werden, die unter den tatsächlichen Kosten der Kraftfahrzeugnutzung lagen. Die Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten führt zu einer Gleichbehandlung mit den Betriebsausgaben, eine Begrenzung z.B. auf die Kosten der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wird fiskalisch, verkehrs- und umweltpolitisch begründet2. Die zurzeit bestehende verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale soll Anreize zum Verzicht auf umweltbelastende Verkehrsmittel geben, sie verstößt – wie frühere Ausgestaltungen – gegen den Sinn der Werbungskosten und damit gegen das Prinzip der Ist-Steuer. Jede Regelung ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses, bei dem systematische Erwägungen meist keine Rolle spielen. Das gilt selbst dann, wenn man wie hier eine typisierende Vereinfachung für erforderlich hält.

Die Abzugsfähigkeit als Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben stimuliert die Nachfrage nach solchen Ausgaben, die privaten Verbrauch darstellen, aber abzugsfähig sind. Der Preis solcher Güter steigt daher im Vergleich zu anderen Konsumgütern. Ferner nimmt der Preis des Gutes im Vergleich zu anderen Inputs in der Produktion zu und führt zu Faktorsubstitutionen. Für die einzelnen Einkunftsarten können Werbungskosten-Pauschbeträge ohne besonderen Nachweis abgesetzt werden. Diese Pauschbeträge sind immer dann anzusetzen, wenn die jeweils nachgewiesenen Werbungskosten nicht höher sind. Sie werden mit Verwaltungsvereinfachung begründet, widersprechen aber dem Grundsatz der Besteuerung des Ist-Einkommens: Pauschalen begünstigen diejenigen, die unter die jeweilige Grenze fallen, allerdings je nach Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten der Einkommenserzielung unterschiedlich. Sie stellen Verzerrungen auch dar, weil für die einzelnen Einkunftsarten verschiedene Pauschbeträge gelten. Bei steigendem Einkommen nimmt die Bedeutung der Pauschbeträge faktisch ab, wenn sie längere Zeit unverändert bleiben. d) Die Berücksichtigung bestimmter Arten von Einkommensverwendungen: Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen Um den Anforderungen an eine subjektbezogene Steuer zu genügen, ist den persönlichen Umständen des Steuerpflichtigen Rechnung zu tragen. Dies geschieht primär durch die Berücksichtigung von Sonderausgaben. Als Sonderausgaben, die vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden, gelten bestimmte im Gesetz festgelegte 1 2

Siehe im Gegensatz hierzu Homburg (2010) im Anschluss an Wrede und Richter. Aber insbesondere bei unzureichendem öffentlichen Verkehrsangebot problematisch ist.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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Ausgaben, wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind (§ 10 EStG). Es handelt sich hier im allgemeinen um Ausgaben für die Lebenshaltung, die unter verschiedenen Zielen (und nicht nur zur Berücksichtigung persönlicher Umstände) als abzugsfähig angesehen werden. Dadurch wird gegen den Grundsatz verstoßen, dass die Einkommensteuer prinzipiell nicht nach der Einkommensverwendung differenziert. Das Konglomerat der Sonderausgaben enthält S Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten, wenn der Empfänger einem Antrag des Gebers zugestimmt hat, wodurch er selbst in Höhe von dessen Freistellung steuerpflichtig wird. Bei diesem sog. begrenzten Realsplitting (Grenze 13 805 EUR) liegt der besondere Fall vor, dass ein Bürger bei gegebenem Sachverhalt darüber entscheiden kann, ob er oder ein anderer besteuert wird; S auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende Renten und dauernde Lasten, die nicht mit Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen; S Vorsorgeaufwendungen; S Kirchensteuer; S Aufwendungen für die Berufsausbildung oder Weiterbildung in einem nicht ausgeübten Beruf - auch für den Ehepartner; S Ausgaben zur Förderung gemeinnütziger Zwecke; S Beiträge und Spenden an politische Parteien. Vorsorgeaufwendungen sind kompliziert geregelt1. Für die Altersvorsorge gilt, dass sämtliche Ersparnisse, die „sich anhand bestimmter Kriterien als Altersvorsorgeaufwendungen des Steuerpflichtigen identifizieren lassen“, zukünftig „im Rahmen von Höchstbeträgen nachgelagert, das heißt unter Einschluss der erzielten Erträge erst zum Zeitpunkt des Rückflusses besteuert“ werden. Die nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften entspricht steuersystematisch dem Konsumsteuersystem, nicht aber der synthetischen Einkommensteuer. Wenn man die Beiträge als Vorsorgeform und nicht als Steuer sieht, kommt es zur steuerlichen Freistellung einer bestimmten Sparform. Die gezahlte Kirchensteuer (und Spenden an Kirchen) ist eigentlich als Konsum kirchlicher Leistungen zu interpretieren. Ihre (unbegrenzte) Abzugsfähigkeit als Sonderausgabe wird aber mit dem gemeinnützigen Charakter der Kirchen begründet: Sie geben Leistungen ab, die über den Kreis der Kirchensteuerzahler hinaus genutzt werden. Das gilt z.B. für soziale Dienste, die – bei fehlender kirchlicher Bereitstellung – durch den Staat anzubieten wären. Hinzu kommt ein vielfältiges privates Engagement in diesem Bereich. Die Rechtfertigung der steuerlichen Begünstigung hängt davon ab, ob die kirchlichen Leistungen erhebliche Externalitäten darstellen. Allerdings werden regelmäßig Wettbewerbsverzerrungen gegenüber nichtsteuerlich begünstigen Anbietern hervorgerufen. Die Eigenschaft der Kirchensteuer als Zwangsbeitrage kann hingegen kein Argument für die Berücksichtigung als Sonderausgaben sein, denn wie bei den Beiträgen an andere Vereinigungen gilt auch hier: Beiträge sind die Bedingung für die Mitgliedschaft. Die Besonderheit bei der Kirchensteuer ist nur die Art ihrer Eintreibung durch den Staat. 1

Siehe hierzu Sachverständigenrat JG 2004/05, Tz. 296-301.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Der Kirchensteuer unterliegen diejenigen, die einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannten Kirche angehören. Die Kirchensteuer wird nach Landesrecht als Zuschlag zur Einkommensteuer erhoben und beträgt in der Regel 8-9% der um die Kinderfreibeträge verminderten Einkommensteuerschuld. Bezieher hoher Einkommen können in einigen Landeskirchen bzw. Diözesen die Kirchensteuer auf einen bestimmten Prozentsatz, überwiegend 3-4% des zu versteuernden Einkommens, „kappen“ lassen. Teilweise wird die Kirchensteuer auch als Zuschlag zur Grundsteuer erhoben, und in manchen Gemeinden besteht das Kirchgeld. Die Kirchen wirken durch Stellungnahmen (bei Anhörungen) am Gesetzgebungsverfahren der Einkommensteuer mit, weil jede Änderung dort sich auf das Kirchensteueraufkommen auswirkt. Für das Erheben usw. der Kirchensteuer ist der Staat mit 3% an ihrem Aufkommen beteiligt.

Bemerkenswert ist die steuerliche Behandlung der Bildung von Humankapital. Dies lässt sich als Barwert der künftigen Erträge definieren, die ein Bürger aus seinem über die Lebensjahre akkumulierten Wissen und technischen Fähigkeiten als (zusätzliches) Arbeitseinkommen erzielen kann. Aufwendungen für die berufliche Ausbildung in Unternehmen werden von diesen steuermindernd geltend gemacht. Soweit der Besuch von Schulen und Hochschulen vom Staat unentgeltlich bereitgestellt wird, erfolgt die Humankapitalbildung tatsächlich aus versteuertem Einkommen. Die Versteuerung der Humankapitalerträge entspricht dann einer sparbereinigten Einkommensteuer. Bei der steuerlichen Berücksichtigung individueller Bildungsausgaben entscheidet der Gesetzgeber gegen eine Anerkennung von Kosten der Einkommenserzielung, wenn diese für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium angefallen sind. Die Ausbildungskosten können hingegen von den Einnahmen in einem ausgeübten Beruf steuerlich abgezogen werden. Ausgaben für private Fortbildung und Studiengebühren sind nur im Rahmen der Sonderausgaben beschränkt abzugsfähig, was aber entsprechende Einkommen aus anderen Tätigkeiten bedingt. Sie müssen daher weitgehend aus versteuertem Einkommen getätigt werden und unterliegen als künftige Einkommen einer weiteren Belastung. Die Abzugsfähigkeit von Spenden und Beiträgen für als förderungswürdig anerkannte Zwecke ist nicht mit der Leistungsfähigkeit zu begründen. Spenden erfolgen in der Regel freiwillig. Die Abzugsfähigkeit lässt sich begründen S mit der Eigenschaft öffentlicher Güter bei den Leistungen, deren Träger gefördert werden. Die durch Spenden ermöglichten Aktivitäten müssen also mit erheblichen Externalitäten für die Gesellschaft verbunden sein; S allokativ auch damit, dass die Entscheidungen durch die Spendenfinanzierung dezentral laufen. Projekte werden unter Umständen bürgernäher gefördert, und viele Projekte kommen so überhaupt erst zum Zuge, die sonst nur schwer durch öffentliche Mittel finanziert würden; S unter fiskalischen Zielsetzungen: eine Förderung durch Steuervergünstigungen (Tax Expenditures) anstelle der Vornahme direkter öffentlicher Ausgaben ist zweckmäßig, weil der Steuerausfall geringer als die Einsparung öffentlicher Ausgaben ist. Viele Spenden würden ohne hohe Grenzsteuersätze und Abzugsfähigkeit wahrscheinlich nicht getätigt.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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Nicht zu rechtfertigen ist die Abzugsfähigkeit von (Mitgliedsbeiträgen und) Spenden, wenn S die privaten Ausgaben auch ohne steuerliche Förderung durchgeführt oder sogar verdrängt würden1. Entscheidend ist daher die Preiselastizität E der geförderten Ausgaben. Je stärker E (absolut) über eins liegt, um so höher sind die zusätzlichen Ausgaben für Spenden; S der Katalog als förderungswürdig anerkannter Tatbestände fast beliebig ausgeweitet werden kann (wie im Falle der Gemeinnützigkeit praktiziert) und damit immer mehr Klubgüter umfasst; S staatliche Ausgaben durch private Ausgaben verdrängt werden und die steuerlich Begünstigten über wichtige staatliche Versorgungsaufgaben entscheiden können, die aber anteilig von allen Steuerzahlern zu finanzieren sind; S sie politische Parteien begünstigt und die Gefahr der Einflussnahme durch die Spender besteht. Die Vermutung der Korruption liegt dann nahe. Soweit die Spenden innerhalb der Gewinneinkünfte als Betriebsausgaben abgesetzt werden können, wirkt sich eine Beschränkung dieser Mittel als Sonderausgaben steuerlich nicht aus. Sie können weiter etwa zur Werbung eingesetzt werden, als Altruismus verkauft werden und Statussymbol sein. Für jeden, der keine höheren Sonderausgaben nachweist, ist ein geringer Sonderausgaben-Pauschbetrag vorgesehen. Außergewöhnliche Belastungen sind abziehbar, wenn besonders hohe Ausgaben zur Sicherung des Lebensstandards erwachsen, die die zumutbare Belastung (nach Einkommen und Familienstand gestaffelt) übersteigen. Mit der Anerkennung dieser zwangsläufig (aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen) erwachsenden Belastungen soll der eingeschränkten individuellen Leistungsfähigkeit Rechnung getragen werden. Zu diesen Abzügen rechnen Krankheitskosten, Beschäftigung einer Haushaltshilfe, Heimunterbringung im Alter und Pflegefall, Körperbehinderung, Unterhaltsleistungen für Angehörige, die noch nicht anderswo (voll) berücksichtigt wurden. e) Die Berücksichtigung von Verlusten und Wertsteigerungen des Vermögens Beim synthetisch konzipierten Einkommen sind Verluste einer Einkunftsart generell innerhalb derselben Einkunftsart und mit anderen positiven Einkünften auszugleichen. Das gilt zunächst für dasselbe Rechnungsjahr. Tatsächlich ist der Verlustausgleich zwischen den Einkunftsarten innerhalb eines Jahres aber in einigen Fällen ausgeschlossen oder nur eingeschränkt möglich2. Die Tendenz ist auch hier, wie in vielen anderen Fällen, Systemlosigkeit und Komplizierung. 1 2

Vgl. das 9. Kapitel, 1.(6). So dürfen Verluste aus Kapitalvermögen nicht mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten (aber mit späteren Einkünften derselben Einkunftsart) verrechnet werden. Ansonsten ist der Verlustausgleich zwischen den Einkommensarten der Höhe nach (bei veranlagten Ehegatten doppelter Betrag) beschränkt, darüber hinausgehende Verlustanteile dürfen nur bis zu 50 % der über dieser Grenze liegenden positiven Einkünfte verrechnet werden.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Ein Verlustausgleich ist aber auch intertemporal erforderlich. Tatsächlich ist die Verrechnung von Verlusten eines Jahres mit positiven Einkünften anderer Jahre grundsätzlich nicht vorgesehen, da die Einkommensteuer prinzipiell auf das Einkommen eines Jahres abstellt; somit würde diese Periodisierung durchbrochen1. Allerdings ist jede Abgrenzung der Periode (z.B. auf ein Jahr) willkürlich. Auch führt der Ausschluss eines intertemporalen Verlustausgleichs zu einer imparitätischen steuerlichen Erfassung positiver und negativer Leistungsfähigkeit: positive Einkommen werden voll besteuert, Verluste hingegen nicht entlastet. Hält man eine negative Steuer bei Verlusten für ausgeschlossen, kommt ein Verlustausgleich mit dem Ziel in Betracht, in der Vergangenheit oder in der Zukunft zuviel bezahlte Steuern durch Berücksichtigung negativer Einkünfte zu korrigieren. Beispiel: Unternehmen A macht im Jahr l einen Gewinn von 200 000, im Jahr 2 einen Verlust von 100 000; Unternehmen B macht in beiden Jahren 50 000 Gewinn. A muss ohne Verlustausgleich nicht nur mehr Einkommen versteuern, sondern hat - bei progressivem Tarif auch mit einem, im Durchschnitt beider Perioden mit einem höheren Steuersatz zu rechnen.

Der intertemporale Verlustausgleich verringert oder beseitigt die Wirkung der willkürlichen Zerlegung der Lebensdauer in einer Abschnittsbesteuerung. Er kann in einem Verlustrücktrag („carry back“) auf vergangene und einem Verlustvortrag („carry over“) auf folgende Jahre bestehen. In Deutschland besteht unter der Bezeichnung „Verlustabzug“ ein Verlustrücktrag, der der Zeit nach auf den unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum und der Höhe nach begrenzt ist. In den folgenden Veranlagungszeiträumen können verbleibende Verluste wiederum nur mit Beschränkungen abgezogen werden.

Der Verlustvortrag bewirkt keine Liquiditätshilfe für eventuell gefährdete Unternehmen. Der Verlustrücktrag kann hingegen eine gezielte Sofortmaßnahme darstellen (vorausgesetzt, in den vorangegangenen Jahren bestand ein ausreichender Gewinn). Verlustvortrag und Verlustrücktrag sind prinzipiell für alle Einkunftsarten anwendbar. Unter allokativen Gesichtspunkten ist der Verlustausgleich erforderlich, sonst wird das Risiko zu Lasten der Gewinne (durch Minderung der Nettogewinnerwartungen) einseitig erhöht und damit die Investitionsbereitschaft beeinträchtigt. Größenmäßige und zeitmäßige Beschränkungen sind daher willkürlich und allokativ schädlich. Wirkungsanalytisch „führen Verlustverrechnungsbeschränkungen zu negativen Zins- und Liquiditätseffekten, die die Investitionstätigkeit beeinträchtigen und die Standortattraktivität reduzieren. Betroffen sind vor allem neu gegründete Unternehmen, Unternehmen mit stark schwankenden Ergebnissen oder solche, die nach einer Krise wieder erste Gewinne erwirtschaften. Gerade besonders innovative und damit auch riskante Unternehmen werden durch Beschränkungen des Verlustausgleichs stark beeinträchtigt“ (Sachverständigenrat 2003, Tz. 549). Die Beschränkung des Verlustabzugs wird in der Praxis mit fiskalischen Gesichtspunkten und der Begrenzung rückwirkender

1

Vgl. auch Abschnitt 3e) in diesem Kapitel.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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Steuerkorrekturen begründet. So soll auch eine bestimmte Mindestbesteuerung sichergestellt werden. Dadurch, dass der Staat das Nettoprinzip einschränkt, partizipiert er voll an den Gewinnen, nicht aber an den Verlusten. Eine besondere Behandlung erfahren auch die Wertsteigerungen des Vermögens (Kapitalgewinne). Hierbei handelt es sich um Kapitalerträge in Form von Wertsteigerungen bei Vermögensobjekten im Gegensatz zu Kapitalerträgen in Form von Zinsen, Dividenden u.ä. Die Wertveränderung wird als Differenz des Wertes der Vermögensbestände zwischen zwei Zeitpunkten gemessen. Solche Wertsteigerungen sind nach der Reinvermögenszugangstheorie „in die Besteuerung einzubeziehen, wobei dem Zuflussprinzip entsprechend und aus Praktikabilitätsgründen nur realisierte Veräußerungserfolge berücksichtigt werden. Das geltende Einkommensteuerrecht folgt diesem Besteuerungsideal allerdings nur zum Teil“ (Sachverständigenrat 2003, Tz. 552). Realisierte Vermögenswertsteigerungen werden grundsätzlich innerhalb des Betriebsvermögens erfasst. Beim Privatvermögen findet eine Belastung realisierter Kapitalgewinne nur im Rahmen bestimmter Ausnahmefälle wie den Veräußerungsgewinnen aus dem Kauf und Verkauf von Wertpapieren bzw. Grundstücken statt. Die selektive Regelung für einzelne Veräußerungsgewinne bei Ausklammerung anderer Vermögensgegenstände ist steuersystematisch willkürlich. Bei der Besteuerung der privaten Veräußerungsgewinne ist der Vermögensvergleich erforderlich, der sonst nur zur Ermittlung der Gewinneinkünfte herangezogen wird. Gegen die Besteuerung der Veräußerungsgewinne wird angeführt, dass die einbehaltenen Gewinne schon bei den Unternehmen steuerpflichtig seien; würden sie und konkret werdende Gewinnchancen als Veräußerungsgewinne besteuert, käme es zu einer Doppelbelastung (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi 1996). Private Veräußerungsgewinne werden seit 2009 wie Kapitalerträge einer Abgeltungsteuer in Höhe von 25 % unterworfen. f) Beurteilung der Einkommensberechnung Der Weg zur Berechnung des zu versteuernden Einkommens ist kompliziert und folgt keiner einheitlichen Systematik. Die einzelnen Einkunftsarten werden unterschiedlich ermittelt, weisen unterschiedliche Frei- und Pauschbeträge und andere Sonderregelungen auf, so dass ihre Zusammenfassung zu einer Einkommensgröße rein formal ist. Auch wird die Auffassung vertreten (Wagner 1999, Wenger 1999), dass Einkommen systematisch überhaupt nicht nach dem Konzept der synthetischen Einkommensteuer berechenbar seien. Die Kritik zielt insbesondere auf den Einkünftedualismus und die Periodisierung. Als Einkünftedualismus werden die unterschiedlichen Methoden der Gewinnermittlung bei den Gewinneinkünften einerseits und den Überschusseinkunftsarten andererseits bezeichnet. Zudem gibt es einige Besonderheiten wie die Anrechnung der Gewerbesteuer, unterschiedliche Abschreibungsverfahren u.ä., Einkünfte aus Kapitalvermögen werden über den Sparerfreibetrag privilegiert. Auch „werden im Ausland erzielte Einkünfte aus Direktinvestitionen, etwa Gewinne von ausländischen Betriebsstätten oder Dividenden, die an inländische Kapitalgesellschaften fließen, auf-

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

grund der in Doppelbesteuerungsabkommen regelmäßig vereinbarten Freistellung im Inland überhaupt nicht erfasst, unterliegen dafür aber der Besteuerung im Ausland“ (Sachverständigenrat 2003, Tz. 537). Ferner liegen vielfältige Verstöße gegen das Nettoprinzip vor. So werden Kosten der Einkommenserzielung beliebig uminterpretiert, wie es am Beispiel der Fahrtkosten zur Arbeit deutlich wird. Aufwendungen von natürlichen Personen, die im Zusammenhang mit dem Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften stehen, werden nur zur Hälfte zum Abzug zugelassen. Zinsaufwendungen sind nur begrenzt abzugsfähig (Zinsschranke). Schließlich werden Gewinne und Verluste nicht gleichbehandelt, wie es die synthetische Einkommensteuer fordert. Auch hier liegt ein Verstoß gegen das Nettoprinzip vor. 5. Die steuerpflichtige Einheit (Berücksichtigung des Familienstandes) a) Alternativen Die Entscheidung über die steuerpflichtige Einheit berührt Probleme der Gerechtigkeit, Einfachheit, Möglichkeit der Steuervermeidung, Diskriminierung nach Geschlechtern und Anreize zur Einkommenserzielung. Die Wahl der steuerpflichtigen Einheit ist primär deshalb von Bedeutung, weil bei progressivem Steuertarif die individuelle Einkommensteuerbelastung je nachdem, ob man auf Einkommensempfänger, Familie oder Haushalt abstellt, verschieden ausfällt: Nur bei direkt proportionalem Tarif und einheitlichem Steuersatz ist die einkommensteuerliche Belastung unabhängig von der Bezugseinheit. Welche Alternativen der steuerlichen Behandlung von Haushalten existieren? Folgendes Beispiel dient zur Verdeutlichung1. In allen Fällen ist das Haushaltseinkommen 50 000 Euro I. Herr A ist ledig und verdient y1 = 50 000 Euro; II. Herr B ist verheiratet und verdient y1 = 50 000 Euro, Frau B ist ohne eigenes Einkommen; III. Herr C und seine Frau verdienen jeweils y1 = y2 = 25 000 Euro; IV. wie III (also y1 = y2 = 25 000 Euro), nur haben die Ds zwei einkommenslose Kinder. Grundsätzlich können (l) nur die Einkommensbezieher jeweils für sich belastet werden; (2) die Einkommensbezieher eines Haushalts oder einer Familie zusammen veranlagt werden, d.h. es wird auf die Summe der Teileinkommen abgestellt, deren Zusammensetzung keine Rolle spielt; (3) die Gesamteinkommen bei Splitting unter Einbeziehung nur der Ehepartner belastet werden; (4) die Gesamteinkommen bei Splitting unter Einbeziehung der Ehepartner und der übrigen Haushaltsmitglieder (Kinder) 1

Vgl. Musgrave/Musgrave/Kullmer (2, 1979), S. 127 ff.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

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besteuert werden. Dann ergeben sich folgende Alternativen1 für die Ehegattenbesteuerung E (y1, y2): (16-2) (16-3) (16-4) (16-5)

Individualbesteuerung Haushaltsbesteuerung Ehegattensplitting Vollsplitting2

I (y1, y2) = T(y1) + T(y2) H (y1, y2) = T(y1 + y2) S (y1, y2) = 2T[(y1 + y2)/2] V (y1, y2) = 3T[(y1 + y2)/3]

Hierbei bezeichnet T (y) den geltenden Individualsteuertarif. b) Individualbesteuerung Die Individualbesteuerung stellt auf die Einkommensentstehung ab, d.h. auf das, was die einzelnen Haushaltsmitglieder verdienen. Sie ist (einkommensentstehungsmäßig) personen- oder familienstandsneutral, d.h. es ist gleichgültig, ob eine und welche Beziehung zwischen Haushaltsmitgliedern besteht. Dieses Verfahren bewirkt keine horizontale Gleichbehandlung von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Bedingungen im Haushalt, in dem sie leben, insbesondere seiner Zusammensetzung. In Haushalten ungleich verteilte Einkommen führen zu einer höheren Belastung als gleich verteilte Einkommen. Haushaltsmitglieder können Einkommensteile auf andere Familienmitglieder verlagern und so (bei progressivem Tarif) die Gesamtsteuerschuld senken. Die Steuerschuld ist in den Fällen I und II gleich; sie ist größer als bei III und IV, die auch eine gleiche Steuerbelastung aufweisen. c) Haushaltsbesteuerung Die zweite Form ist die sog. Haushaltsbesteuerung. Tatsächlich trifft die Bezeichnung den gemeinten Sachverhalt nicht, weil es nur um die Eheleute als Haushaltsmitglieder geht3. Die Verteilung der Einkommen auf die Haushaltsmitglieder spielt keine Rolle; die Steuerlast kann nicht durch Einkommensumschichtungen zwischen ihnen verändert werden. Bei einkommensteuerlicher Beschränkung des Haushalts auf die Eheleute geht es um eine auf Dauer angelegte Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft mit gemeinsamer Einkommensverwendung. Wenn die Teileinkommen in einen Topf geworfen und gemeinsam verwendet werden, mag diese Form der Besteuerung adäquat sein. Nur wirkt sie ehestandsfeindlich. Ein progressiver Tarif ist bei Zusammenlegung von Einkommensbeziehern nachteilig für die Gesamtbelastung: Offenbar werden die zwei Personen mit einem Einkommen von jeweils 25 000 Euro bestraft, wenn sie verheiratet sind: In diesem Fall sind 50 000 Euro zu versteuern, die Steuerschuld ist höher als bei der Summe der Steuerschuld aus 2 x 25 000 Euro. Eine solche Form der Haushaltsbesteuerung wurde 1957 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt. 1 2 3

Vgl. Homburg (2010). Annahme: zwei Kinder, Splittingfaktor 1/2 je Kind. Das Einkommen von Kindern und anderen Haushaltsmitgliedern könnte grundsätzlich in die Haushaltsbesteuerung mit einbezogen werden.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Das Ehepaar wird bei der Zusammenveranlagung gemeinsam als Steuerpflichtiger behandelt und daher das gemeinsam zu versteuernde Einkommen ermittelt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durchbreche die Zusammenveranlagung von Ehegatten den „Grundsatz der Individualbesteuerung“ zum Nachteil der im Ehestand Lebenden und stelle insofern „einen störenden Eingriff in die Ehe“ dar. Allerdings sei Zusammenveranlagung nur verfassungswidrig, wenn „die Ehegatten durch die Zusammenveranlagung angesichts des auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen hin angelegten progressiven Steuertarifs im wirtschaftlichen Ergebnis schlechter gestellt werden als andere Personen“.

Man mag einwenden, dass gemeinsames Wirtschaften mehr Konsummöglichkeiten eröffnet als isoliertes Wirtschaften von Einzelpersonen mit gleichem Gesamteinkommen („economies of scale in consumption“). Nur spricht dieses Argument für eine besondere steuerliche Behandlung gemeinsamer Haushaltsführung, nicht hingegen für die höhere Belastung des Ehestandes. Eheähnliche Partnerschaften würden hier besser gestellt. In den Fällen I-IV im Beispiel oben tritt die gleiche Belastung ein. Dies mag in den Fällen II-IV gegenüber I als Verstoß gegen die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit erscheinen, weil die Verwendungseinheit mehr als eine Person umfasst. Damit wird Ungleiches gleichhoch belastet. d) Ehegatten-Splitting Dem Splitting liegt der Gedanke zugrunde, dass mehrere Personen eine vollständige wirtschaftliche Einheit bilden und als Gemeinschaft zu besteuern sind. Auch müssen, wenn der Gleichheitsgrundsatz von Art. 3 GG auf Ehepaare angewendet wird, diese bei gleichem Gesamteinkommen steuerlich gleich behandelt werden. Grundlage für das Ehegatten-Splitting, mit dem der ehestandsfeindliche Effekt der Zusammenveranlagung beseitigt werden soll, sind verschiedene Rechtsnormen der Verfassung (Art. 6 GG) und des BGB1. Beim Ehegatten-Splitting werden die Einkommen der Ehegatten zusammengefasst. Auf die Hälfte des Gesamteinkommens beider Personen wird dann der Steuertarif angewendet und der so ermittelte Steuerbetrag verdoppelt. Der sog. Splittingfaktor beträgt in diesem Fall 2. Das Splitting-Verfahren vereinigt Elemente der Haushaltsbesteuerung in der Zusammenveranlagung und der getrennten Steuerberechnung in der Aufteilung des Einkommens. Die Steuerschuld eines alleinstehenden Steuerpflichtigen (Fall I) ist höher als diejenige eines Ehepaares mit demselben Gesamteinkommen (Fälle II bis IV). Unabhängig davon, ob beide Ehegatten Einkommen beziehen, verdoppelt sich infolge des Splittingeffekts der allgemeine Grundfreibetrag. Auf die Ehe scheint eine Prämie in Form eines Steuerdifferenzials im Vergleich zu unverheiratet Zusammenlebenden gewährt zu werden, wenn diese unterschiedlich hohe Teileinkommen 1

Dieser Grundsatz entspricht verschiedenen Regelungen des BGB (§§ 1357, 1360, 1365, 1587). Das Bundesverfassungsgericht (1982) sieht die Ehe als „Gemeinschaft des Erwerbs, in der sich die Ehegatten aufgaben- und arbeitsteilend zusammengeschlossen haben“. Das SplittingVerfahren entspreche dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die sich in der Summe des gemeinsam zu versteuernden Einkommens ausdrückt. Es handele sich nicht um eine beliebig veränderbare Steuervergünstigung, sondern um eine sachgerechte Besteuerung.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

509

haben. Angesichts des bestehenden Rechtsrahmens, dem das Splitting folgt, besteht aber eine Konsistenz der sozialen Wertungen. Will man eine Gesamteinkommensbesteuerung und Ehestandsneutralität, so ist das Splitting der einzige Ehegattentarif, der bei progressivem Tarif diese Bedingungen erfüllt. Die Wirkung des Splitting im Vergleich zur Einzelveranlagung fällt bei direkter Progression um so größer aus, je höher das Gesamteinkommen ist und je stärker die Teileinkommen auseinanderfallen. Sie tritt nicht bei gleichhohen Teileinkommen bzw. bei proportionalem Tarif auf1. e) Die Berücksichtigung von Kindern Auch Kindern kann steuerlich unterschiedlich Rechnung getragen werden. Geht man davon aus, dass bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe (Grundfreibetrag) noch keine steuerliche Leistungsfähigkeit gegeben ist, so wird jede Erhöhung der Zahl der Familienmitglieder, z.B. durch die Geburt eines Kindes, die Haushaltsbesteuerung offenbar verändern müssen. Die steuerliche Leistungsfähigkeit beginnt dann erst mit Überschreiten eines höheren Betrags, wobei die Frage seiner Bemessung zu regeln ist. Erst durch Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen kommt es zu einer horizontalen Gleichbehandlung von Steuerpflichtigen mit und ohne Kinder. Die Minderung im zu versteuernden Einkommen durch Kinder führt bei höheren Einkommen und progressivem Tarif zu stärkeren Steuerentlastungen als bei niedrigeren Einkommen. Das wäre aber auch sonst der Fall, wenn die steuerliche Leistungsfähigkeit sinkt. Es ist die Kehrseite der mit steigendem Grenzsteuersatz erfolgenden zu hohen Besteuerung, wenn die Abzugsfähigkeit leistungsfähigkeitsmindernder Belastungen nicht gegeben ist. Sobald andererseits die Kinder nicht mehr abhängig sind, erhöht sich die steuerliche Leistungsfähigkeit und führt mit steigenden Grenzsteuersätzen zu höheren Belastungen (Brannon/Morss 1973). Ein Steuerkredit, bei dem ein für alle gleicher Abzug von der Steuerschuld vorgenommen wird, hat hingegen bei dieser Interpretation – ebenso wie das einkommensunabhängige Kindergeld2 – nichts mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu tun (so vage sie auch immer bestimmt werden kann). Vielmehr sollen hierdurch bestimmte Tatbestände oder Einkommensverwendungen privater Mittel gefördert werden. Die Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit setzt die Berücksichtigung aller persönlichen Umstände vor Anwendung des Einkommensteuertarifs voraus. Zur Realisierung anderer Zielsetzungen sind in der Regel Abzüge von der Steuerschuld oder offene Transfers geeignet. 1

2

Die Behandlung der Ehepartner als Einheit vermeidet nicht nur Nachteile. So entfallen Ansprüche an den Staat (z.B. Arbeitslosengeld II, BAföG), wenn das Einkommen eines Partners gering und das Einkommen des anderen zu hoch ist. Ein absolut gleiches Kindergeld ist für höhere Einkommen spiegelbildlich zum Kinderfreibetrag zu sehen. Da das Kindergeld netto geleistet wird, müsste mit steigender Tarifbelastung ein entsprechend höherer Bruttobetrag erwirtschaftet werden.

510

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Das Vollsplitting berücksichtigt bei der Besteuerung des Haushaltseinkommens neben den Ehegatten auch die Kinder als Haushaltsmitglieder. Sie können mit gleichem Gewicht wie Erwachsene oder aber mit einem Teilfaktor (z.B. 1/3) gewichtet werden. Da Aufwendungen für Kinder mit ihrem Alter zunehmen, kann der Faktor auch altersabhängig gestaltet werden. Mit steigendem Gesamteinkommen steigt die Minderung der Steuerbelastung. Im Gegensatz zum Ehegattensplitting liegt beim Familiensplitting keine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft gleichberechtigter Partner, sondern nur eine Unterhaltsgemeinschaft vor. In Deutschland wird zurzeit ein Kinderfreibetrag1 je Kind gewährt, der mit dem Kindergeld kombiniert und vom Finanzamt automatisch verrechnet wird. Übersteigt die Steuerentlastung aus dem Freibetrag das Kindergeld, kommt der Freibetrag zur Geltung. Dann wirkt sich nur der Aspekt der horizontalen Gleichbehandlung aus. Fällt die Steuerentlastung durch den Freibetrag niedriger aus als das Kindergeld, wird die Steuerersparnis aus dem Freibetrag durch das Kindergeld aufgestockt. So kommt ein umverteilungspolitischer Effekt zum Tragen, der nach der Phase der horizontalen Gleichbehandlung greift. 6. Die Erhebungsformen der Einkommensteuer Die Einkommensteuer wird grundsätzlich nach dem Einkommen veranlagt, das der Steuerpflichtige in dem jeweiligen Kalenderjahr bezogen hat. Veranlagung ist das Verfahren, in dem die zu zahlende Einkommensteuer festgesetzt wird. Hierzu muss der Steuerpflichtige eine Steuererklärung abgeben. Auf der Grundlage dieser Angaben setzt das Finanzamt durch Bescheid die Steuer fest. Auf die Lohneinkünfte wird das Quellenabzugsverfahren angewendet. Hier wird die Lohnsteuer vom Arbeitgeber, d.h. direkt an der Steuerquelle, einbehalten und an das Finanzamt abgeführt. Die Arbeitnehmer erhalten nur die um die Lohnsteuer (und andere gesetzliche Abzüge) gekürzten Löhne und Gehälter. Die Lohnsteuer ist keine selbständige Steuer, sondern eine Erhebungsform der Einkommensteuer, die zu einer Vorauszahlung auf die Einkommensteuer führt. Eine weitere Erhebungsform der Einkommensteuer ist die Abgeltungsteuer2, 3 mit einem Satz von 25 % auf Kapitalerträge. Sie ist meist eine Definitivsteuer, wobei Werbungskosten nicht geltend gemacht werden können. Auf Antrag des Steuerpflich1 2 3

Zusätzlich wird ein Ausbildungs- und Betreuungsfreibetrag je Steuerpflichtigem und Kind eingeräumt. Die Abgeltungsteuer ersetzt die bis 2008 geltende Kapitalertragsteuer. Allerdings kann der Steuerabzug durch einen „Freistellungsauftrag“ vermieden werden. So können infolge von „Sparerfreibetrag“ und Werbungskostenpauschale Kapitalerträge ohne Abzüge ausgezahlt werden. Historisch ist von Interesse, dass Kapitalerträge bei immer bestehender Einkommensteuerpflicht unterschiedlich dem Quellabzug unterworfen wurden. Hintergrund für die wechselnde Behandlung ist der Konflikt zwischen Gleichmäßigkeit der Besteuerung und Gefahr der Kapitalflucht (vgl. auch das 21. Kapitel).

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

511

tigen können die Kapitaleinkünfte aber auch den anderen Einkünften hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen werden, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer führt (Günstigkeitsprüfung). Nur dann wird die wie die Lohnsteuer im Quellenabzug erhobene Belastung der Kapitalerträge wie Einkommensteuervorauszahlung auf die Steuerschuld angerechnet. Bei ausländischen Kapitaleigentümern bewirken Kapitalertragsteuer bzw. Abgeltungssteuer eine endgültige Belastung, solange keine Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den Ländern vereinbart sind (vgl. das 14. Kapitel). Der Vorteil des Quellenabzugs ist die Kontrolle dieser Einkünfte und die schnelle Reaktion auf Änderungen des steuerpflichtigen Tatbestands. Dies ist fiskalisch von Interesse und unter stabilitätspolitischen Zielsetzungen zweckmäßig. Sofern die Steuerpflichtigen nur Löhne beziehen, entspricht die Lohnsteuer ihrer Einkommensteuerschuld, eine Nachrechnung wäre – von den o.g. Veranlagungsgrenzen abgesehen – nicht erforderlich. Tatsächlich nimmt aber die Mehrzahl aller nicht veranlagten Lohnsteuerpflichtigen die Möglichkeit wahr, über die Abgabe der Einkommensteuererklärung ggf. zu einer Erstattung zu kommen. Sie ist dann zu erwarten, wenn sich z.B. während des Kalenderjahres die Steuerklasse geändert hat oder die tatsächlichen Werbungskosten, Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen höher als die festgelegten Pauschalierungen waren. Die veranlagte Einkommensteuer ist ihrer genauen Höhe nach erst mit Festsetzung des Steuerbescheids fällig. Bis zur Festsetzung des Steuerbescheides dauert es oft mehrere Jahre. Daher müssen, um eine Gleichbehandlung mit dem Quellenabzug zu gewährleisten, Einkommensteuervorauszahlungen geleistet werden. Diese beruhen auf einem Vorauszahlungsbescheid des Finanzamts, der sich nach der voraussichtlichen Jahressteuerschuld richtet und zur vierteljährlichen Zahlung auf die Einkommensteuer verpflichtet. Dennoch kommt es häufig zu Liquiditäts- und Zinsvorteilen der Einkommensteuerpflichtigen gegenüber den Lohnsteuerpflichtigen, weil sich in der Praxis die Vorauszahlungen meist nach der letzten, im Durchschnitt zwei Jahre zurückliegenden Veranlagung richten. Je stärker die Einkommen steigen, um so größer wird die Differenz zwischen endgültiger Steuerschuld und Vorauszahlungen. So enthält das Aufkommen an Einkommen(und Körperschaft)steuer zu einem erheblichen Teil verspätete Abschlusszahlungen1. Wenn die Zahlung zu hoher Steuern nicht vom Finanzamt, die Zahlung zu niedriger Steuern nicht vom Steuerpflichtigen verzinst wird, kommt es zu Ungleichbehandlungen. Um eine gewisse Neutralität der Besteuerung zu erreichen, erscheint daher eine generelle Selbstveranlagung mit Vollverzinsung der Über- bzw. Unterzahlung vorstellbar. Dabei sind die Aspekte der Steuervereinfachung und -gerechtigkeit gegeneinander abzuwägen. Die Vollverzinsung wird in der Bundesrepublik angewandt. Problematisch sind hierbei insbesondere die Wahl des Zinssatzes (0,5 % pro Monat) und der Zeitraum für die Zinsberechnung. Die Verzinsung setzt erst mit einer Karenzzeit von 15 Monaten ein und endet spätestens nach weiteren vier Jahren. 1

Diese tragen bei ungleicher Entwicklung zum Teil erheblich zu den Fehlern der Steuerschätzung bei.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

512

7. Der Tarif der deutschen Einkommensteuer a) Der Aufbau Die Einkommensteuerbelastung hängt von der Höhe und der Zusammensetzung der Bemessungsgrundlage und dem Steuertarif ab. Diese Größen waren Gegenstand vielfacher Änderungen. Die Änderungen des Steuertarifs bestanden zuletzt darin, den Grundfreibetrag zu erhöhen und das zu versteuernde Einkommen zu ändern, bei dem die weiteren Tarifbereiche beginnen. Die auch langfristig für verschiedene Tarife gemeinsamen Merkmale sind: (1) Grundfreibetrag; (2) Bereich(e) der direkten Progression und (3) konstanter Grenzsteuersatz ab einer bestimmten Einkommenshöhe. Seit 2007 kam ein zweiter konstanter Grenzsteuersatz für hohe Einkommen hinzu1. Abb. 16-1 zeigt die Grenz- und Durchschnittsteuerbelastung des 2011 geltenden Tarifs. Abb. 16-1 Der Einkommensteuertarif und die Durchschnittssteuersätze in 2011 60 Steuersätze in %

50

45

42

40 30

24

20

14

10 0

0

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10

15

20

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30 35

40 45

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55

60

65

250

Zu versteuerndes Einkommen in TEuro

Der Steuertarif gilt (seit 2009) nur im unteren Bereich2 für das gesamte Einkommen (Y), darüber hinaus werden Teile der Kapitaleinkommen (KE) mit der Abgeltungsteuer und die verbleibenden Einkommen (Y – KE) mit dem Einkommensteuertarif belastet. Die einheitliche Bemessungsgrundlage der synthetischen Einkommensteuer wird also durch zwei Bemessungsgrundlagen ersetzt, auf die bei KE ein proportionaler Tarif und bei Y – KE in einzelnen Tarifbereichen ein direkt progressiver Tarif angewendet wird3. (16-6)

1

2 3

TE ) ] E (Y 5 KE) 9 ] KE KE

mit ] E L ] KE ,

Er belastet gegenwärtig (2011) private zu versteuernde Einkommen ab 250 730 Euro (bei Zusammenveranlagung doppelter Betrag) mit einem Spitzensteuersatz von 45 % (umgangssprachlich „Reichensteuer“). Hier werden die Steuern auf Kapitaleinkünfte – wenn gewünscht – auf die Einkommensteuer angerechnet. Von der Sonderbehandlung der im Ausland erzielten Einkünfte abgesehen.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

513

]E bezieht sich1 also nicht auf die gesamten Einkommen, ]KE wird nicht auf die Gewinne der Personengesellschaften angewendet. Da KE durch die Abgeltungsteuer mit einem konstanten Grenzsteuersatz von 25 % belastet werden, gilt das Merkmal (2) oben dann praktisch nur noch für das Resteinkommen2. Ein Grundfreibetrag in der Einkommensteuer wird damit begründet, dass es verwaltungsmäßig einfacher sei, geringe Einkommen bis zu einer bestimmten Grenze nicht zu erfassen, und dass ein Betrag zur Sicherung eines (sozio-kulturellen) Existenzminimums steuerfrei gelassen werden sollte. Das Existenzminimum gehört zu den allgemein akzeptierten Bestandteilen der modernen Einkommensbesteuerung. Allerdings ist seine Höhe politisch gestaltbar. Der Grundfreibetrag der deutschen Einkommensteuer ist nicht mit den Sozialhilfesätzen abgestimmt3. Er muss laut Beschluss des Verfassungsgerichts der allgemeinen Einkommens- und der Preisniveauentwicklung angepasst werden. Der Grundfreibetrag bewirkt, dass der Tarif ein gewisses Maß an (indirekter) Progression enthält. Faktisch setzt die Steuer wegen der zur Verwaltungsvereinfachung eingeführten Pauschalbeträge sogar erst bei einem über dem Grundfreibetrag liegenden Einkommen ein. Bemerkenswert ist auch, dass der einzige größere Sprung in der Grenzsteuerbelastung (von 0 auf 14 %) beim Überschreiten des Grundfreibetrags erfolgt; daraus resultiert ein zunächst starker Anstieg im Durchschnittssteuersatz. Der Durchschnitts- und der Grenzsteuersatz sind im Bereich des Grundfreibetrags gleich Null. Für darüber liegende Einkommen gilt stets ] ' ] . Unmittelbar oberhalb des Grundfreibetrags steigt die Progression besonders stark. Der Tarif zeigt nicht die tatsächliche Belastung, denn auf die Einkommensteuerschuld ist noch der Solidaritätszuschlag in Höhe von 5,5 % zu zahlen, wodurch sich die jeweiligen effektiven Grenzsteuersätze erhöhen (Spitzensteuersatz auf 47,48 %)4. b) Begründungen für den progressiven Tarif Die Wahl des Steuertarifs lässt sich wissenschaftlich nicht begründen. Sie ist eine rein politische Entscheidung. Als Argument für die Progression wird vorgebracht, dass die Leistungsfähigkeit mit steigendem Einkommen überproportional zunimmt5. Obwohl 1 2

3

4

5

Außer bei geringen YE. Die Dividenden unterliegen im Gegensatz zu den übrigen Kapitaleinkommen bereits der Körperschaft- und Gewerbesteuer sowie dem Soli mit insgesamt 48,34 %, so dass hier die tatsächliche Belastung höher ausfällt (vgl. das 18. Kapitel). Zur Frage, welche Probleme dabei zu beachten sind, siehe Hackmann (1994). Bareis (2006, S. 80) weist auf die extreme Stauchung des Bereichs der direkten Progression hin. „So begann früher die obere Zone mit einem konstanten Grenzsteuersatz bei 30fachem des Volkseinkommens je Einwohner, jetzt bei weniger als dem 3fachen“. Die Bezeichnung „Solidaritätszuschlag“ ist ein Beispiel für die schöpferische und irreführende Bezeichnung, die bei Steuergesetzen gängige Praxis ist. Es handelt sich hier seit ihrer Einführung um eine in Gesamtdeutschland, also nicht nur in den alten Bundesländern erhobene Abgabe. Siehe Kapitel 14.8.c).

514

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

die Umsetzung der Leistungsfähigkeit in ein messbares, widerspruchsfreies Konzept nicht befriedigend gelingt, werden in der (vor allem juristischen) Praxis beide – Leistungsfähigkeit und Progression - als brauchbare Grundlage der Besteuerung angesehen. Ein bestimmter (hier von Interesse: progressiver) Steuertarif kann aber aus der Leistungsfähigkeit nicht abgeleitet werden. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Frage ist weiter, ob der Tarif unter Berücksichtigung einer anzustrebenden Gesamtbelastung aller Steuern (ggf. unter Einschluss der Transfers) oder nur hinsichtlich einer Steuer festzusetzen ist. Ferner ist bei der Festlegung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer die Abstimmung mit der Belastung der Körperschaften wichtig1. Für die Tarifgestaltung sind vor allem fiskalische und verteilungspolitische Gründe maßgeblich. Es ist nicht erkennbar, welche Vorstellungen von Gerechtigkeit, Umverteilung oder Belastbarkeit die Entscheidungsträger haben. Auch kommt die angestrebte Umverteilung nicht über den Einkommensteuertarif allein, sondern auch über die Abgrenzung des steuerpflichtigen Einkommens und hierbei über die auf mehreren Zielen beruhenden Differenzierungen zum Ausdruck. Unter verteilungspolitischen Aspekten wird auch vorgebracht, dass mit steigendem Einkommen die Vermögensbildung erleichtert wird und so die Konzentration zunimmt. Progressiv gestaltete Steuern können als ein Beitrag zur sozialen Sicherheit und Zufriedenheit interpretiert werden, indem sie zu einer Verringerung der Einkommensunterschiede beitragen oder zumindest den Anschein erwecken und ggf. den Neidkomplex reduzieren2 (Bös/Tillmann 1984). Ob diese Ziele tatsächlich erreicht werden, hängt von der Gestaltung des Steuertarifs und der Bemessungsgrundlage (darunter von der Zahl der Tax Expenditures) und wesentlich von der Wahrnehmung und den Reaktionen der Besteuerten ab. Steuervergünstigungen ermöglichen es, zum Abbau des Neidkomplexes hohe nominale Grenz- und Durchschnittssteuersätze eines progressiven Tarifs zu haben, gleichzeitig aber aus allokativen Gründen hohe effektive Sätze zu vermeiden. Die Differenz zwischen den nominellen und effektiven Sätzen stellt letztlich die Diskrepanz zwischen dem Typ einer Einkommensteuer dar, die die Gesellschaft glaubt haben zu sollen und der, die sie tatsächlich bereit ist zu haben. Gerade im Hinblick auf die Verteilungswirkungen ist die bereits angesprochene Abstimmung mit den übrigen Steuern/Transfers von Bedeutung. Teilweise wird der progressive Einkommensteuertarif damit begründet, dass er regressive Wirkungen anderer Abgaben (z.B. der indirekten Steuern) kompensieren solle, um so zu einer annähernd proportionalen Gesamtsteuerbelastung zu kommen. Während bei indirekter Progression nur über den Grundfreibetrag und einen Grenzsteuersatz zu entscheiden ist, muss bei direkter Progression auch die marginale Belastung verschiedener Steuerpflichtiger festgelegt werden. Dadurch steigen die politischen Kosten, aber auch durch die Auseinandersetzung über Freibeträge und verschiedene Formen von Vergünstigungen; alle 1 2

Vgl. Punkt 8 unten. Etwa 90 % der Unternehmen zahlen Einkommensteuer, nicht Körperschaftsteuer. Der Neid dürfte allerdings vielfach von Vertretern interessierter Gruppen - z.B. Politikern, Medien - bewusst erzeugt oder verstärkt werden, wobei die Vertreter in der Regel selbst zu den Beziehern höherer Einkommen gehören (und sich Sonderregeln verschaffen).

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

515

Gruppen möchten möglichst wenig belastet werden, daher sollen stets andere getroffen werden. c) Progressiver Tarif, Wachstum und Inflation Die Beurteilung des Steuertarifs hängt auch davon ab, wie die Belastungen sich bei nominalem und/oder realem Wachstum ändern. Wachstum bewirkt bei konstantem Preisniveau als Folge der Progression einen im Zeitablauf steigenden Durchschnittsteuersatz auf das Einkommen. Die Gesamtheit der Steuerzahler wächst bei gegebenem Tarif in immer höher belastete Einkommensbereiche. Dieser Fall wird hier nicht weiter behandelt, vielmehr geht es um die Auswirkungen der Inflation. Eine auf dem Nominalprinzip beruhende Einkommensteuer trifft jede nominelle Einkommenssteigerung [Y mit dem progressiven Tarif, auch bei [Yreal Z 0 , so dass die Steuerbelastungsquote zunimmt („kalte Progression“)1. Fixe Freibeträge und Pauschbeträge können ihre Funktion nicht mehr wahrnehmen. Die für eine bestimmte Gesamteinkommenssituation konzipierten Tarife können zu anderen Verteilungsstrukturen der Einkommen (Y - T) führen, als dies möglicherweise ursprünglich gewollt war: Bei steigendem Einkommen und gleichbleibendem Tarif gilt nach bestimmter Zeit der höchste Grenzsteuersatz praktisch für alle Steuerzahler. Zur Vermeidung oder Einschränkung der kalten Progression können S diskretionäre Steuersenkungen durchgeführt werden. Bei der Methode lässt sich die Milderung des stets automatisch wiedereinsetzenden Hineinwachsens in höhere Progressionsbereiche als parteipolitischer Erfolg buchen. Gleichzeitig können die Maßnahmen auf bestimmte Regionen, Personen oder Sektoren konzentriert werden. S automatische Kompensationen unerwünschte Belastungsverschärfungen verhindern. Hierzu kann eine Indexierung des Tarifs führen, durch die der Durchschnittssteuersatz trotz inflationsbedingten Wachstums der Bemessungsgrundlage unverändert bleibt. Der reale Steuerbetrag ist dann konstant. Dazu muss die Bemessungsgrundlage Xt mit einem Index It in der Periode t deflationiert werden, der die Kaufkraftentwicklung zum Ausdruck bringt (z.B. Verbraucherpreisindex). Dann wird der ursprüngliche Tarif T auf die deflationierte Bemessungsgrundlage angewendet und schließlich der so („real“) ermittelte Steuerbetrag wieder inflationiert. Formal ergibt sich der reale Steuerbetrag dann als: (16-7)

1

T(X t ) ) I t W T(X t / I t ) .

Der Sachverständigenrat (2005, Tz. 390) zeigt für 2005, dass ein Teil der Tarifsenkung den zwischenzeitlich erfolgten Preisanstieg ausgeglichen hat und bei unteren Einkommen relativ zur Entlastung nominaler Betrachtung stärker ausfiel. Allerdings fiel hier auch die Durchschnittsbelastung durch die Tarifsenkung für sich genommen vergleichsweise gering aus.

516

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Bei diesem Verfahren können sämtliche Tarifparameter, z. B. Freibeträge, Freigrenzen, Klassengrenzen, unverändert bleiben. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man durch Indexierung sämtlicher Tarifparameter. Die Eignung der tatsächlich erhobenen Einkommensteuer wird in den letzten Jahren allokativ und verteilungspolitisch zunehmend in Zweifel gezogen. Die Bedenken betreffen die international zusammen mit den Sozialbeiträgen vergleichsweise hohe Grenzbelastung, die unsystematische Durchbrechung der Steuerbemessungsgrundlage durch diverse Vergünstigungen und die (in den letzten Jahren nicht auftretenden) willkürlichen Wirkungen der Inflation. Soweit Einkommensdifferenziale Unterschieden in Anstrengungen, Unbequemlichkeiten, Lebensqualität und Ausbildung ausdrücken und weniger attraktive Tätigkeiten widerspiegeln, kann eine progressive Besteuerung diese Differenziale verringern oder beseitigen. Das erhöht Anreize zur Gestaltung des steuerpflichtigen Einkommens durch Verlagerung von Einkommensteilen beispielsweise auf andere Personen, Gebiete oder Jahre. Die daraus resultierenden Substitutionseffekte (z.B. Freizeit statt Arbeitsleistung) hängen von der Höhe der Grenzsteuersätze (und daher der Nettogrenzerträge) ab. Diese Wirkung kann fiskalisch bei mobilen Faktoren, insbesondere bei Kapital und hochqualifizierten Arbeitskräfte, groß sein. Der (direkt) progressive Tarif trägt auch zur Komplexität der Einkommensteuer bei. Zentrale Fragen bei der Festlegung des Tarifs sind, wie der Grenzsteuersatz nach Überschreiten des Grundfreibetrags aussehen, ob und bis zu welcher Höhe er ansteigen und ob ein einheitlicher Tarif auf eine Bemessungsgrundlage angewendet werden soll. Tatsächlich hat sich die Politik aber konsequent für keinen dieser Vorschläge entschieden. Die direkte Progression wurde nicht abgeschafft, sondern auf einen Teileinkommensbereich beschränkt, weil die Kapitaleinkommen einer proportionalen Abgeltungsteuer unterworfen werden. Diese Begrenzung ist unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit und Umverteilung schwer zu rechtfertigen. Hier wird deutlich, dass sich vertraute (wenn auch nie konsequent umgesetzte) Paradigmen in offenen Volkswirtschaften mit mobilen Faktoren nicht mehr umsetzen lassen. Dann müssen die Planer darauf achten, eine ausreichende Steuerbasis zu erhalten. Dieser rein pragmatische Gesichtspunkt steht im Vordergrund bei der Sonderbehandlung der Kapitaleinkünfte. 8. Die Einkommensteuer als Teil der Unternehmensbesteuerung Die Einkommensteuer rechnet zur Unternehmensbesteuerung, weil sie die Einkünfte aus den Gewinneinkunftsarten belastet. Sie ist neben Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag Teil der gewinnabhängigen Unternehmenssteuern1. Die unternehmensrelevanten Teile der Einkommensteuer beziehen sich auf die Gewinnermittlung und hierbei insbesondere auf den Verlustausgleich, die Abschreibungen, die Thesaurierungsbegünstigung, die Behandlung der Gewerbesteuer und der geleisteten 1

Daneben gibt es gewinnunabhängige Steuern wie die Grundsteuer; vgl. Kapitel 17.1.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

517

Zinsen. Soweit Gewinne von Personengesellschaften im Unternehmen bleiben, gibt es für sie auf Antrag eine Tarifreduzierung auf knapp 30 %, die sich aus dem besonderen Steuersatz auf einbehaltene Gewinne von ]ein = 28,25 % und dem darauf entfallenen Solidaritätszuschlag von 5,5 % ergibt (ggf. zuzüglich Kirchensteuer, die die Bemessungsgrundlage der tariflichen Einkommensteuer mindert). Werden diese Gewinne später wieder entnommen, werden sie analog zur Dividendenbesteuerung mit ]KE = 25 % und dem Solidaritätszuschlag (ggf. zuzüglich Kirchensteuer, die die Bemessungsgrundlage der tariflichen Einkommensteuer mindert) belastet. Die Gewerbesteuer wird gegenwärtig (2011) mit dem 3,8fachen des Gewerbesteuermessbetrages auf die Einkommensteuer angerechnet. Sie entlastet Personengesellschaften bis zu Hebesätzen von 400 % vollständig, die aber in den meisten Bundesländern überschritten werden. Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer sind also nicht in einer einheitlichen Unternehmenssteuer zusammengefasst, die rechtsformunabhängig belastet1. Stattdessen bestehen verschiedene Bemessungsgrundlagen, Verrechnungen und Tarife. 9. Ergebnisse der Einkommensteuerstatistik Tab. 16-1 zeigt, dass in den letzten Jahren (außer 2009) weit über 90 % (86 %) des Einkommensteueraufkommens an der Quelle abgezogen wurden, insbesondere durch die Lohnsteuer. Die Aussagekraft der Lohn- und Einkommensteuerstatistik ist allerdings eingeschränkt. Sie bezieht sich nicht auf mehrere isolierte Abgaben. Führt z.B. die Veranlagung von Arbeitnehmern zu Erstattungen, so mindern diese Erstattungsbeträge die veranlagte Einkommensteuer2. Auch die Eigenheimzulage und die Zulagen zur „Riester“-Rente wirken so. Andererseits müssen gewährte Arbeitnehmersparzulagen, die zunächst das Lohnsteueraufkommen kürzen, bei Überschreiten der im Gesetz vorgesehenen Einkommensgrenzen zurückgezahlt werden. Diese Rückzahlungen werden dem Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer zugerechnet. Auch wurde die Höhe der veranlagten Einkommensteuer durch die anrechenbare Kapitalertragsteuer gemindert. Das ist bei der ab 2009 bestehenden Abgeltungsteuer bei nicht genutzten Freistellungen oder der Nutzung der Veranlagungsoption möglich.

1 2

So hat es beispielsweise die Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft vorgeschlagen. Das Kassenaufkommen reduziert sich (2004) nach den Abzugsbeträgen auf ca. 1/6 des Bruttoaufkommens der veranlagten Einkommensteuer (vgl. Monatsbericht des BMF 10.2004, S. 50).

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

518

Tab. 16-1 Das Aufkommen der Erhebungsformen der Einkommensteuer Jahr

Lohnsteuer

1960 1970 1980 1990 1995 2000 2005 2009 1

Mrd. € 4,1 17,9 57,0 92,6 144,5 135,7 118,9 135,2

% 45,3 66,1 73,1 79,3 86,6 80,4 81,7 72,4

Kapitalertragsteuer1 Mrd. € 0,4 1,0 2,1 5,5 15,2 20,8 16,9 24,9

% 4,5 3,8 2,8 4,7 9,1 12,3 11,6 13,4

Veranlagte Einkommensteuer Mrd. € 4,6 8,2 18,8 18,7 7,2 12,2 9,8 26,4

% 50,3 30,1 24,1 16,0 4,3 7,2 6,7 14,2

insgesamt Mrd. € 9,2 27,2 78,0 116,8 166,9 168,8 145,6 186,5

% 100 100 100 100 100 100 100 100

Einschließlich Zinsabschlag (1993 – 2008) bzw. Abgeltungsteuer (ab 2009).

Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Finanzbericht 2006, 2011, Tab. 11; eigene Berechnungen. Die Einkommensteuerstatistik weist die kassenmäßig vereinnahmten Beträge (in Form von Vorauszahlungen, Abschluss- und Nachzahlungen, Säumniszuschlägen u. a.) ohne periodengerechte Abgrenzung nach dem für ihr Entstehen rechtlich-kausalen Zeitabschnitt nach. Das Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer ist immer Restgröße. Da der progressive Einkommensteuertarif auf das gesamte zu versteuernde Einkommen abstellt, kann die Steuer weder im Einzelfall noch makroökonomisch den verschiedenen, zum Teil negativen Einkunftsarten zugerechnet werden.

Tab. 16-2 macht deutlich, dass das Steueraufkommen entscheidend davon abhängt, in welchem Tarifbereich die Masse der Einkommensbezieher liegt. So haben Entlastungen im unteren Einkommensbereich nur geringe Auswirkungen auf den Gesamtbetrag der Einkünfte und auf die bei Anwendung des Steuertarifs resultierende Steuerschuld, Maßnahmen im oberen Bereich treffen auf vergleichsweise dünn besetzte Klassen. Für das Jahr 2001 zeigt die Lohn- und Einkommensteuerstatistik1, dass bei rund 48 % der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen der Gesamtbetrag der Einkünfte unter 25 000 Euro, bei weiteren 45 % zwischen 25 000 und 75 000 Euro lag. Die Gruppe mit Einkünften ab 75 000 Euro machte 6 % der Steuerpflichtigen aus, auf sie entfielen aber 27 % der Einkünfte und 49 % der Steuerschuld.

1

Bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse der Lohn- und Einkommensteuerstatistik vergehen mehrere Jahre. Zur Erklärung siehe Wirtschaft und Statistik 6/2000. Ende 2010 lag erst die Statistik für 2004 vor.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer Tab. 16-2

Lohn- und Einkommensteuerpflichtige 2001 Ergebnisse der Lohn- und Einkommensteuerstatistik1

Gesamtbetrag der Einkünfte von ... bis unter ... €

Gesamtbetrag der Einkünfte Steuerpfl.

0 2 500 5 000 7 500 10 000 12 500 15 000 20 000 25 000 30 000 37 500 50 000 75 000 100 000 125 000 175 000 250 000 375 000 500 000 1 000 000 2 500 000 5 000 000

-

519

%

Zu versteuerndes Einkommen Mio. €

%

2.500 5 000 7 500 10 000 12 500 15 000 20 000 25 000 30 000 37 500 50 000 75 000 100 000 125 000 175 000 250 000 375 000 500 000 1 000 000 2 500 000 5 000 000 oder mehr

2 446 056 1 183 247 1 290 530 1 234 615 1 175 311 1 198 500 2 551 639 2 904 209 2 874 185 3 344 561 3 598 446 3 192 703 980 497 364 217 250 947 120 967 62 445 22 286 24 242 9 347 2 090 1 067

8,48 4,10 4,48 4,28 4,08 4,16 8,85 10,07 9,97 11,60 12,48 11,07 3,40 1,26 0,87 0,42 0,22 0,08 0,08 0,03 0,01 0,00

Mio. € 1 638 4 431 8 063 10 786 13 210 16 487 44 767 65 478 78 919 112 121 155 495 191 705 83 576 40 352 36 433 24 874 18 737 9 555 16 340 13 784 7 097 12 205

% 0,17 0,46 0,83 1,12 1,37 1,71 4,63 6,78 8,17 11,61 16,10 19,84 8,65 4,18 3,77 2,57 1,94 0,99 1,69 1,43 0,73 1,26

1 535.636 1 177 031 1 283 268 1 228 090 1 169 607 1 193 633 2 544 024 2 898 349 2 869 975 3 340 272 3 594 134 3 188 616 978 651 363 198 249 885 120 261 61 980 22 077 23 947 9 218 2 060 1 055

Stpfl.

% 5,51 4,23 4,61 4,41 4,20 4,29 9,13 10,41 10,30 11,99 12,90 11,45 3,51 1,30 0,90 0,43 0,22 0,08 0,09 0,03 0,01 0,00

-147 2 183 4 773 6 816 8 751 11 582 33 929 52 077 64 630 94 422 134 923 168 331 73 186 35 586 32 476 22 445 17 129 8 802 15 153 12 882 6 628 11 563

-0,02 0,27 0,58 0,83 1,07 1,42 4,15 6,37 7,90 11,54 16,49 20,58 8,95 4,35 3,97 2,74 2,09 1,08 1,85 1,57 0,81 1,41

insgesamt

28 832 107

100,00

966 053

100,00

27 854 967

100,00

818 118

100,00

Verlustfälle2

277 398

-4 643

noch Tab. 16-2 Gesamtbetrag der Einkünfte von ... bis unter ... € 0 2 500 5 000 7 500 10 000 12 500 15 000 20 000 25 000 30 000 37 500 50 000 75 000 100 000 125 000 175 000 250 000 375 000 500 000 1 000 000 2 500 000 5 000 000

-

Festzusetzende Einkommensteuer Jahreslohnsteuer3 Stpfl.

%

Mio. €

%

2 500 5 000 7 500 10 000 12 500 15 000 20 000 25 000 30 000 37 500 50 000 75 000 100 000 125 000 175 000 250 000 375 000 500 000 1 000 000 2 500 000 5 000 000 oder mehr

63 009 78 451 118 714 296 395 685 057 839 904 1 955 353 2 673 820 2 787 679 3 293 480 3 576 170 3 180 729 976 392 362 243 249 149 119 828 61 754 21 988 23 849 9 180 2 049 1 051

0,29 0,37 0,56 1,39 3,20 3,93 9,15 12,51 13,04 15,41 16,43 14,88 4,57 1,69 1,17 0,56 0,29 0,10 0,11 0,04 0,01 0,00

4 10 25 72 279 676 3 033 6 148 8 978 15 081 24 749 37 147 19 632 10 860 11 274 8 591 6 963 3 703 6 517 5 564 2 837 4 943

0,00 0,01 0,01 0,04 0,16 0,38 1,71 3,47 5,07 8,52 13,98 20,98 11,09 6,13 6,37 4,85 3,93 2,09 3,68 3,14 1,60 2,79

insgesamt

21 376 244

100,00

177 084

100,00

Durchschn. Steuerbelastung € 64,82 128,68 207,85 242,82 406,97 804,44 1 551,19 2 299,22 3 220,59 4 578,98 6 920,60 11 678,87 20 107,05 29 978,72 45 249,08 71 691,41 112 748,89 168 393,58 273 265,38 606 143,57 1 384 487,07 4 703 028,54

Steuerbelastungsquote4 % 9,68 3,44 3,33 2,78 3,62 5,85 8,84 10,20 11,73 13,66 16,02 19,45 23,59 27,06 31,17 34,86 37,58 39,28 40,54 41,10 40,77 41,12

Durchschnittssteuersatz5 % 6,94 5,59 4,37 5,44 8,29 11,63 12,80 14,30 16,20 18,44 22,12 26,89 30,60 34,82 38,41 40,80 42,24 43,18 43,37 43,03 42,91

1

Nach der Grund- und Splittingtabelle zusammen. Mit negativem Gesamtbetrag der Einkünfte. 3 Für Fälle ohne Einkommensteuer-Veranlagung: Einbehaltene Lohnsteuer. 4 (Durchschnittl. festgesetzte Einkommensteuer/durchschnittl. Gesamtbetrag der Einkünfte) · 100. 5 (Durchschnittl. festgesetzte Einkommensteuer/durchschnittl. zu versteuerndes Einkommen) · 100. 2

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 7.1, Lohn- und Einkommensteuer 2001.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

520

Tab. 16-3 Beitrag der Steuerpflichtigen zum Aufkommen an Lohn- und Einkommensteuer obere ... % der Steuerpflichtigen1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 untere ... % der Steuerpflichtigen1

1 2 3

20 25 30 35 40 45 50

1992

36,1 50,2 57,2 64,2 69,5 74,4 78,5 82,2 85,4 88,2

1998 20053 Kumulierte Anteile an Lohn- und Einkommensteuer in % des gesamten Aufkommens2 41,0 42,2 60,3 66,9 72,2 76,8 80,9 84,4 87,7 90,8

42,4 54,1 62,5 69,1 74,6 79,2 83,1 86,9 90,2 93,2

20103

41,8 54,6 63,7 70,8 76,5 81,4 85,4 88,8 91,7 94,2

Kumulierte Anteile an Lohn- und Einkommensteuer in % des gesamten Aufkommens2 0,8 1,6 2,9 4,7 6,7 8,9 11,8

0,0 0,1 0,8 2,0 4,0 6,5 9,2

0,0 0,1 0,3 1,1 2,4 4,2 6,8

Zusammenveranlagte Ehepaare rechnen als ein Steuerpflichtiger. Einkommensteuer gegebenenfalls nach Abzug des Kindergeldes. Fortschreibung der Einkommensteuer-Stichprobe.

0,1 0,2 0,6 1,3 2,4 3,9 5,8

Quelle: Stern (2006), S. 130; BMF (2009), S. 31; BMF (2010a), S. 33.

Tab. 16-3 zeigt darüber hinaus für mehrere Jahre, wie sich die Beiträge der oberen z.B. 50 % und der unteren 50 % der Steuerpflichtigen zur Lohn- und Einkommensteuer entwickelt haben. So ist der Anteil der oberen 50 % von 88,2 % in 1992 auf 93,8 % in 2008 gestiegen, der Anteil der unteren 50 % Steuerpflichtigen ist andererseits von 11,8 % auf 6,2 % gesunken. 10. Abschließende Beurteilung der deutschen Einkommensteuer Die Einkommensteuer ist eine komplizierte Abgabe. Zur Berechnung der Bemessungsgrundlage (zu versteuerndes Einkommen) werden eine Vielzahl verschiedener Begriffe, Befreiungen, Freibeträge u.ä. verwendet. Eine Systematik ist hierbei nicht erkennbar1. Darunter leidet die gleichmäßige Besteuerung. Die Abschaffung vieler Sonderregeln würde zu einer Vereinfachung beitragen, wie auch eine einheitliche Grenzbelastung des Gesamteinkommens. Die Leitlinie einer synthetischen, d.h. einheitlichen Besteuerung des Gesamteinkommens, hat die Einkommensteuer nicht umgesetzt, weil sie weitgehend eine Schedulensteuer darstellt. Hierzu trägt insbesondere die Sonderbehandlung der Kapitaleinkünfte mit der Abgeltungsteuer bei.

1

Daher lässt sich auch ein Bruttoeinkommensbegriff nicht ableiten, der für eine empirische Wirkungsanalyse wichtig wäre.

16. Kapitel: Die Einkommensteuer

521

Fiskalisch ist die Einkommensteuer die bedeutendste Abgabe. Stabilitätspolitisch ist sie – soweit der Quellenabzug greift – den anderen Steuern infolge der schnellen Reaktion der Bemessungsgrundlage auf Änderungen des Inlandsprodukts und des progressiven Tarifs überlegen. Das ist insbesondere bedeutsam, soweit die Konsum- und Investitionsentscheidungen vom verfügbaren Einkommen abhängen. Lags, Rückzahlungen u.ä. im Zuge der Veranlagung wirken dem entgegen. Neben dem automatischen Reagieren des Steueraufkommens besteht auch die Möglichkeit, die Einkommensteuer durch gezielte Einzelmaßnahmen (Sonderabschreibungen, Konjunkturzuschlag) konjunkturpolitisch zu gestalten. Ob diese Möglichkeiten einer diskretionären Politik allerdings wünschenswert sind, ist angesichts ihrer umstrittenen Erfolgsaussichten und der zunehmenden Komplizierung der Abgabe zweifelhaft. Die verteilungspolitischen Wirkungen der Steuer hängen von verschiedenen Bedingungen ab, so der Periodisierung, den Einkommensbegriff mit seinen zahlreichen Sonderregelungen. Dennoch lassen sich über Mikrosimulationsanalysen recht gute Verteilungsaussagen machen (vgl. Bach/Steiner 2006, Seidl 2006, Fuest u.a. 2007). Allokativ bedeutsam ist, dass die Produktionsentscheidungen durch unterschiedliche Besteuerung von Zinsen und Kapitalerträgen verzerrt werden. Das gilt auch für die intertemporalen Konsumentscheidungen. Ferner sind die aus den Differenzierungen nach Einkunftsarten, Branchen usw. hervorgerufenen Verzerrungen bedeutsam. Sie verändern das Verhalten, indem die Wirtschaftssubjekte mehr an steuerfreien oder -begünstigten Ausgaben tätigen, Entlohnung in nicht zu versteuernder Form wählen, (z.B. Versicherungsleistungen, bessere Arbeitsbedingungen, Firmenwagen) oder weniger Arbeitszeit einsetzen (frühere Pensionierung, verringerte Arbeitsstunden). Auch die hohen Grenzsteuersätze können negative Anreize auslösen. Aus politischer Sicht ist die Spürbarkeit der Einkommensteuer bedeutsam, durch die den Bürgern eine Vorstellung von den Kosten staatlichen Handelns vermittelt wird. Tatsächlich ist dieser Effekt eingeschränkt, weil von den 46,7 Mio Haushalten nur knapp die Hälfte steuerlich erfasst bzw. beim Finanzamt erfasst sind, aber keine Steuern zahlen1. Literatur zum 16. Kapitel Umfassende Darstellungen der synthetischen Einkommensteuer geben Andel (1980) und Musgrave/Musgrave/Kullmer (2, 1993, Kapitel 17). Als klassische Darstellungen gelten Neumark (1947) und Simons (1938). Zur Darstellung und Würdigung der deutschen Einkommensteuer (nicht nur) unter steuerrechtlichen Aspekten siehe Tipke/Lang (2009, § 9). Zur Dualen Einkommensteuer siehe Sørensen (1998), die Gutachten des Sachverständigenrates (2003, 2006) und des Sachverständigenrates u.a. (2006). Zur Beurteilung der gegenwärtigen deutschen Einkommensteuer siehe Sachverständigenrat (2003).

1

BMF-Pressemitteilung vom 09.12.2009.

522

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Die Einkommensperiode diskutieren Brümmerhoff (1977), Hackmann (1979) und Vickrey (1947). Die Frage der steuerpflichtigen Einheit behandelt Pollak (1982). Siehe auch Brazer (1980) und aus steuerrechtlicher Sicht Lang (1983). Zur Beziehung Inflation - Einkommensteuer siehe Bös/Genser (1977) und Millbradt (1982). Zur Problematik des progressiven Tarifs auch bei real wachsender Wirtschaft behandelt Steden (1975/76). Vickrey (1947) analysiert Probleme des Steuertarifs; umfassender beschäftigt sich mit der Progression der von Bös/Felderer (1988) herausgegebene Band. Das Statistische Bundesamt legt in der Fachserie 14, Finanzen und Steuern, Reihe 7.1 und 7.3 die Ergebnisse der Lohn- und Einkommensteuerstatistik dreijährig vor. Siehe auch BMF (2005) mit einer Datensammlung zur Steuerpolitik. Das Bundesministerium der Finanzen gibt seit 1994 jährlich ein „Amtliches EinkommensteuerHandbuch“ heraus, das die maßgebenden Rechtsvorschriften zusammenfasst. Zur Flat Tax siehe Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2004) und JG 2005/06 des Sachverständigenrates, zur Ausgabensteuer Rose (1999, 2002).

17. Kapitel Die Körperschaftsteuer als Teil der Unternehmensbesteuerung 1. Die Unternehmensbesteuerung Unternehmen treten in verschiedenen Formen auf (Einzelunternehmung, Personengesellschaft, Körperschaft usw.). Sie werden mit Abgaben belastet, die alle treffen (Grundsteuer, Solidaritätszuschlag) oder nur bestimmte Gruppen (Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer). Die Belastung geht aber darüber hinaus, weil die Unternehmen neben der Zahlung dieser Steuern Transaktionskosten auferlegt bekommen, die (auch) bei der Entrichtung anderer als der eigentlichen Unternehmenssteuern anfallen (etwa bei Lohnsteuer und Sozialbeiträgen). Wie Unternehmenssteuern wirken auch solche Abgaben, die für Unternehmen eigentlich als „durchlaufende Posten“ konzipiert sind (z.B. Verbrauchsteuern), aber nicht überwälzt werden können. Sieht man von solchen Fällen ab, kann die Unternehmensbesteuerung durch eine Reihe von Abgaben beschrieben werden, die bei den Unternehmen gewinnabhängig und gewinnunabhängig erhoben werden. Zu den gewinnabhängigen Steuern rechnen veranlagte Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer. Gewinnunabhängige Steuern sind Grundsteuer, Grunderwerbsteuer, Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie Feuerschutzsteuer, Kfz-Steuer, Mineralölsteuer, Versicherungsteuer und sonstige spezielle Verbrauchsteuern. Im Folgenden geht es um die Körperschaftsteuer und ihr Zusammenwirken mit Gewerbesteuer, Solidaritätszuschlag und Einkommensteuer. 2. Alternativen der Körperschaftsbesteuerung Die Körperschaftsteuer ist eine Abgabe, die am Gewinn der Kapitalgesellschaften (insbesondere in Form der Aktiengesellschaft oder GmbH) anknüpft. Sie trägt zum Steueraufkommen als viertwichtigste Abgabe bei und wird häufig verändert. Die Körperschaftsteuer wird vom deutschen Gesetzgeber als eine besondere Art der Einkommensteuer vor allem juristischer Personen gesehen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2005, S. 75). Die Einkommensteuer knüpft am Einkommen natürlicher Personen an und kann daher prinzipiell Unternehmen nicht belasten. Je nach Sichtweise und Ausgestaltung wird die Körperschaftsteuer als eigene Steuer interpretiert oder systematisch zur Einkommensteuer (der natürlichen Personen), und zwar als eine ihrer Erhebungsformen (wie die Lohnsteuer), gerechnet. Tatsächlich wurde bzw. wird die Abgabe mal als eigene Steuer, mal als eine Vorbelastung von Erfolgen der Kapitalgesellschaften behandelt. Grundsätzlich kann jeder Gewinn – unabhängig von der Rechtsform – der Einkommensteuer unterwerfen werden. So wird bei Personengesellschaften der Gewinn den Anteilseignern voll, d.h. unabhängig von einer Einbehaltung, zugerechnet und dort versteuert. Bei Kapitalgesellschaften bestehen aber Probleme bei der steuerlichen Behandlung des nichtausgeschütteten Gewinns. Tatsächlich haben sich die steuerpolitischen Lösungen nicht immer auf diesen Teil des Gewinns beschränkt. Daher werden

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

524

zunächst einige alternative steuerliche Behandlungen des Körperschaftsgewinns diskutiert. Abb. 17-1 gliedert hierzu den Gewinn auf und verdeutlicht verschiedene Anknüpfungspunkte seiner Besteuerung. Abb. 17-1 Anknüpfungspunkte zur Besteuerung des Gewinns Gewinn (unabhängig von Rechtsform des Unternehmens) Gewinn der Personengesellschaften einbehalten

ausgeschüttet

Gewinn der Kapitalgesellschaften einbehalten

ausgeschüttet

3. Formen der steuerlichen Behandlung von Gewinnen der Kapitalgesellschaften Die Unterschiede einzelner Formen der Körperschaftsbesteuerung sollen aus der Sicht der inländischen einkommensteuerpflichtigen Person herausgearbeitet werden. Hierbei werden die folgenden Symbole verwendet: Y D YS

Gewinn der Kapitalgesellschaften ]Y ausgeschütteter Gewinn ]E sonstiges steuerpflichtiges Einkommen ]KE -D;!A $* 7 DCA= ),

Steuersatz auf Y persönlicher Einkommensteuersatz Steuersatz auf Kapitaleinkommen

(1) Der gesamte Gewinn unterliegt – unabhängig von der Rechtsform – nur der Einkommensteuer. Es gilt also (17-1)

T ) ] E (Y 9 YS ) .

Kapitalgesellschaften werden für die Einkommensteuer prinzipiell wie Personengesellschaften behandelt. Dort rechnen die auf die Gesellschafter entfallenden Gewinnanteile zu deren steuerpflichtigem Einkommen. Entsprechend wird hier der Gesamtgewinn der Kapitalgesellschaften den Anteilseignern zugerechnet. Eine nach Unternehmensformen differenzierende Besteuerung liegt dann nicht vor, Körperschaftsteuer wird nicht erhoben. Gegen diese Regelung wird vorgebracht, dass bei Kapitalgesellschaften der einzelne Anteilseigner häufig praktisch keinen Einfluss auf die Geschäfts-, insbesondere Ausschüttungspolitik hat 1. Dennoch muss er seine Anteile an den einbehaltenen Gewinnen seinen sonstigen Einkommensteilen hinzurechnen und versteuern, ohne dass ihm – ähnlich wie bei einer Besteuerung nicht realisierter Vermögenszuwächse – liquide Mittel zufließen, aus denen die Steuer gezahlt werden kann. Würden ferner die (realisierten oder nicht realisierten) Kapitalgewinne der Einkommensteuer unterworfen, käme es zu einer Mehrfachbelastung. 1

Das kann aber auch bei Personengesellschaften zutreffen. Dort wird aber die Unterscheidung zwischen einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen nicht getroffen; der Gesamtgewinn wird den Anteilseignern zugerechnet.

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

525

Bei dieser Alternative bleiben die auf Ausländer entfallenden Erträge aus den Kapitalgesellschaften in Deutschland unbelastet. Da jedes Land bemüht ist, auf eine möglichst große Bemessungsgrundlage zurückgreifen zu können, ist diese Form der Besteuerung – wie auch (2) nicht im nationalen fiskalischen Interesse. (2) Nur die ausgeschütteten Gewinne werden im Rahmen der Einkommensteuer belastet. In diesem Fall ist (17-2)

T ) ] E (D 9 YS ) .

Hier bleiben einbehaltene Gewinne unbelastet. Sie werden allenfalls insoweit (indirekt) erfasst, wie sie in Form realisierter und nicht realisierter Kapitalgewinne zum Einkommen rechnen und zu versteuern sind. Da die Besteuerung nicht realisierter Kapitalgewinne nicht durchführbar ist, kommt es in Höhe der einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaften zu einer Begünstigung ihrer Anteilseigner gegenüber den Personengesellschaften. Der Investor verschiebt seine Einkommensteuerzahlung, wenn er das auf ihn entfallende Einkommen in der Kapitalgesellschaft belässt. Es bestehen Anreize, Körperschaften als Unternehmensform zu wählen und vom Körperschaftsgewinn möglichst wenig auszuschütten, so dass der Anteilseigner sein Einkommen vor der Besteuerung schützen kann, indem Kapitalgesellschaften für ihn Vermögen halten. (3) Der gesamte Gewinn der Kapitalgesellschaften unterliegt der Körperschaftsbesteuerung, die Dividenden werden (ohne Anrechnung) bei der Einkommensteuer zusätzlich belastet: (17-3)

T ) ] Y Y 9 ] E (D 9 YS ) .

In diesem Fall des sog. klassischen Systems wird auf den gesamten Gewinn der Kapitalgesellschaften ohne Differenzierung Körperschaftsteuer erhoben. Zusätzlich werden die den heimischen Anteilseignern zufließenden Dividenden zusammen mit ihren sonstigen Einkünften durch die persönliche Einkommensteuer belastet. Ist der Anteilseigner selbst eine Körperschaft, unterliegt der ausgeschüttete Gewinn erneut der Körperschaftsteuer. Bei ]Y < ]E ist die Anlage netto günstiger als andere Einkommensformen, solange keine Ausschüttung gewünscht wird. Es kann – wie auch bei (1) – Interessengegensätze zwischen jenen Aktionären geben, die eine Ausschüttung wünschen, und jenen, die an der Rücklagenbildung im Unternehmen interessiert sind. Diese Form der Körperschaftsteuer führt zu keiner gezielten Belastung der Eigentümer der Kapitalgesellschaften. Inländer und Ausländer 1 werden gleich behandelt. Die noch zu zeigende Benachteiligung der Eigenfinanzierung und der Ausschüttungspolitik können eine breitere Streuung des Vermögens in Form von Anteilen an Kapitalgesellschaften behindern.

1

Zumindest, wenn im Ausland deren Gewinne der Einkommensteuer unterliegen.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

526

(4) Bei einer Belastung des gesamten Gewinns der Kapitalgesellschaften und gleichzeitiger Gutschrift für die Anteilseigner in Höhe ihrer anteiligen Körperschaftsteuer kommt es für Inländer zu dem gleichen Ergebnis wie bei Alternative (1), denn es gilt (17-4)

T ) ] Y Y 9 :] E (Y 9 YS ) 5 ] Y Y 8 ) ] E (Y 9 YS )

Diese als Teilhabersteuer bezeichnete Form der Körperschaftsteuer ist lediglich eine Erhebungsform der Einkommensteuer, sie wird wie die Lohnsteuer voll auf die endgültige Einkommensteuerschuld angerechnet. Die so erreichte Integration von Einkommen- und Körperschaftsteuer führt dazu, dass die von Kapitalgesellschaften bezogenen Gewinne bei Inländern letztlich mit dem individuellen Steuersatz des Einkommensteuertarifs belastet werden. Die Ausschüttungspolitik bleibt ohne Einfluss auf die Steuerbelastung bzw. -gutschrift. Die Kapitalgesellschaft informiert den Anteilseigner über den einbehaltenen Gewinn. Dieser Betrag und die Bruttodividende erhöhen anteilsmäßig sein Einkommen. Übersteigt der beim Quellenabzug errechnete Steuerbetrag den persönlichen Steuerbetrag auf das Einkommen unter Einschluss dieser Kapitaleinkünfte, also ] Y Y > ] E (Y 9 YS ) , wird die zuviel gezahlte Steuer zurückerstattet. Der inländische Anteilseigner wird also steuerlich wie der inländische Teilhaber an einem nicht körperschaftsteuerpflichtigen Unternehmen behandelt. Bei dem Verfahren wird der Steuerzahler mit einer Abgabe auch auf Einkommensteile belastet, die er nicht empfängt und nicht verwenden kann. Im Gegensatz aber zum Verfahren (1) 1 erfährt er keine Liquiditätseinbuße 2. Folglich muss er auch ohne Dividende keine Anteile zur Finanzierung der Körperschaft- oder Einkommensteuer verkaufen, weil die Körperschaftsteuerzahlung bereits durch die Kapitalgesellschaften erfolgt ist. Gegen diese Form der Besteuerung wird vorgebracht, dass sie Ausländer benachteilige, deren Heimatstaaten ] Y Y bei der Einkommensteuerschuld dort nicht anrechnen würden. (5) Die Gewinne Y werden nur mit Körperschaftsteuer belastet und aus der allgemeinen einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage ausgeklammert. (17-5)

T ) ] Y Y 9 ] E YS

Damit hängt die Belastung eines inländischen Beziehers von Dividenden im Vergleich zu Gewinnen aus Personengesellschaften davon ab, ob ]Y ! ]E 3. Wenn ]Y für alle Kapitaleinkommen KE gilt ( ] Y ) ] KE ) und YS letztlich auf Arbeitseinkommen beschränkt ist, kommt es hier zu einer mit der Dualen Einkommensteuer abgestimmten Körperschaftsteuer. Dann gibt es bei gleicher Ermittlung der Bemessungsgrundlagen 1 2 3

Formal sehen die Verfahren (1) und (4) im Ergebnis gleich aus. Auch ein Gegensatz zu (2) mit der Besteuerung unrealisierter Vermögenswertzuwächse im Rahmen der Einkommensteuer. Genau genommen müsste bei progressivem Tarif ]E auf Ys + Y bezogen sein.

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

527

aller Kapitaleinkünfte keine gewinnsteuerlich bedingten Verzerrungen, so dass auch ] Y ) ] KE L ] E angewendet werden. Inländer und Ausländer werden bei der Körperschaftsteuer gleich behandelt. In der Praxis sieht die Lösung allerdings anders aus. Bemerkenswert ist, dass auch international verschiedene Körperschaftsteuersysteme – teils in Abwandlungen der dargestellten Formen und daraus resultierenden unterschiedlichen Belastungen der Gewinne – zu finden sind. Ihre Beurteilung hängt davon ab, ob man auf die Finanzierungs-, Ausschüttungs- oder Investitionswirkungen abstellt und aus nationaler oder internationaler Perspektive analysiert. 4. Die deutsche Körperschaftsteuer a) Frühere Verfahren Bis Ende 1976 galt ein Körperschaftsteuergesetz (KStG), das weitgehend dem Verfahren (3) entsprach. Allerdings belastete es nichtausgeschüttete Gewinne der Kapitalgesellschaften mit einem Satz von 51 %, ausgeschüttete Gewinne im Normalfall mit 15 %, so dass die Doppelbesteuerung gemildert wurde. Ab 1977 entsprach das Verfahren weitgehend (4). Die Tarifbelastung mit Körperschaftsteuer galt für nichtausgeschüttete Gewinne. Bis 1989 betrug der Thesaurierungssatz 56 %, bis 1993 50 % und bis 1998 45 %, dann grundsätzlich 40 % des zu versteuernden Einkommens (und lag damit unter dem Höchstsatz der Einkommensteuer). Bis 2000 belief sich die Belastung für ausgeschüttete Gewinne auf 30 %. Sie trat auch dann ein, wenn die Ausschüttung größer als das Einkommen war – z.B. bei Ausschüttung von Gewinn, der aus der Auflösung z.B. mit 45 oder 50 % versteuerter Rücklagen entstanden ist. In Höhe der Ausschüttungsbelastung von 30 % durch Körperschaftsteuer entstand dem Empfänger ein Anspruch auf Aufrechnung bzw. Erstattung bei seiner Einkommensteuerveranlagung. Insofern stellte die Körperschaftsteuer (nur) bei Inländern eine vorübergehende Belastung dar. Die bis 2007 geltende Regelung knüpfte am klassischen System (3) an 1. Die ausgeschütteten und thesaurierten Gewinne der Kapitalgesellschaften wurden gleich belastet. Der Steuersatz ]Y betrug einheitlich 25 % auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne der Körperschaften 2. Auf die Körperschaftsteuer wurde ein Solidaritätszuschlag von 5,5 % erhoben. Die Dividenden erfuhren aber im Rahmen der Einkommensteuer innerhalb der Einkünfte aus Kapitalvermögen eine besondere Behandlung. Eine

1

2

Bemerkenswert ist, dass vor Ablauf der Übergangsregeln bereits ein neues System eingeführt wurde. So waren bereits in dem bis 2007 geltenden System für eine Übergangszeit bis zum Jahre 2016 Altgewinne „auszukehren“, d.h. die Körperschaftsteuerguthaben zu realisieren, die auf der Differenz zwischen Thesaurierungssatz (40 %) und Ausschüttungssatz (30 %) beruhen. Als Folge eines Moratoriums mussten zwischenzeitlich aber Körperschaftsteuerguthaben geltend gemacht werden, bei gleichzeitiger Einschränkung des intertemporalen Verlustausgleichs. Hinzu kam die Gewerbesteuer, die in (17-6) nicht explizit genannt wird.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

528

Anrechnung der gezahlten Körperschaftsteuer erfolgte nicht, es galt aber das sog. Halbeinkünfteverfahren: (17-6)

T ) ] Y Y 9 ] E (YS 9 1 2 D) .

Wie im klassischen Verfahren wurde der Gewinn der Kapitalgesellschaften zweimal belastet, allerdings bei deutschen Anteilseignern reduziert: Ihre Einkünfte aus den Ausschüttungen wurden zur Hälfte der Einkommensteuer unterworfen. b) Die geltende Körperschaftsteuer Nach dem geltenden Körperschaftsteuergesetz (KStG 2008) werden die Gewinne der Kapitalgesellschaften einheitlich mit 15 % besteuert, hinzu kommt eine Belastung durch Gewerbesteuer (]Gew) und Solidaritätszuschlag (soli), die zu einer Gesamtbesteuerung von etwa 30 % führt. Hierbei handelt es sich in der Regel um eine Definitivbelastung 1. Der effektive Steuersatz ]c beträgt (17-7)

] c ) (] Y 9 ] Gew )(1 9 soli) .

Bei Ausschüttung kommt zu dieser Belastung eine Abgeltungsteuer mit dem Satz ]Div hinzu, so dass sich die effektive Belastung des deutschen Anteilseigners 2 bei einem Satz ]?B der Abgeltungsteuer ergibt als (17-8)

] c9 ) (] Y 9 ] Gew )(1 9 soli) 9 ] KE (1 9 soli)

Ein Belastungsvergleich zwischen Körperschaftsteuer und Einkommensteuer wird in Tab. 17-2 durchgeführt. Je nach Ausschüttung beträgt die Belastung des Anteilseigners an einer KapG zwischen 29,83 und 48,33 %. Der Gewinn der Personengesellschaft kann bei den Gesellschaftern zu einer Maximalbelastung von 47,44 % führen. Bei Thesaurierung der Gewinne ist die Belastung der Personengesellschaften 29,77 %, bei Nachversteuerung 48,30 %. Auch hier findet eine Ausschüttungsbelastung durch die Abgeltungsteuer – statt Einkommensteuer – statt.

1

2

Bei Nichtausschüttung der Gewinne der Kapitalgesellschaften findet innerhalb der deutschen Einkommensteuer keine weitere Belastung statt, so dass mögliche andere Einkünfte des Steuerzahlers in Gleichung (17-7) nicht berücksichtigt werden. Ist der Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft, sind Ausschüttungen steuerfrei.

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

529

Tab. 17-2 Belastungsvergleich des deutschen Anteilseigners bei Ausschüttung/Thesaurierung

./. ./. ./.

./. ./. + ./.

(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13)

Gewinn vor Steuern (BG von GewSt und ESt) GewSt (Hebesatz 400, Messzahl 3,5) KSt (15 % von (1)) Solidaritätszuschlag (5,5 % von (3)) Gewinnbelastung auf Gesellschaftsebene Gewinn nach Steuern Thesaurierte gewerbliche Gewinne Entnommene gewerbliche Gewinne in Höhe von (1) ESt auf thesaurierte Gewinne (28,25 % von (7)) ESt auf entnommene Gewinne (45,00 % von (8)) GewSt-Anrechnung auf (10) Soli (5,50 % von (8) bzw. (7)) Gewinnbelastung auf Gesellschafterebene

KapG 100,00 14,00 15,00 0,83 29,83 70,17

PersG 100,00 100,00 14,00 14,00 14,00 14,00 86,00 86,00

29,83

0,00 100,00 0,00 45,00 13,30 1,74 47,35

100,00 0,00 28,25 0,00 13,30 0,82 29,77

(14) Nachversteuerung (25,00 % von (6)) (15) Abgeltungsteuer (25,00 % von (6)) (16) Soli (5,50 % von (15)

17,54 0,96

-

17,56 0,97

(17) Belastung Gesellschaft (18) Belastung Gesellschafter

29,83 18,50

14,00 33,44

14,00 34,30

(19) Gesamtbelastung

48,33

47,44

48,30

Eine einheitliche Belastung der Kapitaleinkommen, die nicht nach Ausschüttungsverhalten und Rechtsform unterscheidet, erfordert eine einheitliche Abgrenzung der Kapitaleinkommen und ]Y = ]KE. Um dieses Ergebnis annäherungsweise zu erreichen, wurden komplizierte Konstruktionen gewählt. Bei Besteuerung der einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaften mit ]Y (sowie ]Gew + soli) würden in Deutschland die einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaften eine geringere Belastung als die einbehaltenen Gewinne der Personengesellschaften erfahren, wenn ]E > ]Y und ]E > 0. Um diesen Effekt einzuschränken und mit der Begründung, die Investitionstätigkeit der Personenunternehmen zu erhöhen, ist eine Kompensation erdacht worden. Diese setzt bei den Personen an, denen die Ergebnisse der Wirtschaftstätigkeit des Unternehmens zugerechnet werden, da die Personengesellschaften anders als Kapitalgesellschaften keine Steuersubjekte sind. Die in ihrem zu versteuernden Einkommen enthaltenen nicht entnommenen Gewinne können auf Antrag einem Einkommensteuersatz von 28,25 % zuzüglich Solidaritätszuschlag unterliegen. Werden diese Gewinne später entnommen, werden sie analog zur Dividendenbesteuerung durch die Abgeltungsteuer belastet, so dass die Gesamtbelastung 48,33 % erreicht.

530

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Bei einer Belastung der einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaften mit 15 % würden ohne Ausgleichsmaßnahmen in der Regel die einbehaltenen Gewinne der Personengesellschaften diskriminiert. Dem soll eine Ermäßigung der Einkommensteuer um die – allerdings nicht tatsächlich gezahlte – Gewerbesteuer Rechnung tragen: die Einkommensteuerschuld des Unternehmers wird durch eine pauschalierte Anrechnung der Gewerbesteuer gemindert. Die Ermäßigung ist auf den Teil der Einkommensteuer beschränkt, der auf gewerbliche Einkünfte entfällt, und wird in Höhe des 3,8fachen Messbetrags 1 gewährt. Im Ergebnis soll der Unternehmer bis zu einem Hebesatz von 400 % durch die Gewerbesteueranrechnung wirtschaftlich von der Gewerbesteuer entlastet werden. Die Regelung wird für solche Unternehmen als vorteilhaft angesehen, die in Gemeinden mit niedrigeren Hebesätzen ansässig sind. Ausschüttungen zwischen inländischen Kapitalgesellschaften werden nicht besteuert (Dividendenfreistellung), um eine Mehrfachbelastung in der Beteiligungskette zu vermeiden. Gewinntransfers zwischen inländischen Betriebsstätten ausländischer Unternehmen und ihrem Stammhaus unterliegen keiner besonderen Behandlung. Veräußerungsgewinne aus Anteilen, die eine Kapitalgesellschaft an einer anderen Kapitalgesellschaft hat, sind nicht steuerpflichtig. Da Veräußerungsgewinne der Teilhaber an Personenunternehmen einkommensteuerpflichtig sind, treten hier Verzerrungen zu deren Lasten auf. Besteuerungsgrundlage der Körperschaftsteuer ist grundsätzlich das wie bei der Einkommensteuer ermittelte „Einkommen“ der Kapitalgesellschaften. Was als Einkommen gilt und wie es zu ermitteln ist, bestimmt sich nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes (ergänzt um das KStG). Allerdings unterscheidet sich das zu versteuernde Einkommen des KStG vom Einkommensbegriff des Einkommensteuerrechts, weil Kapitalgesellschaften lediglich Einkünfte aus Gewerbebetrieb 2 haben und in Ermangelung einer Privatsphäre die Bestimmungen über die Berücksichtigung persönlicher Umstände nicht anwendbar sind. Die Körperschaftsteuer wird vierteljährlich über Vorauszahlungen erhoben, die bei der jährlichen Körperschaftsteuer zu berücksichtigen sind. 5. Beurteilung der Körperschaftsteuer In (17-8) wurde die Abgeltungsteuer nur auf die Dividenden berechnet. Sie gilt aber auch für andere Kapitaleinkommen, so dass künftig zwei Steuertarife bei der Einkommensteuer zur Geltung kommen, wie mit Gleichung (16-6) beschrieben wurde. Für das Verständnis der Wirkungen reicht es, die Systeme (3) und (4) aus dem Abschnitt 2 oben näher zu betrachten. Dividenden unterliegen im klassischen System der Doppelbesteuerung durch Körperschaft- und Einkommensteuer. Auch die einbehaltenen Gewinne erfahren eine Doppelbelastung, wenn Kapitalgewinne der Einkommensteuer unterworfen werden. Das ist in Deutschland nicht der Fall. 1 2

Vgl. auch das 19. Kapitel. Steuerrechtlich bestreitet die Kapitalgesellschaft (nicht die Gesellschafter) einen Gewerbebetrieb.

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

531

Folgende Verzerrungen der Finanz- und Investitionsentscheidungen sind zu erwarten: S Fremdfinanzierung verdrängt Eigenfinanzierung; S Gewinnthesaurierung verdrängt Schütt-aus-hol-zurück-Politik; S im körperschaftsteuerpflichtigen Sektor wird zu wenig investiert. Die Auswirkungen der Eigen- versus Fremdfinanzierung auf die Investitionsentscheidungen werden bei Verwendung des Kapitalkostenkonzepts analysiert. Als Kapitalkosten wird die Rendite vor Steuern bezeichnet, die das kapitaleinsetzende Unternehmen mindestens erwirtschaften muss, um eine Einheit zusätzlicher Mittel aus der jeweiligen Finanzierungsart zu erhalten. Unter der Annahme, dass im Kapitalmarktgleichgewicht alle Anlageformen die gleiche Rendite nach Steuern r* erwirtschaften, gilt für das klassische System im Vergleich zur Vollanrechnung 1: Abb. 17-3 Die Kapitalkosten verschiedener Systeme

Klassisches System Vollanrechnung

Eigenkapital r* ) (1 5 ] E )(1 5 ] Y )rEK r* ) (1 5 ] E )rEK

Fremdkapital r* ) (1 5 ] E )rFK r* ) (1 5 ] E )rFK

Die Kapitalkosten sind also bei Vollanrechnung für beide Finanzierungsformen gleich, nämlich rEK ) rFK ) r * /(1 5 ] E ) . Im klassischen System besteht diese Finanzierungsneutralität nicht, weil (17-8)

rEK ) r * /:(1 5 ] Y )(1 5 ] E )8 > rFK

Die klassische Form der Körperschaftsteuer wirkt sich also auf die Finanzierungsform (Eigenkapitalerhöhung versus Kreditaufnahme) aus. Fremdkapitalzinsen sind als Betriebsausgaben abzugsfähig und daher steuerfrei. Bei Aufnahme von Eigenkapital, das den Anteilseignern eine ebenso hohe Rendite wie der Fremdkapitalzins bieten soll, ist neben der Rendite die Körperschaftsteuer zu erbringen. Diese steuerlich bedingte Eigenkapitalverteuerung lässt es zweckmäßig erscheinen, die Kreditaufnahme relativ zur Eigenkapitalerhöhung zu verstärken, wodurch das Verhältnis Fremd-/Eigenkapital steigt. Bei reiner Fremdfinanzierung wäre die Körperschaftsteuer neutral im Hinblick auf die Investitionsentscheidungen, ansonsten verzerrt sie die Wahl zwischen Eigenund Fremdfinanzierung. Bei genereller Finanzierungsneutralität haben also Selbstfinanzierung (Gewinneinbehaltung), Beteiligungsfinanzierung (z.B. Ausgabe neuer Aktion) und Fremdfinanzierung (Kreditaufnahme) einer Investition keine unterschiedlichen Wirkungen. Das klassische System belastet die ausgeschütteten Gewinne doppelt. Es macht (im Gegensatz zur Vollanrechnung) eine Schütt-aus-hol-zurück-Politik wenig zweckmäßig, gibt also Anreize zur Finanzierung durch einbehaltene Gewinne. Wenn dennoch 1

Exakt verlangt die Kapitalkostenrechnung einen Vergleich des Endvermögens des Steuerpflichtigen bei alternativen Anlagen. Für eine solche Rechnung siehe Homburg u.a. (2007).

532

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Dividenden gezahlt werden, so liegt dies an den Präferenzen der Anleger, denen Rechnung getragen werden muss. Die dritte Wirkung beruht auf der Annahme, dass die Grenzinvestition nicht rein fremdfinanziert ist, sondern anteilige Eigenfinanzierung voraussetzt. Eine reine Fremdfinanzierung dürfte bei Kreditgebern nur schwer und zu hohen Zinsen durchführbar sein. Allerdings sind die Kapitalkosten bei den Kapitalgesellschaften höher als bei den Personengesellschaften. Nach einer anderen Auffassung ist für die Wirkung der Doppelbelastung entscheidend, ob Eigenkapital durch Beteiligung oder Gewinnthesaurierung aufgebracht wird. „Reife“ Unternehmen würden genügend Gewinne erzielen, um den notwendigen Eigenkapitalanteil bei Neuinvestitionen aufzubringen und gleichzeitig Dividenden zu zahlen. Es wird unterstellt, dass die Besteuerung der Dividenden im Aktienpreis vollständig kapitalisiert wird. Änderungen der Besteuerung träfen den Aktienbesitzer und könnten nicht an Neuerwerber überwälzt werden. Allerdings kommt es zu einer Benachteiligung junger und neuer Unternehmen. Beim Vergleich der Kapitalkosten auf der Grundlage von Abb. 17-3 wurde davon ausgegangen, dass der Gewinn nach dem Nettoprinzip berechnet wird. Tatsächlich fließen aber einige ertragsunabhängige Elemente in die Gewinnermittlung ein, die für die Kapitalkosten wichtig sind. Hierdurch werden die Kapitalkosten in beiden Systemen bei Fremdfinanzierung teilweise erheblich erhöht. Das gilt für S die steuerlich zulässigen Abschreibungen, die geringer als (wie immer bestimmte) ökonomische Abschreibungen sind, S gezahlte Zinsen, die nur bis zu 30 % des Jahresrohgewinns als Betriebsausgaben abzugsfähig sind („Zinsschranke“) und so einen zu großen Gewinn ausweisen 1, S die Hinzurechnung von Schuldzinsen (zur Gewerbesteuerbemessungsgrundlage), S einen unvollständigen Verlustausgleich und S den Ausschluss des „Mantelkaufs“, d.h. der Berücksichtigung der Verluste von Unternehmen, die übernommen werden 2. Für eine Beurteilung der Unternehmensteuerbelastung sind neben Einkommen- und Körperschaftsteuer auch der Solidaritätszuschlag und die Gewerbesteuer von Bedeutung. Zweckmäßig wäre es, hier nur eine einheitliche Belastung zu haben und insbe-

1

2

Nichtabzugsfähige Zinsen werden auf Folgejahre vorgetragen. Darüber hinaus gibt es eine Freigrenze und eine sog. Escape-Klausel (Nachweis einheitlicher Finanzstrukturen im Gesamtkonzern), um doch zum Zinsabzug zu kommen. Die Regelung ist kompliziert. Selbst kleinere und mittlere Unternehmen fallen unter die Regelung der Zinsschranke, sobald sie die Freigrenze überschreiten. Mit welcher Dreistigkeit Vermögenswerte ignoriert und manipuliert werden, zeigt folgendes Zitat: „Die geltende Mantelkaufregelung, die die ungerechtfertigte Nutzung und den Handel mit Verlustvorträgen verhindern soll, ist kompliziert und gestaltungsanfällig. Für den vollständigen und teilweisen Wegfall des Verlustvortrags wird daher künftig nur noch darauf abgestellt, ob ein neuer Anteilseigner maßgebend auf die Geschicke der Kapitalgesellschaft einwirken kann und es so prinzipiell in der Hand hat, die Verwertung der Verluste zu steuern. Die Sanierung angeschlagener Betriebe bleibt weiterhin möglich, diese Fälle können im Verwaltungsweg geregelt werden“ (Monatsbericht des BMF, März 2007, S. 98).

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

533

sondere durch Abschaffung der Gewerbesteuer nicht die fragwürdigen Anrechnungskonstruktionen zu benötigen. Für geringe Einkünfte ist eine Ausnahme bei der Abgeltungsteuer möglich. Wenn (gilt für alle Kapitaleinkommen) die Abgeltungsteuer die Einkommensteuerbelastung übersteigt, kann die Differenz auf Antrag zurückgezahlt werden. Die Konstruktion ist aber unsystematisch. Entweder es gibt zwei unabhängige, selbständig zu besteuernde Einkommensteile oder es gibt ein Gesamteinkommen. Man hat eine willkürliche dritte Variante gewählt. Die Steuer beruht auf den Gewinnen der Kapitalgesellschaften. Diese stellen Residualeinkommen dar. Zunächst ist zu vermuten, dass bei allen Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität die Bemessungsgrundlage der Steuer voll mitschwankt. Tatsächlich lag ihre Aufkommenselastizität der Körperschaftsteuer regelmäßig nicht bei eins. Daran hat auch das neue Verfahren nichts geändert. Das Steueraufkommen wies unterschiedliche Lags auf, die für die konjunkturpolitische Beurteilung der Steuer von Bedeutung sind. Teils (zum Beispiel 1969) nahm das Aufkommen der Körperschaftsteuer im Aufschwung kräftig zu, in anderen Jahren (zum Beispiel Boom-Jahr 1970) absolut ab. Das lag daran, dass die Steuervorauszahlungen im Aufschwung nicht immer der laufenden Gewinnentwicklung angepasst werden, die Unternehmen aber relativ rasch auf eine Verschlechterung ihrer Ertragslage mit Anträgen auf Herabsetzung der (vierteljährlichen) Vorauszahlungen reagierten 1. Die bei der Einkommensteuer auftretenden Probleme der Gewinnermittlung (Periodenabgrenzung, Vermögensvergleich, Inflation) treten auch bei der Körperschaftsteuer auf. Sie ist eine komplizierte und verwaltungsintensive Abgabe. Wie die Belastung durch die Körperschaftsteuer aussieht, ist theoretisch und empirisch unterschiedlich beantwortet worden (vgl. das 12. Kapitel). Die empirischen Studien beziehen sich vorwiegend auf die Vereinigten Staaten und auf das unter (3) behandelte klassische System aus Körperschaft- und Einkommensteuer. Einiges spricht dafür, dass die Körperschaftsteuer teilweise das Kapital belastet (Auerbach 2006). Die vor 2008 bestehende Körperschaftsteuer wurde kritisiert, weil sie zusammen mit der Gewerbesteuer zu einem besonders hohen nominalen Belastungssatz von 38,65 % (Thesaurierungsbelastung von Kapitalgesellschaften mit Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer bei Hebesatz von 400 %) führte, was die internationale Wettbewerbsfähigkeit einschränkt. Wenn (formal) hohe Steuersätze abschreckend auf ausländische Investoren – selbst bei Gestaltungsspielräumen – wirken, stellt die bestehende Körperschaftsteuer eher Lock-Signale dar als die frühere. Sie soll durch geringere optische (weniger durch effektive) Steuerbelastung Unternehmen, Anlagen und so Wertschöpfung und Arbeitsplätze nach Deutschland ziehen. Zumindest bei der Vorauswahl möglicher Standorte dürfte die nominale Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften das wichtigste Auswahlkriterium sein. 1

Wie bei der veranlagten Einkommensteuer wirken sich in einzelnen Jahren gewährte Vergünstigungen auf das spätere Aufkommen aus. Erstattungen und Investitionszulagen wirken entsprechend.

534

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Allerdings ist die Tarifsenkung mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage verbunden, die schon seit langem mit dem Ziel des Abbaus von Steuervergünstigungen gefordert wird (vgl. das 22. Kapitel). Bei der Reform werden aber keine systemwidrigen Ausnahmetatbestände korrigiert, vielmehr greift sie Abschreibungen, Fremdkapitalzinsen, internationale Verrechnungspreise und Verlustausgleich an. Da grundsätzlich Einkommen und Gewinn als Nettogrößen verstanden werden, sind diese Einschränkungen wie ertragsunabhängige Elemente zu interpretieren. Die Berücksichtigung ertragsunabhängiger Elemente wird damit begründet, dass Gewinne typischerweise dort besteuert werden, wo sie entstehen (Quellenland, vgl. 21. Kap.). Unternehmen haben die Möglichkeit, ihre steuerpflichtigen Gewinne zu verlagern. Um dem zu begegnen, werden Sonderregelungen getroffen, wie die Belastung ertragsunabhängiger Elemente. Teilweise werden bereits im Ausland besteuerte Gewinne belastet, so dass Elemente einer Wohnsitzbesteuerung entstehen. Auch andere Länder berücksichtigen in erheblichem Umfang solche Elemente in ihren Unternehmenssteuern. Allerdings treibt die Besteuerung von Fremdkapitalzinsen auf Unternehmensebene „die Kapitalkosten fremdfinanzierter Investitionen in die Höhe 1 und beeinträchtigt die Investitionstätigkeit. Die in anderen Ländern erhobenen ertragsunabhängigen Steuern knüpfen hingegen überwiegend an die Produktionsfaktoren Arbeit (Lohnsummensteuern) und Grund und Boden (Grundsteuern) an. Sie reduzieren vor allem die Nachfrage nach diesen Produktionsfaktoren, haben aber keinen direkten Einfluss auf die Investitionstätigkeit. Wirkungsanalytisch ist die Besteuerung von Finanzierungsaufwand im Rahmen der Unternehmensbesteuerung investitionsschädlich; die Besteuerung der Lohnsumme lässt die Investitionsentscheidungen hingegen im Wesentlichen unbeeinflusst, reduziert dafür aber die Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Eine Steuerreform, die steuerliche Verzerrungen bei den Investitionsentscheidungen abbauen will, verträgt sich im Allgemeinen nicht mit der Einbeziehung von Finanzierungsaufwand in die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer“ (Sachverständigenrat 2006, Tz. 439). Im Grunde geht die Steuerpolitik von der Annahme aus, dass Kapitaleigner und Investoren unter Sicherheit entscheiden, wo sie ihr mobiles Kapital einsetzen. „Eine Investition ist jedoch in der Regel eine risikoreiche Entscheidung, da ein Unternehmer den zukünftigen Ertrag des eingesetzten Kapitals nicht kennt und in vielen Fällen Verluste entstehen können. Investoren fordern daher eine Risikoprämie zusätzlich zur Standardverzinsung des Kapitals. Beteiligt sich der Staat über die Ausgestaltung der Körperschaftsteuer am unternehmerischen Risiko und ist weniger risikoavers als die Investoren, so reduziert diese Risikobeteiligung über die Körperschaftsteuer den Anreiz, bei einer Steuererhöhung Kapital aus dieser Region abzuziehen. Je nach Verteilung der Risikobereitschaft zwischen Kapitaleignern und dem Staat kann eine effiziente Bereitstellung öffentlicher Leistungen resultieren“ (Feld/Kirchgässner 2002, S. 28). Eine andere Begründung könnte die Verstetigung des Steueraufkommens sein. Sie wird aber zweckmäßigerweise nicht durch Erweiterung der Bemessungsgrundlage der 1

Der Abbau der steuerlichen Benachteiligung der Eigenkapital- gegenüber der (kurzfristigen) Fremdkapitalfinanzierung ist erklärtes Ziel der Reform.

17. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

535

(Einkommensteuer und) Körperschaftsteuer erreicht, denn diese trägt zu höheren Belastungen von Unternehmen im Konjunkturabschwung bei und erhöht das Risiko gerade kleinerer und kapitalschwacher, oft innovativer Unternehmen mit wenig Startkapital. Besser geeignet als eine Ausweitung der Bemessungsgrundlage hier erscheint eine Reform der Gemeindefinanzierung. Die tatsächliche Zielsetzung bei der Ausweitung der Bemessungsgrundlage ist allerdings fiskalisch. Eine geeignete Steuerbasis soll erhalten bleiben, die unabhängig von verschiedenen Formen der Gewinnverlagerung ins Ausland ist 1. Dabei läuft die Politik Gefahr, die Gewinnverlagerung als Folge hoher nominaler Steuersätze durch Gewinnverlagerung als Folge einer breiten Bemessungsgrundlage zu ersetzen. Beide Wirkungen können zu einer Beeinträchtigung von Wachstum und Beschäftigung führen. Daher stellt sich die Frage, was schädlicher ist: hohe nominelle Steuersätze oder um ertragsunabhängige Komponenten erweiterte Bemessungsgrundlage? Welche Schwierigkeiten allein die Gewinnermittlung bringt, wird deutlich, wenn man an die Belastung der Zinsen denkt. Stattet z.B. eine Muttergesellschaft ihre Tochter mit Eigenkapital aus, wird das Einkommen bei der Tochter besteuert. Wird aber Fremdkapital zur Verfügung gestellt, werden die Zinsen bei der Tochter abgezogen und bei der Mutter besteuert. Schulden und Einkommen werden also unterschiedlich behandelt. Gelegentlich wird angeführt, dass Kapitalgesellschaften in besonderem Maße Leistungen des Staates in Anspruch nehmen würden und hierfür entsprechende Belastungen adäquat seien. Dann wäre gerade keine Rechtsformneutralität, also insbesondere die Gleichbehandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften, anzustreben. Allerdings ist nicht ersichtlich, warum das Äquivalenzprinzip gerade auf Kapitalgesellschaften, also rechtsformabhängig anzuwenden sein soll. Hier wäre eine spezielle, die Nutzung treffende Abgabe (Gebühr) eher geeignet. Die nicht gelungene Abstimmung zwischen synthetischer Einkommensteuer mit progressivem Tarif und Körperschaftsteuer mit proportionalem Tarif hat letztlich in mehreren Staaten (seit 2009 in Deutschland) zu einer Kombination aus Körperschaftsteuer und Dualer Einkommensteuer geführt, bei der die ausgeschütteten Gewinne der Kapital- und Personengesellschaften einheitlich mit einer Abgeltungsteuer belastet werden. Die Berechnungen von Spengel u.a. (2007) mit dem European Tax Analyzer für möglichst typische Investitionsprojekte weisen u.a. darauf hin, dass Kapitalgesellschaften niedriger als Personengesellschaften besteuert werden. Kapitalgesellschaften haben insbesondere für die Gesellschafter-Fremdfinanzierung (soweit außerhalb der Zinsschranke) die Möglichkeit zur Senkung der Gesamtsteuerbelastung, da die Zinsen der Abgeltungsteuer unterliegen. Es werden Anreize zur Gesellschafter-Fremdfinanzierung und zur Ausschüttung von Gewinnen gesetzt. Die Eigenfinanzierung ist bei Kapitalgesellschaften aufgrund der Besteuerung der Gewinne mit Unternehmenssteuer und Abgeltungsteuer auf Ausschüttungen gegenüber der Fremdfinanzierung benachteiligt. 1

Bereits jetzt bestehen Abwehrmaßnahmen gegen das Abwandern von „Steuersubstrat“, gemeint sind Gewinnverlagerungen bei Darlehen ausländischer Konzernmütter an ihre deutschen Konzerntöchter oder ausländischer Konzertöchter an ihre inländischen Mütter oder Konzernteile und andere Maßnahmen.

536

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Die Entwicklung des Körperschaftsteueraufkommens als Teil des Gesamtaufkommens (oder als Anteil am BIP) hängt von verschiedenen Faktoren ab. (17-9)

TY / BIP ) TY / Y W Y / G W G / BIP .

Hierbei sind TY das Körperschaftsteueraufkommen und G die gesamten Unternehmensgewinne. Die Körperschaftsteueraufkommensquote wird demnach bestimmt durch die effektive Steuerbelastung der Gewinne der Kapitalgesellschaften (TY/T), den Anteil der Körperschaften an den Gesamtgewinnen und der Gewinnquote. Bei der Analyse ist die beachten, dass die Steuerbasis in der VGR nicht mit der der Steuergesetzgebung übereinstimmen muss, was auch internationale Vergleiche beeinträchtigt. Die Körperschaftsteuer ist in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet. Es ist zu prüfen, ob die Abgabe ausländische Investitionen gegenüber heimischen Investitionen gleich behandelt, d.h. letztlich nicht zwischen ausländischen und inländischen Gewinnen differenziert. Das klassische System wird als eine international standortneutrale Besteuerung angesehen. Das ist beim Anrechnungsverfahren umstritten, weil es auf ausländische Körperschaftsteuer im Inland nicht angewendet wird. Für eine solche Anrechnung müssten (1) ein gemeinschaftliches Körperschaftssystem vorliegen, (2) die Körperschaftsteuersätze angeglichen werden, (3) gespaltene Tarife (Ausschüttung/Nichtausschüttung) abgeschafft werden und (4) gemeinsame Gewinnermittlungsvorschriften bestehen. Das ist international nicht erfolgt. National erfüllt das Anrechnungsverfahren eher die Finanzierungs-, Gewinnverwendungs- und Rechtsformneutralität. Die Wirkungen werden allerdings durch unterschiedliche Tarife eingeschränkt. Literatur zum 17. Kapitel Zur Abgrenzung und Rechtfertigung der Unternehmensbesteuerung und Anforderungen an ihre Ausgestaltung siehe Reding/Müller (1999, Kapitel 9). Darstellungen zur Körperschaftsteuer sind zu finden in Musgrave/Musgrave/ Kullmer (2, 1993, Kapitel 18) und Mintz (1995). Zur Beziehung Einkommensteuer/Körperschaftsteuer siehe Feldstein/Frisch (1977), McLure (1979) und Mieszkowski (1972). Zur Körperschaftsteuer unter rechtlichen Aspekten siehe Tipke/Lang (2009, § 11), aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre Schreiber (2005, Kap. I 4), jeweils vor der Reform 2008. Zur Beurteilung verschiedener Formen der Unternehmensteuer siehe Reding/Müller (1999, Kapitel 9.1). Einen Überblick zur Belastung durch die Körperschaftsteuer geben Stolz (1983) und jüngst Auerbach (2006), speziell zur Unternehmensfinanzierung siehe Eggert/Weichenrieder (2002). Der Sachverständigenrat (u.a. 2006) hat ein umfangreiches Gutachten zur Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer vorgelegt; die realisierte Gesetzesänderung berücksichtigt dies nicht (vgl. Sachverständigenrat, JG 2006/07, Tz. 434ff.). Das gilt auch für Vorschläge der Stiftung Marktwirtschaft (2006).

18. Kapitel Grundsteuer und Gewerbesteuer 1. Anknüpfungspunkte Grundsteuer und Gewerbesteuer sind wichtige Unternehmensteuern. Die Grundsteuer belastet aber auch die privaten Haushalte. Die Nähe dieser Abgaben zur Belastung der Wertschöpfung macht das Produktionskonto eines Unternehmens deutlich. Abb. 18-1

Produktionskonto

Vorleistungskäufe (VL) Abschreibungen (D) Produktionsabgaben (TP – Z)1 Wertschöpfung (netto, NWS) (a) Löhne/Gehälter (L) (b) Mieten/Pachten (M) (c) Zinsen (R) (d) Betriebsgewinn (G)

Verkäufe von Waren und Dienstleistungen (= Umsatz U) Bestandsänderungen an eigenen Erzeugnissen/selbsterstellte Anlagen (BA)

Produktionswert (PW)

Produktionswert (PW)

1

Produktionsbezogene Steuern (einschl. Umsatzsteuer, abzüglich Subventionen).

Wie das Konto zeigt, kann die Nettowertschöpfung auf zwei Wegen berechnet werden: (18-1) NWS = PW – VL – D oder (18-2) NWS = L + M + R + G. Nach der ersten Methode wird sie synthetisch ermittelt: Vom Produktionswert (oder Umsatz) werden die Inputs (Vorleistungen, Abschreibungen, bestimmte Nettoproduktionssteuern) abgezogen. Die Restgröße ist die gesuchte Bemessungsgrundlage. Das Verfahren liegt letztlich der Berechnung der Umsatzsteuer zugrunde. Nach der analytischen Methode ist die NWS (ohne TP – Z) die Summe der Einkommen aus der inländischen Produktion. Das Aufkommen aus ihrer Besteuerung ergibt sich dann aus einem System von Teilsteuern1 auf die einzelnen Faktorentgelte. So zeigt Übersicht 18-1 die Anknüpfungspunkte für vier Teilbelastungen der NWS:

1

Allerdings ist die analytische Methode insofern technisch nicht umsetzbar, weil der Reinertrag nur als Restgröße ausgehend von den Verkäufen (+ Bestandsänderungen) ermittelt werden kann.

538

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Übersicht 18-1 Analytische Besteuerung der Nettowertschöpfung Steuer

Bemessungsgrundlage

Arbeitsertragsteuer Grundertragsteuer Kapitalertragsteuer Reinertragsteuer

Arbeitseinkommen (L) Mieten, Pachten (M) Zinsen (R) Gewinne (G)

Der analytischen Besteuerungsmethode muss vorausgehen (l) die Entscheidung über die Zahl der zu wählenden Faktoren. Es können ebenso viele Teilsteuern gebildet werden wie Faktoren existieren; (2) die Lösung des Zurechnungsproblems. Bei einheitlichem Steuersatz ist es unerheblich, ob die Besteuerung der Nettowertschöpfung synthetisch oder analytisch erfolgt. Die Gesamtbelastung ist gleich. Die Abgrenzung ohne Lücken und Doppelzählungen ist dann bedeutsam, wenn die Faktoren mit unterschiedlichen Steuersätzen (darunter: einzelne Faktoren überhaupt nicht) belastet werden. Die Problematik zeigt sich beispielsweise bei der Bemessungsgrundlage „Arbeitseinkommen“, die in der Praxis nur das Entgelt für die Arbeitsleistungen der unselbständig Beschäftigten, nicht aber auch der Selbständigen umfasst, das nur fiktiv in einer Modellrechnung ermittelt werden kann1. 2. Die Grundsteuer In Deutschland mag ursprünglich die gesamte NWS als Zielgröße der Grund- und Gewerbesteuer angestrebt worden sein. Tatsächlich belasten beide Abgaben die NWS nur rudimentär und unsystematisch. a) Der Aufbau der Grundsteuer Rechtliche Grundlage ist das bundeseinheitlich geltende Grundsteuergesetz (GrStG). Steuergegenstand der Grundsteuer ist der inländische Grundbesitz, zu dem gehören S land- und forstwirtschaftliches Vermögen, das der Grundsteuer A unterliegt; S Grundvermögen, auf das Grundsteuer B erhoben wird; darunter fallen bebaute und unbebaute Betriebsgrundstücke, wenn sie nicht land- und forstwirtschaftliches Vermögen darstellen. Soweit die Grundsteuer einen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb sowie Betriebsgründstücke belastet, ist sie eine Unternehmenssteuer. Entscheidend für die Höhe der Steuer sind die Beschaffenheit und der Wert des Grundstücks. Für diese Arten des Grundbesitzes wird nach den Regeln des Bewertungsgesetzes (BewG) ein Einheitswert gebildet, der den Vermögenswert zum Ausdruck bringen soll.

1

Die Problematik tritt auch bei der Dualen Einkommensteuer auf.

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

539

Zum land- und forstwirtschaftlichen Vermögen gehören der entsprechend genutzte Grund und Boden, Gebäude einschließlich Wohngebäude, Maschinen, Viehbestand und umlaufende Betriebsmittel. Zu seiner Bewertung wird der Einheitswert herangezogen, der sich aus zwei Ertragswerten (Wirtschaftswert, Wohnungswert) zusammensetzt. (1) Der Wirtschaftswert ergibt sich aus der Vervielfältigung des Reinertrages (Ertragsfähigkeit). Der Kapitalisierungsfaktor beträgt zur Zeit 18, das entspricht einem Zinssatz von 5,5 %. Allerdings wird nicht jeder landwirtschaftliche Betrieb für sich bewertet, sondern es wird von Vergleichsbetrieben über das gesamte Bundesgebiet ausgegangen, deren Reinertrag pro Hektar landwirtschaftlich genutzter Bodenfläche (Hektarsatz) ermittelt wird. Der Einheitswert ergibt sich, indem die landwirtschaftlich genutzte Fläche des Betriebes mit dem Hektarsatz des Vergleichsbetriebes multipliziert wird. Die letzte Hauptfeststellung der Einheitswerte des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens erfolgte in den alten Ländern 19641. (2) Der Wohnungswert des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens für den Wohnungsteil des Betriebes wird analog den Mietgrundstücken abzüglich 15 % gebildet. Zum Grundvermögen rechnen bebaute und unbebaute Grundstücke, das Erbbaurecht und das Wohnungseigentum. Bebaute Grundstücke werden nach dem Ertragswertverfahren für Mietgrundstücke mit einem Vielfachen der Jahresrohmiete (gesamtes Entgelt einschließlich Gemeindeabgaben) bewertet. Der Vervielfaltiger schwankt nach Gemeindegröße, Baujahr, Bauart zwischen 4,5 und 13,52. Für unbebaute Grundstücke wird der Bodenwert als Produkt aus Fläche und durchschnittlichem Quadratmeterpreis berechnet.

Die Grundsteuerschuld wird wie bei der Gewerbesteuer in einem mehrstufigen Verfahren ermittelt. Zunächst wird vom zuständigen Finanzamt der Grundsteuerbescheid erlassen, in dem unter Anwendung der bundeseinheitlichen Steuermesszahlen (M) auf den Einheitswert (X) der Steuermessbetrag ( M W X ) festgelegt wird. Durch Multiplikation mit dem von den Gemeinden jährlich festzulegenden, in den Gemeinden einheitlichen Hebesatz (H) ergibt sich die Grundsteuerschuld (TGr): (18-3)

TGr ) (M W X) W H

Tab. 18-1 Merkmale der Grund- und Gewerbesteuer in Deutschland Steuern

Bemessungsgrundlage

Messzahl

GrStA GrStB GewSt

Einheitswert Einheitswert Ist-Ertrag

0,006 0,0026-0,00352 0,0353

Ø Hebesatz1 297 401 387

Messzahl x Ø Hebesatz (Ø Steuersatz) 1,78 % 1,40 %4 13,55 %

1

Für 2009. Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hebesätze der Realsteuern, 2010. Neue Länder 0,005-0,01. 3 Einheitlich seit 2008. 4 Bei Messzahl 0,0035. 2

1 2

Für die neuen Länder ist ein Ersatzwirtschaftswert nach den Wertverhältnissen 1935 zu ermitteln. Unter besonderen Voraussetzungen (beispielsweise für Ein- oder Zweifamilienhäuser mit besonderer Gestaltung oder Ausstattung) wird das Sachwertverfahren angewandt.

540

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Tab. 18-1 zeigt die nominellen Steuersätze von Grundsteuer A und B sowie Gewerbesteuer unter Zugrundelegung des durchschnittlichen Hebesatzes aller Gemeinden für 2009. Wendet man bei der Grundsteuer B die Messzahl 0,0035 und als Hebesatz 400 an, ergibt sich eine Grundsteuer in Höhe von 1,4 % des Einheitswerts. Steuerschuldner ist derjenige, dem das Objekt bei der Festlegung des Einheitswertes zugerechnet worden ist. Liegt der Grundbesitz in mehreren Gemeinden, ist eine Zerlegung der Steuermessbeträge erforderlich. b) Die Beurteilung der Grundsteuer Grundsteuer und Gewerbesteuer zusammen werden als Realsteuern oder Objektsteuern bezeichnet. In Art. 106 Abs. 6 GG wird den Gemeinden das Aufkommen der Realsteuern zugewiesen (Realsteuergarantie)1. Die Grundsteuer ist der Teil der Realsteuern, der völlig unter gemeindlicher Regie verblieben ist. Sie stattet die Gemeinden finanziell annähernd gleichmäßig aus. Wegen veralteter Einheitswerte und relativem Rückgang der Landwirtschaft nimmt der Anteil der Grundsteuer A am gesamtwirtschaftlichen und gemeindlichen Steueraufkommen allerdings laufend ab; neue Bewirtschaftungsverfahren und Produkte, die eine Neubewertung landwirtschaftlicher Flächen erfordern, werden kaum berücksichtigt. Dagegen bleibt der Anteil der Grundsteuer B am Steueraufkommen in etwa erhalten, weil die Bemessungsgrundlage für die Grundsteuererhebung mit der Zahl der Grundvermögensobjekte zunimmt und sich steigende Baupreise, Mieten und Erhöhungen der Hebesätze auswirken. Eine Rechtfertigung der Grundsteuer unter Äquivalenzgesichtspunkten ist fraglich2. Der Äquivalenzgedanke erlaubt „allenfalls die Herstellung einer losen Verbindung von der Grundsteuer zu den grundstücksbedingten kommunalen Ausgaben. Das so interpretierte Äquivalenzprinzip ist daher von finanzpsychologischer Bedeutung, weil es durch die Merklichkeit beim Betroffenen ein Interesse an der kommunalen Selbstverwaltung und damit an der Mittelverwendung schafft; die Grundsteuer ist ein wichtiges Bindeglied im kommunalpolitischen Beziehungsgefüge zwischen Grundbesitzern und Gemeinde“ (Hansmeyer 1981b, S. 736). Sie belastet im Gegensatz zur Gewerbesteuer neben Unternehmen auch Haushalte als Eigentümer von Grundstücken. Es besteht eine Vielfalt der Bewertungsverfahren innerhalb der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe, beim Grundvermögen des Wohnungswesens und bei Betriebsgrundstücken. Das Grundvermögen und speziell das land- und forstwirtschaftliche Vermögen sind erheblich unterbewertet. Hier zeigen sich die zentralen Probleme der Bewertung, die auch bei einer allgemeinen Vermögensteuer und bei der Erbschaftsteu1

2

Allerdings können diese Steuern verändert oder beseitigt werden, wenn den Gemeinden gleichzeitig Ersatz durch andere Einnahmen geleistet wird. Bund und Länder sind durch eine Umlage am Gewerbesteueraufkommen, die Gemeinden mit einem Anteil an Lohn- und veranlagter Einkommensteuer, vom Zinsabschlag und an der Umsatzsteuer beteiligt. So werden besondere Leistungen wie Anschlüsse an das Versorgungsnetz bereits durch Anliegerbeiträge abgegolten.

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

541

er kaum lösbare Probleme darstellen. Die Steuermesszahlen sind willkürlich gebildet. Schließlich differieren die Hebesätze zwischen Grundsteuer A und B und zwischen den Gemeinden erheblich im Bundesgebiet, meist bei 250-350, bei der Grundsteuer B bei 250-400. Die Grundsteuer ist eine Soll-Ertragsteuer und kann zur Substanzsteuer werden. Wenn es zu einem Ersatz der Gewerbesteuer kommen sollte, wäre auch die Einbeziehung der Grundsteuer in die Reform zweckmäßig. Besteht die Grundsteuer aber weiter, ist die Neubewertung des gesamten Vermögens erforderlich. 3. Die Gewerbesteuer a) Der Aufbau der Gewerbesteuer Rechtliche Grundlage ist das bundeseinheitlich geltende Gewerbesteuergesetz (GewStG). Die Gewerbesteuer besteht (seit 1998) ausschließlich aus der Gewerbeertragsteuer, die den aus der Unternehmertätigkeit entstehenden Ertrag eines Gewerbebetriebes besteuert1. Der Ertrag aus dem Faktor Boden wird getrennt von der Grundsteuer erfasst. Gegenstand der Gewerbesteuer ist der Gewerbebetrieb, soweit er im Inland betrieben wird. Es handelt sich hierbei um ein Realobjekt, das Erträge hervorbringt (bringen soll). Der Gewerbesteuer unterliegt der Ertrag aus jenen Tätigkeiten, die im Einkommensteuerrecht unter „Einkünften aus Gewerbebetrieb“ erfasst werden. Sie belastet die selbständig nachhaltig mit Gewinnabsicht ausgeübte Tätigkeit; freie Berufe und landwirtschaftliche Betriebe unterliegen nicht der Gewerbesteuer. Kapitalgesellschaften sind stets gewerbesteuerpflichtig. Übersicht 18-2 Berechnung der Gewerbesteuer Gewinn aus Gewerbebetrieb gem. EStG oder KStG + Hinzurechnungen . /. Kürzungen . /. Gewerbeverlust = Gewerbeertrag x Steuermesszahl = Steuermessbetrag nach dem Gewerbeertrag x Hebesatz der Gemeinde = Gewerbesteuerschuld lt. GewSt-Bescheid

Die Gewerbesteuer weist Ist- und (zunehmend) Soll-Steuerteile auf. Übersicht 18-2 zeigt die Schritte zur Berechnung der Gewerbesteuer. Bemessungsgrundlage (oder Besteuerungsgrundlage) ist der Gewerbeertrag. Er wird durch Hinzurechnungen und 1

Ursprünglich wurden mit der Lohnsummensteuer und der Gewerbekapitalsteuer weitere Ertragsformen belastet.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

542

Kürzungen des nach Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz ermittelten Gewinns gebildet. Hinzugerechnet werden 25 % der Fremdkapitalzinsen und pauschale Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und unentgeltlich überlassenen Rechten, insbesondere Konzessionen und Lizenzen. Gekürzt wird z.B. um 1,2 % vom Einheitswert der Betriebsgrundstücke, um den Einheitswert des Grundstücks nicht zusätzlich zur Grundsteuer ein weiteres Mal zu belasten. Bezeichnet man die Hinzurechnungen und Kürzungen mit A und einen auch zu berücksichtigenden Verlustvortrag mit VGew, ist die Bemessungsgrundlage „Gewerbeertrag“ XGew bestimmt1 (18-4)

X Gew ) YGew 9 A 5 VGew 5 F ,

wobei F einen natürlichen Personen und Personengesellschaften, nicht aber Kapitalgesellschaften gewährten gewerbesteuerlichen Freibetrag bezeichnet. Die Tarifgestaltung der Gewerbesteuer weist (wie die der Grundsteuer) die Besonderheit auf, dass der anzuwendende Steuersatz sich aus Messzahl und Hebesatz zusammensetzt2. Im GewStG ist bundeseinheitlich die Messzahl MZ festgelegt3. Die Bemessungsgrundlage, d.h. der Gewerbeertrag X multipliziert mit der Messzahl, wird als Steuermessbetrag bezeichnet. Multipliziert man diese Größe mit dem Hebesatz H, der von den Gemeinden festgelegt wird, lässt sich die Gewerbesteuerschuld TGew eines Pflichtigen bestimmen: (18-5)

TGew ) X W MZ W H .

Der Hebesatz der Gewerbesteuer muss mindestens 200 vH betragen4. Er unterscheidet sich in der Regel von dem der Grundsteuern. Das Hebesatzrecht der Gemeinden steht unter dem Zustimmungsvorbehalt der jeweils zuständigen Landesbehörde. Wenn ein Unternehmen in mehreren Gemeinden Betriebsstätten unterhält, erfolgt eine Zerlegung des Steuermessbetrags nach den auf die Gemeinden entfallenden Anteilen. Grundlage hierfür sind die in einer Betriebsstätte gezahlten Arbeitsentgelte im Verhältnis zu den gesamten Arbeitsentgelten aller Betriebsstätten des Unternehmens. Die Gewerbesteuer hat einen proportionalen Tarif bei Kapitalgesellschaften und (infolge des gewerbesteuerlichen Freibetrags) bei Personengesellschaften und Einzelunternehmen einen (indirekt) progressiven Tarif. Personengesellschaftern und Einzelunternehmern wird eine pauschalierte einkommensteuerliche Ermäßigung bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb gewährt. Sie beträgt das 3,8fache des für den entsprechenden Erhebungszeitraum festgesetzten Steuermessbetrages und soll die Gewerbesteuerlast weitgehend belastungsmäßig neutralisieren. Auf Kapitalgesellschaften wird 1 2 3 4

Vgl. zum Folgenden Bareis (2006) und die Literatur dort. Die Gewerbesteuer war bis 2007 von ihrer eigenen Bemessungsgrundlage als Betriebsausgabe abzuziehen. Auf Indizes zur Unterscheidung von MZ und H bei der Grundsteuer wird hier vereinfachend verzichtet. Mit der Einschränkung von „Gewerbesteuer-Oasen“ begründet. Der Hebesatz wird als „Vomhundertsatz“ bezeichnet.

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

543

die Steuermesszahl von 0,035 ungemildert angewandt. Der effektive Gewerbesteuersatz ]g eines gewerbesteuerpflichtigen Einzel- oder Mitunternehmers ist daher1 (18-6)

] g ) ] Gew 5 min{] Gew ;3,8 W 0,035} W1,055 .

Hierbei sind ]Gew der nominale Gewerbesteuersatz aus H und MZ. Berücksichtigt wird auch der Solidaritätszuschlag von 5,5 %. Ausgehend von einem Mindest-Gewerbesteuer-Hebesatz von 200 % nimmt ]g mit steigendem Hebesatz zunächst negative Werte (bis – 0,73 % bei einem Hebesatz von 380 %) an und wird ab ]Gew = 401 positiv. Für Personenunternehmen ist eine Gemeinde mit einem Hebesatz von 380 % steuerlich der günstigste Standort und attraktiver als eine Gemeinde, die einen Hebesatz von 200 % festgesetzt hat (Homburg u.a. 2007, S. 377). b) Die Beurteilung der Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer ist trotz ihrer Beschränkung auf eine Gewerbeertragsteuer mit rund 15 % eine wichtige Einnahmequelle der Gemeinden. Ihr unterlagen 2004 rund 1 Mio. Steuerpflichtige, davon rund 40 % Kapitalgesellschaften. Die Gewerbesteuer wird (wie die Grundsteuer) als kommunale Einnahmequelle vor allem unter Äquivalenzgesichtspunkten gerechtfertigt: Gewerbliche Unternehmen beanspruchen kommunale Infrastruktur bzw. verursachen Ausgaben der Gemeinden. Mit der Steuer wird die Rente, die die örtlichen Unternehmen hierbei erzielen, abgeschöpft. Die örtliche „Radizierbarkeit“, d.h. Zurechnung der von Unternehmen verursachten Kosten bzw. erlangten Vorteile, zielt aber nicht auf individuellen Ausgleich von Vorteil (bzw. Kostenverursachung) und Steuerlast, sondern stellt einen auf den Raum bezogenen gruppenmäßigen Zusammenhang her. Nur ist die Gruppenabgrenzung „Gewerbe“ willkürlich verengt, weil land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Wohnungswirtschaft, verschiedene öffentliche Unternehmen und freie Berufe nicht zu den Steuerpflichtigen rechnen. Tab. 18-2 Gewerbesteuerdaten

Gewinn aus Gewerbebetrieb2 davon - Körperschaften (insb. Kapitalgesellschaften) - Personengesellschaften - Einzelunternehmen Quelle: BMF (2010a), S. 41.

1

Vgl. Homburg u.a. (2007).

Anzahl der Steuerpflichtigen1,5 1 032 802 270 639 135 141 627 022

153,3

Anteil am Gewinn % 100,0

65,1 54,0 36,3

41,9 34,7 23,4

Mrd. EUR5

544

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Faktisch werden Kommunalleistungen weitgehend von den Gemeindeeinwohnern und nur geringfügig von den Gewerbebetrieben genutzt. Das Aufkommen der Steuer übertrifft daher in der Regel die dem Gewerbe zurechenbaren Gemeindeleistungen. Es wird von einer kleinen Gruppe aufgebracht und ist praktisch eine Steuer für Großbetriebe. Ihre Insolvenzen oder standortpolitischen Entscheidungen können kurzfristig zu gravierenden Aufkommensverlusten führen. Im Übrigen müssen die Betriebe für Gemeindeleistungen auch Gebühren und Beiträge entrichten. Zweckmäßiger wäre es, Unternehmen mit kostendeckenden Abgaben insoweit zu belasten, wie sie hinreichend bestimmbare Leistungen in Anspruch nehmen oder die kommunalen Haushalte mit klar identifizierbaren Ausgaben belasten. Das Äquivalenzprinzip taugt also – auch wegen der Anrechnung auf die Einkommensteuer der Personenunternehmen – nicht zur Begründung der Gewerbesteuer. Die Gewerbesteuer verzerrt, weil die analytische Zuordnung der Wertschöpfung auf die Faktoren, das ursprünglich tragende Prinzip der Gewerbesteuer, in der Praxis nie gelöst wurde. Die gesamte Bemessungsgrundlage aus Grund- und Gewerbesteuer hat keinen klaren Bezug zur Nettowertschöpfung. Die erfassten Erträge werden nach Sektoren und Faktoren ungleichmäßig belastet. Die Gewerbesteuer kann durch ihren Aufbau und ihre Hebesätze zu allokativen Verzerrungen im Raum führen. Sie begünstigt Gemeinden mit Standortvorteilen, deren Gewerbesteueraufkommen hohe Infrastrukturausgaben erlaubt, wodurch weitere Industrie attrahiert werden kann. Das fördert Ballungstendenzen. Das Gewerbesteueraufkommen ist abhängig vom Industrialisierungsgrad und von der Ertragskraft. Daher unterliegt ihr Pro-Kopf-Aufkommen im Raum starken Schwankungen. Meist liegen die Hebesätze von Großstädten höher als im Umland. Die Verdichtungsgebiete müssen andererseits Aufgaben finanzieren, die nicht nur den Bewohnern der Kernstädte, sondern auch der Randgebiete zugute kommen. Die daraus entstehenden Agglomerationskosten im Bereich des Verkehrs, der Ver- und Entsorgung, des Gesundheits- und Schulwesens werden (können) den Verursachern nicht oder nur teilweise angelastet (zugerechnet werden). Mangels anderer eigener Steuer- und Einnahmequellen betreiben die Städte daher Gewerbeansiedlungspolitik (durch niedrige Hebesätze und andere spezielle Vergünstigungen wie Vorleistungen für die Erschließung) und erhöhen so die ballungsbedingten Probleme. Dies hat u.a. zu einer städtezerstörenden Wirkung und zur Vertreibung von Bewohnern aus früher intakten Wohngegenden geführt. Die Gewerbesteuer ist andererseits wichtig für das Interesse an der Erhaltung örtlicher Wirtschaftskraft. Ohne diese Einnahmen würden Städte und Gemeinden Gewerbebetriebe auf ihrem Gebiet (z.B. aus umweltpolitischen Gründen, Bürgerproteste) kaum zulassen. Gelände für die Industrieansiedlung würden dann ebenso schwierig zu finden sein wie bereits heute für Kläranlagen, Obdachlosenheime u.a. Die Mehrfachbelastung der Personengesellschaften wird – abhängig vom persönlichen Grenzsteuersatz – dadurch weitgehend vermieden, dass bei ihren Eignern die Einkünfte aus Gewerbebetrieb bei der Einkommensteuer abgezogen werden. Begrenzt

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

545

ist der Anrechnungsbetrag auf die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer. Nur macht es wenig Sinn, erst aufwändig die Gewerbesteuer zu ermitteln, um sie dann zu neutralisieren. Systematisch und einfacher wäre die Abschaffung der Gewerbesteuer. „Zudem schlagen Änderungen bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage von Einkommen- und Körperschaftsteuer auf die Gewerbesteuereinnahmen durch, was den Gesetzgeber dazu verleitet, Gewerbesteuerausfälle durch unsystematische Erweiterungen der gewerbesteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage zu kompensieren“ (Hey 2002, S. 315). Die Gewerbesteuer enthält mit den Hinzurechnungen, z.B. der Zinsen, Elemente, die die Substanz der Unternehmen bedrohen können, da selbst in Verlustjahren Gewerbesteuer gezahlt werden muss. Der Abzug von Zinsen ist kein systemwidriges Privileg, sondern normaler Bestandteil der Gewinnermittlung. Systemgerecht wäre eine Kürzung des Gewinns um die Eigenkapitalverzinsung. Die bestehende Regelung verteuert die Kreditaufnahme. Die Grundsätze der Transparenz und Einfachheit erfüllt die Steuer nicht. Die Verrechnungen mit der Einkommensteuer1 erhöhen die Transaktionskosten der Gewerbesteuer. Befolgungs-, Ermittlungs- und Entrichtungskosten sowie Steuerverwaltungskosten entstehen auch durch die mehrfache Belastung der Bemessungsgrundlage „gewerbliche Einkünfte“. Die Gewerbesteuer führt zusammen mit der Körperschaftsteuer bei einem Steuersatz von 15 %, zuzüglich 5,5 % Solidaritätszuschlag, und einem Hebesatz der Gewerbesteuer von 400 (500) % zu einer Belastung der Körperschaften mit 29,8 (33,3) %. Für die Gewerbesteuer ist im Gegensatz zu Einkommen- und Körperschaftsteuer nur ein (eingeschränkter) Verlustvortrag zulässig, was zu einer Ungleichbehandlung positiver und negativer Einkünfte aus Gewerbebetrieben führt2. Wenn die Einkommensteuer niedriger als die anzurechnende Gewerbesteuer ist, dürfen Anrechnungsüberhänge nicht im Verlustausgleich geltend gemacht werden. Mit der Gewerbesteuer wird zugunsten weniger risikoreicher Anlagen wie Immobilien oder festverzinsliche Wertpapiere diskriminiert, was sich auch auf die Eigenkapitalbasis gewerbesteuerpflichtiger Unternehmen auswirken kann. Verzerrend kann ferner die Behandlung des Unternehmerlohns wirken. Für Kapitalgesellschaften sind Geschäftsführergehälter bei der Berechnung des Gewerbeertrags abzugsfähig, für Personenunternehmen wird aber nur ein Unternehmerfreibetrag eingeräumt, ansonsten rechnet der Unternehmerlohn zum Gewerbeertrag. Steuerliche Wettbewerbsverzerrungen gegenüber gewerblichen Unternehmen in der Privatwirtschaft bestehen auch, weil kommunale Unternehmen keine Ertrags-(Umsatz-) Steuer entrichten, wenn sie eine hoheitliche Tätigkeit ausüben – was weit interpretiert wird. Da ein Teil der Gewerbesteuer Bund und Ländern zufließt, ist ihre Bedeutung für die Gemeinden geringer als ohne die Umlage. Aber auch das Interesse an Gewerbebetrieben zu Lasten der Einwohner in den Gemeinden ist so gemindert. Durch die Pflicht zur Erhebung eines Mindestsatzes wird die Gemeindeautonomie eingeschränkt. 1 2

Steueranmeldungen und -abführungen, die sich letztlich saldieren (sollen). Die Begrenzung durch eine Mindestbesteuerung gilt auch hier.

546

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Exporte werden von der Gewerbesteuer nicht entlastet, Importe aber verschont, so dass es zu allokativen Verzerrungen auch im grenzüberschreitenden Verkehr kommen kann. Dies ist insbesondere bei unterschiedlichen Steuerstrukturen und unterschiedlichen Produktionsstrukturen zwischen den Staaten zu erwarten, die der Wechselkurs nicht ausgleichen kann. Die Gewerbesteuer wird in den anderen EU-Staaten nicht oder eingeschränkter erhoben, ihre Abschaffung würde daher einen Beitrag zur Steuerharmonisierung darstellen (vgl. 21. Kapitel) – allerdings nicht, wenn die Gewerbesteuer Äquivalenzcharakter hätte. Die Gewerbesteuer weist als fast reine Gewinnsteuer eine relativ hohe Einkommenselastizität auf. Ihr ungleichmäßiges Fließen lässt für die Gemeinden in Abschwungphasen ihren Finanzierungsbedarf nur schwer realisieren. Dies kann sich in Ausgabenkürzungen niederschlagen, die insbesondere die Investitionsausgaben beeinträchtigen. Die Gemeinden können aber auch versuchen, durch Anhebung der Hebesätze ihr jeweils geplantes Ausgabenvolumen zu realisieren. Insgesamt trägt die Gewerbesteuer zu einem prozyklischen Verhalten der Gemeinden bei. Die Finanzierungsprobleme verstärken sich, wenn Gemeinden von nur wenigen Steuerzahlern derselben Branche und damit von deren besonderen Schwankungen abhängen. c) Reformvorschläge: Ersatz oder Revitalisierung der Gewerbesteuer Jede Reform der Gewerbesteuer muss die Realsteuergarantie beachten und den Gemeinden eine Finanzausstattung gewährleisten, die im Volumen dem Gemeindeanteil an der Gewerbesteuer (zur Einnahmenentflechtung zweckmäßigerweise einschließlich der Umlage) entspricht. Als Beurteilungsmaßstäbe gelten weiter (1) die fiskalische Verbundenheit zwischen der Gemeinde sowie ihren Bürgern und Unternehmen; diese müssen wissen, wie viel sie ihrer Gemeinde zahlen; (2) angemessene Ertragsbeteiligung: der Erfolg beispielsweise einer Gewerbeansiedlung darf nicht durch Anrechnung im Finanzausgleich vollständig kompensiert werden; (3) ein Hebesatzrecht, dass die Gemeinden auf Forderungen nach veränderten Ausgaben reagieren lässt; (4) eine wenig konjunkturreagible Steuerausstattung, die zu kontinuierlichen Ausgaben beiträgt; (5) keine internationalen Verzerrungen durch die Steuer; (6) eine „wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle“, die mit einem eigenen Hebesatzrecht ausgestattet ist, wie sie die Verfassung den Gemeinden seit 1994 garantiert. Wenn der Grundgedanke der Äquivalenz aufrecht erhalten bleiben soll, muss die Gemeindesteuer mit der Bemessungsgrundlage an Faktoren anknüpfen, die mit den von den Gewerbebetrieben verursachten Lasten bzw. mit den von ihnen empfangenen Vorteilen zusammenhängen. Auf das Hebesatzrecht könnte verzichtet werden, ohne die Autonomie der Gemeinden aufzuheben. Das gilt zumindest dann, wenn man nur darauf abstellt, dass die Gemeinden über ausreichende, gesetzlich festgelegte eigene Einnahmen verfügen und über die Verwendung frei entscheiden sollen. Eigene Steuern mit Hebesatzrecht werden als Kernstück kommunaler Selbstverwaltung betrachtet (Hansmeyer 1997, S. 159). Das Hebesatzrecht verstärkt die Fühlbarkeit der Abgabe bei einer breiten Bemessungsgrundlage und lässt einen umsichtigeren Gebrauch der

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

547

Einnahmen vermuten. Die Entscheidungsträger haben dann auch eher persönlich die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen. In dieser Hinsicht scheint gerade eine Beteiligung der Gemeinden an der Einkommensteuer mit eigenem Hebesatzrecht geeignet. Dieser Vorschlag liegt insbesondere nahe, wenn man eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit will, die im Einkommen als Maßgröße zum Ausdruck kommen soll, und unter dem Aspekt der Vereinfachung und Durchsichtigkeit des Steuerrechts (Schneider 1985, S. 170). Übersicht 18-3 Alternativen der Gewerbesteuerreform

Ersatz der GewSt durch

GemeindeUSt/Gemeindebeteiligung an USt

Wertschöpfungsteuer

Gemeindebeteiligung an ESt

Revitalisierung der GewSt: Einbeziehung freier Berufe Mehrsäulenlösung

Eine Diskussionsrichtung läuft wie die tatsächliche Entwicklung (Erhöhung der Freibeträge, Abschaffung der Lohnsummen- und Gewerbekapitalsteuer, Gewerbesteuerumlage) auf eine Abschaffung der Gewerbesteuer hinaus. Bisher ist es aber selbst einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen (2003) nicht gelungen, einen Konsens über eine Neuordnung der Kommunalfinanzen zu finden. Als Ersatz kommt die Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen der Gemeinden in Betracht. Hierdurch würde ein Interesse an der Ansiedlung von Unternehmen bestehen. Der Vorschlag ist mit niedrigem Verwaltungsaufwand, Steuervereinfachung und voraussichtlich geringem Steuerwiderstand der Pflichtigen verbunden. Eine Differenzierung der Umsatzsteuer durch ein eigenes Hebesatzrecht der Gemeinden ist nach EU-Recht ausgeschlossen. Auch könnten sich die Gemeinden auf Kosten von Bund und Ländern aus dem Steuertopf bedienen. Das spricht eher für eine wertschöpfungsoder einkommensbezogene Ausgestaltung. Bei einer kommunalen Wertschöpfungsteuer werden die freien Berufe und der öffentliche Sektor einbezogen. Sie hat (wirtschaftlich) eine der Umsatzsteuer verwandte Steuerbemessungsgrundlage, schließt aber – im Gegensatz zur Umsatzsteuer – die Ausfuhr sowie die Investitionen in die Bemessungsgrundlage ein. Von der Ertragsseite her gesehen nähert sie sich der alten Belastung aller Faktoren durch Grund- und Gewerbesteuer an, wenn auch möglicherweise in systematischer Abgrenzung. Ferner belastet die Abgabe gewinnunabhängig, trifft also wenig rentable Unternehmen besonders stark. Die im Vergleich zur Gewerbesteuer breitere Bemessungsgrundlage ermöglicht einen niedrigen Steuersatz, um das gleiche Aufkommen zu erzielen. Ein Hebe-

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

satzrecht ist möglich. Die Konjunkturreagibilität ist geringer als bei der Gewerbesteuer. Erwogen wird auch eine Beteiligung an der Einkommensteuer, indem das zu versteuernde Einkommen zusätzlich mit einem proportionalen Satz belastet wird. Hier käme das Hebesatzrecht der Gemeinden zur Anwendung. Diese von der Verfassung (Art. 106 Abs. 5 GG) eingeräumte Möglichkeit wurde bisher nicht genutzt. Bei dem Modell müssen die Unternehmen und die in der Kommune ansässigen einkommensteuerpflichtigen Personen den Zuschlag zahlen. Die Regelung enthält keine gewinnunabhängigen Elemente in der Bemessungsgrundlage. Wird der Anteil der Gemeinden an der Einkommensteuer wie dort nach dem Wohnsitzprinzip festgelegt, werden die externen Nutzer kommunaler Leistungen nicht belastet. Die Gemeinden mit vielen Einpendlern hätten auch kein Interesse an der Ausweisung von Gewerbegebieten. Die Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft hat den aufkommensneutralen Ersatz der Gewerbesteuer durch ein aus vier Säulen bestehendes Kommunalsteuersystem mit Hebesatzrecht vorgeschlagen. In der ersten Säule sollen die Gemeinden einen Zuschlag von 6-8 % auf die Bemessungsgrundlage einer Allgemeinen Unternehmenssteuer1 bekommen. Als zweite Säule ist vorgesehen, die bisherige Beteiligung der Gemeinden an der Einkommensteuer in Höhe von 15 % durch eine Bürgersteuer zu ersetzen und die Anwendung eines beschränkten Hebesatzrechts auf das zu versteuernde Einkommen aller Einwohner einer Gemeinde einzuführen. Als dritte Säule sollen die Betriebsstätten-Gemeinden einen Anteil von 2 % an den in einer Betriebsstätte oder staatlichen Verwaltung gezahlten Löhnen erhalten. Eine Verrechnung mit der allgemeinen Lohnsteuerschuld ist vorgesehen. Als letzte Säule ist eine Umgestaltung der Grundsteuer vorgesehen. Tatsächlich ist die ab 2008 geltende Regelung eine gewisse Revitalisierung der Gewerbesteuer. Die Abgabe bleibt gewinnabhängig und führt durch die Verbreitung der Bemessungsgrundlage um weitere Zinsen in Richtung einer Wertschöpfungsteuer. Warum ist eine (echte) Gewerbesteuerreform so schwer möglich? Ein Grund könnte sein, dass die Gemeinden bei den einzelnen Alternativen eine Aufkommensgefahr sehen. Der politische Widerstand gegen ein Zuschlagsmodell lässt sich auch anders erklären. „So tun sich lokale Politiker mit einer Reform des kommunalen Einnahmesystems schwer, die stärker als bislang die Kosten der kommunalen Aufgabenerfüllung für den Bürger spürbar machen würde. Das Zuschlagsmodell würde ein Mehr an gelebter Demokratie in Deutschland bedingen und der Forderungsmentalität mancher Bürger entgegenwirken. Eine damit einhergehende Rückkopplung zwischen den Absichten der Kommunalpolitiker und den Interessen der Wähler liegt aus politökonomischer Sicht nur begrenzt – wenn überhaupt – im Eigeninteresse der Kommunalpolitiker. Das Zuschlagsmodell führt dazu, dass neben die bestehenden Verantwortlichkeiten der Kommunalpolitik gegenüber der lokalen Wirtschaft noch eine stärkere Verantwortlichkeit gegenüber den in einer Gemeinde wohnenden Bürgern tritt. Die 1

Die Allgemeine Unternehmensteuer sieht eine einheitliche Besteuerung aller Unternehmen, unabhängig von ihrer Rechtsform, mit einheitlichem Satz vor.

18. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer

549

Kommunalvertreter würden ihre Politik stärker vor den Bürgern rechtfertigen müssen. Diesen Rechtfertigungszwang scheuen viele. Um wie viel leichter ist es, die Verantwortung für Fehlentwicklungen auf der lokalen Ebene auf Land und Bund abzuwälzen“ (Döring/Feld 2005, S. 229). Das wird bei der Verrechnung der von Personenunternehmen gezahlten Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer erreicht. Dadurch wird die Fühlbarkeit dieser kommunalen Abgabe beseitigt, der Zusammenhang zu gemeindlichen Leistungen abgeschnitten und der Charakter einer eigenen kommunalen Steuer aufgehoben. Literatur zum 18. Kapitel Als Einführung in die Problematik der Grund- und Gewerbesteuern siehe Littman (1980a, b), Musgrave/Musgrave/Kullmer (2, 1993, Kapitel 19), Hansmeyer (1997) und Zimmermann (1999a); zur Grundsteuer Hansmeyer (1981b). Die Stiftung Bertelsmann (Witte/Tebbe u.a.) schlägt ein Drei-Säulen-Modell vor. Einen Überblick über Reformvorschläge geben Döring/Feld (2005). Zur steuerrechtlichen Darstellung und Würdigung der Grund- und Gewerbesteuer siehe Tipke/Lang (2009, §§ 12, 13D), aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre Schreiber (2005, Kap. I 5, I 7). Zur Statistik siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Finanzen und Steuern, Reihe 10.1, Realsteuervergleich.

19. Kapitel Die Umsatzsteuer 1. Begriff und Anknüpfungspunkte Umsatzsteuern sind bei den Unternehmen 1 erhobene Steuern, die im Wesentlichen deren Verkauf von Gütern belasten. Nach ihrer Bemessungsgrundlage und nach der Erhebungsweise sind verschiedene Formen der Umsatzbesteuerung zu unterscheiden. Zur Verdeutlichung dient wieder das modifizierte Produktionskonto eines Unternehmens. Abb. 19-1

Produktionskonto

Vorleistungskäufe (VL) Abschreibungen (D) Produktionsabgaben (TP – Z)1 Wertschöpfung (netto, NWS) (a) Löhne/Gehälter (L) (b) Mieten/Pachten (M) (c) Zinsen (R) (d) Betriebsgewinn (G)

Verkäufe von Waren und Dienstleistungen (= Umsatz U) Bestandsänderungen an eigenen Erzeugnissen/selbsterstellte Anlagen (BA)

Produktionswert (PW)

Produktionswert (PW)

1

Produktionsbezogene Steuern ohne Umsatzsteuer, abzüglich Subventionen.

Bruttoumsatzsteuern liegen vor, wenn der Bruttoumsatz U oder der Produktionswert PW belastet werden. Als Nettoumsatzsteuern knüpfen die Abgaben an der Bruttowertschöpfung PW – VL, an der Nettowertschöpfung zu Faktorkosten NWS oder am Nettoumsatz U – VL an 2. Der wesentliche Unterschied zu den Bruttoumsatzsteuern liegt in der Behandlung der Vorleistungen. Der Produktionswert PW ist die weiteste Bemessungsgrundlage. Er enthält die eigene Wertschöpfung NWS und die fremde Wertschöpfung VL. Für eine Kürzung dieser weiten Bemessungsgrundlage zunächst um die Bestandsänderungen BA spricht, dass hier (noch) kein Umsatz vorlag, also nicht feststeht, ob und zu welchem Preis sie am Markt abgesetzt werden. Knüpft die Steuer an U aller Unternehmen an, beträgt die gesamtwirtschaftliche Bemessungsgrundlage wie bei PW ein Mehrfaches des Inlandsprodukts. Dies liegt an den zahlreichen zwischen den Unternehmen stattfindenden Umsätzen, die jeweils die eigene und fremde Wertschöpfung enthalten. Eine Steuer auf U belastet daher wie eine

1 2

Das deutsche Umsatzsteuergesetz (UStG) spricht von „Unternehmer“ als Steuersubjekt. Statt zu Faktorkosten kann die NWS auch zu Herstellungspreisen, also unter Einbeziehung von TP – Z berechnet werden. Die deutsche Umsatzsteuer bezieht darüber hinaus auch bestimmte Gütersteuern (z.B. die Mineralölsteuer) in die Bemessungsgrundlage ein.

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

551

Steuer auf PW – abhängig vom Grad der Arbeitsteilung zwischen den Unternehmen – Produktionsteile mehrfach auf verschiedenen Produktionsstufen. Zieht man von NWS die Investitionen ab, liegt letztlich eine allgemeine Verbrauchsteuer vor. Hier werden alle Konsumausgaben der privaten Haushalte (und des Staates) belastet. Die Besteuerung des Konsums kann auf einer Stufe (Einphasensteuer) oder auf mehreren Stufen (Mehrphasensteuer) erfolgen. Bei der Einphasensteuer wächst die einzelwirtschaftliche Bemessungsgrundlage vom Hersteller zum Einzelhandel. Anstelle des gesamten Verbrauchs können auch einzelne Konsumgüterverkäufe durch spezielle Verbrauchsteuern belastet werden. Übersicht 19-1 stellt verschiedene Formen von Umsatzsteuern nach ihrer gesamtwirtschaftlichen Bemessungsgrundlage 1 und nach der Zahl der Besteuerungsstufen zusammen. Sie kommen in der Realität in verschiedenen Ländern vor. Übersicht 19-1 Gestaltungsmöglichkeiten von Umsatzsteuern Erhebungsstufe

gesamtwirtschaftliche Bemessungsgrundlage Konsumgüter

einstufig mehrere/alle Stufen

allgemein

speziell

Konsum- und Investitionsgüter

1 2

3 4

5 6

Bruttoumsätze

7

Von diesen möglichen Formen sollen im Folgenden die Allphasenbrutto- (7), die Einphasenbrutto- (1, 5) und die Allphasennettoumsatzsteuer (2) behandelt werden. Die Allphasenbruttoumsatzsteuer hat eine einfache Bemessungsgrundlage, ihre Erhebungskosten sind niedrig. Ein bestimmtes Steueraufkommen kann mit einem (formal) niedrigen Steuersatz erzielt werden. Bei dieser Abgabe kann auf allen Stufen der gleiche Satz, es können aber auch verschiedene Sätze zur Anwendung kommen. Die Besteuerung des Bruttoumsatzes auf allen Stufen führt zu einer kumulativen Belastung mit Umsatzsteuern. Ihre Höhe hängt von der Zahl der Stufen ab, die ein Gut bis zum Endabsatz durchläuft und von der Verteilung der Wertschöpfungen auf die einzelnen Stufen. Gleiche Güter können folglich unterschiedlich mit Umsatzsteuern belastet sein, ohne dass die Belastung zu ermitteln und eine einheitliche Belastung zu erreichen ist. Die Steuer ruft eine Tendenz zur vertikalen Konzentration hervor, durch die sich Steuern sparen lassen. Sie ist daher nicht wettbewerbsneutral. Auch gegenüber dem Ausland entstehen Wettbewerbsverzerrungen, weil im grenzüberschreitenden Warenverkehr keine exakte Be- und Entlastung möglich ist (vgl. das 21. Kapitel). Diese ist nach den Regeln des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) im Falle der indirekten Steuern (Umsatzsteuer und spezielle Verbrauchsteuern) vorgesehen. 1

Eine in der Praxis nicht erfüllte Voraussetzung für diese Charakteristik ist, dass die Abgabe von allen Unternehmen ohne Steuerbefreiungen erhoben wird.

552

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Die Einphasenbruttoumsatzsteuer bezieht sich anders als die Allphasensteuer nur auf die Steuerpflichtigen einer Stufe, die genau abgegrenzt werden muss, um Steuerausweichungen zu vermeiden (bei einer Großhandelsteuer z.B. durch direkte Lieferung der Produzenten an den Einzelhandel oder Endverbraucher). Das dürfte bei der Bemessungsgrundlage (1) leichter als bei (5) sein. Wenn die eindeutige Abgrenzung nicht gelingt, kommt es zu Verzerrungen durch verschiedene Belastungen von Produkten, Produktionsverfahren und Produktionsstufen. Eine Entlastung der Exporte von Umsatzsteuer ist auch bei dieser Form möglich. Verwaltungsmäßig ist die Steuer einfacher als die Nettoumsatzsteuer, weil nicht alle, sondern nur die Unternehmer der letzten Stufe getroffen werden sollen. Wenn bei einem steuerlichen Zugriff die letzte Stufe ausfällt, bedeutet dies bei der Einphasensteuer, nicht aber bei der Nettoumsatzsteuer einen vollständigen Einnahmenausfall. Im Gegensatz zur Steuer auf den Bruttoumsatz oder Bruttoproduktionswert ist die Nettoumsatzsteuer unabhängig davon, wieviele Stufen ein Gut bis zum Endverwender durchläuft und wie sich die Wertschöpfungen verteilen. Sie ruft daher – wie die Einphasenumsatzsteuer – keinen Kumulativeffekt hervor und erzielt, wenn sie vollständig funktioniert, bei gleichem Steuersatz das gleiche Steueraufkommen (wenn auch zeitlich verschoben) wie diese. Die Nettoumsatzsteuer ist aufwändiger als die mehrphasigen Bruttoformen. Die Umsatzsteuer vom Konsumtyp schließt im Gegensatz zu (6) die Investitionen aus der Bemessungsgrundlage aus. Sie ist einer Konsumsteuer grundsätzlich äquivalent. Eine auch die Investitionen belastende Umsatzsteuer stellt hingegen auf die gleiche gesamtwirtschaftliche Bemessungsgrundlage wie die Einkommen- (und Körperschaft-) Steuer ab. In Deutschland wird die Bemessungsgrundlage in jeweils unterschiedlicher Abgrenzung nicht nur bei diesen Abgaben, sondern außerdem bei der Gewerbesteuer herangezogen. 2. Die deutsche Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) a) Der Steuergegenstand Die gegenwärtig erhobene Umsatzsteuer gilt als eine Mehrwertsteuer vom Konsumtyp mit Vorsteuerabzug 1. Deshalb wird die Umsatzsteuer auch Mehrwertsteuer genannt 2. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers den gesamten privaten und öffentlichen Verbrauch belasten; hierzu werden (grundsätzlich) die auf Investitionsgütern liegenden Vorbelastungen der Unternehmer mit Umsatzsteuern abgezogen. Der Umsatzsteuer unterliegen folgende (steuerbare) Umsätze: (1) Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tä1 2

Bis Ende 1967 bestand in der Bundesrepublik Deutschland eine Allphasenbruttoumsatzsteuer. Das UStG von 1967 trug die amtliche Überschrift „Umsatzsteuergesetz (Mehrwertsteuer)“. Der Begriff „Mehrwertsteuer“ wird seit dem UStG 1980 nicht mehr verwendet.

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

553

tigkeit selbständig ausübt 1; (2) die Einfuhr von Gegenständen aus dem Drittlandsgebiet in das Inland (Einfuhrumsatzsteuer); (3) der innergemeinschaftliche Erwerb im Inland gegen Entgelt. Die Steuer ist insofern eine Sollsteuer, als sie grundsätzlich nach vereinbarten (nicht vereinnahmten) Entgelten – ohne Umsatzsteuer – zu berechnen ist. Entsprechendes gilt für den Vorsteuerabzug (s. u.) nach Rechnungserhalt 2. b) Vorumsatz- oder Vorsteuerabzug Zwei Methoden sind möglich, um zur Belastung des Nettoumsatzes bei der subtraktiven Methode zu gelangen: durch Abzug der Vorumsätze oder der Vorsteuern. Beim Vorumsatzabzug werden vom Gesamtumsatz eines Unternehmens alle Vorumsätze an Vorleistungen und Investitionsgütern abgesetzt. Dieses Verfahren erspart Verwaltungsaufwand gegenüber dem Vorsteuerabzug. Beim Vorsteuerabzug wird für den Gesamtumsatz des Unternehmens eine fiktive (vorläufige) Steuerschuld durch Anwendung des geltenden Steuersatzes ermittelt. Die Vorsteuer ist die auf den empfangenen Vorleistungen und Investitionen liegende Umsatzsteuer. Sie wird von den Lieferanten gesondert in Rechnung gestellt. Nur die Differenz wird an das Finanzamt abgeführt. Die Steuerfunktion ist nach der Vorumsatzmethode (19-1)

Tu ) ] U ( U 5 VL 5 I) ) ] U W NWSC

Sie hat die gleiche Wirkung wie die Vorsteuermethode (19-2)

Tu ) ] U U 5 ] U (VL 9 I) ) ] U W NWSC

wenn der Steuersatz einheitlich ist und keine Befreiungen gewährt werden. Hierbei sind I Investitionen und NWSC Nettowertschöpfung nach Abzug der Investitionen. Unterstellt man im folgenden Beispiel ]U = 10 % auf alle Stufen, ist das Steueraufkommen in beiden Fällen 800.

1 2

Die Unternehmereigenschaft fehlt, wenn eine Tätigkeit nicht der nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dient, wie z.B. die einmalige Veräußerung einer privaten Briefmarkensammlung. Bis zu einer bestimmten Umsatzgrenze können gewerbliche Unternehmer die Steuer nach vereinnahmten Entgelten (Ist-Versteuerung) berechnen.

554

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Beispiel 19-1 Vorsteuer- und Vorumsatzabzug mit einheitlich ]U = 10 % (alternativ 5 % auf 1. Stufe und 10 % auf 2.-4. Stufe)

1. Stufe 2. Stufe 3. Stufe 4. Stufe

Gesamtumsatz

Vorumsatz

Nettoumsatz

Steuer bei Vorumsatzabzug

Steuer bei Vorsteuerabzug

1 000 3 000 6 000 8 000

1 000 3 000 6 000

1 000 2 000 3 000 2 000

100 ( 50) 200 (200) 300 (300) 200 (200)

100 ( 50) 200 (250) 300 (300) 200 (200)

18 000

10 000

8 000

800 (750)

800 (800)

Die Vorsteuermethode schränkt die Möglichkeit ein, durch eine Vielzahl von Befreiungen und Ermäßigungen die Belastungen zu differenzieren. Man kann zwar beim Vorsteuerabzug Güter nach dem Grad der Dringlichkeit und einzelne Wirtschaftsbereiche unterschiedlich behandeln. Von einem Normalsatz abweichende Belastungen einer Stufe verändern aber auch den Vorsteuerabzug und führen zu einer ausgleichenden Belastung der nächsten Stufe. Der Steuersatz auf der letzten Stufe ist entscheidend für die Gesamtbelastung. Das Beispiel zeigt, dass die Ermäßigung der 1. Stufe beim Vorsteuerabzug (bereits in der 2. Stufe) ausgeglichen wird. Diese Nachholwirkung tritt nicht ein, wenn der Normalsteuersatz als Vorsteuersatz unterstellt wird oder die Ermäßigung auf der letzten Stufe ansetzt. Als Vorsteuer abziehbar ist auch die Einfuhrumsatzsteuer, die der Unternehmer bei der Wareneinfuhr aus Nicht-EU-Staaten zu entrichten hat. Dadurch werden Importe umsatzsteuerlich den heimisch produzierten Gütern gleichgestellt. c) Steuersätze, -befreiungen und -ermäßigungen Für eine den gesamten Konsum belastende Steuer spricht ein einheitlicher Steuersatz. Die praktizierte Regelung weicht hiervon ab. Der allgemeine Steuersatz beträgt 19 %. Ein ermäßigter Steuersatz von 7 % wird überwiegend auf der Endstufe angewendet (z.B. Personennahverkehr, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Kunstgegenstände, Briefversender, fast alle Lebensmittel außer die meisten Getränke und einige Luxusartikel, Hotelübernachtungen außer Frühstück) 1. Einen Nullsteuersatz sieht das UStG für mehrwertsteuerpflichtige Unternehmen bei Ausfuhr- und innergemeinschaftlichen Lieferungen vor. Diese Exportumsätze werden im Importland mit den dort gültigen Steuersätzen belastet (Bestimmungsland-

1

Nach EU-Recht können Güter und Dienstleistungen aus beschäftigungspolitischen Gründen ermäßigt besteuert werden, so etwa Entgelte von Skiliftbetreibern und Bergbahnen sowie Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben.

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

555

prinzip) 1 und damit dort inländischen Gütern gleichgestellt. Der exportierende Unternehmer bekommt hier die „eingekaufte“ Vorsteuer erstattet. Steuerbefreiungen mit der Möglichkeit des Verzichts, z.B. bei der Vermietung von Grundstücken und der Kreditgewährung, haben geringe Bedeutung für das Steueraufkommen. Im Ergebnis erbringen auch Kleinunternehmer mit einem der Höhe nach begrenzten Umsatz im vorangegangenen und laufenden Kalenderjahr steuerfreie Umsätze. Sie können aber auch keine Vorsteuer geltend machen. Grund für diese Regelung ist, dass die Entrichtungs- und Erhebungskosten in einem angemessenen Verhältnis zum Steuerertrag stehen sollen. Steuerbefreit ohne Möglichkeit des Verzichts auf Inanspruchnahme der Steuerbefreiung sind Umsätze der Ärzte und anderen Heilberufe sowie der meisten Krankenhäuser, Privatschulen, Theater und Orchester. Tatsächlich liegt nur eine unechte Steuerbefreiung vor, weil bei dieser Gruppe von Unternehmern der Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist und damit ein Teil des Umsatzsteueraufkommens auf Vorleistungen und Investitionen liegt. Bei Lieferungen an steuerpflichtige Unternehmer kann der Bezieher keine Vorsteuer geltend machen. Die Regelung betrifft weitgehend Umsätze an Endverbraucher, die bei Überwälzung de facto mit Umsatzsteuer belastet werden. Die Befreiungen und Ermäßigungen werden mit verteilung-, gesundheits- und kulturpolitischen Erwägungen sowie der Einschränkung der Schattenwirtschaft und erhöhter Beschäftigung begründet; hinzukommen kann auch die Vermeidung einer Doppelbelastung (z.B. Befreiung der Grundstücksumsätze wegen Belastung durch Grunderwerbsteuer 2; ähnlich bei der Versicherungsteuer); der Nullsteuersatz bei der Ausfuhr bzw. der innergemeinschaftlichen Lieferung ist steuersystematisch bedingt. Für die Land- und Forstwirtschaft ist zur Vereinfachung eine Vorsteuerpauschalierung zugelassen. Sie „sieht vor, dass die für land- und forstwirtschaftliche Betriebe geltenden Steuersätze so hoch festgesetzt werden, wie diese Betriebe durchschnittlich mit Vorsteuern belastet sind. Die Steuer für die Umsätze und die Vorsteuerbeträge gleichen sich bei land- und forstwirtschaftlichen Unternehmen also kraft Gesetzes aus. Daher braucht von ihnen eine Steuer an das Finanzamt grundsätzlich nicht gezahlt zu werden“. Anlass „zu dieser Regelung war die Überlegung, dass die überwiegende Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe mit den für die Besteuerung normalerweise erforderlichen Aufzeichnungen überfordert wäre“ (Bundesministerium der Finanzen 2006, S. 108). Diese Unternehmer können aber auch für das Normalverfahren (mit ermäßigtem Steuersatz) optieren.

1 2

Von Ausnahmen abgesehen; zur Umsatzsteuer im internationalen Zusammenhang siehe das 21. Kapitel. Der Grunderwerbsteuer unterliegt der (gesamte) inländische Grundstücksverkehr mit einem Satz von 3,5 %. Bemessungsgrundlage der Versicherungsteuer sind (außer Hagelversicherung, dort Versicherungssumme) die Versicherungsentgelte (Prämien und Beiträge). Die gesetzlichen Lebens- und Krankenversicherungen sind versicherungsteuerfrei.

556

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

d) Die Beurteilung der Umsatzsteuer Die Umsatzsteuer ist eine der wichtigsten Einnahmequellen des Staates. Sie knüpft (weitgehend) am Produktionsprozess an und ist zielmäßig eine allgemeine Verbrauchsteuer. Die Umsatzsteuer wird erhoben, wenn die privaten Haushalte Ausgaben tätigen und belastet die unentgeltlich bereitgestellten Leistungen (über die Vorleistungen und Investitionen) des Staates und privater Organisationen. Allerdings wird der Konsum der privaten Haushalte nicht vollständig erfasst (z.B. Mietausgaben, Ausgaben für Gesundheitsleistungen, Finanzdienstleistungen). Die Investitionen bleiben zielmäßig (und technisch über dem Vorsteuerabzug) steuerfrei. Tatsächlich werden die öffentlichen Investitionen, ferner die Investitionen und sonstigen Käufe der steuerbefreiten Unternehmen (z.B. Kleinunternehmer), die keinen Vorsteuerabzug geltend machen können, durch die Abgabe belastet. Soll die Umsatzsteuer den Konsum belasten, müssten auch die Wohnungsbauinvestitionen der privaten Haushalte umsatzsteuerfrei sein. Die Umsatzsteuer wäre produktionseffizient, wenn sie bei Fehlen von Externalitäten, bei konstanten Skalenerträgen und bei Wettbewerb die Produktionsentscheidungen nicht verzerrt. Hierzu müssten eine umfassende Bemessungsgrundlage, ein einheitlicher Steuersatz und keine Differenzierungen nach Produktionsstufen, Branchen, einzelnen Gütern oder nach Kapital- und Arbeitsintensität vorliegen. Allokative Verzerrungen werden (im Vergleich zur bestehenden Einkommensteuer) vermieden, soweit die Umsatzsteuer auf Cash-flow-Größen der Unternehmens abstellt. Fragen der Bewertung, zeitlichen Zuordnung usw. von Kosten und Erträgen z.B. durch Abschreibungen oder Rückstellungen spielen keine Rolle. Ohne Differenzierungen hat die Umsatzsteuer keinen Einfluss auf die sektorale Faktorallokation und stört die Produktionseffizienz nicht, da sie ohne Einfluss auf den Einsatz an Vorleistungen und Faktoren ist 1. Tatsächlich weist die deutsche Umsatzsteuer Steuerbefreiungen, Steuersatzdifferenzierungen und Nullsatzbesteuerung auf. Das führt zu einer Mehrbelastung wegen der sektoralen Fehlallokation der Faktoren im Falle von Steuerbefreiungen, außer bei der Nullsatzbesteuerung von Exporten, wo die Vorsteuer zurückverlangt werden kann. Unterschiedliche Regeln bei Gütern, Branchen und Anbietern führen zu Wettbewerbsverzerrungen 2. Zu Verzerrungen kommt es auch dann, wenn durch Steuerbefreiung oder sonstige -begünstigung die staatliche Bereitstellung einen Vorteil gegenüber privaten Wettbewerbern erfährt. Quantitativ bedeutsam ist dies, wenn z.B. umsatzsteuerbefreite Gebietskörperschaften und Verbände der freien Wohlfahrtspflege (ohne Vorsteuerabzug) mit gemeinnützigen Vereinen mit Vorsteuerabzug und ermäßigtem Steuersatz mit privatgewerblichen Unternehmen konkurrieren, für die Regelsteuersatz und Vorsteuerabzug gelten. 1

2

Die Besteuerung der Vorleistungen stört nicht die Produktionseffizienz, wenn mit der Produktion verbundene Externalitäten ausgeglichen werden oder nicht alle Umsätze auf der letzten Stufe besteuert werden können. Beispielsweise Normalsatz bei wissenschaftlichem Vortrag und Ermäßigung bei Veröffentlichung in der Zeitschrift oder Hamburger im Restaurant verzehrt (ermäßigt) und mitgenommen (Normalsatz).

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

557

Die Steuerbefreiungen ohne Vorsteuerabzugsmöglichkeit bewirken keine vollständige Entlastung der Umsätze von der Umsatzsteuer, weil in diesen Fällen die Vorsteuer nicht abgezogen werden darf. Da diese Beschränkung dem Zweck der Begünstigung widerspricht, ist das Abzugsverbot für die Vorsteuer inkonsequent 1. Sollen die staatlichen Leistungen subventioniert werden, scheint die Erfassung dieser Maßnahme im staatlichen Haushalt nur eine buchhalterische Pflichtübung zu bewirken, wenn der Umsatzsteuereffekt auch durch die Freistellung erreicht werden kann. Allerdings werden bei einem getrennten Ausweis der Subventionen die Kosten des staatlichen Eingriffs unmittelbar ersichtlich (Cnossen 1998, S. 403). Steuerbefreiungen liefern Anreize für Unternehmen, möglichst viele Vorumsätze in den begünstigten Bereichen zu integrieren, um so Umsatzsteuern zu vermeiden. Anreize bestehen auch zur Steuergestaltung und -hinterziehung, wenn die Abgrenzung zwischen privater und betrieblicher Sphäre schwer zu überwachen ist (z.B. Privatauto, Restaurantbesuche über das Firmenkonto). Ein einheitlicher Steuersatz vermeidet die Problematik, Güter oder Nutzer (z.B. Unternehmen, Haushalte) für einzelne Steuersätze abzugrenzen und Wünsche von Interessengruppen abzuwehren. Differenzierungen führen zu Transaktionskosten (Compliance Costs). Die hohen Steuermargen (von Einkommen- und Umsatzsteuer) sprechen für eine geringere Belastung einzelner Dienstleistungen, die ihren Erwerb über den offiziellen Markt teuer werden lassen und zu Haushaltsproduktion ermutigen. So könnten höher produktive Tätigkeiten mit geringeren Anforderungen im Haushalt eingesetzt werden. Die geringere Steuerbelastung könnte theoretisch auch die Nachfrage in Sektoren erhöhen, die arbeitsintensiv sind und gering qualifizierte Arbeitskräfte z.B. in Hotels, Restaurants oder lokalen Dienstleistungen beschäftigen 2. Abgrenzungsprobleme und die Forderung nach Begünstigung immer neuer Bereiche sprechen gegen diese Differenzierung. Die zusätzliche Nachfrage nach den Leistungen und Arbeitskräften wird bei Einkommenserhöhungen in den Sektoren nicht erreicht. Die Ermäßigung wird zur Subventionierung, wenn die Nettopreise nicht sinken. Die Umsatzsteuer soll nach Auffassung des Gesetzgebers überwälzt werden. Die Verteilungswirkungen hängen davon ab, ob dies gelingt. Bei Überwälzung kann die Abgabe als durchlaufender Posten gelten, der die Gewinne und die Arbeitseinkommen nicht verändert. Wird die Steuer aber je nach Wettbewerbsbedingungen, Konjunkturlage u.a. nicht vollständig überwälzt, belastet sie die Wertschöpfung (einschließlich der darauf liegenden anderen indirekten Steuern, abzüglich Subventionen) und damit die Gewinne und möglicherweise die Löhne.

1

2

„Die als Steuerbegünstigungen gedachten Regelungen können sogar zu Mehrbelastungen führen. Diese treten dann ein, wenn steuerbefreite Leistungen an andere Steuerpflichtige erbracht werden, weil diese aus einer steuerbefreiten Lieferung keine absetzbare Vorsteuer erhalten.“ Es kommt in diesem Falle zu einem unerwünschten Nachholeffekt, weil die Leistungen des steuerbefreiten Unternehmers bereits mit Umsatzsteuer belastet waren, so dass sich für diese Wertschöpfungsanteile eine Doppelbesteuerung ergibt (Pohmer 1983, S. 389). Faktisch hat die Einführung der Steuerermäßigung für Hotelübernachtungen in Frankreich, Österreich und Deutschland nicht zu Preissenkungen und Beschäftigungseffekten geführt.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Ist die Konsumquote eine negative Funktion des Einkommens, sinkt die durchschnittliche Umsatzsteuerbelastung bei Überwälzung mit steigendem Einkommen, d.h. die Steuer wirkt regressiv. Dieser Zusammenhang wird – zumindest für höhere Einkommen – allgemein angenommen. Die der Belastungsrechnung zugrunde liegenden Annahmen sind allerdings mehr oder weniger willkürlich (vgl. 9. Kapitel). Umsatzsteuern sind kein Mittel einer gezielten Verteilungspolitik; hierzu müsste die Konsumstruktur der Bürger (weitgehend konstant und) bekannt sein, so dass sich bestimmten Einkommen eindeutig nach Art und Höhe bestimmte Konsumausgaben und dann ggf. auch unterschiedliche Steuersätze zuordnen lassen. Andere Instrumente können zielgenauer eingesetzt werden. Die Wirkung einer einzelnen Steuer ohne ausgleichende Effekte anderer Steuern oder Ausgaben gibt ein falsches Bild der Verteilungswirkungen insgesamt, die relevant ist. Die Umsatzsteuer sieht auch weniger regressiv aus, wenn sie über das Leben betrachtet wird. Daher sind auch die verteilungspolitisch begründeten Steuerbefreiungen und Steuersatzdifferenzierungen ineffizient. Zwar haben untere Einkommensschichten in der Regel einen höheren Anteil begünstigter Güter an ihrem Verbrauch (außer z.B. bei Kunstgegenständen), nur kommt der Vorteil allen Konsumenten zugute 1. Unter dem Aspekt einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit hätte die Umsatzsteuer die Einkommensverwendung zu treffen und über den privaten Verbrauch die verwirklichte Bedürfnisbefriedigung. Da die Abgabe aber von den Unternehmen gezahlt wird – also im Einkommensentstehungs- und nicht im Einkommensverwendungsbereich – ist diese Zielsetzung nicht zu erreichen (Schneider 1985, S. 189/190). Das Aufkommen aus der Umsatzsteuer reagiert schnell auf Änderungen der Bemessungsgrundlage. Dies beruht darauf, dass die Unternehmer in der Regel monatlich die Steuer zu entrichten haben 2. Die gesamtwirtschaftliche Bemessungsgrundlage ist aber insbesondere um die Investitionen und den Außenbeitrag kleiner als das Bruttoinlandsprodukt. Die Konsumquote nimmt im Aufschwung ab und im Abschwung zu, da der Konsum im Konjunkturablauf weniger als das BIP schwankt. Die Elastizität der Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer bezogen auf das BIP ist etwas geringer als eins. Das kann konjunkturpolitisch erwünscht sein. Da die Investitionen (weitgehend) unbelastet bleiben, dürfte die Umsatzsteuer das Wachstum nur wenig beeinträchtigen. Die Umsatzsteuer ist auch eine Steuer auf andere indirekte Steuern. So führt jeder Preiseffekt einer Mineralölsteuererhöhung bei einer Preiselastizität |0 < Ex,p < 1| zu steigendem Umsatzsteueraufkommen. Theoretisch ist die allgemeine Verbrauchsteuer unter bestimmten Bedingungen eines einfachen dynamischen Modells weitgehend äquivalent mit einer Steuer auf die

1 2

Das gilt z.B. für Blumen, Hundefutter und Milch (vgl. Peffekoven 2010, S. 57ff.). Der Unternehmer hat binnen 10 Tagen nach Ablauf eines jeden Kalendermonats (kleinere Unternehmer vierteljährlich) eine Voranmeldung abzugeben, in der er die Steuer selbst berechnet und den ermittelten Betrag entrichtet. Nach Ablauf des Kalenderjahres ist eine Steuererklärung abzugeben. Das Finanzamt setzt nur dann die Steuer durch einen Steuerbescheid fest, wenn es von der in der Steuererklärung errechneten Steuer abweicht.

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

559

Arbeitseinkommen und die Vermögensbildung. Sie bringt also keine allokativen Vorteile 1. Die effiziente Umsatzsteuer soll die Konsumentscheidungen so wenig wie möglich beeinflussen, was von den Preiselastizitäten abhängt. Bei hoher Preiselastizität ändern bereits kleine Preisänderungen die Nachfrage erheblich, so dass zusätzliche Umsatzsteuer die Konsumentscheidungen stark tangieren kann. Die differenzierte Steuerbelastung einzelner Güter im Hinblick auf die Vermeidung der Mehrbelastung erfordert zusätzliche, aber fehlende Informationen. Tatsächlich werden gerade Güter mit einer relativ geringen Nachfrageelastizität steuerbegünstigt, was der InversenElastizitäten-Regel widerspricht, aber verteilungspolitisch begründet wird. Im Übrigen erfordert auch die Lohnsteuer den Zugang zu Informationsquellen, die die Steuerbehörden häufig nicht haben. Die Umsatzsteuer stellt eine Soll-Besteuerung dar. Weil es auf die vereinbarten Entgelte ankommt, ist die Steuer auch dann an das Finanzamt abzuführen, wenn keine entsprechenden Zahlungen der Kunden stattgefunden haben. Das kann beispielsweise bei großen Bauvorhaben zu Liquiditätsproblemen führen, wenn zwar die Steuern zu zahlen sind, aber die entsprechenden Zuflüsse der Kunden noch nicht stattgefunden haben 2. Auch entsteht für den Fall der Insolvenz des Leistungsempfängers ein finanzielles Risiko. Die Festlegung auf die vereinbarten Entgelte bedeutet auch, dass der Unternehmer nach Empfang der Leistung den Vorsteuerabzug aus der Rechnung selbst dann geltend machen kann, wenn er die Rechnung noch nicht bezahlt hat. Hier fallen also Leistungsbezahlung und Vorsteuererstattung des Unternehmers zeitlich auseinander. Die größte Verzerrung der Umsatzsteuer dürfte die Steuerhinterziehung hervorrufen 3, die durch die Ausrichtung auf die vereinbarten Entgelte begünstigt wird. Sie besteht im Verschweigen oder Verkürzen von steuerpflichtigen Umsätzen oder in der Vortäuschung bzw. Erhöhung von Vorsteuern 4. Die Steuerhinterziehung erfolgt beispielsweise über Scheinrechnungen für Umsätze, die nicht stattgefunden haben, um die Möglichkeit zum Vorsteuerabzug zu nutzen, wenn der Unternehmer die Rechnung für eine Leistung erhalten hat. Da die Umsatzsteuer beim Finanzamt lediglich angemeldet wird, ohne dass die sofortige Kontrolle vorgesehen ist, wird die Umsatzsteuer-Zahllast unmittelbar gemindert. Gravierend sind national der Insolvenzbetrug und international die sog. Karussellgeschäfte, bei denen (meist fiktiv) Waren mehrfach zwischen Unternehmern auch grenzüberschreitend hin- und hergeschoben werden, um Vorsteuern zu erschleichen. Dieser Steuerbetrug hat nicht nur fiskalische Bedeutung, er kann auch den Wettbewerb durch unlautere Preisvorteile verzerren, wenn die künstlich verbilligte 1 2 3

4

Hierbei sind die Arbeitseinkommen der Selbständigen entsprechend zu berücksichtigen. In der Praxis werden deshalb Anzahlungen vereinbart. Um Missbrauch einzuschränken, wurde das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz eingeführt, das u.a. eine Haftung des Käufers für schuldhaft vom Verkäufer nicht abgeführte Umsatzsteuer vorsieht. Die Berechtigung des Unternehmers zum Vorsteuerabzug setzt nicht voraus, dass er im Inland Lieferungen oder sonstige Leistungen ausführt oder im Inland seinen Sitz oder eine Betriebsstätte hat. Deshalb können sich ausländische Unternehmer ohne Umsätze im Inland Vorsteuern in einem besonderen Verfahren und bestimmtem Umfang erstatten lassen (Bundesministerium der Finanzen 2005, S. 104).

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Karussellware schließlich doch an den Endverbraucher verkauft wird (Gebauer/Radulescu 2002, S. 31). Steuerehrliche Unternehmen werden vom Markt gedrängt. Die föderale Struktur der Finanzverwaltung begünstigt Betrugsfälle. Abb. 19-2 beschreibt das Grundmuster des Karussellbetrugs, an dem mehrere Unternehmen beteiligt sind, die alle Rechnungen (Nettopreis plus Umsatzsteuer) schreiben. Grenzüberschreitende Transaktionen ermöglichen hierbei einen steuerfreien Bezug bzw. Verkauf und erschweren den Finanzämtern die Kontrolle. Unternehmen A, beispielsweise in Frankreich, verkauft Waren ohne Umsatzsteuer an Unternehmen B in Deutschland. B ist eine Scheinfirma (Missing Trader), die die Waren an C weiterleitet und dafür Umsatzsteuer anmeldet, aber nicht abführt 1. D und weitere Firmen, die auch ex- und importieren, können eingeschaltet werden, um die Ströme schwerer durchschaubar zu machen. D kann sogar ehrlich sein. Bei einem korrekten Verrechnungsverkehr sollte beispielsweise C Vorsteuern geltend machen. Weil beide Vorgänge technisch unabhängig voneinander sind, eröffnen sich zwei Betrugsmöglichkeiten. Unternehmen B führt die Mehrwertsteuer nicht an das Finanzamt ab, Unternehmen C lässt sich die von B in Rechnung gestellte Umsatzsteuer erstatten, liefert steuerfrei an das Ausland und holt die in Rechnung gestellte und gezahlte Umsatzsteuer vom Finanzamt zurück. Wichtig für das Gelingen des Umsatzsteuerbetrugs ist, dass die der Vorsteuererstattung zugrunde liegenden Rechnungen nicht (rechtzeitig) geprüft werden. Wird entdeckt, dass B die Mehrwertsteuern schuldig bleibt, ist es meist zu spät, weil die beteiligten Firmen schon abgemeldet sind. Abb. 19-2 Karussellgeschäfte zum Umsatzsteuerbetrug

Frankreich

Unternehmen B S c h e i n f ir m a ( " M i s s in g T r a d e r " ) verkauft weiter an C, erhält dafür Mehrwertsteuer, führt sie aber nicht ans Finanzamt ab

Unternehmen A " Z wisch en gesellsch a ft " verkauft Waren an B, ohne Mehrwertsteuer zu berechnen

Deutschland

Unternehmen D " Bu ffer "

Unternehmen C " Br ok er " zieht Mehrwertsteuer ab oder verlangt vom Finanzamt die Erstattung der von B nicht abgeführten Mehrwertsteuer

Quelle: Darstellung nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.01.2006, S. 18.

Das ifo Institut schätzt das Hinterziehungsvolumen für 2002-2005 auf ca. 10 % des deutschen Steueraufkommens (vgl. Sachverständigenrat 2005, Tab. 31) 2. Zur Vermei1 2

Es können mehrere Unternehmen auch unterschiedlicher Stufen wie Groß- und Einzelhandel sein. Grundlage für diese Schätzung ist die Beobachtung, dass die Umsatzsteuereinnahmen weniger als die Umsätze bzw. das BIP stiegen. Offen ist, ob dieser Umsatzsteuerbetrug gravierender als der Einkommensteuerbetrug ist.

19. Kapitel: Die Umsatzsteuer

561

dung der Hinterziehung ist u.a. eine Änderung des Umsatzsteuerrechts erforderlich, die den Vorfinanzierungseffekt vermeidet. Verschiedene Vorschläge werden diskutiert: S So kann statt auf die vereinbarten auf die gezahlten Entgelte abgestellt werden. Bei der generellen Ist-Versteuerung wird die Vorsteuer nach einem Vorschlag des ifo Instituts (Sinn u.a. 2004) erst dann erstattet, wenn die Umsatzsteuerzahlung erfolgt ist. Entsprechend ist die Umsatzsteuer erst dann abzuführen, wenn der Kunde für den Umsatz bezahlt hat. Deutschland ist durch den Umsatzsteuerbetrug stärker als andere Länder betroffen, weil es die Steuer vergleichsweise schneller erstattet. Ein Verzögern der Erstattung würde steuerehrliche Umsatzsteuerzahler benachteiligen. Ein effizientes Betrugsbekämpfungssystem scheitert hier an der Vielzahl der beteiligten Behörden. Auch auf EU-Ebene ist die Kooperation unzureichend, obwohl der Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den Steuer- und Zollverwaltungen vereinbart wurde. S Das Reverse-Charge-Modell sieht eine generellen Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger vor. Der Käufer kann die Steuerschuld mit seinem Vorsteueranspruch verrechnen, so dass im Ergebnis eine Lieferung zwischen zwei Unternehmen steuerfrei bleibt. „Eingekaufte“ Vorsteuern können Unternehmen dann nicht zurückfordern. Allerdings muss der leistende Unternehmer Umsätze an andere Unternehmer anders als Umsätze an Nichtunternehmer behandeln, da diese nicht zu Vorsteuerabzug berechtigt sind. Hier eröffnen sich insofern Betrugsmöglichkeiten, als Nichtunternehmer die Unternehmereigenschaft vortäuschen können. Für die technische Umstellung benötigt die Steuerverwaltung mehrere Jahre. S Im Mittler-Modell ist die Steuerfreiheit der Umsätze zwischen Unternehmern vorgesehen, also sind nur Umsätze an Nichtunternehmer zu besteuern. Hier wird ein Missbrauch des Vorsteuerabzugs ausgeschaltet. Allerdings hat der leistende Unternehmer Umsätze an Nichtunternehmer anders zu behandeln als Umsätze an Unternehmer. Das führt zu Abgrenzungsschwierigkeiten, da bei jedem einzelnen Umsatz die Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers zu prüfen ist. Ansonsten kommt es zu einer Steuervereinfachung, weil der Zahlungsverkehr bei der Vorsteuer entfällt und die Unternehmen entlastet werden. Die Umstellung der Umsatzsteuer, beispielsweise schon die von der Soll- auf die Ist-Besteuerung, macht Änderungen der MwStSystRL oder eine Ausnahmeregelung der Europäischen Kommission erforderlich und ist daher nur schwer zu erreichen. Das gilt auch generell. Jede dauerhafte Lösung bedarf aber der grundlegenden Neubehandlung internationaler Transaktionen. Sie muss an der Unterbrechung der Umsatzsteuerkette ansetzen, die dadurch entsteht, dass Exporte einem Null-Steuersatz unterliegen. Wegen des Nullsatzes müssen erhebliche Einnahmen erstattet werden. Allein dessen Umfang gibt Anreize zu größerem Steuerbetrug. Die Beseitigung des Null-Satzes zwischen EU-Staaten würde diese Anreize erheblich reduzieren. Die Umsatzsteuer ist Teil der Belastung durch Verbrauchsteuern, die in den OECDLändern zunimmt und von diesen fast durchweg als Nettoumsatzsteuer (außer USA, Australien) konzipiert ist. Soweit die Umsatzsteuer über mehrere Stufen erhoben wird, ist ihr (ohne Steuerbetrug) nur schwer auszuweichen. Bei einer einstufigen Steuer liegt

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

die gesamte Erhebungslast auf einer Stufe. Die deutsche Umsatzsteuer ist eine im EUBereich sehr stark harmonisierte 1 Abgabe. Sie ist (gerade im Verhältnis zur Einzelhandelsumsatzsteuer) verwaltungsintensiv. Literatur zum 19. Kapitel Umfassendere Darstellungen der Umsatzsteuer geben Bea (1980), Musgrave/Musgrave/Kullmer (2, 1988, Kapitel 20B, C) und Pohmer (1980, 1983). Zur Darstellung unter steuerrechtlichen und -systematischen Aspekten siehe Tipke/Lang (2009, § 13) und Dziadkowski/Walden (1996), aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre Schreiber (2005, Kap. I8). Eine Darstellung der Umsatzsteuer im internationalen Rahmen enthält Cnossen (1998). Der Erläuterung der komplexen Umsatzsteuer dient die jährlich vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebene Amtliche Umsatzsteuer-Handausgabe. Eine allokative und verteilungspolitische Würdigung der Umsatzsteuer als Teil der indirekten Steuern liefert Bach (2006). Eine Analyse von Steuersatzdifferenzierungen bietet die European Commission (2007). Zum Umsatzsteuerbetrug siehe Keen/Smith (2006); Gebauer/Radulescu (2002) und Dziadkowski/Gebauer u.a. (2002) behandeln den grenzüberschreitenden Vorsteuerabzug, darunter das Mittler- und das Reverse-Charge-Modell, siehe auch Gebauer/Nam/Parsche (2007). Den Vorschlag des ifo Instituts zur Eindämmung des Mehrwertsteuerbetrugs erläutern Sinn/Parsche/Gebauer (2004). Siehe auch Sachverständigenrat (2005, Tz. 454ff.). Zur Reform der Umsatzsteuer, insbesondere der Ermäßigungen, siehe Peffekoven (2010) und die Beiträge von Peffekoven, Krause-Junk, Eggert u.a. in Wirtschaftsdienst 2010, H. 9 und 11.

1

Vgl. das 21. Kapitel.

20. Kapitel Steuern auf spezielle Güter 1. Allgemeines Steuern auf spezielle Güter werden durch die gemeinsame steuertechnische Eigenart beschrieben: Es handelt sich um Steuern, die an spezielle Güter, Dienste oder Rechte anknüpfen, und zwar zumeist an ihre Produktion und ihren Verkauf, aber auch an ihren Gebrauch. Sie unterscheiden sich daher von jenen Steuern, die an sämtliche Konsum- und/oder Investitionsgüter anknüpfen (Hansmeyer u.a. 1980, S. 713). Prinzipiell können spezielle Steuern als Wert- oder Mengensteuern ausgestaltet sein. Beispiele sind die Besteuerung von Nahrungs- und Genussmitteln (z.B. Tabaksteuer, Branntweinsteuer, Biersteuer), von Energie (z.B. Mineralölsteuer, Stromsteuer) und des Gebrauchs spezieller Güter (Kraftfahrzeugsteuer, Hundesteuer, Abwasserabgaben), von Dienstleistungen (Versicherungsteuer, Feuerschutzsteuer) und von Rechten (Vergnügungs- und Glücksspielbesteuerung, Schankerlaubnissteuer, Jagd- und Fischereisteuer). Im zwischenstaatlichen Warenverkehr (Nicht-EU-Bereich) kommen Zölle und Abschöpfungen hinzu. Die meisten traditionell auf spezielle Güter erhobenen Steuern weisen einen stetigen Bedeutungsrückgang der Steuererträge auf und entwickelten sich zu Bagatellsteuern oder wurden ganz aufgehoben. Ausnahme ist das Mineralöl, das auch ohne die ökologische Komponente zur drittwichtigsten Steuerquelle nach Einkommen und Umsatz geworden ist (Hansmeyer 1999, S. 129). Die Steuern auf spezielle Güter werden häufig meritorisch oder mit negativen Externalitäten begründet 1: S So seien mit dem Verbrauch bestimmter Konsumgüter negative Effekte für den Nutzer (z.B. bei Tabak, Alkohol, bisher nicht bei Pralinen – zumindest aus abgabenpolitischer Sicht) verbunden. Da der Bürger nicht selbst erkenne, was für ihn gut sei 2, soll der Konsum solcher demeritorischer Güter eingeschränkt werden. Faktisch sind die Argumente regelmäßig vorgeschoben, um das tatsächlich verfolgte fiskalische Ziel zu verstecken. Das kann auch für die deutsche Tabaksteuer angenommen werden, die vorgeblich zur Verringerung des Tabakkonsums beitragen soll, gleichzeitig erfolgen Maßnahmen zur Förderung des Gutes (EU-Subventionen für den Tabakanbau) 3. 1 2

3

Bei sog. Luxussteuern werden auch verteilungspolitische Ziele genannt. Diese Abgaben spielen in Deutschland keine Rolle. Für ihre Beurteilung trifft das Folgende aber auch zu. Selbst wenn der Bürger um die langfristig schädliche Wirkung weiß, verzichtet er nicht z.B. auf den Zigarettenkonsum. Aus künftiger Sicht würde er das vielleicht tun. Der Bürger verhält sich zeitinkonsistenz. Dies kann auf falschen Präferenzen oder auf mangelnder Selbstkontrolle beruhen. Die Abgrenzung der Fälle und die Grundlage für staatlichen Paternalismus ist stets willkürlich. Cnossen (2006, S. 2) zitiert hier J. S. Mill: “If gambling, or drunkenness, or incontinence, or idleness, or uncleanliness, are as injurious to happiness ... as many or most of the acts prohibited by law, why (it may be asked) should not law … endeavour to repress these also?” Ähnlich bei Ökosteuern, die den Energieverbrauch durch Verteuerung reduzieren und so zur Ressourcenschonung beitragen sollen. Preiserhöhungen der Ölproduzenten werden aber kritisiert.

564

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

S Die Steuern sollen zur Internalisierung oder zum Abbau externer Effekte beitragen. Das wird beispielsweise bei den Ökosteuern unterstellt. In der Praxis wird dieses Ziel nur unzureichend erfüllt, wenn es überhaupt angestrebt wird. Auch hier begründen die Ausgestaltung der Abgaben und die gleichzeitige Subventionierung umweltbelastender Rohstoffe Zweifel am deklarierten Ziel 1. Übersicht 20-1 Lenkungszwecke zum deutschen Steuersystem Zwecke Fiskalzweck

Steuer Biersteuer Branntweinsteuer Erbschaft-/Schenkungsteuer Grundsteuer Hundesteuer Kraftfahrzeugsteuer Lohn-/ Einkommensteuer Mineralölsteuer Rennwett-/ Lotteriesteuer Schankerlaubnissteuer Schaumweinsteuer Stromsteuer Tabaksteuer Umsatzsteuer Vergnügungsteuer

Schutzgüter/Lenkungszwecke Umwelt- Familie Wohnen DenkGesund- Jumalheit gendsc schutz schutz hutz

X

X

X

X

X

X

X X

Karita- Gefahtive und renähnli- abwehr che Zwecke

X X

X

X

X

X

X

X

X

X

X X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X X

X

X

X

Quelle: Gawel (2002), S. 71.

Soweit die Steuern auf spezielle Güter Verbrauchsteuern sind, sollen sie den Verbrauch oder Gebrauch bestimmter Waren belasten. Ihnen wird häufig eine Lenkungsfunktion zugeschrieben, die den beiden oben aufgeführten Begründungen entspricht. Das gilt beispielsweise im Falle des Alkoholmissbrauchs. Er ruft tangible und intangible Kosten hervor, die in einer alkoholfreien Welt nicht auftreten und den Nutzer sowie andere Personen belasten. Übersicht 20-1 stellt solche Lenkungszwecke zusammen, die sich an einzelne Bürger oder private Haushalte richten. Die Erfüllung der lenkenden Zwecke kann die fiskalische Ergiebigkeit beeinträchtigen. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit und Verwaltungskostenbegrenzung werden Verbrauchsteuern beim Produzenten oder beim Handel erhoben.

1

Das gilt etwa für die Steinkohle. Ähnlich bei der Tabaksteuer, die auch mit den externen Kosten des Rauchens begründet wird. Angesichts der Höhe der Tabaksteuer ist aber zu fragen, ob diese nicht schon (mehr als) internalisiert sind (vgl. Wigger 2005). Neben der Tabaksteuer gibt es auch ein Werbeverbot in der EU, das ursprünglich in Frankreich wohl zur Konsolidierung nationaler Marken dienen sollte.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

565

Die Wirkungen der jeweiligen Steuern zeigen sich in ihrer Aufkommenselastizität. Wenn die Nachfrage beispielsweise nach Alkohol eine geringe Preiselastizität hat, geht der Alkoholverbrauch infolge der Steuererhebung weniger zurück. Eine Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Alkohol Komplement oder Substitut der Freizeit ist. So kann mehr Freizeit mehr Zeit für Alkoholkonsum bedeuten und bei komplementärer Beziehung die Arbeitsleistung weniger treffen als bei sozialem Trinken mit Kollegen bei der Arbeit. Untersucht man solche Lenkungssteuern unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit im Sinne horizontaler Gleichbehandlung, gibt es allerdings Rechtfertigungsprobleme, soweit nicht eine Internalisierung von Externalitäten und damit die Korrektur verzerrter Preise erfolgt oder Äquivalenzabgaben vorliegen. Wenn nämlich horizontale Gleichbehandlung interpretiert wird als gleiche steuerliche Belastung von Personen mit gleichen Indikatorwerten (insbesondere Einkommen oder Vermögen), dann müssen diese Personen auch gleichstark zur Finanzierung der allgemeinen Staatsausgaben herangezogen werden. Mithin liegt ein Verstoß gegen diese Norm vor, wenn sie Verbrauchsteuern nur aufgrund unterschiedlicher Einkommensquellen, Vermögensformen oder Ausgabenstruktur besteuert werden. So werden Raucher zugunsten von Nichtrauchern diskriminiert (von Externalitäten abgesehen). Für eine allgemeine Verbrauchsteuer wird diese Diskriminierung nicht gesehen, weil alle mit gleichen Konsumausgaben gleich hohe Steuern zahlen. Allerdings diskriminieren allgemeine Verbrauchsteuern gegenüber Sparen 1. Horizontale Gerechtigkeit dient als Schutz gegen diskriminierende Steuerbelastungen zu Lasten einer Gruppe und zum Nutzen aller. Ein weiterer Aspekt ist die regressive Wirkung spezieller Verbrauchsteuern, die unter 2d) bei den Umweltsteuern behandelt wird. 2. Umweltsteuern (Ökosteuern) a) Begriff und Merkmale von Umweltsteuern Umweltsteuern sind vom Staat erhobene Steuern, die der Bewirtschaftung knapper Umweltgüter dienen (sollen). Sie rechnen daher zu den Steuern auf spezielle Güter – und zwar solcher Güter, die wegen ihrer Umweltschädlichkeit bzw. Gefährdungspotentiale belastet werden sollen. Umweltsteuern sind Teil eines historisch gewachsenen Steuersystems, das schon seit längerem an verschiedenen umweltrelevanten Faktoren anknüpft 2. Es wird weiterentwickelt durch Einbeziehung neuer ökologischer Aspekte (z.B. Steuervergünstigungen für Dieselfahrzeuge mit geringen Feinstaubemissionen u.ä.). Ein Schwerpunkt liegt auf der Klimaproblematik. Als umweltpolitische Ziele im weitesten Sinne werden der Abbau bestimmter negativer Externalitäten, darunter Klimavorsorge und Nachhaltigkeit (z.B. Schonung nicht erneuerbarer Energievorräte) genannt. Von den Zielen hängt die Festlegung von Steu1 2

Diese Diskriminierungen werden allokativ anderes beurteilt. Sie sind Teil der Umweltabgaben, die auch Gebühren (z.B. Abfallgebühren), Beiträge und Sonderabgaben mit umweltrelevanter Bemessungsgrundlage einschließen.

566

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

erobjekt und -bemessungsgrundlage ab. Aus umweltpolitischer Sicht hat die Abgabe beim Verursacher anzuknüpfen, Steuergegenstand ist daher die Verursachung von Schäden. Als Bemessungsgrundlage ist der Wert der Belastung (Immission) heranzuziehen. Weil dieser in der Praxis meist nicht zu ermitteln ist, sind ErsatzBemessungsgrundlagen wie die Verwendung einzelner umweltschädlicher Stoffe oder sonstiger Inputfaktoren erforderlich. Zwischen diesen Faktoren und den resultierenden (mengenmäßigen) Umwelteffekten muss eine stabile Beziehung bestehen 1. In der Praxis sind Ökosteuern regelmäßig Inputabgaben auf einen umweltpolitisch unerwünschten Inputfaktor oder Produktabgaben, durch die umweltschädliche Produkte versteuert werden sollen. Im einfachsten Modell geht es darum, externe Effekte von Schadstoffemissionen pareto-optimal zu internalisieren. Bei nur einem Schaden ist für den Regelfall ein einheitlicher Steuersatz in Höhe des im Optimum tatsächlich gemessenen (Grenz-)Wertes der Belastung erforderlich. Schon Pigou (1932) hat als einfache Lösung eine Steuer pro Emissionseinheit vorgeschlagen. Sie veranlasst den Emittenten einer Umweltbelastung seine Emissionen solange zurückzuführen, wie die Grenzkosten der Emissionsreduktion kleiner als der Steuersatz sind. Da die Besteuerung nicht verzerrt, erfolgt die Emissionsreduzierung zu den geringsten Kosten. b) Die Aufkommensverwendung der Ökosteuern Ökosteuern sind meist Verbrauchsteuern nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG, für die der Bund die Gesetzgebungskompetenz und die Ertragshoheit hat. Gelegentlich wird eine Bindung des Umweltsteueraufkommens für bestimmte Zwecke, z.B. zur Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, gefordert. Sie widerspricht aber – wie die Festlegung eines generellen Zuschusses aus dem gesamten Steueraufkommen – dem Grundsatz der Non-Affektation. Zwar lässt sich eine Gemeinlastfinanzierung der Sozialversicherung durch Bundeszuschüsse ökonomisch rechtfertigen, es besteht aber kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem (insbesondere bei globalen und abrupten Energiepreisveränderungen) unstetig fließenden Ökosteueraufkommen mit der Bemessungsgrundlage der umgesetzten Mineralölmenge und der Tarifgestaltung der Sozialversicherung. Typischerweise trägt die Zweckbindung dazu bei, notwendige Reformen, hier der Sozialversicherung, zu unterlassen oder hinauszuschieben, so dass letztlich die Abgabenbelastung insgesamt steigt. Umweltsteuern haben im Idealfall neben der Herbeiführung des Umwelteffekts durch Gleichsetzung von sozialen Grenzkosten und Grenzerträgen einen Aufkommenseffekt und unterscheiden sich so von Auflagen. Außer einer Pauschalsteuer scheinen nur Umweltsteuern keine über den Einkommenseffekt hinausgehende Zusatzbelastung und damit keinen negativen Wohlfahrtseffekt hervorzurufen. Das liegt 1

Beispielsweise bei den fossilen Brennstoffen fallen die CO2-Emissionen bei vollständiger Verbrennung als technisch bestimmtes fixes Kuppelprodukt des jeweiligen Brennstoffs an.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

567

daran, dass es ja gerade Aufgabe der Abgabe ist, verzerrte Preisrelationen zu korrigieren. Substitutionseffekte sind daher erwünscht. Richtig bemessene Umweltsteuern führen zur allokativen Verbesserung, dem Umwelteffekt. Dies wird zuweilen auch als erste Dividende bezeichnet. Das zusätzliche Aufkommen aus Ökosteuern kann zur Finanzierung zusätzlicher Ausgaben (Übertragungen oder Ausgaben für Sachgüter und Dienstleistungen) verwendet oder allokativ neutral pro Kopf zurückgegeben oder zum Abbau bzw. Ersatz bestehender Abgaben verwendet werden, ohne dass hierbei Kosten entstehen 1. Ob dabei eine zweite Dividende erzielte wird, hängt von der Verwendung des Ökosteueraufkommens ab. Tatsächlich ist das Konzept der zweiten Dividende umstritten, u.a. weil das partialanalytische Modell nicht die Interdependenzen zwischen Energiepreisen und Arbeitsmarkt berücksichtigt (Bovenberg/de Mooij 1994). c) Ökosteuern in einem allgemeinen Gleichgewichtsmodell In Abb. 20-1 und 20-2 sind die Elemente eines allgemeinen Gleichgewichtsmodells dargestellt, in dem die Produktion und die Faktorpreise einerseits und die Haushaltsentscheidungen andererseits abgebildet sind. Untersucht wird eine Energieverteuerung 2. Sie löst einen ökonomischen Anreiz zur Steigerung der Energieeffizienz aus und macht spezifische Investitionen zur Energierationalisierung erforderlich, wodurch die Kapitalintensität der Produktion steigt. Hinsichtlich der Beschäftigung sind zunächst die Auswirkungen auf die relativen Faktorpreise wichtig. Bei Verwendung des Steueraufkommens für eine Absenkung der Sozialbeiträge können die Lohnnebenkosten sinken. Als Folge der Energieverteuerung steigt aber das Preisniveau und damit sinken die Reallöhne. Ob es netto zu einer Verbesserung durch die verringerten Lohnnebenkosten kommt, hängt davon ab, ob sie den Kaufkraftverlust überkompensieren. Das ist u.a. nur bei einer vollkommen unelastischen Energienachfrage zu erwarten. Sinkende Löhne können zu verstärkter Nachfrage nach Arbeit und damit geringerer Kapitalintensität führen. Entscheidend für das Ergebnis sind weiter die Produktionselastizitäten der Arbeit, der Brennstoffe (und hierbei insbesondere zwischen den einzelnen Brennstoffen) und der weiteren Inputs, soweit sie nicht Energie darstellen. Für die Beschäftigungseffekte einer Ökosteuer ist es wichtig, welche Preis- und Substitutionseffekte auftreten. Bei den durch eine Ökosteuer belasteten Unternehmen steigen die Kosten. Bei geringer Elastizität der Nachfrage nach den Produkten gelingt die Überwälzung und ein Beschäftigungseffekt bleibt bei den belasteten Unternehmen aus. Die Beschäftigung hängt ferner von den räumlichen Wirkungen (Verlagerungen ins Ausland) und den sonstigen Substitutionseffekten durch Liquiditätsverlust, Senkung der Kapitalrendite und Produktionsreduzierung ab. Solche Effekte sind insbesondere zu erwarten, wenn die Elastizität mittel- und längerfristig größer ist, z.B. weil die privaten Haushalte auf „umweltfreundliche“ Güter (z.B. für emissionsarme Heizungen) ausweichen. Auch können die Unternehmen Vermeidungsinvestitionen durchfüh1 2

Das ist die Vorstellung von Goulder (1995), der den Begriff der ersten Dividende schuf. Vgl. Conrad/Schmidt (1997).

568

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Abb. 20-1 Produktion und Faktorpreise X

(Produktion)

K

AEM

(Kapital)

(Arbeit, Energie, Material)

EL

ATM

(Elektrizität)

(Arbeit, Brennstoffe, Material)

A

T

(Arbeit)

M

(Treibstoffe)

T1

T2

T3

T4

(Material)

T5

M1

(Stein- (Braun- (Öl) (Gas) (Strom) kohle) kohle)

... M8

(Nichtenergie-Inputs)

Quelle: Conrad/Schmidt (1997, S. 4). Abb. 20-2 Die Allokation der Haushalte Erwartetes Einkommen

F

Z

Z1

(Sparen)

(Konsumausgaben)

(dauerhafte Konsumgüter)

(Autos)

S

C

(Freizeit)

Z2

Q

(nichtdauerhafte Konsumgüter)

Z3

(elektr. (HeiAnalgen) zungen)

Q1

Verbindung

A

(Arbeitsangebot)

Quelle: Conrad/Schmidt (1997, S. 12).

...

Q9

(9 nichtdauerhafte Güter)

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

569

ren, wodurch Beschäftigungswirkungen in der Umweltschutzindustrie (des Inlands?) induziert werden. Wird die Abgabe nur national eingeführt, verschlechtert dies die internationale Wettbewerbsposition der Unternehmen 1. Für deren Standortwahl sind die erwarteten Gewinne wichtig, die durch die Unternehmensbesteuerung, aber auch durch Nutzungskosten der Umwelt beeinflusst werden. Der letzte Effekt wird kompensiert, wenn das Aufkommen aus der Ökosteuer zur Senkung von Gewinnsteuern verwendet wird. Selbst wenn es als Folge der Ökosteuer zu langfristig integriertem Umweltschutz kommt – wodurch sich tendenziell die zusätzlichen Kosten und die Produktivitätsverluste verringern –, ist kaum mit ausgleichenden Beschäftigungseffekten aus den Vermeidungsinvestitionen zu rechnen. Bei den Haushalten wird je nach Entwicklung des Nettoreallohnsatzes die ArbeitsFreizeit-Entscheidung tangiert. Sie beeinflusst zusammen mit der Konsum-SparEntscheidung die intertemporale Allokation zwischen gegenwärtigem und künftigem Konsum an Gütern und Freizeit. Hierbei sind die Auswirkungen eines sinkenden Nominallohns wegen (bei Zweckbindung) fallender Beiträge einerseits und steigender Preise in Folge der Steuererhöhungen andererseits maßgeblich. Die intratemporale Allokation kann auch den gesamten Konsum an dauerhaften und nichtdauerhaften Gütern betreffen. Die Nachfrage nach nichtdauerhaften Gütern wie Gas und Strom ist mit der Verwendung dauerhafter Güter verbunden. Die Energieverteuerung trifft insbesondere die dauerhaften Güter, soweit sie energieabhängig genutzt werden. Wenn die Produktionselastizität der Energie größer als die der Arbeit ist, sind gesamtwirtschaftlich eher Produktionseinbußen zu erwarten. Energie ist ein international (vollkommen) mobiler und Arbeit ein international eher immobiler Faktor ist. Eine Energiesteuer auf jeden Brennstoff verändert weniger die Preisrelationen als eine CO2-Steuer, durch die größere Substitutionseffekte ausgelöst werden dürften. Letztere ändert die Preisrelationen der einzelnen Energieeinsätze je nach ihrem CO2-Gehalt. Wenn auf Unternehmen zielende Ökosteuern eher den Faktor Kapital verteuern, könnte dies die Kapitalintensität verringern. Der Einsatz des Kapitals beeinflusst wiederum die Arbeitsproduktivität. Die größere Mobilität des Faktors Kapital spricht eher dafür, nicht diesen sondern den Faktor Arbeit stärker zu belasten. Allokativ kann diese zweite Dividende dann bedeutsam sein, wenn stark verzerrende Abgaben abgebaut werden. Wird das Aufkommen zur Senkung der Abgabenbelastung von Produktionsfaktoren verwendet, ist der Abbau der Zusatzlasten um so stärker, je elastischer das Angebot der einzelnen Faktoren reagiert. Hierbei ist vor allem die internationale Mobilität von Bedeutung. Weiterhin sind indirekte Effekte zu beachten. Eine ökosteuerbedingte Preiserhöhung für ein umweltbelastendes Gut kann dazu führen, dass die Nachfrage nach anderen nicht besteuerten Gütern bei positiver Kreuzpreiselastizität abnimmt 2. 1 2

Die Verzerrungen werden im Kapitel 21.3 behandelt. Diese kann noch umweltschädlicher wirken. Substitutionseffekte sind in der Regel umso stärker zu erwarten, je enger die Bemessungsgrundlage einer Umweltsteuer ist. Meist werden auch Wirtschaftsbereiche getroffen, in denen die Ökosteuer gar nicht erhoben wird. Bei komplementären Gütern (Mineralöl – Autos) wirkt die Steuer in gleicher Richtung wie bei dem belasteten Gut.

570

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Mit Ökosteuern soll ein umweltpolitisch wünschenswerter Strukturwandel induzieren werden. Im Zuge dieses Prozesses sollen durch Veränderung der relativen Preise z.B. die als umweltintensiv eingeschätzte Kapitalnutzung eingeschränkt und die arbeitsintensive Produktion, soweit sie als weniger belastend gilt, ausgeweitet werden. So wird eine umweltsteuerfinanzierte Senkung der (Lohnsteuer bzw.) Sozialbeiträge begründet. Diese Verknüpfung von Umwelt- und Beschäftigungspolitik beruht auf der Annahme, dass der Grund der Beschäftigungsprobleme vor allem die negativen Effekte des Abgabensystems sind. Die Sozialbeiträge treiben einen Keil zwischen die Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfragepreise 1. Werden sie gesenkt, fallen die Lohnnebenkosten. Abb. 20-3 zeigt diesen Effekt. Abb. 20-3 Beschäftigungseffekt sinkender Sozialabgaben w A

w2

B

w1 w0

Ns

D

C

Nd N0

N1

N

AC ist der Lohnsteuer- und Sozialbeitragssatz und damit die Differenz zwischen Brutto- und Nettolohn bei einer Beschäftigung N0. CD zeigt die Zahl der Erwerbstätigen, die nicht zum aktuellen (Netto-) Lohnsatz w2 Arbeit anbieten. Durch eine Verringerung der Abgabenbelastung verschiebt sich die Beschäftigung in Richtung N1 und einem Lohnsatz w1. Der positive Beschäftigungseffekt tritt aber nicht ein, wenn erhöhte Lohnforderungen durchgesetzt werden (u.a. mit der Begründung größer gewordener Verteilungsspielräume der Unternehmen bzw. gestiegenen Güterpreisen). Er tritt auch nicht ein, wenn als Folge der Ökosteuern (Produktion und) Beschäftigung ins Ausland verlagert werden. Obwohl auch die Senkung der Lohnkosten ein wichtiger beschäftigungspolitischer Ansatz sein kann, ist zu fragen, ob nicht der Abbau anderer Verzerrungen des Arbeitsmarktes erfolgreicher ist. Die Grundüberlegung hierbei ist, dass immobile Faktoren belastet und international mobile Faktoren möglichst geschont werden müssen. Durch Senkung der Lohnkosten erhöht sich natürlich cet. par. auch die Kapitalrendite. Insofern stellt die Maßnahme einen Beitrag für zusätzliche Investitionen dar. Dieser müsste mit den Wirkungen einer Belastungssenkung bei der Unternehmensbesteuerung verglichen werden.

1

Zum Abgabenkeil siehe auch S. 365.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

571

d) Verteilungseffekte Ökosteuern verteuern die Inputstoffe und belasten zunächst die Unternehmen. Letztlich werden aber die privaten Verbraucher und Haushalte getroffen, wenn auch je nach Rück-, Quer- oder Überwälzungseffekten unterschiedlich und indirekt. Üblicherweise wird auch für Ökosteuern angenommen, dass sie tendenziell regressive Verteilungswirkungen haben. Die Stärke dieser Effekte hängt davon ab, in welchen Einkommensklassen die privaten Haushalte die mit Ökosteuern belasteten Güter jeweils verwenden. So sind etwa Heizung und Strom Güter, die bezogen auf das Einkommen stärker von den unteren Einkommensgruppen nachgefragt werden. Die regressive Wirkung wird verstärkt, wenn die Gewinne aus dem Umweltschutz Haushalten mit überdurchschnittlichem Einkommen zugute kommen, die die höchste Zahlungsbereitschaft für Umweltschutz haben. Die saubere Umwelt kann ein Luxusgut sein. Andererseits bringen die richtig bemessenen Abgaben die sozialen Kosten zur Geltung und korrigieren verzerrte Preise – oder anders formuliert: eine unzulässige Subventionierung des Umweltverbrauchs wird beseitigt. Dennoch kann der Verteilungswirkung Rechnung getragen werden, indem andere ausgleichende Instrumente eingesetzt werden (Steuerprogression bei der Einkommensteuer, Transfers an Bezieher niedriger Einkommen). So wird die Effizienz der Umweltbesteuerung mit einer Neutralisierung der unerwünschten Verteilungseffekte kombiniert. e) Die CO2-Steuer und die allgemeine Energiebesteuerung Die CO2-Steuer ist eine Abgabe, deren Steuergegenstand die CO2-Emissionen sind. Sie lösen grundsätzlich keine lokalen Schäden bzw. unmittelbar negative Wirkungen beim Menschen aus, aber mit längerer Wirkungsverzögerung mögliche Klimaveränderung. CO2 wird als globaler Schadstoff unabhängig von seinem Entstehungsort weltweit verbreitet. Knüpft man an den Emissionen an, kann ein einheitlicher Steuersatz gewählt werden. Erhebungstechnisch einfacher als an Emissionen setzt die Steuer bei den fossilen Energieträgern nach dem Kohlenstoffgehalt und beim Verbrauch an. Man kann von der Einsatzmenge des Brennstoffs direkt auf die schädlichen Emissionen schließen. Steuerpflichtig können die Förderung (bzw. Verkauf und Eigenverbrauch) ohne Exporte und die Importe fossiler Brennstoffe, die Absatzmengen der fossilen Brennstoffe oder die in ihr enthaltene Kohlenstoffmenge sein. Bei der Absatzmenge sind die Tarife nach dem spezifischen Kohlenstoffgehalt der einzelnen fossilen Stoffe zu differenzieren. Wählt man hingegen als Bemessungsgrundlage die Kohlenstoffmenge, die sich aus dem spezifischen Kohlenstoffgehalt je Messeinheit und der Absatzmenge ergibt, ist ein einheitlicher Steuersatz auf alle fossilen Brennstoffe zu erheben (proportionale Mengensteuer). Dieser führt zu einer kosteneffizienten Emissionsvermeidung, weil im Gleichgewicht alle Unternehmen Schadstoffvermeidung mit den gleichen Grenzvermeidungskosten betreiben.

572

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Der zweckmäßige Tarif und das erwartete Steueraufkommen hängen bei gegebenem CO2-Reduktionsziel von den kurz- und mittelfristigen Substitutionsmöglichkeiten für fossile Energien ab. Der Einsatz jener Energieträger mit geringem CO2-Gehalt wird relativ gefördert (z.B. Erdgas) und der mit hoher Belastung tendenziell eingeschränkt (z.B. Braunkohle). Fiskalisch sind ferner der induzierte umweltfreundliche technische Fortschritt sowie exogene Faktoren wie das Wachstum, die Inflation, der allgemeine technische Fortschritt und die Preisniveauentwicklung auf den Energiemärkten bedeutsam. Eine allgemeine Energiesteuer ist eine Abgabe, die die Erzeugung (einschließlich Einfuhr) oder die Verwendung von Energie zum Gegenstand hat. Ihr Ziel ist meist undeutlich (sparsame Nutzung der Energie, Schonung der Vorräte, Klimawirkung usw.) 1. Das gilt auch für die konkrete Form (Stromsteuer, Steuer auf fossile Brennstoffe, die Kernkraft oder erneuerbare Energien). Je nach Energieträger (besondere Eigenschaften) und Zielvorgabe ist die Bemessungsgrundlage unterschiedlich zu bestimmen. Die Abgabe hat eine breitere Bemessungsgrundlage als eine CO2-Steuer. Energieerzeugung bzw. -nutzung sind zwar auch klimarelevant, nur ist die Energiesteuer weniger zielgenau. Die Präferenz für Energiebesteuerung wird damit begründet, dass jeder Energieumwandlungsprozess mit Emissionen verbunden ist; bedeutsamer scheint aber, dass Energie eine kaum substituierbare Inputgröße darstellt, die daher eine hohe fiskalische Ergiebigkeit signalisiert. Zur Einschränkung des Energieverbrauchs kann eine allgemeine nichtdifferenzierende Energiesteuer ein sinnvolles Instrument sein. Bei Umweltschäden ist eine nach den Energieträgern differenzierende Abgabe besser geeignet, deren Bemessungsgrundlage an den vermuteten Schäden der Energienutzung anknüpft. f) Kfz- und Mineralölsteuer als umweltpolitische Instrumente Kfz-Steuer und Mineralölsteuer sind Abgaben auf spezielle Güter. Sie können umweltpolitische Instrumente sein, die einen Beitrag zur Internalisierung der Kfzverursachten Schäden leisten sollen. Allerdings ist die Kfz-Steuer eine Abgabe, deren Steuerobjekt das Halten von Kraftfahrzeugen ist. Bemessungsgrundlage ist in der Regel der Hubraum. Die Steuer kann allenfalls auf das Gefährdungspotenzial abstellen und hierbei nach Schadensklassen differenzieren. Sie trifft nicht die tatsächliche Belastung, und mit zunehmender Nutzung der Fahrzeuge sinken die durchschnittlichen Fixkosten aus der Abgabe. Die Mineralölsteuer stellt eher auf die tatsächlichen nutzungsabhängigen Belastungen ab 2. Darüber hinaus sind lokale Schäden in Form von Verschmutzung, Lärm, Unfällen und Zeitverlust durch Staus relevant.

1

2

„Aberwitzige Zirkelschlüsse tun sich auf: Soll der Strom besteuert werden, damit Geld für die Subventionen der Kohleförderung da ist, deren Verfeuerung mit einer Kohlendioxydabgabe einschränkt werden soll?“ (Barbier, FAZ vom 21.07.96, S. 1). Vgl. auch Willgerodt (1984) für ein anderes historisches Beispiel. Der Straßentransport trägt mit ca. 25 % zu den Abgasen bei, die für die globale Erwärmung mit verantwortlich gemacht werden.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

573

Wenn die Nutzer von Straßen und Umwelt mit den von ihnen verursachten Kosten 1 belastet werden, können begrenztes Angebot und Nachfrage an Straßennutzung in Einklang gebracht werden. Das gelingt bei der Mineralölsteuer nur unzureichend, denn der Mineralölverbrauch spiegelt eher die zurückgelegten Entfernungen wider. Mit der (Kfz- und) Mineralölsteuer ist es auch nicht möglich, die Kosten den ausländischen Straßennutzern, insbesondere beim LKW-Verkehr, anzulasten, weil man praktisch ohne hier zu tanken durch Deutschland fahren kann. Eine allgemeine in Deutschland erhobene Energiesteuer kann die Internalisierung der verschiedenen Formen von Externalitäten nicht erreichen. Zweckmäßiger ist es daher, die Straßen wie jedes knappe Gut mit einem Preis zu versehen, um den bestehenden Raum effizient zu nutzen. Als Lösungen kommen nutzungsabhängige Straßengebühren und eine über die Grenzen der EU hinaus abgestimmte Politik in Betracht. Solche Gebühren sind aber ökonomisch wenig sinnvoll, um die Kfz-Nutzung in ländlichen Gebieten zu belasten, wenn die Rationierungsaufgabe in den Städten und den verstopften Straßen dort liegt. Straßennutzungsentgelte, nach Ort (City-Maut) und Zeit differenziert, können so gestaltet werden, dass Staus reduziert oder vermieden werden. Das erfordert in Spitzenlastzeiten die höchsten und in Zeiten geringer Auslastung niedrige Nutzungsentgelte. Die Entgelte haben somit explizit die Funktion, bestimmte Nutzungsentscheidungen zu entmutigen bzw. zu fördern. Die alleinige Ausweitung des öffentlich bereitgestellten Nahverkehrs bringt wenig, wenn selbst drastische Tarifsenkungen erfahrungsgemäß die Nutzung des eigenen Kfz nur geringfügig senken. Um auch den ländlichen Verkehr hinsichtlich der Schadstoffbelastung einzubeziehen, kann eine Abgabe wie die oben beschriebene Kfz-Steuer zweckmäßig sein. g) Ökologische Steuern in Deutschland Als „Einstieg in die ökologische Steuerreform“ trat 1999 ein Gesetz in Kraft, als dessen Ziele verkündet wurden, „durch höhere Energiepreise zum Energiesparen anzuregen und energiesparende Technologien zu fördern sowie mehr Arbeitsplätze zu schaffen“. Das Gesetz umfasst mehrere Einzelmaßnahmen: Zur Verteuerung des Energieverbrauchs wurden die Mineralölsteuer angehoben und eine Stromsteuer eingeführt, gleichzeitig aber das Produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft und der öffentliche Nahverkehr begünstigt. Das Mehraufkommen an Mineralölsteuer soll für Zuweisungen des Bundes an die Gesetzliche Rentenversicherung dienen und den Beitragssatz auf „nicht über 20 %“ senken. Tatsächlich stellt der Ansatz der Ökosteuern, durch Abgaben unerwünschtes Verhalten (das Verursachen von CO2-Schäden) zu verringern, noch keine effiziente Politik dar. Das Ziel einer solchen Abgabe, die Minderung der Umweltbelastungen und konkreter der emittierten Treibhausgase um eine feste Menge zu volkswirtschaftlich minimalen Kosten (Lenkungszweck), ist nicht formuliert und wird nicht in Bemessungsgrundlagen formuliert. Wie bei den meisten als Ökosteuern charakterisierten Abgaben 1

Dazu rechnen die Abnutzung der Straßen, die Wirkungen auf das Klima, auf die Gesundheit anderer Menschen und die Staus.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

wird auch hier bewusst auf steuerliche Bemessungsgrundlagen verzichtet, die die Schadstoffemissionen zum unmittelbaren Gegenstand haben. Das gezielte Ausweichen auf Ersatzbemessungsgrundlagen bedeutet, dass gewollt Unschärfen in der Wirkungsweise der Umweltabgaben hingenommen werden (Hansjürgens 1995, S. 204). Bei dem ökologischen Ziel müssten die Einnahmen aus der Ökosteuer im Falle einer signifikanten Lenkungswirkung zurückgehen bzw. bei größter Wirkung gegen Null tendieren 1. Als Finanzierungsinstrument (Finanzierungszweck) für eine Senkung der Lohnnebenkosten sind aber dauerhafte oder sogar steigende Steuereinnahmen erforderlich. Das impliziert die Tolerierung bestimmter Umweltbelastungen und, wenn das Lenkungsziel zunehmend erreicht ist, Steuererhöhungen. Längerfristig muss sich daher das ökologisches Ziel oder das Finanzierungsziel dem jeweils anderen unterordnen und wird damit verfehlt. Auch hinsichtlich der Verzerrung der relativen Preise zwischen Wirtschaftsbereichen kommen Zweifel auf. Die branchenmäßige Belastung erfolgt nicht gleichmäßig mit einem bestimmten Mengensteuerbetrag pro CO2-Belastung. Vielmehr wird etwa der Verkehrsbereich stärker als das produzierende Gewerbe belastet. Bei energieintensiven Branchen wird die Nettomehrbelastung (Steuerlast abzüglich Senkung der Lohnnebenkosten) begrenzt, folglich werden umweltintensive Bereiche unzureichend belastet. Allokativ bedeutsam ist, dass Belastungen und Sonderregelungen neue Verzerrungen herbeiführen und nicht etwa Externalitäten ausgleichen. Um die mit dem Energieverbrauch einhergehende Umweltbelastung (z.B. durch CO2) zu reduzieren, muss diese beschrieben und quantifiziert werden. Energie wird als Produktionsfaktor und Konsumgut verwendet und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zum BIP. Die wichtigsten Determinanten für CO2-Emmissionen sind 2 (20-1)

CO 2 )

CO 2 E BIP x x A. E BIP A

Der erste Term auf der rechten Seite bezeichnet den CO2-Koeffizienten des Energiemixes einer Volkswirtschaft. Er kann durch die Substitution CO2-intensiver durch CO2-extensive Energieträger verkleinert werden. Der zweite Term beschreibt den Energiekoeffizienten und setzt den Energieverbrauch E ins Verhältnis zum BIP. Dieser Term wird durch die Produktionstechnologie und Präferenzen einer Volkswirtschaft bestimmt. Der Energiekoeffizient verändert sich im Zeitablauf durch Substitutionsprozesse, technischen Fortschritt und z.B. Verhaltensänderungen, die zu einem energiebewussteren Verhalten führen. Im dritten Ausdruck repräsentiert BIP/A die Pro-Kopf-Produktion einer Volkswirtschaft. Dieser Term zeigt, dass CO2-Emissionen auch durch die Produktivität einer Volkswirtschaft beeinflusst werden können. Je höher die Produktivität, desto höher auch die CO2-Emissionen. Auch mit der Bevölkerungszahl A steigen die Emissionen. 1 2

Bei einem Aufkommen von annähernd Null liegen allerdings nach der Definition des § 3 AO keine Steuern vor; der Lenkungszweck darf nicht maßgeblich sein. Vgl. Scholz (1999), S. 369 ff.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

575

Die Verbrennung der verschiedenen Energieträger löst im unterschiedlichen Maße CO2-Emissionen aus. Wenn die Emissionskoeffizienten für die einzelnen Energieträger nicht gesenkt werden können, muss der gesamtwirtschaftliche CO2-Koeffizient durch Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Energiemixes verringert werden. Diese Strategie wird zur Zeit durch Fördermaßnahmen gewählt, die den Anteil alternativer Energieträger erhöhen sollen. Die deutschen Ökosteuern zielen auf den zweiten Faktor in Gleichung (20-1), die Senkung des gesamtwirtschaftlichen Energiekoeffizienten als Indikator für die Energieeffizienz der Volkswirtschaft. Energieeffizienz ist aber nicht umweltpolitische Effizienz, d.h. umweltpolitische Wirkungen können auch kostengünstiger erzielt werden. Folglich sind Ökosteuern, die nicht unmittelbar CO2 als Bemessungsgrundlage haben, unpräzis und ineffizient: Wegen der geringeren ökologischen Treffsicherheit muss der Steuersatz bei einer Energie- wesentlich höher als bei einer Emissionssteuer sein, um das gleiche Umweltziel zu erreichen und verursacht ein Excess Burden. CO2Minderung kann zu geringeren Kosten erreicht werden. Ein Anreiz, kohlenstoffintensive durch -extensive Energieträger zu substituieren und in die Erforschung von CO2Minderungsstrategien zu investieren, fehlt. Bemerkenswert ist u.a., dass der Verbrauch der Energieträger mit dem größten CO2-Koeffizienten, nämlich Stein- und Braunkohle, nur über die Stromsteuer belastet und die heimische Steinkohle sogar subventioniert wird. Man kann auch am Belastungskoeffizienten ansetzen, wie z.B. bei der Förderung von Sonnenenergie, Erdwärme oder Windkraft, der Ausgestaltung der Mineralölsteuer nach dem Schwefelgehalt oder der Differenzierung der Mineralölsteuer nach dem Bleigehalt. Letztere hat über Anreize ihr Ziel der Vermeidung des Bleigehalts erreicht, und es gibt nur noch bleifreies Benzin. Allerdings sind die Probleme einer isolierten nationalen CO2-Politik zu beachten. Eine einseitige drastische Verteuerung der Energie in Deutschland kann zu einer Verlagerung energieintensiver Produktion ins Ausland führen und dort die weltweiten CO2-Belastungen sogar erhöhen. Eine von der EU-Kommission mehrfach vorgestellte einheitliche, EU-weite Einführung einer Steuer auf alle nicht-erneuerbaren Energien wurde nicht realisiert. Ohne einen spürbaren Einfluss auf die Umweltprobleme können also Kosten entstehen, aber ein Nutzen wird nicht erzielt. Schleiniger/Felder (2003, S. 202) weisen allerdings darauf hin, dass beim Verbrauch fossiler Energie nicht nur CO2 emittiert wird, „sondern es werden eine Reihe von anderen externen Effekten verursacht, die aber im Unterschied zum Treibhauseffekt regionaler Natur sind 1 ... Eine Reduktion des fossilen Energieverbrauchs würde die lokalen Belastungen deutlich vermindern und zu einer Wohlfahrtsverbesserung führen, da dieser Nutzen im Unterschied zur CO2-Minderung zum größten Teil innerhalb der Landesgrenzen anfällt“.

1

„So stammen praktisch alle Emissionen von Stickstoffoxiden, Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid und Staub, insbesondere der karzinogene Dieselruß, sowie ein großer Teil der Emissionen aus flüchtigen organischen Verbindungen aus der Verbrennung fossiler Energieträger“ (Schleiniger/Felder (2003) nach Ekens).

576

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

3. Die Politische Ökonomie der Umweltsteuern, insbesondere bei globalen öffentlichen Gütern Zusammengefasst ist die „ökologische Steuerreform“ eine umweltpolitisch stumpfe Waffe mit eher fragwürdigen Beschäftigungseffekten. Die Elastizitätsverhältnisse erfordern für ökologische Ziele eine starke, auf belastungsintensive Bereiche konzentrierte Steueranhebung. Wenn aber in Demokratien eine solche Politik für kaum durchsetzbar gehalten wird, fallen die angestrebten Reduktionseffekte beim Treibstoffverbrauch bzw. bei den Emissionen gering aus und die Internalisierung externer Effekte der Energieerzeugung oder des Energieverbrauchs erfolgt nicht. Vielmehr kommt es über die Gewährung von Ausnahmen zu einer ordnungspolitisch und allokativ problematischen Verzerrung der Energiepreise. Allerdings ist auch der internationale Aspekt zu beachten: eine nationale ökologische Steuerreform ist hinsichtlich der weltweiten Effizienz (vgl. Kap. 21.3) verzerrend, wenn sie zu einer bloßen Verlagerung des Standorts führt. Unvollständige Informationen begünstigen die vielfältige Einflussnahme durch Lobbying-Prozesse auf die staatlichen Entscheidungsträger. So werden z.B. die Kosten der Emissionsverringerung durch organisierte Interessen als unzumutbar hoch hingestellt, Vertreter der durch Emissionen Belasteten spielen andererseits die Kosten der Emissionsverringerung herunter und setzen die Schäden hoch an. Auch Ausnahmeregelungen und pragmatisches Vorgehen sind ein Ansatz für Interessengruppen. Die ökologische Wissenschaft zieht Vorteile aus einer Betonung anstehender Umweltveränderungen und -katastrophen, weil das den gesellschaftlichen Aufmerksamkeitswert ihrer Vertreter (und folglich Gutachtenaufträge) steigert. Ähnliches gilt für die Medien. Die Gruppe der Geschädigten lässt sich in vielen Fällen nur schwer organisieren und kommt eher gefiltert über Medien und Ökogruppen zur Geltung. Die Gruppe der Schädiger ist häufig verhältnismäßig klein und lässt sich daher gut organisieren. Anders ist die Situation, wenn die Gruppen den Parteien maßgeblichen Einfluss haben. Dann kann das Gegenteil eintreten, nämlich eine Klientelpolitik, mit der unter der Rubrik „Öko“ Entscheidungen getroffen werden, die einer effizienten Umweltpolitik nicht genügen. Das traditionelle Muster der Luftreinhaltepolitik lässt sich auf globale Umweltprobleme nicht anwenden, da sie nicht auf dem Prinzip der unmittelbaren Gefahrenabwendung beruhen. Wenn die Externalitäten global wie bei den CO2-Emissionen sind, bedarf es der Kooperation über Ländergrenzen. Der Einfluss isolierter Maßnahmen einzelner Länder (außer USA, China und Indien) auf das Klima ist äußerst gering. Um weltweit die CO2-Emissionen zu begrenzen 1, müssen (1) die global zulässigen Emissionsmengen festgelegt, (2) die Zuteilung von Emissionsrechten auf die Staaten geregelt und (3) die Einhaltung der Verpflichtungen überwacht werden. Da die einzelnen Staaten ihre Verpflichtungen zur Reduktion der Emissionsmenge nicht notwendigerweise selbst erfüllen müssen, können auch CO2-Zertifikate eingeführt werden, die internatio1

Neben den Szenarien des Klimawandels spielt der Diskontfaktor eine wichtige Rolle. Im Stern Review (2007) wird ein Diskontfaktor von 0,1% verwendet. Damit werden die künftigen fast genauso wie die gegenwärtigen Kosten bewertet.

20. Kapitel: Steuern auf spezielle Güter

577

nal handelbar sind. Sie haben ein hohe ökologische Treffsicherheit und geringe Eingriffsintensität des Staates. So lassen sich Emissionen vermeiden, wo dies am kostengünstigsten ist. Es kann aber auch effizienter oder eher durchsetzbar sein, statt der Zertifikate oder potenzieller Reduktionspläne der Staaten einen einheitlichen Steuersatz auf CO2-Emissionen zu beschließen. Allerdings gibt es keine Weltregierung, die eine Reduzierung der CO2-Belastung durch Zertifikate oder durch eine einheitliche CO2-Abgabe beschließen kann. Diese Maßnahmen würden die größten Anreize zur Emissionsminderung in den Ländern bewirken, wo sie mit den geringsten Kosten möglich sind. Jede globale Lösung beruht aber auf der freiwilligen Teilnahme an Vereinbarungen und muss zudem weltweite Verteilungsprobleme berücksichtigen. Weil die Leistungsfähigkeit ärmerer Länder gering ist, diese Länder aber primär von den negativen Folgen der Klimaänderung betroffen sind, sind Abstriche von der Zielsetzung der globalen Produktionseffizienz oder ergänzende Maßnahmen unvermeidbar, durch die Ressourcen an diese Länder geleitet werden. Dies könnte über mehr Emissionsrechte oder durch niedrigere Steuersätze für ärmere Länder erfolgen. Auch könnten die Erlöse aus der Versteigerung von Emissionsrechten an eine internationale Behörde fließen, die sie nicht nach Emissionsvermeidung, sondern nach Einkommen verteilt. Die weltweite Kooperation ist schwierig, weil für reine öffentlich Güter die (individuelle wie die) nationale Zahlungsbereitschaft gering oder null ist. Dabei können die Nutzen und Kosten der Emissionsvermeidung für die einzelnen Länder völlig unterschiedlich sein. Die jeweiligen nationalen Repräsentanten kennen in der Regel die Nutzen und Kosten für ihr Land besser als die anderen. Der jeweilige Vermeider trägt im Allgemeinen selbst die Kosten der Vermeidungsaktivität. „Er profitiert auch selbst von der Klimaverbesserung, darüber hinaus profitieren aber alle Akteure, die unter der Klimaerwärmung leiden würden. Der Kostenträger der Emissionsverminderung und die Nutznießer sind somit nicht identisch“ (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 2010, S. 5). Jedes Land wird sich strategisch verhalten. Auch sind die meisten Länder klein im Verhältnis zur gesamten Welt. Durch Fehldarstellung von Nutzen und Kosten wird eine geringere Zahlungsbereitschaft signalisiert, um die eigenen tatsächlichen Zahlungen für die internationale Bereitstellung des öffentlichen Gutes zu minimieren. Wenn alle sich so verhalten, kommt es zu einer Unterversorgung mit dem öffentlichen Gut. Tatsächlich können die Verhandlungspositionen einzelner Länder durch interne Forderungen beeinflusst werden. So setzen beispielsweise einzelne Personen und Organisationen Zeit und Mittel ein, um moralischen Druck zur Übernahme einer Vorreiterposition und zur Übernahme stärkerer freiwilliger CO2-Reduzierungen aufzubauen. So wie diese Einfluss auf die nationale Politik nehmen, könnten auch einzelne Staaten Einfluss auf die internationale Politik nehmen. Die Problematik des öffentlichen Gutes wird allerdings verkannt und das Free Rider-Verhalten anderer Staaten nicht beseitigt: Sobald es bereitgestellt worden ist, kann kein einziges Land von der Nutzung ausgeschlossen werden – unabhängig davon, ob ein eigener Beitrag geleistet wurde. Es besteht so ein Anreiz, eigene Anstrengungen einzuschränken (Crowding out) oder gar umweltbelastende Aktivitäten auszuweiten und das Gegenteil des allokativ Erwünsch-

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

ten zu erreichen. Damit geht das Vorreiterland hohe Kosten z.B. durch knapp bemessene Emissionsrechte, Verzicht auf Kohlekraftwerke und massive Förderung von erneuerbaren Energien und Wärmedämmung ein, trägt aber nicht entscheidend zur Verbesserung des Weltklimas bei. Effizienter ist daher eine Politik, die solche Techniken (darunter Kraftwerke) produziert und einsetzt, die weniger CO2 abgeben und exportiert werden. Literatur zum 20. Kapitel Eine gute Darstellung der Steuern auf spezielle Güter, darunter auch Energie- und Umweltsteuern, geben Hansmeyer u.a. (1980). Zu Ökosteuern siehe die Beiträge von Schleiniger/Felder (2003), Böringer/Schwager (2003) und Bach/Kohlhaas u.a. (2003) und Ahlheim (2003), die auch auf die relevante Literatur verweisen. Eine umfassende theoretische Analyse liefert Schöb (1995), Ökosteuern im Rahmen eines allgemeinen Gleichgewichts untersuchen Conrad/Schmidt (1997). Zur doppelten Dividende siehe Gottfried/Wiegard (1995). Eine finanzwissenschaftliche Beurteilung von Ökosteuern gibt auch der Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (1998). Zum Verhältnis Lenkungssteuern und Einnahmenerzielung siehe Gawel (2002). Ökosteuern unter politökonomischen Gesichtspunkten analysiert Zimmermann (1996). Einen Überblick über die Förderung des Umweltschutzes im deutschen Abgabenrecht gibt das Bundesministerium der Finanzen (2003). Zur Problematik der Verhandlungen über die Internalisierung globaler öffentlicher Güter siehe Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2010) und Weimann (2010). Dort werden auch weiterführende Studien genannt.

21. Kapitel Internationale Aspekte der Besteuerung 1. Der internationale Steuervergleich Die internationale Wirtschaftsverflechtung Deutschlands nimmt, insbesondere mit den Staaten der Europäischen Union (EU) und Europäischen Währungsunion, ständig zu. Dies zeigt sich an der Entwicklung der Güter- und Finanzierungsströme und der Mobilität der Faktoren, Unternehmen, Bewohner und Konsumenten. Im Folgenden werden einige hieraus rührende Konsequenzen für die Steuerpolitik untersucht. Wie Tab. 21-1 zeigt, weisen die Steuer- und die Abgabenquote unter Einschluss der Sozialbeiträge in den OECD-Länder eine breite Spanne aus. Die Unterschiede in den beiden Abgabenbelastungsquoten werden maßgeblich durch die Höhe der staatlichen sozialen Sicherung und die Art ihrer Finanzierung geprägt. So wird in Dänemark die soziale Sicherung fast vollständig über Steuern, in Deutschland vorwiegend über Sozialabgaben finanziert 1. Die Daten geben nur einen groben Hinweis über das relative Tab. 21- 1 Steuern und Sozialabgaben in % des BIP1 Land Deutschland2,3 . . . . Belgien . . . . . . . . Dänemark . . . . . . . Finnland . . . . . . . Frankreich . . . . . . Griechenland . . . . . Irland . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . Japan . . . . . . . . . Kanada . . . . . . . . Luxemburg . . . . . . Niederlande . . . . . . Norwegen . . . . . . . Österreich . . . . . . . Portugal . . . . . . . . Schweden . . . . . . . Schweiz . . . . . . . . Spanien . . . . . . . . Vereinigtes Königreich Vereinigte Staaten . . 1 2 3

Steuern und Sozialabgaben Steuern 1970 1980 1990 2000 2005 2008 1970 1980 1990 2000 2005 2008 31,5 33,9 38,4 31,5 34,1 20,0 28,5 25,7 19,6 30,9 23,5 35,6 34,5 33,8 18,4 37,8 19,3 15,9 36,7 27,0

36,4 41,3 43,0 35,7 40,1 21,6 31,1 29,7 25,4 31,0 35,6 42,9 42,4 38,9 22,9 46,4 24,7 22,6 34,8 26,4

34,8 42,0 46,5 43,5 42,0 26,2 33,1 37,8 29,1 35,9 35,7 42,9 41,0 39,6 27,7 52,2 25,8 32,5 35,5 27,3

37,2 44,9 49,4 47,2 44,4 34,0 31,3 42,3 27,0 35,6 39,1 39,7 42,6 43,2 34,1 51,8 30,0 34,2 36,4 29,9

34,8 44,7 50,8 44,0 43,9 31,4 30,4 40,8 27,4 33,4 37,6 38,5 43,5 42,3 34,7 49,5 29,2 35,7 35,8 27,5

36,4 44,3 48,3 42,8 43,1 31,3 28,3 43,2 k. A. 32,2 38,3 k. A. 42,1 42,9 36,5 47,1 29,4 33,0 35,7 26,9

22,0 24,1 37,1 28,7 21,7 14,0 26,1 16,0 15,2 27,9 16,7 23,1 29,0 25,2 14,0 32,2 16,2 10,0 31,6 22,7

23,9 29,4 42,5 27,4 23,0 14,5 26,6 18,4 18,0 27,7 25,3 26,6 33,5 26,8 16,1 33,0 18,9 11,6 29,0 20,6

21,8 28,1 45,6 32,4 23,5 18,3 28,2 25,4 21,4 31,5 26,0 26,9 30,2 26,6 20,2 38,0 19,7 21,0 29,5 20,5

22,7 31,0 47,6 35,3 28,4 23,6 27,1 30,2 17,5 30,8 29,1 24,2 33,7 28,5 23,8 38,1 22,7 22,3 30,2 23,0

20,9 31,0 49,7 32,0 27,7 20,3 25,8 28,3 17,3 28,4 27,2 25,4 34,6 27,8 23,4 36,3 22,2 23,7 29,0 20,8

23,1 30,3 47,3 30,8 27,0 20,3 23,3 29,8 k. A. 27,5 27,5 k. A. 33,2 28,6 24,6 35,4 22,6 20,9 28,8 20,3

Nach den Abgrenzungsmerkmalen der OECD. 1970-1990 nur alte Bundesländer. Nicht vergleichbar mit den Quoten in der Abgrenzung der VGR oder der Finanzstatistik.

Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Finanzbericht 2011, S. 395/396. 1

Anzumerken sind generell rechnerische Probleme, die die Vergleichbarkeit einschränken. So unterliegen auch weiter zurückliegende Zahlen gerade der OECD häufig größeren Revisionen, die über das hinausgehen, was mit jeder VGR-Revision das BIP steigen lässt.

580

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Gewicht der Besteuerung (und der Sozialbeiträge) in den einzelnen Ländern 1. Das liegt an methodischen Problemen solcher Vergleiche, ferner sind neben der Höhe der Steuer- und Abgabenquote auch die Struktur, die Bemessungsgrundlagen, die Tarifgestaltung und die nach Branchen, Regionen, Unternehmensformen und -größen jeweils gewählten Sonderregeln von Bedeutung. 2. Einige steuerpolitische Konsequenzen der internationalen Wirtschaftsverflechtung In einer offenen Volkswirtschaft kann eine hohe Abgabenbelastung wegen internationaler Mobilität der Produktionsfaktoren und der Möglichkeiten zur Verlagerung des Wohnsitzes, der Niederlassung von Unternehmen sowie der Anlage von Finanzmitteln oder zum Gütererwerb im Ausland und des (u.a. Steuer-)Wettbewerbs zwischen den Staaten zu beträchtlichen Steuerausfällen führen. Soll dennoch eine bestimmte Höhe der Einnahmen erreicht werden, muss der Staat diese an anderer Stelle unter Beachtung des beschränkten Spielraums für eine nationale Steuerpolitik erzielen. Er hat damit zu rechnen, dass die Umsetzung seiner wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele behindert und die traditionellen Gestaltungsprinzipien der Steuerpolitik gefährdet werden. Die nationale Steuerhoheit, die die Steuergesetzgebung, Ertrags- und Verwaltungshoheit umfasst, wird eingeschränkt. Dann wird das Verlangen nach internationaler Koordinierung der nationalen Steuerpolitiken größer. Gelingt sie nicht, bleibt nur die Möglichkeit der stärkeren Belastung international vergleichsweise immobiler Größen. So sind Einkünfte aus Arbeitnehmertätigkeit oder aus dem Besitz von Grund und Boden relativ immobile Bemessungsgrundlagen, daher ist zu erwarten, dass sie stärker als etwa Kapitaleinkünfte besteuert werden 2. In diesem Fall ist aber die Arbeitsangebotselastizität zu beachten. Zur Beurteilung verschiedener Formen der Besteuerung werden die bisher nur im nationalen Rahmen herangezogen Kriterien der Gerechtigkeit und allokativen Effizienz jeweils um eine internationale Dimension erweitert 3: S Gerechtigkeit zwischen Personen fordert eine individuelle Steuerbelastung der Bürger, die mit den nationalen Verteilungsnormen im Einklang steht. Sie ist immer dann verletzt, wenn Steuerzahler durch eine Verlagerung von ökonomischen Aktivitäten in das Ausland steuerlich begünstigt oder benachteiligt werden. S Gerechtigkeit zwischen Nationen ist eine Kategorie von Verteilungsgerechtigkeit, die am länderweisen Steueraufkommen anknüpft 4. Sie ist verletzt, wenn ein Land nicht mehr in der Lage ist, seinen staatlichen Finanzbedarf durch eine Anhebung der Steuer-

1 2 3 4

Es sei hier nur auf die unterschiedlichen Auswirkungen von Steuervergünstigungen alternativ zu direkten Zahlungen auf die Abgaben- (und Ausgaben-)Quoten erinnert. Im Folgenden wird davon abgesehen, dass die nationale Steuerpolitik (oder die etwa der EU) auch dazu eingesetzt werden kann, protektionistische Ziele zu verfolgen. Vgl. Genser/Wiegard (1995). Weiterhin ist von Bedeutung, welches Land die Tarife festlegt und die Steuern erhebt (einschl. Kontrolle).

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

581

sätze zu befriedigen, weil die Steuerbemessungsgrundlagen und damit die Steuereinnahmen in das Ausland abwandern. S Nationale allokative Effizienz liegt vor, wenn die Steuerpolitik die Marktpreise der Güter und der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden) nicht verzerrt und die knappen Ressourcen eines Landes so eingesetzt werden, dass die Bürger das höchstmögliche soziale Wohlfahrtsniveau erreichen. Die Steuern sind dabei wettbewerbsneutral im nationalen Rahmen, Auswirkungen auf die Wohlfahrt der ausländischen Handelspartner werden vernachlässigt. S International wettbewerbsneutral (allokativ effizient) ist die Steuerpolitik, wenn sie neutral ist: sie stört eine effiziente weltweite Aufteilung der knappen Ressourcen nicht, indem sie die Wirtschaftssubjekte zumindest eines Landes besser stellt, ohne jene der anderen Länder schlechter zu stellen. Globale Effizienz schließt eine strategische Erzielung nationaler Wohlfahrtsgewinne zu Lasten der übrigen Welt aus. Diese Kriterien werden im Folgenden für die Güter- und Faktoreinkommensbesteuerung angewendet. Verstöße führen dazu, dass „grenzüberschreitende Transaktionen doppelt oder überhaupt nicht besteuert und damit gegenüber rein binnenstaatlichen Transaktionen diskriminiert werden. Ökonomisch von Interesse sind daher Besteuerungsverfahren, die solche Verzerrungen vermeiden“ (Genser/Wiegard 1995, S. 42). Übersicht 21-1 stellt solche Verfahren zusammen. Sie sind entscheidend für die Frage, wie sich die grenzüberschreitende Mobilität von Gütern und Produktionsfaktoren auf die nationale Steuerpolitik auswirkt. Ferner bestimmen die Besteuerungsverfahren, ob und auf welche Weise Konsum- und Produktionsentscheidungen durch Steuern verzerrt werden. Übersicht 21-1 Besteuerungsverfahren zur Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung Besteuerungsverfahren Güterbesteuerung Bestimmungslandprinzip

Ursprungslandprinzip

Faktorbesteuerung Wohnsitzlandprinzip

Quellenlandprinzip

3. Güterbesteuerung Der internationale Handel findet seine Begründung in der Theorie komparativer Vorteile. Danach spezialisiert sich jedes Land auf solche Güter, die es relativ am effizientesten produzieren kann. Durch Handel mit dem Ausland erhöht sich die Wohlfahrt der beteiligten Länder. Zu untersuchen ist nun, wie sich unterschiedlich erhobene Gütersteuern auf die Lösungen auswirken, die nach der Theorie komparativer Vorteile ohne solche Steuern zu erwarten sind. Wie sind bestimmte Verfahren zu beurteilen, mit de-

582

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

nen Verzerrungen, d.h. insbesondere Doppelbelastungen, vermieden werden sollen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein einfaches Zwei-Güter-Zwei-Länder-Modell verwendet. a) Steuern nach dem Ursprungsland- und dem Bestimmungslandprinzip In Übersicht 21-2 sind verschiedene Verfahren zusammengestellt, die sich danach unterscheiden, ob die Warenströme im jeweiligen Ausfuhr- und/oder Einfuhrland besteuert werden oder überhaupt nicht. Übersicht 21-2 Verfahren für die Besteuerung des Außenhandels Exportland besteuert den Export Importland besteuert den Import Doppelbesteuerung

besteuert den Export nicht

besteuert den Import nicht

Steuerfreiheit

Ursprungslandprinzip

Bestimmungslandprinzip

S Nach dem Bestimmungslandprinzip werden international gehandelte Güter ausschließlich in dem Land mit Steuern belastet, in dem sie letztlich konsumtiv oder investiv verwendet werden. Die Einfuhr wird hierbei im jeweiligen Einfuhrland besteuert, und die Ausfuhr bleibt im Ausfuhrland steuerfrei. Zur Realisierung ist also ein steuerlicher Grenzausgleich erforderlich. S Beim Ursprungslandprinzip werden die Steuern auf international gehandelte Güter in dem Land erhoben, in dem sie produziert werden. Ein Grenzausgleich ist hier für einzelne Güter nicht möglich. S Dem Fall der Steuerfreiheit kommt schon aus fiskalischen Gründen in der Regel keine besondere Bedeutung zu. Er würde im Übrigen auch eine kaum zu rechtfertigende steuerliche Förderung des Außenhandels darstellen. S Alle Bemühungen, die nationale Steuerhoheit so weit wie möglich auszudehnen, führen tendenziell zur Doppelbesteuerung. Diese liegt etwa vor, wenn ein Gut (z.B. Mineralöl) sowohl im Exportland als auch im Importland einer gleichartigen Umsatzoder Verbrauchsteuer unterliegt. Um die daraus resultierende Diskriminierung des Außenhandels zu vermeiden, müssen sich die am internationalen Handel beteiligten Länder auf generell anzuwendende Besteuerungsprinzipien einigen bzw. diese als Orientierungshilfe bei multilateralen Abkommen, Doppelbesteuerungsabkommen usw. wählen. Die Abgrenzung der Steueransprüche mehrerer Steuerhoheiten ließe sich am besten lösen, wenn weltweit alle Staaten einem der beiden Prinzipien folgen würden. Die Kennzeichnung des Bestimmungslandprinzips als Besteuerung mit und des Ursprungslandprinzip als Besteuerungsverfahren ohne Grenzausgleich beruht auf praktischen Erfahrungen.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

583

b) Gerechtigkeitsaspekte beider Prinzipien Im Hinblick auf die Gerechtigkeit zwischen Personen ist zu beachten, dass interpersonelle Verteilungsziele mit Hilfe von Gütersteuern nur begrenzt und insbesondere durch Differenzierung der Steuersätze verfolgt werden. Letzteres ist lediglich bei Anwendung des Bestimmungslandprinzips möglich. Für die Gerechtigkeit zwischen Nationen ist maßgeblich, dass beim Bestimmungslandprinzip das Steueraufkommen dem Land zufließt, in dem das Gut letztlich verwendet wird. Die internationale Verteilung des Steueraufkommens gilt hier als gerecht, wenn die Besteuerung nach der Endverwendung erfolgen soll. Folglich sind die Exporte steuerfrei zu lassen, Importe führen zu Steuereinnahmen. Beim Ursprungslandprinzip fließt das Steueraufkommen dem Exportland zu. Internationale Aufkommensgerechtigkeit liegt in diesem Fall vor, wenn als Kriterium die nationale Güterproduktion unterstellt wird. Daher tragen hier die Exporte zum Aufkommen aus Gütersteuern bei, die Importe sind hingegen fiskalisch wirkungslos. Ein positiver Leistungsbilanzsaldo begünstigt beim Ursprungslandprinzip das Exportland zu Lasten des Importlandes 1. c) Allokative Wirkungen beider Prinzipien Nun soll untersucht werden, ob bei Anwendung des Ursprungsland- bzw. des Bestimmungslandprinzips allokative Verzerrungen durch die Besteuerung des Außenhandels eintreten. Zunächst ist die Referenzsituation für die optimale Allokation zu bestimmen, wobei zwei beliebige Güter i und j betrachtet werden, die international produziert und konsumiert werden. Eine effiziente internationale Allokation ist dann erfüllt, wenn die Grenzrate der Transformation dieser Güter im Inland (D) und Ausland (W) gleich ist und der Grenzrate der Substitution sowie dem Preisverhältnis dieser Güter entspricht 2: (21-1)

GRT D ) GRT W ) GRS D ) GRS W ) p i / p j .

Die Produzenten- und die Konsumentenpreise sind in D und W gleich. Nun wird die First-best-Welt verlassen. Eine im Inland und im Ausland erhobene allgemeine, d.h. alle Güter prozentual gleich belastende Steuer mit dem Steuersatz ] (]i = ]j) verstößt nicht gegen die Bedingung für eine effiziente Produktion. Zwar fallen der von den Konsumenten zu zahlende Bruttopreis pi(1 + ]i) und der Produzentenpreis (Nettopreis) pi auseinander; entsprechend für Gut j. Aber auch nach Besteuerung entspricht das Brutto- dem Nettopreisverhältnis und gilt für sämtliche Konsumenten und Produzenten im In- und Ausland: 1

2

Ein Grund dafür, dass in der EU nicht das Ursprungslandprinzip angewendet wird, liegt in den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüssen, die andere Mitgliedstaaten fiskalisch benachteiligen würden. Hierbei wird vereinfachend von Transaktions- und Transportkosten abgesehen.

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

584

(21-2)

p i (1 9 ]i ) p i ) p j (1 9 ] j ) p j

Es ist für die Erfüllung von (21-2) gleichgültig, ob die allgemeine Steuer weltweit einheitlich nach dem Ursprungs- oder dem Bestimmungslandprinzip erhoben wird. Dieses Ergebnis stellt sich nicht ein, wenn in D und W eine Mengensteuer mit einheitlichem Betrag ]M ( ]iM ) ] Mj ) pro Stück gewählt wird. In diesem Fall fallen die Preisrelationen für die Konsumenten und Produzenten auseinander: (21-3)

p i 9 ] iM p i L pj p j 9 ] Mj

Aber selbst bei proportionalen Steuertarifen kann Bedingung (21-2) verletzt werden. Das ist möglich, wenn In- und Ausland verschiedene Sätze (]i L ]j) einführen und die Preisrelationen auf der rechten und auf der linken Seite von (21-2) auseinanderfallen. Angenommen eine Umsatzsteuer habe jeweils in D bzw. W einen einheitlichen Satz, aber zwischen den Ländern gelte ] D L ] W . Dieser Fall soll nun für das Bestimmungslandprinzip untersucht werden 1, wobei vereinfachend unterstellt wird, dass keine grenzüberschreitenden Konsumentendirektkäufe stattfinden. Als Folge der Steuer gleicht das Arbitrageverhalten der Konsumenten in D die Konsumentenpreise an 2: (21-4)

p iD (1 9 ] D ) ) p iW (1 9 ] D )

(21-5)

D p Dj (1 9 ] D ) ) p W j (1 9 ] )

Die Verbraucherpreisrelationen in D sind (21-6)

p iD (1 9 ] D ) p iW (1 9 ] D ) ) D p Dj (1 9 ] D ) p W j (1 9 ] )

Für die Konsumenten in W ändern sich durch die in D erhobene Steuer ebenfalls die Preisrelationen nicht. Für sie gilt (21-7)

p iW (1 9 ] W ) ) p iD (1 9 ] W )

(21-8)

W D W pW j (1 9 ] ) ) p j (1 9 ] )

1 2

Bei Einführung einer Steuer nur in einem Land kommt man zu dem gleichen Ergebnis wie bei Einführung einer generellen, aber mit unterschiedlichen Sätzen in D und W erhobenen Steuer. Von unterschiedlichen Währungen und damit Wechselkursen wird hier abgesehen.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

585

und (21-6) entsprechend. Allerdings unterscheiden sich bei ] D L ] W die Konsumentenpreise in D und W, weil die Konsumgütermärkte in beiden Ländern durch den steuerlichen Grenzausgleich voneinander getrennt sind. Insofern entsteht eine Verzerrung der internationalen Allokation im Konsum. Aus (21-4) und (21-5) ist ersichtlich, dass die Produzenten sich auch bei ] D L ] W den gleichen Nettopreisen gegenüberstehen (p D ) p W ) . Wie ist dieses Ergebnis zu erklären? Wenn Deutschland auf dem Weltmarkt ein Mengenanpasser ist, kann der hier nach Besteuerung an ausländische Produzenten zu zahlende (Netto-)Preis pW nicht fallen. Sinkt er unter pW, verkaufen die ausländischen Produzenten anderswo. Andererseits bieten inländische Produzenten auswärts an, wenn sie im Inland nicht den Preis pW bekommen können. Bleibt der von den Produzenten erhaltene Preis also bei pW, muss der von den inländischen Konsumenten zu zahlende Preis genau um den Steuerbetrag steigen. Das Bestimmungslandprinzip bewirkt also eine Angleichung der Produzentenpreise (Nettopreise), die Konsumentenpreise können je nach nationalen Steuersätzen unterschiedlich sein. Das Bestimmungslandprinzip ist importneutral, weil es für Anbieter in D gleiche ist, ob sie ihre Ware aus D oder W beziehen. Daher kann hinsichtlich der Effizienzwirkungen einer allgemeinen Gütersteuer bei Anwendung des Bestimmungslandprinzips geschlossen werden: S Eine allgemeine Steuer wie die Umsatzsteuer mit einheitlichem Satz verzerrt die gemäß (21-2) bestimmte Preisrelation für die Konsumenten nicht. S Die Produktionsentscheidungen in Deutschland sind unverändert, weil die relativen Preise der Produzenten gleich bleiben. Bei vollkommener Konkurrenz impliziert das, dass die Grenzkosten aller Produzenten eines Gutes gleich sind. Derselbe Output kann nicht durch internationale Reallokation zwischen den Produzenten erhöht werden. Die nach dem Bestimmungslandprinzip erhobenen Steuern verzerren nicht die internationalen Produktionsaktivitäten. Insofern wird es als wettbewerbsneutrales Besteuerungsprinzip bezeichnet. S Wird die Steuer in D mit unterschiedlichen Sätzen oder nur auf einzelne Güter erhoben ( ] iD L ] Dj ), verzerrt sie die relativen Preise für die Konsumenten und bewirkt so eine Mehrbelastung. Diese Verzerrung tritt aber unabhängig davon auf, ob die Güter aus heimischer Produktion oder aus Importen stammen. Insofern gelten die ersten beiden Aussagen auch hier. Von Bedeutung für die Analyse ist, dass die international gehandelten Güter im Exportland steuerfrei bleiben. Ein exakter Grenzausgleich muss dann erfolgen, wenn im Inland die Güterbesteuerung in einer Produktionsteuer besteht. Die Anwendung des Bestimmungslandprinzips macht in diesem Fall Steuergrenzen erforderlich, um das Be- und Entlastungsverfahren durchzuführen. Bei einer auf der Ebene des Einzelhandels erhobenen Umsatzsteuer (,,Verbrauch“-Steuer) bedarf es hingegen keines Grenzausgleichs. Die Erstattung von nationalen Gütersteuern beim Export ist nach den Regeln des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das die internationalen Handels-

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

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praktiken bestimmt, möglich 1. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass durch ein solches Verfahren die Effizienz erhöht werden kann, weil es die Doppelbesteuerung vermeidet. Das Abkommen impliziert eine ausschließliche Verbrauchsbesteuerung im Inland. Da folglich nur die Steuern erstattet werden dürfen, die auf die Produktionskosten einwirken, kommt es zu schwierigen Abgrenzungsproblemen. Nach GATTRegeln gelten beispielsweise Sozialversicherungsbeiträge und die Körperschaftsteuer nicht als Teil der Produktionskosten und qualifizieren sich so nicht für eine Rückzahlung. Es wird angenommen, dass die Körperschaftsteuer aus den Gewinnen gezahlt wird. Den GATT-Regeln liegt daher eine Annahme über die Inzidenz der Körperschaftsteuer zugrunde. In dem Maße, wie die direkten Steuern überwälzt werden, müssten sie nämlich auch erstattet werden, sonst käme es nur zu einem steuerlichen Teilausgleich. Eine solche Aufschlüsselung der direkten Steuern getrennt nach einzelnen Ausfuhrgütern ist aber praktisch nicht möglich (und auch bei den als ,,indirekt“ bezeichneten Steuern problematisch). Eine nach dem Ursprungslandprinzip in Deutschland erhobene allgemeine Gütersteuer ist dadurch gekennzeichnet, dass die innerhalb ihrer Grenzen produzierten Güter unabhängig davon belastet werden, ob sie im Inland verwendet oder exportiert werden. Für die Verbraucherpreise der in D und W produzierten Güter gilt folgendes Arbitragegleichgewicht, wenn auch W besteuert. (21-9)

p iD (1 9 ] D ) ) p iW (1 9 ] W )

W (21-10) p Dj (1 9 ] D ) ) p W j (1 9 ] )

Auch hier sind die Konsumentenpreisrelationen in beiden Ländern gleich. Die internationale Allokation des Konsums wird nicht verzerrt. (21-11)

p iD (1 9 ] D ) p iW (1 9 ] W ) ) W p Dj (1 9 ] D ) p W j (1 9 ] )

Allerdings sind nach (21-9) und (21-10) bei ] D L ] W die Produzentenpreise unterschiedlich. Weil die die Steuern umfassenden Konsumentenpreise sich nicht unterscheiden können, fällt der Produzentenpreis in dem Land mit höherem ] niedriger aus. Zwar werden die Produzenten im Ursprungsland D zunächst versuchen (egal, ob der Verkauf in D oder W erfolgt) den Bruttopreis zu erhöhen. Der von inländischen Konsumenten zu zahlende Bruttopreis kann nicht erhöht werden, weil die Konsumenten in D bei ] D ' ] W einfach weniger besteuerte ausländische Produkte nachfragen. Die Steuer gelangt beim Grenzübergang in das Land der Verwendung W. Da auch im Ausland eine steuerbedingte Preiserhöhung über p W (1 9 ] W ) hinaus nicht möglich ist, müssen die jeweils von inländischen Produzenten zu realisierenden Preise p W und p D jeweils abhängig von der Steuersatzdifferenz ausfallen. So ergibt sich ein Nettopreis 1

Gleichfalls kompensierende Einfuhrabgaben auf importierte Güter.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

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für inländische Produzenten von p iD /(1 9 ] iD 5 ] iW ) und für das Angebot in W von D W pW i /(1 9 ] i 5 ] i ) . Damit bestimmt das Niedrigsteuerland den Nettopreis der Produ-

zenten im Hochsteuerland. Produzenten in D erleiden also bei ] D ' ] W durch das Ursprungslandprinzip einen Wettbewerbsnachteil, der sie auf Dauer von beiden Märkten verdrängen dürfte. Das Ursprungslandprinzip verzerrt bei verschiedenen Steuersätzen in D und W die internationale Produktion. Das Ursprungslandprinzip ist produktionsineffizient, aber exportneutral, weil es den Exporteuren gleich ist, in welches Land sie exportieren. Das Ursprungslandprinzip eröffnet den Anbietern verschiedene Arbitragemöglichkeiten, wenn es nicht global sondern nur für eine Teilmenge von Staaten, wie die der EU, angewendet wird. Bei dem so beschränkten Ursprungslandprinzip sind folgende Arbitragegewinne möglich 1: S Exportierte Güter aus dem Hochsteuerland werden über ein Drittland (bei Export dorthin: Steuerbefreiung) in ein Niedrigsteuerland geleitet. S Importe aus Drittländern werden nicht direkt sondern über ein Niedrigsteuerland an ein Hochsteuerland geleitet. S Güter werden aus einem Hochsteuerland über ein Drittland und über ein Niedrigsteuerland an das ursprünglich exportierende Land zurückgeleitet und fließen dort in den Verbrauch. Bei solchen Handelsumlenkungen werden die relativen Produzentenpreise nicht verzerrt. Nur die relativen Konsumentenpreise erfahren je nach Arbitragenutzung Veränderungen. Als Folge der Handelsumlenkungen fließt das Umsatzsteueraufkommen nicht dem Hochsteuerland zu. Was folgt aus dem Ergebnis, dass bei Anwendung des Ursprungslandprinzips und des Bestimmungslandprinzips unterschiedliche Steuersätze die internationale Ressourcenallokation stören? Da nach der Optimalsteuertheorie (Diamond/Mirlees 1971) auch bei zweitbesten Allokationen Verzerrungen von Produktionsentscheidungen möglichst zu vermeiden sind, sollten die Produktionsentscheidungen weitgehend unverzerrt bleiben. Das spricht für das Bestimmungslandprinzip. Die Beurteilung des Ursprungslandprinzips und des Bestimmungslandprinzips wird dadurch komplizierter, dass in der Regel nicht nur auf einer, sondern auf mehreren Stufen Steuern (und andere Abgaben) erhoben werden, die Gesamtbelastung in den meisten Fällen kaum feststellbar ist und keine Wechselkursanpassungen erfolgen können 2. Von Transaktionskosten wurde ohnehin abgesehen. d) Die Harmonisierung indirekter Steuern in der EU Offensichtlich können Gütersteuern internationale Verzerrungen hervorrufen, die sich durch konsequente Anwendung und Abstimmung der genannten Prinzipien beseitigen 1 2

Vgl. zum Folgenden Genser (1999). Wechselkursanpassungen neutralisieren aber die Effekte von Steuern nicht, wenn die Sätze auf die belasteten Größen unterschiedlich hoch sind.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

oder reduzieren lassen, aber auch durch internationale Steuerharmonisierung (gleiche Steuerarten, -bemessungsgrundlagen und -tarife in allen Ländern). Steuerharmonisierung strebt die EU im Rahmen der von ihr verfolgten Ziele – der Errichtung eines gemeinsamen Marktes und der Schaffung von Regelungen, die einen unverfälschten Wettbewerb gewährleisten – an. Wettbewerbsbeeinträchtigungen sollen beseitigt und der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gefördert werden. Diese Zielsetzung legt insbesondere eine Harmonisierung der indirekten Steuern nahe, also in erster Linie der Umsatzsteuer und speziellen Verbrauchsteuern. Zur Harmonisierung der Umsatzsteuer haben mehrere Mehrwertsteuerrichtlinien der EU das einheitliche Besteuerungsverfahren (Mehrwertsteuer) und die vereinheitlichte Bemessungsgrundlage festgelegt. Der Regelsteuersatz der Umsatzsteuer muss zurzeit mindestens 15 % betragen. Daneben dürfen die Mitgliedsländer begrenzt einen ermäßigten Steuersatz von mindestens 5 % anwenden. Ferner wurde der Kreis der Lieferungen und Leistungen sowie der Unternehmen und Körperschaften festgelegt, die von der Mehrwertsteuer befreit werden müssen oder können oder für die ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden darf (Peffekoven 2010, S. 17/18). In der EU wurde ein zur Zeit noch geltendes Übergangssystem beschlossen, das Elemente des Bestimmungs- und des Ursprungslandprinzips verwendet. Danach wird unterschiedlich verfahren, je nachdem, ob die Umsätze mit EU-Staaten oder Nichtmitgliedern („Drittstaaten“) erfolgen. Im letzteren Fall findet generell ein steuerlicher Grenzausgleich statt. Nach dem Bestimmungslandprinzip werden Exporte an NichtEU-Staaten von der Umsatzsteuer befreit. Aus Drittstaaten importierte Güter werden an der Grenze der deutschen Umsatzsteuer unterworfen („Einfuhrumsatzsteuer“), so dass sie damit ebenso hoch belastet sind wie inländische Produkte. Die Steuererhebung obliegt den Zollbehörden. Das gilt sowohl für die Einfuhr durch den privaten Verbraucher wie durch den Unternehmer, der allerdings die gezahlte Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer geltend machen kann. Wenn die Ware durch Unternehmer eingeführt wird, wird auch im Verhältnis zwischen den EU-Staaten die Umsatzsteuer zurzeit nach dem Bestimmungslandprinzip erhoben. Anfangs konnte durch umfassende Grenzkontrollen ein lückenloser Grenzausgleich der grenzüberschreitenden Warenlieferungen in jedem Mitgliedsland gewährleistet werden. Die in der EU entfallenden Grenzübergangsformalitäten erfolgen nun über ein System zusammengefasster Meldungen der Unternehmer mithilfe von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern an die nationalen Steuerverwaltungen 1. Diese Lieferungen („innergemeinschaftliche Erwerbe“) gehen also unversteuert in das Bestimmungsland und unterliegen dort der Umsatzsteuer („Erwerbsteuer“). Die nationalen Güterpreise werden so durch Umsatzsteuern im EU-Ausland nicht tangiert. Unterschiedliche Steuersätze lösen keine Ineffizienzen der Güterproduktion aus. In einer Dreiländerwelt mit D, einem anderen EU-Land F und einem Nicht-EULand R gilt für ein international gehandeltes Gut: Wenn sich im jeweiligen nationalen 1

Um die Besteuerung ohne Steuergrenzen zu gewährleisten, hat die EU-Kommission den Unternehmern umfangreiche Aufzeichnungs- und Meldepflichten auferlegt. Die Steuerbehörden haben für den innergemeinschaftlichen Datenaustausch zu sorgen.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

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Marktgleichgewicht die Konsumentenpreise für das international gehandelte Gut i ausgleichen, dann gleichen sich wegen der einheitlichen Gütersteuerbelastung ]ik in jeder Spalte k ) D, F, R von Tab. 21-2 auch die Produzentenpreise an: (21-12) p iD ) p iF ) p iR Die relativen Produzentenpreise zweier beliebiger Güter i und j sind damit unabhängig von den jeweils herrschenden nationalen Steuersätzen. Tab. 21-2 Konsumentenpreise nach reinem Bestimmungslandprinzip bei Grenzausgleich Produktionsland

Kaufland D

F

R

D

p iD (1 9 ]iD )

p iD (1 9 ]iF )

p iD (1 9 ]iR )

F

p iF (1 9 ]iD )

p iF (1 9 ]iF )

p iF (1 9 ]iR )

R

p iR (1 9 ]iD )

p iR (1 9 ]iF )

p iR (1 9 ]iR )

Quelle: Genser (1999), S. 11.

Für grenzüberschreitende Einkäufe durch Konsumenten gilt die Umsatzsteuer im Kaufland (Ursprungsland). So kann beispielsweise ein deutscher Endverbraucher in anderen EU-Ländern Verbrauchsgüter erwerben und wird dort mit Umsatzsteuer belastet, ohne in Deutschland erneut der Umsatzsteuer unterworfen zu werden. Ausnahme von dieser Regel sind der Versandhandel und der Kauf eines Kraftfahrzeugs, bei dem die Umsatzsteuer in dem Land des Verbrauchs zu zahlen ist. Beim Ursprungslandprinzip und unterschiedlichen nationalen Steuersätzen ergeben sich ArbitrageMöglichkeiten für die Konsumenten durch den Direktimport über die Grenze (Cross Border Shopping). Bei gegebener Steuerstruktur des Inlands D wägt der Konsument in seinen Kaufentscheidungen die Konsumentenpreise des inländischen Güterangebots (vgl. Tab. 21-2, Spalte 1) gegenüber jenen im EU-Land F ab (Spalte 2), soweit er als Nachfrager die Güter mit den dortigen Steuersätzen belastet kaufen kann 1. Der rationale Konsument wird in einer Welt ohne Transaktions- und Transportkosten seine Nachfrage stets dort decken, wo die Steuerbelastung am niedrigsten ist, also für ] iD + ] iF in Land D, für

] iD ' ] iF in Land F 2.

1 2

Beim Kauf von Gut i im Drittland muss der Konsument zusätzlich die deutsche Umsatzsteuer entrichten; hier entfallen Arbitrageerwägungen unter steuerlichem Aspekt. Voraussetzung: gleicher Produzentenpreis in D und F; aus einem dritten Land R eingeführte Güter werden ebenfalls ]D unterworfen.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Eine Beschränkung des Cross Border Shopping infolge ] iD L ] iF wird durch Transaktions- 1 und Transportkosten & hervorgerufen. Es ist nur dann zweckmäßig, im Niedrigsteuerland F zu kaufen, wenn (21-13) & iD + ] iD 5 ] iF , wobei vereinfachend eine proportionale Transaktionskostenfunktion angenommen wird. Die Umsatzsteuer soll letztlich den Endverbrauch eines Landes belasten. Bei grenzüberschreitenden Käufen der Konsumenten fließt das Steueraufkommen – unter Beachtung von (21-13) – nicht dem Land des Letztverbrauchers, sondern dem Niedrigsteuerland zu. Um diesen fiskalischen Effekt zu vermeiden, wird für die Besteuerung von Versandhandel und Kraftfahrzeugen die erwähnte Sonderregelung angewandt. Eine hohe Belastung mit Umsatzsteuern (unter Umständen ergänzt z.B. durch Luxussteuern und andere Verbrauchsteuern) kann in diesen Fällen dazu führen, dass von den Produzenten Preisdifferenzierung betrieben wird, also die Produzentenpreise in Ländern mit vergleichsweise hohen ]i niedriger sind als in Ländern mit niedrigem ]i. Dieser Fall liefert Anreize für den Re-Import (z.B. bei Kraftfahrzeugen, Medikamenten). Hochsteuerländer können auf die Arbitrage der Konsumenten und die Einbuße an Umsatzsteueraufkommen reagieren, indem sie ihre Steuersätze nach unten anpassen. Eine solche Entwicklung ist bisher nicht bei der Umsatzsteuer, wohl aber bei der Branntweinsteuer beobachtet worden. Als Alternative zum gegenwärtigen Übergangsverfahren werden das GemeinsamerMarkt-Prinzip (Gemeinschaftsprinzip) oder das Ursprungslandprinzip diskutiert. Beim Gemeinschaftsprinzip wird der in den EU-Ländern im innerstaatlichen Handel verwendete Vorsteuerabzug auf den grenzüberschreitenden Handel ausgedehnt. Exporte werden dann mit dem Steuersatz des Ursprungslandes belastet, der Importeur kann die „eingekaufte“ ausländische Umsatzsteuer von seiner Steuerschuld abziehen. Beim Weiterverkauf wird das Gut mit dem Mehrwertsteuersatz des Bestimmungslandes belastet. „Für die Besteuerung des grenzüberschreitenden Handels zwischen steuerpflichtigen, vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen wird auf diese Weise eine regionale Steuerinzidenz nach dem Bestimmungslandsprinzip gewährleistet. Allerdings weicht die resultierende regionale Steuerverteilung von der des Bestimmungslandsprinzips ab, denn der Importeur erhält eine Steuergutschrift von den inländischen Finanzbehörden für die vom Exporteur an die Finanzverwaltung des Auslands abgeführte Umsatzsteuer“. Folglich realisieren sowohl Nettoexportländer als auch Hochsteuerländer im Vergleich zum Bestimmungslandprinzip eine Erhöhung ihres Umsatzsteueraufkommens, während Nettoimportländer und Niedrigsteuerländer einen Verlust tragen. Ferner „ist der Vorsteuerabzug nur auf den grenzüberschreitenden Handel zwischen steuerpflichtigen, vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen, aber nicht auf die Handelsbeziehungen zwischen nichtvorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen und 1

Diese dürften durch Einführung der Europäischen Währungsunion in den Mitgliedsländern sinken.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

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die Direktimporte privater Endverbraucher anwendbar. Für diese Transaktionen gilt dann sowohl im Hinblick auf die regionale Steuerinzidenz als auch hinsichtlich der regionalen Steuerverteilung das Ursprungslandsprinzip“ (Stehn 1998, S. 233). Wird die regionale Steuerverteilung für unbefriedigend gehalten, bedarf es eines ClearingSystems, für das bisher keine Einigung erzielt wurde. Beim Ursprungslandprinzip wird die produzierte Wertschöpfung im Land ihrer Entstehung steuerlich belastet. Steuertechnisch kann eine Steuerinzidenz dann sowohl durch die Einführung des Vorsteuerabzugs an den nationalen Grenzen als auch durch einen fiktiven Vorsteuerabzug realisiert werden. Beim grenzüberschreitenden Vorsteuerabzug behält das Hochsteuerland ohne Clearing das Umsatzsteueraufkommen aus seinen EU-Exporten, während das EU-Importland dem Importeur die Umsatzsteuer des Hochsteuerlandes im Wege des Vorsteuerabzugs erstatten muss. Auch beim fiktiven Vorsteuerabzug wird an den innergemeinschaftlichen Grenzen faktisch die Vorsteuermethode angewendet; allerdings erhält der Importeur keine Steuergutschrift für die tatsächlich an den Exporteur gezahlte Vorsteuer, sondern eine Entlastung in Höhe des Betrags, der sich bei der Besteuerung nach dem inländischen Steuersatz ergeben hätte. Bei einer Weiterveräußerung gilt der traditionelle Vorsteuerabzug. Im Hinblick auf die regionale Steuerverteilung realisieren bei einer Einführung des Ursprungslandprinzips Nettoexportländer auch hier ein höheres, Nettoimportländer ein geringeres Steueraufkommen realisieren als unter den Bedingungen des gegenwärtigen Bestimmungslandprinzips. Der Fiskus des Niedrigsteuerlandes subventioniert so im Ausmaß des Steuersatzdifferenzials das Exportland. Die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer besteht für den Fall eines Übergangs auf das Ursprungslandprinzip auf der Einführung eines Clearing-Systems, das den Status quo der regionalen Steuerverteilung garantiert. Die Gültigkeit des Ursprungslandprinzips hätte auch Folgen für die Exporteure in Hochsteuerländern, deren höhere Steuerbelastung im Inland ihre Exportchancen verschlechtert (Stehn 1998, S. 234). Der Harmonisierungsprozess bei speziellen Verbrauchsteuern umfasst Steuern auf Tabak, Bier, Alkohol, Branntwein und Mineralöl, für die weitgehend identische Bemessungsgrundlagen festgelegt wurden. Bezüglich der Tarife wurden nur Mindeststeuersätze vereinbart. Keine Abstimmung wurde bei der auch mehrfach von der EUKommission vorgeschlagenen CO2/Energiesteuer erreicht (vgl. Kapitel 20.5). Ansonsten besteht die relative Veränderungssperre der sog. Systemrichtlinie. Danach dürfen Mitgliedstaaten weitere, neue Verbrauchsteuern nur erheben, sofern sie nicht mit Kontrollen an den Binnengrenzen verbunden sind. Die technische Umsetzung des Bestimmungslandprinzips erfolgt über einen internationalen Verbund von Steuerlagern. Sie ist insofern einfacher als bei der Umsatzsteuer, als bei den speziellen Verbrauchsteuern nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Herstellern und Großhändlern als Pflichtige und Zahler in Frage kommt 1. Die Verbrauchsteuern werden in der EU grundsätzlich nach dem Bestimmungslandprinzip in dem Mitgliedsland erhoben, in dem der Verbrauch stattfindet. Ausnahme: Beim Warenerwerb durch private Verbraucher im Reiseverkehr gilt das Ursprungslandprinzip. 1

Vgl. ausführlicher Reding/Müller (1999), S. 451 ff.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

4. Die Besteuerung internationaler Faktoreinkommen Nun ist zu untersuchen, wie zwischenstaatliche Faktoreinkommen steuerlich erfasst werden können und wie unterschiedliche Verfahren zu beurteilen sind. Es geht um direkte Steuern, d.h. praktisch um Einkommen- und Körperschaftsteuer. Zu den zwischenstaatlichen Faktoreinkommen rechnen insbesondere Zinsen auf ausländische Wertpapiere, Dividenden und andere Ausschüttungen ausländischer Unternehmen und Arbeitseinkommen von Pendlern, wobei die Besteuerung von Kapitaleinkommen im Mittelpunkt steht. a) Das Wohnsitz- und das Quellenprinzip Die Besteuerung internationaler Faktoreinkommen kann systematisch auf der Grundlage des Wohnsitzprinzips oder des Quellenprinzips angestrebt werden: S Beim Wohnsitz(land)prinzip sind Steuern nur nach nationalen Gesichtspunkten unabhängig davon zu zahlen, wo – im Inland oder Ausland – die Einkommen erzielt werden. Man spricht hier auch vom Global- oder Welteinkommensprinzip, weil das gesamte Welteinkommen des Steuerpflichtigen herangezogen wird. S Beim Quellen(land)prinzip werden die internationalen Faktoreinkommen nur im Land der Einkommensentstehung und unabhängig vom Wohnsitz des Faktoreigners versteuert. b) Beurteilung der Prinzipien hinsichtlich der Gerechtigkeit Die Beurteilung der internationalen Besteuerung wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches dieser Prinzipien angewendet wird und, insbesondere, welche Abstimmung im Rahmen der internationalen Finanzordnung besteht. Übersicht 21-3 zeigt verschiedene Möglichkeiten. Übersicht 21-3 Verfahren für die Besteuerung internationaler Faktoreinkommen Quellenland besteuert die FaktorWohnsitzland einkommen besteuert die Faktoreinkommen Doppelbesteuerung

besteuert die Faktoreinkommen nicht Wohnsitzprinzip

besteuert die Faktoreinkommen nicht

Steuerfreiheit

Quellenprinzip

Zur Doppelbesteuerung kommt es, wenn die Besteuerung der Faktoreinkommen unabhängig voneinander im Quellenland, also dem Land der Einkommensentstehung, und im Wohnsitzland des Einkommensbeziehers erfolgt. Sie kann nur dann vermieden werden, wenn sich alle Länder einheitlich einem der Prinzipien anschließen. Ferner müssen beim Quellenprinzip der Begriff der Einkommensquelle in jedem Land in

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

593

gleicher Weise bzw. beim Wohnsitzprinzip der Begriff „Wohnsitz“ eindeutig und übereinstimmend definiert werden. Bei Individuen werden zur Definition des Wohnsitzes „verschiedene Konzepte verfolgt: Staatsbürgerschaft, Wohnort, physische Präsenz für eine bestimmte Periode und Kombinationen dieser Merkmale. Bei Unternehmen wird als ,Wohnsitz’ (besser: Standort) entweder der Sitz des Unternehmens (z.B. laut Handelsregister) oder der Sitz des Managements herangezogen“ (Peffekoven 1983, S. 242). Die Besteuerung der Einkommensteile führt bei beiden Prinzipien nur dann zu einer gleich hohen individuellen Belastung, wenn eine proportionale Besteuerung (ohne Freibeträge) mit weltweit einheitlichem Satz vorliegt. Auch der vierten Möglichkeit, der generellen Steuerfreiheit, kommt eine gewisse Bedeutung in der Praxis zu, die viele Fälle der Steuerumgehung kennt (z.B. Steueroasen; ,,Treaty-Shopping“, d.h. Ausnutzung unterschiedlicher Doppelbesteuerungsabkommen; Umqualifizierungen von Einkunftsarten). Bei Anwendung des Wohnsitzprinzips werden alle Bürger, die ihren Wohnsitz in einem Land haben, dort einkommensbezogen gleichbehandelt. Hierzu unterliegt ihr gesamtes Welteinkommen der Besteuerung (unbeschränkte Steuerpflicht), also unabhängig davon, ob die Einkommen im Inland oder Ausland erzielt werden. Die Art des Steuertarifs spielt keine Rolle. Beziehen Bürger ihr Einkommen aus einem anderen Land, können sie dort im Verhältnis zu dessen Bürgern und zu Ausländern anderer Herkunft steuerlich abweichend belastet werden. So werden in Frankreich bezogene Kapitaleinkünfte eines in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen nur hier zusammen mit seinen anderen Einkünften belastet. Die Anwendung des Wohnsitzprinzips ermöglicht also eine auf das Gesamteinkommen abstellende Belastung der Steuerzahlung und führt so zur interpersonellen Steuergerechtigkeit. „Auch die internationale Aufkommensgerechtigkeit ist erfüllt, wenn als Gerechtigkeitskriterium eine Steueraufkommensverteilung nach dem Wohnsitz des Steuerpflichtigen zugrundegelegt wird“ (Genser/Wiegard 1995, S. 45). Nach dem Quellenprinzip wird nur das im jeweiligen Land entstandene Einkommen berücksichtigt, so dass die erwähnten Kapitaleinkünfte ausschließlich in Frankreich der Besteuerung unterliegen. Steuerzahler mit gleichem Bruttoeinkommen aber unterschiedlicher Zusammensetzung nach Herkunftsländern werden dann in der Regel unterschiedlich hohe Einkommensteuern zahlen. Interpersonelle Gleichbehandlung im Inland ist so nicht gewährleistet. Das Quellenprinzip ermöglicht eine Gerechtigkeit zwischen den Nationen insofern, als es dem Quellenland eine Belastung ausländischer Faktoreigner für die Nutzung seiner Infrastruktur zur Einkommenserzielung erlaubt. Eine solche Interpretation einer Äquivalenzsteuer rechtfertigt allerdings nicht beliebig hohe Steuersätze auf ausländische Einkünfte. Auf welcher dieser beiden Grundlagen horizontale Gerechtigkeit interpretiert werden soll, ist letztlich nicht befriedigend zu beantworten. Eine persönliche Einkommensteuer ist allerdings nur am Wohnsitz des Bürgers möglich. Die Durchsetzung des Wohnsitzprinzips erfordert Informationen aus allen Ländern, aus denen die Steu-

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

erpflichtigen Einkommen beziehen. Das führt zu hohen Transaktionskosten bei Gelingen. Allerdings ist ein Zugriff auf die Daten anderer Länder häufig nicht möglich. c) Beurteilung der Prinzipien unter weltweiter und nationaler Effizienz: Ein einfaches Modell Bedeutsam für die Wahl zwischen verschiedenen Besteuerungsprinzipien ist, wann die internationalen Ressourcen effizient eingesetzt werden. Zunächst soll bei Geltung des Quellenprinzips untersucht werden, wie unterschiedliche einkommensteuerliche Belastungen auf die Allokation der Ressourcen wirken. Da Kapital der mobilste Faktor ist, geht es hier primär um Kapitaleinkommen; darunter sollen alle Einkommensteile verstanden werden, die nicht aus unselbständiger Arbeit stammen. Angesichts international verbundener Kapital- und Finanzmärkte lassen sich Kapital und Kapitaleinkünfte nicht ohne Rücksicht auf die Verhältnisse in anderen Ländern besteuern. Betrachtet wird ein güterwirtschaftliches Zwei-Länder-Modell (Inland und Ausland) bei vollkommener Kapitalmobilität. Kapitalanlagen können zwischen Inland und Ausland jederzeit ohne zeitliche Verzögerung und in der gewünschten Menge in andere Kapitalanlagen umgewandelt werden; ebenso besteht weltweit die Möglichkeit der Kreditaufnahme um Investitionen durchzuführen. Bei vollkommener Mobilität und ohne Kapitaleinkommensbesteuerung wird das Kapital so eingesetzt, dass der Grenzertrag weltweit gleich ist. Wäre dies nicht der Fall, könnte man das Welteinkommen einfach erhöhen, indem das Kapital von Ländern mit niedrigem zu Ländern mit höherem Grenzertrag umgeleitet wird. Die weltweite Effizienz (,,world efficiency") verlangt also (21-14) GE D ) GE W , wobei GED den Grenzertrag in Deutschland und GE W den Grenzertrag in der übrigen Welt darstellen. Das System der Besteuerung der internationalen Faktoreinkommen veranlasst gewinnmaximierende Unternehmen aber, ihre Kapitalallokation weltweit so vorzunehmen, dass die Grenzerträge nach Besteuerung in allen Ländern gleich sind: (21-15) (1 5 ] W )GE W ) (1 5 ] D )GE D . Offensichtlich wird (22-14) nur dann erfüllt, wenn ]W = ]D. Für eine weltweite effiziente Allokation der Ressourcen (,,internationales Pareto-Optimum“) müssen die Erträge des Kapitals daher, wo immer es eingesetzt wird, mit demselben Tarif belastet werden. Bei ]D L ]W ist also weltweit kein effizienter Einsatz des Kapitals zu erwarten. Liegt ausschließlich eine Besteuerung nach dem Quellenprinzip vor, werden die Kapitalanleger ihr Geld in die Länder leiten, in denen die höchsten Nettoerträge zu erwarten

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

595

sind. Dadurch wird Kapital in einzelnen Ländern knapper, in anderen reichhaltiger. Die Folge wird eine Veränderung der Bruttoerträge der Länder sein. Die internationale Kapitalbewegung hört auf, wenn die Nettorenditen der verschiedenen Länder übereinstimmen. Dann lohnt sich ein Kapitaltransfer nicht mehr. Dies verdeutlicht Abb. 21-1. Abb. 21-1 Auswirkungen einer Kapitaleinkommensbesteuerung in Land D

GE D

GE W C

GE0

GE D (1 5 ])

GE

A

KD

K1

GE0(1-])

B K0

KW

Bei gegebenen Anlagemöglichkeiten werden ohne Besteuerung die Investitionen auf die Länder D und W so verteilt, dass GED = GEW. Gleich hohe proportionale Besteuerung führt bei unveränderter Mittelverwendung K0 nur zu sinkenden Nettorenditen 1 in beiden Ländern GE0(1 – ]) statt GE0. Bei unterschiedlichen Steuersätzen (gleichbedeutend: Besteuerung nur in einem Land) verschiebt sich das Gleichgewicht von K0 auf K1, also zu Lasten des Hochsteuerlandes. Den globalen Outputverlust infolge des fehlenden Ausgleichs der (Brutto-) Grenzerträge und damit der Fehlallokation des Kapitals misst das Harberger-Dreieck ABC. Da die gleichen Nettorenditen aber bei verschiedenen Bruttorenditen erzielt werden, signalisiert das Kapitalmarktgleichgewicht keine weltweite Effizienz. Anders ist die nationale Effizienz zu beurteilen. In Land D liegt die gleiche Steuerbelastung inländischer und ausländischer Investoren vor, eine steuerliche Diskriminierung von Produktionsfaktoren nach ihrer Herkunft wird vermieden. Das Quellenprinzip sichert insofern eine Kapitalimportneutralität. Sie bezieht sich auf den Einfluss der internationalen Besteuerung aus der Sicht eines Landes, in dem Kapital aus anderen Ländern investiert wird. Handelt es sich allerdings um ein kleines Land, dessen Kapitalexport die internationale Nettorendite nicht beeinflusst, ist Abwandern zweckmäßig. Eine Kapitalexportneutralität besteht nicht. Auch bei Anwendung des Wohnsitzprinzips ist ein internationales Kapitalmarktgleichgewicht gegeben, wenn die Nettorenditen ausgeglichen sind. Die nationale Steuerpolitik belastet beim Wohnsitzprinzip die Kapitalerträge generell mit dem Steuersatz ]D, egal ob sie im Inland oder Ausland entstanden sind. 1

GEW(1-]) ist in der Abbildung nicht eingezeichnet.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

(21-16) GE D (1 5 ] D ) ) GE W (1 5 ] D ) Die Abgabe beeinflusst dann nicht die Entscheidung, ob die Grenzinvestitionen in D oder W getätigt werden sollen; hierfür ist (wie ohne Besteuerung) die gleiche Bruttorendite maßgeblich. Ob die Anlage bzw. Produktion im Inland oder Ausland getätigt wird, wird nicht durch eine inländische Steuer beeinflusst. Es liegt Kapitalexportneutralität vor, die sich auf den steuerlichen Einfluss aus der Sicht des Landes bezieht, in dem der Kapitalanleger seinen Wohnsitz hat. Wendet man auch bei der Besteuerung der Faktoreinkommen das Produktionseffizienztheorem an, sind Verzerrungen der Produktionsentscheidungen auch bei zweitbesten Allokationen zu vermeiden. Um die Produktionsentscheidungen unverzerrt zu lassen, ist daher bei Kapitaleinkommensteuern das Wohnsitzlandprinzip anzuwenden. Eine Maximierung des Welteinkommens könnte aber auch bei Anwendung des Quellenprinzips durch ein Anrechnungsverfahren erreicht werden. Hierbei wird das Gesamteinkommen eines Wirtschaftssubjekts ermittelt. Von der darauf entfallenden inländischen Steuer werden die im Ausland gezahlten Steuern voll abgezogen (Anrechnungsmethode), so dass es ggf. sogar zu einer Steuerrückzahlung kommen kann. Tatsächlich wird aber regelmäßig die Anrechnung auf jenen Betrag begrenzt, der bei entsprechender Investition im Inland entstehen würde (Teilanrechnung). Eine darüber hinausgehende Steuer würde zur Definitivbelastung. Das liegt daran, dass das Verhalten ausländischer Staaten nicht – wie implizit im Modell unterstellt – unabhängig von den Handlungen Deutschlands ist. Eine Ankündigung Deutschlands, die gesamte ausländische Steuerschuld ihrer Individuen und Unternehmen anzurechnen, wäre ein Anreiz für ausländische Staaten, ihre eigenen Steuerbelastungen deutscher Unternehmen erheblich zu erhöhen (was allerdings praktisch länderbezogen nur schwer möglich ist). Dadurch wären aber die deutschen Unternehmen nicht gezwungen, diese Staaten zu verlassen, weil die deutsche Steuerschuld stets um den Betrag der ausländischen Steuererhöhung verringert würde. Es käme folglich zu einem Kapitaltransfer von Deutschland ins Ausland. Mit einer Begrenzung der Anrechnung kann diese Wirkung vermieden werden. Andererseits ist der (auch unter zahlungsbilanzpolitischen Gründen erfolgende) Versuch, durch Verzicht auf eine Quellenbesteuerung ausländische Kapitaleigner zur Investition zu veranlassen (und so den Kapitalimport zu fördern), erfolglos, wenn in den Kapitalexportländern ein Anrechnungsverfahren praktiziert wird. Die Steuersenkung im Quellenland würde eine Steuererhöhung im Wohnsitzland nach sich ziehen, sofern die Quellensteuer dort voll anrechenbar ist. Weltweite Effizienz verlangt letztlich eine vollständige Harmonisierung zwischen den Ländern. Beschränkt man die Betrachtung auf die Maximierung des Inlandsprodukts einer einzelnen nationalen Volkswirtschaft, ist (21-16) keine Bedingung für nationale Effizienz. Die ausländische Steuerbelastung muss also aus der Sicht Deutschlands als Kosten aus der Ertragsrate herausgerechnet werden, so dass nationale Effizienz verlangt: (21-17) (1 5 ] W )GE W ) GE D .

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Der Bruttogrenzertrag ausländischer Investitionen muss daher größer als bei weltweiter Einkommensmaximierung sein. Aus nationaler Sicht erfordert die Welteinkommensmaximierung eine zu hohe Investition im Ausland. Als Folge einer nichtabgestimmten Besteuerung nach dem Wohnsitzprinzip und dem Quellenprinzip kann es zu einer Wettbewerbsbenachteiligung ausländischer Steuerpflichtiger und internationale Faktoreinkommen beziehender inländischer Steuerpflichtiger gegenüber anderen inländischen Steuerpflichtigen kommen. Hierdurch wird die internationale Mobilität der Produktionsfaktoren beeinträchtigt. Aber auch bei genereller Anwendung eines der beiden Besteuerungsverfahren kann es zu internationalen Verzerrungen kommen, und zwar dann, wenn die Steuern international nicht vollständig harmonisiert sind. Das Wohnsitzprinzip kann die internationalen Produktionsentscheidungen dann verzerren, wenn Unternehmen auch den Einkommensteuern ihrer Beschäftigten Rechnung tragen müssen, die in deren Heimatländern anfallen. Beim Quellenprinzip sind Einflüsse auf die Entscheidungen über die Niederlassung möglich, wenn die einkommensteuerlichen Belastungen in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch sind. Soweit das Wohnsitzprinzip mit der Staatsbürgerschaft eines Landes verbunden ist, kann man sich der Einkommensteuer nur durch Wechsel der Staatsbürgerschaft entziehen. Das verringert den Anreiz zu einer räumlichen Allokationsänderung aus einkommensteuerlichen Gründen. Im Zuwanderungsland führt die Steuersenkung (bei flexiblen Löhnen) zu einer Verminderung der relativen Knappheit der Arbeit und sinkenden Reallöhnen. Dadurch kann der Zuwanderungsanreiz entfallen (außer wenn Wohn- und Dienstort auseinanderfallen) 1. Wenn Individuen ihren Wohnsitz oder Dienstort aus einem Land verlagern, verliert dies nach dem Wohnsitzland seinen Anspruch auf Besteuerung des Einkommens. Die Abwanderung kann mit einem ,,brain drain“ verbunden sein: Wissen, Qualifikation, Fähigkeiten gehen einem Land verloren. Dies vollzieht sich insbesondere zu Lasten weniger entwickelter Länder. Ob und ggf. wie ins Ausland abgewanderte Bürger von ihrem Herkunftsland einkommensteuerlich belastet werden sollen (wenn dies überhaupt möglich ist), hängt auch davon ab, welche Wohlfahrtsfunktion man zugrunde legt – und hierbei insbesondere, ob der Nutzen der Auswanderer eingeschlossen werden soll. d) Die Abstimmung der internationalen Besteuerung von Bruttoeinkommen Zur Vermeidung bzw. Milderung von Überschneidungen, die zur Doppelbesteuerung in mehreren Staaten führen können, müssen die einzelnen Länder entweder nur für das Inland geltende (unilaterale) Maßnahmen ergreifen oder aber internationale Doppelbe1

Ähnliche Effekte bewirkt eine Verbesserung der Sozialtransfers, d.h. von Sozialhilfe, Kindergeld oder Wohngeld.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

steuerungsabkommen (DBA) abschließen. Deutschland unterhält gegenwärtig mit knapp rund 100 Staaten allgemeine DBA zur Vermeidung der Doppelbesteuerung mit Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen- und Erbschaftsteuer. Sie lehnen sich weitgehend an das OECD-Musterabkommen von 1963, neugefasst 1977, an. In DBA wird generell anerkannt, dass das Land, in dem Faktoreinkommen entstehen, ein Besteuerungsrecht gegenüber dem Wohnsitzland des Faktoreigentümers hat. Die meisten DBA schränken den sachlichen Umfang der Besteuerung durch Zuweisung des Besteuerungsrechts nach der Art der Einkünfte und dem Ort der Einkünfteerzielung ein. Die Doppelbesteuerung kann grundsätzlich nach zwei Methoden vermieden werden, dem schon behandelten Anrechnungsverfahren und dem Freistellungsverfahren. Beim Freistellungsverfahren werden die Einkünfte nur in einem Land, in der Regel im Quellenland, besteuert. Dann bleiben z.B. in Schweden versteuerte Gewinne nach Ausschüttung an die Muttergesellschaft in Deutschland unversteuert. Diese Methode scheitert als unilaterale Maßnahme an den unterschiedlichen Steuerrechtsordnungen der einzelnen Länder und an der Unmöglichkeit, alle Staaten in eine derartige Vereinbarung einzubeziehen. Da die Freistellung zu Steuerausfällen im freistellenden Land führt, bedarf es in der Regel entsprechender Gegenleistungen zu seinem Zustandekommen 1. Mit dem Freistellungsverfahren ist meistens ein Progressionsvorbehalt vereinbart. Wenn ein Teil der Einkünfte im Inland und ein Teil im Ausland besteuert wird, das steuerpflichtige Einkommen also aufgeteilt wird, erfährt die Progressionswirkung eine Abschwächung im Vergleich zur Belastung der gesamten Einkünfte nur in einem Land. Nach dem Progressionsvorbehalt bleiben zwar die Einkünfte, für die das Besteuerungsrecht dem anderen Land zugeteilt ist, im Inland steuerfrei. Sie werden aber bei der Berechnung des Durchschnittssteuersatzes für die übrigen Einkünfte berücksichtigt. Damit entfällt der tarifliche Vorteil der Aufteilung der Einkünfte. Deutschland schließt bezüglich sog. ,,aktiver“ Einkünfte DBA ausnahmslos auf der Grundlage des Freistellungsverfahrens ab. So wird Steuerinländern bezüglich ihrer ausländischen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus unternehmerischer Tätigkeit und aus Vermögen Freistellung von deutscher Einkommensbesteuerung gewährt. Der Nachteil von DBA anstelle einer allgemeinen Steuerharmonisierung besteht darin, dass das Netz bilateraler Doppelbesteuerungsabkommen immer materiell und regional uneinheitlich und lückenhaft ausfällt. Mangelnde Abstimmung bei Gewinnverlagerungen international operierender Unternehmen oder fehlender internationaler Verlustausgleich sind weitere mit DBA kaum lösbare Probleme. Die vielen DBA beeinträchtigen auch die Möglichkeit der Regierung, einfach die Grundstruktur der Körperschaftsteuer zu verändern. Besteht kein DBA, wird das Steuerabzugsverfahren angewendet, bei dem die im Ausland gezahlten Steuern bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage der inländi1

Bei allen Verfahren können hier schon vor Einführung der Abgeltungsteuer Probleme bei einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit auftreten, soweit diese am Gesamteinkommen gemessen wird.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

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schen Steuer abgezogen werden. Hierdurch kommt es regelmäßig nur zu einer Abschwächung der Doppelbelastung. e) Harmonisierung der direkten Steuern in der EU In der EU besteht keine Einigkeit darüber, ob und welchem Umfang eine Harmonisierung der direkten Steuern erfolgen soll. Das beruht auch auf einer unterschiedlichen Beurteilung, wann die Bedingung einer „unmittelbaren Auswirkung“ dieser Abgaben auf das Funktionieren des Binnenmarktes erfüllt ist. Es dürfte weiter nationale Steuergebiete mit eigenen Steuersystemen geben 1. Ein Richtlinienvorschlag der EUKommission liegt u.a. zur Schaffung eines gemeinsamen Körperschaftsteuersystems vor. Zumindest eine erste Stufe, eine gemeinsame Bemessungsgrundlage in der EU dürfte realisiert werden. Ob dies allerdings positiv zu beurteilen ist, ist noch zu untersuchen. Von besonderer Bedeutung ist die Kapitaleinkommensbesteuerung. Kapitaleinkommen werden gegenwärtig in Form von Unternehmenssteuern (Körperschaft- und Gewerbesteuer), im Rahmen der Einkommensteuer und in Form von Quellensteuern auf Kapitaleinkommen belastet. Harmonisierungsversuche der EU-Kommission blieben bisher nur begrenzt erfolgreich. Durch Beschlüsse des Ministerrats wurde festgelegt, dass nach einer längeren Übergangszeit Kontrollmitteilungen über Kapitaleinkommen an EU-Ausländer an deren Heimatstaaten geleistet werden oder eine Zinsmindestbesteuerung erfolgt. Aber ist es überhaupt erforderlich – wie die bisherigen Ausführungen nahe legen – oder ist es sogar falsch, die europäische Steuerpolitik überhaupt oder stärker als bisher zu koordinieren? 5. Steuerwettbewerb a) Begründungen für Steuerwettbewerb Steuerwettbewerb wird meist als der Einsatz steuerpolitischer Instrumente verstanden, um Kapital und/oder Arbeitskräfte, soweit diese mobil sind, zu attrahieren. Die Rentabilität einer Investition in Deutschland im Vergleich zu der in anderen Ländern wird durch Unterschiede bei der Unternehmensbesteuerung, bei der Infrastruktur u.a. beeinflusst. Steuern stellen daher wichtige Standortfaktoren dar. Internationaler Steuerwettbewerb wird aus folgenden Gründen positiv bewertet: S Steuerwettbewerb übt einen Druck auf Länder mit besonders hohen Abgabenbelastungen aus und trägt so auch zu einer Beschränkung des Ausgabenwachstums bei. Daher sehen Vertreter der Leviathan-These hier einen Schutz der Bürger vor der fiskalischen Gier des Staates. Sie gehen von einer Situation ohne politischen Wettbewerb aus, in der die politischen Entscheidungsträger ausschließlich ihre eigenen Ziele ver1

Allerdings besteht immer die „Gefahr“, dass der Europäische Gerichtshof mit der Begründung der Diskriminierung nationale Regelungen aufhebt und so zur Harmonisierung zwingt.

600

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

folgen (können). Steuerharmonisierung/-zentralisierung würde die Position des Leviathans verbessern. S Wettbewerb ist nicht nur im privaten Sektor wünschenswert, er ist vielmehr Teil eines umfassenden Systemwettbewerbs. Allerdings stellt sich die Frage, wo die Grenzen des Steuerwettbewerbs nach unten liegen (Satz null für alle?). Diese Frage wird unten behandelt. Steuerharmonisierung, also internationale Abstimmung von Bemessungsgrundlage und Tarif, schränkt Steuerwettbewerb ein. Daher wundert es nicht, dass neben der positiven Bewertung der internationalen Steuerharmonisierung eine kritische Bewertung der Steuerharmonisierung besteht. Hierbei wird angeführt: S Die einzelnen Staaten wissen am besten, wie den international differierenden Präferenzen ihrer Staatsbürger Rechnung zu tragen ist. S Insbesondere der Wunsch nach umfangreicheren öffentlichen Aufgaben und Ausgaben lässt sich bei Steuerharmonisierung nicht mehr finanzieren. S Wohlfahrtseinbußen können dadurch entstehen, dass EU-Vorschriften historisch gewachsene Steuerstrukturen ersetzen, die die Folge kultureller, sozialer oder politischer Traditionen sind und die Wirtschaftsorganisationen sowie die Entscheidungen der Unternehmen beeinflussen. S Der Handlungsspielraum für eine nationale Wirtschaftspolitik wird durch Steuerharmonisierung zu stark eingeschränkt. S Internationale Abstimmungen fördern letztlich Steuererhöhungstendenzen. Weil verschiedene Länder am Kampf um die Besteuerungsgrundlagen teilnehmen, bestehen strategische Anreize. So kann ein Quellenland in- und ausländische Faktoreinkommen hoch besteuern, wenn weltweit das Wohnsitzlandprinzip mit Anrechnung besteht und die Belastung aus der Sicht des Investors so neutralisiert wird. Ist dagegen solch ein Nachholeffekt bei der Einkommensbesteuerung nicht zu erwarten, wird sich das Quellenland eher für niedrige Faktorsteuern entscheiden, um so mobile Faktoren anzuziehen. In beiden Fällen sind Vergeltungsmaßnahmen möglich. In der EU wurde ein Verhaltenskodex (allerdings ohne rechtliche Verbindlichkeit) gegen unfairen Wettbewerb bei der Unternehmensbesteuerung beschlossen 1. Dazu rechnen beispielsweise die Bereitschaft, Unklarheiten über die Voraussetzungen von Steuervergünstigungen zu beseitigen, die Möglichkeit der Steuerbehörden abzuschaffen, dass diese über die Steuerlast individuell mit dem Steuerpflichtigen verhandeln können oder die Beendigung des Zugangs zu Steuervorteilen ausschließlich für Gebietsansässige. Bedeutsam für den Steuerwettbewerb ist schließlich der Gewinnbegriff. Bei international operierenden Unternehmen mit Forschung, Produktion und Management in verschiedenen Ländern ist eine nationale Gewinnabgrenzung schwierig.

1

Dies wird allerdings auch als ein erster Schritt bei dem Versuch gesehen, den Steuerwettbewerb durch umfassendere Harmonisierung einzuschränken bzw. auszuschalten.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

601

b) Nationalstaatliche optimale Politiken im Steuerwettbewerb Die Auswirkungen des Steuerwettbewerbs werden für eine kleine offene Volkswirtschaft untersucht. Angenommen, die internationale Nettoertragsrate des Kapitals ist r; sie wird in anderen Ländern erwirtschaftet und kann vom Staat nicht beeinflusst werden. Das Land produziert seinen Output mit Hilfe von Kapital, Arbeit und anderen Produktionsfaktoren. Das Kapital soll international mobil sein und kann entsprechend überall eingesetzt werden. Die fallende Kurve in Abb. 21-2 zeigt c. p. den Grenzertrag des Kapitals GEK. Vor Einführung einer Quellensteuer auf Kapitaleinkommen werden K1 Einheiten des Kapitals im Inland investiert. Das Kapital wird mit dem Weltmarktzins r in Höhe seiner Grenzproduktivität entlohnt. Die Fläche unter der Kurve GEK gibt das Inlandsprodukt (Flächen A, B, C, D und E) bei einem Kapitaleinsatz K1 wieder. Das Inlandsprodukt wird verteilt auf Kapitaleinkommen (A und E) und Arbeitseinkommen (B, C und D). Abb. 21-2 Die Besteuerung eines mobilen Faktors GEK

C r+]

B

r

D E

A

0

K0

GEK K1

Faktoreinsatz

Nach Einführung einer Steuer auf Kapitaleinkommen mit dem Satz ] steigen die Kapitalkosten auf r + ]. Das ist jetzt die Bruttokapitalrendite nach Berücksichtigung der Besteuerung, das gesamte Bruttokapitaleinkommen entspricht der Summe der Flächen A + B, das Einkommen der immobilen Faktoren der Fläche C. Die Quellensteuer wird auf die immobilen Faktoren überwälzt. Das Steueraufkommen (B) ist kleiner als die Abnahme der Löhne (B + D) als Folge der Besteuerung. Die Traglast ist also größer als die unmittelbare Steuerlast, und zwar um den Excess Burden (D), den die Ausweichreaktionen der Investoren erzeugen. Die Wohlfahrtsverluste treffen die immobilen Arbeitsanbieter, nicht aber die Kapitaleigner. D ist daher das Maß für die Ineffizienz der Kapitaleinkommensbesteuerung. Wenn der Staat eine Kapitaleinkommensteuer einführt oder erhöht, werden andere Staaten nicht mitziehen. Kapital fließt dann zwar ins Ausland ab, allerdings nicht in vollständiger Höhe K1. Das Ausland profitiert folglich von jeder Steuererhöhung im Inland, weil die ins Ausland fließenden Mittel die dortige Steuerbasis erhöhen und so deren Versorgung mit öffentlich bereitgestellten Leistungen verbessern können. Daher

602

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

liegt es nahe, eher eine Politik der Verringerung statt Erhöhung der Quellensteuer zu betreiben. So verringert eine Senkung des Steuersatzes ] die Ineffizienz der Kapitaleinkommensbesteuerung und lässt bei ] = 0 das Arbeitseinkommen maximal und die Zusatzlast null werden. Würde das gleiche Steueraufkommen B wie bei der Besteuerung des Kapitaleinkommens nun durch Belastung des immobilen Faktors ersetzt, wäre der verbleibende Nettozuwachs der mobilen Faktoren um D größer. Ein Abbau der Besteuerung des mobilen Faktors bewirkt einen Nettowohlfahrtsgewinn. Das Argument rechtfertigt also Steuersenkungen (in dem Beispiel bis ] = 0) 1. Nun geht jede Steuersenkung zu Lasten des Auslands, da das herausfließende Kapital die dortige Steuerbasis verringert. Die Frage ist dann natürlich, wie das Ausland auf diese fiskalische Externalität reagiert. Bei kooperativem Verhalten berücksichtigt das Ausland diesen Effekt auf seine Wohlfahrt nicht. Bei nichtkooperativem Verhalten wird es eine Gegenstrategie wählen. Abb. 21-3 Bertrand-Gleichgewicht bei Steuerwettbewerb ]D RD RW

0

]W

Abb. 21-3 zeigt Reaktionskurven bei zwei Steuersystemen in D und W. Der Anpassungsprozess, der zu einem Nash-Gleichgewicht führt, in dem kein Akteur veranlasst wird sein Verhalten zu verändern, stellt sich folgendermaßen dar: Land D senkt seinen über W liegenden Steuersatz geringfügig, um auf diese Weise Kapital nach D zu locken bzw. weiteren Abfluss zu vermeiden. Die Maßnahme ist nur erfolgreich, d.h. führt zu keinem Aufkommensverlust, wenn der Abstand aus der Sicht von Land W noch so groß ist, dass es nicht reagiert. Wenn W aber seinerseits den Steuersatz senkt und D darauf wieder reagiert usw. setzt ein Prozess permanenten Unterbietens der Steuersätze an, bis im Gleichgewicht ] = 0 für beide erreicht ist. Bei einer Reaktionskurve (21-18) ] D ) 0 D ] W

mit 0 D + 1 und

(21-19) ] W ) 0 W ] D

mit 0 W + 1 .

1

Bei dieser Analyse wird der Zusammenhang zwischen Kapitaleinsatz und Nutzung öffentlicher Infrastruktur vernachlässigt.

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

603

ist ein Nash-Gleichgewicht erst erreicht, wenn sich RD und RW schneiden, was bei Steuersätzen von null in D und W geschieht (21-20) ] D ) ] W ) 0 . Das entspricht der Bertrand-Situation, nach der Anbieter von privaten Gütern im Duopol zu Preissenkungen veranlasst werden, bis keine Gewinne mehr möglich sind. Dann ist GK = 0 1. Ob dieses Modell auf die Realität übertragen werden kann, ob Steuerwettbewerb also zu einer Erosion der Kapitaleinkommensbesteuerung („Race to the bottom“) führt, ist umstritten. So sind an diesem Steuerwettbewerb viele Staaten beteiligt, auf die teilweise überhaupt nicht Einfluss genommen werden kann. Ferner können institutionelle Bedingungen den Steuerwettlauf nach unten beschränken. Diese Sicht des Steuerwettbewerbs steht im Gegensatz zur positiven Einschätzung im Rahmen des Tiebout-Modells in einem Föderalstaat. Dort kommt es aber auf die Nettowirkung aus Steuern und Leistungen des Staates an (vgl. das 26. Kapitel). Häufig liegen keine reinen öffentlichen Güter vor, so dass Konsumrivalität nur eingeschränkt besteht. Dann können nämlich (auch) solche öffentlichen Leistungen erbracht werden, die den Präferenzen der Bürger entsprechen, und es wäre durchaus positiv, dass der Steuerwettbewerb dazu beiträgt, die Effizienz der staatlichen Verwaltung zu erhöhen und öffentliche Leistungen äquivalenzmäßig bereitzustellen. Dabei ist es wichtig, welche Investitionen genau von der Quellenbesteuerung betroffen sind: Portfolioinvestitionen oder Erweiterungen des Realkapitals. Wenn es im Steuerwettbewerb zu einer Erosion bei der Besteuerung von Realkapital kommt, droht das Aufkommen an Unternehmenssteuern zu verschwinden und die Beschäftigung zu sinken. Ob dies eintritt, hängt von der effektiven und ökonomisch letztlich relevanten steuerlichen Grenzbelastung der Investitionen ab, die nicht allein durch die Höhe der Steuersätze, sondern auch durch andere Elemente des Steuersystems bestimmt ist (Fuest 1999, S. 383/4). Die Frage ist weiter, ob das Steuersystem, insbesondere die Unternehmensbesteuerung, so transparent ist, dass ein Vergleich zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften ohne differenzierte Analyse möglich ist. Will man folglich einen ruinösen Wettbewerb hin zum Bertrand-Gleichgewicht vermeiden, ist es zweckmäßig möglichst für Informationsnachteile ausländischer gegenüber inländischen Investoren an den Kapitalmärkten der verschiedenen Länder zu sorgen 2. Wenn die Bindung des Kapitals bei umfassender Information schwieriger ist, wird auch jegliche Form der Harmonisierung schädlich, weil sie die Transparenz erhöht. Das gilt etwa für die Angleichung der Bemessungsgrundlagen, Tarife, Abschreibungs- und Zahlungsbedingungen sowie weiterer Ausgestaltungen.

1

2

Bei rein öffentlichen Gütern sind dagegen die Grenzkosten zusätzlicher Nutzung gleich null, so dass ein Ende des Wettbewerbs erst bei ] = 0 erreicht wird. Dieser Aspekt wurde aber hier ausgeklammert. Diese unzureichende Information ist für Gordon/Bovenberg (1996) ein Grund für die tatsächlich zu beobachtende beschränkte internationale Kapitalmobilität.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Welche Strategien bieten sich an, damit die Steuerbasis trotzdem erhalten bleiben kann? Konrad (2007) weist darauf hin, dass Maßnahmen zweckmäßig sind, die die Transparenz erschweren bzw. trotz Transparenz die Standorte attraktiv erscheinen lassen. Die erste Gruppe von Maßnahmen passt die sichtbaren Bedingungen an, die primär für den Steuerwettbewerb eine Rolle spielen. Gleichzeitig wird an vielen kleinen Stellschrauben gedreht (wie an der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen, den Abschreibungsbedingungen u.ä.), die nicht primär standortentscheidend sind. Insofern sind entsprechende systemwidrige Elemente bei der Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer durchaus rational aus der Sicht des Erhalts der Steuerbasis. Eine andere Strategie besteht darin, sich von Konkurrenten zu unterscheiden und zu spezialisieren sowie Bürger und Investoren an den Standort zu binden. Das trifft auf größere Länder zu, die durch Marktgröße und Agglomorationsvorteile für mobiles Kapital in Form von Unternehmensansiedlungen sowie durch höhere Produktivität und Subventionen attraktiv sein können. So können immobile Produktionsfaktoren stärker besteuert werden. Für Wohn- und Arbeitsentscheidungen kann Heimatverbundenheit eine wichtige Rolle spielen. Auch kann es Steuerbürgern erschwert werden, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ins Ausland zu verlegen. Zu den öffentlichen Inputs, die die Produktivität des Kapitals erhöhen und dieses anziehen, können der Umfang der Regulierung, die Flexibilität der staatlichen Bürokratie u.ä. rechnen. Selbst unterschiedliche Formen der Steuererhebung und -kontrolle werden als strategische Variablen diskutiert. Abb. 21-4 Subventionierung des mobilen Faktors GEK

C

r

B

r-s

E

A

0

F

D

K0

GEK K1

Faktoreinsatz

Beim Steuerwettbewerb ist ferner wichtig, ob es sich um kapitalimportierende oder kapitalexportierende Länder handelt. Für letztere könnte eine Strategie gewählt werden, heimische Investitionen zu subventionieren, um so das Kapitalangebot an ein Land zu binden und das exportierte Kapital zu verteuern. Die Beurteilung der Quellensteuer gilt aber symmetrisch bei einer Quellensubvention des mobilen Kapitals. Abb. 21-4 verdeutlicht diesen Fall. Im Rest der Welt sei wieder die gegebene Ertragsrate r realisierbar. Infolge einer Subvention mit dem Satz s wird der Kapitaleinsatz von K0 auf K1 ausgeweitet. Angenommen, das Inland schafft die Subvention ab. Als Folge

21. Kapitel: Internationale Aspekte der Besteuerung

605

dieser Politik sinkt der Kapitaleinsatz auf K0, das Einkommen fällt insgesamt um D + E, bei den Kapitaleinkommen um E und bei den anderen Faktoren um D + B. Das eingesparte Subventionsvolumen von B + D + F war in Höhe von F ineffizient. Ob die Differenz K1 – K0 aus dem Ausland stammt, spielt für den Einkommensrückgang keine Rolle. Da die Anbieter der mobilen Faktoren ihr Kapital nach erfolgter Anpassung weiterhin (weltweit) zur festen Ertragsrate r anlegen können, erleiden sie keinen Nachteil, und es folgt, dass die Fläche F einen Wohlfahrtsgewinn für die Volkswirtschaft verkörpert. Im Falle einer perfekten internationalen Kapitalmobilität fährt der einzelne Steuerwettbewerber offenbar am besten, wenn er den Kapitaleinsatz weder fördert noch diskriminiert, sondern zulässt, dass die Marktkräfte ihn bis zu dem Punkt treiben, bei dem sein Grenzertrag den auf den internationalen Kapitalmärkten festgelegten Opportunitätskosten entspricht. Allgemein gilt, dass eine Umverteilung bei mobilen Faktoren nicht lohnt. Da diese Umverteilung jenen Faktor vertreibt, der mehr zum Inlandsprodukt beiträgt als er erhält, und jenen Faktor anlockt, der mehr erhält als er beiträgt, muss das für die immobilen Faktoren zur Verteilung anstehende Einkommen schrumpfen. c) Die Beurteilung der Modelle Die bisherige Analyse ist statisch und undifferenziert auf den gesamten Kapitalmarkt bezogen. Sie beruht auf der Annahme vollkommener Mobilität des Kapitals. Tatsächlich können allerdings Transaktionskosten und asymmetrische Informationen andere Schlussfolgerungen nach sich ziehen. So weisen Gordon/Bovenberg (1996) darauf hin, dass es zweckmäßig sein kann, Kapitalimporte zu subventionieren, wenn Kapitalimmobilität als Folge asymmetrischer Informationen vorliegt. Ein anderes Problem bestehe in der meist verwendeten Annahme, dass Transaktionskosten nicht für alle Kapitaltypen gleich sind. Tatsächlich sind aber einige Vermögenswerte, wie z.B. Kreditinstrumente, engere Substitute für heimisches Kapital als andere Vermögenswerte (z.B. Beteiligungswerte). Dies erkläre, warum der Staat eher niedrige Quellensteuern auf Zinseinkünfte als auf die Einkünfte aus Beteiligungen erhebt. So würde eine Quellensteuer auf Zinsen vermutlich die Zinssätze in Europa nach und nach erhöhen. Das könnte zu einer Belastung der Europäischen Kapitalgesellschaften und letztlich der dort beschäftigten Arbeitnehmer führen. Es sei effizienter, diese Arbeitnehmer direkt als indirekt zu besteuern. Allerdings führt eine niedrige Belastung der Zinseinkommen zu allen Formen von Steuerarbitrage für Inländer und zu einer Erosion der heimischen Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer. Auf diese Weise wird das Gleichbehandlungsziel der Einkommensteuer in Frage gestellt (vgl. die Duale Einkommensteuer). Mit differenzierender Behandlung der Kapitaleinkommen können Länder versuchen ihre heimische

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Steuerbasis zu schützen, indem sie (nur oder insbesondere) bei Ausländern Quellensteuern erheben. Zusammenfassend kann man feststellen, dass zur Besteuerung internationale und heimische Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden müssen. Internationale Aspekte sprechen für niedrige Steuersätze auf Zinseinkünfte, die Verhinderung verschiedener Formen der heimischen Steuerarbitrage legt höhere Steuersätze auf Zinseinkünfte nahe. d) Internationale Steuerbelastungsvergleiche Im internationalen (wie auch nationalen) Steuerwettbewerb spielt die Höhe der Belastung eine zentrale Rolle. Einen ersten Eindruck der Steuerbelastung der Unternehmen geben die nominellen Steuersätze. Sie sind leicht festzustellen, so dass ein besonderer Wert auf ihre Höhe gelegt wird. Ein Vergleich der Steuerbelastung ist Baustein eines Informationssystems, das über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschiedener Staaten und damit über die jeweilige Standortattraktivität Auskunft gibt. Der Vergleich kann aber auch als Instrument eingesetzt werden, mit dem unter Hinweis auf überdurchschnittlich hohe Abgabenquoten inländische Reformen durchgesetzt oder bei vergleichsweise niedriger Belastung verhindert werden sollen. Da die Struktur der Steuern in den verschiedenen Staaten unterschiedlich ist und sich die einzelnen Steuern nach Bemessungsgrundlage, Tarif und Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden, werden für Belastungsvergleiche meist Modellrechnungen durchgeführt. Büttner (2001) 1 nennt fünf Möglichkeiten der Berechnung der Steuerbelastung, die üblicherweise herangezogen werden: Steuerbelastung anhand der tatsächlichen Zahlungen, die also auf vergangenen unternehmerischen Entscheidungen beruhen volkswirtschaftliche Steuerquoten Steuerquoten aus Unternehmensdaten Steuerbelastung anhand der gesetzlichen Vorschriften, die den in die Zukunft gerichteten Blickwinkel der Investoren einnehmen effektive Steuersätze nach der mikroökonomischen Investitionstheorie effektive Belastung bei Veranlagung hypothetischer Unternehmen nominelle Steuersätze. Die volkswirtschaftliche Steuerquote ist neben dem Tarif der einfachste und am häufigsten benutzte Indikator. Er bezieht die Steuereinnahmen gemäß Finanzsstatistik oder VGR auf die entsprechenden gesamtwirtschaftlichen VGR-Aggregate wie Faktoreinkommen oder BIP 2. Solche globalen und als Durchschnitt über sämtliche Steuerarten zu interpretierenden Kennziffern sagen wenig über die Unternehmensbesteuerung aus (Sachverständigenrat 2005, Tz. 384). So ist zu entscheiden, welche Ab1 2

Unter Verweis auf Jacobs/Spengel (2000). Hierzu werden also die in Tab. 21-1 dargestellten Belastungen weiter aufgespalten und ggf. auch auf die gesamtwirtschaftlichen Steuereinnahmen bezogen.

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gaben in die einzelnen Belastungsrechnungen einbezogen werden sollen. Je nach Untersuchungszweck sind beispielsweise nur die gewinnabhängigen oder auch die gewinnunabhängigen Steuern zu berücksichtigen, insbesondere wenn es um die Belastungsrechnung der Unternehmen geht 1. Steuerquoten eignen sich insbesondere für die Analyse der Entwicklung der Steuerstruktur. Gelegentlich werden implizite Steuersätze berechnet, indem sämtliche Steuereinnahmen aus Kapitaleinkommen auf die gesamtwirtschaftlichen 2 Kapitaleinkommen eines Jahres bezogen werden. Darin eingeschlossen sind aber auch die Kapitaleinkommen von privaten Haushalten und steuerbefreiten Institutionen (wie der Deutschen Bundesbank und vieler privater Organisationen ohne Erwerbszweck). Ferner besteht für Deutschland das Problem der Aufteilung des Einkommensteueraufkommens auf die Faktoren Arbeit und Kapital. Die Wertschöpfungs- bzw. Einkommenskategorien der VGR sind durch andere Konventionen abgegrenzt. Das gilt speziell für die Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen 3. Daher sind allenfalls begrenzte Aussagen über die Höhe und Entwicklung der Gesamtbelastung zu machen (vgl. auch das 2. Kapitel). Ferner lässt sich durch Rückgriff auf realisierte Größen der Vergangenheit nicht eindeutig der Einfluss der Besteuerung auf zukünftige Entscheidungen abbilden. Problematisch sind auch Steuerquoten aus Unternehmensdaten. So werden Steuerbelastungen der Gewinne börsennotierter Unternehmen berechnet, wobei offensichtlich auf die Konzernmütter abgestellt wird. Hier werden die weltweit im Konzern angefallenen Steuern ins Verhältnis zum handelsrechtlichen Jahresüberschuss gesetzt. Darin schlagen sich aber die niedrigeren internationalen Steuerbelastungen nieder, die Verlagerung von Gewinnen durch Verrechnungspreise oder Steueroptimierung im Konzern. Solche Steuergestaltung ist umso größer, je mehr sich die Steuersätze zwischen dem Sitz der Muttergesellschaft und Konzerntöchtern unterscheiden. Diese Belastungsvergleiche beziehen sich auch nur auf Kapitalgesellschaften, während in Deutschland die Unternehmen weit überwiegend die Form von Personengesellschaften oder Einzelunternehmen haben. Nach einer anderen Methode wird die Unternehmensbesteuerung anhand unternehmensbezogener Bilanzdaten geschätzt. Grundlage sind etwa die Gewinnaussagen der Deutschen Bundesbank und die Steuerbelastungen der dort erfassten Unternehmen. Auch hier bestehen Probleme, insbesondere bei der Abgrenzung von Unternehmen mit Zweigbetrieben und Tochterunternehmen, im Hinblick auf unterschiedliche Gewinnermittlungsmethoden u.a.

1

2 3

Bei einem internationalen Vergleich der Körperschaftsteuerbelastung ist der besonders niedrige Anteil körperschaftsteuerpflichtiger Unternehmen in Deutschland zu beachten, der sich im Körperschaftsteueraufkommen niederschlägt. Bei der Mikromethode entsprechend für einzelne Unternehmen, wobei die Steuerbelastung der einzelnen Unternehmen aggregiert wird. Siehe Brümmerhoff/Grömling (2010).

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

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Für den Bereich der unternehmerischen Standortentscheidungen werden meist effektive Grenzsteuersätze aus der mikroökonomischen Investitionstheorie abgeleitet 1. Die Berechnungen der effektiven Steuersätze beziehen sich auf hypothetische Investitionen. Sie unterscheiden nationale und internationale Investitionen. Kalkuliert werden die effektiven durchschnittlichen Steuersätze inframarginaler Investitionen, ferner marginale effektive Steuersätze für Invesititionen, die gerade die Kapitalkosten decken. Die errechneten Sätze gelten als Maß für den steuerlichen Einfluss auf Investitionsentscheidungen. Je höher die Sätze der Unternehmenssteuer sind, desto unattraktiver wird es z.B. für einen Konzern, an dem Standort zu investieren, und gleichzeitig interessanter Gewinne ins Ausland zu verlagern. Für die Berechnung der effektiven Belastung der Unternehmen spielen diese Ausweichreaktionen keine Rolle 2. Da Deutschland hohe effektive Steuersätze aufweist, ist es als Standort besonders unattraktiv und kann Investitionen nicht attrahieren. Im Zusammenhang mit Standortentscheidungen könnten aber auch die durchschnittlichen Steuersätze für die Mobilität von Betriebseinheiten relevant sein. Im Rahmen eines weiteren Verfahrens werden im Wege der Veranlagung einer hypothetischen Firma für verschiedene Standortalternativen die Belastungen ermittelt. Die Simulation, die vom European Tax Analyzer vorgenommen wird, erfolgt über einen Zeitraum von 10 Jahren. Auch der internationale Vergleich der Belastung des Arbeitslohns mit Steuern und Sozialabgaben ist für verschiedene Zwecke von Interesse. Hierzu verwendet die OECD (2010) zwei Indikatoren. Der Steuerkeil (Tax Wedge, TW) wird als Quotient aus lohnbezogenen Abgaben und den Lohnkosten berechnet. (21-21)

TW =

Lohnsteuer + Arbeitn.- und Arbeitg.beitrag zur Sozialvers. - Kindergeld Bruttolohn + Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung

Die Arbeitnehmerbelastung (21-22)

TAN =

Lohnsteuer + Arbeitnehmerbeitrag zur Sozialvers. - Kindergeld Bruttolohn

berücksichtigt im Nenner nicht den Arbeitgeberbeitrag. Sie stellt die Belastung eher aus Sicht des Arbeitnehmers dar, erweckt aber den Eindruck, dass es sich beim Arbeitgeberbeitrag nicht um vorenthaltenen Lohn handelt.

1

2

Die Belastungsrechnung beginnt sinnvollerweise mit der Bildung eines tariflichen Unternehmenssteuersatzes, der in Deutschland Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer integriert. Unterschiede in der steuerlichen Bemessungsgrundlage und die Existenz gewinnabhängiger Steuern werden ignoriert. Sie schlagen sich aber in den Durchschnittsrechnungen auf Basis der VGR nieder. Wenn die Steuerpflichtigen hohen marginalen Belastungen ausweichen, wird das Steueraufkommen entsprechend kleiner.

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Beide Quoten werden als Durchschnitts- und Grenzbelastung für typisierte Arbeitnehmerhaushalte ermittelt. Besonderheiten des Steuerrechts z.B. hinsichtlich der unterschiedlichen Anerkennung von Werbungskosten werden nicht berücksichtigt. Ferner wird davon ausgegangen, dass außer dem Arbeitslohn keine weiteren Einkünfte vorliegen. Literatur zum 21. Kapitel Zu internationalen Steuerbelastungsvergleichen siehe Hedtkamp (1977) und Zimmermann (1981a). Einen Überblick über die Ausgestaltung der Steuern im internationalen Zusammenhang liefert das Bundesministerium der Finanzen im Informationsdienst zur Finanzpolitik des Auslands; eine detaillierte Darstellung der Steuern in der EU liefert Eurostat, der OECD-Länder die OECD. Zur Einführung in Fragen internationaler Besteuerung siehe Genser/Wiegard (1995). Die Besteuerung internationaler Faktoreinkommen behandeln Peffekoven (1983, § 3) und Musgrave/Musgrave/Kullmer (Bd. 3, 1992, Kapitel 29, A, B). Zur Anrechnung versus Freistellung siehe Peffekoven (1984). Einen Überblick über Probleme der internationalen Doppelbesteuerung gibt Debatin (1983). Zum Stand der DBA siehe die Übersichten in den Finanznachrichten des Bundesministeriums der Finanzen. Gütersteuern untersuchen Peffekoven (1983, § 2), Musgrave/Musgrave/ Kullmer (Bd. 3, 1992, Kapitel 29C), Genser (1999) und Homburg (2010). Eine gute Darstellung der Probleme internationaler Besteuerung liefert Homburg (2010). Die Kapitaleinkommensbesteuerung behandelt auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF (1999). Zur Steuerharmonisierung siehe Andel (1983; 1992, insbes. C § 1) und Peffekoven (1983). Zur Debatte Steuerharmonisierung vs. Steuerwettbewerb siehe Spahn/Kaiser (1991), Sinn (1990) und Homburg (1999). Zum Steuerwettbewerb in Europa siehe Hohaus (1996) und Fuest (2000). Vor- und Nachteile des internationalen Steuerwettbewerbs untersuchen Feld/Kirchgässner (2001), zur Empirie des Steuerwettbewerbs siehe Büttner (2001). Indikatoren der Steuer- und Abgabenbelastung werden im Monatsbericht des BMF, März 2010, behandelt.

22. Kapitel Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen 1. Politische Ökonomie der Besteuerung a) Bedeutung und Möglichkeiten von Steuerreformen Eine Analyse der bestehenden deutschen Steuern und ihrer Entwicklung macht deutlich, dass von einem Steuersystem nicht gesprochen werden kann. Ohne klares steuerpolitisches Leitbild kommt es aber zu einer marktwirtschaftlich ineffizienten und nicht zielgerechten Besteuerung. Dieses Ergebnis „widerstreitender Interessen innerhalb der Bundesregierung, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie zwischen Regierung und Opposition“ (Sachverständigenrat 2003, Tz. 518) ist auch darauf zurückzuführen, dass die Steuerpolitik einem permanenten Reformdruck ausgesetzt ist. Maßnahmen, Aktionen sind (eher als effiziente Lösungen) wählerwirksam bzw. als unmittelbar einkommenswirksamer Politikbereich einem starken Druck der Verbände ausgesetzt, die auf Vergünstigungen für ihre Mitglieder dringen. Da die Regierungs- und Oppositionsparteien (wieder) gewählt werden wollen, stellen sie diesen Forderungen meist nur geringen Widerstand entgegen. Für eine Regierung ist es rational Steuerreformen dann durchzuführen, wenn sie von der Steuerrechtsänderung einen Stimmenzuwachs erwartet. Wegen unvollkommener Information über das Wählerverhalten sucht sie die Unterstützung der Verbände und wählt die günstigste Handlungsstrategie. Dazu gehört auch die zeitliche Gestaltung der Steuerrechtsänderungen. Maßnahmenbündel werden meist so geschnürt, dass zunächst die Steuererhöhungen ergriffen werden, denen (nachdem die erste Runde der Aufmerksamkeit verdrängt wird) wahlgerecht die Runde der Steuersenkungen folgt, wobei der Nettoeffekt dann unterschiedlich gerechnet wird. Hohe Tarifbelastungen gehen oft mit erheblichen Gestaltungsmöglichkeiten einher, so dass die effektive Belastung geringer als die formale ausfällt. Als Argumentationshilfen werden verschiedene plakative Formeln wie Gerechtigkeit oder Leistungsfähigkeitsprinzip herangezogen, mit denen Wähler ideologisch an Parteien gebunden und Partei- und Koalitionskompromisse erleichtert werden sollen (Franke 1996, S. 79), ohne allerdings diese Begriffe zu konkretisieren. Steuerreformen bestehen meist aus einem Bündel von Rechtsänderungen mit Vorund Nachteilen für die einzelnen betroffenen Gruppen. Die Regierung versucht den Eindruck der Ausgewogenheit der Maßnahmen zu erwecken, die für die Betroffenen schwer durchschaubar sind. Die Folge dieser Politik ist das Wirrwarr an Steuern, Einzelregelungen und Nachbesserungen. Der dadurch entstehende Verlust an Transparenz ist daher Ziel und gleichzeitig unerwünschtes Ergebnis dieses Handelns. Die Geschwindigkeit der Steuerrechtsänderungen erlaubt keine stetige Steuerplanung. Die betroffenen Bürger akzeptieren immer weniger den staatlichen Steueranspruch. Die steuerliche Entwicklung spiegelt u.a. die allgemeinpolitischen (wie bei Einführung von

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

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Ökosteuern), soziale und ökonomische Bedingungen („Reichensteuer“) und die Entwicklung des weltweiten Rahmens (Körperschaftsteuerreform von 2008) wider. Zwar gibt es seit Jahrzehnten Forderungen nach einer Reform (insbesondere) der Einkommensteuer, die zu mehr Einfachheit und damit mehr Transparenz, mehr marktwirtschaftlicher Effizienz und damit Standortattraktivität sowie mehr Belastungsgerechtigkeit und damit Bürgerakzeptanz führen soll (Rose 1994, S. 423). Fraglich ist allerdings, wie Steuerreformen zur Erfüllung dieser Ziele konkret aussehen und ob sie durchgesetzt werden können, wenn sich die Betroffenen, von Opposition und Verbänden und selbst Gruppierungen in den Mehrheitsfraktionen unterstützt, gegen „Besitzstandseinbußen“ wehren und statt z.B. Abbau von Vergünstigungen sogar weitere Sonderbehandlungen fordern. Die relative Verteilung der Steuerlast verändert sich dann wenig, wenn die Präferenzen der einzelnen Wählergruppen, ihr Einfluss bzw. der ihrer Vertreter auf den Entscheidungsprozess gleich bleiben. Zwar profitieren die Steuerzahler von einer effizienteren Gestaltung des Steuersystems, wenn ein bestimmtes Aufkommen mit geringeren Kosten und Zusatzlasten erzielt wird. Steuerzahler sind als große Gruppe aber nur schwer zu organisieren und können praktisch keinen Widerstand gegen Sonderregelungen leisten. Die Interessenvertretungen der von der Komplexität der Regelungen auch betroffenen Steuerberater, Steueranwälte und Steuerbeamten kritisieren zwar regelmäßig diese Entwicklung. Letztlich aber beruht ihre Tätigkeit gerade auf der Komplexität des Steuerrechts. Zudem dürften Teile der Bürokratie, die an der Ausformung des Steuerrechts, der Rechtsprechung u.a. beteiligt sind 1, jegliche weitere Komplizierung des Steuerrechts begrüßen, soweit sie ihnen die Möglichkeit zur persönlichen Vermarktung gibt. Steuerreformen haben ihren Focus insbesondere auf Veränderungen von Steuerbemessungsgrundlagen und Steuersätzen. Die realen Kosten im Sinne von Wohlfahrtseinbußen gehen über die daraus resultierenden Veränderungen des Steueraufkommens hinaus. So sind insbesondere die mit der Besteuerung verbundenen Transaktionskosten 2 zu beachten, die sich z.B. in der Veränderung von Zahlungsbedingungen, Nachweispflicht, Nachvollziehbarkeit und Durchschaubarkeit sowie kostspieligen Regulierungen zeigen. Steuerreformen beeinflussen ferner die Arbeit/Freizeit-, Markt/ Nichtmarkt-Entscheidungen und geben mehr oder weniger starke Anreize zum Abwandern in die Schattenwirtschaft. Die Annahme ist aber in vielen Fällen plausibel 3, dass die Verzerrungen umso geringer sind, je niedriger die Steuersätze, breiter die Bemessungsgrundlagen und gleicher die Steuersätze sind. Unklar ist, wie eingeschränkte Transparenz sich auf die Entscheidungen auswirkt. Sie kann zu einer Illusion der wahren Belastung führen.

1

2 3

So zeigte die Zeitschrift „Simplicissimus“ bereits 1960 eine Karikatur mit dem Text: „Meine Hochachtung, der Entwurf ist vollkommen klar und für jedermann verständlich! Also werden wir ihn ins Behördendeutsche übersetzen müssen – denn jeder von uns will schließlich einen Kommentar veröffentlichen.“ (Siehe Keim/Saalmann 1994, S. 15). Vgl. Kapitel 15.9 und Wagner (2005). Trotz der im 15. Kapitel geäußerten Zweifel, dass man Verzerrungen so einfach nicht vergleichen kann und Elastizitäten eine Rolle spielen.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Ein Ziel der Vereinfachung – insbesondere der Einkommensteuer – war lange, bei möglichst einheitlichem Steuertarif möglichst keine Vergünstigungen für einzelne Gruppen zu gewähren und so einen niedrigeren Tarif zu ermöglichen. Bei ihnen wird vermutet, dass sie gerade von Beziehern hoher Einkommen (u.U. durch Einsatz von Steuerberatern usw.) genutzt werden können. Allerdings kann Komplexität auch Ausdruck für das Bemühen um weitgehende Einzelfallgerechtigkeit sein. Steuern sind – hinsichtlich Vereinfachung – politisch schwer reformierbar, weil bei einheitlichen und geringen Steuersätzen keine Vergünstigungen für einzelne Gruppen gewährt werden können. Eine Verbesserung der Systematik und der sachlichen Verständlichkeit kann aus der Sicht der politisch Verantwortlichen auch gefährlich sein. Sie bringt ihnen weniger Vorteile als Nachteile, wenn ihre Politik eher durchschaubar und dadurch weniger gestaltbar wird. Jede Reform hat Gewinner und Verlierer, die zusammen mit ihrer Unterstützung durch homogene Interessengruppen von den Politikern in ihrer Bilanz berücksichtigt werden, weil sie wahlentscheidend sein können (bzw. dafür gehalten werden). Auch Steuervereinfachungen, verstanden als Ausnahmetatbestände und Detailregelungen im Einkommensteuerrecht, haben solche Verteilungswirkungen. Fuest/Peichl/Schaefer (2007) haben u.a. herausgefunden, dass eine Vereinfachung im Bereich der Einkünfteermittlung und des zu versteuernden Einkommens die Ungleichheit und Polarisation – unter Beibehaltung der direkten Progression – möglicherweise reduzieren würde 1. Sollten die Wähler ausgehend vom Status quo Gewinne und Verluste asymmetrisch bewerten, zählen solche Ergebnisse wenig. „Wenn Verluste stärker erlebt werden als (betragsmäßig gleiche) Gewinne, dann wird auch verständlich, warum das Engagement der Reformverlierer für den Status quo oftmals stärker ist als das Engagement der Reformgewinner für die Reform. Die Verlustaversion kann somit ebenfalls eine Erklärung liefern, warum Reformen mit positivem Erwartungswert keine Akzeptanz erlangen müssen“ (Heinemann 2007, S. 566). Wenn der Erfolg der Interessengruppen aber umso größer ist, je leichter Steuern geändert werden können, liegt die Frage nahe, ob die Steuergestaltungsspielräume generell eingeengt werden sollen und können. Eine solche Beschränkung ist nur durch eine fiskalische Verfassung zu erreichen, wie sie Buchanan (1967) vorgeschlagen hat. In ihr müsste eine grundlegende Steuerstruktur festgelegt werden, die sich nur bei umfassendem Konsens verändern ließe. So würde der potenzielle Ertrag einer auf Steueränderungen gerichteten Lobbytätigkeit reduziert, die Vorteile für einzelne Gruppen erbringen soll. Offensichtlich haben Politiker aber kein Interesse an einem solchen stabilen Finanzrahmen, der ihren Handlungsspielraum einengen würde. Das gilt hinsichtlich jeglichen institutionellen Rahmens und für allgemein akzeptierte Steuergrundsätze, die Schranken gegen eine beliebige Steuerpolitik festlegen sollen.

1

Von Bedeutung ist hierbei, was wie geändert wird. So werden z.B. die Vereinfachung der Einkünfteermittlung, Abschaffung oder Änderung der Kilometerpauschale, Senkung der Werbungskostenpauschale, Abschaffung der Steuerberaterkosten, Parteispenden und des Kinderfreibetrags untersucht.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

613

b) Sind Steuerreformen nötig? Die vielfältigen Ausnahmetatbestände (wie Freibeträge, besondere Tarife) vor allem bei der Einkommensteuer wurden regelmäßig ohne grundsätzliche Überprüfung und Abstimmung des Ganzen eingeführt. Die so bewirkte Verringerung der Bemessungsgrundlage („Erosion der Steuerbasis“) geht mit Begünstigungen bzw. Verzerrungen einher, die weitere (teils ausgleichende) Verzerrungen nach sich ziehen 1. Es gibt aber nicht nur Ungleichmäßigkeiten der Besteuerung als Folge der unsystematischen Ausgestaltung von Steuergesetzen. Auch die ungleichmäßige Anwendung der Steuergesetze infolge problematischer Gesetze und Verwaltungsvorschriften zur Anwendung der Steuergesetze tragen zur Ungleichbehandlung bei. So werden die Einkünfte, je nach Steuerart, nach den bestehenden Vorschriften unterschiedlich intensiv ermittelt. „Mitunter kommen Vollbelastung und intensive Ermittlung, Minimalbelastung und extensive Ermittlung zusammen und potenzieren so die Ungleichmäßigkeit“ (Tipke 1986, S. 601). Das wird u.a. deutlich in der Ungleichbehandlung der nicht zur Buchführung verpflichteten Landwirte, der Gewerbetreibenden (auch innerhalb dieser Gruppe, so hinsichtlich der Häufigkeit der Außenprüfung), der Arbeitnehmer, der Bezieher von (privaten) Zinsen und Dividenden und der Rentner. Die differenzierte Behandlung verschiedener Einkunftsarten kann durch den Marktmechanismus tendenziell verringert werden. Der grundlegende Anpassungsmechanismus besteht darin, dass Ressourcen zur Ertragsmaximierung in jene Verwendungen gelenkt werden, deren Erträge relativ günstig besteuert werden. Bei vollkommenen Faktormärkten und Mobilität der Ressourcen führt diese Anpassung in jeder Verwendung zu gleichen (Netto-)Erträgen nach Besteuerung. Die Bruttoerträge werden dann z.B. relativ gering bei Ressourcenverwendungen mit günstiger steuerlicher Behandlung sein, demgemäß fallen auch die Steuerzahlungen gering aus. Solche Marktanpassungen beseitigen aber nicht die Verzerrungen und horizontalen Ungleichbehandlungen, sie verringern sie nur. Die Änderungen in der Ressourcenallokation erfolgen gewöhnlich nicht sehr schnell. Die benötigte Zeit für Anpassungen an Sonderregelungen hängt davon ab, wie lange sie schon gesetzlich bestanden haben und als wie dauerhaft man die Begünstigungen erwartet. Unvollkommene Güter- und Faktormärkte sowie gesetzliche oder institutionelle Beschränkungen der Ressourcenverwendung behindern schnelle Anpassungen. In eine bestehende Steuerstruktur eingefügte Verzerrungen wirken also kurzfristig, können aber langfristig über Anpassungen kompensiert werden und ggf. horizontale Ungerechtigkeiten ausgleichen. Das besagt die alte Canard’sche Steuerregel, wonach alte Steuern mit abgeschlossenen Anpassungsvorgängen als gute, neue hingegen als schlechte Steuern gelten. Die beste Steuerreform ist dann die, die nicht stattfindet.

1

„The more complicated a country’s tax system becomes, the easier it is for governments to make it more complicated still, in an accelerating process of proliferating insanity – until, perhaps, a limit of madness is reached, and a spasm of radical simplification is demanded“ (The Economist, April 16th 2005, S. 9).

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

Steuerreformen, die Ungleichbehandlungen beseitigen sollen, können selbst Ungerechtigkeiten bewirken. So gilt die rückwirkende Abschaffung von Prämien auf Sparverträge oder von Vergünstigungen bei anderen Verträgen als unfair, weil die Wirtschaftssubjekte diese in Erwartung der weiterbestehenden Vergünstigung abgeschlossen haben. Andere kurzfristige Ungerechtigkeiten lassen sich vermeiden oder mildern, indem für Schäden aus der Reform kompensiert oder die Reform verzögert wird, bis sich der Markt den erwarteten Reformen angepasst hat 1. Kompensationen der Reformverlierer sind dann effizient, wenn der Nutzen der Maßnahme (insbesondere langfristig) ihre Kosten übersteigt. Korrekturen der Steuervergünstigungen können auch problematisch sein, wenn die Begünstigungsstruktur im Sinne ausgleichender verteilungspolitischer Verzerrungen gewachsen ist. Einzelne Begünstigungen sind dann im Rahmen des gesamten Steuer/Transfermechanismus zu beurteilen 2. Sonderregelungen können auch Instrument sein, um Kompromisse und damit politische Lösungen zu ermöglichen. Ihre Abschaffung kann an anderer Stelle, etwa in anderen Abgaben, zu leistenden Transfers oder in Regulierungen wieder auftauchen. Jedenfalls werden Politiker, Bürokraten und Interessengruppen solchen Ersatz durchzusetzen versuchen. Mehr Einfachheit an einer Stelle kann dann zu mehr Komplexität anderswo führen. Oder ein positiver Effekt durch Zusammenfassung mehrerer Einzelmaßnahmen erweist sich auch dann als problematisch, wenn bei isolierten Veränderungen die Kompatibilität mit anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten verloren geht. c) Kriterien für Steuerreformen Bisher wurden Steuerreformen vor allem als Steuervereinfachung, Sinken der Vollzugs- und Planungskosten sowie der Umsetzung horizontaler Gleichbehandlung dargestellt. Diese Aspekte sind auch wichtig für die gefühlte Gerechtigkeit, die sich auf die Steuermoral auswirken dürfte. Die Kriterien für eine Steuerreform gehen aber darüber hinaus, sie entsprechen den und konkretisieren die Anforderungen an ein gutes Steuersystem (vgl. Kapitel 14.7). In jüngster Zeit steht die Standortattraktivität im Vordergrund, die eng verbunden mit dem Aufkommensziel ist. Da bei der Faktorbesteuerung weltweit das Quellenprinzip herrscht, kommt es zu steuerlichem Wettbewerb insbesondere um das international mobile Kapital. Hohe effektive Steuersätze wirken als Investitionshemmnis. Eine Reform hat daher für die geeignete Steuerbasis Sorge zu tragen. Hohe Grenzsteuersätze gelten als leistungshemmend und bezüglich des Kapitals als abschreckend. Dies legt u.a. einen Abbau der Grenzsteuersätze nahe. 1 2

Siehe hierzu Musgrave (1976) und Feldstein (1976a, 1976b). So ist z.B. die steuerliche Behandlung von Beiträgen zur und Renten der gesetzliche Rentenversicherung zusammen mit der Besteuerung von Pensionen zu sehen.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

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Eine Steuerreform sollte ferner die ökonomische Effizienz und die Entscheidungsneutralität erhöhen. Diese Forderung ist erfüllt, wenn die steuerlichen Regelungen die unternehmerischen Entscheidungen nicht verzerren und bei gegebenem Ressourceneinsatz der größtmögliche Output erzielt wird. „Wenn alle Finanzierungswege unbeschränkt zur Verfügung stünden, gingen von einer Verletzung der Finanzierungsneutralität nicht zwangsläufig realwirtschaftliche Verzerrungen aus. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn die Kapitalkosten der günstigsten Finanzierungsvariante gerade dem Kapitalmarktzins entsprechen. Tatsächlich gibt es aber vielfältige Beschränkungen bei der Finanzierungswahl, und neben steuerlichen Vorschriften führen bestehende Gewinnermittlungsvorschriften regelmäßig dazu, dass die Kapitalkosten vom Kapitalmarktzins abweichen. Analoges gilt für die Forderung nach Rechtsformneutralität. Deshalb hat das Postulat einer steuerlichen Entscheidungsneutralität mit den Teilkomponenten Investitions-, Finanzierungs- und Rechtsformneutralität einen konkreten realwirtschaftlichen Hintergrund. Entscheidungsneutralität rechtfertigt sich über das so genannte Produktionseffizienztheorem ... Danach garantieren steuerlich unverzerrte Produktions- und Investitionsentscheidungen – und das heißt: mit dem Kapitalmarktzins übereinstimmende, identische Finanzierungs- und Rechtsformspezifische Kapitalkosten – dass die gesamtwirtschaftliche Produktion und die damit entstehenden Einkommen maximiert werden. Dies ist die tiefere ökonomische Rechtfertigung für eine neutrale und damit gleichbedeutend: effiziente Unternehmensbesteuerung“ (Sachverständigenrat 2006, Tz. 430). Ein allokativ effizientes Steuersystem ist auch innovations- und wachstumsfreundlich. Neben einer effizienten Unternehmensbesteuerung stellt sich ferner die Frage nach einer effizienten Behandlung des Faktors Arbeit als Teil der Haushaltsbesteuerung 1. Allokationspolitisch legt die angenommene geringe Mobilität nahe, die Arbeit stärker zu besteuern. Hierbei geht es um die Angebotselastizität des Faktors Arbeit bezogen auf die gesamte Abgabenbelastung (Steuern und Sozialbeiträge) und dabei auch um mögliche Verlagerungen in die Schattenwirtschaft. Für die langfristige Standortattraktivität ist auch die Qualität des Arbeitsangebots relevant. Diese hängt von der weiteren Humankapitalbildung und der Zuwanderung Hochqualifizierter ab. Gerade Hochqualifizierte sind zunehmend mobil (Problem: Brain Drain) und eine stärkere Besteuerung des Faktors Arbeit trägt zur Abwanderung bei. Ein weiteres Kriterium könnte aus dem Gedanken der Systemrelevanz abgeleitet werden. Diese kann etwa in dem Sinne verstanden werden, ob möglichst große Teile der Gesellschaft von Abgaben betroffen sind. So treffen spezielle Steuern, wie die Gewerbesteuer, nur einen kleinen Kreis und die Spürbarkeit ist daher bei der Gesamtheit der Bürger nur gering. Systemrelevant könnte aber auch sein, dass die Verantwortung für die Steuerentscheidungen (Bund, Länder) erkennbar ist. In diesem Sinne wird durch die gemeinsame Ertragshoheit verschiedener (anderer Ebenen von) Gebietskörperschaften die Verantwortung für einzelne Länder verwischt. Hingegen sind die Hebesätze von Grund- und Gewerbesteuer eindeutig zuzuordnen. Ein anderer Aspekt von Systemrelevanz wurde bereits im Zusammenhang mit allokativem Marktver1

Die Grenzbelastung bei durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen von ca. 40-53% stellt einen Abgabenkeil dar, der hohe Arbeitskosten und niedrige Nettoeinkommen signalisiert.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

sagen angesprochen. Das Scheitern von Unternehmen kann u.a. wegen deren Größe oder Spezialisierung das ganze System bedrohen. Das kann ein wichtiger Hintergrund für neue Finanzabgaben sein. 2. Die Wahl der Bemessungsgrundlagen und Steuertarife Die Besteuerung kann an verschiedenen Bemessungsgrundlagen anknüpfen, die unter bestimmten Bedingungen äquivalent sind oder ähnlich sein können. Das verwundert nicht, wenn man die Kreislaufzusammenhänge von Abb. 14-7 betrachtet. Vereinfachend geht es bei der Reform großer Steuern um die Annäherung an den Idealtyp einer synthetischen Einkommensteuer, um die Flat Tax, eine persönliche Ausgabensteuer und um die Duale Einkommensteuer. Grundsätzliche Entscheidungen über die Bemessungsgrundlage sind nicht nur wichtig für die Einkommensteuer, Konsequenzen müssen auch für andere Abgaben, insbesondere auf die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer gezogen werden. Bis in die 90er Jahre ging es bei der Einkommensteuer um die Frage, ob die bestehende, grundsätzlich synthetische Einkommensteuer zu einer Comprehensive Income Tax (CIT) entwickelt werden kann. Hierzu müssen insbesondere Steuervergünstigungen abgebaut werden. Ziel war es, systemwidrige Ausnahmetatbestände in die Einkommensteuer einzubeziehen und (meist) aufkommensneutral eine Tarifsenkung zu ermöglichen. Übersicht 22-1 zeigt die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bemessungsgrundlagen. Sie macht deutlich, dass die tatsächliche Einkommensteuer von einer (nicht unumstrittenen Leitlinie der Reinvermögenszugangstheorie oder CIT) abweicht. Das umfassend konzipierte Einkommen wurde unter den Aspekten der horizontalen Gleichbehandlung und der Vermeidung allokativer Verzerrungen gefordert. Die Flat Tax unterscheidet sich hinsichtlich der Bemessungsgrundlage üblicherweise nicht von der synthetischen Einkommensteuer. Sie wird wegen ihres Tarifs diskutiert. Das gesamte Einkommen belastet auch die Duale Einkommensteuer. Sie bezieht sich auf die (unterschiedlich abgegrenzten) Kapitaleinkommen und die übrigen Einkommen (insbesondere Löhne, Gehälter). Abgrenzungsprobleme hier wie auch bei der zuvor dargestellten Variante gibt es bei den Kapitaleinkommen und Selbständigeneinkommen. Soweit letztere Entgelt für Arbeitsleistungen darstellen, müssen sie wie Löhne und Gehälter behandelt werden. Bei proportionalem Tarif und gleichem Steuersatz sind die synthetische Einkommensteuer, Flat Tax und Duale Einkommensteuer äquivalent. Der gesamtwirtschaftlichen Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer – nach Reinvermögenszugangstheorie und als Duale Einkommensteuer – entspricht auch die Nettowertschöpfung zu Faktorkosten (ergänzt um den Saldo der Faktoreinkommen gegenüber dem Ausland). Hier knüpft die zum Vergleich einbezogene Wertschöpfungsteuer an. Steuervergünstigungen schaffen in der Praxis Diskrepanzen zu den Idealtypen. Seit den 90er Jahren wurde eine Reihe von Steuervergünstigungen in der Einkommensteuer abgebaut, andere allerdings hinzugefügt.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

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Übersicht 22-1 Die Beziehung zwischen verschiedenen Bemessungsgrundlagen Einkommen ohne Lücken (Reinvermögenszugangstheorie, Comprehensive Income Tax) Steuervergünstigungen1

Tatsächliche Einkommensteuer (z.B. 90er Jahre)

Konsumsteuer (direkt)

Steuervergünstigungen1

Sparen r.V

2

2

Umsatzsteuer (Konsumtyp)

St-befreit 0-Stsätze

4

Sparen

Gewerbesteuer (auf Teile der Nettowertschöpfung plus Korrekturen) Löhne, Gehälter Gewinne Mieten, Pachten, Zinsen auf EK + FK Echte Nettowertschöpfungsteuer (FK) 4

Löhne, Gehälter

Kapitaleinkommen

Löhne, Gehälter

Kapitaleinkommen

Duale

3

4

Steuerver1 günstigungen

Einkommensteuer

1 Nicht systembedingte Regelungen. 2 USt auf andere indirekte Steuern (z.B. TabakSt, MineralölSt, GewSt., GrundSt, Verwaltungsgebühren). 3 SollSt, Zinsschranke u.ä. 4 Kapitaleinkommen werden unterschiedlich abgegrenzt. Bei der Konsumsteuer von zinsbereinigten Typ und bei der Dualen Einkommensteuer wird zwischen den normalen (standardisierten) und darüber hinausgehenden Kapitaleinkommen mit verschiedenen Konsequenzen unterschieden.

In der dritten Linie wird die persönliche Konsumsteuer (Ausgabensteuer) dargestellt. Sie unterscheidet sich hinsichtlich der Bemessungsgrundlage von der Einkommensteuer durch das Sparen (bzw. die Kapitaleinkommen). Eine proportionale Einkommensteuer ist der Konsumsteuer und der Wertschöpfungsteuer äquivalent, wenn ihr Steuersatz die unterschiedliche Größe der Bemessungsgrundlagen ausgleicht (bei einer Sparquote von 20 % also beispielsweise ein Satz von 20 % bei der Einkommenund 25 % bei der Umsatzsteuer). Im Vergleich zur direkt bei den Konsumenten anknüpfenden Konsumsteuer wird die Umsatzsteuer vom Konsumtyp als weitere Abgabe gezeigt. Sie klammert ebenfalls das Sparen (bzw. die Investitionen) aus. Implizit wird bei der Suche nach Alternativen zur bestehenden Einkommensteuer unterstellt, dass es gelingt, Sonderregelungen und insbesondere Steuervergünstigungen, zu vermeiden. Nur ist dann zu fragen, warum es bei einer neuen Abgabe leichter sein soll, Sonderregelungen zu vermeiden als Vergünstigungen bei bestehenden Steuern abzubauen. Das gilt auch für die Umsatzsteuer, die in der Praxis eine vom privaten Konsum abweichende Bemessungsgrundlage hat, weil sie Steuerbefreiungen und NullSteuersätze aufweist. Das kann als Ersatz oder Ergänzung für einen hier nicht möglichen Grundfreibetrag gesehen werden. Die individuelle Steuerbelastung hängt von den

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

gesamten Konsumausgaben und der Konsumstruktur (bei differenzierten Steuersätzen) ab. Individuelle Faktoren lassen sich nicht berücksichtigen. Die Umsatzsteuer belastet auch den Staatsverbrauch und die Investitionen wegen fehlender Abzugsfähigkeit. Sie wird auch auf andere indirekte Steuern, wie z.B. die Mineralölsteuer, erhoben. Das wird links in Übersicht 22-1 angedeutet und trifft auch für eine Nettowertschöpfungsteuer zu, soweit sie nicht an den Faktorkosten (FK), sondern an den Herstellungspreisen ansetzt. Die Nettowertschöpfung könnte auch an den einzelnen Faktoreinkommen additiv anknüpfen, was in der Vergangenheit nur unvollkommen durch Grund- und Gewerbesteuer gelungen ist. a) Die Flat Tax Die Flat Tax ist eine am Einkommen anknüpfende Abgabe mit einer umfassenden Bemessungsgrundlage und – in der weitestgehenden Variante – einem konstanten Grenzsteuersatz 1. Er führt zusammen mit dem Grundfreibetrag zur indirekten Progression. Mit dem Übergang zu diesem Tarif sollen mehr Einfachheit und geringere Transaktionskosten erreicht werden. Der einheitliche Grenzsteuersatz hat weitreichende Bedeutung: Die Abgrenzung der Einkommensperiode auf ein Jahr ist (abgesehen vom Grundfreibetrag) kaum noch bedeutsam und auf ein Zins- und Liquiditätsproblem reduziert. Schwankende und gleichmäßig fließende Einkommen werden praktisch gleich behandelt. Die Zusammensetzung der mehreren Steuerpflichtigen zugerechneten Einkommen wird unerheblich, Individualbesteuerung und Ehegattensplitting führen zu gleicher Steuerbelastung. Die nach Besteuerung verbleibenden Nettoeinkommen sind leicht zu errechnen, wie auch die Belastung jeglicher Zusatzeinkommen. Probleme der Ermittlung der Kosten der Einkommenserzielung bleiben hiervon unberührt. Willkürliche Belastungsgestaltungen innerhalb von und zwischen Einkommensgruppen werden reduziert. Wenn Änderungen gewünscht sind, müssen sie über den Grenzsteuersatz und/oder den Grundfreibetrag gehen. Einkünfte (Löhne, Kapitalerträge) lassen sich an der Quelle abschließend besteuern, wenn keine Abzugsbeträge geltend gemacht werden können. Lohnsteuerklassen erübrigen sich. Andererseits verliert die Einkommensteuer als verteilungspolitisches Instrument an Bedeutung, sieht man vom Freibetrag ab. Einkommen- und Körperschaftsteuer können neutral verknüpft werden, wenn die steuerpflichtigen Einkommen bzw. Körperschaftsgewinne mit einem einheitlichen Satz und letztere auf der Ebene der Anteilseigner nicht weiter besteuert werden. Die Problematik der kalten Progression entfällt. Regressivwirkungen bei Abzügen von der Bemessungsgrundlage treten nicht auf. Kennzeichnend (auch) für den indirekt progressiven Tarif ist, dass nach dem Grundfreibetrag ein Sprung erfolgt. Je niedriger der Grenzsteuersatz hier ist, umso größer

1

An Stelle der Flat Tax mit einem einheitlichen (konstanten) Satz werden auch Vorschläge mit wenigen, über die Stufen jeweils konstanten Grenzsteuersätzen gemacht. Drei oder vier Grenzsteuersätze haben dann allerdings wie der gegenwärtige Formeltarif den Nachteil der Unstetigkeit. Auch dies könnte insbesondere (im Zusammenhang mit Transfers) Anreize zur Steuergestaltung geben.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

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sind die Anreize für zusätzliche Leistungen 1. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Flat Tax in der Lage wäre, die Einkommensteuer zu vereinfachen. Auch andere Formen der Flat Tax werden diskutiert. Abb. 22-1 zeigt neben der Flat Tax mit Grundfreibetrag die Variante einer echten Proportionalsteuer. Diese wird als integraler Bestandteil eines Steuer/Transfersystems gesehen, und stellt als Bürgergeld eine Kombination von Flat Tax und Grundtransfer dar 2. Abb. 22-1 Verschiedene Formen der Flat Tax verfügbares Einkommen (Yv)

Y

Flat Tax (proportional) Flat Tax (Grundfreibetrag) Flat Tax (Bürgergeld) B XG

zu versteuerndes Einkommen (Y)

Quelle: Owens (2006), S. 149.

Um das Einkommen umfassend zu definieren, müssen Steuervergünstigungen entfallen, so dass das Einkommen tatsächlich unabhängig von der Zusammensetzung und von den Bedingungen seiner Erzielung wird. Mit einem im Durchschnitt geringeren Steuersatz könnte bei umfassender Bemessungsgrundlage das gleiche Aufkommen erzielt werden 3. Die Erweiterung der Bemessungsgrundlage kann allokativ effizienter (weniger Substitutionseffekte) und gerechter (im Sinne von horizontaler Gleichbehandlung) sein. Eine solche Flat Tax sieht nur die steuerliche Abzugsfähigkeit weniger Tatbestände (wie die Ausgaben für die soziale Sicherung bei Belastung der Transfers) vor, die steuersystematisch zu rechtfertigen sind und zu einer besonders hohen Belastung (aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen) führen. Um eine Reform aufkommensneutral zu gestalten, wäre je nach Grundfreibetrag ein Grenzsteuersatz von

1 2

3

Vgl. Kapitel 10.3.c). Es gibt auch amerikanische Vorschläge einer Flat Tax, die eine lineare Einkommensteuer mit Grundfreibetrag vorschlägt, das Einkommen aber zinsbereinigt erfassen will und so nur auf das Arbeitseinkommen beschränkt (Hall/Rabushka 1995). Der gleiche Steuersatz soll auch auf die Unternehmenseinkommen angewendet werden, die als Cash-Flow-Steuer konzipiert ist. Die gewünschten Anreizeffekte vorausgesetzt könnte das Steueraufkommen bei einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der Bemessungsgrundlage sogar zunehmen.

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

30-40 % erforderlich 1,2.

b) Die persönliche Konsumsteuer (Ausgabensteuer) Die Ausgabensteuer (Expenditure Tax, Personal Consumption Tax) ist eine auf die Konsumausgaben eines Wirtschaftssubjekts erhobene Abgabe. Sie kann im Gegensatz zur Umsatzsteuer prinzipiell die – praktisch nur im Konsum zum Ausdruck kommenden – persönlichen Umstände des Konsumenten berücksichtigen und wird daher auch als persönliche Ausgabensteuer bezeichnet. Steuergegenstand sind die gesamten Konsumausgaben, nicht hingegen die Ausgaben für spezielle Konsumgüter. Im Vergleich hierzu schließt die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer (im Sinne des umfassenden Einkommensbegriffs) auch die Vermögensbildung '/ A9! (22-1)

Y ) C 9 [V ) AE 9 iV.

Hierbei sind AE die Arbeitseinkommen (= Nichtvermögenseinkommen), V das Vermögen und i dessen Ertragsrate. Die Einkommensteuer differenziert nicht nach der Verwendung, es ist also unerheblich, ob konsumiert oder gespart wird. Damit ist ihre Bemessungsgrundlage (bei S > 0) 3 größer als die Bemessungsgrundlage der Ausgabensteuer, die alle Vermögensänderungen des Steuerzahlers, aber auch die Erträge des Sparens ausschließt: (22-2)

C ) AE 9 iV 5 [V.

Soweit das Einkommen gespart wird, ist es ohne Wirkung auf die Höhe des steuerpflichtigen Konsums. Bei Y > C ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer größer als die der Ausgabensteuer. Daher muss – gleiches Aufkommen beider Abgaben vorausgesetzt – der Steuersatz in jedem Einkommensbereich (abgesehen von einem Grundfreibetrag) bei der Ausgabensteuer größer sein. Legt man vereinfachend eine durchschnittliche Konsumquote ¯c und einen konstanten Durchschnittssteuersatz ¯] Y der Einkommensteuer zugrunde, ist der Ausgabensteuersatz ]c festgelegt als (22-3)

]c )

]Y c

Nach Auffassung ihrer Befürworter ist die Ausgabensteuer der Einkommensteuer hinsichtlich Effizienz und Gerechtigkeit überlegen. So verzerrt sie die intertemporalen Konsumentscheidungen nicht. Die Einkommensteuer belastet hingegen Sparen 1 2

3

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (2004) hat eine solche Flat Tax mit einem Grenzsteuersatz von 30 % und einem Grundfreibetrag von 10 000 Euro vorgeschlagen. Fuest u.a. (2008) zeigen in einer Simulationsstudie für Deutschland den Zielkonflikt zwischen mehr Effizienz und weniger Gerechtigkeit, wenn ein geringer Grundfreibetrag mit geringem Steuersatz statt höheren Grundfreibetrag und höherem Steuersatz gewählt wird. Bei S < 0 gilt [V < 0.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

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und daraus fließende Zinsen und verringere den Nettoertrag der Ersparnis und bewirkt einen Substitutionseffekt, wodurch weniger gespart wird. Dies verzerrt den Lebenseinkommensverlauf und führt zu einer Zusatzlast. Der Wohlfahrtsverlust beruht auf dem Keil, der durch die Besteuerung der Zinsen zwischen die marginale Zeitpräferenz des Steuerzahlers, den Grenzertrag des Sparens und die Grenzproduktivität des Kapitals getrieben wird. Hierbei wird angenommen, dass die laufende Ersparnis ausschließlich dem künftigen Konsum dient. Dem halten Vertreter der Einkommensteuer entgegen, dass Nutzen auch aus dem gegenwärtigen Sparen gezogen wird, wenn der Vermögenszuwachs z.B. Sicherheits-, Macht- oder Prestigewirkungen hat. Dann ist aber eine Steuerbefreiung von Sparen und Zinsen nicht mehr neutral. Zwar ist ein Steuersystem nur dann effizient, wenn es die ökonomischen Aktivitäten nicht verzerrt. Tatsächlich rufen aber alle realisierbaren Steuern Verzerrungen hervor. So kann eine Ausgabensteuer zwar hinsichtlich der Konsum-Sparentscheidungen überlegen sein. Die Ausgabensteuer verzerrt aber wie die Einkommensteuer zulasten des offiziellen Arbeitsangebots bzw. zugunsten von Nichtmarktleistungen einschließlich Freizeit dann, wenn Arbeitsangebot und Lohnsatz nicht konstant sind. Daher ist unsicher, ob die Ausgabensteuer bei höheren Steuersätzen (zur Erzielung gleichen Aufkommens) weniger verzerrend auf die Allokation der Ressourcen wirkt. Der Anreiz zur Substitution zugunsten nichtbesteuerter Aktivitäten und zur Steuerhinterziehung ist bei der Ausgabensteuer größer, je höher die Sparneigung ist. Wenn die Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit stärker auf Steueränderungen reagiert als die Wahl zwischen Konsum und Sparen, kann die Einkommensteuer mit niedrigerem Tarif weniger Effizienzeinbußen als die Ausgabensteuer hervorrufen. Insgesamt gesehen ist die Überlegenheit keiner der beiden Steuern unter Effizienzgesichtspunkten eindeutig nachgewiesen. Weil die Ausgabensteuer lediglich den Verbrauch belastet, sind im Vergleich zur Einkommensteuer die Anreize zum Sparen, zur höheren Risikobereitschaft der Investoren und für ein größeres Arbeitsangebot größer. So kann ein Investor höhere Erträge auf riskante Anlagen erzielen, ohne ausgabensteuerpflichtig zu werden, wenn er die Erträge reinvestiert. Brutto- und Nettoverzinsung stimmen überein. Nur die für Konsumausgaben verwendeten Beträge unterliegen der Abgabe. Meist wird auch eine höhere Effizienz unterstellt, weil die Vielzahl von Sonderregelungen der Einkommensteuer (Ausklammerungen aus der Bemessungsgrundlage, begünstigte Steuertarife u.a.) in der Ausgabensteuer abgeschafft werden sollen. Aber auch hier besteht die Gefahr, dass in der Praxis Sonderregeln eingeführt werden. Die konsumorientierte Besteuerung erfüllt nach Auffassung ihrer Vertreter nicht nur alle denkbaren Neutralitäts- und Effizienzpostulate in beinahe idealer Form, sondern zugleich bei pragmatischer Umsetzung auch das lebenszeitlich interpretierte Leistungsfähigkeitsprinzip und somit auch die steuerliche Gerechtigkeit sowohl in horizontaler als auch vertikaler Interpretation. Entscheidend für das Konzept ist die Lebenszeit als relevante Periode. Auf das Lebenszyklus-Modell wird unter folgenden Annahmen zurückgegriffen: Die Individuen

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Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

treten bei gegebenen Fähigkeiten in den Arbeitsmarkt ein. Über das gesamte Leben besteht vollkommene Voraussicht und ein konstanter Lohn. Das gesamte Lebenseinkommen wird konsumiert. Das Individuum kann zu einem konstanten Zins investieren und Kredite aufnehmen (vollkommener Kapitalmarkt). Unter den Bedingungen des einfachen dynamischen Modells ist der Barwert des Lebenskonsums dem Barwert des Arbeitseinkommens über das Leben gleich. Diese Äquivalenz besteht auch netto dann, wenn eine direkte Besteuerung des Konsums und alternativ eine Besteuerung des Arbeitseinkommens mit gleichem proportionalen, im Zeitablauf konstanten Tarif eingeführt wird. Damit entspricht die Konsumsteuer einer Einkommensteuer zuzüglich einer gleich hohen Nachlasssteuer. Die Äquivalenz mit der Bemessungsgrundlage Lebenseinkommen erfordert eine Ergänzung der Konsumsteuer durch eine (Vermögenund/oder) Erblasssteuer mit dem gleichen Satz. Durch die Erblasssteuer werden Hinterlassenschaften wie eine Form des Verbrauchs interpretiert. Sie soll verhindern, dass Wirtschaftssubjekte dauerhaft durch Sparen und Vermögensübertragungen Steuern sparen können. Sie begünstigt so stärker als die Einkommensteuer die Bildung großer Vermögen. Die Erblasssteuer hat hier eine bedeutsamere Kontroll- und Nachholaufgabe als die traditionelle Erbschaftsteuer. Selbst bei erheblicher Kontrolle des Vermögens, der vergangenen Vermögensumschichtungen u.a. sind große Gestaltungsmöglichkeiten in diesem Teil der Konsumbesteuerung angelegt. Nur unter den o.g. Annahmen besteht die Äquivalenz von Arbeitseinkommen- und Ausgabensteuer. So ist der Lebenszeitaspekt angesichts der Unsicherheit über die künftigen politischen und ökonomischen Bedingungen unrealistisch. Bei vielen Haushalten dürfte die Voraussicht fehlen. Auch verhindert der unvollkommene Kapitalmarkt die Optimierung des Konsums über das Leben einer Person. Dann hängt aber die Leistungsfähigkeit stärker vom Einkommen über kürzere Perioden als über das Leben ab. Für Deutschland ist in jüngster Zeit mehrfach, insbesondere von Rose (1996, 1998), die Einführung einer persönlichen Konsumsteuer vorgeschlagen worden. Ziel der als Einfachsteuer bezeichneten konsumorientierten Besteuerung (Rose 2002, Petersen 2006) ist es, das Lebenseinkommen einmalig, gleichmäßig, einfach und unter Berücksichtigung eines Konsumexistenzminimums zu besteuern. Die als Einkommensteuer konzipierte Einfachsteuer hat zwei Erhebungsformen: Die persönliche Einkommensteuer der Bürger und die Gewinnsteuer großer Kapitalgesellschaften. Die Steuerbasis der persönlichen Einkommensteuer setzt sich aus den Einkünften aus nichtselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit sowie den Vorsorgeeinkünften zusammen. Abziehbar bei diesen drei Einkunftsarten sind Ausgaben für die berufliche Bildung (Humankapital) und ein Verlustvortrag aus früheren Steuerabschnitten. Gewinne von persönlich geführten Unternehmen gelten unabhängig von ihrer Rechtsform grundsätzlich zum Lebenseinkommen ihrer Eigentümer. Die Gewinne der Kapitalgesellschaften unterliegen der Gewinnsteuer, die aus Vereinfachungsgründen eine abschließende Belastung auf Unternehmensebene darstellt. Der Gewinn wird als zinsbereinigter kassenmäßiger Überschuss der Erwerbseinnahmen über die Erwerbsausgaben ermittelt. Es wird ein einheitlicher Steuersatz (Flat-rate Tarif) von 25 % vorgeschlagen, der mit den abschreckenden Wirkungen hoher Grenzsteuersätze auf die ökonomische Aktivität

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

623

begründet wird. Dividenden und Veräußerungsgewinne unterliegen nicht der Besteuerung. Um das erworbene Lebenseinkommen nur einmal zu belasten und eine Gleichbehandlung von Arbeits- und Kapitaleinkommen zu erreichen, findet eine Spar- bzw. Zinsbereinigung statt. Bei der Sparbereinigung bleibt der Teil des Einkommens, der zur Ersparnisbildung verwendet wurde, steuerfrei. Die spätere Auflösung des so gebildeten Vermögens einschließlich seine Erträge soll dann besteuert werden (nachgelagerte Besteuerung). Ziel ist es, die Verzinsungsrate der Ersparnis durch die Steuer nicht zu verringern (gleich bleibender Steuersatz im Zeitablauf unterstellt). Die Sparbereinigung findet bei Renten Anwendung. Bei der Zinsbereinigung bleibt eine marktübliche Verzinsung des Sparkapitals steuerfrei. Hierzu wird bei allen Gewinnen, Zinsen und sonstigen Kapitalerträgen eine standardisierte marktübliche Verzinsung des Sparkapitals steuerfrei gelassen. Der entsprechende Betrag wird als Grundrendite (oder Schutzzins) berechnet und besteht in einem um 2 Prozentpunkte erhöhten Basiszinssatz. Die Methoden der Sparbereinigung und der Zinsbereinigung unterscheiden sich durch den Zeitpunkt, zu welchem die Steuer abzuführen ist. Die sparbereinigte Konsumsteuer belastet nur den Teil des Einkommens, der nach Abzug der Ersparnis zum laufenden Konsum ausgegeben wurde. Die spätere Auflösung der aus Ersparnis entstandenen Vermögen für Konsumzwecke soll dann ebenfalls steuerpflichtig sein. Die zinsbereinigte Konsumsteuer wird aus erfassungstechnischen Gründen für einfacher gehalten. Bei diesem Konzept wird grundsätzlich das Einkommen wie bei der Einkommensteuer ermittelt, aber von der Bemessungsgrundlage werden empfangene Zinsen, Dividenden, Kapitalgewinne usw. abgezogen. Um die Belastung der ökonomischen Renten zu gewährleisten, soll von der Bemessungsgrundlage nur eine Normaloder Schutzverzinsung auf das steuerlich ausgewiesene Eigenkapital (ohne Konsumvermögen) abgezogen werden. Das Ergebnis der Zinsbereinigung entspricht dann grundsätzlich dem der Sparbereinigung, bei der auch die Rente belastet würde. Statt der laufenden Ersparnis wird bei der zweiten Methode die Verzinsung der in früheren Jahren gebildeten Ersparnis steuerfrei gelassen. Das Vorherrschen der Zinsbereinigung führt dazu, dass beim Konzept der Einfachsteuer die Konsumbasierung der Einkommensteuer nicht (vollständig) umgesetzt wird. Auch das Element der Sparbereinigung führt nicht zu dieser Umsetzung, da die versteuerten Renten durch den Steuerpflichtigen konsumiert oder erneut angelegt werden können, ohne dass die neue Ersparnisbildung zu einer Reduktion der Bemessungsgrundlage führt (Rose 2006). Periodisierungsprobleme sollen bei einer Ausgabensteuer mit proportionalem Tarif von geringer Bedeutung sein, weil der Verbraucher unabhängig von steuerlichen Erwägungen entscheiden kann, wann er seine Ressourcen verwendet. Bei einer proporti-

624

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

onalen Steuer 1 ist aber zu fragen, warum aufwändig der persönliche Konsum ermittelt wird, wenn das gleiche Ergebnis durch eine indirekte Konsumsteuer erreicht werden kann. Der Grundfreibetrag könnte als Pauschale ausgezahlt werden. Man müsste also nur die Umsatzsteuer auf einen Satz von etwa 40 % erhöhen. Hier mögen Anreizeffekte, Verwaltungskosten und Kontrollmöglichkeiten eine Begründung sein 2. Die Festlegung von Grund- und persönlichen Freibeträgen bei Krankheitskosten, Unterhalt u.ä. wird bei der Einfachsteuer durch den Grundfreibetrag (Lebensgrundbedarf) ersetzt. Die detailliertere Abgrenzung beruflich bedingter Ausgaben (Betriebsausgaben/Werbungskosten) bzw. privaten Konsums wird gelöst, indem diese Positionen eliminiert werden. Sie seien das „Einfallstor für nahezu willkürliche Entscheidungen auf der Ebene einzelner Finanzbehörden“ und verstießen zunehmend „gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung“ (Petersen 2006, S. 274). Dass durch Abschaffung dieser Regelung tatsächlich die Gleichbehandlung verbessert wird, wäre aber zu beweisen. So rigoros wie bei den Kosten der Einkommenserzielung (Betriebsausgaben/Werbungskosten) wird nicht bei den Abschreibungen verfahren. Während das ursprüngliche Konzept der Ausgabensteuer eine reine Kassenrechnung vorsah, damit auch den Sofortabzug der Investitionen, tauchen bei der jetzigen Version der persönlichen Konsumsteuer Abschreibungen wieder auf. Ein reines, ohne Ausnahmen der Theorie folgendes, Konzept ist auch hier nicht umzusetzen. c) Die Duale Einkommensteuer Die Duale Einkommensteuer ist eine analytische Einkommensteuer, die das gesamte Einkommen belastet. Sie unterscheidet zwei Einkunftsformen – Kapitaleinkommen (KE) und Erwerbseinkommen (E) –, die unabhängig voneinander unterschiedlich belastet werden 3. Auch die Art der Einkünfteermittlung kann sich unterscheiden. Kapitaleinkommen umfassen in der Interpretation des Sachverständigenrates (2006) neben Fremdkapitalzinsen auch eine Eigenkapitalverzinsung. Die über diese kalkulatorische Größe hinausgehenden Gewinnanteile werden mit den übrigen Einkünften zu den Erwerbseinkommen zusammen gefasst. Daher gilt aus der Sicht der besteuerten Personen (22-2)

T ) ] KE KE 9 ] E E mit ] KE ) const , d] E / dE ' 0 .

Die kalkulatorische Eigenkapitalverzinsung wird auf Basis der langfristigen Fremdkapitalzinsen festgelegt, um so Finanzierungsneutralität zu erreichen. Um auch Rechtsformneutralität zu bewirken, ist die Duale Einkommensteuer mit der Körperschaftsteuer abzustimmen. Der Sachverständigenrat schlägt einen Steuersatz von 25 % auf Kapitaleinkommen vor – bei gleicher Tarifbelastung auf Kapitalgesellschaftsebene. Andere Unternehmenssteuern (Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag) sollen darin eingehen. Um auch eine entsprechende Belastung der Personengesellschaften zu 1 2 3

Allerdings mit Freibetrag. Auch Hall/Rabushka (1995) schlagen zwei Steuern vor. Dieser Gegensatz zu einer konsumorientierten Besteuerung entfällt allerdings im Grenzfall mit ]KE = 0.

22. Kapitel: Politische Ökonomie der Besteuerung und Steuerreformen

625

erreichen, kann auch dort der beschriebene Rechnungszins z.B. auf das Eigenkapital des Unternehmens angewandt werden. Als Vorteile der Dualen Einkommensteuer wird insbesondere die steuerliche Standortattraktivität genannt, die sich wegen der reduzierten Tarifbelastung auf Kapitalgesellschaftsebene verbessern wird. „Die Duale Einkommensteuer führt überdies zu einem hohen Maß an Entscheidungsneutralität. Sie gewährleistet Finanzierungsneutralität für die so genannte Grenzinvestition, die gerade den Kapitalmarktzins erwirtschaftet. Da dies unabhängig von der Rechtsform gilt, wird insoweit auch Rechtsformneutralität erreicht“ (Sachverständigenrat 2006, Tz. 421). Auch soll eine von den Kapitaleinkommen getrennte Besteuerung der übrigen Einkommen den EU-Mitgliedstaaten bei einer möglichen Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung wesentliche Bereiche ihrer Steuerautonomie und damit größere Spielräume für die nationale steuerliche Umverteilungspolitik lassen. Durch die Aufspaltung der Einkommensteuer in zwei Komponenten hat die Steuerpolitik zusätzliche Freiheitsgrade. Kapitaleinkommen umfassen verschiedene Komponenten (Unternehmensgewinne, Dividenden, Zinseinkommen, Kapitalgewinne). Die Arbeitseinkommen bestehen aus den Löhnen und Gehältern, Fringe Benefits, Pensionen und Sozialversicherungsrenten. Die Kosten der Einkommenserzielung werden bei beiden Einkunftsarten jeweils abgezogen. Die Duale Einkommensteuer belastet die Arbeitseinkommen relativ hoch und entmutigt so die Humankapitalbildung, weil Teile der Investitionserträge in späteren Perioden erneut besteuert werden. Im Gegensatz hierzu findet im Konzept der konsumorientierten Besteuerung durch die Behandlung der Humankapitalausgaben als Sparen eine Förderung statt, die auch in der bestehenden Einkommensteuer nicht vorgesehen ist. Bei der Einkommensteuer werden Arbeitseinkommen mit den übrigen Einkünften zusammengefasst und gleich besteuert. Die Kenntnis der (unterstellten) Arbeitseinkommen der Selbständigen wird nicht benötigt. Die unterschiedlichen Steuersätze bei der Dualen Einkommensteuer geben Anreize die Arbeits-/Kapitaleinkommensstruktur zu ändern und so die Steuerzahlungen zu minimieren. Beim Kapitaleinkommen ist (wie bei der Zinsbereinigung in der konsumorientierten Besteuerung) ein Normeinkommen zu definieren, was willkürlich ist. Eine willkürlich gewählte Größe ist allerdings nur ein begrenzt als nichtverzerrend angesehener Faktor zu betrachten. Das Restkapitaleinkommen enthält verschiedenste Komponenten wie Renten, Risikoprämien, Windfall Profits, die eher Kapitalgewinne als Arbeitseinkommen sind. 3. Keine systemneutrale Reform der Unternehmensbesteuerung In den letzten Jahren wurden mehrere Vorschläge zur Reform der Unternehmensbesteuerung erarbeitet. Keines dieser Konzepte wurde in Deutschland systematisch verwirklicht. Die Einführung einer Abgeltungsteuer mit einem Satz von 25 % weist in Richtung auf die Duale Einkommensteuer. Sie ist aber nur ein Baustein des Konzepts, der mit der Standortattraktivität verbunden wird. Grundsätzlich ist die steuerliche Attraktivität umso größer, je geringer die effektive Durchschnittssteuerbelastung unternehmerischer Gewinne ist. Die effektive Durchschnittsbelastung wird maßgeblich von

626

Sechster Teil: Die Steuern in Deutschland und Steuerreformen

den tariflichen Steuersätzen bestimmt. Die tariflichen Steuersätze wurden zusammen mit der Gewerbesteuer gesenkt – bei gleichzeitiger Ausweitung der Bemessungsgrundlage. Diese Maßnahme entspricht dem Konzept einer umfassenden synthetischen Einkommensteuer, nicht aber die damit in der Praxis verbundene Einführung und Ausdehnung vieler Sollsteuer-Elemente. Die Hinzurechnung von Fremdkapitalzinsen bei der Gewerbesteuer, die Besteuerung der Schuldzinsen u.a. bei der Körperschaftsteuer macht die Stärkung der steuerlichen Standortattraktivität bei geringerer Tarifbelastung weitgehend zunichte. Gleichzeitig wird die Risikobeteiligung des Staates verringert. Steuerreformen sind meist von geringer Haltbarkeit, weil es ein Kompromiss ist, auf den internationalen Steuerwettbewerb reagieren zu müssen und divergierende heimische Interessen zu neutralisieren. Literatur zum 22. Kapitel In die politische Ökonomie der Besteuerung führt Franke (1996, 1993) ein. Zur Theorie der Steuerreform siehe Feldstein (1976a, b). Die Forderungen nach Steuerreform und insbesondere Vereinfachung finden sich auch in anderen Ländern. Für Deutschland siehe z.B. Sachverständigenrat (2003) und Seidl/Jickeli (2006). Die Ausgabensteuer erläutern Peffekoven (1980b), Peffekoven/Fischer (1982), Rose (1990, 1991, 2006) und der von Smekal u.a. (1999) herausgegebene Band wieder. Einen knappen Überblick über Art und Problematik von Cash-Flow-Steuern gibt Cansier (1989), zu verschiedenen Vorschlägen einer Cash-Flow-Steuer siehe Sinn (1987a, b). Literatur zum Übergang von der einkommens- zur konsumbezogenen Besteuerung wertet Auerbach (2008) aus. Zur Flat Tax im Vergleich zur Dualen Einkommensteuer siehe Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2003). Keen u.a. (2008) untersuchen verschiedene Formen der Flat Tax in mehreren Ländern. Die Duale Einkommensteuer schlägt der Sachverständigenrat (2003) vor und entwickelt das Konzept (2006) zusammen mit der Max Planck Gesellschaft und dem ZEW. Zu Übersichten und Analyse siehe dort und Seidl (2006).

Siebter Teil Staatsverschuldung 23. Kapitel Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung 1. Einleitung Neben den Steuern, Gebühren und Beiträgen stellt die Staatsverschuldung („öffentliche Kreditaufnahme“) eine weitere wichtige Einnahmenkategorie des Staates dar. Sie beruht nicht wie Steuern auf staatlichem Zwang. Der öffentliche Sektor muss sich wie der private Sektor den marktmäßigen Kreditbeziehungen anpassen, um eine freiwillige Leistung der anderen inländischen Sektoren und des Auslands zu erhalten. Staatsverschuldung wird auch als vorläufige Einnahme bezeichnet, weil sie zu späteren Zinsund Tilgungszahlungen führt, die durch künftige Kredite, Steuern oder Ausgabensenkungen des Staates in anderen Bereichen finanziert werden müssen. Der kurzfristigen Ausdehnung der Einnahmenseite durch die Aufnahme von Krediten steht daher eine mittel- bis langfristige Belastung der Ausgabenseite in Form des Schuldendienstes gegenüber. 2. Formen, Struktur und Entwicklung der öffentlichen Verschuldung Die Staatsverschuldung kann nach Kreditnehmern, Schuldarten und Gläubigern unterschieden werden (Tab. 23-1). Diese Kriterien lassen sich in gleicher Weise auf Stand und Veränderung der Verschuldung anwenden. Kreditnehmer können nicht nur Bund, Länder und Gemeinden, sondern auch verschiedene Fonds sein, wodurch die Überschaubarkeit erschwert wird. Das zeigte sich an den Schulden der im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung gebildeten Fonds, die zwischenzeitlich zusammengeführt wurden1 und nun als Teil der Verschuldung der Gebietskörperschaften nachgewiesen werden. Auch indirekt kann der Staat sich verschulden, indem er kreditfinanzierte (Aufgaben und) Ausgaben auf eigene Kreditinstitute verlagert. Gut 60 % des Schuldenstandes der öffentlichen Haushalte entfielen 2009 auf den Bund (einschl. seiner Sonderrechnungen). Die Staatsverschuldung entspricht hier den VGR nach ESVG 1995. Sie unterscheidet sich gering vom Maastricht-Schuldenstand2.

1

2

So die bis Ende 1994 aufgelaufenen Schulden der Treuhandanstalt und ein Teil der Verbindlichkeiten der ostdeutschen Wohnungswirtschaft. Im Juli 1999 erfolgte eine Mitübernahme der Schulden des Erblastentilgungsfonds, des Bundeseisenbahnvermögens und des Ausgleichsfonds „Steinkohleneinsatz“ durch den Bund. Unter anderem um einige Finanzinstrumente wie Finanzderivate, sonstige Forderungen und versicherungstechnische Rückstellungen. Von Interesse ist auch das staatlich gehaltene Finanzvermögen, das das Refinanzierungsrisiko verringern kann.

Siebter Teil: Staatsverschuldung

628

Tab. 23-1 Die öffentliche Verschuldung in Deutschland Ende 2000, 2005 und 20091 2000 Mrd. € Kredit- Bund nehmer Länder

%

2009 Mrd. €

%

774,8

64,0

886,3

59,5

1033,0

62,3

338,1

27,9

471,4

31,7

505,4

30,5

98,5

8,1

116,0

7,8

119,5

7,2

Öff. Haush. insges.

1211,4

100,0

1489,0

100,0

1657,8

100,0

11,6 109,5 126,3 36,0 438,9 . 433,4 0,2 10,5 44,5

1,0 9,0 10,4 3,0 36,2 . 35,8 0,0 0,9 3,7

36,9 310,0 174,4 11,1 521,8 . 367,0 0,5 62,8 4,4

2,5 20,8 11,7 0,7 35,1 . 24,6 0,0 4,2 0,3

106,0 361,7 174,2 9,5 595,0 2,5 300,9 0,5 103,0 4,5

6,4 21,8 10,5 0,6 35,9 0,1 18,2 0,0 15,7 0,3

1211,4

100,0

1489,0

100,0

1657,8

100,0

Bankensystem Bundesbank Kreditinstitute

4,4 565,4

0,4 46,7

4,4 518,5

0,3 34,8

4,4 438,8

0,3 26,5

Inländ. Nichtbanken Sozialversicherungen Sonstige

0,2 200,7

0,0 16,6

0,5 312,2

0,0 21,0

0,5 332,8

0,0 20,1

Ausland

440,7

36,4

653,4

43,9

881,3

53,2

1211,4

100,0

1489,0

100,0

1657,8

100,0

Öff. Haush. insges.

Öff. Haush. insges. 1

2005 Mrd. €

Gemeinden insges.

Schuld- Unverzinsl. Schatzanw. Obligationen/Schatzan. arten Bundesobligationen Bundesschatzbriefe Anleihen Tagesanleihen Direktausl. d. Kreditinst. Darlehen v. Sozialvers. Sonstige Darlehen Altschulden, Ausgl.ford.

Gläubiger

%

Ohne Verschuldung der Haushalte untereinander.

Quellen: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht November 2001, S. 57*; Juni 2006, S. 57*; Oktober 2010, S. 59*/60*; eigene Berechnungen.

Kredite können im Inland und Ausland aufgenommen werden. Als Gläubiger von Inlandskrediten treten Kreditinstitute und inländische Nichtbanken (nicht-finanzielle Unternehmen, Kapitalsammelstellen, private Haushalte) und Sozialversicherungen auf. Bemerkenswert ist, dass seit 2000 die Verschuldung bei ausländischen Gläubigern von 36 % auf 53 % im Jahre 2009 angestiegen ist. Unverzinsliche Schatzanweisungen sind Diskontpapiere mit einer Laufzeit bis zu 24 Monaten. Sie spielten in dem Zeitraum eine untergeordnete Rolle (2009: 6 %) Kassenobligationen, Bundesobligationen, Bundesschatzbriefe sind festverzinsliche Wertpapiere, die eine Laufzeit von 3 bis 10 Jahren haben1, Anleihen werden grundsätzlich mit einer Laufzeit von 10 bis 30 Jahren ausgegeben. Sie stellen die wichtigste Position innerhalb der Schuldenarten dar (36 %). Bedeutsam waren ferner die Direktausleihungen der Kreditinstitute (knapp 1

Seit 2008 werden auch Tagesanleihen ausgegeben.

23. Kapitel: Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung

629

25 %). Es handelt sich hierbei um Schuldscheindarlehen, deren Verzinsung sehr unterschiedlich sein kann und deren Laufzeit meist vier Jahre und darüber beträgt. Haushaltsrechtlich wird unterschieden zwischen (Finanzierungs-) Krediten, die als Einnahmen und dem Ausgleich des Haushalts dienen, sowie Kassenkrediten zur Liquiditätssicherung. Letztere dürfen aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung durch das Haushaltsgesetz bis zum Ende des laufenden Haushaltsjahres bzw. bis zur Verkündung des nächsten Haushaltsgesetzes nur durch Rückgriff auf den Geldmarkt genommen werden1. Aufnahme und Rücknahme von Kassenkrediten gelten als haushaltsneutraler Vorgang. Außerhalb des Haushaltsplans wird der vom Gemeinderad beschlossene Höchstbetrag der Kassenkredite festgesetzt. Seit 1994 (Maastricht-Abkommen) ist eine monetäre Finanzierung von Haushaltsdefiziten direkt durch die Notenbank oder indirekt durch bevorrechtigten Zugang zu Finanzinstituten verboten. Diese Regel, die die Vermischung von Fiskal- und Geldpolitik verhindern soll, wurde 2010 durch die Entscheidung des EZB-Rates durchbrochen, Staatsanleihen zu kaufen.

3. Indikatoren zur kurz- und mittelfristigen Analyse der Staatsverschuldung Eine Auseinandersetzung mit der Staatsverschuldung erfordert die Kenntnis der Höhe und Struktur des kumulierten Schuldenstandes sowie des Ausmaßes der jährlichen Neuverschuldung. Für viele Fragen sind dabei weniger die absoluten Zahlen der öffentlichen Verschuldung von Bedeutung als ihre Relation zu anderen ökonomischen Größen. So haben derselbe Schuldenstand und die darauf zu zahlenden Zinsen unterschiedliche Bedeutung, wenn sie von einer kleinen oder großen Bevölkerung zu tragen oder aus einem kleineren oder größeren BIP zu finanzieren sind. Unter Berücksichtigung von Schulden und Zinszahlungen sind insbesondere folgende Indikatoren von Interesse:2 S Die Zins-Steuer-Quote (R/T) bringt zum Ausdruck, in welchem Ausmaß die Belastung durch Zinsen (R) Steuern (T) oder die gesamten Einnahmen (Ein)3 bindet und der Verwendung bei der Erfüllung der eigentlichen Staatsaufgaben entzieht. Die Veränderung der Relation der in dieser Größe enthaltenen absoluten Werte oder ihrer Veränderungs-raten (wR und wT) deutet auf die unterschiedliche budgetäre Belastung. Bei wR/wT > 1 werden die steuerfinanzierten Ausgabenspielräume eingeschränkt. 1

2

3

Die seit Einführung der doppelten Buchführung als Kredite zur Liquiditätssicherung bezeichneten Kassenkredite der Kommunen dürfen (zumindest in NRW) auch als Tagesanleihen aufgenommen werden. Die kommunalen Kassenkredite sind von 6,9 (2000) auf 24,9 Mrd. Euro im Jahr 2009 (davon knapp 45 % in NRW) gestiegen (vgl. BMF 2010). Der Stabilitätsrat hat zur regelmäßigen Haushaltsüberwachung vier Kennziffern beschlossen: den strukturellen Finanzierungssaldo, den Schuldenstand, die Kreditfinanzierungs-Quote und die Zins-Steuer-Quote. Sie bilden aber nur einen Teil eines Frühwarnsystems (Junkernheinrich 2008), dass neben kurzfristigen (konjunkturorientierten) Risiken auch den mittel- und langfristigen Risiken (nachhaltigkeitsorientiert) Rechnung trägt (vgl. Kapitel 25.4). In der Tabelle werden mit T die gesamten nichtkreditären Einnahmen dargestellt, die insbesondere auch Sozialbeiträge, Verkäufe, Vermögenseinkommen und Vermögenstransfers einschließen. Die jeweils von Bundesbank, Sachverständigenrat und anderen Institutionen vorgelegten Quoten variieren, je nachdem, wie umfassend die Einnahmen oder Steuern abgegrenzt sind.

630

Siebter Teil: Staatsverschuldung

S Die Zins-Ausgaben-Quote (R/A) zeigt, welcher Anteil an den gesamten Staatsausgaben A (bzw. am Haushalt) auf den Schuldendienst entfällt. R/A ist wie R/T insbesondere dann aussagekräftig, wenn der Gestaltungsspielraum für die Erzielung eines höheren Steueraufkommens oder für die Verringerung des Ausgabenanstiegs gering ist. Das kann aus allgemeinpolitischen, haushaltspolitischen oder haushaltsrechtlichen Gründen eintreten oder durch internationalen Steuerwettbewerb bedingt sein. S Zuweilen wird auch eine Zinsquote des Staates (R/BIP) berechnet, wobei im Nenner das Bruttoinlandsprodukt steht. Das BIP ist insofern eine sinnvolle Bezugsgröße, als auch das Steueraufkommen, aus dem der laufende Schuldendienst geleistet werden muss, wesentlich vom BIP abhängt. S Die Größe (Ein-G)/BIP " 0 stellt auf den Saldo aus Einnahmen Ein und den Ausgaben ohne Zinsen G der öffentlichen Haushalte ab. Bei einem positiven Saldo spricht man von einem Primärüberschuss. Er zeigt, dass die Einnahmen ausreichen, um die Kernaufgaben des Staates zu finanzieren und einen Teil der Zinsausgaben zu decken. Bezogen auf das BIP spricht man von der Primärüberschuss-Quote. Zusammen mit Zins und Wachstumsrate ergibt sich hiermit ein aussagekräftiges analytisches Instrument, das im 25. Kapitel behandelt wird. S Die Kreditfinanzierungsquote ([F/A) gibt den Anteil der durch Nettokreditaufnahme1 finanzierten Ausgaben an. Die Beurteilung dieser Kennziffer fällt unterschiedlich aus, je nachdem wie stark die Ausgaben zukunftswirksam sind, d.h. das Produktionspotenzial beeinflussen. Die Quote wird insbesondere für konjunkturpolitische Analysen herangezogen. S Die Defizitquote ([F/BIP) bezieht den Finanzierungssaldo auf das BIP. Die den Finanzierungssaldo auf VGR-Basis einbeziehende Defizitquote ist ein wichtigen Indikator für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion und darüber hinaus für die Beurteilung der Finanzpolitik. Sie wird strukturellen und konjunkturellen Einflüssen bestimmt. S Die Schulden(stands)quote (F/BIP), die die Höhe der Schulden auf das BIP bezieht, ist ein weiterer Indikator für die EU-Stabilisierungspolitik. Er spiegelt eher das langfristige Ergebnis der Haushaltspolitik wider, hier wird eine Bestandsgröße auf eine im Konjunkturverlauf schwankende Stromgröße bezogen. Mit steigender Schuldenquote sind in der Regel auch überdurchschnittliche Tilgungsverpflichtungen verbunden und cet. par. nehmen die Zinsausgaben in Relation zum BIP (bzw. zu den gesamten öffentlichen Ausgaben) zu. Es wird dann schwieriger, Zinsen zu zahlen und Schulden zurückzuführen2. S Der Schuldenstand je Einwohner als weitere vergangenheitsorientierte Kennzahl spiegelt die früheren Haushaltsdefizite als Belastung der Einwohner wider. 1

2

In Tab. 23-2 wurde vereinfachend das Defizit statt der Nettokreditaufnahme berücksichtigt. Beide können geringfügig, insbesondere um die Münzeinnahmen und Rücklagenbildung) auseinanderfallen. Die Entwicklung kann zusätzlich durch steigende Risikoprämien und schlechteres Rating verstärkt werden. F zeigt die Bruttoschuld, die Vermögenswerte werden nicht berücksichtigt. Das beeinträchtigt die Vergleichbarkeit der Daten z.B. in Tab. 23-4.

23. Kapitel: Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung

631

Tab. 23-2 Indikatoren der Staatsverschuldung1 Ein

T2

65,1 62,6 65,6 67,3 66,7 62,2

957,5 976,1 1017,1 1065,8 1088,5 1066,0

499,0 493,2 530,6 576,4 590,1 564,5

Jahr

R/Ein

R/T2

R/A

R/BIP

2000 2005 2006 2007 2008 2009

6,8 6,4 6,5 6,3 6,1 5,8

13,0 12,7 12,4 11,7 11,3 11,0

7,0 6,0 6,2 6,4 6,1 5,4

3,2 2,8 2,8 2,8 2,7 2,6

Jahr

R

2000 2005 2006 2007 2008 2009

A in Mrd. Euro 930,4 1050,3 1054,2 1059,4 1085,6 1138,7

in %

G3

[F

F

BIP

865,3 987,7 988,4 992,1 1018,8 1076,7

+27,1 -74,2 -37,1 +6,3 +2,8 -72,7

1211,5 1489,0 1533,7 1540,4 1564,6 1658,1

2062,5 2242,2 2326,5 2432,4 2481,2 2397,1

(T-G)/ BIP

[F/A5

[F/BIP

F/BIP

+4,5 -0,5 +1,2 +3,0 +2,8 -0,4

+2,9 -3,3 -1,6 +0,1 +0,1 -3,0

+1,3 -3,3 -1,6 +0,3 +0,1 -3,0

58,7 66,4 65,9 63,3 63,1 69,2

1

Alle Größen nach VGR. Ohne inländische Steuern an EU und ohne Vermögenstransfers. 3 G=A–R 4 Einschl. Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen 5 [F > 0 positiver Budgetsaldo, [F < 0 Defizit. 2

Quelle: Statistisches Bundesamt (2010); eigene Berechnungen.

Tab. 23-2 zeigt die Indikatoren zur Beurteilung der Staatsverschuldung seit 2000 auf VGR-Basis. Die Quoten weichen nicht nur gegenüber einer Rechnung auf Basis der Finanzstatistik ab, sie fallen auch unterschiedlich aus, je nach Einbeziehung der vermögenswirksamen Steuern, Steuern an die EU, Sozialbeiträge und Sondereinnahmen (beispielsweise UMTS-Versteigerung 2000) bei den Einnahmen bzw. Steuern, sowie den unterstellten Sozialbeiträgen und geleistete Vermögenstransfers bei den Ausgaben. Sämtliche Daten hier und auch in der folgenden Tabelle beziehen sich auf die offenliegende Staatsschuld. Diese stellt aber nur einen Teil der Belastungen künftiger Generationen dar, zu denen auch die implizite Staatsschuld (vgl. unten) gerechnet werden muss. 4. Die Staatsverschuldung im internationalen Vergleich Für die Beurteilung der deutschen Staatsverschuldung im internationalen Vergleich sind die besonderen Ausgangsbedingungen in der Bundesrepublik mit der Währungsreform zu berücksichtigen. Die Schulden begannen bei Null. Andererseits wirkte der Sonderfall der Wiedervereinigung sich in einem deutlichen Schuldenanstieg aus. Tab. 23-3 zeigt, dass die starke Zunahme der Quote in den 80er und 90er Jahren nicht nur in Deutschland festzustellen ist. Sie war 2005 geringer und stieg danach wieder an. Der

Siebter Teil: Staatsverschuldung

632

in Tab. 23-4 gezeigte weitere Anstieg der Schuldenquote und die weiteren Indikatoren zeigen eine starke Verwundbarkeit der aufgeführten Länder. Tab. 23-3 Verwundbarkeiten in ausgewählten Ländern Prognosewerte

Land USA Japan Vereinigtes Königreich Euro-Raum Deutschland Frankreich Griechenland Irland Italien Portugal Spanien

Defizit in % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2010 -11,1 -9,6 -10,2 -6,5 -4,5 -8,0 -7,9 -32,0 -5,1 -7,3 -9,3

2010

2010

2015

2010/20111

Anteil der AuslandsVerschuldung des Staates in % des BIP 2010

92,7 227,2 76,7 84,1 75,3 84,2 130,2 98,6 118,4 83,1 63,5

2,4 2,9 2,9 3,0 2,6 2,6 5,6 3,3 4,6 3,2 2,3

4,9 4,0 3,5 3,4 2,1 2,9 7,8 5,2 5,5 4,1 3,9

27,2 59,1 15,7 13,8 21,5 24,6 17,3 24,6 20,7 19,0

26,7 11,5 18,5 37,8 51,4 94,2 54,9 55,5 59,9 31,1

Bruttostaatsverschuldung in % des BIP

Zinszahlungen in % des BIP

Finanzierungsbedarf in % des BIP

Veränderung des BIP 2010 in % gegen Vj. 2009 2,6 2,8 1,7 1,7 3,3 1,6 -4,0 -0,3 1,0 1,1 -0,4

1

4. Quartal 2010 bis 4. Quartal 2011; berechnet als Summe aus anstehenden Fälligkeiten und Haushaltssaldo in Prozent des für 2011 prognostizierten BIP

Quelle: Deutsche Bundesbank (2010, S. 20) nach Bloomberg, IWF und OECD.

5. Implizite Staatsschulden Wenn mit Staatsverschuldung eine Last verbunden ist, kann diese in einer Nutzeneinbuße bzw. in einer Verringerung der privat verfügbaren Ressourcen jetzt und/oder künftig bzw. bei der gegenwärtig lebenden oder bei künftigen Generationen bestehen. Unter diesem Aspekt gibt es aber auch implizite (verdeckte) Formen der Verschuldung. So sind bei umlagefinanzierten Transfersystemen künftige staatliche Verpflichtungen als Folge der jetzt geltenden Regeln programmiert. Verdeckte öffentliche Schuld wird als Barwert der Pensions-, Renten- und Pflegezahlungen verstanden, die eine Verpflichtung zur Verwendung künftig erzielter Steuern und Beiträge darstellen. Die implizite Verschuldung wird – bei Erhalt des Systems – für die künftigen Generationen bei abnehmender Geburtenrate und steigender Lebenserwartung bedeutsamer: Es müssen immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner aufkommen, ohne dass ein entsprechender Ausgleich durch gestiegenen Kapitalbestand und erhöhte Arbeitsproduktivität gegeben ist1. Die Etablierung solcher umlagefinanzierter „Systeme“ stellt folglich Entscheidungen auf Rechnung Dritter dar. Sie lassen sich nur durch kapitalbildende Versicherungssysteme vermeiden. Die Einführung der Pflegeversicherung zeigt, dass mit Maßnahmen, die auf dem Umlageverfahren beruhen, Ausgaben

1

Eine alternde Bevölkerung wirkt sich eher in einer sinkenden Arbeitsproduktivität aus.

23. Kapitel: Formen, Struktur und Umfang der Staatsverschuldung

633

aus dem Stand heraus getätigt werden können, die eigentlichen Belastungen aber aufgeschoben werden. Tab. 23-4 Staatsschuldenquote im internationalen Vergleich Land Deutschland1 . . . . . . Belgien . . . . . . . . Dänemark . . . . . . . Finnland . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . Griechenland . . . . . Irland . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . Niederlande . . . . . . Österreich . . . . . . . Portugal . . . . . . . . Schweden . . . . . . . Spanien . . . . . . . . Großbritannien . Japan . . . . . . . . . USA . . . . . . . . . . 1

1980

1985

30,3 74,1 39,1 11,3 20,8 25,0 69,0 56,9 45,5 35,4 30,6 40,0 16,4 52,3 55,0 42,0

139,5 115,2 74,7 16,0 3030,3 53,6 100,6 80,5 69,6 48,1 58,4 61,9 41,4 51,8 72,2 55,8

Bruttoschuld des Staates in % des BIP 1990 1995 2000 2005 41,3 125,7 62,0 14,0 35,3 79,6 93,2 94,7 76,1 56,1 55,3 42,0 42,6 33,4 68,6 63,6

55,6 129,7 72,5 56,7 55,1 108,7 81,1 121,2 76,1 67,9 61,0 73,0 62,7 51,0 87,6 71,3

59,7 107,9 51,5 43,8 57,3 103,4 37,8 109,2 53,8 65,5 50,5 53,6 59,3 41,0 142,1 55,5

67,9 93,2 36,3 41,4 66,2 107,5 27,4 106,2 52,7 63,5 63,6 52,2 43,2 42,2 173,1 62,2

2009 73,2 96,7 41,6 40,0 77,6 115,1 64,0 115,8 60,9 66,5 76,8 42,3 53,2 68,1 189,2 84,5

Ab 1991 Gebietsstand nach dem 3.10.1990.

Quelle: Monatsbericht des BMF, Juni 2007, S. 102; Finanzbericht 2011, S. 389, 391.

Die implizite Verschuldung weist einige Unterschiede zur expliziten Staatsschuld auf (Holzmann u.a. 2000). Die Gläubiger solcher umlagefinanzierten Systeme treten diesen nicht freiwillig bei, sondern werden per Gesetz dazu gezwungen. Im Gegensatz zu Staatsanleihen gibt es keine (einklagbaren) Zusagen auf eine beitragsäquivalente Rente und keinen Markt für diese Zusagen. Die Rendite staatlicher Renten, Pensionen usw. hängt von den verschiedenen Variablen ab, die der Staat direkt oder indirekt verändern kann, z.B. durch andere Rentenformeln, Pensionsgesetze u.ä. Während bei öffentlichen Krediten – sieht man von Preisindexklauseln ab – die Höhe des Schuldendienstes feststeht, hängen die Leistungen und damit die Ausgaben für Altersversorgung und Gesundheit von Arbeitsmarktbeteiligung, Geburtenrate, Morbidität und Mortalität ab. Erste Berechnungen des Statistischen Bundesamtes1 (Braakmann u.a. 2007) zeigen, dass die bislang aufgelaufenen Verpflichtungen allein der gesetzlichen Rentenversicherung etwa das Dreifache der ausgewiesenen Staatsverschuldung ausmachen. Raffelhüschen (2010) schätzt die gesamte implizite Verschuldung für 2008 auf 251 % des BIP. Sie ist damit fast viermal so hoch wie die explizite Staatsschuld. Für die Berechnung ist es wichtig, auf welche Generationen sie sich bezieht: die gegenwärtig lebenden (alle?) oder auch künftige. Allerdings kann die implizite Staatsschuld durch Anpassungen an die demografischen Entwicklungen verringert werden. Sie kann 1

Im Zuge der Modernisierung der Vermögensrechnung des Bundes hat das Bundesministerium der Finanzen (2009) parallel dazu erste Schätzungen der Versorgungs- und Beihilfeverpflichtungen vorgelegt.

634

Siebter Teil: Staatsverschuldung

beispielsweise durch das schrittweise Heraufsetzen des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre nach Berechnungen des Sachverständigenrates (2003) um 20 % reduziert werden. Im Konzept der Tragfähigkeitslücke werden explizite und implizite Staatsverschuldung zusammengefasst. 6. Hilfen und Bürgschaften aufgrund der Finanzkrise Insbesondere angesichts ihrer Größenordnungen sind die Hilfen zur Stützung des Bankensektors und die Bürgschaften für andere Länder (Rettungsschirm u.a.) ein gewichtiges Problem, das die Defizit- und Schuldenstandsquote erheblich in die Höhe treiben kann. Soweit die Unterstützung des Bankensektors als Erwerb von Finanzvermögen (Kapitalbeteiligung) klassifiziert wird, ist sie nicht defizitwirksam, erhöht aber den Schuldenstand. Gelten die Maßnahmen als Subventionen, stellen sie Ausgaben dar und beeinflussen die Höhe des Budgetdefizits des Staates. Hierbei ist letztlich die Entscheidung von Eurostat maßgeblich. Bürgschaften gelten als Eventualverbindlichkeiten, schlagen sich folglich nicht unmittelbar im Haushalt und in den VGR als Ausgaben nieder. Die Hilfen der europäischen Finanzmarktstabilisierungsfazilität bzw. deren geforderter Dauereinrichtung stellen formal keine Kredite dar. Zu Transfers werden sie aber unweigerlich dann, wenn die Kredite nicht angemessen verzinst werden bzw. voll zurückgezahlt werden. Größe und Bedingungen der betroffenen Länder (insbesondere Griechenland) sprechen eher dafür, dass damit nicht zu rechnen ist. Hohe Risiken stellen auch die Käufe problematischer Staatsanleihen durch die EZB dar. Abgesehen von der monetären Alimentierung der entsprechenden Länderhaushalte wird die EZB zur Bad Bank mit entsprechenden Risiken. Müssen die Papiere abgewertet werden, sinkt das Vermögen der EZB und Deutschland muss entsprechend seiner Quote Kapital nachschießen. Literatur zum 23. Kapitel Aktuelles Zahlenmaterial für Deutschland und andere Länder finden sich im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, im jährlich erscheinenden Finanzbericht des Bundesministeriums der Finanzen und in den Jahresgutachten des SVR. Daten zur Schuldenentwicklung, die teilweise bis 1880 zurückgehen, enthält Simmert/Wagner (1981). Zur Berechnung der impliziten Schuld siehe Holzmann/Palacio/Zviniene (2000), Schätzungen legt der Sachverständigenrat im JG 2004/05 vor. Zur unterschiedlichen Abgrenzung der öffentlichen Gesamtschulden siehe Deutsche Bundesbank (2000b, S. 21). Daten zur Verschuldung bis 2007 enthält auch die Expertise des SVR (2007). Zur Erfassung der impliziten Staatsschulden in den VGR siehe Braakmann u.a. (2007).

24. Kapitel Theorie der Staatsverschuldung 1. Einige Verschuldungstheorien Die Wirkungen der Staatsverschuldung haben seit jeher große wirtschaftstheoretische Aufmerksamkeit gefunden. Es verwundert daher kaum, dass mittlerweile eine Vielzahl von Ideen und Konzepten existiert, die teilweise zu gegensätzlichen Bewertungen der ökonomischen Wirkungen der Staatsverschuldung führen. Nach den angenommenen Wirkungen werden die klassische, die keynesianische, die neoklassische und die ricardianische Theorie der Staatsverschuldung unterschieden. Sie werden zunächst auch hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Lastbegriffe behandelt. Diese Theorien rechtfertigen die Staatsverschuldung oder lehnen sie ab. Hierbei ist die Einschätzung der öffentlichen Investitionen wichtig. Anschließend wird der Transferansatz behandelt. Anschließend wird nach dem langfristigen Haushaltsspielraum bei andauernder Verschuldung gefragt. Im 25. Kapitel geht es dann um politökonomische Erklärungsansätze der Staatsverschuldung. Sie liefern letztlich die überzeugendste Begründung dafür, dass über Verschuldungsgrenzen nachgedacht wird. a) Das klassische Paradigma Nach dem z.B. von Smith und Ricardo vertretenen klassischen Grundsatz ist zur Gewährleistung einer soliden Haushaltspolitik das Budget so aufzustellen, dass die zur Durchführung der staatlichen Aufgaben erforderlichen Ausgaben in vollem Umfang durch nichtkreditäre Einnahmen (kurz: Steuern) gedeckt sind. Der Grund ist darin zu sehen, dass die Kreditfinanzierung der Staatsausgaben, die als unproduktiv angesehenen werden, private Investitionen verdrängt 1. Der klassische Ansatz wird ergänzt bzw. modifiziert durch Vorstellungen des deutschen Finanzklassizismus (z.B. Wagner, von Stein). Dessen Vertreter gehen davon aus, dass durchaus nicht alle Staatsausgaben unproduktiv sind. Im Falle öffentlicher Investitionen wird eine Kreditfinanzierung für zulässig oder sogar wünschenswert angesehen 2. Zwar treffen die mit der Schuldenfinanzierung einhergehenden Belastungen die künftigen Generationen, diese sind aber dann Nutznießer, wenn die künftigen 1

2

Die kritische Haltung der klassischen Nationalökonomie gegenüber der Staatsverschuldung hatte auch politische Gründe. Mit dem Steuerbewilligungsrecht hatte das Parlament dem König ein wichtiges Recht abgenommen, es war praktisch der Beginn der Demokratie. Kreditaufnahme galt als eine mögliche Umgehung dieses Rechts. Als Kriterien für die in einem außerordentlichen Haushalt durch Kreditaufnahme zu finanzierenden Ausgaben werden ihre Periodizität, Vorhersehbarkeit und Produktivität oder Rentabilität genannt. Eine zweite Ausnahme vom Verbot der Kreditaufnahme wurde bei außergewöhnlich hohen Ausgaben z.B. in Folge eines Krieges gesehen.

636

Siebter Teil: Staatsverschuldung

Erträge die Kosten der so finanzierten Investitionen übersteigen. Gelänge es die zeitliche Struktur der Finanzierung von öffentlichen Investitionen der zeitlichen Struktur ihrer Erträge anzupassen (Pay-as-you-use-Prinzip), könnten die Generationen über die Zeit hinweg gleichmäßig belastet werden. Dieses Paradigma (mit Sonderregeln) hat sich in der deutschen Finanzverfassung niedergeschlagen 1. Fraglich ist, ob die intergenerative Zurechnung gelingt. Bei den Ausgaben müsste klar sein, was als Investitionen rechnen und künftige Erträge bringen soll 2. So könnten Parkanlagen unmittelbar durch Gebühren finanziert werden. Diese und andere Staatsausgaben (Bildung, Gesundheit usw.) rufen aber einen Nutzen hervor, der nicht unmittelbar zu Einnahmen führen muss, sondern z.B. über erhöhte Verdienstmöglichkeiten das Steueraufkommen erhöhen kann. b) Das keynesianische Paradigma In keynesianischer Sicht ist die Fiskalpolitik und damit die Staatsverschuldung von zentraler Bedeutung für die Steuerung gesamtwirtschaftlicher Größen: insbesondere soll eine kreditfinanzierte expansive Fiskalpolitik in rezessiven Phasen eine als zu gering erachtete aggregierte Güternachfrage stimulieren und zu einer höheren Auslastung der volkswirtschaftlichen Ressourcen führen. Deficit Spending, also der Einsatz zusätzlicher kreditfinanzierter Ausgaben aus stabilisierungspolitischen Gründen, gilt demnach als notwendig zum Ausgleich zyklischer Schwankungen der ökonomischen Aktivität. Hierbei geht es zunächst darum, im Sinne des Modells des zyklischen Budgetausgleichs (Cyclical Budgeting) in der Rezession Defizite infolge (je nach Trend absolut bzw. relativ) sinkender Steuereinnahmen und z.B. steigenden Arbeitslosengeldes in Kauf zu nehmen. Den Defiziten stehen über den Konjunkturzyklus gesehen Überschüsse gegenüber, so dass es über den Zyklus, bei normaler wirtschaftlicher Lage aber auch in einem einzelnen Haushaltsjahr, zu einem Haushaltsgleichgewicht kommt. Im keynesianischen Modell diskretionärer Finanzpolitik sollen über diese automatisch auftretenden Wirkungen hinaus bewusst auf die gegebene Situation abzielende Veränderungen finanzpolitischer Parameter eingesetzt werden (zusätzliche Ausgabenprogramme, Kreditaufnahme usw.). Hierbei kommt es zum Multiplikator von Gleichung (13-6), der im IS-LM-Modell etwa bei gegebener Geldmenge und steigenden Zinssätzen geringer ausfällt 3. Die keynesianische Sicht ist dem Wesen nach kurzfristig, d.h. es wird nicht problematisiert, welche Auswirkungen staatliche Defizite auf die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Kapitalbildung haben 4. Allein der unterstellte und erwünschte expan1 2 3 4

Siehe Kapitel 25.2; dort wird auch die Problematik des Investitionsbegriffs weiter behandelt. Die langfristigen Wirkungen öffentlicher Investitionen werden in Abschnitt 2 behandelt. Allerdings kann die erhöhte Nachfrage die Rentabilität der privaten Investitionen erhöhen. Entsprechend wird in der makroökonomischen Literatur, soweit sie sich nicht auf die lange Frist bezieht, mit dem Symbol G die Staatsausgaben für Sachgüter und Dienstleistungen bezeichnet und nicht nach CSt und ISt unterschieden.

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

637

sive Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage dient der Rechtfertigung öffentlicher Kredite in der Rezession. Bemängelt wird am keynesianischen Ansatz, dass er keine befriedigende Erklärung für die anfänglich unausgelasteten Ressourcen biete. Es sei, so argumentieren die Kritiker, nicht ohne weiteres einzusehen, warum rationale Wirtschaftssubjekte vorhandene Einkommenserzielungspotenziale ungenutzt lassen, bzw. warum staatliche Akteure eine bessere Vorstellung über diese Potentiale haben sollen als die Privaten und diese auch politisch umsetzen (können bzw. wollen). Unterbeschäftigung mit dem Instrument der Kreditfinanzierung zu begegnen, komme daher einem „Kurieren an Symptomen“ (Richter/Wiegard 1993, S. 367) gleich. Das mag zwar bisweilen kurzfristig hilfreich sein, langfristig aber habe es allenfalls, so Buchanan/Wagner (1977), sozialpsychologisch begründete Vorbehalte gegen das Schuldenmachen aufgeweicht und zu einer Abkehr vom Grundsatz des jährlichen Haushaltsausgleichs geführt. Der keynesianische Ansatz hatte lange in der theoretischen Diskussion und in der politischen Praxis erhebliche Bedeutung. Es hat sich gezeigt, dass durch Deficit Spending nur in bestimmten Situationen kurzfristige konjunkturpolitische Erfolge herbeigeführt werden können 1. Im 13. Kapitel wurden defizitfinanzierte staatliche Programme zur Gewährleistung der Vollbeschäftigung behandelt.

c) Das neoklassische Paradigma Die neoklassische Theorie der Staatsverschuldung enthält (ebenso wie der ricardianische Ansatz) eine entscheidungstheoretische Fundierung des Verhaltens aller Akteure. Die intertemporale Problematik der Verschuldung legt die Verwendung von Mehrperiodenmodellen nahe. Die Individuen, deren Zeithorizont endlich ist, werden in Generationen eingeteilt, die miteinander nur lose verbunden sind. Es werden rationale Erwartungen unterstellt, d.h. den Individuen unterlaufen keine systematischen Erwartungsfehler. Sie planen den Konsum über ihren Lebenszyklus und schöpfen dabei ihr gesamtes Lebenseinkommen aus. Von Schenkungs- oder Vererbungsmotiven wird abgesehen 2. In diesem Modellrahmen 3 ersetze der Staat – bei gegebenen Staatsausgaben – für die gegenwärtig lebenden Generationen Steuern durch Kredite (Differenzialinzidenz). Das führt bei der gegenwärtig lebenden Generation zu einer Wohlstandsverbesserung und Erhöhung des Lebenskonsums möglicherweise in vollem Umfang der Steuerentlastung, wenn angenommen wird, dass ihr Planungshorizont geringer als der Zeitraum ist, in dem die Kredite zurückgezahlt werden. Auch bei heutiger Kreditaufnahme sind Steuern zu erheben, diese belasten allerdings nicht die gegenwärtig lebenden, sondern die zukünftigen Generationen. 1 2 3

So in der Bundesrepublik Deutschland 1966/67 oder 2008/10. Meist werden auch Unterschiede aus kurzfristigen und dauerhaften Defiziten herausgearbeitet. Vgl. zum Folgenden Yellen (1989) und Bernheim (1989).

638

Siebter Teil: Staatsverschuldung

Die Erhöhung des Konsums der gegenwärtigen Generation hat bei voller Auslastung der volkswirtschaftlichen Ressourcen einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis und damit der privaten Kapitalbildung zur Folge. Zwei Verdrängungsszenarien mit negativen Folgen für die künftigen Generationen lassen sich nun unterscheiden: S In einer geschlossenen bzw. genügend großen offenen Volkswirtschaft führt bei Vollbeschäftigung – außer bei vollkommen elastischem Sparen – die Kredit- statt Steuerfinanzierung der (gegebenen) Staatsausgaben zu einem Anstieg des Zinsniveaus und dadurch zu einer Verdrängung privater Investitionen. Dies hemmt die inländische Kapitalbildung, damit die Zunahme der Kapitalausstattung der Arbeitsplätze, der Arbeitsproduktivität und der Einkommen. Schließlich belastet ein geringeres Wachstum die künftigen Generationen, wenn der Zinssatz die Wachstumsrate des BIP übersteigt und deren Konsummöglichkeiten verringert werden. Das ist die Last der Staatsverschuldung. S In einer kleinen offenen Volkswirtschaft können die staatlichen Defizite bei gegebenem Weltmarktzins ohne Wirkung auf die inländischen Investitionen sein, wenn sie durch höhere Kapitalimporte finanziert und die Nettoexporte verdrängt werden. Dann besteht kein Zusammenhang zwischen staatlichem Defizit und Zinssatz, wohl aber zwischen staatlichem Defizit und Leistungsbilanzdefizit. Defizite bewirken hier eine höhere Verschuldung im Ausland; die Last des später anfallenden Schuldendienstes verringert dann das verfügbare inländische Einkommen. Aus Gleichung (24-1)

S ) I pr 9 (G 5 T ) 9 (Ex 5 Im)

ist ein weiterer wichtiger Aspekt für die Beurteilung der Wirkungen zu erkennen. Interpretiert man G als staatliche Konsumausgaben ( G ) C St ) und nimmt eine Umstrukturierung vor ( 5 [C St ) 9 [I St ) 1, findet keine Minderung des gesamtwirtschaftlichen Sparens statt. Davon wird unter d) bis e) abgesehen. d) Das ricardianische Paradigma Zentraler Punkt des ricardianische Ansatzes ist, dass Defizite bei gegebener Höhe der Staatsausgaben lediglich Steuern zeitlich verschieben. Bei Vollbeschäftigung unterscheiden die realen Effekte eines kreditfinanzierten staatlichen Programms sich nicht von denen eines steuerfinanzierten Programms. Steuern und Verschuldung sind demnach äquivalente Finanzierungsinstrumente (Ricardo-Äquivalenztheorem). Insbesondere trägt ein Defizit nicht zu einer kurzfristigen Anregung von Output und Beschäftigung, steigendem Zins und Crowding Out der privaten Investitionen bei, der Steuer/Verschuldungsmix ist daher irrelevant. Warum ist das so? Ersetzt man gegenwärtige Steuern durch gegenwärtige Verschuldung, macht dies 1

Dieser Aspekt taucht insbesondere in amerikanischen Modellen so gut wie nicht auf, obwohl gerade der Pay-as-you-use-Aspekt schon vor Jahrzehnten von Musgrave (1959) vertreten wurde.

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

639

künftige Steuern erforderlich, deren Gegenwartswert dem der Schulden entspricht 1. Forderungen und Verbindlichkeiten gleichen sich über die Zeit aus, das Nettovermögen, das die Ausgaben bestimmt, ist unverändert 2. Rationale Wirtschaftssubjekte sehen dies durch den intertemporalen Schleier und verhalten sich in Kenntnis dieser Äquivalenz bei ihren Ausgaben so, wie wenn die Verschuldung nicht existiert. Sie empfinden diese wie einen Zwangskredit und nicht als Wohlstandsmehrung. Da die Defizite lediglich das Timing der Staatsschuld gestalten, ergeben sich keine Wirkungen auf die ökonomische Aktivität. Die erhöhte staatliche Nachfrage nach Kapital wird – bei gleichbleibenden Staatsausgaben – durch erhöhte private Ersparnis ausgeglichen, das Kapitalangebot für private Investitionen ändert sich nicht. Privates und staatliches Sparen werden letztlich als perfekte Substitute angesehen 3. Der Beweis wird einmal im Rahmen eines Lebenszyklusmodells mit einer unbegrenzt lebenden Generation – dargestellt durch ein repräsentatives Individuum – geführt. Hier ändert sich die intertemporale Budgetbeschränkung des Staates durch die Alternative Steuern/Kreditaufnahme nicht. Das wahre Maß staatlicher Ressourceninanspruchnahme stellen dann die Ausgaben des Staates und nicht ihre Finanzierung dar. Höhe und Zusammensetzung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage werden durch die Finanzierung nicht tangiert. Neben der Unsterblichkeit der Wirtschaftssubjekte wird in dem Modell von einem vollkommenen Kapitalmarkt und vollkommener Voraussicht der privaten Wirtschaftssubjekte über ihre künftigen Steuerverpflichtungen in Form einer Kopfsteuer ausgegangen. Das Lebenszyklusmodell für ein repräsentatives Individuum reicht nicht, wenn man einen endlichen Zeithorizont der Wirtschaftssubjekte unterstellt. In einem MehrGenerationenmodell gleichen sich die Vermögenswerte und Schulden zwischen den Generationen nicht aus. Angenommen, zwei Individuen leben genau zwei Perioden in Folge bei sich überlappenden Generationen und beziehen Nutzen nur aus ihrem eigenen Konsum. Vergleicht man nun Steuern und Kreditaufnahme, ist der Gegenwartswert der künftigen Steuerlast für die gegenwärtige Generation geringer als der Wert der Verringerung der laufenden Steuerlast. Insofern trifft das Ricardo-Äquivalenztheorem bei begrenztem Zeithorizont der Wirtschaftssubjekte nicht zu. Im Todesfall zahlen die heutigen Steuerzahler nicht die in die Zukunft angepassten Steuern. Die künftige Steuerpflicht kann zu weit in der Zukunft liegen, um heute darüber nachzudenken. Barro (1974), der als Wiederentdecker des Äquivalenztheorems gilt 4, hat gezeigt, 1 2

3 4

Hierbei wird in der Regel ein vom Staat zu zahlender langfristiger konstanter Zins zur Berechnung der Gegenwartswerte verwendet. Die Verschuldung ist daher ohne Auswirkungen auf das Sparverhalten. Aus keynesianischer Sicht des Steuerzahlers ist sie Vermögen, weil gegenwärtig die künftigen Verpflichtungen unberücksichtigt bleiben. In dieser Diskussion wird staatliches Sparen regelmäßig als Budgetüberschuss verstanden. Als erster hat Ricardo diese These formuliert, dann aber verworfen, weil er glaubte, eine Staatsschuldillusion würde zu Vermögenseffekten führen. Die Gläubiger würden also die künftig anfallenden zusätzlichen Steuerzahlungen nicht „passivieren“ und somit ein höheres Konsumniveau als im Falle der Steuerfinanzierung zusätzlicher Staatsausgaben wählen.

640

Siebter Teil: Staatsverschuldung

wie seine Gültigkeit auch im Mehrgenerationenmodell „gerettet“ werden kann. Zentrale Annahme seines Ansatzes ist, dass aufeinanderfolgende Generationen durch freiwillige, altruistisch motivierte Transfers miteinander verbunden sind. Altruistische Eltern beziehen die künftigen Steuerzahlungen ihrer Nachkommen so in das eigene Nutzenkalkül ein, dass der Planungshorizont jeder Generation über die eigene Lebensdauer hinausreicht. Sie erkennen, dass die heutige Ersetzung von Steuern durch Kreditaufnahme bei gleichbleibenden Staatsausgaben künftig Steuern zur Deckung der entstehenden Finanzierungslücke erforderlich macht. Aus Sorge um den eigenen Nachwuchs bilden Eltern freiwillig so hohe Rückstellungen, dass die gegenwärtige Steuerersparnis dem Gegenwartswert künftiger Kreditdienste entspricht. Diese Steuerersparnis wird in Form einer Erbschaft an nachfolgende Generationen weitergereicht, die damit die anfallenden Kreditdienste leisten können. Die Annahme eines dynastischen Altruismus wirkt demnach so, als würde eine Generation unendlich lange leben und die künftigen Lasten der Kreditfinanzierung voll internalisieren. Das Modell mit begrenztem Zeithorizont geht auf diese Weise wieder über in eines mit unendlichem Horizont. Als Nutzenfunktion der Mitglieder einer Generation in t wird hierzu angenommen (24-2)

U t ) U(C1t , C 2 t , U t 9*1 ) ,

wobei C1t und C2t den Verbrauch der Generation t als junge und alte Mitglieder und * Ut+1 den Nutzen der jungen Generation in t + 1 angeben. Die ricardianische Neutralitätshypothese verliert allerdings ihre Gültigkeit, wenn einige stark einschränkende Annahmen fallengelassen und z.B. verzerrende Steuern in das Modell aufgenommen werden 1. Weitere Kritik an Barros Fassung ist, dass die Bindung zwischen den Generationen gering ist, wenn man sinkende Geburtenrate, wachsenden Anteil kinderloser Haushalte und Trennung der Generationen durch die Sozialversicherung beachtet 2. Zentrale Annahmen sind aber die des repräsentativen Individuums und des Nachlassverhaltens. Menschen sind eher verschieden und haben unterschiedliche Verhaltensweisen. Die Verschiedenheit zeigt sich u.a. in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, die unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen in den Reproduktionsziffern. Üblicherweise wird daher das Axiom des eigennützigen Verhaltens als realistischer eingeschätzt. Altruistisches Verhalten ist auch insofern eine problematische Annahme, als es nicht um individuelle Vorsorge für den eigenen Nachwuchs geht. Dann besteht kein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Nachlassplanung der Einzelnen und Staatsverschuldung. Auch im Lichte empirischer Untersuchungen ist die Relevanz der These umstritten (Perleman/Pestieau 1993). Um die Hypothese zu prüfen, dass das staatliche Defizit ohne Einfluss auf den pri1 2

Bei verzerrenden Steuern fallen die realen Wirkungen von Steuern und Verschuldung verschieden aus. Weitere Beispiele sind Kapitalmarktunvollkommenheiten, Unsicherheit oder endogenes Fertilitätsverhalten.

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

641

vaten Konsum ist, wurde folgende Gleichung geschätzt: (24-3) C pr ) 0 0 9 01 (Y 5 T ) 9 0 2 D 9 0 3 A 9 0 4 B mit A für das Vermögen des privaten Sektors und B dem staatlichen Schuldenstand, wobei (Y-T) und D als Approximation für die abdiskontierten Größen verwendet wurden. e) Erweiterungen Von einer dieser vier Schulen kann man Unterstützung für jede normative Position finden 1. Allerdings ist mit der theoretischen Annäherung verschiedener Positionen der Neuen Klassischen und der Neuen Keynesianischen Makroökonomik eine vorsichtigere Beurteilung der keynesianischen Fiskalpolitik einhergegangen. Der neoklassische und speziell der ricardianische Ansatz befassen sich nicht mit kurzfristigen (konjunkturellen) Problemen. Es geht vielmehr darum, welche langfristigen Wirkungen eine staatliche Verschuldungspolitik auf die volkswirtschaftlichen Ressourcen und die intergenerationale Einkommens- und Vermögensverteilung hat. Die Analyse fußt auf der Methode der Differenzialinzidenz, d.h. es wird gefragt, wie die Substitution einer Steuer durch Kreditaufnahme bei gegebenen Staatsausgaben wirkt. Der neoklassische Ansatz sagt eine Verdrängung der privaten Kapitalakkumulation bzw. der Nettoexporte und eine Belastung künftiger Generationen voraus. Der ricardianische Ansatz hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass eine solche Politik völlig neutral wirkt, d.h. keinerlei reale Effekte erzeugt. Zwar könnten die Ergebnisse kaum unterschiedlicher sein. Um so bemerkenswerter ist aber, dass der ricardianische Ansatz in der Version Barros nur eine Erweiterung des neoklassischen Ansatzes ist. Durch die Einführung eines Erbschaftsmotivs wird der Nutzen zukünftiger Generationen in der Nutzenfunktion der gegenwärtig Lebenden berücksichtigt. So kommt es zu einer vollen Internalisierung der künftigen Lasten staatlicher Defizite. Im neoklassischen Ansatz hingegen fallen die Vorteile der Steuersenkung und die Lasten des Kreditdienstes auseinander. Barro leitet seine Ergebnisse im Rahmen einer Walrasianischen markträumenden Modellwelt ab. Seine Argumentation, dass die gegenwärtige sich hinreichend für die zukünftige Generation sorge, läuft Gefahr, Generationsprobleme zu verharmlosen. Noch nicht geborene (und minderjährige) Generationen können sich aber nicht selbst äußern. Es sind die Interessen der heute lebenden (insbesondere wahlberechtigten) Generation, die die Finanzpolitik und insbesondere Verschuldungspolitik bestimmen. Dadurch treffen verschiedene Zeithorizonte der Wähler und Politiker, Alten und Jun1

„Whether one thinks of deficits as good, bad, or irrelevant therefore depends fundamentally on one’s choice of a paradigm. Certainly, no single paradigm corresponds exactly to reality” (Bernheim 1989, S. 56).

642

Siebter Teil: Staatsverschuldung

gen, Lebenden und noch nicht Geborenen aufeinander. Auch ist der dynastische Zusammenhang in einer schrumpfenden Bevölkerung nicht gegeben. Das trägt zur Erklärung bei, warum es Auseinandersetzungen um die Besteuerung und Versuche gibt, die Belastung zu verstecken. Nur unter ganz besonderen Bedingungen neutralisieren Individuen die fiskalische Substitution durch eine Änderung des Sparverhaltens und zeigen so, dass Steuern politisch nicht bedeutsam für sie sind. Im Übrigen wird ein wichtiger Aspekt bei der Analyse der reinen intertemporalen Betrachtung ausgeklammert: Jeder Substitution zwischen Steuern und Transfers heute hat heute interpersonelle Verteilungswirkungen. Barro (1979) hat die langfristige Perspektive um einen kurzfristigen Aspekt ergänzt: Es sei effizienzfördernd, die Kreditaufnahme zum Auffangen von Schwankungen eines staatlichen Einnahmebedarfs 1 zu wählen statt kurzfristig die verzerrenden Steuersätze anzuheben und wieder abzusenken. Die so erreichte Steuerglättung (Tax Smoothing) verursacht weniger Zusatzlasten und Transaktionskosten als eine kurzfristige Verwendung höherer Steuersätze, die Anreize zur sozial unproduktiven intertemporalen Substitution von Verbrauch und Arbeit auslösen. Auch beim Tax Smoothing wird die intertemporale Budgetbeschränkung zugrundegelegt, wonach der Gegenwartswert der Ausgaben und der Steuern gleich sind. Budgetsalden variieren über den Konjunkturzyklus, wobei die Ausgabenentwicklung als gegeben angenommen wird. Der Steuersatz ist dann eine Funktion dieser permanenten Ausgaben. Die Verschuldung wird zur Minimierung der verzerrenden Effekte der Besteuerung (Zusatzlasten) und der Transaktionskosten in optimaler Weise eingesetzt, indem bei einem Haushaltsdefizit die Steuersätze konstant gehalten werden; das gegenwärtige Defizit wird durch einen künftigen Überschuss ausgeglichen. Die so aus der optimalen zeitlichen Verteilung der steuerlichen Zusatzlasten zu erwartenden Wohlfahrtsgewinne gegenüber der steuervariierenden Politik beruhen auf der Annahme sinkender Grenznutzen. Kreditfinanziertes Tax Smoothing wird hier über den Konjunkturzyklus befürwortet um Effizienzverluste der Besteuerung zu reduzieren, wobei das Modell des zyklischen Budgetausgleichs ohne diskretionäre steuerliche Eingriffe jetzt allokativ begründet wird. Versuche, gegenwärtige und künftige Generationen zu modellieren, sind immer stilisiert. Verschiedene Generationen stehen sich laufend gegenüber, und die Gruppe der Steuerzahler ändert sich jährlich. Die Entscheidung zur Kreditfinanzierung wird aber in einem diskreten Punkt durch eine Gruppe nicht duplizierbarer Wirtschaftssubjekte getroffen. Selbst wenn man annimmt, dass der Staat vollkommen perfekt auf Mehrheitspräferenzen reagiert, sind die Individuen, die künftig Steuern für den Schuldendienst leisten, nicht identisch mit denen, die die Kreditfinanzierungsentscheidungen

1

Dieses Argument ist schon in der älteren finanzwissenschaftlichen Literatur unter dem Begriff der aperiodischen oder außergewöhnlichen Ausgaben verwendet worden, zu deren Finanzierung das kurzfristige Heraufsetzen und spätere Absenken der Steuersätze nicht sinnvoll sei (vgl. Zimmermann 1999, S. 164).

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

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treffen. Es wird also immer einige geben, die bei Kreditfinanzierung schlechter als bei Steuerfinanzierung gestellt werden – unabhängig von der Länge der Generation. f) Die falsche Sicht staatlichen Sparens Bei Gleichsetzung staatlichen Sparens mit staatlichem Budgetüberschuss und staatlichem Budgetdefizit mit Entsparen spielt es keine Rolle, ob der Staat seine Ausgaben als CSt oder ISt tätigt. Die Ergebnisse fallen aber anders aus, wenn zusätzlich zur unterschiedlichen Finanzierung gegebener Staatsausgaben (Methode der Differenzialinzidenz) auch die Zusammensetzung der Staatsausgaben verändert wird. In diesem Fall können die in Übersicht 24-1 mit den beiden linken Pfeilen gezeigten Wirkungen staatlicher Defizite auftreten. Es ist also nicht nur die Frage relevant, ob private Investitionen verdrängt werden, sondern auch, ob sie durch zusätzliche defizitfinanzierte staatliche Konsumausgaben, Investitionen oder Transfers ersetzt werden, ferner ob und welche Substitutions- oder Komplementäreffekte zwischen privatem Kapital (Kpr) und staatlichem Kapital (KSt) in der Produktionsfunktion Y = f(L, Kpr, KSt) ausgelöst werden und ggf. den Arbeitseinsatz beeinflussen. Wenn etwa ISt und Ipr Substitutionsgüter sind, hat ihr Austausch keine Wirkungen auf das Produktionspotenzial und die künftigen Einkommen – gleiche Rentabilität unterstellt. Eine Veränderung des staatlichen Infrastrukturkapitals kann aber auch Anschlusseffekte im privaten Bereich auslösen 1. 2. Verschiedene Begriffe der Last der Verschuldung Staatsverschuldung stellt letztlich einen Aufschub von Steuerzahlungen dar; der Marktwert heute aufgenommener Kredite muss exakt dem Gegenwartswert der durch die Steuern zu finanzierenden Zins- und Tilgungslasten entsprechen. Nur wenn die zeitliche Substitution der Steuerverbindlichkeiten das Verhalten der Wirtschaftssubjekte beeinflusst, ist eine Lastfrage zu diskutieren. Hierbei werden in der Literatur verschiedene Lastbegriffe verwendet, die teilweise die oben beschriebenen Paradigmen widerspiegeln. Sie erschweren eine vergleichende Bewertung, obwohl es jeweils um mögliche unerwünschte Konsequenzen finanzpolitischer Entscheidungen geht: S Last als Verringerung der privaten Investitionen. Diese Interpretation liegt den Klassikern (Ricardo u.a.) zugrunde. Der an die Zukunft weitergegebene Kapitalstock wird durch Verschuldung verringert, was das Wohl der späteren Generationen beeinträchtigt. Modifikationen hierzu liefert der deutsche Finanzklassizismus. S Last als Entzug von Ressourcen aus privater Verwendung (Lerner). Bei Vollbeschäftigung und geschlossener Volkswirtschaft müssen zusätzliche Staatsausgaben unabhängig von der Art der Finanzierung zu Einschränkungen der privaten Ressourcennutzung führen; eine Verschiebung der Last auf die Zukunft ist trotz des künftigen

1

Diese Fragen werden unter Punkt 3 angesprochen.

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Siebter Teil: Staatsverschuldung

Übersicht 24-1 Wirkungen von Defiziten Defizit steigt Sicht: CSt wie ISt

Sicht: ISt wie Ipr

Spr steigt um 100 % der Defizitänderung

Spr steigt um weniger als 100 % der Defizitänderung

Spr konst SSt steigt

S konstant Künftige Y konst.

S sinkt Künftige Y sinken

S steigt Künftige Y steigen

Kein Kapitalzufluss

[ S zu 100 % durch Kapitalzufl. finanziert

[ S zu weniger als 100 % durch Kapitalzufl. finan.

Konstante inländ. Produktion

Konstantes Inlandsprodukt

Inlandsprodukt sinkt

Konstante Zinssätze

Zinssatz steigt oder konstant

Zinssatz steigt

Gleicher Wechselkurs

Wechselkurs steigt

Ricardo-Äquivalenz

Vollkommene Kapitalmobilität

Pay as you use

Wechselkurs steigt oder konstant

Traditionelle Sicht

Quelle: Gale/Prszag 2003, S. 469; ergänzt.

Schuldendienstes nicht möglich (Ausnahme in der offenen Volkswirtschaft: Kreditaufnahme im Ausland). Bei Unterbeschäftigung tritt ein Verzicht auf privaten Ressourcenverkehr allerdings dann nicht ein, wenn die Schuldenfinanzierung sonst brachliegende Ressourcen einer produktiven Verwendung zuführt. Demgegenüber könnte eine Steuerfinanzierung die privaten Konsum- und Investitionstätigkeiten beeinträchtigen und somit die Gegenwart belasten. S Last als Verringerung des privaten Verbrauchs. Hier stellt sich die Frage, ob durch die Kredit- statt Steuerfinanzierung der gegenwärtige oder künftige private Verbrauch betroffen ist. Über erhöhtes gegenwärtiges Sparen und Investieren wird künftiger Konsum möglich.

24. Kapitel: Theorie der Staatsverschuldung

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S Last als individuelle Nutzeneinbuße (Buchanan). Von Last kann nach dieser Auffassung nur gesprochen werden, wenn Individuen durch die Staatsverschuldung eine Nutzeneinbuße erleiden. Die Individuen empfinden aber in der Gegenwart keine Last durch die Staatsverschuldung, denn sie stellen dem Staat die Kreditmittel freiwillig zur Verfügung. Die künftigen Steuerzahler tragen hingegen die Last, denn sie erleiden die Nutzeneinbuße aus zusätzlichen Steuern zur Finanzierung des Schuldendienstes. S Last als Beeinträchtigung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums (Musgrave, Modigliani). Hier stellt sich die Frage, ob die jeweilige Finanzierungsalternative die Investitionen negativ tangiert. Ist dies der Fall, so werden (wie bei den Klassikern) die zukünftigen Generationen betroffen, weil der an sie weiter gegebene Kapitalstock sinkt. Allerdings können auch öffentliche Investitionen mit Produktivitätseffekten getätigt werden, so dass es zum Pay as you use-Effekt kommt. S Last lediglich als Verschiebung der Steuerlast auf künftige Generationen, die aber durch erhöhtes privates Sparen ausgeglichen wird (Barro). 3. Die langfristigen Wirkungen öffentlicher Investitionen Mit dem Pay-as-you-use-Argument wird auf die Bedeutung staatlicher Investitionen verwiesen. Offensichtlich wird einem Teil der Staatsausgaben z.B. für Forschung und Entwicklung oder für Infrastruktur eine positive längerfristige Wirkung unterstellt und damit eine notwendige Bedingung zu ihrer ökonomischen Rechtfertigung geliefert. So wird der staatliche Kapitalstock als wichtiger Faktorinput für die gesamte Produktion angesehen. Zur Analyse der Auswirkungen öffentlicher Investitionen auf das Wachstum wird in der Regel eine Produktionsfunktion zugrunde gelegt, in der die Beiträge der Produktionsfaktoren Arbeit L und privates Kapital K und der technische Fortschritt A das Wachstum bestimmen. Als weiterer Faktor wird nun der öffentliche Kapitalstock G 1 ergänzt, wobei der technische Fortschritt meist als Residuum verstanden wird, in dem die Auswirkungen aller jener Einflussgrößen zusammengefasst werden, die sich weder systematisch begründen noch empirisch nachweisen lassen. G kann zu K in einem Substitutionsverhältnis stehen, aber auch die komplementär sein oder die totale Faktorproduktivität beeinflussen. In Gleichung (24-3)

P ) A(G )f (K, L, G ) ,

bezeichnet P den gesamten Output des privaten Sektors. G ist als eigener Faktor und in der Wirkung auf A dargestellt. Wenn mit G keine eigenen staatlichen Leistungen verbunden sind, werden nur über die Veränderung von A Wirkungen auf die private Produktion ausgelöst. Aschauer (1989) hat die empirische Forschung über die Bedeutung der öffentlichen Investitionen stimuliert. Seine Arbeiten zeigten einen engen Zusammenhang zwischen 1

Im Folgenden steht K für privater Kapitalstock und G (= KSt) für öffentlicher Kapitalstock.

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Siebter Teil: Staatsverschuldung

dem Rückgang der totalen Faktorproduktivität in den 70er und 80er Jahren und der Abnahme des öffentlichen Bruttoanlagevermögens in den USA. Kitterer (1998) hat auf einen relativ engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der öffentlichen Investitionen und der Produktivität in Deutschland verwiesen. Ein jüngster Überblick von Romp/De Haan (2006) bestätigt vorsichtig die Wachstumsförderung durch öffentliche Investitionen. Im Rahmen langfristiger Analysen ist also nicht der Nachfrageaspekt öffentlicher Investitionen primär von Interesse, es geht vielmehr um deren Angebotswirkungen. Es wird angenommen, dass eine Verwendung des staatlichen Kapitals die Produktionsfunktion nach oben verschiebt und so die Grenzproduktivität der Faktoren im privaten Sektor erhöht bzw. die Produktionskosten im privaten Sektor senkt 1. In verschiedenen Untersuchungen wird unter dem letztgenannten Aspekt der duale Kostenansatz zugrunde gelegt. Es wird von der Frage ausgegangen, welche Kostensenkung für den privaten Produktionsbereich durch den Einsatz der öffentlichen Infrastruktur erreicht wird. Die Untersuchungen mit Zeitreihen oder Querschnittsdaten der Länder, Städte und Wirtschaftszweige kommen auch hinsichtlich unterschiedlich erfasster Zeiträume zu abweichenden Ergebnissen (siehe Romp/De Haan 2006, Seitz 1995, Pfähler u.a. 1996). Jedenfalls wird die Hypothese der positiven Produktivitätswirkungen der öffentlichen Investitionen nicht generell bestätigt. Die zu der Produktionsfunktion (24-3) duale Kostenfunktion könnte so aussehen: (24-4)

C ) C( p L , p K , P, K , G , A ) .

Das aggregierte Kostenniveau C hängt somit von den Preisen der Produktionsfaktoren Arbeit (pL) und privates Kapital (pK), vom Produktionsniveau P, vom privaten und öffentlichen Kapitalstock und dem technischen Fortschritt A ab. Für einen kostensenkenden Effekt müsste gelten (24-5)

/C / /G + 1

Die Ergebnisse empirischer Untersuchungen über die kostensenkenden Effekte des Einsatzes der öffentlichen Infrastruktur sind auch von Interesse für die aktuelle Wirtschaftspolitik: Beeinflusst eine Ausdehnung der öffentlichen Investitionen den Faktorsubstitutionsprozess, sind also z.B. öffentliche Investitionen dauerhaft beschäftigungswirksam oder nicht? Zwischen öffentlichem und privatem Kapital könnte ein komplementäres Verhältnis bestehen, die Faktorsubstitutionselastizität EKG wäre dann positiv. Ein Beispiel dafür, dass die Produktivität der privaten Produktionsfaktoren (Zeit) durch öffentliche Investitionen gesteigert werden kann, ist der Bau der Autobahn A 20. Bessere Verkehrswe1

Beide Aspekte finden sich typischerweise in Nutzen-Kosten-Analysen. So kann der Output eines Bewässerungsprojektes u.a. als Erhöhung der Produktivität oder als Kostensenkung der in privater Produktion eingesetzten Faktoren gemessen werden.

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ge erlauben mehr Transport auf der Straße, also mehr Lkws und damit höherem Einsatz privaten Kapitals. Wegen der Senkung der Transportkosten kann es aber auch zu geringerem Einsatz an privatem Kapital und Arbeit kommen. Besteht zwischen öffentlichem Kapital und dem Faktor Arbeit ein substitutives Verhältnis, wäre die Faktorsubstitutionselastizität ELG negativ. Weitere Fragen sollen hier nur angeschnitten werden: Was soll zum öffentlichen Kapitalstock gerechnet werden? Sind damit nur Straßen, Brücken usw. im Sinne eines engen Infrastrukturbegriffs gemeint? Unterscheidet sich staatliche und privat bereitgestellte Infrastruktur? Wo sind staatliche Verwaltungsgebäude anzusiedeln? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, kann man davon sprechen, ob z.B. eine Investitionslücke vorliegt. 4. Finanzwirtschaftliche Langzeitfolgen der Staatsverschuldung a) Problemstellung Die öffentliche Verschuldung ist selbst nach fiskalischen Gesichtspunkten zwiespältig zu beurteilen: Sie stellt zwar in der Periode der Kreditaufnahme eine Einnahme dar. Allerdings handelt es sich nur um eine vorläufige Einnahme, der spätere Zins- und Tilgungsverpflichtungen folgen. Kreditaufnahme stellt mithin nur eine zeitliche Verschiebung der Steuerbelastung auf spätere Perioden dar. Daher drängt sich die Frage auf, ob der durch eine fortgesetzte staatliche Nettoneuverschuldung dem Staat kurzfristig gewonnene zusätzliche Ausgaben- und Handlungsspielraum langfristig nicht wieder verloren geht und sich sogar in sein Gegenteil verkehrt. Der durch Kreditaufnahme entstehende zusätzliche Ausgabenspielraum (Haushaltsnettobeitrag) einer Periode ergibt sich als Differenz zwischen Nettoneuverschuldung und Zinszahlungen des Staates. Solange diese Differenz positiv ist, führt die Verschuldung zu einem positiven Haushaltsnettobeitrag, ist sie hingegen negativ, verkürzen frühere Schulden seinen Ausgabenspielraum. b) Das Modell von Domar Der Vorgang der Staatsverschuldung kann als ein dynamischer Prozess aufgefasst werden, bei dem durch die Nettokreditaufnahme die Staatsschuld dem absoluten Betrage nach steigt. Von der Staatsschuld wiederum hängen Zins- und Tilgungsverpflichtungen ab. Für die Entwicklung des Haushaltsnettobeitrags kommt es offenbar darauf an, in welcher Weise sich Kreditaufnahme und Schuldendienst im Verlaufe dieses Prozesses verändern. Zur Analyse der finanzwirtschaftlichen Langzeitfolgen einer dauerhaften öffentlichen Neuverschuldung wird, zumindest vom Ansatz her, auch heute noch ein Modell von Domar (1944) verwendet. Es fußt auf zwei einfachen Modellgleichungen. Zu-

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Siebter Teil: Staatsverschuldung

nächst wird angenommen, dass sich der Staat in jeder Periode im festen Verhältnis zum Inlandsprodukt verschuldet: (24-6)

[D t ) 0Yt .

[D t stellt darin die (Netto-)Kreditaufnahme 1 der Periode t dar, 0 die konstante (Netto-) Kreditaufnahmequote und Yt das Inlandsprodukt. Das Inlandsprodukt wachse mit konstanter Rate n, so dass gilt: (24-7)

Yt ) Y0 (1 9 n ) t ,

worin Y0 das Inlandsprodukt einer Periode 0 angibt. Wird Yt in (24-6) durch (24-7) ersetzt, ergibt sich in der Periode t die kumulierte Staatsschuld D t als (24-8)

t 51

D t ) D 0 9 0Y0 4 (1 9 n ) j j)0

und unter Verwendung der geometrischen Summenformel (24-9)

D t ) D0 9

0 1 5 (1 9 n ) t Y0 n 1 5 (1 9 n )

worin D0 die Staatsschuld zum Zeitpunkt 0 ist. Die Schuldenstandsquote (D/Y) lautet dann nach einigen Umformungen unter Berücksichtigung von (24-7) (24-10)

D t 3 D0 0 ( 1 0 ) 11 5 %% 9 . t Yt . Y0 n # (1 9 n ) n

Langfristig konvergiert die Schuldenstandsquote gegen einen festen Grenzwert; für t < X gilt nämlich: (24-11) lim t