Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011: Strafrecht als Scientia Universalis 9783110255287, 9783110240108

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German Pages 2100 [2032] Year 2011

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Table of contents :
Claus Roxin zum 15. Mai 2011
Geleitwort
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
I. Grundlagen des Strafrechts
Claus Roxins straftheoretischer Ansatz
Strafrecht als propria ratio
„Wie man Verbrechen vorbeugt“ – Zu Cesare Beccarias Konzeption der Kriminalprävention
Annäherung an das interkulturelle Fundament des Strafrechts
Der Feind als Paradigmenwechsel im Recht – Zu Existenz und Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats
Grenzen vorverlagerter Strafbarkeit: Feindstrafrecht
Die Herausforderung des liberalen Strafrechts durch die politische Philosophie Giorgio Agambens
Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? – Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas
Zur Legitimation der Strafgesetze – Zu Fähigkeit und Grenzen der Rechtsgutstheorie
Rechtsgüterschutz versus Bestätigung der Normgeltung?
Normschutz als Strafrechtsgut? – Normentheoretische Überlegungen zum legitimen Strafen
Gibt es Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts?
Gefühlte Rechtsgüter?
Strafbarkeit des Geschwisterinzests aufgrund „eugenischer Gesichtspunkte“?
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit – Ein würdevolles Rechtsgut in einem Rechtsstaat
Motive im Tatstrafrecht
Auf einen Schelmen anderthalbe? – Zum Fehlgebrauch einer misslungenen Rechtsfigur
Das Verbot unbestimmter Strafen: Der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Deliktsfolgen
Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz – Zur Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts
Handlungseinheit und Konkurrenz bei nicht zweckorientiertem Handeln
„Sonderwissen“ des Handelnden und objektives Gefahrurteil
Ist die „objektive Zurechnung“ objektiv und zurechnend?
Objektive Zurechnung bei „alternativer Kausalität“
Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“
„Risikoabnahme“ – Zur Begrenzung der Zurechnung in Retterfällen
Pflichtdelikte und objektive Zurechnung – Zum Verhältnis der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen zu den Merkmalen des § 25 StGB
Der Zitronensaft-Fall – Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung
Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale
Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters – Vorschlag eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur Parallelwertung in der Laiensphäre
Zur Lehre vom bedingten Einverständnis
Autonomie und Einwilligung bei ärztlicher Heilbehandlung – Eine Skizze aus spanischer Perspektive
Zur Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen einwilligungsunfähiger Erwachsener
Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung: offene Fragen im Strafrecht, insbesondere bei Verstoß gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff BGB
Direkte Sterbehilfe – Anmerkung zur Privatisierung des Lebensschutzes
Aktive Sterbehilfe
Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt
Zur Straferheblichkeit des Abbruchs der ärztlichen Behandlung in irreversiblen vegetativen Stadien
Darf der Staat foltern?
Verhinderung lebensrettender Folter
Die Pflicht zur Notwehrhilfe
Recht im Irrtum? – Zur strafrechtlichen Rechtfertigung militärischer Gewalt bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten
Schuld und Strafzwecke
Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf
Normative Ansprechbarkeit als Schuldelement
Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit – Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins
Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar? – Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche
Conduct that the Actor Should Realize Creates a Substantial and Unreasonable Risk – Anmerkungen aus der Ferne zum Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts
Strafrecht ohne Straftäter
Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? – Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach 50 Jahren
Verdirbt die Organisationsherrschaft die Tatherrschaftslehre?
Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft
Täterschaft und Pflichtverletzung – Grundlagen der Pflichtdelikte
Mehrfache Beihilfe
Berufsbedingtes Vorschubleisten?
Anmerkungen zum Irrtum über die Beteiligungsform – Die irrige Annahme „tatherrschaftsbegründender Umstände“ als Versuchs-, Teilnahme- und Fahrlässigkeitsproblem
Zum Versuch beim echten Unterlassungsdelikt
„Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“ – Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten
III. Besonderer Teil des Strafrechts
„Sträflicher Leichtsinn“ oder strafbarer Betrug? – Zur rationalen Kriminalisierung der Lüge
Die objektive Täuschungseignung als Ausprägung der objektiven Zurechnung beim Betrug
„Das Leben ist wie ein Schneeball“ oder Strafrechtliche Relevanz von enttäuschten Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr
Vermögen und Nutzungschance – Gedanken zu den Grundlagen des strafrechtlichen Vermögensbegriffes
Absatz und Absatzhilfe im Tatbestand der Hehlerei und die „Formel“ des Bundesgerichtshofs
Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Vortat der Geldwäsche
Schutz der GmbH-internen Willensbildung durch Untreuestrafrecht?
Finanzmarktkrise und deutsches Strafrecht – Verantwortlichkeit von Bankvorständen für hochspekulativen Handel mit Asset Backed Securities (durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere) auf der Basis von US Subprime Mortgages (minderwertige US-Hypotheken)
Der staatliche Ankauf von strafbar erlangten Steuer-Daten deutscher Steuerhinterzieher
Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?
Gesundheitszeugnis ohne Untersuchung – Zum Tatbestandsmerkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 278 StGB
IV. Kriminalpolitik und Sanktionen
Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands
Die Todesstrafe – Plädoyer für ein weltweites Moratorium
Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs
Neuere Aspekte der Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR
Sicherungsverwahrung und Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung und Sicherung
V. Strafverfahrensrecht
Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht
Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht – Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht
Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren – Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG vom 9.11.2010
Eine Frist, die keine ist? – Über die Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist
Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter
Vorbefassung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses
Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers – dargestellt am Fall eines abgenötigten Geständnisses
Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers im Lichte von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und des 6th Amendments zur US-Verfassung
Die Grenzen der Editionspflicht des § 95 StPO – Ein Beitrag zur Systematik der strafprozessualen Vorschriften über die Beschlagnahme
Das Wesen des strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile, unter Einschluss seiner revisionsrechtlichen Kontrolle – Die Falsifizierung durch den vernünftigen Zweifel
Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren
Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei Verfahrensabsprachen
Die Bedeutung der Beschwer im Rechtsmittelsystem der StPO – Überlegungen anhand von Entscheidungen bezüglich stationärer Maßregeln der Besserung und Sicherung
Die Ausweitung der Revision – Ein neues Verständnis der sogenannten Leistungsmethode
VI. Europäisches, außereuropäisches und supranationales Strafrecht
Von der juristischen Entwicklungshilfe zum Rechtsdialog – Prolegomena zu einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts
Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtssetzung der Europäischen Union – Eine Zwischenbilanz
Auswirkungen der Europäischen Beweisanordnung auf das deutsche Strafverfahren
Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechtskraft“?
Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit: Eine europäische Perspektive
Ist die deutsche Strafrechtsdogmatik auf die strafrechtliche Problematik Mexikos anwendbar?
Die Gesetzgebungstheorie: Eine Grenze für die Ausweitung des Strafrechts? Ihre Entwicklung und Perspektiven in Argentinien – Zugleich eine vergleichende Darstellung
Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie
Die Verbrechenslehre aus der Sicht des serbischen Strafrechts
Neuere Entwicklungen im japanischen Strafrecht im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen
Warum ist die Organentnahme in Japan so schwierig? – Bemerkungen zum japanischen Organtransplantationsgesetz
Die Rezeption der Tatherrschaftslehre im kroatischen Strafrecht
Akzessorische Natur der Teilnahme im serbischen Strafrecht
Städtebaudelikte zwischen Realität und Expansion
Die Neuregelung von Mobbing am Arbeitsplatz und auf dem Immobiliensektor im spanischen Strafgesetzbuch
Die Reform der Delikte gegen den Staat in Italien
Ansätze zur Kritik des Drogenstrafrechts – aus einer italienischen Perspektive
Die strafrechtliche Bewertung des tödlichen polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen Flüchtige in der Türkei
„Sportdelikte“ im polnischen Strafrecht
Die Verfassungswidrigkeit der lebenslangen und sehr langen Freiheitsstrafe im spanischen Recht
Das kubanische Strafprozessrecht – Notwendigkeit einer Reform
Aktuelle Fragen zur laufenden Reform der Strafprozessgesetzgebung in Serbien
Das abgekürzte Verfahren in Argentinien
Vorläufige Festnahme und Identitätsfeststellung im spanischen Recht: verfassungsrechtliche und gesetzliche Bestimmungen
Beteiligung des Tatopfers am Strafverfahren in Japan – Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück?
Private Überwachung im Sicherheitsstaat und faires Strafverfahren am Beispiel der griechischen Rechtsordnung
VII. Kriminologie
Über das Böse aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht
Gewissensmobilisierung durch Strafrecht?
Zur aktuellen Leistungsfähigkeit des viktimologischen Ansatzes
Verzeichnis der Schriften von Claus Roxin
Autorenverzeichnis
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Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011: Strafrecht als Scientia Universalis
 9783110255287, 9783110240108

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Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag

Strafrecht als Scientia Universalis Festschrift für

CLAUS ROXIN zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011 herausgegeben von

Manfred Heinrich · Christian Jäger Hans Achenbach · Knut Amelung · Wilfried Bottke † Bernhard Haffke · Bernd Schünemann · Jürgen Wolter Band 1

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024010-8 e-ISBN 978-3-11-025528-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Claus Roxin zum 15. Mai 2011 Manuel A. Abanto Vásquez Hans Achenbach Jürg-Beat Ackermann Kai Ambos Ioanna Anastasopoulou Nikolaos K. Androulakis Luis Arroyo Zapatero Katharina Beckemper Stanko Bejatovic´ Emiliano Borja Jiménez Martin Böse Manuel Cancio Meliá Concepción Carmona Salgado Antonio Cavaliere Gabriela E. Córdoba Antonio Cuerda Riezu Gerhard Dannecker Eduardo Demetrio Crespo Enrique Díaz-Aranda Dieter Dölling Gunnar Duttge Armin Engländer Volker Erb Robert Esser Juan Carlos Ferré Olivé Thomas Fischer George P. Fletcher Karsten Gaede Justa Gómez Navajas Luís Greco Walter Gropp Monika Harms Michael Heghmanns Günter Heine Bernd Heinrich Manfred Heinrich

Michael Hettinger Eric Hilgendorf Tatjana Hörnle Andreas Hoyer Makoto Ida Osman Isfen Christian Jäger Matthias Jahn Jan C. Joerden Nedeljko Jovancˇevic´ Heike Jung Maria Kaiafa-Gbandi Urs Kindhäuser Pamela Knauss Ralf Kölbel Volker Krey Hans Kudlich Hans-Heiner Kühne Wilfried Küper Carlos Julio Lascano Manfred Maiwald Reinhard Merkel Vincenzo Militello Wolfgang Mitsch Carsten Momsen Lorenzo Morillas Cueva Heinz Müller-Dietz Uwe Murmann Petar Novoselec Miguel Ángel Núñez Paz Miguel Olmedo Cardenete Miguel Ontiveros Alonso Heribert Ostendorf Konstantina Papathanasiou Raúl Pariona Daniel R. Pastor

Michael Pawlik José Milton Peralta Gabriel Pérez-Barberá Miguel Polaino Navarrete Miguel Polaino-Orts Cornelius Prittwitz Holm Putzke Joan J. Queralt Henning Radtke Joachim Renzikowski Ruth Rissing-van Saan Danilo Rivero García Mario Romano Thomas Rönnau Henning Rosenau Thomas Rotsch Frank Saliger Fernando Guanarteme Sánchez Lázaro Pablo Sanchez-Ostiz Dulce M. Santana Vega Eugenio C. Sarrabayrouse Helmut Satzger Gerhard Schäfer Jörg Scheinfeld

Heinz Schöch Ulrich Schroth Lorenz Schulz Bernd Schünemann José Luis Serrano González de Murillo Arndt Sinn Adem Sözüer Detlev Sternberg-Lieben Zoran Stojanovic´ Carl-Friedrich Stuckenberg Andrzej J. Szwarc Juarez Tavares Klaus Volk Tonio Walter Shizhou Wang Gunter Widmaier Petra Wittig Wolfgang Wohlers Gabriele Wolfslast Jürgen Wolter Yuri Yamanaka Toshio Yoshida Mark A. Zöller

Geleitwort Claus Roxin feiert am 15. Mai 2011 seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben sich Schüler, Freunde und Kollegen zusammengefunden, dem Jubilar mit der hier vorliegenden Festschrift ihre Referenz zu erweisen: eine tiefe Verbeugung vor einem der Größten des Strafrechts weltweit. Zu Ehren des Jubilars ist bereits im Jahre 2001, anlässlich seines 70. Geburtstags, eine Festschrift überreicht worden. Dass diese erste Festschrift aber nicht die abschließende Würdigung seines Lebenswerkes sein konnte – wie es angesichts der ungebrochenen Schaffenskraft des Jubilars auch diese zweite nicht zu sein vermag –, lag schon damals auf der Hand. Zu umfangreich ist die Breite seines wissenschaftlichen Wirkens und zu groß die Zahl seiner wissenschaftlichen Freunde im In- und Ausland, als dass damals bereits ein abgerundeter Blick auf das Lebenswerk des Jubilars möglich gewesen wäre. Auch jetzt noch ist es gewiss zu früh, eine nur rückwärtsgewandte Bilanz zu ziehen. Zu ruhelos ist noch immer sein alles durchdringender Geist, der niemals zögert, wenn es um die kritische Hinterfragung strafrechtsrelevanter Problemstellungen und das Ersinnen immer wieder neuer, nicht selten weichenstellender Antworten geht. So kommen Jahr für Jahr, um nicht zu sagen Monat für Monat, neue Veröffentlichungen zu seinem schon bisher nahezu unüberschaubar umfangreichen Oeuvre hinzu, oftmals schon von Anfang an Meilensteine auf dem Weg zur Erkenntnis, immer jedoch Kristallisations- und Orientierungspunkte für alle, die sich mit der jeweiligen Materie befassen. Nach allem lag es nahe, den Jubilar mit einer zweiten Festschrift zu ehren und in diesem liber amicorum neben seinen Schülern und Münchener Kollegen diejenigen zu Worte kommen zu lassen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht die Gelegenheit hatten, bereits vor zehn Jahren an der damaligen Festschrift mitzuwirken. Entstanden ist auf diese Weise ein imposantes zweibändiges Werk mit insgesamt 118 Beiträgen aus dem In- und Ausland. Die Fülle der hier versammelten Beiträge spiegelt damit nicht nur die Breite des wissenschaftlichen Wirkens von Claus Roxin, sondern auch seine Position als Wissenschaftler von Weltrang wider. Diese globale wissenschaftliche Strahlkraft wird deutlich in dem, was bereits in einer im Jahre 2001 ebenfalls zu seinen Ehren herausgegebenen argentinischen Festschrift bezeichnet wurde als „la importante producción – ampliamente conocida en todo el mundo y caracterizada por su claridad y sencillez pedagógicas, profundidad y precisión“. Nicht zuletzt die Übersetzung seiner Werke in mittlerweile 20 Sprachen dieser Welt (Tendenz steigend) haben ihm zu einer, ohne jede Übertreibung, beispiellosen internationalen Anerkennung verholfen. Seine insge-

VIII

Geleitwort

samt nunmehr bereits 20 Ehrendoktorwürden (einschließlich einer Honorarprofessur), seine Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse, seine Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die Verleihung der Medaille „München leuchtet – den Freunden Münchens“ in Gold, der Beccaria-Medaille in Gold, des Ehrenkreuzes des Ordens San Raimundo de Penafort sowie die sonstigen ungezählten Ehrungen und Würdigungen, die ihm bislang zuteil geworden sind und noch immer zuteil werden, sind sichtbarer Beweis dieser wissenschaftlichen und persönlichen Hochschätzung, die ihm überall entgegengebracht wird. Claus Roxin wurde am 15. Mai 1931 als Sohn von Hans und Charlotte Roxin in Hamburg geboren. Dort verbrachte er auch seine Schulzeit und studierte von 1950 bis 1954 Rechtswissenschaften. In der Folge arbeitete er als Assistent an dem renommierten Lehrstuhl von Heinrich Henkel und wurde im Jahre 1957 mit seiner Arbeit über „Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale“ promoviert. Seine Habilitation erfolgte im Jahre 1962 auf der Grundlage seiner, mittlerweile in achter Auflage 2006 erschienenen, Habilitationsschrift über „Täterschaft und Tatherrschaft“. Im Jahre 1963 erhielt Claus Roxin bereits im Alter von 32 Jahren einen Ruf an die Georg-AugustUniversität Göttingen. Dort lehrte er als Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und allgemeine Rechtslehre, bis er im Jahre 1971 einem weiteren Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München folgte. In den Jahren 1973 und 1974 war er dort Dekan der Juristischen Fakultät und seit 1974 geschäftsführender Direktor des Instituts für die gesamten Strafrechtswissenschaften. Er blieb der Universität München als Ordinarius 28 Jahre lang treu, bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999. Aber auch als Emeritus ist seine Verbindung zur Münchener rechtswissenschaftlichen Fakultät stets lebendig geblieben. Im Rahmen seiner Tätigkeit als von Anfang an hochangesehener Strafrechtsgelehrter gewann Roxin nicht nur prägenden Einfluss in der Wissenschaft, sondern er bezog auch immer wieder Stellung zu Fragen der Gesetzgebung und Rechtspolitik, im Inland, wie auch im Ausland. So arbeitete er schon früh an dem im Jahre 1966 erschienenen Alternativentwurf zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs mit, einem ebenso modernen wie mutigen Gegenentwurf zu dem eher konservativ orientierten Regierungsentwurf von 1962. Sein Inhalt hat die Große Strafrechtsreform im Jahre 1971 entscheidend beeinflusst. Zwölf weitere Alternativentwürfe, etwa zum Strafvollzugsgesetz, zur Strafprozessordnung oder zur Sterbehilfe, entstanden im Laufe der Jahre unter Roxins maßgeblicher Beteiligung. Daneben betätigte er sich als Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft und der Neuen Zeitschrift für Strafrecht sowie als Ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht. Bekanntheit erlangte Roxin darüber hinaus durch sein Engagement und seine Expertise im Bereich der Karl-May-Forschung. Seit 1970 war er dem-

Geleitwort

IX

entsprechend Mitherausgeber des Jahrbuchs der Karl-May-Gesellschaft sowie von 1971 bis 1999 Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft und ab 1999 deren Ehrenvorsitzender. Seit dem Jahre 2000 amtiert er zudem als Präsident des Kuratoriums der Karl-May-Stiftung. Die Spannweite seines juristischen Schaffens reicht von Grundfragen der Strafrechtstheorie und Kriminalpolitik über Themen der Juristischen Methodenlehre bis hin zu Einzelproblemen der Strafrechtsdogmatik, umfasst das Strafverfahrensrecht ebenso wie das Sanktionenrecht und lässt angesichts dieser Weite seines Interessenspektrums kaum einen bedeutsamen Themenbereich unberührt. Die Vielfalt seiner Interessen und die Internationalität seines Schaffens bilden sich in den vorliegend innerhalb von sieben Abschnitten gebündelten Beiträgen dieser Festschrift in eindrucksvoller Weise ab. Die hier vorgelegte Festgabe ist daher Zeugnis dafür, dass sich mit dem Namen von Claus Roxin in Wahrheit ein „Weltstrafrecht“ verbindet – eine echte Scientia Universalis im Leibniz’schen Sinne. Beispielhaft für diese internationale Geltungskraft steht etwa die von Roxin bereits in seiner Göttinger Antrittsvorlesung von 1963 entfaltete Rechtsfigur der „mittelbaren Täterschaft kraft Ausnutzung organisatorischer Machtapparate“, die nicht nur vom Bundesgerichtshof zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts herangezogen wurde, sondern auch der strafrechtlichen Bewältigung von Untaten unter den Militärdiktaturen in Argentinien, Chile und Peru diente. Die Vielfalt der Beiträge von deutschen Autoren und Wissenschaftlern aus Argentinien, Brasilien, China, Griechenland, Italien, Japan, Kroatien, Kuba, Mexiko, Peru, Polen, der Schweiz, Serbien, Spanien, der Türkei und den USA unterstreicht diese weltverbindende Wirkung seines Schaffens in sinnfälliger Weise. Sämtliche Abhandlungen sind damit Zeugnis eines internationalen Diskurses, dem der Jubilar stets offen gegenüber stand und der längst noch nicht abgeschlossen ist. Der Blick auf das wissenschaftliche Wirken des Jubilars wäre jedoch nicht vollständig, würde man nicht auch seine Frau, Imme Roxin, in die Betrachtungen mit einbeziehen. Als wissenschaftsinteressierte Praktikerin und praktizierende Wissenschaftlerin hat sie das weltweite Engagement des Jubilars stets mit ehrlichem Interesse verfolgt und – im wahrsten Sinne des Wortes – begleitet. Zugleich war sie der familiäre Ruhepol, an dem sich seine wissenschaftliche Kompassnadel immer wieder auszurichten vermochte. Ihr Anteil am weltweiten Erfolg Claus Roxins kann daher nicht hoch genug geschätzt werden und gibt berechtigten Anlass dazu, von einer wahrhaft glücklichen Verbindung zu sprechen. Wir Schüler überreichen unserem Lehrer diese Festschrift als Zeichen des tiefen Dankes und der aufrichtigen Verehrung. Wir verbinden damit die herzlichsten Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag und die Hoffnung, dass ihm noch viele Jahre wissenschaftlicher und persönlicher Schaffenskraft vergönnt sein mögen.

X

Geleitwort

Unser Dank gilt schließlich auch dem Verlag de Gruyter für seine Bereitschaft, eine zweibändige Festschrift herauszugeben, und dort insbesondere Herrn Jan Schmidt und Frau Katja Brockmann für die engagierte Betreuung in der Endphase. Vor allem aber schulden wir unseren wissenschaftlichen Mitarbeitern, einerseits Herrn Michael Gaul, Herrn Clemens Haseloff, Herrn Stefan Reinel und Herrn Daniel Zapf vom Lehrstuhl Jäger in Bayreuth, andererseits Herrn Kai Ensenbach sowie Frau Annik Katrin Lamshöft, Herrn Thorsten Schwarzer und Frau Dr. Natalie Willsch vom Lehrstuhl Heinrich in Kiel, wie auch unseren Sekretärinnen, Frau Birgit Ringlein (Bayreuth) und Frau Brigitte Winkler (Kiel), Dank für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Entstehung der Festschrift. Ohne ihre Hilfe hätte sich dieses Projekt nicht verwirklichen lassen. Besonderer Dank gebührt auch Frau Marlies Kotting, der langjährigen Sekretärin des Jubilars, die bis heute für ihn tätig ist. Ihr ist die Bereitstellung der Unterlagen für die im Anhang abgedruckte Bibliographie zu verdanken. März 2011

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIII

I. Grundlagen des Strafrechts Tatjana Hörnle Claus Roxins straftheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . Cornelius Prittwitz Strafrecht als propria ratio

3

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Urs Kindhäuser „Wie man Verbrechen vorbeugt“ – Zu Cesare Beccarias Konzeption der Kriminalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Emiliano Borja Jiménez Annäherung an das interkulturelle Fundament des Strafrechts . . .

55

Christian Jäger Der Feind als Paradigmenwechsel im Recht – Zu Existenz und Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Miguel Polaino-Orts Grenzen vorverlagerter Strafbarkeit: Feindstrafrecht

. . . . . . .

91

Petra Wittig Die Herausforderung des liberalen Strafrechts durch die politische Philosophie Giorgio Agambens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Manfred Heinrich Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? – Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas . . . . . . . . . . .

131

Mario Romano Zur Legitimation der Strafgesetze – Zu Fähigkeit und Grenzen der Rechtsgutstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

XII

Inhaltsverzeichnis

Miguel Polaino Navarrete Rechtsgüterschutz versus Bestätigung der Normgeltung? . . . . .

169

Jörg Scheinfeld Normschutz als Strafrechtsgut? – Normentheoretische Überlegungen zum legitimen Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Luís Greco Gibt es Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Klaus Volk Gefühlte Rechtsgüter?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Gunnar Duttge Strafbarkeit des Geschwisterinzests aufgrund „eugenischer Gesichtspunkte“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Miguel Ontiveros Alonso Die freie Entfaltung der Persönlichkeit – Ein würdevolles Rechtsgut in einem Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

José Milton Peralta Motive im Tatstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Michael Hettinger Auf einen Schelmen anderthalbe? – Zum Fehlgebrauch einer misslungenen Rechtsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Gerhard Dannecker Das Verbot unbestimmter Strafen: Der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Deliktsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Lorenz Schulz Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz – Zur Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts Juarez Tavares Handlungseinheit und Konkurrenz bei nicht zweckorientiertem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

XIII

Inhaltsverzeichnis

José Luis Serrano González de Murillo „Sonderwissen“ des Handelnden und objektives Gefahrurteil . . .

345

Pablo Sanchez-Ostiz Ist die „objektive Zurechnung“ objektiv und zurechnend?

. . . .

361

Thomas Rotsch Objektive Zurechnung bei „alternativer Kausalität“ . . . . . . . .

377

Katharina Beckemper Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“

. . .

397

Carl-Friedrich Stuckenberg „Risikoabnahme“ – Zur Begrenzung der Zurechnung in Retterfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

Holm Putzke Pflichtdelikte und objektive Zurechnung – Zum Verhältnis der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen zu den Merkmalen des § 25 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Gunter Widmaier Der Zitronensaft-Fall – Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung . . . . . . . .

439

Bernd Heinrich Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . .

449

Konstantina Papathanasiou Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters – Vorschlag eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur Parallelwertung in der Laiensphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Thomas Rönnau Zur Lehre vom bedingten Einverständnis . . . . . . . . . . . . . .

487

Manuel Cancio Meliá Autonomie und Einwilligung bei ärztlicher Heilbehandlung – Eine Skizze aus spanischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .

507

Martin Böse Zur Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen einwilligungsunfähiger Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

XIV

Inhaltsverzeichnis

Detlev Sternberg-Lieben Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung: offene Fragen im Strafrecht, insbesondere bei Verstoß gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . .

537

Thomas Fischer Direkte Sterbehilfe – Anmerkung zur Privatisierung des Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

557

Henning Rosenau Aktive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

577

Jan C. Joerden Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593

Miguel Ángel Núñez Paz Zur Straferheblichkeit des Abbruchs der ärztlichen Behandlung in irreversiblen vegetativen Stadien . . . . . . . . . . . . . . . . .

609

Justa Gómez Navajas Darf der Staat foltern?

627

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Mitsch Verhinderung lebensrettender Folter

. . . . . . . . . . . . . . . .

639

Armin Engländer Die Pflicht zur Notwehrhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657

Arndt Sinn Recht im Irrtum? – Zur strafrechtlichen Rechtfertigung militärischer Gewalt bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

673

Eduardo Demetrio Crespo Schuld und Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

689

Ulrich Schroth Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . .

705

Andreas Hoyer Normative Ansprechbarkeit als Schuldelement . . . . . . . . . . .

723

Inhaltsverzeichnis

XV

Reinhard Merkel Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit – Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins. . . . . . . . . .

737

Tonio Walter Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar? – Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche . . . . . . . . . . . . .

763

Walter Gropp Conduct that the Actor Should Realize Creates a Substantial and Unreasonable Risk – Anmerkungen aus der Ferne zum Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts . . . . . . . . . . . . . . .

779

George P. Fletcher Strafrecht ohne Straftäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

793

Bernd Schünemann Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? – Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach 50 Jahren . . . . . . . . . . . . . .

799

Manuel A. Abanto Vásquez Verdirbt die Organisationsherrschaft die Tatherrschaftslehre? . . .

819

Kai Ambos Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft . . . . . . . .

837

Raúl Pariona Täterschaft und Pflichtverletzung – Grundlagen der Pflichtdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853

Michael Heghmanns Mehrfache Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

867

Hans Kudlich Berufsbedingtes Vorschubleisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

881

Wilfried Küper Anmerkungen zum Irrtum über die Beteiligungsform – Die irrige Annahme „tatherrschaftsbegründender Umstände“ als Versuchs-, Teilnahme- und Fahrlässigkeitsproblem . . . . . . . . . . . . . . .

895

Miguel Olmedo Cardenete Zum Versuch beim echten Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . .

917

XVI

Inhaltsverzeichnis

Michael Pawlik „Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“ – Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten . . . . . . . .

931

III. Besonderer Teil des Strafrechts Jürg-Beat Ackermann „Sträflicher Leichtsinn“ oder strafbarer Betrug? – Zur rationalen Kriminalisierung der Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

949

Karsten Gaede Die objektive Täuschungseignung als Ausprägung der objektiven Zurechnung beim Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

967

Osman Isfen „Das Leben ist wie ein Schneeball“ oder Strafrechtliche Relevanz von enttäuschten Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr . .

989

Hans Achenbach Vermögen und Nutzungschance – Gedanken zu den Grundlagen des strafrechtlichen Vermögensbegriffes . . . . . . . . . . . . . . .

1005

Manfred Maiwald Absatz und Absatzhilfe im Tatbestand der Hehlerei und die „Formel“ des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . .

1019

Mark A. Zöller Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Vortat der Geldwäsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1033

Frank Saliger Schutz der GmbH-internen Willensbildung durch Untreuestrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1053

Volker Krey Finanzmarktkrise und deutsches Strafrecht – Verantwortlichkeit von Bankvorständen für hochspekulativen Handel mit Asset Backed Securities (durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere) auf der Basis von US Subprime Mortgages (minderwertige US-Hypotheken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1073

Günter Heine Der staatliche Ankauf von strafbar erlangten Steuer-Daten deutscher Steuerhinterzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1087

XVII

Inhaltsverzeichnis

Volker Erb Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?

1103

Gabriele Wolfslast Gesundheitszeugnis ohne Untersuchung – Zum Tatbestandsmerkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 278 StGB . . . . . . . .

1121

IV. Kriminalpolitik und Sanktionen Carlos Julio Lascano Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1131

Luis Arroyo Zapatero Die Todesstrafe – Plädoyer für ein weltweites Moratorium . . . .

1147

Heinz Müller-Dietz Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs

. . . . . . . . . . .

1159

Ruth Rissing-van Saan Neuere Aspekte der Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1173

Heinz Schöch Sicherungsverwahrung und Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . .

1193

Fernando Guanarteme Sánchez Lázaro Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung und Sicherung .

1215

V. Strafverfahrensrecht Heike Jung Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

. . . . . . . . . . .

1233

Jürgen Wolter Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht – Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1245

Hans-Heiner Kühne Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren – Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG vom 9.11.2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1269

XVIII

Inhaltsverzeichnis

Daniel R. Pastor Eine Frist, die keine ist? – Über die Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist . . . . . . . . . . .

1287

Gerhard Schäfer Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter

. . . . . . . . . . . . .

1299

Wolfgang Wohlers Vorbefassung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses . . . . . . .

1313

Heribert Ostendorf Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers – dargestellt am Fall eines abgenötigten Geständnisses . . . . . . . . 1329 Joachim Renzikowski Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers im Lichte von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und des 6th Amendments zur US-Verfassung .

1341

Matthias Jahn Die Grenzen der Editionspflicht des § 95 StPO – Ein Beitrag zur Systematik der strafprozessualen Vorschriften über die Beschlagnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1357

Nikolaos K. Androulakis Das Wesen des strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile, unter Einschluss seiner revisionsrechtlichen Kontrolle – Die Falsifizierung durch den vernünftigen Zweifel . . . . . . . . .

1369

Uwe Murmann Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1385

Carsten Momsen Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei Verfahrensabsprachen

1403

Henning Radtke Die Bedeutung der Beschwer im Rechtsmittelsystem der StPO – Überlegungen anhand von Entscheidungen bezüglich stationärer Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . . . . . . . . . . . .

1419

Gabriel Pérez-Barberá Die Ausweitung der Revision – Ein neues Verständnis der sogenannten Leistungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1435

XIX

Inhaltsverzeichnis

VI. Europäisches, außereuropäisches und supranationales Strafrecht Eric Hilgendorf Von der juristischen Entwicklungshilfe zum Rechtsdialog – Prolegomena zu einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts . . .

1451

Juan Carlos Ferré Olivé Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt . . . . . . . . . . .

1465

Monika Harms und Pamela Knauss Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtssetzung der Europäischen Union – Eine Zwischenbilanz . .

1479

Robert Esser Auswirkungen der Europäischen Beweisanordnung auf das deutsche Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1497

Helmut Satzger Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechtskraft“? . . . . . . . .

1515

Dulce M. Santana Vega Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit: Eine europäische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1537

Enrique Díaz-Aranda Ist die deutsche Strafrechtsdogmatik auf die strafrechtliche Problematik Mexikos anwendbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1557

Eugenio C. Sarrabayrouse Die Gesetzgebungstheorie: Eine Grenze für die Ausweitung des Strafrechts? Ihre Entwicklung und Perspektiven in Argentinien – Zugleich eine vergleichende Darstellung . . . . . .

1567

Shizhou Wang Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie . . . . .

1583

Zoran StojanoviC´ Die Verbrechenslehre aus der Sicht des serbischen Strafrechts

. .

1593

Makoto Ida Neuere Entwicklungen im japanischen Strafrecht im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1609

XX

Inhaltsverzeichnis

Yuri Yamanaka Warum ist die Organentnahme in Japan so schwierig? – Bemerkungen zum japanischen Organtransplantationsgesetz . . .

1623

Petar Novoselec Die Rezeption der Tatherrschaftslehre im kroatischen Strafrecht .

1643

Nedeljko Jovancˇevic´ Akzessorische Natur der Teilnahme im serbischen Strafrecht . . .

1659

Lorenzo Morillas Cueva Städtebaudelikte zwischen Realität und Expansion

. . . . . . . .

1677

Concepción Carmona Salgado Die Neuregelung von Mobbing am Arbeitsplatz und auf dem Immobiliensektor im spanischen Strafgesetzbuch . . . . . . . . .

1695

Vincenzo Militello Die Reform der Delikte gegen den Staat in Italien

. . . . . . . . .

1713

Antonio Cavaliere Ansätze zur Kritik des Drogenstrafrechts – aus einer italienischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1729

Adem Sözüer Die strafrechtliche Bewertung des tödlichen polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen Flüchtige in der Türkei . . . . . . . . . . .

1749

Andrzej J. Szwarc „Sportdelikte“ im polnischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . .

1765

Antonio Cuerda Riezu Die Verfassungswidrigkeit der lebenslangen und sehr langen Freiheitsstrafe im spanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . .

1779

Danilo Rivero García Das kubanische Strafprozessrecht – Notwendigkeit einer Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1797

Stanko Bejatovic´ Aktuelle Fragen zur laufenden Reform der Strafprozessgesetzgebung in Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1813

XXI

Inhaltsverzeichnis

Gabriela E. Córdoba Das abgekürzte Verfahren in Argentinien . . . . . . . . . . . . . .

1831

Joan J. Queralt Vorläufige Festnahme und Identitätsfeststellung im spanischen Recht: verfassungsrechtliche und gesetzliche Bestimmungen . . .

1847

Toshio Yoshida Beteiligung des Tatopfers am Strafverfahren in Japan – Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück? . . . . . . . . . . .

1863

Maria Kaiafa-Gbandi Private Überwachung im Sicherheitsstaat und faires Strafverfahren am Beispiel der griechischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . .

1881

VII. Kriminologie Dieter Dölling Über das Böse aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht . .

1901

Ralf Kölbel Gewissensmobilisierung durch Strafrecht?

. . . . . . . . . . . . .

1913

Ioanna Anastasopoulou Zur aktuellen Leistungsfähigkeit des viktimologischen Ansatzes .

1927

Verzeichnis der Schriften von Claus Roxin . . . . . . . . . . . . . .

1943

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1997

Literaturverzeichnis Achenbach/Ransiek AK-GG AK-StGB AK-StPO AK-StVollzG Albrecht Ambos Ambos Androulakis Anw-StGB Anw-StPO Arzt/Weber/Heinrich/ Hilgendorf Baudenbacher Baumann/Weber/Mitsch Baumbach/Hueck Baur/Stürner BeckOK-BGB BeckOK-StGB BeckOK-StPO Beulke Bienwald Binding Binding Bittmann BK-GG Blei Blei Bockelmann/Volk Bohnert Bringewat Calliess/Müller-Dietz Deutsch/Spickhoff Dölling/Duttge/Rössner Donatsch Donatsch/Wohlers Dreier Ebert

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Auflage 2008 Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage 1989 Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch, 1986 ff Alternativkommentar zur Strafprozessordnung, 1988 ff Alternativkommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Auflage 2006 Kriminologie, 4. Auflage 2010 Internationales Strafrecht, 2. Auflage 2008 Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2. Auflage 2003 Grundbegriffe des Strafprozesses (in griechischer Sprache), 1979 AnwaltKommentar StGB, 2010 AnwaltKommentar StPO, 2. Auflage 2009 Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Auflage 2009 Lauterkeitsrecht, 2001 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003 GmbHG, 19. Auflage 2010 Sachenrecht, 18. Auflage 2009 Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Stand: 2010 Beck’scher Online-Kommentar zum StGB, Stand: 2011 Beck’scher Online-Kommentar zur StPO, Stand: 2011 Strafprozessrecht, 11. Auflage 2010 Betreuungsrecht, 4. Auflage 2005 Die Normen und ihre Übertretung, Band 1 bis 4, 1872 ff Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil I, 2. Auflage 1902 Insolvenzstrafrecht, 2004 Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Losebl.), Stand: 2011 Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Auflage 1983 Strafrecht II, Besonderer Teil, 12. Auflage 1983 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1987 Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, 3. Auflage 2010 Grundbegriffe des Strafrechts, 2. Auflage 2008 Strafvollzugsgesetz, 11. Auflage 2008 Medizinrecht, 6. Auflage 2008 Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 2008 Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Auflage 2008 Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 3. Auflage 2004 Grundgesetz-Kommentar, 2. Auflage 2004 ff Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 2007

XXIV Eisele Eisele Eisenberg Eisenberg EMRK/GG Epping/Hillgruber Erbs/Kohlhaas Erman Eser Eser/Burkhardt Feuerbach Fezer, G. Fezer, K.-H. Fischer Frank Franzen/Gast/Joecks Freund Frisch Frister Frowein/Peuckert Fülbier/Aepfelbach/ Langweg GK-AktG GK-UWG Göppinger Gössel/Dölling Gössel Grabenwarter Gropp Grützner/Pötz/Kreß Haft Hahn Hamm Hardtung/Putzke HdB-VerfR Hecker Hecker/Heine/Risch/ Windolph/Hühner Heinrich, B.

Literaturverzeichnis Strafrecht, Besonderer Teil 1, Straftaten gegen die Person und die Allgemeinheit, 2007 Strafrecht, Besonderer Teil 2, Eigentumsdelikte, Vermögensdelikte und Urkundendelikte, 2009 Jugendgerichtsgesetz, 14. Auflage 2010 Beweisrecht der StPO, 7. Auflage 2011 Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006 Grundgesetz, 2009 Strafrechtliche Nebengesetze (Losebl.), Stand: 2011 Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 12. Auflage 2008 Strafrecht IV, Schwerpunkt Vermögensdelikte, 4. Auflage 1983 Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1992 Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1832 Strafprozeßrecht, 2. Auflage 1995 Lauterkeitsrecht: UWG, 2. Auflage 2010 Strafgesetzbuch, 58. Auflage 2011 Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Auflage 1931 Steuerstrafrecht, 7. Auflage 2009 Strafrecht, Allgemeiner Teil. Personale Straftatlehre, 2. Auflage 2009 Strafzumessung, 1971 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 2009 Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2009 GwG – Kommentar zum Geldwäschegesetz, 5. Auflage 2006 Großkommentar Aktiengesetz, 4. Auflage 1992 ff Großkommentar UWG, 1991 ff Kriminologie, 6. Auflage 2008 Strafrecht, Besonderer Teil, Band 1, Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter des Individuums, 2. Auflage 2004 Strafrecht, Besonderer Teil, Band 2, Straftaten gegen materielle Rechtsgüter des Individuums, 1996 Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage 2009 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 2005 Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage 2011 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004 Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band 3, Materialien zur Strafprozeßordnung, 2. Auflage 1885 Die Revision in Strafsachen, 7. Auflage 2010 Lehrskript Allgemeiner Teil, 2009/2010 Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage 1994 Europäisches Strafrecht, 2. Auflage 2007 Abfallwirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, 2008 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, Grundlagen der Strafbarkeit, Aufbau der Straftat beim Vollendungsund Versuchsdelikt, 2. Auflage 2010

Literaturverzeichnis Heinrich, B.

v. Heintschel-Heinegg Hellmann Hellmann/Beckemper Henkel v. Hentig v. Hentig Herdegen Herzog Hillenkamp Hillenkamp v. Hippel v. Hippel HKGS HK-StPO Höffe Hohmann/Sander Horn Hoyer Hruschka Ignor/Rixen IntKomm-EMRK Isensee/Kirchhof Jäger Jäger Jakobs Jarras/Pieroth Jescheck/Weigend Joecks Jung Kaiser Kaiser/Schöch Karras Kaufmann/Hassemer/ Neumann Killias

XXV

Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 2, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, Unterlassungs- und Fahrlässig– keitsdelikte, Irrtums-, Beteiligungs- und Konkurrenzlehre, 2. Auflage 2010 Strafgesetzbuch, 2010 Strafprozessrecht, 2. Auflage 2005 Wirtschaftsstrafrecht, 3. Auflage 2010 Strafverfahrensrecht, 2. Auflage 1968 Die Strafe I: Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge, 1954 Die Strafe II: Die modernen Erscheinungsformen, 1955 Völkerrecht, 10. Auflage 2011 Geldwäschegesetz, 2010 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Auflage 2010 40 Probleme aus dem Strafrecht Besonderer Teil, 11. Auflage 2008 Deutsches Strafrecht, Band I, 1925 Deutsches Strafrecht, Band II, 1930 Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 2008 Handkommentar zur Zürcher Strafprozessordnung, 2005 Lexikon der Ethik, 7. Auflage 2008 Strafrecht, Besonderer Teil, Vermögensdelikte, 3. Auflage 2011 Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 4. Auflage 2006 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2002 Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Auflage 1988 Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2. Auflage 2008 Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Losebl.), Stand: 2009 Handbuch des Staatsrechts, Band 1: Historische Grundlagen, 3. Auflage 2003 Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Auflage 2011 Examens-Repetitorium Strafrecht Besonderer Teil, 4. Auflage 2011 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Auflage 2011 Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996 Studienkommentar StGB, 9. Auflage 2010 Kriminalsoziologie, 2. Auflage 2007 Kriminologie, 10. Auflage 1997 Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 7. Auflage 2010 Strafprozessordnung (in griechischer Sprache), 8. Auflage 2003 Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage 2010 Grundriss der Kriminologie. Eine europäische Perspektive, 2002

XXVI Kindhäuser Kindhäuser Kindhäuser Kindhäuser Kindhäuser KK-OWiG KK-StPO Kleiner/Schwob/Winzeler Kloepfer/Vierhaus KMR Köhler Köhler/Bornkamm Körner Krause Krey

Krey

Krey/Heinrich, M. Krey/Hellmann Kudlich Kudlich Kudlich Kühl Kühne Kunz Kunz/Mona Küper Küpper Lackner/Kühl Larenz Laubenthal Laubenthal/Baier/Nestler v. Liszt v. Liszt v. Liszt/Schmidt, Eb.

Literaturverzeichnis Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 2009 Strafrecht, Besonderer Teil I, Straftaten gegen Persönlichkeitsrechte, Staat und Gesellschaft, 4. Auflage 2009 Strafrecht, Besonderer Teil II, Straftaten gegen Vermögensrechte, 6. Auflage 2010 Strafprozessrecht, 2. Auflage 2010 Strafgesetzbuch. Lehr- und Praxiskommentar, 4. Auflage 2010 Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Auflage 2006 Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Auflage 2008 Kommentar BankG, 2009 Umweltstrafrecht, 2. Auflage 2002 Kommentar zur Strafprozessordnung (Losebl.), Stand: 2010 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 29. Auflage 2011 Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz, 6. Auflage 2007 Die Revision im Strafverfahren, 5. Auflage 2001 Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, Grundlagen, Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld, 3. Auflage 2008 Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 2, Täterschaft und Teilnahme, Unterlassungsdelikte, Versuch und Rücktritt, Fahrlässigkeitsdelikte, 3. Auflage 2008 Strafrecht, Besonderer Teil, Band 1, Besonderer Teil ohne Vermögensdelikte, 14. Auflage 2008 Strafrecht, Besonderer Teil, Band 2, Vermögensdelikte, 15. Auflage 2008 Strafrecht, Allgemeiner Teil – PdW, 3. Auflage 2009 Strafrecht, Besonderer Teil I, Vermögensdelikte – PdW, 2. Auflage 2007 Strafrecht, Besonderer Teil II, Delikte gegen die Person und gegen die Allgemeinheit – PdW, 2. Auflage 2009 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Auflage 2008 Strafprozessrecht, 8. Auflage 2010 Kriminologie, 5. Auflage 2008 Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006 Strafrecht, Besonderer Teil, Definitionen mit Erläuterungen, 7. Auflage 2008 Strafrecht, Besonderer Teil 1, Delikte gegen Rechtsgüter der Person und Gemeinschaft, 3. Auflage 2007 Strafgesetzbuch, 27. Auflage 2010 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991 Strafvollzug, 6. Auflage 2011 Jugendstrafrecht, 2. Auflage 2010 Das deutsche Reichsstrafrecht, 1881 Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 7. Auflage 1896 Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Auflage 1921

Literaturverzeichnis LK Lorenz Löwe/Rosenberg (LR) Lutter/Hommelhoff Malek v. Mangoldt/Klein/Starck Matt/Renzikowski Maunz/Dürig Maurach/Zipf Maurach/Gössel/Zipf Maurach/Schroeder/ Maiwald Maurach/Schroeder/ Maiwald Mayer, H. Mayer, M. E. Meier, B.-D. Meier, B.-D. Meier/Rössner/Schöch Merkel Meyer Meyer-Goßner Meyer-Ladewig Mezger Mezger/Blei Mezger/Blei Mitsch Mitsch MüKo-BGB MüKo-StGB MüKo-UWG Müller-Gugenberger/ Bieneck v. Münch/Kunig Murmann Niemöller/Schlothauer/ Wieder Niggli/Wiprächtiger NK Ostendorf Otto

XXVII

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Auflage 2006 ff Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 20. Auflage 1995 Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Auflage 2010 GmbH-Gesetz, 17. Auflage 2009 Betäubungsmittelstrafrecht, 3. Auflage 2008 Kommentar zum Grundgesetz, 6. Auflage 2010 Strafgesetzbuch, 2011 Grundgesetz (Losebl.), Stand: 2010 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 1, Grundlehren des Strafrechts und Aufbau der Straftat, 8. Auflage 1992 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2, Erscheinungsformen des Verbrechens und Rechtsfolgen der Tat, 7. Auflage 1989 Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 1, Straftaten gegen Persönlichkeits- und Vermögenswerte, 10. Auflage 2009 Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 2, Straftaten gegen Gemeinschaftswerte, 9. Auflage 2005 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1967 Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1915 Strafrechtliche Sanktionen, 3. Auflage 2009 Kriminologie, 4. Auflage 2010 Jugendstrafrecht, 2. Auflage 2007 Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1889 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Auflage 2011 Strafprozessordnung, 53. Auflage 2010 Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2011 Strafrecht. Ein Lehrbuch, 3. Auflage 1949 Strafrecht. Ein Studienbuch. Allgemeiner Teil, 15. Auflage 1973 Strafrecht. Ein Studienbuch. Besonderer Teil, 10.Auflage 1971 Strafrecht, Besonderer Teil 2, Vermögensdelikte (Kernbereich), Teilband 1, 2. Auflage 2003 Strafrecht, Besonderer Teil 2, Vermögensdelikte (Randbereich), Teilband 2, 2001 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Auflage 2006 ff Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003 ff Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, 2006 ff Wirtschaftsstrafrecht, 5. Auflage 2011 Grundgesetz-Kommentar, 5. Auflage 2000 Prüfungswissen Strafprozessrecht, 2. Auflage 2010 Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010 Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2002 Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Auflage 2010 Jugendgerichtsgesetz, 8. Auflage 2009 Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Auflage 2004

XXVIII Otto Palandt Park Pawlowski Peters Pfeiffer Pieroth/Schlink/Kniesel Piper/Ohly/Sosnitza Plack Prölss/Martin Puppe Radbruch Radtke/Hohmann Raiser/Veil Ranft Rebmann/Roth/Hermann Rengier Rengier Rengier Roth/Altmeppen Rotsch/Nolte/Peifer/ Weitemeyer Roxin

Literaturverzeichnis Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 7. Auflage 2005 Bürgerliches Gesetzbuch, 70. Auflage 2011 Kapitalmarktstrafrecht: Handkommentar, 2. Auflage 2008 Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage 1969 Strafprozeß: Ein Lehrbuch, 4. Auflage 1985 Strafprozessordnung: Kommentar, 5. Auflage 2005 Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auflage 2010 Gesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb, 5. Auflage 2010 Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral, 12. Auflage 1977 Versicherungsvertragsgesetz, 28. Auflage 2010 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1: Die Lehre vom Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld, 2002 Rechtsphilosophie, 1932 (Nachdruck 2. Auflage 2003) Strafprozessordnung, 2011 Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Auflage 2010 Strafprozeßrecht, 3. Auflage 2005 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Losebl.), 3. Auflage 2009 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2010 Strafrecht, Besonderer Teil I: Vermögensdelikte, 12. Auflage 2010 Strafrecht, Besonderer Teil II: Delikte gegen die Person und Allgemeinheit, 11. Auflage 2010 GmbHG, 6. Auflage 2009 Die Klausur im Ersten Staatsexamen, 2003

Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, Grundlagen: Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Auflage 2006 Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 2, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, 2003 Roxin Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Auflage 1970 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973 Roxin Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Allgemeinen Teil, 1998 Roxin/Achenbach Strafprozessrecht – PdW, 16. Auflage 2006 Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht, 5. Auflage 2006 Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Auflage 2010 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht. Ein Studienbuch, 26. Auflage 2009 Roxin/Schünemann/Haffke Strafrechtliche Klausurenlehre mit Fallrepetitorium, 4. Auflage 1982 Roxin/Stree/Zipf/Jung Einführung in das neue Strafrecht, 2. Auflage 1975 Sachs Grundgesetz: Kommentar, 5. Auflage 2009 Sack/König Kriminalsoziologie, 3. Auflage 1979 Samson Strafrecht, Teil 1, 7. Auflage 1988 Samson Strafrecht, Teil 2, 5. Auflage 1985 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Auflage 2010 Satzger/Schmitt/Widmaier Strafgesetzbuch, 2009

Literaturverzeichnis Schlüchter Schlüchter Schmidhäuser Schmidhäuser Schmidhäuser Schmidt, Eb. Schmidt, Eb. Schmidt, R. Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Hopfauf Scholz Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner Schönke/Schröder Schroeder Schroth Schubarth/Albrecht Schwind SK-StGB SK-StPO Soergel Sonnenfeld/Hoffmann Staub Staudinger Stratenwerth/Kuhlen Stratenwerth/Jenny/ Bommer Stratenwerth/Bommer Stratenwerth/Wohlers Streng Thomas/Putzo Tiedemann Tiedemann Tiedemann Trechsel Ulsenheimer Volk Wabnitz/Janovsky Walter Wandtke/Bullinger Wank Watter/Vogt/Bauer/ Winzeler

XXIX

Strafrecht Allgemeiner Teil in aller Kürze, 3. Auflage 2000 Das Strafverfahren, 2. Auflage 1983 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Auflage 1975 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Auflage 1984 Strafrecht, Besonderer Teil, Grundriß, 2. Auflage 1983 Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965 Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, 1952 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2010 Kommentar zum Grundgesetz, 12. Auflage 2011 GmbHG, 10. Auflage 2006 ff Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Auflage 2006 Strafgesetzbuch, 28. Auflage 2010 Strafprozessrecht, 4. Auflage 2007 Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Auflage 2010 Kommentar zum schweizerischen Strafrecht. Strafgesetzbuch, Besonderer Teil, 1982 ff Kriminologie, 20. Auflage 2010 Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (Losebl.), Stand: 2010 Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Auflage 2010 ff Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetzen und Nebengesetzen, 13. Auflage 1999 ff Betreuungsrecht, 4. Auflage 2005 Handelsgesetzbuch, 4. Auflage 1995 ff, 5. Auflage 2008 ff Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2004 ff Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Auflage 2011 Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Auflage 2010 Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, Straftaten gegen Gemeininteressen, 6. Auflage 2008 Schweizerisches Strafgesetzbuch – Handkommentar, 2. Auflage 2009 Strafrechtliche Sanktionen, 2. Auflage 2002 Zivilprozessordnung, 31. Auflage 2010 Die Anfängerübung im Strafrecht, 4. Auflage 1999 Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 3. Auflage 2009 Wirtschaftsstrafrecht, Besonderer Teil, 2. Auflage 2008 Schweizerisches Strafgesetzbuch. Praxiskommentar, 2008 Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Auflage 2007 Grundkurs StPO, 7. Auflage 2010 Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Auflage 2007 Strafvollzug, 2. Auflage 1999 Praxiskommentar zum Urheberrecht, 3. Auflage 2009 Die Auslegung von Gesetzen, 4. Auflage 2008 Basler Kommentar Bankengesetz, 2005

XXX Weber Welzel Werle Wessels/Beulke Wessels/Hettinger Wessels/Hillenkamp Wittig Zieschang Zöller Zöller Zöller/Fornoff/Gries

Literaturverzeichnis Betäubungsmittelgesetz, 3. Auflage 2009 Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969 Völkerstrafrecht, 2. Auflage 2007 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 40. Auflage 2010 Strafrecht, Besonderer Teil 1, Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 34. Auflage 2010 Strafrecht, Besonderer Teil 2, Straftaten gegen Vermögenswerte, 33. Auflage 2010 Wirtschaftsstrafrecht, 2010 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2009 Terrorismusstrafrecht – Ein Handbuch, 2009 Strafrecht, Besonderer Teil I, Vermögensdelikte, 2007 Strafrecht, Besonderer Teil II, Delikte gegen Rechtsgüter der Person und der Allgemeinheit, 2008

I. Grundlagen des Strafrechts

Claus Roxins straftheoretischer Ansatz TATJANA HÖRNLE

I. Einleitung Warum Kriminalstrafe? Mit dieser Frage muss sich jeder Vertreter unseres Faches auseinandersetzen. Strafrechtswissenschaft ist ohne den Versuch, sich dazu eine Meinung zu bilden, nicht möglich. Bewusst schreibe ich allerdings vom „Versuch“, da das Unternehmen nicht ohne Tücken ist. Je ergebnisoffener und intensiver man sich auf den Weg zu einer Antwort einlässt, umso deutlicher wird, dass alle simplen Antworten defizitär sind und eine einigermaßen überzeugende Straftheorie komplex und mehrdimensional ausfallen muss. Claus Roxin, der große Meister der Strafrechtswissenschaft in Deutschland und vielen anderen Ländern, hat wichtige Mosaiksteine zu einem zeitgemäßen, einerseits nüchtern-zweckrationalen, andererseits von einer humanitären Einstellung getragenen Bild beigetragen. Die von ihm bevorzugte „präventive Vereinigungstheorie“ ist vielschichtig und sie basiert auf wesentlichen Einsichten, die unverzichtbare Ausgangspunkte straftheoretischer Überlegungen sind. Allerdings sind auch an einigen Punkten Ergänzungen und Modifikationen vorzuschlagen. Dieser Beitrag, den ich dem Jubilar mit meinen herzlichsten Glückwünschen, in dankbarer Erinnerung an manches Gespräch in den zurückliegenden Jahrzehnten und in der Hoffnung auf weiteren Austausch in der Zukunft widme, beschäftigt sich mit beiden Perspektiven (unverzichtbare Thesen, unten II., und Ergänzungen, unten III.). Basis der Auseinandersetzung sind vor allem die ausführliche Darstellung zum Zweck der Strafe in Roxins großem Lehrbuch „Strafrecht Allgemeiner Teil“, Band 1, außerdem einige neuere (Festschrift-)Beiträge aus seiner Feder.

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II. Unverzichtbare Thesen, die Claus Roxins Straftheorie zugrunde liegen 1. Kriminalstrafe muss einem Zweck dienen „Absolute Straftheorien“ nehmen nach wie vor in Lehrbüchern und Überblicksaufsätzen einen relativ breiten Raum ein, meist allerdings beschränkt auf Exzerpte aus Texten von Kant und Hegel.1 Auch in vertiefenden rechtswissenschaftlichen Darstellungen nehmen einige Autoren die Philosophie des deutschen Idealismus beim Wort.2 Der Anspruch, dass in dieser Zeitspanne die relevanten Fragen geklärt worden seien, ist jedoch unbegründet. Vielmehr krankt eine Ableitung straftheoretischer Konzepte aus dem Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts daran, dass wesentliche normative Prämissen, die für Kriminalstrafe in einem modernen Verfassungsund Rechtsstaat unabdingbar sind, in diesem Textbestand nicht oder allenfalls rudimentär entwickelt sind. Solche zentralen Vorgaben betreffen das Verhältnis des Einzelnen zum Staat, insbesondere die zentrale Rolle von Grundrechten als Ankerpunkt aller Theorien zu staatlicher Gewalt, und der unter der Prämisse eines normativen Individualismus3 unabdingbare Verzicht darauf, die Willkür eines Monarchen anzuerkennen oder den Staat zu verherrlichen. Strafrecht ist nicht mehr „das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ (mit dieser Definition begann Kant den Abschnitt „Vom Straf- und Begnadigungsrecht“).4 Aus der Einsicht, dass Kriminalstrafe ein schwerwiegender Grundrechtseingriff ist, folgt zwangsläufig, dass dieser Eingriff begründet werden muss, indem ein rechtfertigender Zweck anzugeben ist. Die bekannte Formel Maurachs von der „zweckgelösten Majestät“ der Vergeltungsstrafe5 suggeriert, dass entweder nicht begründet werden müsse (das mögen Majestäten gegenüber Untertanen für überflüssig halten) oder dass die staatliche Institution Kriminalstrafe keinen Zweck verfolge. Solche Thesen müssen Widerspruch hervorrufen – dass sie Jahre nach Geltung des Grundgesetzes noch zum Einsatz kamen, ist höchst erstaunlich. Die Situati1

Siehe z. B. Baumann/Weber/Mitsch AT § 3 Rn. 25 ff; Frister AT S. 16 ff; B. Heinrich AT I § 2 Rn. 14 ff; MüKo-Joecks Einl. Rn. 48 ff; Momsen/Rackow JA 2004, 337; Rengier AT S. 12 ff. Krit. zu der oberflächlichen Verarbeitung neuerer Ansätze in vielen Lehrbüchern Stübinger Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 289 f. 2 Köhler AT S. 48 ff; Zaczyk Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, 1981; ders. FS Eser, 2005, 207 ff; Klesczewski Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1991; Kelker Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 339 ff; Stübinger (Fn. 1) S. 292 ff. 3 Dazu von der Pfordten Rechtsethik, 2001, S. 259 ff; ders. JZ 2005, 1069 ff. 4 Kant Die Metaphysik der Sitten, 1797, Werkausgabe in zwölf Bänden, hrsg. v. Weischedel, 1977, S. 452. 5 Maurach AT4, 1971, S. 77.

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on hat sich dank dem Wirken von Strafrechtswissenschaftlern wie Roxin verändert, die die Abhängigkeit der Strafrechtswissenschaft von verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Vorgaben verinnerlicht haben. Dass der Verweis auf „kein Zweck“ evidentermaßen unpassend ist, wenn es gilt, Grundrechtseingriffe zu legitimieren, ist heute weitgehend anerkannt.6

2. Zwecke, die einen erheblichen Grundrechtseingriff rechtfertigen können Die unmittelbar anschließende Frage ist: Welche Zwecke sind geeignet, einen erheblichen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen? Man kann sich der Antwort zunächst negativ nähern, indem die in einem modernen Rechtsstaat untauglichen Zwecke ausgesondert werden. Roxin schreibt zu diesem Punkt: „Die metaphysische Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist der Staat als eine menschliche Einrichtung weder fähig noch berechtigt“. 7 Darin stecken zwei Aussagen: Zum einen die Ablehnung von nur religiös begründbaren, glaubensabhängigen Anliegen, zum anderen der Gedanke, dass isoliert von religiösen Vorstellungen von „Gerechtigkeit auf Erden“ Gerechtigkeit kein Strafzweck sein kann. Beides ist überzeugend. Zwar lassen sich Strafzwecke durchaus in konsistenter Weise aus religiösen Weltentwürfen ableiten, aufbauend auf der Vorstellung eines strafenden Gottes oder eines zu erwartenden Jüngsten Gerichts, oder dem Verständnis von Sühne als Eigenleistung des Christen und Leiden durch Strafe als christliche Tugend,8 oder weil weltliche Strafen dem Täter im Jenseits den Zugang zu voller Gnade eröffnen.9 Wenn man jedoch von der theologischen zu einer rechtlichen Perspektive wechselt, wird die Ungeeignetheit solcher Begründungen offensichtlich.10 Die Frage, ob bei staatlichen Organisationsentscheidungen und staatlichen Leistungen davon abgesehen werden muss, religiöse Begründungen zu übernehmen,11 kann für unsere Zwecke dahinstehen. Jedenfalls können massive Grundrechtseingriffe nicht mit dem Willen Gottes oder dem Schicksal der Betroffenen im Jenseits legitimiert werden. 6

Frisch 50 Jahre BGH, Bd. IV, 2000, 275; Freund Strafrecht AT S. 2; MüKo-Joecks Einl. Rn. 54; Leyendecker (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht, 2002, S. 73; Roxin FS MüllerDietz, 2001, 702. 7 Roxin AT I § 3 Rn. 8; ders. FS Müller-Dietz, 2001, 702. 8 Pius II in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral, 1987, S. 221 f. 9 Weitzel in: Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, 2007, S. 32. 10 Neumann/Schroth Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 14 f. 11 Siehe zu Begründungsneutralität Huster Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 98 ff.

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Genauso wenig ergibt sich ein Strafzweck aus der Forderung, dass Gerechtigkeit geübt werden solle. Gerechtigkeit verweist auf bestimmte Modi der Verteilung (von Gütern und immateriellen Vorteilen wie von Nachteilen). Gerechtigkeit muss zum Leitkriterium werden, wenn über das Wie einer Verteilung zu entscheiden ist – was aber voraussetzt, dass die Grundsatzentscheidung, etwas verteilen zu wollen oder zu müssen, bereits begründet wurde.12 Ähnlich irreführend ist der Versuch, Kriminalstrafe damit zu rechtfertigen, dass Schuld vergolten werden solle. Mit dem Bezug auf Vergeltung kann genauso wenig wie mit dem Bezug auf Gerechtigkeit begründet werden, warum auf eine (wie immer auch verstandene) persönliche Schuld Strafe folgen müsse. Dass mit Strafe notwendigerweise auf ein in der Vergangenheit liegendes, negativ gewertetes und einer Person als persönliches Versagen zugerechnetes Geschehen reagiert wird, gehört zum Konzept der Strafe. Aber damit ist die Frage nach dem „warum“ nicht zu beantworten.13 Welche Überlegungen müssen den Ausgangspunkt bilden, wenn der Zweck von Kriminalstrafe nicht durch Aussonderung untauglicher Ansätze, sondern positiv umschrieben werden soll? Das Bundesverfassungsgericht geht (bei manchen Unklarheiten, wenn es um die Benennung von Strafzwecken geht)14 für Strafgesetze von der Leitlinie aus, dass der Schutz anderer oder der Allgemeinheit die Androhung von Kriminalstrafe rechtfertige.15 Diese Festlegung wirft eine Reihe von Fragen auf, unter anderem, wie sich dies zu der in der Strafrechtswissenschaft vertretenen Lehre vom Rechtsgüterschutz verhält und wie der Ultima-Ratio-Grundsatz als Schranke für Kriminalisierungsentscheidungen verankert werden kann. Dem nachzugehen würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Es kommt mir an dieser Stelle lediglich darauf an, die Basisannahme gutzuheißen, dass sowohl Sanktionsnormen als auch die Praxis der Verhängung von Kriminalstrafen einem Zweck dienen müssen, der auf die Interessen anderer Menschen verweist (Interessen, die man, wenn es sich um gleichgerichtete Interessen vieler handelt, als Interessen der Allgemeinheit oder Gemeinwohlinteressen bezeichnen kann). Wendet man sich den gesetzlichen Strafnormen zu, so ist eine zweckrationale Ausrichtung nicht nur im Werk Roxins zu finden,16 sondern in der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft weit verbreitet.17 Aber auch auf der zweiten Ebene, wenn es jenseits der Strafankündigung im 12

Pawlik Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 56. LK-Weigend Einl. Rn. 63. 14 Dazu Roxin FS Volk, 2009, 612 f. 15 BVerfGE 90, 145, 172; 120, 224, 239. 16 Siehe seine Definition des Begriffs Rechtsgut in: Roxin AT I § 2 Rn. 7. 17 NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 108; Lampe Strafphilosophie, 1999, S. 123; LKWeigend Einl. Rn. 1 ff. 13

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Gesetz die Verurteilung von bestimmten Personen zu rechtfertigen gilt, dominiert der zweckrationale, am Nutzen anderer orientierte Ansatz.18 Selbstverständlich ist dies allerdings nicht. Es gibt abweichende Meinungen, etwa das straftheoretische Konzept, das Michael Pawlik entwickelt hat. Dieser lehnt präventionsorientierte Rechtfertigungen explizit ab und stellt stattdessen auf Loyalitätspflichten ab, die der Straftäter verletzt habe.19 Versucht man einen solchen, bei Pawlik auf Hegel gestützten Ansatz verfassungsrechtlich zu rekonstruieren, könnte sich folgender Gedankengang ergeben: Die strafrechtliche Verurteilung eines Menschen greife in dessen Grundrechte ein und müsse deshalb nur diesem gegenüber gerechtfertigt werden. Diese Überlegung überzeugt jedoch dann nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nicht nur der jeweilige Einzelvorgang und nicht nur symbolisch-kommunikative Akte zu rechtfertigen sind, sondern eine Praxis, die erhebliche Ressourcen erfordert. Kostspielig ist nicht nur die Unterhaltung von Behörden und Gerichten für Ermittlungen und Feststellungen, sondern auch von Vollzugseinrichtungen. An dieser Stelle versagen Straftheorien, die in der Gedankenwelt des 18. und 19. Jahrhunderts verankert sind: Sie erkennen nicht, dass die Institution „Kriminalstrafe“ wegen der damit verbundenen Ressourcenzuteilung genauso der Rechtfertigung bedarf wie die einzelne ausgesprochene Strafe. Institutionen können weder schlicht als gegeben vorausgesetzt werden noch kann die Entscheidung für oder gegen ihre Finanzierung dem Belieben eines Hoheitsträgers überlassen werden. Vielmehr muss diese Entscheidung gegenüber jedem Bürger begründbar sein. Eine solche Begründung ist nur möglich, wenn auf einen Nutzen zu verweisen ist, den alle haben (präventive Interessen) oder den jedenfalls jedermann haben könnte, wenn er oder sie in eine bestimmte Situation gerät (opferbezogene Interessen, dazu unten III. 2b). Zutreffend formuliert Schünemann, dass die Legitimation von Kriminalstrafe gegenüber den Bestraften zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist.20

3. Generalprävention als wichtige Säule der Straftheorie Worin liegt der Nutzen der Praxis staatlichen Strafens, den alle haben? Die naheliegende Antwort verweist auf die Prävention zukünftiger Straftaten, und zwar in der Form von Generalprävention.

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MüKo-Joecks Einl. Rn. 56 ff; NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 105; Stratenwerth/ Kuhlen AT I Rn. 1 ff. 19 Pawlik (Fn. 12) S. 21 ff, 91. 20 Schünemann FS Lüderssen, 2002, 330.

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a) Generalprävention durch die Ankündigung von Strafe im Gesetz Der Jubilar geht zu Recht davon aus, dass die gesetzliche Ankündigung von Kriminalstrafe nur mit generalpräventiven Erwägungen zu begründen ist.21 Allerdings bedarf dieser Satz, der von ihm nicht detaillierter erörtert wird, einer vertiefenden Begründung. Von welchen generalpräventiven Wirkungsmechanismen ist hier die Rede? Nahe liegt der Verweis auf negative Generalprävention in Form der sog. Androhungsgeneralprävention, die als Lehre vom psychologischen Zwang von Feuerbach geschildert wurde.22 Beschäftigt man sich damit, betrifft ein erster möglicher Einwand den empirischen Nachweis behaupteter Wirkungszusammenhänge. Eine Messung genuiner Androhungsgeneralprävention wäre nur möglich, solange es bei einem neuen Gesetz noch keine Verurteilungen gibt. Es ist aber eine plausible Annahme, in beschränktem Umfang abschreckende Wirkung schon von den Strafgesetzen zu erwarten.23 Argumente, die dagegen vorgebracht werden, weisen zwar darauf hin, dass nicht durchgängig rationale KostenNutzen-Kalkulationen zu erwarten sind. Strafgesetze werden oft missachtet, und normkonformes Verhalten kann auf soziale Kontrolle zurückzuführen sein24 und auf Verhaltensdispositionen, die in sehr frühen Lebensjahren erworben werden. Außerdem kommt es nicht nur auf die abstrakte Strafdrohung, sondern auch auf die Wahrscheinlichkeit tatsächlicher Strafverfolgung an. Durch solche Überlegungen wird jedoch nicht die These von der Androhungsgeneralprävention widerlegt,25 sondern sie zeigen lediglich, dass die Verhaltenssteuerung durch gesetzliche Strafandrohungen in quantitativer Hinsicht nicht überschätzt werden sollte. Die kategorische Verneinung einer solchen Wirkung wäre wenig überzeugend. Fraglich ist, ob die Existenz von Strafgesetzen auch mit dem Gedanken „positive Generalprävention“ zu rechtfertigen wäre. Von den drei möglichen Mechanismen, die Roxin identifiziert (Lerneffekt; Vertrauenseffekt; Befriedungseffekt),26 käme nur der als „Lerneffekt“ bezeichnete in Frage.27 21

Roxin AT I § 3 Rn. 42; ders. FS Volk, 2009, 611. v. Feuerbach/Mittermaier Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, §§ 12 ff; Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, in: Werke in zehn Bänden, Zürcher Ausgabe, 1977, S. 433 f; zu Schopenhauers Straftheorie: Hoerster ARSP 58 (1972), 555 ff; Küpper Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1990), 207 ff; zu Feuerbach ausführlich Greco Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 34 ff. 23 Greco (Fn. 22) S. 364 ff; Hoerster GA 1970, 272 f; Koriath in: Radtke u. a. (Hrsg.), Muss Strafe sein? 2004, S. 69; Schmidhäuser Vom Sinn der Strafe, 2004 (Nachdruck der Aufl. von 1971), S. 88 ff. 24 Hassemer Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 207. 25 So aber MüKo-Joecks Einl. Rn. 67. 26 Roxin AT I § 3 Rn. 27. 27 Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 711. 22

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Grundgedanke ist, dass Strafnormen an diejenigen, die im Geltungsbereich des Gesetzes leben, appellieren, das umschriebene Verhalten zu unterlassen. Der Nachweis, dass solche Appelle wirksam sein können, fällt zwar besonders schwer: Die Verknüpfung von Verhaltens- und Sanktionsnorm im Strafgesetz macht es nahezu unmöglich, die Effekte von Furcht vor Strafe oder rationalen Überlegungen zu möglichen Rechtsfolgen einerseits, andererseits die Wirkkraft der „nackten“ Botschaft, dass das umschriebene Verhalten unterbleiben solle, zu separieren. Es ist aber zu vermuten, dass für manche, grundsätzlich zur Normbefolgung disponierte Bürger die Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmtes Verhalten zu untersagen, auch ohne den Druck der Sanktionierung genügt. Roxins Einschätzung, dass positive und negative Generalprävention gleichrangige Ziele der Strafankündigung seien,28 ist wahrscheinlich zutreffend.

b) Generalprävention durch die Verhängung von Kriminalstrafen Die Verhängung von Kriminalstrafen ist eine notwendige Konsequenz, wenn man Androhungsgeneralprävention für legitim hält (auf die Notwendigkeit, leere Drohungen zu vermeiden, weisen bereits Feuerbach und Schopenhauer hin).29 Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung grundsätzlich geeignet ist, die zum Zeitpunkt der möglichen Tat erforderliche Entscheidung zu beeinflussen.30 Der Ansatz der positiven Generalprävention geht davon aus, dass Strafurteile Personen ansprechen, die grundsätzlich normtreu sind. Deren Bereitschaft, die Normenordnung als verbindlich anzuerkennen und sich entsprechend zu verhalten, werde unterminiert, wenn Normbrüche unwidersprochen blieben.31 Auch insoweit gilt, dass Zusammenhänge kaum empirisch nachzuweisen sind, schon deshalb, weil es schwer fiele, einen nach ausgebliebenen Verurteilungen einsetzenden Deliktsanstieg entweder der fehlenden Abschreckung von Individuen ohne prinzipielle Normanerkennung oder der Verunsicherung bei zuvor normkonformen Personen zuzuordnen. Auch an dieser Stelle sind nur Aussagen zur Plausibilität möglich: Wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang zwischen gerichtlicher Normbestäti28

Roxin FS Volk, 2009, 611; er spricht von „gleichrangigen Komponenten der Androhungsgeneralprävention“, wobei aber „Androhung“ nur zur negativen Generalprävention passt. 29 v. Feuerbach/Mittermaier (Fn. 22) § 16; Schopenhauer (Fn. 22) S. 434. 30 Bottoms/v. Hirsch in: Cane/Kritzer (Hrsg.), The Oxford Handbook of Empirical Legal Research, 2010, S. 96 ff. 31 Siehe im Einzelnen zu Verhaltensmodellen und Variationen Baurmann GA 1994, 368 ff; Hassemer in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 29, 41 ff.

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gung und späterem Legalverhalten in der Bevölkerung, auch wenn man berücksichtigt, dass die Geltungskraft von Normen situationsabhängig ist und die Bedingungen für Normakzeptanz vielschichtiger sind, als Idealvorstellungen von positiver Generalprävention sie beschreiben.32 Im deutschen Schrifttum nehmen Stellungnahmen zur positiven Generalprävention gelegentlich übertriebene Züge an, wenn diese nämlich, verbunden mit überzogenen Einwänden gegen die These von der negativen Generalprävention, zur einzig plausiblen Straftheorie überhöht wird. 33 Roxin sieht dagegen davon ab, positive Generalprävention gegen negative auszuspielen.34 Dies ist überzeugend, da komplexe Modelle, die vielfältige Faktoren der Verhaltensbeeinflussung berücksichtigen, schon wegen der Verschiedenheit von Menschen realitätsgerechter sind als vereinfachende Vorstellungen.35 Es wird allerdings noch zu erörtern sein, ob generalpräventive Überlegungen bei allen Deliktstypen eingreifen und wie mit möglichen Begründungslücken umzugehen ist (dazu unten III. 2a).

4. Die Notwendigkeit der Legitimation gegenüber den Bestraften Straftheoretische Konzepte müssen zwei Fragen beantworten: erstens, ob der Staat in Anbetracht der damit verbundenen erheblichen Kosten Strafen androhen und verhängen soll, ob es also überzeugende Gründe gibt, die Praxis staatlichen Strafens aufrechtzuerhalten, und zweitens, ob es in Anbetracht dessen, was den unmittelbar dadurch belasteten Personen zugemutet wird, strafgerichtliche Verurteilungen geben darf. Roxin begründet eine bejahende Antwort auf die zweite Frage, indem er auf den Schuldgrundsatz abstellt.36 Dies ist kein beziehungsloses Nebeneinanderstehen gegensätzlicher Erwägungen,37 sondern beruht auf einer Einsicht, die von seinem Schüler Greco in seiner eindrucksvollen Dissertation zu Feuerbachs Straftheorie als bedeutsam gewürdigt und näher ausgearbeitet wird: die Einsicht, dass einer folgenorientiert begründeten Strafpraxis mit deontologischen Prinzipien Schranken gesetzt werden müssen.38 Der Verweis auf den mit Krimi32 Schneider Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? 2004, S. 331 f, 335. 33 Jakobs AT 1/27 ff; MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 68; Frister AT S. 25. 34 Jedenfalls in Roxin AT I § 3 Rn. 21 ff. In ders. FS Müller-Dietz, 2001, 708 f wird eine Präferenz für positive Generalprävention deutlich. 35 Kuhlen in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.) (Fn. 31) S. 62 f; für die Einordnung der positiven Generalprävention als Sekundärphänomen aber Schünemann ebd. S. 109, 113, 119 ff. 36 Roxin AT I § 3 Rn. 51. Ebenso Stratenwerth/Kuhlen AT I § 1 Rn. 25. 37 So die Kritik von Pawlik GA 2006, 346 f. 38 Greco (Fn. 22) S. 248 f.

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nalstrafe verfolgten Zweck „Generalprävention“ kann nur einen Teil der Rechtfertigungslast tragen, nämlich die Rechtfertigungslast, die in einem modernen Verfassungsstaat gegenüber der Gesamtheit der Bürger besteht. Es bleibt die Rechtfertigung gegenüber den Bestraften, für die der Hinweis auf den allgemeinen Nutzen nicht ausreichen kann. An dieser Stelle trennen sich die Wege von Autoren, die zunächst das gemeinsame Projekt einer zweckrationalen Rechtfertigung geeint hat. Die Legitimation dieser Herangehensweise erfordert mehr als die Feststellungen, dass „der Schutz der Friedensordnung zweifellos ein hoher moralischer Wert“ sei39 oder dass „wohl oder übel“ die Rechtsordnung erforderlichenfalls zwangsweise durchgesetzt werden müsse.40 Genauso wenig ist es aber überzeugend, einer zweckrationalen Begründung der Kriminalstrafe entgegenzuhalten, dass die Bestraften damit „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“41 oder dass sie „wie ein Hund, gegen den man den Stock erhebt“42 behandelt würden. Sachlich verwandte, moderner formulierte Anklagen meinen, dass die Menschenwürde der Bestraften verletzt oder diese instrumentalisiert würden.43 Solche Behauptungen überdehnen, so überzeugend Greco, die Reichweite des Instrumentalisierungsverbotes, das allenfalls für extreme Fälle staatlicher Eingriffe als absolutes Verbot begründet werden kann.44 Im Übrigen kann es nur darum gehen, gegenüber dem Bestraften in einen Begründungsdiskurs einzutreten: Er muss darauf verwiesen werden, dass er nicht in beliebiger Weise herangezogen und für das Gemeinwohl aufgeopfert wird. Ein Element dieses Begründungsdiskurses besteht darin, den Täter darauf zu verweisen, dass er die Straftat in schuldhafter Weise begangen hat. Allerdings bedarf auch dieser Gedanke der weiteren Vertiefung. Roxin wechselt, wie an verschiedenen Stellen seiner straftheoretischen Überlegungen, schnell zu Aspekten der Strafzumessung, d. h. zu der Überlegung, dass eine Strafe, die in ihrem Maß in einem angemessenen Verhältnis zur Schuld des Täters stehe, eine verdiente Strafe sei.45 Vorgelagert muss jedoch begründet werden, dass und vor allem warum die Tatsache der schuldhaften Tatbegehung es rechtfertigt, für generalpräventive Zwecke den Täter in Anspruch zu nehmen (dazu unten III. 2d). Wenn man mit Schuld argumentiert, dann ist nicht auf das Schuldmaß zu verweisen, sondern auf das Anders-HandelnKönnen zum Tatzeitpunkt. Es ist jedoch festzuhalten, dass Roxins Erkennt39

Klug in: Vormbaum (Hrsg.), Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit, Bd. II, S. 279. Frister AT S. 23 f; ähnlich Schmidhäuser (Fn. 23) S. 96 ff. 41 Kant (Fn. 4) S. 453. 42 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, in: Werke Bd. 7, 1986, § 99 Zusatz. 43 Calliess FS Müller-Dietz, 2001, 110. 44 Greco (Fn. 22) S. 163 ff. 45 Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 703; ders. AT I § 3 Rn. 51. 40

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nis richtig ist, dass weder Schuld noch Prävention für sich genommen Strafe legitimieren können.46

III. Ergänzungen und Modifikationen 1. Gesetzliche Strafankündigung: Legitimation gegenüber den Betroffenen Eine vollständige Straftheorie muss auf Differenzierungen beruhen, die zu der eingangs erwähnten Einschätzung führen, dass längeres Nachdenken die Hoffnung auf eine durch schöne Schlichtheit glänzende Straftheorie zerstört. Neben der Notwendigkeit, zwischen der zweckrationalen Begründung der Institution Kriminalstrafe und deontologischen Schranken zu unterscheiden, weist Greco auf einen weiteren, von Roxin nicht hinreichend gewürdigten Punkt hin: Einer doppelten Begründung bedarf es auch insoweit, als diese nicht nur Strafurteilen gelten muss, sondern auch den bereits im Strafgesetz enthaltenen Eingriffen.47 Die plausible Annahme, dass Strafgesetze Verhalten beeinflussen können (oben II. 3a), liefert nur einen Teil der Begründung. Hinzukommen müssen Überlegungen dazu, ob es legitim ist, dass der Staat in dieser Weise auf seine Bürger einwirkt. Soweit es um den Inhalt von Verhaltensverboten und -geboten geht, würde eine vertiefte (hier nicht mögliche) Beschäftigung den Wechsel zur Kriminalisierungstheorie bedingen, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Argumente die Beschränkung von Handlungsfreiheit rechtfertigen können und welche nicht. 48 Außerdem wird darüber gestritten, ob Tatbestandsbeschreibungen direkte Aufforderungen an die Bürger enthalten. Dieser Streit wird herkömmlicherweise unter der Überschrift „Normentheorie“ geführt. 49 In jüngster Zeit hat Greco bezweifelt, dass Verhaltensappelle zulässig seien: Er sieht hierin ein unzulässiges Moralisieren.50 Diese Meinung teile ich nicht. Der unbefangene Blick auf Verhaltensnormen kann durch Begriffe aus der Welt des 19. Jahrhunderts getrübt sein, wie sie sich etwa im Werk Bindings finden (auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Bewusstsein für gewandelte normati46

Roxin AT I § 3 Rn. 60; ders. FS Müller-Dietz, 2001, 703; ebenso Stratenwerth/Kuhlen AT I § 1 Rn. 32; LK-Weigend Einl. Rn. 66. 47 Greco (Fn. 22) S. 228 f. 48 Siehe das vierbändige Werk von Feinberg The Moral Limits of the Criminal Law, 19841988; Husak Overcriminalization, 2007; Hörnle Grob anstößiges Verhalten, 2005. 49 Siehe dazu Hoyer Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann, 1996, S. 67 f; Renzikowski ARSP 87 (2001), 110 ff. 50 Greco (Fn. 22) S. 396 ff.

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ve Prämissen wichtig ist). Jenseits autoritärer Vorstellungen von Imperativen und Gehorsamspflichten hat jedoch in einer zeitgemäßen Normentheorie die Vorstellung Bestand, dass ein Strafgesetz auch einen Appell an die Bürger enthält, ein Appell, der deren Fähigkeit anspricht, die Unrichtigkeit des fraglichen Verhaltens einzusehen. Zur Straftheorie i. e. S. gehört die Frage, ob es angemessen ist, dass der Staat nicht nur Verhaltensanforderungen und Appelle formuliert, sondern anstrebt, diese mit Sanktionsnormen durchzusetzen. Das Bild vom Stock, der gegen Hunde erhoben wird, wird auch insoweit ins Spiel gebracht. Diese Metapher passt jedoch nicht. Generalprävention anzustreben bedeutet nicht, Menschen als Wesen zu verstehen, die von Furchtgefühlen als unmittelbar wirkende Anreize jenseits bewusster Reflektion (wie ein Hund) beherrscht werden. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass Menschen auch Klugheitsregeln verstehen können und diese zu ihren eigenen Gründen machen können.51

2. Die Verhängung von Strafen a) Ergänzung generalpräventiver Überlegungen durch den Gleichbehandlungsgrundsatz Wie bereits dargelegt, ist es grundsätzlich plausibel, dass die Verhängung von Strafen generalpräventive Effekte bewirkt. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die Bedeutung von Generalprävention in Abhängigkeit vom Deliktstyp stark schwankt. Für Delikte, bei denen mit nüchternen Kalkulationen potentieller Täter zu rechnen ist (etwa: Steuerhinterziehung), sind mit großer Wahrscheinlichkeit gerichtliche Verurteilungen für negative Generalprävention erforderlich. Bei Delikten, die typischerweise in emotionsgeladenen Kontexten begangen werden, ist der abschreckende Effekt wesentlich schwächer. Genauso ist im Hinblick auf positive Generalprävention eine deliktsspezifische Betrachtung erforderlich. Soweit früh geprägte Anlagen (vor allem die Fähigkeit zu Empathie) bei den meisten Menschen mit normaler frühkindlicher Entwicklung die Vermeidung bestimmter Delikte (Gewaltdelikte) begünstigen oder sogar erzwingen,52 wäre die Gefahr erhöhter Tatziffern wegen einer Erosion von Normgeltung gering. Anders dürfte es sich verhalten, wenn Täter keine unmittelbare Konfrontation mit einem sichtbar durch die Tat leidenden Individuum ertragen müssen. Unter solchen Umständen kommt Rechtsnormen größere Bedeutung zu, die einer intensiveren Pflege durch die tatsächliche Verhängung von Strafen bedürfen. Allerdings wäre selbst bei diesen Deliktstypen eine bewusst selektive 51 52

Greco (Fn. 22) S. 379. Siehe dazu Lehrer The Decisive Moment, 2009, S. 162 ff.

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Strafverfolgung zu erwägen, weil Gefahren vermieden würden, die vom Wissen um weit verbreitete Normmissachtung drohen.53 Was folgt hieraus? Wie ist zu verfahren, wenn (etwa bei bestimmten Sexualdelikten oder Eifersuchtstötungen) sowohl fraglich ist, ob tatgeneigte Personen überhaupt durch Strafdrohungen abzuschrecken sind als auch fraglich, ob die moralisch wie hirnphysiologisch fest verankerten Verhaltensnormen tatsächlich vermehrt missachtet würden, wenn strafrechtliche Verurteilungen ausfallen würden? Diese Begründungslücke ist zwar schon deshalb weitgehend zu schließen, weil bei solchen Deliktstypen Opferinteressen (dazu sogleich b.) in den Vordergrund rücken. Unabhängig davon ist es mit dem Postulat, dass die Institution Kriminalstrafe zweckrational begründet werden muss, zu vereinbaren, deontologische Zusatzprinzipien vorzusehen. Ein solches, nicht folgenorientiertes Prinzip ist der Gleichbehandlungsgrundsatz. Roxin verweist ebenfalls auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, allerdings mit einem folgenorientierten Argument: Werde eine bestimmte Straftat (etwa ein NS-Gewaltverbrechen) nicht geahndet, so werde das allgemeine Rechtsbewusstsein schwer erschüttert und es drohe, dass die präventive Wirkung des Tötungsverbots schwinde. 54 Ob eine solche konsequentialistisch-einzelfallbezogene Begründung schlüssig ist, ist zweifelhaft, wenn man davon ausgeht, dass gerade das Tötungsverbot keiner beständigen Untermauerung durch das Recht bedarf. Die Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes lässt sich aber auch anders begründen, nämlich mit Verweis auf seine allgemeine Bedeutung als Organisationsprinzip menschlichen Zusammenlebens. Neuere Befunde der Verhaltensforschung zeigen, wie tief verankert das Bedürfnis nach gleicher und gerechter Behandlung ist, und zwar auch dann, wenn Nutzenmaximierung gegen Gleichbehandlung spräche.55 Solche Untersuchungen verdeutlichen, warum das Prinzip der nicht-folgenorientierten Gleichbehandlung eine zentrale normative Prämisse unserer Verfassungsordnung (Art. 3 GG) geworden ist.

b) Genugtuungsinteressen von Opfern als Strafzweck Roxin schreibt im Jahr 2001, es erscheine verwunderlich, dass „seit Jahrhunderten immer nur dieselben drei Konzeptionen angeboten werden“ (gemeint sind Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheorie, Spezial- und Generalprävention).56 Diese Beschreibung ist jedenfalls heute nicht mehr ganz zutreffend. Es zeichnet sich vielmehr in den letzten Jahren eine Ausdiffe53

Popitz Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968. Roxin AT I § 3 Rn. 44. 55 Henrich u. a. Science 312 (2006), 1767. 56 Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 701. 54

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renzierung der straftheoretischen Diskussion ab, insbesondere durch die Entwicklung expressiver oder kommunikationsorientierter Straftheorien. Roxin schlägt diese der Kategorie „Vergeltung“ zu.57 Dies kann nicht überzeugen, da damit ein wesentlicher Unterschied verzeichnet wird: der Unterschied zwischen den klassischen absoluten Straftheorien, die Strafe als zweckfreies Geschehen konzipieren, und expressiven Ansätzen, die Strafe einen diesseitigen Zweck und Nutzen beimessen – aber einen Zweck, der nicht in der Prävention von zukünftigen Straftaten liegt. Hier liegt ein Manko der üblichen deutschen Diskussion, die „zweckorientiert“ mit „präventionsorientiert“ gleichsetzt, obwohl es rationale, an den Interessen von Individuen ausgerichtete Strafzwecke jenseits der Straftatenprävention gibt.58 Die kommunikative Funktion von Strafe ist mit Blick auf den Täter59 oder, was ich für wichtiger halte, mit Blick auf das Straftatopfer zu beschreiben. Zwar ist auf diese Weise eine vollständige Straftheorie nicht zu entwickeln, da solche Erklärungsansätze offensichtlich bei Delikten ohne individuelle Tatopfer versagen (und auch bei Taten zu Lasten eines bestimmten Individuums nicht immer überzeugen, dazu sogleich). Das wäre jedoch nur dann ein unüberwindbarer Einwand, wenn man von der wenig überzeugenden Prämisse ausgeht, dass für das gesamte Deliktsspektrum der Zweck strafgerichtlicher Verurteilungen einheitlich bestimmt werden müsse. In den gängigen Darstellungen zur Straftheorie tauchen erstaunlicherweise diejenigen nicht auf, die durch die Tat geschädigt (oder konkret gefährdet) wurden. Die traditionelle Sicht ist kollektivistisch geprägt (auch dies ist eine Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts). 60 Es zeichnet sich jedoch ein Umdenken ab: Seit einigen Jahren wird intensiv darüber debattiert, ob es ein legitimes Interesse des Opfers an einer Bestrafung des Täters geben kann.61 Die Annahme, dass Tatopfer lediglich finanzielle Kompensation oder eine außergerichtliche Verständigung anstrebten,62 ist bei erheblichen Straftaten gegen die Person (ausgeprägten körperlichen Verletzungen, Entführungen, Sexualdelikten) unplausibel. Emotionale Bedürfnisse wären allerdings zur Rechtfertigung von Kriminalstrafe nicht ausreichend, wenn 57

Siehe seine Einordnung der Überlegungen Klaus Günthers in: Roxin AT I § 3 Rn. 46. Siehe auch NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 105. 59 Duff Punishment, Communication and Community, 2001, S. 75 ff. 60 Hörnle JZ 2006, 951. 61 Burgi FS Isensee, 2007, 655 ff; K. Günther FS Lüderssen, 2002, 205 ff; Hamel Strafen als Sprechakt. Die Bedeutung der Strafe für das Opfer, 2009, S. 166 ff; Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer und Gerechtigkeit, 2002, S. 112 ff; Holz Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007; Hörnle JZ 2006, 950 ff; Murphy Social Philosophy & Policy 7 (1990), 209 ff; S. Walther ZStW 111 (1999), 123 ff; Weigend Rechtswissenschaft 1 (2010), 40 ff. 62 Lüderssen FS Hirsch, 1999, 892 f. 58

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diese nur als Rachegefühle zu beschreiben wären. Die Einbeziehung der Opfer in die Straftheorie ist nicht damit zu begründen, dass der Staat archaische Hintergründe und Strukturen der Opferreaktion aus der Zeit vor Etablierung des Gewaltmonopols übernehmen müsse. 63 Entscheidend ist vielmehr, ob hinter möglicherweise auftretenden Emotionen legitime Interessen stehen. Diese sind maßgeblich, und zwar auch dann, wenn die konkret betroffene Person weder Rachebedürfnisse hat noch sich verängstigt fühlt. Bei erheblichen Übergriffen auf ihre Person haben die Betroffenen ein berechtigtes Interesse daran, bestätigt zu bekommen, dass ihnen Unrecht geschehen ist.64 Der Verzicht auf ein staatliches Unwerturteil würde eine implizite Aussage treffen. Diese gilt entweder dem Delikt (es liege keine Rechtsverletzung, sondern ein Unglück vor, oder das Unrecht sei zu unbedeutend) oder dem Opfer (es sei selber schuld oder es sei nicht wichtig genug). Der Verzicht auf ein Unrechturteil ist dann ohne Kollision mit legitimen Opferinteressen möglich, wenn das Unrecht tatsächlich gering war. Scheiden sachlich berechtigte Erklärungen aber aus, weil eine gravierende Rechtsverletzung ohne erhebliche Obliegenheitsverletzung des Opfers zu beurteilen ist, würde das Unterbleiben einer Verurteilung zwangsläufig das Opfer negativ charakterisieren („Du bist es nicht wert, dass sich der Staat um Deine Belange kümmert“). Eine solche Aussage würde dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzen.65 Es wird Zeit, dass die Strafrechtswissenschaft legitime Opferinteressen anerkennt. Bei den Deliktstypen, für die diese anzuerkennen sind, kommt ihnen größere Bedeutung zu als generalpräventiven Erwägungen.

c) Zur Rolle von Spezialprävention Roxin verweist darauf, dass der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, dessen Mitverfasser er war, der spezialpräventiven Lehre insbesondere v. Liszts „in besonderem Maße verpflichtet“ war.66 Er springt dann allerdings von der Straftheorie zu Überlegungen, die die Strafzumessung und die Gestaltung des Strafvollzugs betreffen. Seine Bewertung fällt merkwürdig schwankend aus, da er einerseits dezidiert auf Schwächen dieses Ansatzes verweist,67 andererseits aber den Abschnitt über Spezialprävention mit einem Zitat von Dölling abschließt, das klar für den Strafzweck Spezialprä63

Weigend Rechtswissenschaft 1 (2010), 45. K. Günther FS Lüderssen, 2002, 208 ff; Hamel (Fn. 61) S. 178 ff; Hörnle JZ 2006, 955; Holz (Fn. 61) S. 125 ff; S. Walther ZStW 111 (1999), 136 f; Weigend Rechtswissenschaft 1 (2010), 50 ff. 65 Weigend Rechtswissenschaft 1 (2010), 50 ff. 66 Roxin AT I § 3 Rn. 12. 67 Roxin AT I § 3 Rn. 16-20. 64

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vention plädiert,68 und bei der Vorstellung seiner eigenen präventiven Vereinigungstheorie folgert, dass General- und Spezialprävention „gleichermaßen legitim“ seien.69 Kann man aber den Gedanken der Spezialprävention tatsächlich in plausibler Weise heranziehen, um erstens die Finanzierung der Institution Kriminalstrafe gegenüber allen Bürgern und zweitens die Verhängung von Strafen gegenüber den Bestraften zu rechtfertigen? Ernsthaftes Nachdenken über diese Frage muss zu einer skeptischen Einstellung führen, jedenfalls, wenn es um das Anliegen der Besserung geht.70 Fragt man in zweckrationaler Weise, wie Menschen so beeinflusst werden können, dass sie sich möglichst wenig sozialschädlich verhalten, muss die Strategie: abwarten, bis Straftaten geschehen und dann auf die Straftäter bessernd einwirken, als außerordentlich ineffizient eingeordnet werden. Dies gilt auch dann, wenn man davon ausgeht, dass die radikalskeptische „nothing works“-These71 zu pessimistisch war und differenzierte Behandlungsangebote nicht völlig wirkungslos sind. 72 Eine realistische Betrachtung des Spielraumes für die Senkung von Rückfallraten kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass eine effektive Beeinflussung menschlichen Verhaltens davon abhängt, wie alt der zu Beeinflussende ist und wie intensiv seine persönlich-emotionale Bindung an die ihn prägende Person ist.73 Hieraus folgt zwangsläufig, dass erwachsene Menschen unter den Bedingungen des Strafvollzugs nur sehr begrenzt zu stabilen Verhaltensänderungen zu bringen sind. Setzt man bescheidene Resultate in Relation zu den großen Kosten, die rechtsstaatlich akzeptable Ermittlungen und Tatnachweise sowie das Vollzugssystem verursachen, kann die Folgerung nur sein: Lasst uns die Strafjustiz abschaffen und die dafür benötigten Mittel in die frühkindliche Erziehung investieren, die größere Erfolge beim Versuch der Persönlichkeitsbeeinflussung verspricht. Auch unter dem Aspekt der Legitimation gegenüber den Betroffenen stößt ein auf Besserung setzender An68

Roxin AT I § 3 Rn. 20 a. E. Roxin AT I § 3 Rn. 37. 70 Möglicherweise fiele eine zweckrationale Kosten-Nutzen-Bilanz besser aus, wenn diese Kriminalstrafe unter dem Aspekt „Unschädlichmachung“ beurteilt. Ausschließlich hierauf abzustellen, dürfte allerdings denjenigen schwerfallen, die wie Roxin wegen einer humanitären Grundeinstellung den Gedanken der Spezialprävention aus dem Bereich der Straftheorie nicht endgültig verabschieden wollen. Die positive Konnotation als humane Straftheorie ist nur mit dem Gedanken der Besserung verbunden. Sie entfällt, wenn die Unschädlichmachung in den Vordergrund rückt. Beschäftigt man sich mit dem Konzept der Unschädlichmachung, verwundert, dass Claus Roxin mit von Liszt ohne weiteres das Bild eines humanen Strafrechts verbindet und sich die Verfasser des Alternativ-Entwurfs auf diesen Gewährsmann bezogen – eine unbefangene Lektüre des Marburger Programms führt zu zwiespältigeren Schlussfolgerungen. 71 Martinson Public Interest 35 (1974), 22 ff. 72 Dölling FS Lampe, 2003, 606. 73 Rössner FS Roxin, 2001, 978. 69

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satz auf offensichtliche Probleme, wenn es sich um erwachsene Personen handelt.74 Vertretbar sind nur Angebote, die nicht mit Zwangsmaßnahmen gekoppelt sind. An dieser Stelle weiche ich vom Ansatz Roxins ab: Innerhalb der Straftheorie kommt dem Gedanken der Spezialprävention keine Bedeutung zu (s. aber zur Theorie des Strafvollzugs unten 3.).

d) Nochmals: Zur Legitimation der Strafverhängung gegenüber den Bestraften Es bleiben Lücken bei der Rechtfertigung von Strafe gegenüber den Bestraften zu schließen. Knüpft man an den Schuldgrundsatz an, ist in folgender Weise zu argumentieren: Habe der Täter Unrechtseinsicht und entschließe er sich trotzdem für die Begehung des Delikts, könne er sich nicht darauf berufen, unfair behandelt zu werden, wenn seine Verurteilung Normen bestätigen oder zukünftige Straftaten durch andere verhindern solle. Allerdings ist zu hinterfragen, wie weit der Verweis auf Wissen bzw. Wissenkönnen und Vermeidemacht des Betroffenen trägt. Probleme ergeben sich zum einen, weil dieser Argumentationsgang ein anspruchsvolles, schwierig zu belegendes Verständnis von Willensfreiheit voraussetzt, das Roxin nicht vertritt. Vielmehr meint Roxin, die Frage nach dem wirklichen Bestehen von Willensfreiheit ausklammern zu können, weil nach seinem Verständnis der Schuldgrundsatz nur begrenze, nicht aber begründe.75 Hier zeigt sich jedoch, dass der Sprung zu Strafzumessungsfragen problematisch ist: Es müsste zunächst begründet werden, dass die Verhängung einer Kriminalstrafe nicht nur im Interesse aller oder im Interesse des konkreten Tatopfers sinnvoll, sondern auch gegenüber dem Bestraften legitim ist. Zum anderen würde auch die Annahme, die Existenz genuiner Willensfreiheit belegen zu können, nicht alle Schwierigkeiten beseitigen. Ist die Behandlung einer Person illegitim, so bleibt sie es auch, wenn der Betroffene gewarnt war und die Situation durch freie Entscheidung hätte vermeiden können. Wer zum Beispiel weiß, dass er zur Erzwingung eines Geständnisses vermutlich verprügelt werden wird, und sich trotzdem aus freier Entscheidung der Polizei stellt, verwirkt damit nicht den Anspruch, die ihm widerfahrene Behandlung als illegitim zu beanstanden. Der Verweis auf eine autonome Entscheidung des Täters ist deshalb noch keine hinreichende Bedingung für die Legitimation der Bestrafung. Weiter führen aber Überlegungen zur Fairness: Der Täter ist darauf zu verweisen, dass er mit der Verhängung einer Strafe nicht unfair behandelt wird. Es gibt im straftheoretischen Schrifttum Ansätze, die Fairnessargu74 75

Dieses Problem sieht auch Roxin AT I § 3 Rn. 17. Roxin AT I § 3 Rn. 55.

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mente nutzen, um eine eigenständige Straftheorie zu begründen. So gehen etwa Morris und Murphy davon aus, dass Strafe unfaire Vorteile kompensiere, die der Täter infolge fehlender Selbstbeschränkung gewonnen habe. 76 Pawlik stellt auf den Zusammenhang von Freiheitsgenuss und Loyalitätspflichten ab.77 Allein mit dem Verweis auf unfair erlangte Vorteile und verletzte Loyalitätspflichten ist zwar keine vollständige Straftheorie zu begründen, weil auf diese Weise nicht begründet werden kann, warum beträchtliche Ressourcen in ein Kriminaljustizsystem investiert werden sollten. Wichtig sind aber Fairnessargumente als ein notwendiges Element innerhalb einer komplexeren Begründungsstruktur. Sie sind erforderlich, weil generalpräventiv ansetzende Kriminalstrafe im Verhältnis zu den Verurteilten legitimiert werden muss. Entscheidend ist, dass jedermann, auch der Täter selbst, dadurch begünstigt wird, dass viele andere Personen sich normgemäß verhalten. Er muss es deshalb hinnehmen, zur Sicherung von Verbotsnormen selbst in Anspruch genommen zu werden.

3. Bedeutung der Straftheorie für die Strafzumessungstheorie und die Grundlagen des Strafvollzugs Es ist in der deutschen Strafrechtswissenschaft verbreitet, Ausführungen zur Strafzumessungstheorie gemeinsam mit solchen zur Straftheorie zu machen. Die Koppelung dieser beiden Themen beruht auf der Überzeugung, dass Argumente im straftheoretischen Teil zwangsläufig bedeuten, dass auch die Strafzumessungstheorie dieselben Ansätze aufgreifen müsse. Folgt man dieser Prämisse, ergeben sich Probleme, wenn man (wie auch hier vertreten) zur Bestimmung des Zweckes von Kriminalstrafe auch auf negative Generalprävention verweist. Muss dann nicht die Strafzumessung den Gedanken der möglichst effektiven Abschreckung aufgreifen und führen solche Überlegungen zu hohen, überhöhten oder sogar drakonischen Strafen?78 Oder müsste man, wenn man auf rational abwägende Täter abstellt, die Rechtsfolgen ganz anders kalkulieren, nämlich mit Blick auf die Tatvorteile, die nicht der Tatschwere entsprechen müssen?79 Bei der Auseinandersetzung mit solchen Überlegungen gibt es zwei Strategien. Die erste operiert mit einem Rückschluss von Strafzumessungsproblemen auf die Straftheorie: Weil negative Generalprävention bei der Strafbemessung Probleme verursache, müsse sie auch aus der Straftheorie 76 Morris On Guilt and Innocence, 1976, S. 33; Murphy Retribution, Justice, and Therapy, 1979, S. 77 f. Siehe zu weiteren Varianten von Fairnessargumenten Engi ZSchR 2008, 407 ff. 77 Pawlik (Fn. 12) S. 91. 78 Siehe zu solchen Bedenken Roxin AT I § 3 Rn. 32. 79 Dazu Jakobs AT 1/29 f; Pawlik (Fn. 12) S. 28.

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eliminiert werden.80 Der zweite, von Roxin vertretene Ansatz, hält dagegen an der Integration von negativer Generalprävention in die Straftheorie fest, besteht aber auf einer Domestizierung für die Strafzumessung durch strikte Beachtung des Schuldgrundsatzes als Maßprinzip.81 Diese Lösung, die ich im Ergebnis für richtig halte, bedarf allerdings einer besseren Begründung. Fasst man sie, wie Roxin dies tut, unter die Überschrift „Vereinigungstheorie“, weckt dies den Verdacht, dass in inkohärenter Weise an sich Unvereinbares zusammengebracht werden soll. Dieser Verdacht ist auszuräumen, wenn man auf Überlegungen zurückgreift, die Hart in „Punishment and Responsibility“ angestellt hat (die deutsche Strafrechtswissenschaft würde nicht nur an dieser Stelle davon profitieren, wenn die englischsprachige Strafrechtstheorie verstärkt rezipiert würde). Hart verweist darauf, dass die Rechtfertigung der Existenz einer Institution anderen Grundsätzen folgen kann (und im Falle der Kriminalstrafe anderen Grundsätzen folgen muss) als die Rechtfertigung ihrer Verteilungsregeln.82 Dies ergibt sich aus der bereits angeführten Notwendigkeit einer zweistufigen Legitimierung, wenn der Sinn von Strafe zu begründen ist: Legitimierung gegenüber der Allgemeinheit (ist die Institution nützlich genug, dass wir ihre Kosten tragen wollen) und Legitimierung gegenüber der Gruppe der Betroffenen. Geht es um die Bemessung einer Strafe im konkreten Einzelfall, beziehen sich die Überlegungen auf die zweite Stufe. Aus der Tatsache, dass Kriminalstrafe als Institution zweckrational und somit auch präventiv gerechtfertigt ist, folgt keineswegs, dass auch die Höhe der Strafe sich „am Maße des präventiv Gebotenen orientieren“ müsse. Die Austarierung an diesem Maßstab fiele erstens in der Praxis schwer, und zweitens gibt es gute Gründe, auch an dieser Stelle den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vernachlässigen und das Maß der Strafe demgemäß am Maß der Tadelnswertigkeit auszurichten. Dies bedeutet unter anderem, dass eine Straftheorie, in der Generalprävention ein wesentlicher Baustein ist, nicht dazu zwingt, bei der Strafzumessung dem Abschreckungsgedanken Rechnung zu tragen. Weil die Begründungslogik eine andere ist, empfiehlt es sich, den Unterschied zwischen Straftheorie und Strafzumessungstheorie stärker zu akzentuieren und, anders als Roxin dies tut, straftheoretische Argumente von der Frage „Führt das auch zum richtigen Strafmaß?“ freizuhalten. Die Empfehlung, zwischen straftheoretischen Erwägungen und Anwendungsregeln zu unterscheiden, bedeutet auch, dass die Grundlagen der Sanktionenauswahl 83 80

In diesem Sinne Pawlik (Fn. 12) S. 28 f. Roxin AT I § 3 Rn. 51. 82 Hart Punishment and Responsibility, 1968, S. 3 ff; Hoerster GA 1970, 278; Ashworth in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.) (Fn. 31) S. 67 f. 83 Siehe zu sinnvoller Sanktionsgestaltung Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 706 ff. 81

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und des Strafvollzugs eigenständig zu erarbeiten sind. Innerhalb der Strafvollzugstheorie kommt dem Sozialstaatsprinzip eine bedeutsame Rolle zu. 84 Dieses gebietet resozialisierende Hilfeleistungen oder jedenfalls zur Kompensation der desozialisierenden Effekte einer Inhaftierung Angebote zur besseren Lebensbewältigung (i. S. v. legaler Lebensgestaltung). Diese Überlegungen greifen aber erst dann ein, wenn bereits begründet wurde, dass es der Kriminalstrafe bedarf, die z. B. die Insassen von Justizvollzugsanstalten desozialisierenden Einflüssen aussetzt.

84 Im Ergebnis besteht hier Übereinstimmung mit Roxin, siehe dens. FS Müller-Dietz, 2001, 712 f; ders. FS Volk, 2009, 616; siehe auch Leyendecker (Fn. 6) S. 180; Hörnle in: E. Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 126.

Strafrecht als propria ratio CORNELIUS PRITTWITZ

I. Abschied vom ultima ratio-Prinzip? Der ultima ratio-Charakter des Strafrechts ist ebenso oft von der Strafrechtswissenschaft normativ beschworen wie von der Kriminalpolitik empirisch widerlegt worden. Claus Roxin, der meine Strafrechtsstudien vom ersten Semester an kontinuierlich begleitet hat, und dem ich diesen Beitrag dankbar und mit Bewunderung und Sympathie widme,1 teilt seit langem die Ansicht, das Strafrecht sei „ultima ratio“, ergänzt diese Charakterisierung allerdings als „ultima ratio der Sozialpolitik“,2 und erwähnt sie unter der Überschrift „Die Subsidiarität des (strafrechtlichen) Rechtsgüterschutzes“.3 Wenn in der Überschrift meines Beitrages und erst Recht in der Überschrift des ersten einleitenden Abschnitts der Eindruck erweckt wird,4 man könne oder solle den Abschied vom ultima ratio-Prinzip erwägen, dann freilich nicht wegen der schnöden kriminalpolitischen Wirklichkeit, die sich dem ebenso ehrwürdigen wie sinnvollen Prinzip widersetzt, sondern weil die Debatte über den ultima ratio-Charakter des Strafrechts auch normativ in Bewegung geraten ist. Klaus Tiedemann bestreitet seit langem, dass das Strafrecht im Bereich des sanktionierenden Wirtschaftsrechts die ultima ratio darstellt5 und Bernhard Haffke hat in liberal motivierter Ablehnung 1 Besonders hervorheben möchte ich, wie trefflich Claus Roxin schon uns Erstsemestern die Notwendigkeit von Strafrechtsdogmatik ebenso verdeutlicht hat ihre kriminalpolitisch-rechtsstaatliche Grenzen, und – persönlich í die zahlreichen Ermunterungen (auch und gerade nach meinem Wechsel nach Frankfurt), den strafrechtswissenschaftlichen Weg einzuschlagen. 2 Roxin JuS 1966, 382 und in ders. AT I § 2 Rn. 97; Hervorhebung C.P. 3 Roxin AT I § 2 Rn. 97 (klarstellender (bei Roxin sich aus dem Zusammenhang ergebender) Zusatz „strafrechtlichen“: C.P.). 4 Der Eindruck täuscht. Ich halte, wie sich zeigen wird, am ultima ratio-Prinzip als einem unverändert notwendigen, aber nicht hinreichenden und nicht hinreichend begründeten Begrenzungsprinzip des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes fest. 5 Tiedemann Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 145, Fn. 22; zur Rekonstruktion und Würdigung der Tiedemannschen Intervention in den (vielleicht trügerischen) Konsens über das ultima ratio-Prinzip vgl. jetzt die demnächst erscheinende Dissertation von Trendelenburg Ultima ratio? Subsidiaritätswissenschaftliche Antworten am Beispiel der Strafbarkeit von Insiderhandel und Firmenbestattungen, MS 2010, S. 179 ff).

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einer Gesellschaft und eines Staates, die sich der perfektionierten Kontrolldichte verschreiben, allgemein für ein Strafrecht ausgesprochen, das solcher illiberaler Kontrolldichte vorbeugt, also – offensichtlich – nicht die ultima ratio darstellt.6 Diesen Vorschlägen ist, wie ich vor kurzem begründet habe,7 nach meiner Überzeugung nicht zu folgen. Daran, dass an Strafrecht erst als ultima ratio gedacht werden darf, ist í aus normativen und nicht aus empirischen Gründen8 í nicht zu rütteln. Weder ist, um an die beiden genannten Zweifel Tiedemanns und Haffkes anzuknüpfen, eine besondere Schutzwürdigkeit der Freiheit gerade der Wirtschaftsakteure anzuerkennen, noch rechtfertigt ganz allgemein die Sorge um die Freiheit aller Bürger den drastischen Zugriff auf die Freiheit einzelner Bürger, wenn es vorzugswürdige Alternativen gibt. Aber das – nur auf das Wirtschaftsstrafrecht zielende í jahrzehntelange ceterum censeo Tiedemanns9 und die – im besten Sinn des Wortes provozierenden – Generalisierungen Haffkes haben den Blick dafür geschärft, dass die Strafrechtswissenschaft in den Zeiten des eher folgen- als prinzipienorientierten Denkens der Prävention schlecht beraten wäre, weiter a limine, das heißt ohne sehr viel genauere Begründung, von der Unvergleichbarkeit und das heißt von der unvergleichbaren Eingriffsintensität des Strafrechts und dem daraus abzuleitenden ultima ratio-Charakter auszugehen.

II. Nützliche Provokationen Auch wenn ich Tiedemanns Vorschlag nicht folge, ein Wirtschaftsstrafrecht, das nicht ultima ratio, sondern ein vergleichsweise mildes Mittel darstellt, gleichwohl als legitim zu erachten, kann der Ertrag dieser strafrechtstheoretischen Provokation gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und Haffkes Zuspitzung, ganz generell sollten wir ein Strafrecht wollen und also für legitim erachten, dass uns als liberaleres und also milderes Reaktionsmittel vor perfektionierter Kontrolldichte bewahrt, verdeutlicht noch

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Haffke FS Roxin, 2001, 955 ff. Auf dem Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von Bernhard Haffke in Anwesenheit unseres gemeinsamen Lehrers Claus Roxin. 8 Vgl. Prittwitz in: Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts (Symposium für Bernhard Haffke zum 65. Geburtstag), 2009, 185 ff (192 f). 9 Vgl. dazu, dass Tiedemann zwar vielfach für ein Wirtschaftsstrafrecht, das keine ultima ratio darstellt, plädiert hat, dieser für die Grundlagen des Strafrechts bedeutende These aber nie im Zusammenhang abgehandelt hat und zu einer ausführlichen Rekonstruktion der Tiedemannschen Beiträge zum Thema und der Auseinandersetzung um diesen Topos: Trendelenburg (Fn. 5) S. 181. 7

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einmal die intellektuelle und politische Herausforderung dieses tradierten Grundsatzes. Worin genau bestehen nun diese Herausforderungen?

1. Perspektivenerweiterung An erster Stelle zu nennen ist hier wohl die Perspektivenerweiterung, die darin liegt, die Charakterisierung einer staatlichen (strafrechtlichen oder anderen) (Re-) Aktion als mehr oder weniger scharf oder milde nicht mehr nur danach zu bestimmen, wie diese (Re-) Aktion auf die unmittelbar betroffene Person wirkt, sondern auch danach, wie die gewählte staatliche Maßnahme auf die insgesamt betroffene Gruppe wirkt.10 Das kann ein spezieller Ausschnitt der Gesellschaft sein, wenn es – z.B. in einem wirtschaftsstrafrechtlichen Kontext í darum geht, die Risiken bestimmter Verhaltensweisen durch Genehmigungs- und Kontrollpflichten zu begrenzen, es kann aber auch die Gesamtgesellschaft sein, wenn es z.B. darum geht, strafrechtliche Straßenverkehrsnormen mit technischer Prävention und intensiver staatlicher Kontrolle in puncto Eingriffsintensität zu vergleichen. So plausibel es zunächst erscheint, dass man bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme alle Betroffenen berücksichtigen muss, so schnell möchte man den Gedanken wieder beiseiteschieben. Denn, so das erste und wohl auch wichtigste Argument, im Rechtsstaat muss die staatliche Maßnahme immer auch im Verhältnis zum einzelnen unmittelbar Betroffenen gerechtfertigt sein. Eine eingriffsintensive Sanktion demjenigen gegenüber, den sie trifft, damit zu rechtfertigen, dass alle anderen deswegen freier agieren könnten, erscheint verfassungsrechtlich bedenklich. Andererseits darf nicht ganz außer Acht bleiben, dass es auf der Ebene des Gesetzgebers ja nicht um die Legitimation der einzelnen ausgeworfenen Strafe, sondern um den Straftatbestand, die Strafandrohung geht, die freilich immer vor dem Hintergrund der daraus dann abgeleiteten konkreten Strafe zu sehen ist. Aber zu diesem Einwand gesellen sich andere, die bereits gut dokumentiert sind. Im Vordergrund steht dabei die Idee, solche Freiheitssaldierungen seien schwierig oder gar unmöglich, es fehle vor allem an jeglichem Maßstab dafür.11

10 Vorschläge in diese Richtung finden sich aber auch bei einer Reihe anderer Autoren; vgl. die Nachweise bei Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 234, Fn. 130. 11 Vgl. Lüderssen FS Arthur Kaufmann, 1993, 487 und 489; Weigend FS Triffterer, 1996, 695 und 711, Fn. 93; Hefendehl (Fn. 10) S. 235. Zuletzt Böse in: Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, 2009, S. 180, 181 und Prittwitz (Fn. 8) S. 189 und 191.

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Dieser Position kann man freilich mit Trendelenburg, der diese etwas im Vagen gebliebene Debatte durch Nachfragen bei den Ökonomen12 bereichert hat, unter Bezugnahme auf den ungarisch-amerikanischen Ökonomen John Harsanyi entgegenhalten, dass solche Vergleiche (und damit auch Saldierungen) im Alltag ständig vorgenommen werden, so dass man argumentieren kann, die „politisch korrekte“ Zurückweisung solcher Saldierungen camoufliere nur die unausgesprochenen und damit nicht mehr kritisierbaren Vergleiche.13 Auch dieser Position wird freilich entschieden und, wie mir scheint, mit guten Argumenten widersprochen,14 so dass die sehr viel differenziertere Position der Ökonomen und ökonomisch orientierten Juristen im Ergebnis nicht wirklich zu mehr Klarheit führt. Die kriminalpolitische Praxis dürfte von dieser Debatte insofern eher mittelbar betroffen sein, als das Bild in den hier relevanten gesellschaftlichen Subsystemen weder von nach Perfektion strebenden Kontrollmodellen ohne strafrechtliche Sanktionen, noch von isolierten Straftatbeständen, die nicht in Kontrollmodelle eingebettet sind, bestimmt wird, sondern von der Kumulation beider Strategien.15 Ganz beruhigen darf man sich mit diesem versöhnlich klingenden non liquet am Ende dieser Debatte nicht. Denn die Politik und vor allem die auf die Politik Einfluss nehmenden Lobbys werden in einer Mischung von Erfahrungen und Interessen sehr wohl unterscheiden zwischen vorsichtshalber und im Zustand des Nichtwissens eingeschlagenen Kumulationsstrategien, und – je nach Interessenlage – wirklich eingriffsintensiver Kontrolle mit symbolischem Strafrechtsannex und kontrollfreien oder kontrollarmen Bereichen, die mit ebenfalls nur symbolischem Strafrecht legitimiert werden.

2. Differenzierung von unterschiedlich gewichtigen Freiheiten Gerade weil Tiedemann zwischen dem Strafrecht im Allgemeinen, das „als schärfstes Eingriffsmittel des Staates schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nur an letzter Stelle eingesetzt werden soll“ und dem Wirtschaftsstrafrecht, das häufiger „als milder einzuschätzen ist (…) als ein umfassendes Kontrollnetz verwaltungsrechtlicher Mechanismen“16 differenziert, stellt sich die Frage, ob Hintergrund und Rechtfertigung dieser differenzierenden Behandlung darin liegt, dass Freiheit nicht gleich Freiheit ist, dass konkret in dem von Tiedemann behandelten Kontext die (durch das Kon12

Im Kontext der Wohlfahrtsökonomie wird das Problem als das „interpersoneller Nutzens“ diskutiert. Nachweise bei Trendelenburg (Fn. 5) S. 157. 13 Trendelenburg (Fn. 5) S. 157. 14 Eidenmüller Effizienz als Rechtsprinzip, 1995/2005, S. 200. 15 So auch Hefendehl (Fn. 10) S. 235 unter Verweis auf Weigend (Fn. 11) S. 695. 16 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 63a.

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trollnetz tangierte) Freiheit der Gesamtheit der Wirtschaftsakteure als wertvoller oder schützenswerter einzuschätzen ist.17 Das klingt skandalöser als es sein muss; denkbar ist ohne weiteres, dass ein systemrelevanter Gesellschaftsausschnitt und die Freiheit der in ihm Agierenden in dieser Weise privilegiert werden. Dass hinter dem Saldierungsgedanken im Grunde die Idee von Freiheitsgewichtungen steht, ist m.E. eine weitere Einsicht, die wir den Anstößen Tiedemanns und Haffkes schulden. Da aber prima facie die Idee solcher Freiheitsgewichtungen nicht weniger inakzeptabel erscheint als die von Freiheitssaldierungen, wurde auch dieses Thema bisher nicht ausreichend erörtert. Das mag auch daran liegen, dass just das Beispiel der Wirtschaftsakteure und ihrer angeblich besonders gewichtigen Freiheit jedenfalls nach der Finanzkrise 2008, von der sich die Welt noch nicht erholt hat, keine besondere Überzeugungskraft hat. Zwar bröckelt mit der wirtschaftlichen Erholung der Konsens, dass die Finanzkrise auch und vor allem aufgrund von Kontrolldefiziten, bzw. neoliberal garniertem Kontrollverzicht der Staaten möglich war, aber noch dürfte gelten, dass die Charakterisierung eines gesellschaftlichen Subsystems als „too big to fail“ eher nach Kontrolle als „freiem Spiel der Kräfte“ verlangt. Das gilt erst Recht, weil – durchaus mit guten Gründen – die (auch strafrechtliche) Verantwortung für die Finanzkrise als Kehrseite der Freiheit des Finanzmarktes recht eindeutig zurückgewiesen wird. Die historische Erfahrung mit dem wahrlich nicht kontrollfreien, aber doch (zu) kontrollarmen Subsystem Finanzmarkt mit einem nur symbolischen Strafrecht, dessen milde Androhungsprävention keine nachweisbaren Effekte zeigten,18 sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass qualitativ und nicht quantitativ begründete Freiheitsgewichtungen sehr wohl ein Indikator dafür sein können, ob ein strafrechtsarmes Kontrollsystem oder ein kontrollarmes Strafrechtsregime die vorzugswürdige Alternative ist.

3. Evaluierungsmaßstäbe Eine weitere Herausforderung der die uneingeschränkte Geltung des ultima ratio-Satzes in Frage stellendenden Ansätze besteht darin, dass sie nach einer Präzisierung der Begründung des ultima ratio-Prinzips verlangen. Eine (von mehreren möglichen und nötigen) Präzisierungen betrifft die Frage, ob 17

Nur vor dem Hintergrund dieser These scheint mir die normativ kaum akzeptable Gesamtsaldierungsthese Plausibilität zu gewinnen; vgl. Prittwitz (Fn. 8) S. 191 f. 18 Aus der Sicht individueller Akteure zu Recht, weil sich nach der Krise zeigt, dass sie – von Exzessen à la Madoff abgesehen, die eher eine Begleiterscheinung der Finanzkrise als typische Repräsentanten waren – überwiegend nicht auf individuell zurechenbarem Individualverschulden, sondern auf Systemversagen beruhte.

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sich, was als schärfstes Mittel gilt, empirisch ermitteln lässt oder ob es normativ zu bestimmen ist. Am Beispiel: Fragt man (vor allem ex ante, d.h. bevor einer der Befragten vor einer strafrechtlichen Ermittlung und eventuellen Verurteilung steht), was als der intensivere Eingriff (z.B. in einem umweltstrafrechtlichen Kontext) angesehen wird, Genehmigungspflichten und eine lückenlose Kontrolle als Präventionsmaßnahmen und verwaltungsrechtlich begründete Unternehmensschließung als Sanktionsmaßnahme auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine Strafandrohung als Präventionsmaßnahme und eine Bestrafung des individuellen Normverletzers, dem die Verletzung als schuldhaft verursachte nachgewiesen werden kann, dann gehört nicht viel Phantasie dazu, die Antworten vorherzusagen. Zumal in einem Strafrecht, das aus gutem Grund und erfolgreich die Freiheitsstrafe zu Gunsten der Geldstrafe zurückgedrängt hat, wird die strafrechtliche Reaktion wohl weitgehend als mildere angesehen werden. Behauptet wird tatsächlich immer häufiger, dass die strafrechtliche Reaktion (namentlich auch: die Freiheitsstrafe) gar nicht die schärfste staatliche Reaktion sei, viel härter treffe einen wirtschaftlichen Akteur eine (hohe) Geldbuße (die den Rahmen verhängbarer Geldstrafen bei weitem übersteigen kann,19 und viel härter als jede Strafe eines (und sei es leitenden) Mitarbeiters treffe ein Unternehmen ein Tätigkeitsverbot, die Aufnahme in eine „schwarze Liste“ oder Ähnliches. Dass sich das so verhält, kann wohl kaum bestritten werden. Und ich meine auch, dass der Staat sich bei der Auswahl seiner Maßnahmen solchen Fragen nach der empfundenen Härte von Rechtsfolgen stellen, gegebenenfalls vorhandene empirische Erkenntnisse darüber auch berücksichtigen sollte. Zu bestreiten ist aber, dass der spezifische ultima ratio-Charakter des Strafrechts auf einer solchen empirisch überprüfbaren Sanktionsempfindlichkeit der Normadressaten beruht. Vielmehr ergibt sich der ultima ratio-Charakter des Strafrechts aus der Besonderheit der „Freiheitsstrafe“, die mit der Bewegungsfreiheit den Kernbereich der bürgerlichen Freiheit betrifft. Entscheidend ist die normative Setzung des Freiheitsstrafen androhenden und verhängenden Strafrechts im freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat. Sie können nicht durch die empirisch (vielleicht) belegbaren Einstellungen der strafrechtsunterworfenen Bürger, man gehe lieber drei Jahre in die JVA

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Ganz zu schweigen von den Summen, die im Rahmen von Bußgeldverfahren anders „abgeschöpft“ werden können. Im Siemens-Verfahren hat die Staatsanwaltschaft eine Geldbuße von 395.000.000 € verhängt. Davon sind 500.000 € die gesetzlich vorgesehene Höchstbuße bei fahrlässigen Taten (§§ 130 Abs. 3 Satz 1, 30 Abs. 2 Satz 2, 17 Abs. 2 OWiG), der die Summe von 500.000 € um das fast 800-fache (!) übersteigende Betrag ergibt sich daraus, dass die aus der Tat erlangte Erlöse abgeschöpft werden können, §§ 30 Abs. 3 i.V. mit 17 Abs. 4 OWiG).

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als eine Eintragung in eine „schwarze Liste“ hinzunehmen, erschüttert werden. Strafrecht kann also aus einem verfassungsrechtlichen Grund nie prima ratio sein, auch wenn Bürger X seine (Bewegungs-) Freiheit geringwertiger einschätzt als andere Interessen und Freiheiten. Daher ist unverändert an den spezifischen und herausragenden Legitimationsanforderungen an das (Wirtschafts-) Strafrecht festzuhalten.

III. Theoretische Relativierungen des ultima ratio-Satzes Im Ergebnis laufen die bisherigen Überlegungen darauf hinaus, dass das „unvergleichliche“ Strafrecht vergleichbar wird! Das Mantra des ultima ratio-Satzes erweist sich zunehmend als ein untauglicher und von der praktischen Kriminalpolitik kontinuierlich dementierter Immunisierungsversuch von Seiten der Kriminalwissenschaften. Trendelenburg hat überzeugend nachgewiesen, dass sowohl die (nur von mir und zuspitzend, aber nicht wertend, so genannten) „Strafrechtsapologeten“ als auch die (ebenfalls nur von mir und zuspitzend und nicht abwertend genannten) „fundamentalistischen Strafrechtsskeptiker“ im Grunde von der Unvergleichbarkeit des Strafrechts ausgehen.20 Während die einen von der unvergleichlichen (und, wie mir scheint, eher ersehnten als nachgewiesenen oder auch nur plausiblen) Wirksamkeit des Strafrechts ausgehen und daher bei den Megaproblemen des Planeten meinen, das Strafrecht als prima oder sogar sola ratio einsetzen zu müssen, beharren die anderen strikt auf der von vorneherein unvergleichlichen Schärfe des Instruments Strafrecht, aus der sich zwingend und jenseits aller Vergleiche und Abwägungen der ultima ratio-Charakter des Strafrechts ergebe. Während aber Trendelenburg nachdrücklich darauf besteht, dass ein erfolgversprechendes Beharren auf dem ultima ratio-Charakter voraussetzt, dass das Strafrecht als ein grundsätzlich vergleichbares Mittel des steuernden und reagierenden Gesetzgebers zunächst anerkannt wird, bevor die Strafrechtswissenschaft die Parameter ihrer Subsidiaritätswissenschaft í weit rationaler als dies bisher für notwendig erachtet wurde í deklariert und expliziert, möchte ich an dieser Stelle auf ein anderes, aber nicht minder gravierendes, Differenzierungsdefizit hinweisen, das sich hinter der fast zur Beschwörungsformel degenerierten Redeweise vom Strafrecht als ultima ratio verbirgt.

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Trendelenburg (Fn. 5) S. 141 ff.

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IV. Risiken und Freiheitsrechte als weitere Parameter des legitimen Strafrechteinsatzes Die Rede vom Strafrecht als grundsätzlich nur als ultima ratio legitim eingesetztem Mittel impliziert, dass es für die Legitimierbarkeit des Strafrechtseinsatzes keinen Unterschied macht, ob es um klassische Strafrechtsverbote, wie z.B. die des Raubes und des Mordes geht, oder um eher neuartige Strafrechtsverbote, wie z. B. die des Umwelt- oder Wirtschaftsstrafrechts. Auch die – kriminologisch und v.a. kriminal- und familienpolitisch hochrelevante – Frage, ob das Strafrecht auf Gewalt in der Familie oder auf der Straße reagiert, spielt insofern keine Rolle; dasselbe gilt für die Frage, ob es um Beleidigungen des Nachbarn oder der Bundeswehr geht. In der Folge dieser undifferenzierten Anwendung des ultima ratioSatzes21 entstanden, weil plötzlich22 ganz heterogene Verhaltensweisen Pönalisierungskandidaten waren, die oben schon erwähnten Debatten, z. B. ob das Wirtschaftsstrafrecht (obwohl nach Tiedemanns Ansicht gerade nicht ultima ratio, trotzdem) als legitim gelten könne, oder ob auf das Strafrecht als anerkannt „schärfstes Schwert“ nicht verzichtet werden könne, wenn es um die Existenzfragen dieses Planeten (Stratenwerth23 u.a.) oder um Umweltstrafrecht als Prototyp oder Urbegriff des Verbrechens (Schünemann24) geht. Aber auch die strafrechtlichen Reaktionen auf Terrorismus und die sogenannte organisierte Kriminalität leiteten die Legitimation solchen – oft durch weitgehende Vorfeldkriminalisierung extrem freiheitseinschränkenden – Strafrechts von den hier drohenden Gefahren ab. Diese Debatten übersehen, dass es jenseits des ultima ratio-Prinzips Faktoren zu beachten gilt, die den Bereich des legitimen Strafrechtseinsatzes begrenzen können und jedenfalls begrenzen sollen, die aber unter Umständen auch das Potential haben diesen Bereich zu erweitern. Dabei geht es einerseits um spezifische Risiken bestimmter Verhaltensweisen (bzw. bestimmter Subsysteme der Gesellschaft), die den Strafrechtseinsatz begrenzen, andererseits um normativ zu bestimmende kontroll- und strafrechtsfreie oder kontroll- und strafrechtsarme Ausschnitte gesellschaftlicher Aktivität.

21 Dieses ,,undifferenzierte“ Verständnis des ultima ratio-Satzes verdankt sich der Geschichte des Strafrechts, in dem sich die Frage legitimer Pönalisierung nur bei vergleichsweise homogenen Verhaltensweisen, dem klassisch „abweichenden“ verhalten, stellte. 22 Der hier verwendete Begriff „plötzlich“ soll keineswegs Zufälligkeit suggerieren. Der Wandel verdankt sich einerseits der technologischen Entwicklung und der daraus resultierenden Risiken in den vergangenen (v.a.) hundert Jahren, andererseits dem (damit zusammenhängenden) Paradigmenwechsel von den absoluten zu den relativen Straftheorien. 23 Stratenwerth ZStW 105 (1993), 679 ff. 24 Schünemann GA 1995, 208.

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1. Unerträgliche Risiken und unerträgliche Freiräume Das suggestive Bild von der unerträglichen Kontrolldichte und dem geradezu anheimelnd freiheitsschaffenden Strafrecht, das Haffke gezeichnet hat, wandelt sich schnell, wenn man den Blick von bestimmten Bereichen abwendet, in denen man Freiheitseinschränkungen spontan ablehnend gegenübersteht und erträglich erscheinende Risiken (deswegen) gerne in Kauf nimmt. Man muss sich nur, um das í Widerspruch wohl kaum vertragende í Beispiel voranzustellen, den Bereich vorstellen, in dem es um fahrlässige und vorsätzliche Gefährdungen von Risiken der Atomenergie geht (§§ 310 ff., 327 f StGB). Es erscheint kaum vorstellbar – und entspricht zum Glück auch nicht der Realität – dass diesen Gefahren lediglich dadurch begegnet wird, dass es einerseits Genehmigungs- und andere verwaltungsrechtliche Vorschriften gibt, andererseits die Strafandrohungen des StGB. Ohne strenge, lückenlose und – um die Formulierung Haffkes aufzugreifen í perfektionierte Kontrollen erscheint die Nutzung der Kernenergie angesichts der potentiell verheerenden Folgen allein schon der alles andere als unwahrscheinlichen durch Fahrlässigkeit verursachten Unfällen (man denke nur an die Vorfälle von Three Miles Island und Tschernobyl) undenkbar. Allein die Erwähnung von der dadurch natürlich massiv eingeschränkten Freiheit von Betreibern und Beschäftigten solcher kerntechnischen Anlagen wirkt fast zynisch. Alle Risiken in diesem Bereich sind, wenn überhaupt, nur hinnehmbar durch eine von Sicherheitsexperten optimierte Mischung von technischer Prävention und staatlicher Kontrolle. Das Strafrecht mit seinen Strafandrohungen kann von vorneherein bestenfalls flankierend wirken, im weniger guten Fall wird man eine nur symbolische an die Bevölkerung gerichtete Versicherungswirkung annehmen, deren Glaubwürdigkeit und (Un-) Schädlichkeit vollkommen von der Qualität der Kontrollmaßnahmen abhängt. Minimale Lücken im Kontrollsystem führen sofort dazu, dass aus der beruhigenden Versicherung Beschwichtigung wird. Transparenz und Kontrolle ist conditio sine qua non für die Atomenergie nutzende Gesellschaft, big brother wirkt nicht bedrohlich, sondern beruhigend, umgekehrt brächten Freiräume der handelnden und unterlassenden Akteure, zumal vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen minimalen und eher langfristig wirkenden Sicherheitszuwächsen und ihren gewichtigen und eher kurzfristig anfallenden Kosten, die Gesellschaft zum Frösteln, wenn sie denn davon erführe. Das Beispiel generalisierend wird man sagen können, dass es Bereiche so unerträglicher Risiken gibt, dass nur optimale technische Prävention und mit ihr einhergehende perfektionierte staatlicher Kontrolle als Kandidaten der Gefahrenvorsorge taugen. Das Strafrecht sieht und setzt í klug í vor-

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aus, dass Menschen unzulänglich sind, sich fahrlässig verhalten, nicht in bestimmten Risikodimensionen, also z.B. in großen Zeiträumen oder sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten handlungsrelevant denken. Die hier angesprochenen Risiken sind so hoch, dass die Gefahrenvorsorge deutlich vorverlagert und unabhängig von immer denkbaren menschlichen Versagen sein muss. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist hier zwingend ein Bedürfnis nach Kontrolle und es ist so groß, dass das menschliche Versagen, das Voraussetzung des Strafrechtseinsatzes wäre, verhindert werden muss. Der vermeintlich flankierende Strafrechtsschutz wirkt insofern nicht – wie geplant – beruhigend, sondern fast bedrohlich. Denn er legt nahe, dass das Kontrollsystem den rechtszeitigen Ausschluss und die rechtzeitige Entdeckung solchen menschlichen Fehlverhaltens nicht gewährleistet. Entsprechendes wird man in all den (mit der technologischen Entwicklung zunehmenden) Bereichen für richtig halten, in denen menschliche Gefahrenvorsorge mit ihrer spezifischen und nicht ausschaltbaren Fehleranfälligkeit nicht mit den Risiken Schritt halten kann, die sich als Kehrseite der für die Gesellschaft nützlichen Ergebnisse der technologischen Entwicklung darstellen. Diese Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr – und sei es unwahrscheinlicher – Eintritt von der als informiert gedachten Gesellschaft als unerträglich eingeschätzt wird. Es obliegt der Politik, solche Risiken zu erkennen und transparent zu machen. Ganz oder auch nur wesentlich auf das Strafrecht setzen heißt hier wie anderswo, den immer möglichen Schadenseintritt in Kauf zu nehmen. Welche Bereiche das im Einzelnen sind, muss und kann hier nicht entschieden werden. Um mich nicht unnötigerweise dem Vorwurf auszusetzen, in der behaupteten Tradition einiger Frankfurter Kriminalwissenschaftler ein Kernstrafrecht hochzuhalten, das letztlich ein Armuts- und Elendsstrafrecht ist,25 will ich pars pro toto mit dem Straßenverkehr einen besonders interessanten und auch relevanten gesellschaftlichen Bereich unter der Überschrift Grenzfälle diskutieren.

2. Erwünschte Freiheitsräume und erträgliche Risiken Zuvor aber sollen einige gesellschaftliche Bereiche betrachtet werden, in denen sich durchaus auch Sicherheitsfragen stellen, Freiheitsbedürfnisse aber í aus durchaus heterogenen Gründen í den Vorrang beanspruchen. In diesen Bereichen stellt sich sowohl die Frage nach dem grundsätzlichen „Ob“ von Freiheitsbeschränkungen als auch die Anschlussfrage danach, ob administrative Kontrolle oder strafrechtliche Kontrolle die liberalere und letztlich die vorzugswürdige Alternative darstellt. 25

So seit langem Schünemann z. B. in GA 1995, 201 ff.

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a) Konstitutive Voraussetzungen der Demokratie An erster Stelle sind hier Verhaltensweisen zu nennen, die für die freiheitliche Demokratie konstitutiv sind, also, um einige potentiell auch sicherheitsrelevante Bereiche anzusprechen, der freie Gedanken- und Meinungsaustausch, die Freiheit, sich zu versammeln, und sich politisch zu organisieren, die Presse-, heute besser, Medienfreiheit. Man muss nicht George Orwells 1984 wiederlesen, um sich bewusst zu sein, wie wichtig – ja konstitutiv – gerade diese Freiheiten für einen freiheitlichen Staat und für eine Demokratie sind. Andererseits ist ebenfalls nicht zu übersehen, dass die freie Kommunikation auch im Rechtsstaat und für den Rechtsstaat und in und für die Demokratie Sicherheitsrisiken birgt. Kommuniziert werden kann í heimlich oder offen, telekommunikativ oder auf Versammlungen í zum Nutzen und zum Schaden von Demokratie und Rechtsstaat. Auch hier stellt sich wie bei jeder drohenden Verletzung von Rechtsgütern die Frage nach dem „richtigen“ Weg, die Gefahren abzuwenden. Und auch hier stellt sich die Frage nach der angemessenen Rolle staatlicher exekutiver Kontrolle und der komplementären Rolle, die das Strafrecht einnehmen kann. Und hier plädiere ich – anders als im Bereich des Wirtschaftslebens – tatsächlich für eine besonders stark gewichtete Freiheit. Diese Gewichtung ist qualitativ, nämlich politisch und verfassungsrechtlich begründet. Hier muss es Freiräume und Freiheiten geben, weil nur im freiheitlichen Kontext Demokratie und Rechtsstaat möglich sind. Alle schwarzen Vorahnungen, die Haffke vor der perfektionierten Kontrolldichte schaudern lassen, haben hier und nicht bei der Kontrolle des Straßenverkehrs ihren legitimen Platz. Damit ist aber die Frage nach dem Verhältnis von präventiver Kontrolle und reaktivem Strafrecht noch nicht beantwortet. Zentral ist in der Tat in diesem Bereich, dass Freiheit hier vor Sicherheit geht.26 Wo aber die Freiheit der Bürger nachweisbar und zwingend durch den Staat eingeschränkt wird, neige ich zu einem Plädoyer für das – insofern tatsächlich „liberalere“ – Strafrecht. Strafrecht, jedenfalls ein Strafrecht, das nicht eingebettet ist in offene oder heimliche (geheimdienstliche) Kontrollsysteme, ist nicht nur in der Gesamtfreiheitssaldierung und -gewichtung das liberalere, sondern auch das riskantere Instrument. Ähnlich wie im Umweltschutz- und wohl auch im Finanzmarktbereich Staat und Gesellschaft m. E. nicht das Risiko einge26 Damit ist das nur auf den ersten Blick dilemmatische Verhältnis von Sicherheit und Freiheit angesprochen. Nicht dass Freiheit nicht der Sicherheit bedürfte; aber historisch und aktuell sind die Freiheitsbedrohungen durch Sicherheitspolitik realistischer und bedrohlicher als die Sicherheitsbedrohungen durch Freiheitsgewährung. Vgl. Prittwitz in: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 225 ff.

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hen dürfen, auf das wenig erfolgversprechende Strafrecht zu setzen, können und müssen Staat und Gesellschaft dieses Risiko im Bereich der für Demokratie und Rechtsstaat konstitutiven Freiheiten eingehen.

b) Freiräume der individualistischen Gesellschaft Ähnlich scheinen mir die Gewichte in Subsystemen der Gesellschaft verteilt zu sein, die mit dem Menschenbild des Grundgesetzes zu tun haben. Dieses Menschenbild ist ein individualistisches; die Freiheit des Einzelnen als Bürger, auch sein verfassungsrechtlich verankertes Eingebundensein in die Familie, stellen von der Verfassung besonders stark gewichtete Freiheiten dar, die in erster Linie für ein grundsätzliches prae der Freiheit gegenüber der Sicherheit und in zweiter Linie dafür sprechen, das riskantere Sicherheitsversprechen des Strafrechts der perfektionierten Kontrolldichte vorzuziehen. Die Anwendungsfelder dieser kriminalpolitischen Linie sind zahlreich. Und der Verzicht auf Kontrolldichte, der im Setzen auf Strafrecht liegt, wird umstritten sein. „Gewalt in der Familie und insgesamt im sozialen Nahraum“ dürfte ein Stichwort sein, kontrollfreie oder kontrollarme Freiräume in der (Tele-) Kommunikation trotz der hier erkennbaren Gefahren ein anderes. Die Debatte kann hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden. Wenn aber Haffkes suggestives Bild Wirkkraft entfaltet, dann in diesen Bereichen, in denen es um Individuen und individuelle Freiheit geht. Hier soll und muss es Geheimsphären und keine perfekte Transparenz geben, hier soll und muss Vertrauen herrschen, hier kommt es darauf an, persönliche Kontakte zu pflegen und der Entfremdung entgegenzuwirken, hier ist der Ort für Vertrauen in Autonomie und Verzicht auf Außenlenkung, hier ist die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen Voraussetzung für eine gewünschte gesellschaftliche Entwicklung, die Tendenz zu verdünnter und nicht wahrgenommener Verantwortung gesellschaftsschädlich, hier schließlich geht es um für die Freiheitlichkeit notwendige Risiken und hier ersticken Sicherheits- und Absicherungsbedürfnisse, wie wohlmeinend auch immer sie gemeint sind, die konstituierenden Elemente der freiheitlichen Gesellschaft, die aus nichts anderem als aus freiheitlich denkenden und handelnden Individuen besteht.

3.Grenzfall Straßenverkehr Das OLG Oldenburg hat im vergangenen Jahr in einem Beschluss festgestellt, dass die Verkehrsüberwachung mittels Videoüberwachung verfas-

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sungswidrig sei.27 Eine Suchmaschinenrecherche zu den kumulativ genannten Begriffen „Freiheit, Deutschland und Straßenverkehr“ hat 2,6 Millionen Ergebnisse erbracht. Und auch Bernhard Haffke und Bernd Schünemann verbinden Freiheit intensiv mit dem gesellschaftlichen Subsystem Straßenverkehr, wenn z. B. Haffke rhetorisch fragt, ob die Gesellschaft wirklich die mit technischer Prävention verbundenen Freiheitsverluste wolle,28 und Schünemann das gegenwärtige deutsche Kontrollsystem als „polizeistaatliche Regulierung“ wahrnimmt.29 Ich habe dem auf dem Passauer Symposion in provozierender aber nicht beleidigender Absicht entgegengehalten, wer im Straßenverkehr auf Strafrecht statt auf perfektionierte Kontrolldichte setze, der nehme nolens volens die nach wie vor etwa 5.000 Verkehrstoten in Kauf.30 Ich will hier anhand der angedeuteten Maßstäbe und auch anhand der verblüffend treffsicheren „weichen“ Kriterien Haffkes31 zeigen, dass und warum der Straßenverkehr einen Grenzfall darstellt, bei dem nicht zwingend nach perfektionierter Kontrolle gerufen werden muss, bei dem aber auch nicht in jeder Kontrolle gleich der freiheitsbedrohende Polizeistaat zu erkennen ist. Der Bereich, der m. E. weitgehend strafrechtsfrei – allenfalls vorsichtig und eindeutig flankierend strafrechtsarm í sein sollte, wurde hier gekennzeichnet durch unerträgliche Risiken, aus denen folgt, dass dort auch Freiräume unerträglich sind. Man wird schnell einräumen müssen, dass der Straßenverkehr hierunter nicht zu subsumieren ist. Natürlich ist jeder einzelne Verkehrstote ein toter Mensch zu viel. Aber dem wird auch jeder Gegner perfektionierter Kontrolldichte sofort zustimmen und über den Vorwurf der Inkaufnahme dieser Menschenopfer verstimmt sein. Dass es hier um existenzbedrohende Risiken geht, wird man, ohne jeden Zynismus, verneinen müssen. Vielmehr handelt es sich um Risiken, die zwar ohne den technischen Fortschritt undenkbar sind, aber doch weitgehend darauf beruhen, dass der Mensch mit dem technischen Fortschritt nicht Schritt gehalten hat, dass er also fahrlässig und zum Teil vielleicht sogar vorsätzlich Risiken für sich und für andere in Kauf nimmt, die er risikorational nicht eingehen sollte. Umgekehrt kann man den Straßenverkehr aber auch nicht unter den Bereich subsumieren, der hier als möglichst kontrollfreier gekennzeichnet wurde. Dass es beim Straßenverkehr um für Demokratie und Rechtsstaat 27

OLG Oldenburg, Beschl. v. 27.11.2009 - Ss Bs 186/09. Haffke FS Roxin, 2001, 967. 29 Schünemann in: Mediating Principles, 2006, S. 18 und 22. 30 Prittwitz (Fn. 8) S. 193. 31 Vgl. Haffke FS Roxin, 2001, 966 und meine darauf beruhende Skizze in Prittwitz (Fn. 8) S. 185. 28

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konstitutive Freiheitsräume geht, werden auch leidenschaftliche Autofahrer nicht behaupten wollen. Was bleibt ist die bange Frage, ob und inwieweit sich das deutsche Individuum überwiegend als Teilnehmer des Straßenverkehrs als frei empfindet, ob gerade hier das Menschenbild des Grundgesetzes auf dem Spiel steht. Zu einem ähnlich ambivalenten Ergebnis kommt man, wenn man den Straßenverkehr in das Kontrollhorrorszenario Haffkes32 einbaut. Der heimlich und lustvoll rasende Autofahrer wird Transparenz fürchten, Opfer, der Testfahrer, die die südwestdeutschen Autobahnen offenbar als geheime Sphäre betrachten, werden es, so sie den Aufprall überleben, anders sehen. Tatsächlich gegen ein Übermaß an Kontrolle spricht dagegen, dass der einigermaßen sichere Straßenverkehr wesentlich – und sogar vom Recht anerkannt – vom Vertrauen und gerade nicht vom Misstrauen lebt. Für Kontrollen spricht, dass die Freiräume gerade nicht durch persönliche Kontakte begrenzt, sondern eher durch entfremdete Beziehungen entgrenzt werden. Summa summarum wird man hier Staat und – vor allem – Gesellschaft zugestehen müssen, das geeignet erscheinende Komplementärverhältnis von illiberaler (sicherheitsversprechender) Kontrolle und liberalem riskantem Strafrecht zu wählen.

V. Strafrecht als ultima, vor allem aber propria ratio Kann es bei dem ultima ratio-Prinzip des Strafrechts bleiben oder zwingen die hier angestellten Überlegungen, Abschied von dem theoretisch liebgewordenen praktisch vernachlässigten Kind von Strafrecht und Kriminalpolitik zu nehmen? Wer die Vergleichbarkeit des Strafrechts mit anderen staatlichen Maßnahmen nicht a limine verneint, wird auch nicht umhin können, den ultima ratio-Satz für theoretisch unstimmig zu halten. Andererseits wird man in dem Maße, in dem man diesen traditionsreichen Grundsatz nicht museal behandelt, sondern im deutschen und europäischen Verfassungsrahmen als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ansieht, die hier eingeräumten Abstriche am Prinzip in das Prinzip einbauen und es so bewahren können. Strafrecht ist nicht irgendeine Maßnahme des Staates. Strafrecht ist riskant, weil es nicht nur theoretisch, sondern ganz real in Kauf nimmt, dass es missachtet wird und dass der Schaden eintritt. Überall dort, wo dieses Risiko nicht eingegangen werden darf, ist kein Platz für Strafrecht. Strafrecht ist

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Vgl. nochmals Haffke FS Roxin, 2001, 966 und Prittwitz (Fn. 8) S. 185.

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dort, auch wenn andere Maßnahmen zu versagen scheinen, nicht ultima ratio, sondern, weil ungeeignet und unverhältnismäßig, also gar keine ratio. Gerade die verfassungsrechtlich gewichteten Freiheitssphären aber, die für ein unter Sicherheitsgesichtspunkten riskantes Strafrecht streiten, die also am ehesten die Geltung des ultima ratio-Prinzips in Frage stellen könnten, weil hier das unter Sicherheitsaspekten weniger geeignete, aber liberalere Mittel gewählt wird, sind aber letztlich doch verhältnismäßige, nämlich auch die verfassungsrechtlich vorgegebenen Werte berücksichtigende, staatliche Maßnahmen. Ultima ratio enthält neben dem Verweis auf die Mittel auch den Verweis auf die Zwecke, und es wäre ein technokratisches Missverständnis des ultima ratio-Satzes, nur die effektive Problemlösung als Zweck anzuerkennen. Abschied ist also nicht zu nehmen von diesem Grundsatz, wohl aber von dem unverfänglichen und folgenlosen Gebrauch dieses Grundsatzes. Claus Roxin, der den Balanceakt zwischen Prinzipienorientierung und pragmatischer Bodenhaftung wie kein anderer beherrscht, wird sich, so hoffe ich, mit diesem Ergebnis anfreunden können.

„Wie man Verbrechen vorbeugt“ Zu Cesare Beccarias Konzeption der Kriminalprävention* URS KINDHÄUSER

I. Verbrechenskonzeption In Kapitel 41 seiner – zunächst aus Furcht vor staatlicher Repression anonym und ohne Angabe des Erscheinungsortes publizierten – Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ legt Cesare Beccaria (1738 - 1794) seine Konzeption der Kriminalprävention vor.1 Diese Konzeption beruht nicht auf einer Verbrechenstheorie, sie nimmt nicht Bezug auf eine empirisch-methodische Erforschung der Ursachen abweichenden Verhaltens und der individualund sozialpsychologischen Möglichkeiten ihrer Eindämmung. Die von ihm erörterten Delikte werden nicht an kriminologischen Kategorien ausgerichtet. Es wird keine Systematik vorgestellt, die Delinquenz in differenzierter Weise nach Maßgabe spezifischer Formen der Tatbegehung oder bestimmter Tätermerkmale wie etwa Altersgruppen, kriminelle Karrieren, Geschlecht oder soziale Herkunft differenziert. Beccaria kämpft vielmehr primär gegen richterliche Willkür, grausame Folter und überharte Strafen. Er geht von einem abstrakt-anthropologischen Verständnis des Menschen aus, den er in der philosophischen Tradition der Aufklärung als vernunftbegabt sowie sinnlicher und axiologischer Erkenntnis fähig begreift. Und dieser anthropologische Ansatz wird mit einer primär utilitaristisch orientierten Ethik verbunden.2 Dementsprechend hat auch * Claus Roxin in dankbarer Erinnerung an seine mich in meiner Münchener Studienzeit für das Strafrecht begeisternden Vorlesungen zum 80. Geburtstag gewidmet. 1 Beccaria Dei delitti e delle pene, 1764, in der Übersetzung von Vormbaum und mit einer Einführung von Naucke, 2004, zitiert „B mit Seitenangabe“. Zu Rezeption und Wirkungsgeschichte vgl. Deimling in: Deimling (Hrsg.) Cesare Beccaria, 1989, S. 11 ff. 2 Nach Naucke Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, in: Deimling (Fn. 1) S. 37 ff, ist der Zweckmäßigkeitsgedanke im Werk Beccarias der genetische Defekt, der sich in alle negativen Tendenzen des modernen Strafrechts selbst bis in die dunkelsten Zeiten der totalitären Regime des vergangenen Jahrhunderts hinein auswirkt: „Die Legitimation der Strafe bei Beccaria leistet die Limitation des Strafgebrauchs nicht“ (S. 52). Im programmatischen Kapitel über die „Milde der Strafen“ ist allerdings zu lesen, dass jede Verfolgung des Strafzwecks unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit steht (B 45). Und wenig später heißt es

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die Ordnung der Delikte, die Beccaria entwirft, einen utilitaristischen Charakter. Für diese Ordnung ist allein das Maß der Schäden, die durch das Verbrechen der Gesellschaft zugefügt werden, von Bedeutung (B 72), nicht die – stets nur fallbezogenen – Absichten und Motive des jeweiligen Täters, nicht die Würde3 des Verletzten, nicht die Schwere der Sünde4. Den schwersten Schaden sieht Beccaria im Umsturz der Gesellschaft, durch den die Sicherheit und Freiheit der Bürger beseitigt wird (B 71). Wer solches unternimmt, versucht, den Gesellschaftsvertrag und damit die Legitimation staatlicher Macht aufzuheben. Zur Verhinderung eines Staatsstreichs oder zur Restitution der durch ihn beseitigten Staatlichkeit kann nach Beccaria sogar die Tötung des Betreffenden notwendig sein (B 49). Freilich ist eine Tötung in diesem Sinne nicht als Kriminalstrafe i.e.S., sondern als „staatliche Notwehr“ zu deuten.5 Es folgen im Schweregrad der Schädigungen die Delikte gegen die Güter des Einzelnen und schließlich solche Delikte, die man, modern formuliert, als gewichtige Ordnungswidrigkeiten bezeichnen könnte. Alle anderen Handlungen sind keine Verbrechen und verdienen keine Strafe (B 71). Beccaria argumentiert nicht als Kriminologe, sondern formuliert seine Auffassung von Verbrechen und Strafe auf der Basis einer Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Seine Thesen sind sozialkritischer Natur. Sie sind, um der Zensur zu entgehen, in das Gewand einer menschenfreundlichen Kriminalpolitik eingebettet, enthalten aber ein gegen die politischen Verhältnisse seiner Zeit gerichtetes rechtliches und gesellschaftliches Reformprogramm von erheblicher Radikalität. Beccaria hat nicht primär den Straftäter oder das vor Strafe zu bewahrende Individuum, sondern den Machthaber im Blick. Er will vermittels einer aufgeklärten Gesetzgebung die Verwirklichung des größtmöglichen irdischen Glücks für die größtmögliche Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft befördern.6 dort: „Die Länder und Zeiten mit den grausamsten Strafen waren immer auch diejenigen mit den blutigsten und unmenschlichsten Taten“ (B 47). Zur Proportionalität von Verbrechen und Strafe vgl. auch Würtenberger FS Grünhut, 1965, 199, 206. 3 Da sonst die Unehrerbietigkeit gegenüber Gott „schrecklicher zu bestrafen (wäre) als der Mord des Monarchen“ (B 73). 4 Denn diese „hängt von der Unerforschlichkeit der Bosheit des Herzens ab“. Sonst könnten die Menschen strafen, wo Gott vergibt, und vergeben, wo Gott straft (B 73 f). 5 Gegen die Deutung einer solchen Tötung als Todesstrafe spricht m.E. neben dem das Wort „Strafe“ hier vermeidenden Text eindeutig, dass sich Beccaria auf eine Situation bezieht, in der eine staatliche Ordnung erst (wieder) herzustellen ist oder Anarchie herrscht, die Tötung also gar nicht auf der Wahrnehmung von Recht beruht. Die Todesstrafe ist nach Beccaria kein Recht, sondern „ein Krieg der Nation gegen einen Bürger“ (B 49). 6 Deimling FS Hilde Kaufmann, 1986, 51, 64. Naucke (Fn. 1 S. XXIII, XXVIII) wirft dagegen Beccarias Argumentation gegen die Todesstrafe „politisch fährlässige Oberflächlichkeit“ vor und beruft sich auf Kant, der wiederum in Beccarias Kampf gegen die Todesstrafe die

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Hinter Beccarias Konzeption der Verbrechensprophylaxe steht der Gedanke, dass das Verbrechen ein im Grunde vermeidbares Unglück für den Täter, für das Opfer und für die Gesellschaft ist. Bedingt wird dieses Unglück durch eine irrationale Gesetzgebung, unklare Gesetze, eine korrupte Justiz und eine verfehlte und völlig unzureichende Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Überspitzt ließe sich sagen, dass der Staat selbst Urheber des Verbrechens ist; jedenfalls ist ihm das Unglück zuzurechnen. Kriminalprävention verlangt daher für Beccaria nichts Geringeres als eine grundlegende Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Transformation der Despotie in eine Republik.7 25 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von Beccarias Werk erfolgte der Sturm auf die Bastille, und seither ist die Forderung nach radikaler Gesellschaftsveränderung in immer neuer Gestalt in kriminalpräventive Programme eingegangen.8 Und es dürfte kaum ein anderes Werk mit einer solchen Zielsetzung so erfolgreich gewesen sein wie Beccarias Abhandlung. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Beccaria einer der ersten Theoretiker war, der sich überhaupt mit dem Problem der Kriminalprävention auseinandergesetzt hat.

II. Theoretisches Fundament Sein Präventionsprogramm im 41. Kapitel leitet Beccaria mit der These ein: „Es ist besser, Verbrechen zu verhüten, als sie zu bestrafen. Dies ist das vorrangige Ziel jeder guten Gesetzgebung, welche die Kunst ist, Men-

„teilnehmende(r) Empfindelei einer affectirten Humanität“ sieht (Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe, 1914, S. 334 f). Dass Beccaria lebenslange Knechtschaft (psychologisch) für abschreckender hält als die Todesstrafe (B 51), ist für Naucke zudem ein Verstoß gegen Kants Forderung, der Mensch dürfe nicht als Mittel zu den Zwecken von Staat und Gesellschaft benutzt werden (Fn. 1 S. XXVI f). Kant selbst beurteilt dies freilich – ohne affektierte Humanität – anders, wenn er für Diebstahl (!) fordert, der Täter müsse dem Staat „seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten (Karren- oder Zuchthausarbeit) überlassen und … auf gewisse Zeit, oder nach Befinden auch auf immer in den Sklavenstand“ kommen (Kant Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe, 1914, S. 333). Abgewogen zu Beccaria und Kant Cattaneo, Aufklärung und Strafrecht, 1998, S. 7 ff. 7 Deimling FS Hilde Kaufmann, 1986, 65; ders. Der gesellschaftskritische Ansatz des Präventionsgedankens im Werk Beccarias, in: Deimling in: Deimling (Hrsg.) Cesare Beccaria, 1989, S. 165 ff. 8 Zur historischen Einordnung vgl. nur Deimling FS Hilde Kaufmann, 1986, 66 f; Weis Cesare Beccaria (1738-1794), Mailänder Aufklärer und Anreger der Strafrechtsreformen in Europa, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil-hist. Klasse, Sitzungsberichte 1992.

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schen zu größtmöglicher Glückseligkeit oder doch zu geringstmöglichem Unglück zu führen …“ (B 107). Das theoretische Fundament dieser Eingangsthese zur Verbrechensprophylaxe bildet die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Nach dieser Lehre sind Gesetze die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen eine Gesellschaft konstituieren, um nicht länger „in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine Freiheit zu genießen, die infolge ihrer Ungewissheit, sie bewahren zu können, unnütz geworden ist“ (B 10). Sie verzichten auf einen Teil ihrer Freiheit, um den verbleibenden Rest in Sicherheit und Ruhe genießen zu können. In der Summe der zu jedermanns Wohl geopferten Freiheit liegt die Souveränität des Staates, und der Herrscher ist deren gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter (B 6 ff.). Dieses Gut bedarf der permanenten Verteidigung gegen Besitzanmaßungen und Übergriffe Einzelner, um zu verhindern, dass die Regeln des freiheitlichen Zusammenlebens wieder im Chaos untergehen. Mittel der Verteidigung ist die Bestrafung des Gesetzesbrechers als fühlbares Gegenmotiv und eindrucksvolle Bestätigung rechtmäßiger Gesinnung für die Allgemeinheit. Da der Einzelne nur zu einem möglichst geringen Maß an Aufopferung seiner Freiheit zugunsten des Allgemeinwohls bereit ist, und zwar zu dem Maß, das hinreicht, um die anderen zu seiner Verteidigung zu veranlassen, ist das Recht zu strafen begrenzt. Was über das Notwendige zur Freiheitsverteidigung hinausgeht, ist Missbrauch, aber keine Gerechtigkeit. Verbrechen und Strafen auf der Basis der Gesetze freier Menschen sind also qualitativ verschieden von denjenigen des vorausgegangenen Faustrechts im kriegerischen Naturzustand. In einer Sozietät freier Menschen kann und muss die Gesetzgebung maßvoll und an der Wahrung gesicherter Freiheit orientiert sein. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag verbindet Beccaria einerseits mit der für die Aufklärungszeit einflussreichen (utilitaristischen) Formel des Philosophen Francis Hutcheson (1694-1746) vom „größten Glück verteilt auf die größte Zahl“. Andererseits bezieht er sich auf Charles de Montesquieu, der in seiner Schrift „De l’Esprit des Lois“ bereits den Zusammenhang von Prävention und maßvoller Gesetzgebung aufgezeigt hatte: In gemäßigt regierten „Staaten wird ein guter Gesetzgeber weniger auf die Bestrafung als auf die Verhütung von Verbrechen bedacht sein; er wird sich mehr bemühen, die Sitten zu bessern, als Strafen zu verhängen. … Es wäre leicht nachzuweisen, dass in allen oder fast allen europäischen Staaten die Strafen im gleichen Verhältnis ab- oder zugenommen haben, wie man sich der Freiheit genähert oder von ihr entfernt hat“.9 9

Montesquieu Vom Geist der Gesetze, eingel. und hrsg. von Forsthoff, 1992, S. 118.

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Dementsprechend besitzt für Beccaria nur ein nach dem Prinzip der Gewaltenteilung verfasster republikanischer Rechtsstaat die innere Kraft, Verbrechen prophylaktisch statt repressiv zu bekämpfen – vorausgesetzt, möglichst alle Bürger halten sich an den von ihnen geschlossenen Vertrag. Wirksame und sachgerechte Prävention setzt einen gerechten und menschenwürdigen Zustand der Gesellschaft voraus; sie ist ein politisches Instrument aufgeklärter Gesetzgebung in einer von Despotie freien Staatsverfassung freier Bürger. Freilich ist Gesetzgebung dann auch eine hohe Kunst. Sie muss sich Erfahrung zunutze machen und das ihr zur Verfügung stehende wissenschaftliche Potenzial ausschöpfen. Beispielhaft verdeutlicht Beccaria dies bereits im 36. Kapitel anhand der Kindestötung, deren Motive er in der Vermeidung sozialer Schande sieht und deren Bestrafung er erst dann für berechtigt und erforderlich hält, wenn die Gesellschaft der Kindesmutter die nötigen Hilfen zur Verfügung stellt, statt Repression unter dem Deckmantel der Tugend auszuüben (B 97). Hieraus folgert er den Grundsatz: „Eine Strafe für ein Verbrechen kann so lange nicht wirklich gerecht (und das soll heißen: notwendig) genannt werden, wie das Gesetz nicht das unter den gegebenen Verhältnissen einer Nation bestmögliche Mittel eingesetzt hat, ihm vorzubeugen“ (B 98). Die bisherigen Wege zur Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung durch Kriminalrecht hält Beccaria für falsch oder sogar zweckwidrig. Er beruft sich zur Begründung auf die anthropologische Einsicht, dass es nicht möglich sei, „die ruhelose Tätigkeit der Menschen auf eine geometrische Ordnung ohne Unregelmäßigkeit und Verwirrung zu reduzieren. So wenig, wie die dauerhaften und höchst einfachen Naturgesetze hindern, dass die Planeten in ihrem Lauf gestört werden, so wenig können menschliche Gesetze verhindern, dass im Bereich der unendlichen und äußerst gegensätzlichen Anziehungskräfte von Freud und Leid Störungen und Regelwidrigkeiten auftreten. Und doch ist dies die Wahnvorstellung begrenzter Menschen, wenn sie die Befehlsgewalt in Händen halten“ (B 107). In einem kleinen Kommentar zur deutschen Übersetzung merkt Hommel zustimmend an: „Das ist der Fehler unserer Polizeiordnungen, welche den Menschen zu Maschinen machen wollen, die zu gesetzter Zeit schlafen, essen und trinken sollen, wie man es in Schulen mit den Kindern macht.“10

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Hommel Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, 1778, Nachdruck 1966, S. 170 Fn. a).

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III. Einfache, klare und wenige Gesetze Entscheidende Bedeutung für die Verbrechensvorbeugung misst Beccaria der Qualität und Quantität von Strafgesetzen zu. Gesetzestexte müssten in formaler Hinsicht klar formuliert und einfach zu verstehen sein. Verlange der Staat pflichtgemäß vom Bürger, die Gesetze anzuerkennen, so sollten diese auch wegen ihrer Klarheit und Einfachheit für gerecht gehalten werden können. Hier kommt im Übrigen ein weiteres anthropologisches Element ins Spiel, das auch in der modernen Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls eine gewichtige Rolle spielt: der Gerechtigkeitssinn.11 Wenn ein Gesetz aufgrund seiner Gerechtigkeit eine spezifische Würde und Legitimation besitzt, dann wird seine Befolgung für richtig und seine Verletzung als Schandtat angesehen. Darüber hinaus ist der mit Gerechtigkeitssinn ausgestattete Bürger auch bereit, für seine Gesetze einzutreten und sie zu verteidigen. In der Bereitschaft zur Verteidigung der Gesetze sieht Beccaria einen maßgeblichen Faktor, um der latenten Neigung, Verbrechen zu begehen, zu begegnen. Er fasst dies in die an Machthaber gerichteten Worte: „Wollt ihr Verbrechen verhüten? Sorgt dafür, dass die Gesetze klar und einfach sind und dass die Kraft der Nation darauf konzentriert ist, sie zu verteidigen, und kein Teil dieser Kraft darauf verwendet wird, sie zu beschädigen“ (B 108). Eine weitere formale Forderung Beccarias betrifft die Reduktion der Anzahl der Strafgesetze (B 107 f.). Je weniger Strafgesetze es gibt, desto weniger Verbrechen gibt es auch. Hinter diesem Gedanken verbirgt sich die keineswegs selbstverständliche Einsicht, dass das Verbrechen nichts dem Gesetz Vorgegebenes ist, also unabhängig von seiner rechtlichen Erfassung besteht, sondern durch das Gesetz überhaupt erst konstituiert wird. Verbrechen sind keine natürlichen Ereignisse, sondern Verstöße gegen normative Vereinbarung. Damit einher geht die inhaltliche Forderung Beccarias, keine indifferenten Handlungen unter Strafe zu stellen (B 108). Strafgesetze dürfen nichts anderes zum Gegenstand haben als die Pönalisierung des konkreten schädlichen Verhaltens. „Eine Menge indifferenter Handlungen zu verbieten, bedeutet nicht, Verbrechen, die aus ihnen erwachsen könnten, zu verhindern, sondern nur, neue zu schaffen. … Wohin kämen wir, wenn uns alles verboten würde, was zu einem Verbrechen führen könnte? Man müsste den Menschen des Gebrauchs seiner Sinne berauben“ (B 107).

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Rawls in: Höffe (Hrsg.), Rawls Gerechtigkeit als Fairneß, 1977, S. 125 ff.

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Damit fallen nicht nur Handlungen, die aus religiösen oder rein moralischen Gründen abgelehnt werden, aus dem Bereich des Strafbaren heraus. Vielmehr muss der Gesetzgeber auch das spezifisch Schädliche der strafbaren Verhaltensweisen erfassen. Auch dieser Gedanke ist dem heutigen Strafrecht geläufig und ist verbunden mit dem Begriff der sozialen Adäquanz, liegt aber auch der Ablehnung eines Gesinnungsstrafrechts zugrunde.12

IV. Distributive Gerechtigkeit Was den Inhalt der Gesetze anbelangt, fordert Beccaria zudem eine distributive Gerechtigkeit: Die Gesetze müssen allseits vorteilhaft sein und dürfen nicht nur bestimmte Klassen oder Stände begünstigen. Diese Forderung beruht auf Beccarias Verständnis des Gesellschaftsvertrags, nach dem die Rechte des Einzelnen nicht aus seiner Zugehörigkeit zu einem privilegierten Stand resultieren, sondern Kehrseite des wechselseitigen Verzichts auf Freiheiten aus dem Naturzustand sind, um so in allseitiger Sicherheit und Frieden zusammenzuleben. Das Gesetz entfaltet seine bindende Kraft aufgrund der autonomen Bindung des Einzelnen an den Gesellschaftsvertrag, nicht durch den Machtanspruch einer privilegierten Klasse oder eines Despoten. So gesehen ist die Gesetzesverletzung ein unvernünftiges Verhalten, weil sich der vernunftbegabte Einzelne nicht aus Furcht vor der Zwangsgewalt der Machthaber, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit der von ihm selbst gewählten und mitgestalteten Gesellschaftsordnung an das Gesetz gebunden weiß.13 Beccaria kleidet diesen Gedanken in das Postulat: „Sorgt dafür, dass die Gesetze weniger einzelne Klassen der Menschen als die Menschen selber beschützen. Sorgt dafür, dass die Menschen die Gesetze, und nur sie allein, fürchten. Die Furcht vor den Gesetzen ist heilsam, schädlich aber und verbrechensträchtig ist die Furcht des Menschen vor dem Menschen. Knechtische Menschen sind lüsterner, ausschweifender und grausamer als freie Menschen“ (B 108). Hier formuliert Beccaria einen auch für die heutige Diskurstheorie wesentlichen Gedanken: In der wechselseitigen Anerkennung der Individuen 12

Nauckes These (Fn. 1, S. XXXVII), Beccaria wende sich hier entschieden (generell) gegen „Gefährdungsdelikte“, wird vom Text nicht gestützt und ist auch mit der Stufenleiter der „Ordnungsstörungen“ kaum zu vereinbaren (B 71, 89). 13 Deimling FS Hilde Kaufmann, 1986, 56. Dass deliktisches Verhalten in einem instrumentellen Sinne rational ist und allseitig vorteilhafte Normen gerade deshalb genuin instabil sind, verkennt dieser Ansatz indessen; hierzu Kindhäuser FS Hassemer, 2010, 761, 766 f m. w. N.

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als Gleiche liegt nicht nur der Grund für die Achtung des Anderen, sondern zugleich die Wahrnehmung des eigenen Selbst als vernunftbegabtes Wesen. Daher drückt sich in der Anerkennung der Verbindlichkeit eines in Freiheit vereinbarten gerechten Gesetzes der Selbstrespekt des Einzelnen vor sich als Person und Rechtssubjekt aus. Zudem gelingt es Beccaria in anschaulicher Weise, das grundlegende Prinzip zu verdeutlichen, dass einerseits Freiheit Verantwortung zur Kehrseite hat und dass andererseits Verantwortung nur aus Freiheit erwachsen kann.

V. Weltanschauliche Toleranz Zur Delinquenzprophylaxe fordert Beccaria weltanschauliche Toleranz und Neutralität des Gesetzgebers und trifft damit den Nerv der Aufklärung. Er spricht sich mit religionskritischem Impetus für eine Abgrenzung der Einflusssphären von Staat und Kirche aus und fordert die Streichung von Religionsvergehen aus dem Katalog staatlicher Strafen. Viele staatlich sanktionierte religiöse Verhaltensanforderungen sind für Beccaria Handlungen ohne sozialschädliche Auswirkung und damit ohne wirklichen Verbrechenscharakter (B 74 f.). Hommel formuliert dies noch erheblich schärfer: „Gottes Gerichte und menschliche Gerichte sind heterogene Dinge, und so schwerlich, wie Wasser und Öl, mit einander zu vermischen, weil ihre Bestandteile und Quellen verschiedentlich sind. Die Quelle, woraus menschliche Strafgesetze fließen, ist einzig und allein die Größe des Unheils, welches ein Verbrechen dem Nächsten oder der ganzen Republik verursachet.“14

VI. Klimatische Verhältnisse Mit Blick auf die Verbrechensverhütung bringt Beccaria auch einen für das heutige Verständnis seltsamen Gedanken ins Spiel: Schlechte Gesetze entfalten nicht nur unter verschiedenen Staatsverfassungen, sondern auch unter verschiedenen klimatischen Verhältnissen unterschiedliche Wirkungen hinsichtlich Art und Häufigkeit von Verbrechen. Beccaria folgt hier einer verbreiteten, von Montesquieu vertretenen Ansicht über den Einfluss des Klimas auf das Sozialverhalten. „Wenn es wahr ist,“ so sagt Montesquieu, „dass der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens 14

Hommel (Fn. 10) Vorrede S. 10.

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in den verschiedenen Klimaten außerordentlich verschieden sind, dann müssen die Gesetze auf die Unterschiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben.“15 Für Beccaria ergibt sich daraus, dass schlechte Gesetze unter unterschiedlichen klimatischen Bedingungen negative Folgen ganz verschiedener Art zeitigen können: Befällt eine unzureichende Gesetzgebung „eine Nation, die aufgrund des Klimas träge ist, so bewahrt und steigert sie deren Trägheit und Dummheit; befällt sie eine genusssüchtige, aber strebsame Nation, so wird sie deren Strebsamkeit in eine unendliche Vielzahl von winzigen Kabalen und Intrigen zersplittern, welche Misstrauen in alle Herzen streuen und bewirken, dass Verrat und Heuchelei zur Grundlage der Klugheit werden; befällt sie aber eine mutige und starke Nation, so wird … (sie) schließlich beseitigt; zuvor wird sie viele Schwankungen zwischen Freiheit und Knechtschaft und zwischen Knechtschaft und Freiheit hervorgerufen haben“ (B 108). Ungeachtet des sozialpsychologisch unhaltbaren Rekurses auf klimatische Verhältnisse ist diesen Ausführungen gleichwohl die gewichtige Einsicht zu entnehmen, dass für Beccaria auch Faktoren außerhalb des sozialen Bereichs die Verbrechensprophylaxe beeinflussen können und daher zu berücksichtigen sind.16

VII. Aufklärung und Wissenschaftsfreiheit Nicht verwundern kann es, dass Beccaria im Zusammenspiel von Befreiung und Aufklärung der Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensvorbeugung sieht. Denn das Verbrechen erwächst auch aus geistiger Unfreiheit. Aufklärung bedeutet für Beccaria die Vermittlung von empirischen Erkenntnissen über Natur und Gesellschaft; sie ist für ihn ein Feldzug gegen Aberglauben, Scheinwissen und politische Ideologie. Mit dem siegreichen Voranschreiten von Wissen werden die Übel dieser Welt beseitigt: Die Vorteile, die „durch Erkenntnis hervorgebracht werden“, stehen „in direktem Verhältnis“ zu deren Verbreitung (B 109). Durch Aufklärung wird der Mensch mündig und kritikfähig. Der Unwissende ist anfällig für Demagogie, der Wissende dagegen kann auf der Basis seiner Einsicht in soziale Zusammenhänge und das Wirken der Natur ein sittlich gutes und eigenverantwortliches Leben führen. Dem Wissenden erschließt sich der Unterschied zwischen einer despotischen Machtstruktur und einer durch Gesellschaftsvertrag gestalteten Rechtsordnung, kurz zwischen Unrecht und legitimem Recht. 15 16

Montesquieu (Fn. 9) S. 310, mit detaillierten Ausführungen im gesamten 14. Buch. Deimling FS Hilde Kaufmann, 1986, 57.

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„Vor der … verbreiteten Aufklärung schweigt die verleumderische Unwissenheit still und zittert die der Argumente beraubte Autorität. … Dies ist der Grund, warum es keinen aufgeklärten Menschen gibt, der nicht die öffentlichen, eindeutigen und nützlichen Verträge über die allgemeine Sicherheit liebt, denn er vergleicht das bisschen nutzlose Freiheit, das er selbst opfert, mit der Summe aller Freiheiten, welche von den anderen geopfert worden sind, die, wenn es keine Gesetze gäbe, sich gegen ihn verschwören könnten“ (B 109). Freilich kann auf Wissenschaft gestütztes Wissen nur dann zu wahrer Aufklärung beitragen, wenn die Wissenschaft selbst in Freiheit gedeiht. In diesem Kontext seiner Argumentation verteidigt Beccaria eingehend die Wissenschaft gegen Kritiker, die ihr vorwerfen, Schaden anzurichten; Wissenschaft sei für den Menschen keineswegs stets abträglich gewesen. In seiner Verteidigungsrede entwickelt er eine geschichtsphilosophische Theorie über drei Entwicklungsphasen menschlicher Erkenntnis: Nach einem ersten Stadium des ungeselligen Lebens, dem Stadium des ursprünglichen Naturzustands, entfachen zunächst Wohltäter der Menschheit Staunen und Wissbegier auf religiöser Basis. Sie konnten die Menschen durch die Darstellung einer sie regierenden übersinnlichen Ordnung falscher Gottheiten befrieden und schufen damit eine gegenüber dem vorhergehenden Naturzustand politisch vorteilhafte Lage. Das so erweckte Streben nach Wissen wird zum einigenden Band der Menschen und verleiht der Gesellschaft eine Struktur. Allerdings bewegen sich die Menschen in diesem zweiten Stadium noch in vielfältigen Irrtümern über die tatsächlichen Gegebenheiten und vermögen ihre wahren Bedürfnisse nicht sachgerecht zu erkennen.17 Durch Verblendungen, Aberglaube und verführerische Welterklärung werden einige mächtig und viele schwach (B 110 f.). In der nun folgenden dritten Epoche der Aufklärung sind die Irrungen und Wirrungen und die ungerechten Machtstrukturen des vorangegangenen Zustands mühevoll zu beheben. Denn die Preisgabe vorteilhafter und liebgewordener Fehlvorstellungen ist für Mächtige wie Schwache gleichermaßen schmerzvoll. Es ist dies die Phase, in der das Wissen um die Welt durch Wissenschaft säkularisiert wird. Der so entstandene aufgeklärte und zum Wahrer und Hüter der Gesetze bestellte Mensch ist, in Beccarias Worten, das „kostbarste Geschenk, das der Herrscher seiner Nation und sich selber, 17

Hommel (Fn. 10) S. 175 Fn. d) merkt hierzu kritisch an: „Dass alle Religionen, nur die jüdische ausgenommen, politische Erfindungen schlauer Staatsmänner gewesen, um den einfältigen Pöbel, der durch Aberglauben, nicht aber durch Vernunftschlüsse zu lenken ist, desto leichter zu regieren, scheint mir ein wenig zu viel gesagt.“ Denn die Historie zeige, dass bei den Heiden „die Furcht wenigstens Teufel erschaffen (habe), ohne dass Könige an dieser Erfindung den mindesten Anteil gehabt“ hätten.

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den sie zum Hüter und Wächter der heiligen Gesetze bestellt, darbringen kann. Gewohnt, die Wahrheit zu betrachten und nicht zu fürchten; frei von den meisten Bedürfnissen der Meinung, die niemals vollkommen befriedigt sind und die Tugend der meisten Menschen auf die Probe stellen; gewohnt, die Menschen unter viel höheren Gesichtspunkten zu betrachten, wird vor seinem Auge die Nation zu einer Familie brüderlicher Menschen, und der Abstand der Großen gegenüber dem Volk erscheint ihm um so kleiner, je größer die Zahl der Menschen ist, die er vor Augen hat“ (B 112). Kurz: Der aufgeklärte Mensch ist nicht mehr blind seinen Bedürfnissen ausgeliefert, sondern vermag sich durch Einsicht in die wahren Zusammenhänge sachgemäß zu steuern. Insoweit dient die Förderung der Wissenschaft auch der Verhütung von Verbrechen.

VIII. Justizreform Hohen Rang nimmt in Beccarias Konzeption der Verbrechensvorbeugung die Reform des Gerichtswesens ein, die er allerdings nicht im Detail darlegt. Insbesondere kommt es ihm darauf an, die Zahl der Mitglieder in einem Richtergremium zu erhöhen. „Je größer seine Mitgliederzahl ist, umso geringer ist die Gefahr der Herrschaftsanmaßung über die Gesetze, denn Bestechlichkeit ist schwieriger unter Mitgliedern, die sich wechselseitig beobachten und die umso weniger an der Vermehrung der eigenen Macht interessiert sind, je kleiner der Anteil ist, den jeder daran besitzt …“ (B 112). Wenn sich zudem die Menschen daran gewöhnt haben, mehr die Behörden als die Gesetze zu fürchten, so werden die Behörden hieraus einen größeren Gewinn schlagen, als es der privaten und öffentlichen Sicherheit dient (B 113).

IX. Belohnungen und Erziehung Beccaria geht in seinem Werk von einer sehr starken Beeinflussbarkeit des menschlichen Willens durch äußere Stimuli aus. Demnach nimmt er nicht nur an, dass der Mensch durch Abschreckung von der Begehung von Straftaten abgehalten werden könnte, sondern auch durch Belohnungen.18

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Hommel (Fn. 10) S. 179 Fn. f) stimmt diesem Ansatz (insbesondere mit Blick auf die Prostitution) nachdrücklich zu: „ … also sind Belohnungen freilich gut, aber übertriebene

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So glaubt er, dass „die von der wohltätigen Hand des Fürsten verteilten Preise … die Zahl der tugendhaften Handlungen vervielfältigen“ könnten. Ehrenlohn sei „in den Händen eines weisen Verteilers unerschöpflich und fruchtbringend“ (B 113). „Das sicherste, aber schwierigste Mittel, die Verbrechen zu verhüten“, sieht Beccaria jedoch in der „Vervollkommnung der Erziehung“ (B 113), weil die „Natur der Regierung“ mit der Erziehung zusammenhängt. Wiederum wird deutlich, wie stark Beccaria von Montesquieu beeinflusst ist, der eine Relation zwischen Erziehungsprinzipien und den drei idealtypischen Regierungsformen herzustellen versuchte: „Die Gesetze der Erziehung sind die ersten, die wir erhalten, und da sie uns zu Bürgern heranbilden sollen, so muss jede einzelne Familie nach demselben Plan wie die große Familie, die sie alle umfasst, regiert werden. Wenn das Volk als Ganzes einem Prinzip folgt, so müssen auch seine Teile, das heißt die Familien, demselben Prinzip folgen. Daher müssen also die Gesetze der Erziehung in den einzelnen Regierungsformen verschieden sein: In der Monarchie müssen sie auf die Ehre, in der Republik auf die Tugend und in der Despotie auf die Furcht ausgerichtet sein“.19 Die Monarchie habe die Heranziehung eines Ehrenmanns zum Ziel, der sich durch Höflichkeit, Galanterie, List, Hochmut und erlesenen Geschmack den höfischen Sitten anpasse. „Überall greift hier die Ehre ein, sie bestimmt alle Formen des Denkens und Fühlens und selbst die Grundsätze. … Die Ehre verlangt, dass der Fürst uns nie eine Tat befehlen dürfe, die uns entehrt, weil sie uns unfähig machen würde, ihm zu dienen.“20 Schärfste Sanktion für den honnête homme ist der Verlust der Ehre, der mehr als der Tod gefürchtet werde. Dagegen müsse die Despotie um ihrer Selbsterhaltung willen zu blindem Gehorsam erziehen. Die Erziehung „muss hier notgedrungen knechtisch sein. … Der unbedingte Gehorsam setzt Unwissenheit bei dem Gehorchenden, aber auch bei dem Befehlenden voraus, denn er darf nicht überlegen, nicht zweifeln, nicht abwägen; er hat nur zu wollen.“ Die Erziehung „begnügt sich damit, dem Herzen Furcht einzuflößen und dem Geist einige einfache Grundsätze der Religion zu vermitteln.“21

Züchtigungen, was sollen die helfen? Sie machen die Gemüter brutal und verdunkeln den Unterschied, der zwischen großen und geringen, wahren und Scheinverbrechen obwaltet.“ 19 Montesquieu (Fn. 9) S. 47. 20 Montesquieu (Fn. 9) S. 50. 21 Montesquieu (Fn. 9) S. 52.

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„In der republikanischen Regierungsform ist man auf die ganze Stärke der Erziehung angewiesen“,22 die den Bürger zur Tugend führen soll. Doch die „politische Tugend … verlangt Selbstverleugnung, die immer schwer fällt. Man kann den Begriff dieser Tugend bestimmen als Gesetzestreue und Vaterlandsliebe. Indem diese Liebe die beständige Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem Eigenwohl verlangt, verleiht sie alle die einzelnen Tugenden, die sich durch diese Bevorzugung ausdrücken.“ Beccaria streift jedoch diese Thesen Montesquieus nur kurz und verbindet sie ohne Namensnennung mit den Erziehungsprinzipien Rousseaus in dem von der Kirche indizierten Werk „Emile ou de l’éducation“ von 1762. Nach diesen „wirklich nützlichen Hauptmaximen einer wahren Erziehung“ soll der Heranwachsende nicht durch die Menschen, sondern unmittelbar durch die Natur selbst gebildet werden. Diese Erziehung besteht „in einer Ersetzung der Abbilder durch Urbilder sowohl im Bereich der moralischen als auch der physischen Erscheinungen, die Zufall oder Fleiß vor die Seelen der jungen Menschen gelangen lässt (B 113). Junge Menschen sind zur Tugend zu ermuntern „auf dem leichten Wege des Empfindens und im Fernhalten vom Bösen auf dem unfehlbaren Wege der Notwendigkeit und der nachteiligen Folgen, nicht aber auf dem unsicheren Wege des Befehls, der nur einen geheuchelten und kurzfristigen Gehorsam erreicht“ (B 113 f.). Unter diesen Prämissen kommen als Strafen auch nur Maßnahmen in Betracht, welche die zerstörerischen Kräfte des Menschen zügeln und in eine der Gesellschaft nützliche Richtung lenken. Aufgrund dieses Anliegens dürfte es verfehlt sein, in Beccaria primär den Vertreter einer abschreckenden Generalprävention (mit spezialpräventiven Elementen) nach Maßgabe utilitaristischer Gemeinschaftswerte zu sehen. Vielmehr scheint er durchaus ein Vorläufer der positiven Generalprävention im Sinne einer Integrationsprävention zu sein. Strafe wird von ihm nicht nur verstanden als Mittel der Repression, sondern kann auch in den Dienst einer erzieherischen Strafzielbestimmung genommen werde; sie kann der Gewährleistung von Normgeltung durch Sicherung hinreichender Rechtstreue der Bürger dienen.

X. Kommunitarismus Abschließend sei noch einmal ein kurzer Blick auf die theoretischen Grundlagen geworfen, auf denen Beccarias Überlegungen zur Kriminalprä22 Montesquieu (Fn. 9) S. 53. Angesichts der unverkennbaren Zustimmung Beccarias zu diesen Gedanken verwundert Nauckes These: „Die Überführung Beccarias in die Denkformen der Demokratie steht noch aus“, (Fn. 1 S. XXIII).

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vention beruhen. Beccaria lässt sich in eine geistesgeschichtliche Strömung einordnen, die in der neueren Rechts- und Staatsphilosophie unter der Bezeichnung „Kommunitarismus“ diskutiert wird.23 Der Kommunitarismus hat seine neuere Gestalt in der kritischen Auseinandersetzung mit der namentlich von John Rawls vertretenen Fassung des Liberalismus erlangt. Methodisch bedient er sich des erkenntnistheoretischen Instrumentariums der Hermeneutik und analytischen Philosophie, geistesgeschichtlich steht er in einer Tradition, die von Aristoteles über Cato und Machiavelli bis zu den französischen Aufklärern reicht.24 Der politische Grundgedanke lautet, dass eine Gesellschaft so gut und so schlecht ist, wie ihre Mitglieder die ihnen obliegenden staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen. Der Kommunitarismus ist eine normative Gesellschaftstheorie, die den Wert der Freiheit keineswegs geringer schätzt als der Liberalismus. Wie dieser setzt er auf die Teilhabe an Verfahren, auf den Pluralismus der Meinungen und der sozialen Kräfte. Der Unterschied liegt jedoch im Blick auf die Gesellschaft. Der Liberalismus betrachtet sie statisch: Ist die bürgerliche Gesellschaft erst einmal freiheitlich verfasst, so laufen die Dinge gewissermaßen von selbst, wenn nur jeder die Freiheit der anderen achtet. Dagegen geht der Kommunitarismus von einem dynamischen Verständnis aus: Im Vordergrund steht nicht die vernunftgemäße Interessenverfolgung, sondern die (politische) Tugend,25 durch deren Ausübung erst Freiheit geschaffen wird. Aus dieser Perspektive ist Freiheit keine fixe Größe, sondern muss durch aktive Teilnahme an sozialen Belangen erst errungen und durch (politisches) Engagement aufrechterhalten werden. Ein Volk, bei dem die Tugend fehlt und völlige Sittenverderbnis eingerissen ist, kann nach Machiavelli keinen Augenblick in Freiheit leben.26 Positiv gewendet lautet dieser Gedanke bei Montesquieu: Die Vaterlandsliebe „ist besonders mit der Demokratie verbunden, in der allein die Regierung jedem Bürger anvertraut ist. Nun geht es aber mit der Regierung genau so wie mit allen anderen Dingen in der Welt: man muss sie lieben, um sie zu erhalten“.27 Der Einzelne ist in kommunitaristischer Interpretation kein geschichtsloses und atomistisches Vernunftwesen, sondern geprägt durch eine konkrete Gesellschaft in einer konkreten Epoche. Seine Identität ist der Gesellschaft nicht zeitlich oder logisch vorgelagert; sie wird erst gesellschaftlich konsti23

Vgl. Forst in: Honneth (Hrsg.) Kommunitarismus, 1993, S. 196 ff; Seelmann Rechtsphilosophie, 1994, S. 187 ff. 24 Vgl. Brumlik u. a. (Hrsg.) Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993; Forst Kontexte der Gerechtigkeit, 1994; Honneth (Hrsg.) Kommunitarismus, 1993; Zahlmann (Hrsg.) Kommunitarismus in der Diskussion, 1992. 25 Vgl. hierzu Münkler Archiv für Kulturgeschichte 73, 1991, S. 381. 26 Machiavelli Discorsi, hrsg. von Zorn, 1966, I, 16, S. 57. 27 Montesquieu (Fn. 9) S. 53.

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tuiert. Und diese Identitätsstiftung des Individuums durch die Gesellschaft verbindet den Einzelnen dergestalt mit der Gesellschaft im Sinne einer Gemeinschaft, dass für ihn die Förderung des Allgemeinwohls zur Obliegenheit wird.28 Aus kommunitaristischer Sicht wird der Einzelne gewissermaßen in seine Rolle als Staatsbürger hineingeboren. In dieser Rolle trägt er Verantwortung für das Gesamtwohl, den Bestand der Gesellschaft und die Einhaltung der den Staat sichernden und konstituierenden Normen.29 Rechtstreue wird so als staatsbürgerliche Tugend interpretiert, die aus einer ethisch begründeten Bindung an die rechtlich verfasste Gesellschaft, zu der man als Teil gehört, resultiert.30 Und (rechtliche) Schuld ist Ausdruck der Missachtung von Verantwortung für das Gemeinwohl. Mit dem schuldhaften Normbruch verlässt der Einzelne die Gemeinschaft.31 Demgemäß fordert auch Beccaria: „ … wer den Gesetzen nicht gehorcht, also den Bedingungen, unter denen die Menschen sich wechselseitig ertragen und sich verteidigen, der muss aus der Gesellschaft ausgeschlossen, d.h. aus ihr verbannt werden“ (B 115). Auch wenn der Kommunitarismus Zustimmung verdient, sofern er das allgemeine Wohl als vom Engagement der Bürger abhängig begreift und die Geschichtlichkeit des Denkens und Fühlens betont, erscheint doch die von ihm gezogene politisch-ethische Konsequenz einer Identifikation des Einzelnen mit seiner Rolle als patriotischer Staatsbürger in hohem Maße fragwürdig. Denn es wird hierbei dem Neutralitätsgebot des Rechts nicht Rechnung getragen, dem zufolge das Recht nur die äußerliche Befolgung seiner Normen vorschreibt, die Gründe für die Befolgung aber freistellt und auch nicht erzwingen will und kann. Diesen aus heutiger Sicht elementaren Grundgedanken negiert der Kommunitarismus, wenn er Rechtstreue mit staatsbürgerlicher Tugend gleichsetzt. Insoweit sei die abschließende These gewagt, dass die Berücksichtigung der Gedanken Beccarias fraglos zu einer Reduktion von Kriminalität in einer Gesellschaft führen würde. Doch scheint die Gefahr zu bestehen, dass in einer solchen Gesellschaft das Recht vom Einzelnen mehr verlangt, als es legitimer Weise in seiner Eigenschaft als Mittel der Sicherung äußerer Freiheit einfordern darf. Es würde auch eine bestimmte Gesinnung verlangen – und damit die geistige Freiheit, welche auch und gerade die Quelle für Beccarias großartiges Werk ist, einengen.

28

Beispielhaft MacIntyre in: Honneth (Hrsg.) Kommunitarismus, 1993, S. 84 ff. Vgl. MacIntyre Der Verlust der Tugend, 1988, S. 204 f. 30 Vgl. auch Fletcher Loyalität, 1994. 31 Arendt Macht und Gewalt, 1985, S. 42; vgl. auch MacIntyre (Fn. 29) S. 204. 29

Annäherung an das interkulturelle Fundament des Strafrechts EMILIANO BORJA JIMÉNEZ

A. Zum Ansatz der Frage Das Völkerstrafrecht, die Rechtsvergleichung im Strafrecht, das interkulturelle Strafrecht und die Strafrechtsdogmatik zeigen, dass bestimmte Grundlagen existieren, die universell für jedes Strafrechtssystem gelten.1 Die Menschenwürde und die Rechtssicherheit, das Prinzip der Sozialschädlichkeit, der traditionelle Katalog der Straftaten, ein gewisser Vergeltungscharakter der Strafe2 und der generalpräventive und spezialpräventive Strafzweck3 sowie die Schlichtungsmechanismen im materiellen Strafrecht und im Strafprozessrecht scheinen die Grundlagen zu bilden, auf denen sich die Konstruktion jedes Strafrechts gründet. Das hier verwendete Referenzmodell, vertreten durch das Sanktionsrecht bestimmter Gemeinschaften von Ureinwohnern in Lateinamerika, 4 hat jedoch zweierlei klargestellt: Erstens hat sich gezeigt, dass einige Prinzipien, wie das Legalitätsprinzip, das Schuldprinzip und der ausschließliche Schutz von Rechtsgütern nicht allgemein gültig sind (und sowohl ersteres als auch letzteres sind es selbst in den westlichen Systemen nicht), genauso wenig wie gewisse Kategorien (bestimmte Tatbestände und Arten von Strafen). Und zweitens wurde deutlich, dass andere unterschiedliche Forderungen anstelle der vorgenannten existieren können, wie das Reziprozitätsprinzip,

Übersetzung aus dem Spanischen von Julia Rackow. Hinsichtlich der gemeinsamen Elemente, die sich in der Mehrheit der Strafrechtssysteme wiederfinden, werde ich die in meiner Arbeit Borja Jiménez FS Vives Antón, 2009, 223 dargestellten Schlussfolgerungen aufnehmen. 2 Kühl ZStW 116 (2004), 877. 3 Allerdings ist der Strafzweck im Völkerstrafrecht vor allem von Vergeltungscharakter und Generalprävention bestimmt: Tulkens/Beernaert FS Jung, 2007, 1010. 4 Um festzulegen, welche die gemeinsamen Merkmale jeden Strafrechts sind, habe ich in meiner vorgenannten Arbeit meine eigene Forschung zu den Sanktionssystemen der Ureinwohner Lateinamerikas zugrunde gelegt. Diese Merkmale wurden im Vergleich mit den im westlichen Strafrechtssystem etablierten Merkmalen analysiert: Borja Jiménez Derecho indígena sancionador y derechos humanos, 2008, S. 185. 1

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das Gleichgewichtsprinzip oder das Prinzip des sozialen Friedens. Diese Unterschiede lassen sich deutlich erklären, wenn man einige strukturelle Verschiedenheiten in Erwägung zieht, welche sich in den verschiedenen Modellen des Zusammenlebens, dem westlichen und dem der Ureinwohner, vorfinden lassen. Die wirtschaftliche Globalisierung bewirkt ihrerseits einen dialektischen Prozess, in welchem sowohl eine Ausdehnung der westlichen Kultur und westlicher Werte stattfindet, als sich auch die eigenen Traditionen und die ethnische Idiosynkrasie jedes Volkes potenzieren. Dieser dialektische Prozess, so wie er an anderer Stelle dargelegt wurde,5 wirkt sich sowohl auf das Universale als auch auf das Spezielle jedes Strafrechtssystems aus. Die Unterscheidungsmerkmale zwischen den Universalitäts- und den Spezialitätstendenzen wurden nach und nach hauptsächlich nach vier Kriterien aufgedeckt, welche die westliche Form des Zusammenlebens von derjenigen der Stämme oder Ureinwohner differenzieren (dieses Thema wurde bereits in anderen Arbeiten behandelt). In diesem Beitrag soll die Grundlage herausgestellt oder aufgedeckt werden, welche die verschiedenen Kategorien und Institutionen jedes Strafrechtssystems gemeinsam haben. Gleichzeitig soll gemäß dem angezeigten methodisch komparativen Ansatz die generelle Struktur studiert und überprüft werden, die sich in jeder Form menschlichen Zusammenlebens befindet, wie auch immer die Kultur, Tradition oder Zivilisation beschaffen sei, in die sie sich eingliedert. So wurden einige Unterschiede im Ansatz beobachtet, was die Grenzen der Zulässigkeit hinsichtlich der Schwere der Zwangsmaßnahmen des Strafrechtssystems aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Konzeption jeder Zivilisation angeht. Ein Beispiel dafür finden wir in der schwierigen Akzeptanz der Freiheitsstrafe in der indianischen Idiosynkrasie und in der Ablehnung körperlicher Sanktionen in der westlichen Idiosynkrasie.6 Damit kommt die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser Zwangsmaßnahmen der verschiedenen Strafrechtssysteme ausgehend von dem unterschiedlichen kulturellen Hintergrund auf. Dies soll der Ausgangspunkt sein, auf den sich der methodische Zweifel gründet, welcher uns zum abschließenden Fundament jedes Strafrechts führen soll. Dem Referenzmodell des Gewohnheitsrechts der Ureinwohner folgend wurde festgestellt, dass körperliche Strafen (zum Beispiel Peitschenhiebe) in vielen Ureinwohnervölkern, die ihr eigenes Recht aufrechterhalten, gemeinhin akzeptiert werden. Davon ausgehend muss folgende Frage beant5

In diesem Sinne Borja Jiménez Globalización y concepciones del Derecho Penal, 2010, S. 141. 6 Das kolumbianische Verfassungsgericht (KVerfG) hat sich relativ häufig in diesem Sinne geäußert, so KVerGE T-1294/05; T-549/07.

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wortet werden: Wie verhält sich dies zum universellen Konzept der Menschenrechte? Bestimmt vielleicht die Tatsache, Ureinwohner zu sein, ein anderes Kulturgut zu besitzen, eine andere Weltsicht, eine andere Form der individuellen und sozialen Existenz, dass der Schutz der Grundrechte auf eine unüberwindliche Grenze stößt? In diesem Zusammenhang muss man verschiedene Erwägungen einbeziehen.

B. Das Spannungsfeld zwischen Prinzipien Von diesem Standpunkt und vom Ansatz der Legitimität her, welche das Zusammenleben von allen Kulturen und Zivilisationen mit dem Bestreben rationalisiert, Gewalt so weit wie möglich zu vermindern, kann die Frage ausgehend von einem Konflikt zwischen dem Prinzip der Achtung der kulturellen Verschiedenheiten und dem obligatorischen Schutz der universell anerkannten Menschenrechte formuliert werden. Wir finden in der Tat in einigen Fällen einen Konflikt zwischen dem Prinzip der ethnischen und kulturellen Vielfalt vor, welche die öffentliche Gewalt verpflichtet, das Recht zum Anderssein und zum Erhalt der eigenen Idiosynkrasie der betreffenden Gruppe von Menschen zu schützen, und dem Prinzip der Achtung der Grundrechte für dasselbe Mitglied dieser Gruppe von Menschen (Ureinwohner, Muslim, Asiat, Hindu etc.), welches vom Staat den entsprechenden Schutz beansprucht. Das kolumbianische Verfassungsgericht hat sich zu diesem Spannungsfeld zwischen beiden Prinzipien mit großem Fingerspitzengefühl geäußert.7 Hinsichtlich des Prinzips der ethnischen und kulturellen Vielfalt soll wiederum auf die großartige wissenschaftliche Qualität des kolumbianischen Verfassungsgerichts zurückgegriffen werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Existenz dieses Prinzips die Anerkennung der Gruppen von Menschen innerhalb eines Staates oder der Völker der Staaten, welche die internationale Gemeinschaft bilden, voraussetzt. Damit soll die Kontrolle ihrer eigenen Institutionen und Lebensformen respektiert werden, genauso wie ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung, und dabei sollen ihre Identitäten, Sprachen und Religionen aufrechterhalten und gestärkt werden. 8 Das Prinzip der kulturellen Vielfalt achtet daher die vielfältigen Lebensformen und Systeme der Weltverständnisse, welche sich von denen der westlichen Kultur unterscheiden.9 Dies erlaubt den menschlichen Gemeinschaften und den Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, ihre Identität auf der 7

KVerGE C-139/96; T-349/96; T-496/96; SU-510/98. KVerGE T-603/05. 9 KVerGE SU-510/98; C-104/95; T-380/93. 8

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Grundlage ihrer spezifischen Unterschiede und konkreten ethnischen und kulturellen Werte zu definieren.10 Obwohl die Auslegung des kolumbianischen Verfassungsgerichts auf die Probleme der Rechtsprechungsautonomie der Ureinwohner in Strafsachen und deren Grenzen in Kolumbien zugeschnitten war, denke ich, dass ihre Gültigkeit global auf den interkulturellen Bereich und speziell auf den Bereich des Strafrechts anwendbar ist. Daher muss sich die Definition des Prinzips der kulturellen Vielfalt der dargelegten Argumentation entsprechend auf das Umfeld des Strafrechts beschränken. In der Kollisionslage muss dieses Prinzip im Verhältnis zum Prinzip der Achtung der Geltung der Menschenrechte zum Ausgleich gebracht werden. Bei diesem Axiom muss man berücksichtigen, dass sich die Werteordnung der westlichen Kultur in einem Gleichberechtigungsverhältnis zu den Werteordnungen anderer Kulturen und Zivilisationen hinsichtlich Bewertung und Legitimität befindet. Die Grenze in der Ausübung des ius puniendi, welches dem jeweiligen Strafrechtssystem zusteht, muss für jede Kultur die Achtung und der Schutz der Menschenrechte sein. Von dort ausgehend ist dann im zweiten Schritt festzulegen, bis wohin die Intensität des Eingriffs durch die Gesamtheit der Zwangsmaßnahmen, Sanktionen oder vorläufigen Maßnahmen des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts reichen kann. In diesem Sinne ist an die drei Voraussetzungen zu erinnern, von denen das interkulturelle Konzept des Strafrechts ausgeht. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die philosophische Idee der Menschenrechte nicht mehr mit deren konkretem und festgeschriebenem Katalog übereinstimmt. Zweitens ist zu beachten, dass die Theorie der Menschenrechte als Hauptzweck verfolgt, einen universellen Kern, bestehend aus Elementen der verschiedenen Kulturen, zu schaffen, in welchem jede Zivilisation sich selbst wieder- und die anderen anerkennen kann. Und drittens soll wiederholt werden, so wie in den vorhergehenden Absätzen aufgezeigt wurde, dass das Gut der Menschenrechte kein exklusives Gut der westlichen Zivilisation ist, sondern dass alle Kulturen das Recht haben, sich in ihrem Abbild widerzuspiegeln und sie zu integrieren sowie sich ihren Anforderungen gemäß mittels der entsprechenden Lern- und Transformationsprozesse zu entwickeln.11

10

KVerGE SU-510/98; T-496/96. Höffe Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, 1999, S. 79; Ashworth FS Eser, 2005, 49; Merle Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde. Eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus, 2007; Tomuschat Human rights: Between idealism and realism, 2003, S. 58. 11

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C. Der Konsens über den Schutz der Menschenrechte Es ist also möglich, einen Minimalkonsens über die Notwendigkeit der Geltung der Menschenrechte in jeder Kultur und Tradition zu finden, auch wenn dieser Minimalkonsens sich auf einen engen Bereich mit verschiedenen Auslegungen konzentriert. Diesbezüglich ist erläutert worden, dass auch Kulturen wie die indische, japanische oder indianische diesen Konsens unter Berücksichtigung von zwei Voraussetzungen akzeptieren. Die erste Voraussetzung gründet sich darauf, dass jedes Recht eine korrespondierende Pflicht mit sich bringt. Die Menschenrechte bilden darin keine Ausnahme. Die zweite Voraussetzung, die hier hervorgehoben wird, erfordert die notwendige Auslegung der individuellen Freiheitsrechte innerhalb eines eher kollektiven und sozialen Schwerpunkts, der eine überindividuelle Dimension enthält, welche sich von der in der westlichen Kultur zugrunde gelegten unterscheidet. Wenn wir diese Voraussetzungen berücksichtigen (Koexistenz verschiedener Kulturen in einem Gleichberechtigungsverhältnis, Minimalkonsens über die universelle Geltung bestimmter Menschenrechte, Achtung deren unterschiedlicher Auslegung je nach Sichtweise der jeweiligen Kultur), können wir vorläufig eine vermittelnde Lösung für den dargelegten Konflikt umreißen. So ist für die Notwendigkeit einzutreten, einen Austauschprozess in Gang zu setzen, der zu einem Konsens über die zu verallgemeinernden materiellen Normen führen soll. Dabei sollten die Wertvorstellungen aller Kulturen mit einbezogen werden. Es ist daher notwendig, dass einige minimale Bedingungen gegeben sind, welche den Dialog mit dem Ziel stärken, einen Konsens zwischen dem Universalen und dem Speziellen zu erreichen (und damit zwischen der westlichen Weltsicht und anderen Weltsichten, wie der indianischen, islamischen, orientalischen usw.).12 Es ist offensichtlich, dass die Vielfalt der Lebensformen, Weltsichten, Bedürfnisse und Interessen der verschiedenen Zivilisationen sowohl den Dialog als auch den interkulturellen Konsens erschwert. Dennoch wurde mit Recht argumentiert, dass es einfacher ist, dass sich die Menschheit über das zu Verbietende einigt, über solches Verhalten, was abzulehnen, zu verbieten und zu bestrafen ist (was begrenzt ist), als über solche Verhaltensweisen, die als wertvoll oder wenigstens als akzeptabel angesehen werden (was unendlich viele sind). Wenn wir dies auf den Bereich der Grundrechte einschränken, müssen wir auch den Gedanken annehmen, dass ein Grundrechtsverständnis, das sich auf die Beschränkung und Begrenzung staatlichen Handelns bezieht, größere Möglichkeiten der universellen Anerken12 Apel Anderssein, ein Menschenrecht? Über die Vereinbarkeit universaler Normen mit kultureller und ethnischer Vielfalt, 1995, S. 17; KVerGE T-349/96; T-523/97; SU-510/98; C-370/02; C-127/03; T-549/07.

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nung birgt als ein weiteres Konzept, welches die Grundrechte unterschiedslos als Teil der öffentlichen Ordnung jedes Staates und jeder Gesellschaft ansieht.13 Daraus ist zu folgern, dass das Strafrecht sich als eine soziokulturelle Gemeinsamkeit charakterisieren lässt, da es die Fälle der schwerwiegendsten negativen Erfahrungen von Missachtung der Menschenrechte behandelt. Und so bestätigt sich wiederum, dass es leichter ist, einen Konsens über das zu finden, was nicht sein soll, als zu einem Konsens über das zu gelangen, was sein soll.14 Von hier aus ist das nächste zu überwindende Hindernis, diesen Minimalkatalog an Rechten und Freiheiten festzulegen, die jedem Menschen zuzuerkennen sind, unabhängig von dem normativen und kulturellen System, in dem er sich befindet. Dazu ist zunächst festzustellen, dass jedes System des Zusammenlebens den Menschen als moralischen Akteur auffasst. Davon leitet sich als eine der grundlegenden Forderungen des interkulturellen Konsenses die Achtung des Prinzips der Selbstbestimmung ab, der Autonomie des Einzelnen oder, mit anderen Worten ausgedrückt, das Prinzip der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Hiervon wiederum leiten sich einige Rechte ab, die eng mit diesem universell anerkannten Prinzip verbunden sind. Diese Rechte sind das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlung und Vereinigung und auf Sicherheit. 15 Dies alles muss durch die Achtung von „stärkeren“ Pflichten ergänzt werden, welche einige nicht-westliche Kulturen (wie die der Ureinwohner) ihren Mitgliedern auferlegen, wie etwa Gemeinschaftspflichten zur Kooperation, Solidarität und Gemeinschaftsarbeit.

D. Der unantastbare Kern der Grundrechte, die von jedem Strafrechtssystem betroffen sind Es ist nun darauf hinzuweisen, dass dieser Minimalkatalog von Rechten, welcher jedem Menschen, unabhängig von dem normativen und kulturellen System, in dem er sich befindet, zusteht und der auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlung und auf Vereinigung sowie auf Sicherheit beschränkt ist, vom Staat im Verhältnis zum Bürger gewährleistet werden muss. Allerdings werden diese Rechte stärker eingeschränkt, sobald sich der Einzelne im Strafrechtssystem befindet. 13

Tomuschat (Fn. 11) S. 82. Hassemer in: Höffe (Fn. 11) S. 172. 15 Tomuschat (Fn. 11) S. 81. 14

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Unter Einbezug all dieser Voraussetzungen können wir nun zur Beantwortung der grundlegenden Frage übergehen: Welche sind die Güter und Rechte, die keine Strafrechtsordnung, nicht einmal unter Berufung auf ihre kulturelle Verschiedenheit, eigene Idiosynkrasie oder Tradition bei der Definition strafbarer Handlungen und bei der Festlegung der entsprechenden Strafen missachten darf? Innerhalb der Europäischen Union hat sich sowohl durch die eigenen Verträge und Abkommen, als auch die extern von der Organisation unterzeichneten, genauso wie durch das Verfassungssystem, welches sich aus den Verfassungsnormen der Mitgliedsstaaten ergibt, ein unantastbarer Kern von Grundrechten entwickelt. Daraus ergeben sich einige gemeinsame Grundsätze, welche bei der Schaffung von Tatbeständen und der Festlegung von Strafen im jeweiligen Strafrechtssystem zwingend einzuhalten sind.16 Damit ist die Achtung der grundlegenden Prinzipien im Zusammenhang mit den Menschenrechten gemeint, so wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Verbot der Todesstrafe oder das Verbot von grausamer und unmenschlicher Behandlung sowie das Folterverbot. Jedoch sind diese gemeinsamen Grundsätze, die eine gewisse Universalisierungstendenz besitzen, nur im spezifischen Bereich der westlichen Kultur gültig. Es geht mir nun darum, einen Bereich darzustellen, in dem der Konflikt zwischen der Rechtsprechungsautonomie, die jedem Strafrechtssystem zusteht, und dem Eingriff in die Menschenrechte aufgeworfen wird. Dieser Bereich wird von dem hier vorgestellten Referenzmodell innerhalb des Strafrechtssystems der Gemeinschaften von Ureinwohnern Lateinamerikas erfasst. So hat das kolumbianische Verfassungsgericht konkret den Rahmen des Verbotenen innerhalb der Rechtsprechungstätigkeit in der Zuständigkeit der Ureinwohner eingeschränkt. Das bedeutet, dass in der letzten Instanz die Rechtmäßigkeit jeder strafrechtlichen Maßnahme (ob prozessual oder materiell), die im Strafrecht der Ureinwohner verwendet wird, in Frage gestellt wird, soweit diese in die universell anerkannten Individualrechte eingreifen. Jedoch können die Ergebnisse, der in dieser Arbeit zugrunde gelegten komparativen Methode folgend, problemlos übertragen werden und in Erwägung gezogen werden, um die Grenzen des Anerkannten in jedem Strafrechtssystem zu bestimmen.17 Somit enthielte der Kern unantastbarer Rechte, der nach dem Urteil des genannten Gerichts universell anzuerkennen ist, vor allem das Recht auf Leben, das Verbot der Sklaverei und das Folterverbot. Um dies zu begründen, wird auf zwei schwerwiegende Beweggründe zurückgegriffen. Zuerst 16 17

Nuotio FS Jung, 2007, 890; Dannecker ZStW 117 (2005), 697. KVerGE T-523/97.

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wird auf den Umstand hingewiesen, dass nur bezüglich dieser Rechte die Existenz eines echten interkulturellen Konsenses vorstellbar ist. Zweitens wird die Feststellung hinzugezogen, dass diese Rechte sich innerhalb des unantastbaren Kerns von Rechten befinden, die alle völkerrechtlichen Verträge über Menschenrechte anerkennen. Es handelt sich um Rechte, die niemals abbedungen werden können, nicht einmal in Situationen bewaffneter Konflikte.18 Obwohl ich mit diesem Katalog unantastbarer Rechte einverstanden bin, müssten nach meiner persönlichen Auffassung die Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit hinzugefügt werden. Letzteres ist als das Verbot der Entpersonalisierung des Subjekts in bestimmten Situationen der Freiheitsberaubung zu verstehen. Hinsichtlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit steht fest, dass in anderen Kulturen, die sich von der westlichen unterscheiden, ein gewisser physischer Eingriff durch Bestrafungen, die aus uralter Tradition stammen, anerkannt ist. Obwohl dies von den jüdisch-christlichen Moralvorstellungen abgelehnt wird, sehen die aus Lateinamerika stammenden Ethnien aus denselben Gründen die Freiheitsstrafe in ihren entsprechenden Rechtssystemen nicht vor. Die körperliche Bestrafung muss in Weltsichten, welche sich von der westlichen unterscheiden, anerkannt werden, solange sie bei der von der Strafe betroffenen Person weder physisch noch psychologisch bleibende Spuren hinterlässt. Die Intensität der körperlichen Strafe darf daher keine bleibenden Narben beim Verurteilten bewirken, und nach der Strafanwendung muss dieser immer die Möglichkeit haben, eine ähnliche körperliche Verfassung wiederzuerlangen, wie er sie vor der Ausführung der Strafe besaß. Dieselbe Argumentation kann für andere Strafen gelten, welche nach dem Weltbild der Ureinwohner von besonderer symbolischer und ritueller Bedeutung sind, wie das Bad in kaltem Wasser oder die Brennnesselstrafe.19 Einige andere Praktiken, wie das Abschneiden der Ohren von Frauen, die Ehebruch begangen haben, nach einem ursprünglichen Recht der Indianer, oder die Beschneidung der Klitoris bei Mädchen in bestimmten islamischfundamentalistischen Traditionen, können allerdings nach keiner Auslegung der Menschenrechte akzeptiert werden. Abgesehen davon, dass diese Traditionen unter die Definition der grausamen und unmenschlichen Behandlung fallen, würden sie auch das vorgenannte Elastizitätsprinzip verletzen. Nach diesem Grundsatz darf keine rechtliche Institution derart negativ auf einen Menschen einwirken, dass nach dieser Einwirkung der Betroffene seine vorher bestehende physische Gestalt und psychische Konstitution nicht wiedererlangen kann. 18 19

KVerGE T-349/96. Borja Jiménez Introducción a los fundamentos del Derecho Penal indígena, 2001, S. 154.

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Demgemäß verletzt die Anerkennung bestimmter begrenzter Formen körperlicher Strafen nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit, und zwar immer dann, wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, den ursprünglichen physischen Zustand wiederzuerlangen. Ich denke, dass so gesehen dieses Recht auch dem wesentlichen Kern der Grundrechte entsprechen dürfte, der von keinem Strafrechtssystem unter Berufung auf die Rechtfertigung durch uralte juristische Praktiken oder Traditionen missachtet werden darf. Aus denselben Gründen muss jedoch auch das Recht auf geistige Unversehrtheit mit einbezogen werden. Das Elastizitätsprinzip spielt auch hier in der Weise eine Rolle, dass solche Strafmaßnahmen nicht zulässig sind, die derart in die psychische Konstitution oder in jedweden anderen spirituellen Zustand des Menschen eingreifen, dass dieser seine Identität, sein persönliches Ich und solche spirituelle Eigenschaften, die mit dem Selbstbild zusammenhängen und spezifisch und einzigartig sind, also den Betroffenen als genau diesen Menschen charakterisieren, nicht wiedererlangen kann. Offenbar wird das Recht auf geistige Unversehrtheit implizit geschützt, wenn in jedem Rechtssystem die Folter oder die grausame und unmenschliche Behandlung verboten werden. Da aber dieses Recht nicht ausdrücklich geschützt wird, bleiben andere Fälle ausgeschlossen. Insbesondere findet sich hier ein Fall, auf den ich mich im Folgenden beziehen werde. Ich habe darauf hingewiesen, dass genauso, wie uns in der westlichen Welt körperliche Strafen abstoßen, die Wertvorstellung der Ureinwohner Freiheitsstrafen ablehnt. Dennoch ist in der westlichen Welt nach wie vor die Gefängnisstrafe die relevanteste. Denn das Recht auf geistige Unversehrtheit würde aus Sicht des Elastizitätsprinzips bestimmen, dass Freiheitsstrafen nur insoweit zulässig sind, als sie nicht das Subjekt entpersonalisieren, und dass ihre Dauer und Form der Ausführung nicht so drastisch sein darf, dass der Verurteilte nach Verbüßung der Strafe seine Identität oder Persönlichkeit verändert hat oder er unwiderrufliche psychologische oder psychische Störungen erleidet. Daraus folgt, dass auch über die Idee der Menschlichkeit der Strafe verschiedene Bewertungen in der einen oder anderen Kultur vorgefunden werden können. Nach diesen Ausführungen kann bereits eine erste Kernstruktur der Menschenrechte aufgezeigt werden, die in jedem Strafrechtssystem anerkannt werden muss und die aus dem Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit, dem Verbot der Sklaverei und dem Folterverbot besteht. Diesen unantastbaren Rechten ist die Rechtmäßigkeit des Verfahrens hinzuzufügen, die sich aus den verschiedenen Grundrechten zusammensetzt, welche sich aus dem Fair-Trial-Grundsatz ergeben. Weiterhin ist die Rechtmäßigkeit der Straftatbestände und der Strafen hinzuzufügen.20 20

KVerGE T-349/96; T-523/97; SU-510/98; T-266/99; C-127/03; T-549/07.

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Für die Rechtmäßigkeit des Verfahrens ergibt sich eine Rechtfertigung aus Gründen verfassungsrechtlicher Art. Hinsichtlich der Straftatbestände und Strafen ergibt sie sich aus der Rechtssicherheit. Beide, Fair-TrialGrundsatz und die Rechtmäßigkeit der Straftatbestände und Strafen, bilden auch eine objektiv logische Struktur, deren Notwendigkeit in jedem Strafrechtssystem vorgesehen sein sollte, auch wenn ihre Gestaltung nicht notwendigerweise strikt unter Befolgung der Grundsätze des Rechts der westlichen Staaten oder des Rechts der Ureinwohner stattfinden muss.21 Deshalb muss die umgesetzte Formulierung von Kategorien, Grundsätzen und Instituten als rechtmäßig angesehen werden (unter Berücksichtigung ihrer rechtlichen Tradition oder idiosynkratischen Kultur), solange die betreffende Strafrechtsordnung ein Minimum an Anerkennung und Schutz der Menschenrechte einhält.22

E. Das abschließende Fundament in jedem Strafrechtssystem Die verschiedenen Rechtstraditionen (die sich unter anderem aufgrund der wirtschaftlichen Globalisierungsprozesse immer mehr aneinander annähern) bringen unterschiedliche Strafrechtssysteme mit Bestandteilen, welche ihrer Weltsicht, Kultur und Zivilisation eigen sind, und solchen, die alle gemeinsam haben, hervor. Dementsprechend wurde von der Ebene der Wirklichkeit jeder Strafrechtsordnung ausgehend die Ebene der Rechtmäßigkeit der Definition von Straftatbeständen, Strafen und anderen materiellen und prozessualen Zwangsmaßnahmen entwickelt. Der Kern des Minimalstrafrechts (minimal, da es jeder Gemeinschaft oder jedem Staat gemeinsam ist) entwickelt sich ebenfalls von didaktischen Erwägungen hinsichtlich der Konzepte und Kategorien zum universellen Verständnis der Menschenrechte weiter. Deshalb sollen die bestehenden Schwierigkeiten aufgrund der Unterschiede zwischen den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und dem Vorrang des Präzedenzfalls im Common Law in den angelsächsischen Rechtsordnungen gewürdigt werden, wenn versucht wird, das Gemeinsame in den Grundsätzen herauszuarbeiten. In diesem Bereich stößt man ebenfalls auf Hindernisse bei der Definition der Funktion des Strafrechts als Schutz von Rechtsgütern (so das mehrheitliche Konzept in der kontinentalen Tradition) oder bestimmt durch das harm principle (in der angelsächsischen Tradition). Im Deliktsaufbau besteht in Kontinentaleuropa größtenteils Einstimmigkeit in dem Verständnis, dass dieser sich aus den Merkmalen 21 22

KVerGE T-523/97. Borja Jiménez (Fn. 19) S. 183.

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menschlichen Verhaltens, nämlich Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld zusammensetzt. In Frankreich andererseits wird der Deliktsaufbau nach objektiven und subjektiven gesetzlichen Elementen definiert und in England nach den Bestandteilen des actus reus und mens rea. Wenn man aber weniger die technisch-dogmatischen Aspekte und mehr die philosophischen und verfassungsrechtlichen vertiefend betrachtet, treten allgemeinere Grundlagen wie die Menschenwürde, die Rechtssicherheit, das Sozialschädlichkeitsprinzip, das Schuldprinzip, das Prinzip ne bis in idem, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Strafen oder andere Prinzipien prozessualer Art wie die Unschuldsvermutung oder das Recht auf Verteidigung hervor. Im Grunde liegt die Ursache der wünschenswerten zunehmenden Annäherung, welche die verschiedenen Institute des Strafrechts der unterschiedlichen Rechtstraditionen in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, in der Einbeziehung des Menschen, seiner Rechte und seiner Willensfreiheit (und ihrer Grenzen) durch Beiträge jeder Kultur und Zivilisation. Die Grundlage jeden Strafrechtssystems liegt daher im Menschenbild, in der Idee vom Subjekt, vom Individuum oder von der Person, die allen Traditionen, Kulturen oder Zivilisationen gemeinsam sind.23 Somit muss das Konzept der Person (als Begriff hier im weitesten Sinne zu verstehen), welches sich vom eigentlichen Strafrechtssystem lösen kann, eingegrenzt werden. Von diesem Ausgangspunkt aus kann dann die konkrete Rechtfertigung aller Bestandteile des Strafrechts, die hier in diesem Aufsatz aufgeführt wurden, überprüft werden. Dabei ist noch eine weitere, nicht weniger relevante Idee zu berücksichtigen, nämlich dass das Strafrecht vor allem eine Rechtsordnung ist, die dem Schutz der Menschenrechte dient. Denn die universelle Natur der Menschenrechte ist mit einem in gleicher Weise universellen Verständnis vom Menschen verbunden. Es ist auch versucht worden, diese Verbindung zwischen Menschenrechten und der Natur des Menschen über die Idee des Interesses und das Reziprozitätsprinzip herzustellen. Die jeder Kultur gemeinsamen und verallgemeinerbaren Interessen bestimmen ein Konzept vom Menschen. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Gesamttheorie über das Konzept vom Menschen und die Rechte, welche dieses mit sich bringt. 24 Deshalb besteht die Aufgabe darin, eine allgemeine Definition für die Bedeutung des Ausdrucks Mensch (oder anderer dafür verwendeter Synonyme) im Rahmen des Strafrechtssystems zu finden. Das Recht als Gesamtheit von Normen (mit Verbindlichkeitscharakter unabhängig vom Willen der Adressaten), welche das soziale Zusammen23 Silva Sánchez La expansión del Derecho Penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades occidentales, 2001, S. 92. 24 Höffe (Fn. 11) S. 51.

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leben regeln, ist ein Produkt des Menschen, das zum Zwecke der Lösung menschlicher Konflikte geschaffen wurde. Der Bezug auf das Menschliche beschränkt sich auf ein weites Konzept, welches unterschiedslos die Definitionen von Vokabeln wie Mensch, Subjekt, Individuum oder Person einbezieht. Obwohl ich diese Worte, wie bereits gesagt, als Synonyme verwende, muss jedes einzelne, insbesondere das erste und das letzte, da diese am meisten verwendet werden, kurz erläutert werden. Die Konzepte Mensch und Person heben zwei differenzierte Aspekte derselben Realität hervor.25 Wenn auf ersteres Bezug genommen wird, wird die Tatsache betont, dass es sich um ein existierendes Lebewesen handelt, um einen Organismus, der die Art der Menschen innerhalb der Primaten repräsentiert. Letztendlich handelt es sich um eine psychisch-biologische Einheit. Das bedeutet, dass die Kategorie Mensch gerade eine Einheit aller biologischen Merkmale darstellt, welche die Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet.26 Die Kategorie Person berücksichtigt die des Menschen, betrachtet sie jedoch von einem bestimmten sozialen Standpunkt aus hinsichtlich des Umgangs mit anderen und hinsichtlich der Möglichkeit, Handlungen zu erzeugen, die Gegenstand der Regulierung durch Normen sind, welche für die Subjekte bestimmte Befugnisse und Pflichten begründen.27 Obwohl das Konzept Person das Konzept Mensch als Organismus und psychisch-biologische Natureinheit umfasst, zieht das Gewicht der Definition von Person die Bedeutung des Subjekts als ethisches Phänomen, welches das Zentrum und die Einheitlichkeit der intendierten Handlungen im Umgang mit den anderen bildet, nach sich. Im juristischen Sinne ist daher Person, wer Träger von Rechten und Pflichten ist.28 Im weiteren Sinne werden die Merkmale Identität, Selbstbewusstsein und Voraussicht in der Weise hervorgehoben, dass als Person angesehen wird, wer über die Weiterentwicklung von Raum und Zeit eine Identität innerhalb des Selbstbewusstseins entwickelt und sich so eine Vorstellung von seiner eigenen Zukunft macht. 29 Daher kann man sagen, dass der Mensch als Wesen der Welt der biologischen Organismen entstammt und zu einer Person in der sozialen Welt der Handlungen und Normen, der Kommunikationen und anderen Umgangsformen wird.30

25

Amelung/Lorenz FS Otto, 2007, 527. Günther in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 19. 27 Seelmann FS Jakobs, 2007, 635. 28 Schischkoff Philosophisches Wörterbuch, 1991, S. 549; Jakobs ZStW 117 (2005), 266. 29 Kawaguchi FS Eser, 2005, 144. 30 Amelung/Lorenz FS Otto, 2007, 528. 26

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Zwischen den Konzepten Mensch und Person befinden sich das Konzept Subjekt, welches das Selbstbewusstsein betont, und das Konzept Individuum, welches die Einzigartigkeit und den einmaligen Charakter des konkreten Wesens hervorhebt, obwohl sich alle diese Definitionen letztlich in einer weiten Definition der Person oder des Menschen zusammenfügen.31 Von dieser Konzeptualisierung ausgehend wird der nächste methodische Schritt darin bestehen, von diesen Definitionen die Farbpalette des Minimums an unantastbaren und unverletzlichen Menschenrechten für jedes Strafrechtssystem unabhängig von der Tradition, Kultur oder Zivilisation, auf der es aufbaut, abzuleiten. Im Allgemeinen ist darauf hinzuweisen, dass angesichts der Existenz einer gemeinsamen Idee der Person jede Rechtsordnung deren wesentliche Attribute anerkennen muss, so dass kein der Person eigener menschlicher Aspekt entstellt werden darf. Davon leitet sich das so genannte Elastizitätsprinzip ab, nach welchem jedes Zwangsmittel und jede Strafmaßnahme, die das Strafrecht vorsieht, in einige wesentliche Aspekte, aus denen sich der Mensch (in seiner geistigen Unversehrtheit, seiner Ehre, seiner Freiheit, seinem Eigentum oder auch seiner körperlichen Unversehrtheit) zusammensetzt, eingreifen können. Dies darf aber nicht bedeuten, dass, sobald die Anwendung der Maßnahme endet, dieser wesentliche Aspekt des Individuums nicht wiedererlangt werden kann. Im Gegenteil muss das Subjekt, sobald die vorübergehende Zeit der Ausführung der Sanktion abgelaufen ist, in der Lage sein, auch wenn diese hypothetisch oder potenziell zu verstehen ist, sein Abbild als Mensch in den grundlegenden Zügen, die ihn als Person definieren, wiederzuerlangen. Es wurde dargelegt, dass die Idee des Menschen eng mit dem Aspekt des lebenden Organismus und des Naturwesens verbunden ist. 32 Von dieser „materiellen“ Idee der Person, welche für jede Kultur oder Zivilisation gültig ist, ist sogleich das Recht auf Leben oder auf körperliche Unversehrtheit abzuleiten. Dies bedingt, dass in jeder Strafrechtsordnung Sanktionen wie die Todesstrafe oder körperliche Strafen, welche die Abtrennung von Gliedern oder Organen einschließen, abgelehnt werden müssen. Es dürfen jedoch solche Sanktionen zugelassen werden, welche auf den Körper zugreifen, welche dieser aber nach der Ausführung heil übersteht (zum Beispiel Haareabschneiden oder andere auf den Körper des Subjekts angewandte Strafmaßnahmen, die symbolischen Charakter haben und die Regeneration oder Wiederherstellung ermöglichen, wie die Brennnesselstrafe, das Bad in kaltem Wasser etc.). 31

Günther (Fn. 26) S. 23. Höffe (Fn. 11) S. 51; Burkhardt FS Eser, 2005, 79; Kawaguchi FS Eser, 2005, 145; Amelung/Lorenz FS Otto, 2007, 529; Günther (Fn. 26) S. 19. 32

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Die Definition des Menschen nach der Kategorie Person hebt auch das Merkmal des Subjekts intendierter, auf andere einwirkender Handlungen hervor. Die Einwirkung der Handlung des Subjekts bestimmt, insoweit sie einer Regel folgt, die Anerkennung durch andere, die Respektierung als Mitglied derselben Art und den Ursprung der Rechte und Pflichten, die sich aus seinem Verhalten ergeben. Aus dieser Aussage leiten wir das Merkmal des ethischen und moralischen Subjekts mit einem Verhalten gegenüber seinen Artgenossen her.33 Und hiervon dürfte sich in grundlegender Weise das Recht auf geistige Unversehrtheit ableiten lassen. Wenn wir das Intendierte an der menschlichen Handlung wegnehmen oder die Beziehung zwischen der Identität des Individuums oder seinem Selbstbewusstsein und der Welt die es umgibt, lösen, löschen wir die eigentliche Essenz der Person. Diese Aspekte müssen notwendigerweise auch gegenüber den Bestrafungsund Zwangsmaßnahmen eines jeden Rechtssystems geschützt werden. Das Verbot der Missachtung der geistigen Unversehrtheit beinhaltet in gleicher Weise, dass für jedes Strafrechtssystem die Anwendung von Folter sowie von unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen verboten ist. Wenn man den Menschen als denkendes und sprechendes Wesen definiert, so bestimmt sicherlich die unterschiedliche Struktur der Sprache in der einen oder anderen Kultur eine unterschiedliche Denkweise und vor allem eine unterschiedliche Weltsicht. In diesem Sinne unterscheiden sich die Weltsichten je nach Zivilisation.34 So wie aber die Menschen als Personen und soziale Wesen diese unterschiedlichen Weltsichten erschaffen, so bestimmt dies die Notwendigkeit des Schutzes des Menschlichen vor schwerwiegenden Angriffen. Sicherlich haben wir gesehen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, wobei die Geselligkeit eine seiner wesentlichen Eigenschaften ist. Hiervon würde ich den Aspekt der von den anderen verlangten notwendigen Achtung des Individuums ableiten, welcher sich in der Menschenwürde konkretisiert. Dies schließt unter anderem auch die Ablehnung von Gewalt und das Willkürverbot mit ein.35 Hiervon würde man auch den Verzicht jeder strafbefugten Gewalt auf die Anwendung von willkürlicher Gewalt und Zwang ableiten. Die Lösung von Konflikten muss daher, um diesem menschlichen Wesensgehalt gerecht zu werden, in rationalen Bahnen verlaufen, was innerhalb des Strafrechtssystems die Form des so genannten Fair Trial annimmt. Das Minimum dieses Fair Trial findet sich in den prozessualen Grundrechten wieder: unter anderem in dem Recht auf Verteidigung, in der Unschuldsvermutung, dem Recht auf Waffengleichheit und der Unabhängigkeit des Richters. 33

Stratenwerth Das Strafrecht in der Krise der Industriegesellschaft, 1993, S. 15. Höffe (Fn. 11) S. 52. 35 Höffe (Fn. 11) S. 53. 34

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Ein anderer herauszustellender Aspekt der Menschen ist eng mit der Freiheit verbunden. Sicherlich ist es schwierig, sowohl die Existenz als auch die Nichtexistenz dieser menschlichen Freiheit zu beweisen. Jedoch erscheint es zulässig, dass jede Rechtsordnung von der Voraussetzung ausgeht, dass ihre Subjekte das Bewusstsein besitzen, frei zu handeln. Wie von Burkhardt36 gezeigt, stellt das Bewusstsein der Freiheit einen grundlegenden Teil der gemeinsamen Erfahrung des Menschen dar und sowohl die Rechtsordnung als auch die Ethik gründen ihr Fundament auf dem Grundstein dieses Bewusstseins der Freiheit. Daher ist die soziale Relevanz dieser Erfahrung der Freiheit insofern nicht zu verleugnen, als die Mehrheit der Menschen in dem Bewusstsein handelt, dass ihre Handlungen sich ihrem persönlichen und verantwortlichen Willen unterwerfen. Auch aus Sicht der Sprachstruktur kann man zu demselben Ergebnis gelangen, das heißt, zu der Idee vom Menschen mit dem Bewusstsein, über Freiheit in der Entwicklung seiner Existenz zu verfügen.37 Wenn das Rechtssystem und natürlich auch das Strafrechtssystem die Person als Subjekt wahrnimmt, welches zumindest glaubt, seine Existenz in Freiheit zu entwickeln, so muss man berücksichtigen, dass jede Rechtsordnung das soziale Leben ausgehend von der Idee regeln muss, dass die Einzelnen und die Gruppen von Menschen fähig sind, die Zukunft vorherzusehen. Die Möglichkeit, mental diese Zukunft anzunehmen und die eigene Existenz nach dieser Aussicht auszurichten, ist zweifellos eine menschliche Eigenschaft, welche von jedem Rechtssystem zu achten ist. Damit also die Individuen ihr Leben in menschlicher Weise einrichten können, müssen ihnen die Gesetze, denen sie unterworfen sind, die so genannte Rechtssicherheit bieten. Die Konkretisierung der Rechtssicherheit im Rahmen des Strafrechts wird vom kolumbianischen Verfassungsgericht als die Rechtmäßigkeit der Straftatbestände und Strafen bezeichnet.38 Dies setzt nicht so sehr voraus, dass in jeder Strafrechtsordnung das Legalitätsprinzip vorherrscht, sondern dass gewährleistet wird, dass die allen bekannte Strafnorm die Rechtsfolgen der Straftat vor der Verurteilung des strafbaren Verhaltens des Subjekts ankündigt, ob dies durch Gesetz, durch Präzedenzfall oder durch Gewohnheitsrecht geschehe. Deshalb muss jedes Strafrechtssystem, welches als menschlich bezeichnet werden will, die Rechtssicherheit für den Bürger in der Weise sicherstellen, 36

Burkhardt FS Eser, 2005, 98. Vives Antón Fundamentos del sistema penal, 1996, S. 214. 38 Das kolumbianische Verfassungsgericht hat die Notwendigkeit festgelegt, dass auch in der strafrechtlichen Gerichtsbarkeit der Ureinwohner die Anforderung der Rechtmäßigkeit der Straftatbestände und Strafen gilt. Rechtmäßigkeit bedeutet in diesem Fall, wie es nicht anders sein kann, die Existenz der Norm vor der strafbaren Handlung und die Möglichkeit der Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen durch das Subjekt, vgl. KVerGE T-349/96. 37

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dass die Strafe nur auferlegt werden kann, wenn die Rechtsnorm auf die eine oder andere Weise ausdrücklich ermöglicht, dass das Subjekt vor seinem Verhalten die schädlichen Konsequenzen vorhersehen konnte, welche die Ausführung nach sich ziehen könnte. Ebenfalls unter Berücksichtigung der genannten Merkmale der Menschenwürde und des Bewusstseins von der Freiheit als substantielle Ideen von der Person kommt man zu einem weiteren Ergebnis, welches bereits angekündigt worden ist. Es handelt sich um das Verbot der Sklaverei, welche eine Verleugnung des Menschen selbst bedeuten würde, die keine Rechtsordnung erlauben kann. Ein Konzept des Menschen im Sinne von Person (das weite Konzept, welches hier berücksichtigt wurde) bezeichnet daher ein Lebewesen und einen Organismus, dessen Einheit die biologischen Merkmale einer Art aufweist, welcher anstreben kann, frei zu entscheiden, geachtet zu werden, sich frei zu bewegen, sich frei zu äußern und unendlich viele intendierte Handlungen auszuführen, welche im Umgang mit anderen Objekt der Regulierung durch rechtliche und soziale Institutionen sind. Es ist also zu sagen, dass die soziale Konstruktion der Person (oder des Menschen im weiten Sinn) als Schutzzweck von verhaltensbezogenen Strafrechtsnormen berücksichtigt wird, weil deren Grundrechte sich in vielfältigen realen Handlungsmöglichkeiten39 und Situationen von gesetzlich vorgesehener Verantwortlichkeit40 äußern können. Von jedem Element dieser und anderer Definitionen, die hier beigetragen wurden und die (mehr oder weniger) einem universellen Menschenbild entsprechen, leitet sich eine Reihe von Grundrechten ab, in welche zwar eingegriffen werden kann, die aber von keinem Strafrechtssystem unter keinen Umständen der rechtlichen Tradition mit ihrem eigenen Verständnis von konkreter Kriminalpolitik aufgehoben werden können. Genau diese Rechte stimmen im Wesentlichen mit dem Katalog des unantastbaren Minimums überein, welches auf anderem Argumentationsweg verständlich gemacht werden sollte. Dieser Katalog beschränkt sich auf die Grundrechte auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf das Verbot der Sklaverei und das Folterverbot. Ebenfalls gehören dazu die Rechtmäßigkeit der Straftatbestände und Strafen und die Grundsätze des Fair Trial. Daraus besteht das abschließende Fundament, welches jedes Strafrechtssystem schützen muss. Daraus besteht daher das interkulturelle Fundament des Strafrechts. 41 39

Amelung/Lorenz FS Otto, 2007, 529. Jakobs ZStW 117 (2005), 267; Seelmann FS Jakobs, 2007, 644. 41 Roxin AT I § 5 Rn. 51: „Es gibt also mancherlei Ansätze für ein interkulturelles Strafrecht… Ihre Entwicklung und die Arbeit an einem Weltstrafgesetzbuch ist aber noch eine Aufgabe der Zukunft“. 40

Der Feind als Paradigmenwechsel im Recht Zu Existenz und Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats* CHRISTIAN JÄGER

Der Jubilar hat die Entfaltung der deutschen und internationalen Strafrechtsdogmatik entscheidend mitgestaltet. In der Rückschau war Claus Roxins Aufstieg an die Spitze der Strafrechtswissenschaft die logische Folge seiner Fähigkeit, bedeutende Entwicklungen vorauszuahnen, sie auf den Begriff zu bringen und in dogmatische Formen zu gießen. Immer hatte er dabei den Täter als fehlbaren Menschen im Blick, dessen Personalität durch Zuerkennung von Freiheit und Verantwortlichkeit zu würdigen sei. Daher war er auch stets überzeugt, dass es Aufgabe der Strafrechtstheorie sei, diesem Ziel zu dienen. In einem frühen Beitrag Roxins heißt es gerade mit Blick auf die Rechtstheorie: „Sie muß eine Ordnung schaffen, die zeigt, daß in Wahrheit ein Strafrecht das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit im generalpräventiven Sinne nur stärken kann, wenn es zugleich die Individualität des ihm Unterworfenen wahrt, daß das, was die Gesellschaft für den Straffälligen tut, letzten Endes auch für ihr Wohl das dienlichste ist und daß man der sozialen Untauglichkeit des Kriminellen in einer für ihn und die Gemeinschaft gleichermaßen fruchtbaren Weise nur aufhelfen kann, wenn man bei aller Berücksichtigung seiner Schwäche und Behandlungsbedürftigkeit das Bild der verantwortlichen Persönlichkeit, auf die hin er angelegt ist, nicht aus den Augen verliert.“1 Dass diese Aussagen in einem diametralen Gegensatz zu einem entpersonalisierenden Feindstrafrecht stehen,2 soll im Folgenden gezeigt werden. Dahinter steht die Hoffnung, dass der Jubi*

Es handelt sich um die überarbeitete und stark erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung, die ich im Juli 2010 an der Universität Bayreuth gehalten habe. Ich widme gerade diesen Text meinem Lehrer als Zeichen der tiefen Dankbarkeit für seine wissenschaftliche Förderung, die mich zu meiner Profession als Hochschullehrer geführt hat. 1 Roxin JuS 1966, 387. 2 Roxin selbst schreibt dazu in seinem Lehrbuch (AT I § 2 Rn. 126): „Von der hier verfochtenen Konzeption eines rechtsgüterschützenden, rechtsstaatlich-liberalen Tatstrafrechts entfernt sich am weitesten die von Jakobs entwickelte Konzeption eines ‚Feindstrafrechts’“.

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lar, dem dieser Beitrag mit den herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag gewidmet ist, in den anschließenden Ausführungen seinen Schüler erkennen möge.

I. Die Idee eines Feindstrafrechts Die Ursprünge der Diskussion um das Feindstrafrecht reichen zurück bis ins Jahr 1985. In seinem Beitrag „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“3 legte Günther Jakobs den Grundstein für seine Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht. Die kritische Potenz dieser Differenzierung hielt sich jedoch über nahezu zwei Jahrzehnte in Grenzen, bis Jakobs schließlich im Jahre 2004 seinen Beitrag „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ veröffentlichte.4 Jakobs vertritt dort die Ansicht, dass der prinzipiell Abweichende bekriegt werden müsse. Dieser Krieg werde zur Verteidigung eines legitimen Rechts der Bürger geführt, und zwar zur Verteidigung ihres Rechts auf Sicherheit; er (scil. der Krieg) sei aber, anders als Strafe, nicht auch Recht am Bestraften, vielmehr sei der Feind exkludiert.5 Während Jakobs den Begriff des Feindstrafrechts 1985 noch eher deskriptiv verwandte, indem er auf die feindstrafrechtlichen Tendenzen der deutschen Strafgesetzgebung nur hinwies, haben seine Ausführungen zwischenzeitlich einen affirmativen Grundton angenommen, der die Schaffung eines Feindstrafrechts für „Unpersonen“ einzufordern scheint.6 So heißt es bei ihm, dass derjenige, der das Leben in einem gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand nicht mitmache, weichen müsse, was heißt, er werde hinausgeworfen, jedenfalls müsse man ihn nicht als Person, sondern könne ihn als Feind behandeln.7 Damit wird deutlich, dass Jakobs die Existenz eines Bereichs

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Jakobs ZStW 97 (1985), 751 ff. Jakobs HRRS 2004, 88 ff; tendenziell zustimmend Depenheuer Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007, S. 63 ff; Pawlik Der Terrorist und sein Recht, 2008, S. 22 ff, 41 f; Polaino-Orts Derecho penal del enemigo: Desmitificación de un concepto, 2006, S. 97 allerdings mit zum Teil erheblich abweichender Pointierung. Vgl. auch Polaino Navarrete FS Jakobs, 2007, 549. 5 Jakobs HRRS 2004, 95 (vgl. dort in der Zusammenfassung). 6 Vgl. Roxin AT I § 2 Rn. 127 zur im Hinblick auf das Feindstrafrecht notwendigen Vorunterscheidung eines deskriptiven, eines denunziatorisch-kritischen und eines legitimatorischaffirmativen Begriffs. Er schließt sich damit ausdrücklich der Differenzierung von Greco GA 2006, 102 ff an. Ausführlicher dazu Greco Feindstrafrecht, 2010, S. 49 ff; Hörnle GA 2006, 81 ff unterscheidet eine deskriptive und eine normative Dimension des Begriffs „Feindstrafrecht“. Vgl. im Übrigen zur Entwicklung in Richtung einer „Radikalisierung“ Saliger JZ 2006, 758. 7 Jakobs HRRS 2004, 90. 4

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anerkennt, in dem der Bürger zur „Unperson“ im Sinne eines Feindes mutieren kann.8 Jakobs knüpft hierbei insbesondere an die Überlegungen von Thomas Hobbes zum Gesellschaftsvertrag an. Dieser Gesellschaftsvertrag werde durch bestimmte Taten aufgekündigt. An zahlreichen Regelungen lasse sich ablesen, „dass dann, wenn die Erwartung personalen Verhaltens dauerhaft enttäuscht wird, die Bereitschaft zur Behandlung des Verbrechers als Person schwindet.“9 Neben der Sicherungsverwahrung ließe sich dies an einer Vielzahl von Strafrechtsnormen erkennen. So gehe der Gesetzgeber etwa zu einer – offen so genannten – Bekämpfungsgesetzgebung über, etwa beim Ersten und Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; ebenso in Artikel 1 des Gesetzes zur Bekämpfung des Terrorismus oder aber im Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität bzw. schließlich im Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten.10 Jakobs bezieht sich in diesem Kontext ausdrücklich auch auf die Taten vom 11. September 2001. In Bezug auf diese sei „doch sehr wohl zu fragen, ob nicht durch die strikte Fixierung allein auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt wird – eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren – die gegenüber einem Terroristen, der die Erwartung generell personalen Verhaltens gerade nicht rechtfertigt, schlechthin unangemessen ist. Anders formuliert, wer den Feind unter den Begriff des bürgerlichen Verbrechers bringt, sollte sich nicht wundern, wenn die Begriffe ‚Krieg‘ und ‚Strafverfahren‘ durcheinander geraten. Nochmals anders formuliert, wer dem Bürgerstrafrecht seine rechtsstaatlichen Eigenschaften – Bändigung der Affekte; Reaktionen nur auf externalisierte Taten, nicht auf bloße Vorbereitungen; Achtung der Personalität des Verbrechers im Strafverfahren und anderes mehr – wer ihm also diese Eigenschaften nicht nehmen will, sollte das, was man gegen Terroristen tun muss, wenn man nicht untergehen will, anders nennen, eben Feindstrafrecht, gebändigten Krieg“.11 Dieser Schwund an rechtsstaatlicher Bindung lasse sich auch bereits erkennen. So etwa bei der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit im Tatbestand der Bildung terroristischer Vereinigungen oder auch bei der möglichen Anordnung einer Kontaktsperre zwischen Strafverteidiger und Mandant. So gesehen sei das Feindstrafrecht heute bereits etabliert. Man müsse es nur noch als solches ausgestalten und anwenden. Darin 8

Dazu auch Roxin AT I § 2 Rn. 126 m. w. N. Jakobs HRRS 2004, 92. 10 Vgl. hierzu Jakobs HRRS 2004, 92 mit Fn. 29-32. 11 Jakobs HRRS 2004, 92. 9

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läge gerade der Vorzug gegenüber einer heute zu verzeichnenden, wesentlich gefährlicheren Vermischung von Bürger- und Feindstrafrecht.12 Die Grundlage für die Existenz eines Feindstrafrechts will Jakobs aus dem Zweck der Strafe ableiten. Dabei muss man verstehen, dass Jakobs das Strafrecht in Wahrheit nicht funktional als rechtsgüterschützendes Instrument begreift, sondern soziologisch als Mittel zur Aufrechterhaltung der Identität der Gesellschaft.13 Strafe dient für Jakobs14 also der gesellschaftlichen Erhaltung durch Verteidigung der Normgeltung und latent auch der positiven Generalprävention,15 das heißt der Einübung der Gesellschaft in das rechtlich Gesollte. Gerade im Verlust dieser präventiven Bedeutung der Strafe gegenüber den sogenannten Feinden sieht Jakobs daher die Berechtigung für das von ihm so bezeichnete Feindstrafrecht, „da dem Bürgerstrafrecht dort, wo es um Feinde geht, der Adressat abhanden gekommen sei“.16 Nach Jakobs verlieren deshalb diejenigen Täter den Anspruch auf bürgerstrafrechtliche Behandlung, denen die Motivationsfähigkeit zu normkonformem Verhalten insgesamt fehlt. Ausdrücklich heißt es bei ihm: „Wer keine hinreichende kognitive Sicherheit personalen Verhaltens leistet, kann nicht nur nicht erwarten, noch als Person behandelt zu werden, sondern der Staat darf ihn auch nicht mehr als Person behandeln, weil er ansonsten das Recht auf Sicherheit der anderen Personen verletzen würde.“17 Um Jakobs vollständig verstehen zu können, muss man jedoch seine allgemeine Strafrechtslehre einer näheren Betrachtung unterziehen. Wichtig ist für ihn, dass sich die Person innerhalb ihrer sozialen Rolle bewegt, weshalb auch das Strafrecht nur darauf drängen muss, dass der Einzelne sich weiter an das ihm zugewiesene Rollenspiel hält. Berühmt geworden ist dabei das Beispiel des Aushilfskellners, der einen Salat serviert, obwohl er, weil er nebenher Biologiestudent ist, eindeutig erkennt, dass sich in dem Salat ein tödlicher Giftpilz befindet. Jakobs will hier den Kellner, auch wenn der Gast stirbt, nicht wegen eines Tötungdelikts bestrafen und stützt seine Auffassung darauf, dass sich der Kellner im Rahmen seiner sozialen Rolle bewege. Solange er diese soziale Rolle einhalte, könne er nicht wegen eines

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Jakobs HRRS 2004, 94 f. Jakobs ZStW 107 (1995), 843. 14 Vgl. etwa Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 50; ders. FS Saito, 2003, 34. 15 Kritisch zu Recht Roxin FS Hassemer, 2010, 594, der darauf hinweist, dass es nicht Zweck der Strafe sein kann, „die Normgeltung um ihrer selbst willen aufrechtzuerhalten“. 16 So zutreffend Sinn ZIS 2007, 113. 17 Jakobs HRRS 2004, 93. 13

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Tötungsdelikts bestraft werden.18 Der Kellner hat eben grundsätzlich zu servieren und nicht Leben zu erhalten. Hier wird deutlich, dass Jakobs das Recht nicht mit Blick auf einen Rechtsgüterschutz begreift,19 sondern allein als soziales Rollenspiel, um dessen Einhaltung das Strafrecht bemüht sein muss.20 Dort aber, wo der Einzelne nicht mehr in die soziale Rolle zurückfinden kann, beginnt für Jakobs offenbar das Feindstrafrecht. Er selbst sagt: „Bürgerstrafrecht erhält die Normgeltung, Feindstrafrecht (im weiteren Sinn: das Maßregelrecht eingeschlossen) bekämpft Gefahren“.21 Und weiter heißt es bei ihm: „Der prinzipiell Abweichende bietet keine Garantie personalen Verhaltens; deshalb kann er nicht als Bürger behandelt, sondern muss als Feind bekriegt werden.“ Dieses Feindstrafrechtskonzept mit seiner Gleichsetzung von Tätertypen und Feinden sowie mit seiner partiellen Identifikation von Recht und Krieg sah sich in der Literatur dem naheliegenden Vorwurf der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts im Sinne Carl Schmitts ausgesetzt.22 Jakobs selbst hat dem jedoch entgegengehalten, dass der Feindbegriff Carl Schmitts den hostis im Sinne eines „anderen“ meine, während seine Feindstrafrechtsposition auf dem Verbrecher als inimicus aufbaue.23 Jenseits dieser Kritik muss man sich jedoch bewusst machen, dass die Diskussion um die Feindstrafrechtsthesen auf eine besorgniserregende Entwicklung hinweist, deren Fortgang bereits jetzt studiert werden kann, nämlich die Zunahme sicherheitsstrafrechtlicher Normen, deren rechtliche Haltbarkeit hochumstritten ist.

18

Vgl. Jakobs GS Armin Kaufmann, 1989, 273, 286 f; in Betracht kommt für ihn allenfalls eine Bestrafung nach § 323c StGB. 19 Vgl. Jakobs AT 2/1 ff. 20 So in anderem Kontext auch Greco ZStW 117 (2005), 526 f mit lesenswerten Folgerungen zur Zurechnungslehre. 21 Hier und im Folgenden Jakobs HRRS 2004, 90, 95. 22 Vgl. dazu insgesamt Aboso in: Cancio/Gomez-Jara I, S. 58 ff; Ambos SchwZStr 124 (2006), 22; Demetrio Crespo in: Cancio/Gómez-Jara, Derecho Penal del Enemigo, Band I, S. 486 (= ZIS 2006, 413 ff); Düx ZRP 2003, 189; Muñoz Conde Über das „Feindstrafrecht“, S. 36 ff; NK-Paeffgen vor §§ 32 ff Rn. 223; ders. FS Amelung, 2009, 91; Prittwitz in: Mir Puig/Corcoy Bidasolo (Hrsg.), La politica criminal en Europa, 2003, S. 116; Rosenau in: Forensische Psychiatrie – Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag, 2006, S. 288 f; Saliger JZ 2006, 761; zuvor bereits Schünemann GA 2001, 212; ihm zustimmend Gössel FS Schroeder, 2006, 48. Vgl. auch Cavaliere in: Vornbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 325, der auf die autoritäre Komponente des Feindstrafrechts verweist. 23 Jakobs HRRS 2006, 294; im Ergebnis zustimmend Greco Feindstrafrecht 2010, S. 25, der darauf hinweist, dass der Feind bei Jakobs ein sekundärer Begriff sei, während der Begriff der Person bei ihm primär bedeutsam sei.

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II. Der Begriff des Feindes Jakobs hat in späteren Beiträgen versucht, seine These vom Feind der Gesellschaft zu präzisieren. So hat er darauf hingewiesen, dass bestimmte Täter nur einmal oder wenige Male eine Pflicht aus dem riesigen Bündel ihrer Pflichten nicht erfüllen, so dass sich insgesamt ein noch erträglicher Lebensstil finden lasse.24 Dies sei etwa im Normalfall eines Verbrechens der Fall. Der Verbrecher steige wegen einer Tat oder wegen einer Hand voll Taten nicht sogleich aus der Gesellschaft aus. Im Gegenteil mag er sich in vielen anderen Situationen sogar bestens angepasst verhalten. Er agiere damit eher punktuell falsch, dies freilich massiv. Auch wenn die kognitive Untermauerung seines Person-Seins durch sein Verbrechen erschüttert werde, lasse sich daher darauf setzen, sie werde sich bei folgender Bestrafung wieder festigen, weshalb das Strafrecht im Regelfall so verfahre, dass es den Verbrecher weiterhin als Person im Recht betrachtet. Dagegen seien krasse feindstrafprozessuale Regelungen bei der Erledigung terroristischer Gefahren zu verzeichnen, wobei Jakobs insbesondere auf die Kontaktsperre zwischen Beschuldigtem und Verteidiger zur Vermeidung von Gefahren für Leben, Leib oder Freiheit einer Person hinweist.25 Entsprechend äußert er sich zum großen Lauschangriff: Ein großer Lauschangriff oder verdeckte Ermittlungen gegen einen Verdächtigen passen ihm zufolge nicht zum Begriff des Bürgers. Sie würden sich vielmehr gegen Individuen richten, die außerhalb der Gesellschaft stehen, so dass nur zu fragen sei, ob ein solches Feindstrafrecht legitim sei und wenn ja, bis zu welchem Maß. Als Versuch einer Antwort weist er darauf hin, dass der Staat seine Gestalt nicht mutwillig aufs Spiel setzen müsse.26 Wenn vom Feindstrafrecht die Rede sei, bedeute das also nicht zugleich kurzen Prozess, Verdachtsstrafe oder gar öffentliche Vierteilung zur Abschreckung und Ähnliches. So wie der Pazifist erklären kann, dass er den Angreifer auch in der Notwehr nicht töten will, so bleibe es auch dem Rechtsstaat unbenommen, dann zurückzuweichen oder gar unterzugehen, wenn seine Funktionäre anderenfalls im Blut der Feinde waten müssten. Es gebe eben Verhaltensweisen, die man wegen seines Selbstbildes nicht vollzieht. Entscheidend sei aber, dass ein schlechthin perfekter Rechtsstaat für Terroristen einen solchermaßen riesigen Standortvorteil böte, dass er sie geradezu einladen würde, in seinem Geltungsbereich zu verweilen oder genauer: aktiv zu werden. 24

Hier und im Folgenden Jakobs HRRS 2006, 292. Jakobs HRRS 2004, 93; ders. HRRS 2006, 296. 26 Hier und im Folgenden Jakobs HRRS 2006, 296 f. 25

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Man spürt an dieser Stelle, dass Jakobs seine Thesen selbst schon wieder relativiert. Andererseits wird aber auch deutlich, dass er kurzen Prozess, Verdachtsstrafe, Vierteilung und ähnliches in einem Feindstrafrecht nicht für ausgeschlossen hält. Freilich: Er weist darauf hin, dass man derartige Dinge nicht vollziehen müsse – aber dahinter verbirgt sich eben doch die Aussage, dass man es im Extremfall tun könnte. In diese Richtung weist es auch, wenn Jakobs an anderer Stelle davon ausgeht, dass im Kampf gegen den Terrorismus „§ 136a StPO nicht für alle Fälle das letzte Wort sein“ könne.27 Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die feindstrafrechtlichen Positionen in Lateinamerika, und dort vor allem in Kolumbien,28 bereits auf großes politisches Interesse gestoßen sind. Dies dürfte freilich vor allem damit zusammenhängen, dass sich der kolumbianische Staat seit geraumer Zeit in einer feindlichen Auseinandersetzung mit dem organisierten Verbrechen befindet.

III. Wert und Wirklichkeit eines Feindstrafrechts im Lichte der Verfassung und der Strafrechtsdogmatik 1. Terrorbedrohung als Nährboden eines Feindstrafrechts Der islamistische Terrorismus ausländischer Prägung mit dem Regeltyp des Selbstmordattentäters, der den eigenen Tod nicht mehr als Übel begreift, sondern ihn als Mittel seiner gesellschaftszerstörenden Ziele einsetzt – ein solcher Terrorismus, dem selbst der eigene Tod nicht mehr Maßstab des eigenen Handelns ist, ist leichter geeignet, die Kriminalpolitik in eine Richtung zu weisen, die ihrerseits vom Verlust der Maßstäbe gekennzeichnet ist. So zeigt die Geschichte des Terrorismus, dass der Rechtsstaat in einem Klima grenzüberschreitender Gewalt immer geneigt war, die Grenzen des Rechtsstaats auszuloten.29 Im Angesicht der Terroranschläge durch die RAF äußerte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“.30 Später stellte

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Jakobs ZStW 117 (2005), 849. Vgl. dazu Aponte Überlegungen zum „effizienten“ Feindstrafrecht anhand der Situation in Kolumbien, 2004; näher auch B. Heinrich ZStW 121 (2009), 106 f; Sinn ZIS 2006, 111. 29 Vgl. zur heutigen Situation auch Zöller GA 2010, 607 ff. 30 Auszug aus der Regierungserklärung vom 24. März 1975. Deutscher Bundestag, Stenografische Berichte, 7. Wahlperiode Nr. 5, S.11781 f. 28

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Schmidt fest: „Ich glaube, dass wir bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen sind. Aber wir haben sie nicht übertreten“.31 In der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus fallen die Reaktionen der Politik auf das neue Bedrohungspotenzial wesentlich schärfer aus. So äußerte sich der ehemalige Innenminister Otto Schily im Jahre 2004 in Bezug auf die Terroristen moderner Prägung: „Wenn Ihr den Tod so liebt, dann könnt Ihr ihn haben.“32 Hier wird das deutlich, was mit Feindstrafrecht gemeint ist: Wer mit entfesselter Gewalt operiert, dem kann mit entfesselter Staatsgewalt begegnet werden.

2. Die Gefahren eines Feindstrafrechts Worin besteht nun aber das Problem des Feindstrafrechtskonzepts? Das Problem – und dies sei hier vorweggenommen – besteht darin, dass es den Verlust des Personstatus auf der Grundlage gravierender Rollenverletzungen für möglich hält. Mit der Gegenüberstellung von Feind- und Bürgerstrafrecht wird auf diese Weise ein Teilrechtssystem etabliert, in dem die an die Person anknüpfenden liberalen Züge, die mit der Fragmentalität eines rechtsstaatlichen Strafrechts einhergehen,33 keine Geltung mehr besitzen. Das Gefährliche daran ist, dass Unterschiede in der rechtlichen Behandlung allein am Täter anknüpfen und nicht an den Taten, die durch diese Täter begangen werden. Deutlich wird dies bereits an dem Begriff des Feindstrafrechts, der allein an der Person des Verbrechers und nicht an der Erscheinungsform des Verbrechens als solches anknüpft, wie dies etwa bei den Begriffen des Risikostrafrechts, des Sicherheitsstrafrechts, des Gefährdungsstrafrechts oder des präventiven Strafrechts der Fall ist.34 Aber auch die von Jakobs zur Begründung seines Feindstrafrechts zitierten Bekämpfungsgesetze knüpfen in Wahrheit an der Tat und nicht an einem Tätertyp an. Sie bekämpfen die Wirtschaftskriminalität, die organisierte Kriminalität oder die Sexualdelikte.35 Wenn Jakobs dagegen einwendet, dass hinter diesen Taten Täter stün31 Äußerung im Bundestag ein Dreivierteljahr nach den Ereignissen im Herbst 1977, vgl. hierzu http://www.bpb.de/themen/0BGF88.html. 32 Schily Spiegel-Interview vom 26.4.2004. 33 Ausführlich hierzu Roxin AT I § 2 Rn. 97 ff. 34 So zutreffend Saliger JZ 2006, 761 unter Hinweis auf F. Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991; Prittwitz Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesellschaft, 1993; Naucke KritV 1999, 336; P.A. Albrecht Kriminologie, 3. Aufl. 2005, S. 69 ff; ders. ZStW 117 (2005), 852 ff; Haffke in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Wen schützt das Strafrecht, 2006, S. 24 ff. 35 Wie hier Saliger JZ 2006, 761.

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den, die bestraft werden sollen,36 so ist dies eine Selbstverständlichkeit. Ohne Täter gibt es keine Tat. Entscheidend ist aber, dass alle bislang verwendeten Begriffe letztlich objektiv an der Höhe der Gefahr oder einem Deliktsfeld anknüpfen, ohne den subjektiv-personalen Status des Täters in Frage zu stellen. Jakobs propagiert damit ein Recht der Ausnahme für bestimmte Täter, deren Ausstieg aus dem Personstatus er durch die Verwirklichung bestimmter Delikte als unumkehrbar ansieht. Zu Recht weist Roxin demgegenüber darauf hin, dass die Negierung des Personstatus gegen zahlreiche zentrale Verfassungsgrundsätze verstößt: Die Menschenwürde, das Schuldprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Tatprinzip und die Unschuldsvermutung.37 Jakobs würde dem vermutlich entgegenhalten, dass diese Grundsätze auf Unpersonen unanwendbar seien. Damit würde aber übersehen, dass die – auch nur bereichsspezifische – Aberkennung des Personstatus als Kehrseite die Zuerkennung eines Objektsstatus bedingt. Mit der Würde des Einzelnen als unhintergehbarer Grundforderung der Verfassung ist eine solche Position aber nicht vereinbar.38 Im Übrigen bedeutet sie – und hierin ist Roxin Recht zu geben39 – eine gefährliche Hinwendung zu einem Täterstrafrecht, da bei der Deliktsverfolgung von Feinden nach Tätertypen unterschieden wird. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass diese Differenzierung an einen bloßen Verdacht anknüpft und die Behandlung des Täters daher stets dem Risiko eines Irrtums unterliegt.

3. Zur Existenz eines Feindstrafrechts Aber Jakobs geht noch weiter: Er erklärt, dass dieses von ihm für nötig oder jedenfalls für möglich erachtete Feindstrafrecht bereits Teil unserer Rechtswirklichkeit sei. Er nennt hierfür auch Beispiele:40 Die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit beim Beteiligungsversuch nach § 30 StGB oder beim Delikt der Bildung terroristischer Vereinigungen begründe ein Strafrecht eigener Art, das vom bürgerlichen Strafrecht deutlich zu unterscheiden sei. Ähnlich verhalte es sich mit den Urkundsdelikten, bei denen bereits das 36

Vgl. Jakobs ZStW 117 (2005), 839. Roxin AT I § 2 Rn. 129. 38 Zumindest gegen eine Trennung von Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht im Angesicht der Menschenwürde und des Bestimmtheitsgrundsatzes auch Morguet Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009, S. 284 f. Sie geht jedoch verfassungsrechtlich fragwürdig immerhin von der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Feindstrafrechts aus, vgl. Morguet Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009, S. 244 ff. 39 Roxin AT I § 2 Rn. 129. Dazu auch Demetrio Crespo in: Cancio/Gómez-Jara, Derecho Penal del Enemigo, Band I, S. 493 ff (= ZIS 2006, 413 ff); Hefendehl StV 2005, 156 ff; Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 283 f. 40 Vgl. Jakobs ZStW 97 (1985), 757; ders. in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 51 f; ders. HRRS 2004, 92. 37

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Herstellen einer unechten Urkunde in bloßer Gebrauchsabsicht zu einer Strafbarkeit führt. Weiterer Ausdruck eines Feindstrafrechts sei etwa das Recht der Sicherungsverwahrung. Schließlich sei auch das Strafprozessrecht durch feindstrafrechtliche Züge gekennzeichnet, etwa beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a StPO oder beim Recht auf Durchführung eines Lauschangriffs bei besonders schweren Straftaten. Zu fragen ist allerdings, ob die genannten Beispiele tatsächlich dazu geeignet sind, die Entwicklung vom Bürgerstrafrecht hin zu einem Feindstrafrecht zu belegen. Nach den Prämissen von Jakobs wäre hierfür Voraussetzung, dass die von ihm genannten Normen tatsächlich Ausdruck eines Feindstrafrechts sind, in dem der Täter als Typus zu begreifen wäre, dem die Rückkehr in die Legalität nicht mehr zugetraut wird. Er zieht gerade diese Schlussfolgerung allein aus der Tatsache der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit, etwa bei § 30 StGB oder bei §§ 129a und b StGB (Verbrechensverabredung und Bildung terroristischer Vereinigungen). Eine nähere Betrachtung dieser Vorschriften zeigt jedoch, dass der Gesetzgeber selbst keineswegs davon ausgeht, dass es sich bei den dort genannten Tätern um Individuen handelt, denen eine Rückkehr in die Legalität nicht mehr zugetraut wird. Im Gegenteil: Alle Normen, die die Strafbarkeit weit vorverlagern, enthalten den persönlichen Strafaufhebungsgrund des Rücktritts oder der tätigen Reue (vgl. etwa § 31 StGB oder § 129a Abs. 7 i. V. m. § 129 Abs. 6 StGB). Der Gesetzgeber selbst geht also davon aus, dass eine Rückkehr der Täter in die Legalität immer noch möglich sein muss. Mit einer das Feindstrafrecht prägenden Verneinung des Personstatus aufgrund dauerhaften Ausstiegs des Täters aus der Gesellschaft ist eine derartige Regelung schlechterdings unvereinbar. Jakobs verkennt also, dass die Norm selbst prinzipiell auf Integration angelegt ist. Aber auch die sonstigen von Jakobs genannten Institute belegen nicht den Untergang des Personstatus in Teilbereichen des Strafrechts. Dies gilt auch nicht für das Recht der Sicherungsverwahrung, das vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geprägt ist.41 Wenn Jakobs in diesem Institut den Verlust des Personstatus ausmacht, so übersieht er dabei, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbstverständlich Ausdruck personeller Behandlung des Täters ist. Jakobs tut dagegen so, als sei der Schuldgrundsatz die einzige Form personalen Umgangs mit dem Täter. Dies aber trifft gerade nicht zu. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist Ausprägung personalen Umgangs mit dem jeweils Betroffenen und er muss gerade dort seine gestaltende Kraft entwickeln, wo der Schuldgrundsatz seine restriktiven Wirkungen nicht mehr entfalten kann. Solange daher der Staat den Grundsatz der 41

Ausführlich hierzu Roxin AT I § 3 Rn. 63 ff.

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Verhältnismäßigkeit bei der Strafverfolgung sowie bei der Anwendung von Maßregeln der Besserung und Sicherung anwendet, wird man nicht von einem entpersonalisierten Feindstrafrecht sprechen können.42 Auch die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 2009 und im Januar 2011 in zwei fulminanten Entscheidungen die Regelungen der nachträglichen Verlängerung und nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung für unzulässig erklärt hat,43 ist beredter Ausdruck einer personalisierten Rechtsinterpretation.

4. Zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes als unzureichendes Indiz für ein Feindstrafrecht Wo aber liegen nun die Trennlinien zwischen dem Schutz des Rechtsstaats auf der einen Seite und der Errichtung eines entgrenzten Präventionsstaats auf der anderen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, sich zunächst noch einmal vor Augen zu führen, was das Strafrecht als repressives Mittel im Vergleich zum Polizeirecht als Präventionsmittel ausmacht. Zeichen des Strafrechts ist die Drohung nachträglicher Sanktion, während das Polizeirecht durch vorzeitige Prävention gekennzeichnet ist. Strafvorschriften, die die Verabredung eines Verbrechens oder die Beteiligung an terroristischen Vereinigungen unter Strafe stellen, halten diese Trennlinie durchaus noch ein. Denn bei § 30 StGB wird die reaktive Sanktion ebenso wie bei §§ 129a und b StGB an vorausgehende, tatsächlich gebildete Zusammenschlüsse von Deliktswilligen geknüpft. Zeichen der Sanktion ist dabei, dass sie öffentlich erfolgt, während Prävention sich grundsätzlich im Geheimen vollzieht. Die Pönalisierung der Verbrechensverabredung bzw. der Bildung terroristischer Vereinigungen durchbricht diese Grenzlinie grundsätzlich nicht. Vielmehr knüpft der Staat an bereits Geschehenes an und baut hierauf seine Rechtsfolge auf. Die Frage, die sich dabei stellt, ist allein, ob bereits genug geschehen ist, damit der Staat zu derartigen strafrechtlichen Sanktionen greifen darf. Dies aber kann und muss unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsat42 Zutreffend heißt es hierzu bei Roxin AT I § 3 Rn. 67: „Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit fließt aus dem Rechtsstaatsgedanken (BVerfGE 23, 127 (133) m. w. N.), hat also verfassungsmäßigen Rang und konkretisiert das Güterabwägungsprinzip im Sinne eines Übermaßverbotes“. 43 Vgl. EGMR NJW 2010, 2495 m. Bspr. Jung GA 2010, 639; Radtke NStZ 2010, 537; Frommel NK 2010, 82 (die Entscheidung wandte sich damit ausdrücklich gegen BVerfGE 109, 133) sowie EGMR, Urt. v. 13.1.2011 – Az. 17792/07; Urt. v. 13.1.2011 – Az. 20008/07; Urt. v. 13.1.2011 – Az. 27360/04. Insgesamt zur Rechtsprechungsentwicklung in diesem Bereich Jäger AT Rn. 12a.

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zes beantwortet werden. Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat in diesem Zusammenhang zu Recht das BVerfG in seinem Urteil zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests hervorgehoben, auch wenn die dort getroffene Schlussfolgerung, derzufolge in der Verfassung nur der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nicht aber eine Rechtsgutslehre angelegt sei, nicht überzeugt.44 Denn eine Rechtsgutslehre kann ohne weiteres als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fungieren.45 Teil dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist aber darüber hinaus gewiss auch die Erforderlichkeit einer Sanktion. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Strafrecht – wie das ganze Recht überhaupt – durch den Grundsatz der Effizienz geprägt wird. Effizienz ist ein Rechtsprinzip46 und es ist im Besonderen ein Strafrechtsprinzip. Ein Strafrecht, das immer erst tätig werden dürfte, wenn Rechtsgutsverletzungen bereits geschehen sind, würde sich geradezu dem Vorwurf der Lächerlichkeit preisgeben. Denn es handelte sich dann um ein ineffizientes Strafrecht, das seine Existenzberechtigung selbst in Frage stellen würde. Das Effizienzprinzip fordert aber, dass sich das Strafrecht insbesondere dort entfalten darf, wo ein Verlust an Herrschaftsmöglichkeiten droht. Gerade so verhält es sich etwa bei der Verbrechensverabredung oder aber auch bei der Bildung terroristischer Vereinigungen. Denn hier erzeugt der Zusammenschluss mehrerer Deliktswilliger die Gefahr einer Eigendynamik, die eine Beherrschung des weiteren Geschehens möglicherweise ausschließt. Der Staat muss in solchen Fällen zumindest bei Gefahr gravierender Rechtsgutsverletzungen die Möglichkeit haben, bereits im Zuge des Zusammenschlusses tätig zu werden, um Schlimmeres zu verhüten. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass dieses Effizienzprinzip in der Strafrechtsdogmatik auch andernorts zu finden ist. Beispielsweise taucht es auf bei der Frage, wann der Versuch einer mittelbaren Täterschaft beginnt.47 Auch dort geht die herrschende Ansicht davon aus, dass ein solcher Versuch bereits mit dem Aus-der-Hand-Geben des Geschehens einsetzt. Veranlasst etwa A den schuldunfähigen B zur Tötung des C, so beginnt

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Dazu bezüglich der Strafbarkeit des Geschwisterinzests BVerfGE 120, 257 ff m. Sondervotum Hassemer sowie Anm. Greco ZIS 2008, 234 ff; Hörnle NJW 2008, 2085 ff; Kudlich JA 2008, 549 ff; Roxin StV 2009, 544 ff; Zabel JR 2008, 453 ff; Ziethen NStZ 2008, 614 ff. 45 Vgl. zur Problematik auch Roxin AT I § 2 Rn. 86 ff sowie Bottke FS Volk, 2009, 104; Hassemer in: Hefendehl u.a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 60; Kühl FS Tiedemann, 2008, 41; Schünemann, in: Hefendehl u.a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 145. 46 Vgl. Eidenmüller Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005. 47 Jäger AT Rn. 304; Maurach/Gössel/Zipf AT/II § 48 Rn. 82 ff; Otto AT § 21 Rn. 127; Roxin AT II § 29 Rn. 226 ff; Schilling Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975; Welzel Deutsches Strafrecht, S. 191; Wessels/Beulke AT § 14 Rn. 613 ff.

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dieser Versuch nach h. M.48 nicht erst mit dem unmittelbaren Ansetzen des B zur Begehung der Tat, sondern bereits mit dem Losschicken des B; dahinter steht die Vorstellung, dass ab diesem Zeitpunkt eine Beherrschbarkeit des Geschehens nur noch schwer möglich oder sogar ausgeschlossen ist. Das Effizienzprinzip gibt daher auch hier die strafrechtlichen Konsequenzen vor. Vor diesem Hintergrund sind Strafnormen, die die Strafbarkeit in das Vorfeld der Deliktsvollendung rücken, nicht per se Ausdruck eines Feindstrafrechts, solange sie – als Teil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – den Bezug zu einem zu schützenden Rechtsgut erkennen lassen und einem Herrschaftsverlust vorbeugen. Auch die Behauptung, dass das Delikt der Urkundenfälschung Ausprägung eines Feindstrafrechts sei, weil hier bereits das Herstellen der unechten Urkunde in bloßer Gebrauchsabsicht unter Strafe gestellt sei, trägt in Wahrheit nicht. Denn auch hier beruht die Norm auf dem Effizienzprinzip: Schon die Erzeugung einer falschen Urkunde schafft nämlich die Gefahr der Unkontrollierbarkeit im Hinblick auf deren Verwendung. Die im Tatbestand geforderte Gebrauchsabsicht ist daher bei Lichte betrachtet keineswegs Ausdruck eines Feindstrafrechts, sondern dient im Gegenteil der auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beruhenden Strafbarkeitsbegrenzung. Freilich kennt auch das Wirtschaftsstrafrecht Strafbarkeitsvorverlagerungen. So etwa bei den Delikten des Subventions-, Kapitalanlage- oder Kreditbetrugs (§§ 264, 264a, 265b StGB),49 bei denen die Vollendung bereits mit Irrtumserregung angenommen wird, ohne dass ein Schaden einzutreten braucht. Auch hier wird man aber eine zulässige Vorverlagerung gerade noch bejahen können, da durch die Irrtumserregung bereits eine Teilverwirklichung vorliegt und wegen der schwierigen Beweisbarkeit ein drohender Herrschaftsverlust in Bezug auf die Sicherheit des Subventions- bzw. Kreditaufkommens durchaus begründet werden kann. Im Übrigen enthalten auch diese Normen den persönlichen Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue (§ 264 Abs. 5, 264a Abs. 3, 265b Abs. 2 StGB).50 Mit einem solchen personalisierten Strafbefreiungsgrund ist die entpersonalisierte Sicht eines Feindstrafrechts gänzlich unvereinbar. Aus alldem ergibt sich, dass aus der Vorverlagerung allein nicht auf die Existenz eines Feindstrafrechts geschlossen werden kann.

48 Engländer JuS 2003, 335; Jescheck ZStW 99 (1987), 130 f; Roxin AT II § 29 Rn. 230; ders. FS Maurach, 1972, 227 ff. 49 Vgl. etwa zu § 264 StGB neuerdings auch Gaul Der Tatbestand des Subventionsbetrugs, 2010, S. 22 ff. 50 Generell zu den persönlichen Strafaufhebungsgründen Roxin AT I § 23 Rn. 4.

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5. Zur materiellen Entpersonalisierung als Zeichen eines Paradigmenwechsels im Strafrecht a) Zwischen Tatverdacht und Unschuldsvermutung Es stellt sich angesichts dessen die Frage, welche Entwicklungen das bestehende Bürgerstrafrecht zu einem Feindstrafrecht umbilden würden. Die Antwort hierauf liegt in dem, was Jakobs selbst die Entpersonalisierung des Täters im Strafrecht nennt. Und sie liegt andererseits in der Abschaffung dessen, was Roxin bereits im Jahre 1999 als „eine für die Rechtskultur eines Landes entscheidende, seine Rechtsstaatlichkeit mitkonstituierende gesetzliche Forderung“ bezeichnet hat, nämlich „dass kein Unschuldiger und auch der Schuldige nur unter Wahrung aller seiner Persönlichkeits- und Verteidigungsrechte verurteilt werde“.51 So wäre das, was der ehemalige Innenminister Wolfgang Schäuble im Jahre 2007 gefordert hat,52 nämlich die Umkehrung der Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung für Terroristen, ohne Zweifel mit der Entwicklung eines Feindstrafrechts gleichzusetzen. Denn hier geht es nicht mehr um die Zulässigkeit einer singulären Norm, sondern um den generellen Umgang des Staates mit dem Verdächtigen. Die damals geradezu verstörende Forderung nach Neuordnung unseres Strafrechtssystems, die einen Wechsel vom Tatverdacht hin zum Schuldverdacht bedeuten würde, beträfe tatsächlich nicht mehr die Voraussetzungen, unter der jemand als Verdächtiger behandelt werden kann, sondern die Art und Weise des personalen Umgangs mit dem Verdächtigen. Denn anders als der Tatverdacht trifft der Schuldverdacht den Täter radikal in seiner ganzen Person. Damit aber wäre ein Paradigmenwechsel53 vollzogen, der tatsächlich auf eine Entpersonalisierung des Betroffenen schließen ließe. Die politische Rechtfertigung dieser Veränderungen, wonach die Unschuldsvermutung zwar im Bereich der Strafverfolgung, nicht aber im Bereich der Gefahrenabwehr Geltung beanspruche,54 weist dabei eine gefährliche Tendenz auf: Die Flucht des Rechtsstaats in den Präventionsstaat. Dabei benutzt der Staat ganz offensichtlich auch den Strafprozess mit seinen am Tatver-

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Roxin FS Hanack, 1999, 3. Schäuble Stern-Interview vom 19.4.2007. 53 Th. Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolution, 2. revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, S. 57 ff. Er bezeichnet unter einem Paradigmenwechsel das wissenschaftstheoretische Phänomen, dass ein bisher geltendes Erklärungsmodell verworfen wird und an dessen Stelle ein neues tritt. Vgl. auch Max Planck in: Die Naturwissenschaften 33 (1946), 230 ff. Näher dazu Petersen Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, S. 3 ff. 54 Vgl. Prantl SZ-Interview vom 18.4.2007. 52

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dacht55 und nicht an der Unschuldsvermutung anknüpfenden Eingriffsmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren.

b) Zwischen Prävention und Repression Der Ausbau der Zugriffsmöglichkeiten hat sich daher gerade in diesem Bereich in den letzten Jahren in geradezu erschreckender Weise beschleunigt. Stets war der Hinweis auf die allgemeine Bedrohungs- und Gefahrenlage Grund genug, um hier den Strafprozess scheinbar nach Belieben umzugestalten. Auf diese Weise wurden die Rasterfahndung, die Erweiterung der Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO), der große Lauschangriff (§ 100c StPO), die längerfristige Observation (§ 163f StPO), die Überwachung mittels Videokamera (§ 100h Abs. 1 Nr. 1 StPO), die Vorratsdatenspeicherung und nicht zuletzt die Online-Durchsuchung von Privatcomputern gerechtfertigt.56 Und hier kommt nun ein Problem zum Tragen, das in der bisherigen Diskussion viel zu wenig beachtet und wissenschaftlich noch viel zu wenig untersucht wurde: Einerseits gilt nämlich bei der Verfolgung von Straftaten die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK),57 andererseits knüpft aber das Ermittlungsverfahren im Strafprozessrecht an das bloße Vorliegen eines Tatverdachts58 an. Die im Strafrecht für sich genommen uneingeschränkt geltende Unschuldsvermutung wird also durch das im Ermittlungsverfahren geltende Prinzip des Tatverdachts mit seiner prognostischen Umschreibung der überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit überlagert. Genau diese Überlagerung nutzt nun der Staat, um die Trennung von Prävention und Repression in einem einheitlichen Verfolgungssystem aufgehen zu lassen.59 Da das Ermittlungsverfahren darüber hinaus weitgehend vom Grundsatz der „Heimlichkeit“ beherrscht wird,60 handelt es sich um einen 55 Vgl. zu den unterschiedlichen Verdachtsgraden Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 39 Rn. 15, 16 und § 40 Rn. 14. 56 Kritisch zu dieser Entwicklung auch Prantl SZ vom 21.4.2007, der plastisch von einem „Umbau des Rechtsstaates in einen Präventionsstaat“ spricht. 57 Näher dazu Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 11 Rn. 1 ff. 58 Für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens genügt bereits ein Anfangsverdacht. Konkrete Eingriffe bedürfen eines hinreichenden Tatverdachts, vgl. näher Schünemann/Roxin Strafverfahrensrecht § 39 Rn. 15, § 40 Rn. 14, § 42 Rn. 8. 59 Hassemer StV 2006, 323 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Konzept der Prävention das Strafrecht funktionalisiert und aus ihm ein Instrument, einen gefügigen Diener, gemacht hat. Vgl. auch B. Heinrich ZStW 121 (2009), 127 ff, der sich für eine klare Abschichtung von Polizei- und Strafrecht ausspricht und darin auch den entscheidenden Grund für einen möglichen Verzicht auf ein Feindstrafrecht sieht. 60 Roxin/Schünemann § 36 Rn. 1 sprechen gar von einer „Vergeheimdienstlichung“ des Ermittlungsverfahrens.

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schleichenden Prozess, der Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen praktisch nicht zulässt. Dieser gesteigerte Zugriff betrifft dabei nahezu alle Lebensbereiche, die strafrechtsrelevant werden können. So wurde mit dem 4. Finanzmarktförderungsgesetz61 mit Wirkung vom 1.4.2003 die Vorschrift des § 24c KWG eingeführt, wonach der anfragenden Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen die so genannten Kontenstammdaten mitgeteilt werden. Dies sind die Nummer des Kontos oder des Depots, der Tag der Errichtung bzw. Auflösung, die Personendaten des Inhabers und sonstiger Verfügungsberechtigter. Auch Strafverfolgungsbehörden können zum Zwecke des Strafverfahrens am Kontenabrufverfahren teilnehmen. Seit dem 1.4.2005 können Finanzbehörden über das Bundesamt für Finanzen bei den inländischen Banken gezielt Informationen zu Konto- und Depotverbindungen einzelner Steuerbürger abrufen, wenn dies zur Feststellung oder Erhebung von Steuern erforderlich ist und ein vorheriges Auskunftsersuchen an den Steuerbürger erfolglos blieb oder keinen Erfolg verspricht.62 Dies gilt ebenso für entsprechende Ersuchen von anderen Behörden und Gerichten.

c) Zwischen singulärer und globaler Grundrechtsbelastung Der Grundsatz der Unschuldsvermutung kann in einem solchen Klima nur noch schwer Fuß fassen. Denn erst dort, wo sich der Verdacht bestätigt hat, gilt dann wieder die Unschuldsvermutung. Viel zu wenig berücksichtigt wurde dabei in den letzten Jahren, dass das Ineinandergreifen von Strafrecht und Strafprozessrecht auch eine Abstimmung von Unschuldsvermutung und Tatverdacht bedingt. Dabei ist spürbar, dass das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit immer wieder versucht hat, die Balance zwischen diesen beiden Grundsätzen herzustellen.63 Das Problem, mit dem sich das höchste Gericht dabei auseinanderzusetzen hatte, bestand jedoch darin, dass es stets nur die einzelne Norm vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes messen konnte. Vor dieser Folie erschien der singuläre 61

BGBl. I Nr. 39/2002 vom 26. Juni 2002. §§ 93, 93b AO. Vgl. hierzu das Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23. Dezember 2003, BGBl. I Nr. 66/2003 vom 29. Dezember 2003. 63 So hat das BVerfG NJW 2010, 833 die zum Zwecke der Vorratsdatenspeicherung erlassenen §§ 113a, 113b TKG sowie § 100g Abs. 1 S. 1 StPO, soweit danach Verkehrsdaten nach § 113a TKG, also Vorratsdaten, erhoben werden dürfen, wegen Verstoßes gegen Art. 10 GG für nichtig erklärt. Auch die präventive Online-Durchsuchung nach § 5 Abs. 2 Nr. 11 VerfassungsschutzG NW wurde durch das BVerfG NJW 2008, 822 gekippt, aber bei Einhaltung strenger Verfahrensvoraussetzungen (Richtervorbehalt und Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung) nicht für gänzlich unzulässig erklärt. Befristet bis zum 31.12.2020 gelten nun § 20k BAKG sowie in Bayern unbefristet Art. 34d BayPAG und Art. 6e BayVSG. 62

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große Lauschangriff beim Verdacht schwerster Straftaten und bei der Kontrolle durch den Richter gerade noch als angemessen. Auf dieser Grundlage erschien die Kontoüberwachung vor dem Hintergrund haushaltszehrender Steuerstraftaten gerade noch erträglich. Und vor diesem Hintergrund erschien auch die Onlinedurchsuchung bei schwersten Straftaten und richterlicher Kontrolle gerade noch hinnehmbar. In ihrer Gesamtheit allerdings führten all diese Maßnahmen zu einer Zurückdrängung des Rechtsstaats zugunsten eines sich unaufhaltsam weiter entwickelnden Sicherheitsstaates.64 In der Verfassungslehre wird dieses Problem der kumulativen Grundrechtsbelastung65 noch viel zu wenig diskutiert. Dabei wäre dies gerade mit Blick auf die ausufernden Ermittlungsmöglichkeiten dringend erforderlich. Denn wenn der Rechtsstaat lediglich die Grenzen einer einzelnen Maßnahme prüft, ohne die Globalbelastung der Freiheitsbegrenzungen im Blick zu haben, dann verliert er damit zwangsläufig die Gesamtwirkungen aus den Augen.

d) Zwischen hinreichendem und dringendem Tatverdacht Erstaunlich ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht einen zusätzlichen möglichen Weg niemals genutzt hat. Dieser hätte darin bestanden, den richterlich zu prüfenden Verdachtsgrad bei der Anwendung derartiger Maßnahmen zu erhöhen, um der im Strafrecht geltenden Unschuldsvermutung auch im Ermittlungsverfahren ein Stück weit Geltung zu verleihen. Dabei hätte das Bundesverfassungsgericht ein Vorbild in der Strafprozessordnung bereits vorgefunden. So verlangt der Einsatz der Untersuchungshaft nicht nur einen Tatverdacht, sondern das Vorliegen eines sogar dringenden Tatverdachts, der nicht schon bei überwiegender, sondern erst bei hoher Verurteilungswahrscheinlichkeit gegeben ist.66 Mir scheint diese Voraussetzung gerade auf tiefste Eingriffe in die Privatsphäre, wie sie die Telefonüberwachung, die Kontoüberwachung, die Videoüberwachung und die Computerüberwachung darstellen, durchaus übertragbar. Der Bürger wird hier – ähnlich wie bei der Untersuchungshaft – tief in seiner Privatsphäre getroffen, so dass die Eingriffsschwelle heraufgesetzt werden könnte, um der Unschuldsvermutung auch im strafprozessualen 64 Prantl SZ v. 21.4.2007 weist bezüglich dieser fortschreitenden Eingriffe in die Privatsphäre plastisch auf eine „gefährliche Totalität” hin. 65 Vgl. dazu etwa BVerfG NJW 2005, 1338; Hofmann AöR 133 (2008), 523 ff; Gregor Kirchhof NJW 2006, 732 ff; Lücke DVBl 2001, 1470 ff, der darauf hinweist, dass die grundrechtliche Kontrolle von Akten der Legislative immer noch „punktuell ausgerichtet“ ist. 66 Vgl. Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 30 Rn. 5 und § 39 Rn. 16; ausführlich dazu Paeffgen Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des U-Haft-Rechts, 1986, S. 183.

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Bereich noch Raum zu verleihen. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass Telefonüberwachung, Lauschangriff, Computerüberwachung und ähnliche Maßnahmen nur bei schwersten Straftaten möglich sind und der zu fordernde Verdachtsgrad daher niedrig zu halten sei. Denn auch bei der Untersuchungshaft wird selbst bei schwersten Straftaten stets ein erhöhter Verdachtsgrad gefordert, so dass eine Übertragung auf sonstige Eingriffe denkbar erscheint. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die richterlichen Prüfungen des Verdachtsgrades in der Praxis vielfach nur kursorisch erfolgen können, da das Herrschaftswissen im Ermittlungsverfahren weitgehend bei Polizei und Staatsanwaltschaft liegt.67 Schließlich würde hierdurch auch der Tatsache Rechnung getragen, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG die Eingriffsintensität bei heimlichen Eingriffen besonders hoch ist.68 Die gegenläufige Entwicklung, nach der es möglich ist, den Bürger bei jedem hinreichenden Tatverdacht mit eingriffsintensivsten Maßnahmen zu überziehen, bereitet daher durchaus Sorge.

e) Zwischen Verdacht und Irrtum Eine andere Frage ist freilich, ob diese Sorge Berechtigung dazu gibt, hier bereits von einem Feindstrafrecht, besser: von einem Feindstrafprozessrecht zu sprechen. Ich meine, dass dies nicht der Fall ist. Denn auch wenn die überwachungsfreien Bereiche immer weiter schrumpfen, so knüpft das Strafprozessrecht zu keiner Zeit an den Typus des Feindes an, der dauerhaft aus der Gesellschaft ausgestiegen ist. Dafür sind die Eingriffsvoraussetzungen der einzelnen Strafprozessnormen viel zu heterogen. So ist etwa die Telefonüberwachung bei vorsätzlichen Tötungsdelikten möglich – gleichviel, ob es sich dabei um den Einzelmörder handelt, der aus Eifersucht seine Frau getötet hat oder um den Massenmörder, der therapiebedürftig erscheint. Auch bei der Kontoüberwachung hatte der Gesetzgeber mit dem Wirtschaftsdelinquenten einen Tätertyp im Auge, dessen Rückkehr in die Legalität nach Bestrafung allseits für möglich erachtet wird. Die massenhaft erstatteten Selbstanzeigen nach Ankauf der Steuer-CDs zeigen, dass diese Täter vielfach bereits aus Angst vor Bestrafung bereit sind, in die Legalität zurückzukehren. Schließlich sind auch Video- und Computerüberwachung nicht Ausdruck eines Feindstrafrechts, da auch dort an unterschiedlichste Straftaten angeknüpft wird, deren feindstrafrechtliche Einordnung pauschal nicht möglich ist. Auch wenn die Entwicklung daher durchaus zu der Furcht berechtigt, dass die Veränderungen zunehmend auf den Ausbau eines Si67 68

Vgl. dazu Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 39 Rn. 22. Vgl. BVerfGE 120, 274 ff zur Online-Durchsuchung.

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cherheitsstaates zusteuern, passt der Begriff des Feindstrafrechts hier insgesamt nicht. Hinzu kommt, dass sich gerade für das Strafverfahren die Schnittstelle, ab der jemand als Feind behandelt werden dürfte, nicht bezeichnen lässt. Würde man hier bereits beim Terrorverdächtigen ansetzen, so liefe man Gefahr, dass potentiell Unschuldige einer feindstrafrechtlichen Behandlung – zu der gegebenenfalls auch die Folter gehört – unterzogen würden. Diese Gefahr der Infizierung des Bürgerstrafrechts durch feindstrafrechtliche Einflüsse69 darf der Rechtsstaat aber nicht hinnehmen. Zu Recht weist daher Roxin auf die Missbrauchsgefahr hin: „Denn wer ein Feind ist, würde der Machthaber definieren, so dass die Bürgerfreiheiten zu seiner Disposition stünden, das Strafrecht also seine liberale Funktion als Magna Charta des Verbrechens verlöre. Das kann niemand wollen.“70

IV. Fazit Nach allem hat sich gezeigt, dass ein Feindstrafrecht weder existiert noch seine Einführung sinnvoll wäre. Denn so, wie staatlich angewandte Gewalt in der Lage ist, Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung auszulösen – Untersuchungen zur Todesstrafe legen diesen Schluss nahe71 – so liefe auch die von Jakobs geforderte oder auch nur für möglich erachtete Einführung eines Feindstrafrechts Gefahr, Feindschaft in der Bevölkerung zu schüren. Ein Staat, der offen die Reintegrationsfähigkeit Einzelner ausschlösse, trüge nicht zur Sicherung, sondern zur Spaltung und Destabilisierung der Gesellschaft bei. Im Schoße eines friedensstiftenden und liberalen Strafrechts, wie es Roxin in seinen Werken stets vertreten hat, kann und darf daher ein Feindstrafrecht nicht gedeihen. Und es entspräche auch nicht den Inhalten, die der Jubilar den Studierenden in seinen Vorlesungen stets vermittelt hat. Die Erinnerungen an diese Vorlesungen, die ich im Jahre 1985 als Erstsemester selbst besucht habe, sind bis heute in mir wach geblieben und sie erfüllen mich mit Demut vor den Aufgaben, die gute Lehre zu erfüllen hat. Zu diesen Aufgaben gehört es, den Studierenden immer wieder bewusst zu machen,

69 Zu Recht nennt Jung GA 2006, 726 die Vorstellung, dass ein Feindstrafrecht nicht auch auf das Bürgerstrafrecht „überschwappen könnte, reine Illusion“. Vgl. dazu auch Bung HRRS 2006, 68 f. 70 Roxin AT I § 2 Rn. 129. 71 Jäger in: Problemas fundamentales del Derecho Penal, Criminalia, Academia Mexicana De Ciencias Penales, Ano LXVI, Mexico, D.F., Band No.1, Mexico 2000; ders. in: Problemas fundamentales de politica criminal y derecho penal, Mexico 2001.

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dass die Geschichte des Rechts zu oft eine Geschichte des Unrechts war, dass die dem Juristen verliehene Freiheit der Rechtsanwendung auch Verantwortung voraussetzt, dass gerade im Strafrecht der Verdacht stets vom Dämon des Irrtums begleitet wird und dass deshalb immer noch das gilt, was Gustav Radbruch formuliert hat: „Ein guter Jurist kann nur der werden, der mit einem schlechten Gewissen Jurist ist.“72 Aber genau hier liegt das Problem des Feindstrafrechts. Ein Feindstrafrecht hat kein Gewissen; es ist gewissenlos, weil es sich um nichts und niemanden zu kümmern braucht. Die Person löst sich in ihm auf und damit auch das dahinter stehende Recht. Denn Recht braucht Personen – nicht nur solche, die es anwenden, sondern auch solche, auf die es sich bezieht. So gesehen trifft der von Jakobs propagierte Gegensatz von Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht in Wirklichkeit nicht einmal zu.73 Das Feindstrafrecht ist kein Recht. In Wahrheit ist es ein Fanal für Strafunrecht.74 Wohin all dies führen kann, zeigt die Äußerung eines Richters am Landgericht Berlin, der sich anlässlich der Folterdrohung im Fall des Vizepolizeipräsidenten Daschner75 im Berliner Tagesspiegel in einem Leserbrief vom 19.12.2004 dahingehend äußerte, dass das Folterverbot des Art. 3 der Europäischen Menschrechtskonvention für einen Entführer und Mörder nicht gelte. Ein Entführer und Mörder sei „ein Unmensch, ein NichtMensch, und damit ein Niemand. Und Niemand darf bekanntlich der Folter unterzogen werden.“ Sicherlich: Vordergründig handelt es sich nur um ein Wortspiel eines Richters. Aber dahinter steht schon eine Gesinnung, die Angst machen muss.

72

Radbruch Rechtsphilosophie, 1973, S. 34. Dazu auch P.A. Albrecht ZStW 117 (2005), 858; Cancio Meliá in: Jakobs/Cancio Meliá (Hrsg.), Derecho penal del enemigo, 2003, S. 99; Hassemer StraFo 2006, 315; ders. HRRS 2006, 138; Jahn Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2004, S. 236; Ogorek in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, 2007, S. 217; Schünemann FS Nehm, 2006, 219; Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 287. 74 Vgl. auch Schünemann FS Nehm, 2006, 227, der darauf hinweist, dass gerade der Feindbegriff „zur Verteidigung des humanen Strafrechts mahnt“. 75 Vgl. ausführlich gegen die Zulässigkeit von Folter- und Folterdrohung auch zur Rettung von Menschenleben Roxin FS Eser, 2005, 469 ff; Jäger FS Herzberg, 2006, 539 ff; ders. JA 2008, 678 ff jeweils m. w. N. 73

Grenzen vorverlagerter Strafbarkeit: Feindstrafrecht MIGUEL POLAINO-ORTS

In seinem sehr umfangreichen Werk hat der geschätzte und sehr verehrte Jubilar auch die Problematik um ein Feindstrafrecht in modernen Rechtsstaaten untersucht.1 Aus diesem Grunde möchte ich ihm die folgenden – teilweise kritischen – Gedanken in alter Verbundenheit und in tiefer Verehrung herzlichst widmen. Ich möchte meinen Beitrag in drei Abschnitte unterteilen: Ich beginne mit einer Zusammenfassung der Entwicklung des Begriffes „Feindstrafrecht“ bei Jakobs und stelle eine knappe Darstellung der internationalen Diskussion über das Feindstrafrecht dar. Meine eigene Sicht zur Problematik des Feindstrafrechts stelle ich als Zweites dar. Zum Schluss werde ich, drittens, einzelne Fälle von Feindstrafrechtsfiguren aus dem Besonderen Teil analysieren.

A. Einführung, Formulierung und Entwicklung des Feindstrafrechtskonzeptes bei Jakobs I. Geburtsurkunde: Prägung des Begriffs „Feindstrafrechts“(1985) Im Jahr 1985 benutzte Jakobs in einem Vortrag über „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ auf der deutschen Strafrechtslehrertagung in Frankfurt am Main zum ersten Mal den Begriff „Feindstrafrecht“ und setzte ihn in Gegensatz zum sogenannten „Bürgerstrafrecht“. Dieser Vortrag, später in der ZStW veröffentlicht2, ist die Geburtsurkunde dieses Begriffspaars. In jenem Aufsatz prägte Jakobs die beiden Bezeichnungen und wendete sie auf einige z. T. schon seit Jahrhunderten bekannte strafrechtliche Probleme an, in denen das Moment, in dem das Strafrecht in Aktion tritt, aus kriminalpolitischen Erwägungen vom Gesetzgeber ausnahmsweise vorverlagert wurde, um größere Risiken zu vermeiden. Die 1 2

Roxin AT I § 6 Rn. 23 ff. Jakobs ZStW 97 (1985), 751 ff.

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Beispiele, die Jakobs dabei mit dem Begriff des „Feindstrafrechts“ erfassen wollte, waren etwa die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a im deutschen StGB), der Beteiligungsversuch (§ 30 im deutschen StGB) und jegliche Kriminalisierung materieller Vorbereitungshandlungen, „soweit das Vorbereitungsverhalten im Privatbereich vollzogen wird“3. Jakobs bezog in dieses Phänomen auch einige abstrakte Gefährdungsdelikte4 und „notorische Bereiche vorverlagerter Strafbarkeit“ ein, die wiederum „mit einigen notorischen Bereichen verdeckter polizeilicher Tätigkeit“ einhergingen, wie z.B. die Bereiche der Rauschgiftdelikte, Staatsschutzdelikte, Geldfälschungsdelikte usw.5 Jakobs stellt fest, dass sich solche Feindstrafrechtsnormen von denen des Bürgerstrafrechts in einigen Punkten unterscheiden. Sie weisen – im Vergleich zum traditionellen Bürgerstrafrecht – erhebliche Besonderheiten auf und zeigen typische Kennzeichen: Eine Vorverlagerung der Strafbarkeit, keine zur Vorverlagerung proportionale Reduktion des Strafmaßes, den Übergang von einer normalen Strafgesetzgebung zu einer „Bekämpfungsgesetzgebung“, die Reduktion einiger strafprozessualen Garantien des Beschuldigten etc. Beim Feindstrafrecht werden – im Vergleich zum Bürgerstrafrecht – bereits frühe Anzeichen einer Gefährdung des materiellen Rechtsguts bekämpft. Der Täter übertritt dabei die von Jakobs sogenannten „flankierenden Normen“, das sind solche Normen, „deren Aufgabe es ist, die Geltungsbedingungen der Hauptnormen zu garantieren.“6 Hier wird der Täter dann als Rechtsgutsfeind definiert, also als ein Individuum, das „dem Rechtsgut gefährlich werden kann, wobei sich der Beginn der Gefahr potentiell grenzenlos vorverlagern lässt.“7 Diesbezüglich fasste Jakobs damals zusammen: „Je stärker Rechtsgüterschutz optimiert wird, desto mehr wird der Täter als Feind, ohne Internbereich, definiert“8, und lässt sich feststellen, dass „[d]as Feindstrafrecht (...) Rechtsgüterschutz“ optimiert, während „das bürgerliche Strafrecht (...) Freiheitssphären“ optimiert.9

3

Jakobs ZStW 97 (1985), 757. Jakobs ZStW 97 (1985), 767 ff. 5 Jakobs ZStW 97 (1985), 752. 6 Jakobs ZStW 97 (1985), 775. 7 Jakobs ZStW 97 (1985), 753. 8 Jakobs ZStW 97 (1985), 784. 9 Jakobs ZStW 97 (1985), 756. 4

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II. Weiterentwicklung des Begriffs (1999-2008) Der Beitrag von Jakobs aus dem Jahr 1985 rief keine außerordentliche Diskussion in Deutschland hervor, weder im Rahmen der Strafrechtslehrertagung, in welcher der Vortrag gehalten wurde, noch später, auch nicht in anderen Ländern. Der Vortrag von Jakobs wurde damals im deutschsprachigen Raum gewissermaßen akzeptiert. Das bedeutet, dass die Terminologie vom „Feind“ offenbar für die Lehre kein unüberwindliches Problem darstellte. Mit der Terminologie vom „Feindstrafrecht“ und vom „Bürgerstrafrecht“ wurden die Überlegungen von Jakobs beispielsweise sogar als „eindrucksvolles Plädoyer für die Freiheit des Bürgers“10 bezeichnet. In mehreren wissenschaftlichen Beiträgen aus den 1990er-Jahren hat sich Jakobs danach zum Begriff des Feindes und zum Phänomen des Feindstrafrechts geäußert, etwa im Jahr 1991 in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil, 1997 in seinem bekannten Buch mit dem Titel „Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie“11 und in einem Aufsatz über die gegenwärtigen Straftheorien12 aus dem Jahr 1998. Alle diese Anspielungen auf das Feindstrafrecht erlebten das gleiche Schicksal wie der erste Beitrag, das heißt, keine bemerkenswerte Resonanz, oder präziser: Die Weiterentwicklung des Begriffes fand keine besonders kritische bzw. drastische Ablehnung. 1999 hielt Jakobs auf einem Kongress in Berlin einen Vortrag zum Thema „Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart“13 und kurze Zeit später, im Jahr 2001, erschien sein Beitrag in der Festschrift für Spinellis zum Thema „Personalität und Exklusion im Strafrecht“14. Diese Beiträge, die rund um die Jahrtausendwende erschienen sind, haben doch – im Gegensatz zu den vorangegangenen Beiträgen – eine große wissenschaftliche Resonanz gefunden. Auf diese Beiträge reagierte die Lehre fast übereinstimmend kritisch bzw. ablehnend. Warum verursachte nun die Verwendung des Begriffs „Feindstrafrecht“ eine solche einstimmige Reaktion, und zwar erst um das Jahr 2000 und nicht bereits 15 Jahre vorher? Der Grund dafür liegt m. E. auf der Hand. Die Lehre verband das Phänomen des Feindstrafrechts fast einhellig mit den internationalen Maßnahmen und gesetzgeberischen Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, mit dem Irak-Krieg und sogar

10

So die Meinung von Schroeder bei Gropp ZStW 97 (1985), 926. Jakobs Norm, Person, Gesellschaft, 2008, S. 109 ff. 12 Jakobs in: K.-M. Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein?, 1998, S. 37 ff. 13 Jakobs in: Eser (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47 ff. 14 Jakobs FS Spinellis, 2001, 447 ff. 11

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mit Guantánamo. Aber das Feindstrafrecht, wie es Jakobs beschrieben hatte, war nicht das, was seine Gegner nun darunter verstanden. Als Reaktion auf diese oberflächliche und unkorrekte Identifizierung widmete Jakobs diesem Thema zwei Aufsätze: Der erste Beitrag trug den Titel „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ und erschien in einem von Yuhsiu Hsu in Taiwan herausgegebenen Sammelband (Festschrift) aus dem Jahr 2003.15 Kurz danach veröffentliche er einen zweiten Beitrag zu den „Bedingungen von Rechtlichkeit“.16 Im ersten Aufsatz stellt Jakobs, hoch interessant und tief beeindruckend, die philosophischen Grundlagen des Feindstrafrechtskonzepts dar. Es werden genauer gesagt die Auffassungen von vier Philosophen, von Hobbes, Kant, Fichte und Rousseau, untersucht. In der Darstellung von Jakobs wird deutlich, dass schon Hobbes und Kant für eine Trennung zweier Bereiche im Strafrecht plädierten. Das erstere sollte für diejenigen Bürger gelten, die nur punktuell Straftaten begangen haben, das zweite für ausdauernde Delinquenten. Im ersten Fall behalte der Täter seinen Personenstatus, im zweiten hingegen werde der Täter aus der Gemeinschaft exkludiert. Eine solche Konzeption hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem von Jakobs beschriebenen Feind- bzw. Bürgerstrafrecht. Des Weiteren stellt Jakobs die Auffassungen von Rousseau und Fichte dar. Diese Autoren meinen, dass jeder Verbrecher schon an sich ein Feind der Rechtsgemeinschaft sei. Für Rousseau und Fichte gab es demnach überhaupt nur ein „Feindstrafrecht“ und prinzipiell kein „Bürgerstrafrecht“. Neben dieser erläuternden Darstellung führt Jakobs in diesem Aufsatz auch einige aktuelle Beispiele für feindstrafrechtliche Regelungen aus dem geltenden deutschen Recht an, wie etwa die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB). In seinem zweiten Aufsatz über die „Bedingungen von Rechtlichkeit“ entwickelt Jakobs vor allem zwei Thesen, nämlich zum einen, dass wirkliches Recht nichts mit idealem Recht zu tun habe, so dass keine Gefahr bestehe, einem illegalen Parallelstaat das Wort zu reden,17 und zum anderen, dass jede normative Institution einer kognitiven Untermauerung bedürfe, wenn sie die aktuelle Kommunikation leiten wolle. Das bedeutet, dass ein nur postulierter Rechtsstaat bzw. eine nur postulierte Person im Recht aktuell keine Orientierung bieten könnten. In jüngerer Zeit ist Jakobs noch mehrmals auf das Thema zurückgekommen, etwa in seinem Vortrag über „Bedeutung und Zweck der staatlichen 15 Jakobs in: Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits of Criminal Law and Criminal Procedure, Anthology in Memory of Professor Fu-Tseng-Hung, 2003, S. 41 ff. 16 Jakobs HRRS 2006, 289 ff. 17 Vgl. Gierhake Feindbehandlung im Recht? Eine Kritik des so genannten «Feindstrafrechts» und zugleich eine Auseinandersetzung mit der Straftheorie Günther Jakobs’, ARSP 94.3 (2008), 352 ff.

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Strafe“ vor der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (2003)18, in seinen Vortrag auf der Strafrechtslehrertagung in Frankfurt/Oder über „Terroristen als Personen im Recht“19 (2005) und in einigen spanisch-sprachigen Publikationen.20 Sein letzter Beitrag in deutscher Sprache aus dem Jahr 2010 zu dieser Problematik ist noch unveröffentlicht.21

III. Kennzeichnen des Feindstrafrechts bei Jakobs Was heißt nun „Feindstrafrecht“ für Jakobs? Nach Jakobs ist das Feindstrafrecht ein Recht der Ausnahme und als solches zu kennzeichnen, um Verwechslungen mit dem Bürgerstrafrecht auszuschließen. Beim Feindstrafrecht wird der Täter als Gefahrenquelle betrachtet und deswegen seine Strafbarkeit vorverlagert, was letztlich seine Depersonalisierung bedeutet. „Fehlt die kognitive Untermauerung, muss Zwang angewendet werden, was stets eine Depersonalisierung ist“.22 Die typischen Kennzeichen des Feindstrafrechts sind: 1. Eine weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, „also Wendung des Blicks von der geschehenen auf eine kommende Tat“23, d. h. es geht um eine prospektive, gefährlichkeitsorientierte und nicht um eine retrospektive Betrachtung, wie beim Bürgerstrafrecht. Die „Bestrafung begangener Taten gilt dem Bürger, Abwehr kommender Taten dem Feind“24, 2. keine der Vorverlagerung entsprechend proportionale Reduzierung der Strafe, 3. der Übergang von der Strafrechtsgesetzgebung zur „Bekämpfungsgesetzgebung“ in manchen Bereichen wie z.B. dem Terrorismus, der organisierten Kriminalität, dem Sexualstrafrecht, der Wirtschaftskriminalität usw. 4. und der Abbau einiger strafprozessualer Garantien.

18

Jakobs Staatliche Strafe. Bedeutung und Zweck, 2004, S. 40 ff. Jakobs ZStW 117 (2005), 838 ff. 20 Jakobs in: ders./Polaino-Orts, Derecho penal del enemigo: algunas tesis fundamentales, JuS. Doctrina & Práctica 5, 2007, S. 33 ff; ders. in: ders./Polaino Navarrete/Polaino-Orts, Derecho penal del enemigo y concepto jurídico-penal de acción en la Dogmática contemporánea, 2007, S. 11 ff; ders. in: ders./Polaino Navarrete /Polaino-Orts, Derecho penal del enemigo en el contexto del Funcionalismo, 2008, S. 15 ff; ders. in: ders./Polaino-Orts, Delitos de organización: un desafío al Estado, 2009, S. 21 ff. 21 Jakobs Zur Theorie des Feindstrafrechts (Manuskript), 2010, S. 1 ff. 22 Jakobs in: ders./Polaino-Orts, Delitos de organización: un desafío al Estado, 2009, S. 55. 23 Jakobs (Fn. 13) S. 51 f. 24 Jakobs in: ders./Polaino-Orts, Delitos de organización: un desafío al Estado, 2009, S. 55. 19

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IV. Diskussionspunkte Die Diskussionspunkte, auf die ich mich in diesem Abschnitt konzentrieren möchte, sind die drei folgenden: 1. Gibt es einen Bruch in der Jakobsschen Konzeption des Feindstrafrechts? 2. Legitimation versus Deskription bei der Bewertung des Feindstrafrechts?; 3. Legitimation des schon legitimierten Feindstrafrechts?

1. Gibt es einen Bruch in der Jakobsschen Konzeption des Feindstrafrechts? Die Gegner25 des Jakobsschen Konzeptes behaupten, es gebe „zwei Jakobs“, also eine grundlegende Differenz zwischen dem Jakobs aus dem Jahre 1985 und dem Jakobs nach dem Vortrag in Berlin 1999. Der erste lehne das Feindstrafrecht ab, der zweite betrachte es dagegen nicht kritisch bzw. denunziatorisch, sondern affirmativ bzw. legitimierend. Meiner Meinung nach trifft diese Behauptung nicht zu. Den Beweis dafür findet man in Jakobs’ Normbegriff. In den Jahren 1985, ebenso wie zwischen 1999 und 2008, ist Jakobs davon ausgegangen, dass die Normgeltung nicht nur vom Verhalten potentieller Täter abhängt, sondern von dem, was die potentiell Betroffenen erwarten. Aus dieser Sicht sind die Erwartungen der potentiell Betroffenen Bestandteil des Normbegriffs. So führt Jakobs (1985) aus: „Die Normgeltung ist also nicht nur eine Beziehung zwischen Norm und potentiellen Tätern, den üblicherweise allein so genannten Normadressaten, sondern auch eine Beziehung zwischen Norm und potentiell Betroffenen. Normgeltung ist eine mehrseitige Angelegenheit, wobei die Seite der potentiell Betroffenen nicht nur die negativ formulierte Täterseite ist, sondern einen eigenen positiven Inhalt hat, nämlich Normvertrauen.“26 Das heißt nach Jakobs (2006), funktionierende Gesellschaften „leisten, was Recht leisten soll, nämlich Orientierung, auch für potentielle Opfer“27. Fehlt eine kognitive Untermauerung, also eine Mindestgarantie der Normgeltung, dann ist Normorientierung nicht möglich. Ein solcher Fall tritt gerade dann ein, wenn „flankierende Normen“ attackiert werden (so Jakobs 1985), also wenn Straftäter nicht nur diese Sicherheit nicht leisten, sondern sogar die Vernichtung des Rechtsstaats zu ihrer Maxime erheben. Als Zwischenfazit kann man deshalb sagen: Meiner Meinung nach gibt es keinen Bruch in der Jakobsschen Bewertung des Feindstrafrechts, man kann folglich nicht zwischen einem „deskriptiven“ und einem „legitimatorischen“ Jakobs unterscheiden. Es gibt vielmehr eine wissenschaftliche Kon25

So Greco GA 2006, 107 ff; auch Ambos ZStrR 124 (2006), 19 und Roxin AT I § 6 Rn. 23. Jakobs ZStW 97 (1985), 775. 27 Jakobs HRRS 2006, 290. 26

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tinuität, eine Weiterentwicklung der Analyse und eine kohärente Untersuchung der Problematik, wie es der Begriff der Norm bzw. Normgeltung zeigt.

2. Legitimation versus Deskription? Die Lehre diskutiert darüber, ob Jakobs bei seinen Ausführungen zum Feindstrafrecht eine bereits vorliegende Rechtsordnung beschreibt, oder ob er es auch legitimiert, eine besonders schwere Art von Kriminalität zu bekämpfen und ob er damit letztlich nicht damit autoritäre Staaten legitimiert. Die überwiegende Lehre meint offenbar, dass Jakobs solche Normen auch legitimiert und die Möglichkeit akzeptiert, dadurch ebenso Diktaturen zu rechtfertigen. Jakobs will nach seiner eigenen Aussage jedoch nicht legitimieren, sondern lediglich beschreiben. Meiner Meinung nach beschreibt Jakobs eine Realität, und zwar eine Realität, die es in den modernen Rechtsordnungen bereits gibt. In jedem seiner Beiträge hat er nicht nur eine rechtsphilosophische bzw. theoretische Basis dargestellt, sondern immer auch aktuelle Beispiele für das Feindstrafrecht benannt, wie etwa die Tatbestände der Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung, die mit Strafdrohungen ausgestattet sind, die teils von einer Versuchsstrafe, wenn überhaupt, nur durch einen schmalen Grat getrennt sind, ferner die Sicherungsverwahrung, der Einsatz von Spitzeln, die Kontaktsperre zwischen Anwalt und Untersuchungshäftling und anderes mehr. Die Überlegungen von Jakobs haben damit eine unbestreitbare empirische Basis, sie beschreiben Normen, die wir kennen und in unseren Rechtsordnungen vorfinden. Deswegen halte ich die Meinung Grecos28, der dem Begriff des „Feindstrafrechts“ sogar jegliche, also auch jede deskriptive Leistungsfähigkeit abspricht, für unhaltbar.

3. Legitimation der bereits legitimierten Strafrechtsnormen? Zur letzten Frage: Die bereits beschriebene Debatte um die „Legitimation/Deskription“ halte ich für überflüssig. Denn sogar wenn es richtig wäre, dass Jakobs nicht nur beschreibend, sondern auch legitimierend argumentiert, sollte dies nicht überraschen, solange es sich dabei um bereits legitimierte Normen handelt, wie etwa die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen, die Sicherungsverwahrung, die Kontaktsperre usw., also um Normen, die in verschiedenen Rechtsstaaten nicht nur schon aktuell existieren , sondern die bereits von dem Rechtsstaat oder von den jeweiligen

28

So etwa Greco GA 2006, 107 ff; Ambos ZStrR 124 (2006), 19; Roxin AT I § 6 Rn. 23.

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Verfassungsgerichten in einem formellen sowie materiellen Sinne legitimiert worden sind. Auch davon wird noch zu reden sein.

B. Braucht man ein Feindstrafrecht im Rechtsstaat? Plädoyer für ein funktional kontrolliertes Feindstrafrecht In diesem zweiten Teil meines Aufsatzes möchte ich meine eigene Ansicht zu der Problematik darstellen. Im Anschluss werde ich für ein funktional kontrolliertes Feindstrafrecht plädieren, was – wie man sich vorstellen kann – auch eine Entmythifizierung der üblichen Auslegung des Begriffs „Feindstrafrecht“ mit sich bringt. Niemand kann leugnen, dass die Überlegungen von Jakobs teilweise auch missverstanden worden sind. Die wichtigsten Vorüberlegungen, auf die ich mein Plädoyer stützen möchte, sind die folgenden:

I. Der Normbegriff als entscheidender Faktor Feindstrafrecht in einem funktionalen Sinne kann nur innerhalb bzw. im Rahmen einer normativen Strafrechtsdogmatik richtig verstanden und verteidigt werden. Der Personenbegriff kann nur normativ verstanden werden. Schon das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ von 1794 definierte die Person wie folgt: „Der Mensch wird, insofern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt“. Hier wird die Person als Träger von Rechten und Pflichten definiert, das heißt, sie wird durch ihr Verhalten gegenüber der Norm beschrieben. Durch die grundlegende Normbefolgung wird der (eigene) Personenstatus konstituiert und damit gleichzeitig der Personenstatus der anderen Bürger ermöglicht (allgemeiner Personenbegriff). Ebenso wie der Personenbegriff wird auch der Feindbegriff nur normativ definiert. Ohne eine Referenz zum Normbegriff kann weder die Person noch der Feind definiert werden. Diese Referenz ist unerlässlich. Wer in der Regel die Norm als soziales Orientierungsmuster und als allgemeinen Schutzmechanismus nicht anerkennt, wird depersonalisiert behandelt: Das heißt, seine Nicht-Anerkennung der Norm als Norm hat die Konsequenz, dass er sich gegen die konkrete Gesellschaft und gegen deren Bürger stellt, dass er also nicht die kognitive Mindestgarantie leistet, die für die Behandlung als Person juristisch erforderlich ist. Die Beschreibung eines Subjekts als „Person“ oder als „Feind“ hängt damit davon ab, welche Einstellung das Subjekt gegenüber der Norm hat. Respektiert das Subjekt die Norm im Großen und Ganzen, dann handelt es als Person. Weicht der Täter von der Norm prinzipiell ab, dann verwandelt

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er sich von der Person zum Feind, weil er die anderen nicht als Person anerkennt, weil er selbst nicht mehr die kognitive Mindestgarantie leistet, als Person behandelt zu werden. Die (rhetorische) Frage, die in der Lehre üblicherweise formuliert wird, nämlich wer denn definiert, wer „Feind“ und wer „Person“ ist, kann ganz klar beantwortet werden: Der Feind (wie auch die Person im Recht) wird von der Norm, als Kondensierung sozialer Erwartungen, und damit auch als soziales Orientierungsmuster, also von der Gesellschaft je nach ihrer eigenen Erwartung bestimmt. Genauer: Der Feind und die Person im Recht werden durch die konkrete Haltung, die sie gegenüber der Norm haben, definiert. Person im Recht ist man, wenn man der Norm folgt und dadurch kognitive Sicherheit leistet. Die Funktion der Norm ist also eine doppelte: Sie dient sowohl der Erwartungsstabilisierung als auch der Verhaltensorientierung. Um diese Funktionen erfüllen zu können, braucht man mehr als den Inhalt der Norm: Man braucht ein positives „Mit-Machen“ jedes einzelnen Bürgers. Wenn ein Bürger nicht nur am „rechtlichen Betrieb“ nicht teilnimmt, sondern die Vernichtung der Gesellschaft zu seiner Maxime erhebt, dann kann die Gesellschaft ihn nicht mehr als Person im Recht betrachten, also kann die Norm nicht mehr als Norm gelten. Die Norm (wie auch die Person) bedarf also einer gewissen kognitiven Untermauerung, wenn sie die Orientierung leiten soll. Alles in allem: Der Begriff der Norm ist damit entscheidend. Er definiert, wer als Feind und wer als Person zu behandeln ist. Feindstrafrecht im funktionalen Sinne bedeutet damit eine Anwendung des Normbegriffs auf die Realität.

II. Die kognitive Untermauerung der Person bzw. des Normbegriffs Eine Norm wird nicht dadurch gültig, weil sie von einem Parlament beschlossen wird und in einem Strafgesetzbuch steht. Für die reale Geltung der Norm ist ein „Mit-Machen“ jedes einzelnen Bürgers erforderlich. Jeder einzelne Bürger steht gegenüber der Gesellschaft in der Bringschuld, Rechtlichkeit zu ermöglichen und zu begünstigen. Er muss eine kognitive Mindestgarantie leisten, wenn er als Person behandelt werden will. Aber er muss auch eine solche Mindestgarantie leisten, damit die Norm gelten kann, damit die anderen ihr Wohl mit der Geltung von Normen verknüpfen und ihre Projekte interpersonal vorantreiben können. Eine Norm gilt nur als Norm, leistet also Stabilisierung und Orientierung, wenn sie kognitiv untermauert ist. Das gilt für jede normative Institution, also auch für den Personenbegriff. Jede normative Institution bedarf einer gewissen kognitiven Untermauerung, wenn sie die Orientierung leiten soll.

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Ohne diese kognitive Untermauerung ist Normorientierung nicht möglich. Zum Beispiel kann die Norm, die, durch eine Ampel symbolisiert, den Straßenverkehr regelt, nur gelten, wenn eine solche Norm von den Betroffenen im Großen und Ganzen beachtet wird. So kann des Weiteren ein Fußgänger nur über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite wechseln, wenn er sicher sein kann, dass die dem Zebrastreifen zu Grunde liegende Verkehrsnorm in der Regel respektiert wird. Wird die Verkehrsnorm von einem Fahrer hingegen systematisch nicht beachtet, dann wird die Erwartung, die die Norm positiviert, enttäuscht, und die Norm ist nicht mehr gültig. Der Fußgänger wird dann nicht mehr als Person respektiert: Wenn er den Fuß auf die Fahrbahn zu setzen versucht, dann hat er nicht mehr die Sicherheit, die er für den Genuss und die Ausübung seiner Rechte braucht, sondern eher das Gegenteil: Er hat die Sicherheit, dass er überrollt wird. Der Normbegriff wie auch der Personenbegriff bedürfen einer gewissen kognitiven Untermauerung, damit sie gültig sind. Solche kognitive Sicherheit wird von der Person entweder freiwillig geleistet oder von der Rechtsordnung erzwungen.29 Im ersten Fall handelt der Agierende als Person im Recht, als Bürger (Bürgerstrafrecht). Im zweiten Fall agiert er als Feind (Feindstrafrecht). Um die kognitive Sicherheit wiederherzustellen, muss derjenige, der diese Sicherheit als Person hätte leisten müssen, depersonalisiert werden. Es handelt sich hier um eine Depersonalisierung, also um eine partielle Entpersonalisierung, weil der Täter vorverlagert bestraft wird. Vorverlagerungen der Strafbarkeit depersonalisieren, da sie auf den Täter als Gefahrenquelle und nicht nur auf den Täter einer schon begangenen Tat zugeschnitten sind.30 Alles in allem: Die kognitive Sicherheit, die notwendig ist, damit die Norm als Norm gilt, d.h. damit sie Stabilisierung und Orientierung leisten kann, wird entweder von der Person freiwillig geleistet oder von der Rechtsordnung durch eine vorverlagerte Bestrafung erzwungen. Denn der Zweck dieser vorverlagerten Bestrafung ist gerade die Schaffung der kognitiven Mindestgarantie, welche die Norm braucht, um gültig und real zu sein.

III. Begriffspaar: Feind versus Person Die meisten Kritiker haben sich terminologisch gegen den Begriff des „Feindes“ gewendet. Sie sind der Meinung, der Feindbegriff habe eine brutale Konnotation, sei deswegen nicht glücklich gewählt und demnach

29 30

Vgl. Polaino Navarrete FS Jakobs, 2007, 552. Jakobs in: ders./Polaino-Orts, Delitos de organización: un desafío al Estado, 2009, S. 55.

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abzulehnen.31 Meinerseits möchte ich kurz skizzieren, warum ich diesen Begriff für wissenschaftlich präzise und brauchbar halte. Das Bürgerstrafrecht reagiert auf eine punktuelle Verletzung eines Rechtsgutes, die aber die Idee der Personalität unangetastet lässt. Feindstrafrecht hingegen reagiert auf eine grobe Verhinderung der Personalität. Der Feind versucht zu verhindern, dass die Bürger als Bürger agieren können. Sein Verhalten bedeutet also eine Negation der Idee des Bürgers, eine integrale Verhinderung seiner Personalität. Dieses Nicht-Zulassen der Personalität im Recht, diese Negation der Idee derselben und damit die Negation einer wesentlichen Lebensbedingung der bürgerlichen Gesellschaft wird sehr präzise mit dem Feindbegriff beschrieben, der außerdem eine lange und tiefe Tradition in der philosophischen und dogmatischen Geschichte hat. Rechtsfeindschaft ist dann eine Haltung von Rebellion gegen die Norm als gesellschaftlich verbindliches Verhaltensmuster, als Richtschnur personalen, d. h. für die Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens konstitutiven Verhaltens. Eine Haltung, die selbstverständlich auch nach außen durch aggressive Taten geäußert werden muss, um strafbar zu sein. Person im Recht ist, wer der Norm grundsätzlich folgt, also wer durch sein Verhalten Bürgersinn schafft. Das ist das Wesen der Rechtsbürgerschaft bzw. der Personalität im Recht: Bürgersinn auszuüben. Dadurch, dass der Einzelne der Norm folgt und sich damit als Person im Recht verhält, und weil die Norm die sozialen Erwartungen kondensiert, wird eine friedliche Beziehung zwischen Bürgern ermöglicht. Wenn man die Norm als Orientierungsmuster respektiert, respektiert man die anderen als Personen im Recht und ermöglich damit eine funktionierende Gesellschaft. Alles in allem bedeutet daher, Person im Recht zu sein, kognitive Sicherheit zu schaffen. Eine solche kognitive Sicherheit kommt nicht gleichsam durch ein Wunder vom Himmel herab, sondern ist die Frucht der kollektiven Mitwirkung aller Bürger. Um kognitive Sicherheit genießen zu können, braucht man die Mitwirkung aller Gesellschaftsmitglieder, also derjenigen, die Bürgersinn ausüben und damit als Personen im Recht behandelt werden wollen. Jeder einzelne Bürger steht in der Bringschuld, im Großen und Ganzen beim rechtlichen „Betrieb“ mitzumachen. Jeder einzelne Bürger muss sich seinerseits an der Schaffung kognitiver bzw. normativer Sicherheit beteiligen. 31 Kritisch zu den üblichen Kritiken zum Begriff „Person“ (und zu seinem Gegenbegriff „Feind“) zurecht Gracia Martín El horizonte del finalismo y el „Derecho penal del enemigo”, 2005, S. 187 ff, der aber irrtümlich glaubt, der Begriff „Feind“ verletzt die Dignität der Menschen. Kritisch dazu mit weiteren Gründen Polaino-Orts Derecho penal del enemigo. Fundamentos, potencial de sentido y límites de vigencia, 2009, S. 600 ff.

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Wenn jemand dabei offenbar nicht mitmacht, sondern vielleicht sogar die Vernichtung des Rechtsstaats zu seiner Maxime erhebt (wie es einige Terroristen tun), dann ist die Orientierung an der Norm nicht mehr möglich, weil es genau an dem fehlt, was die Normgeltung braucht, nämlich kognitive Sicherheit. In dieser Situation kann sich niemand mehr, auch nicht der Staat, an dieser Norm orientieren. Der Täter respektiert durch sein Verhalten nicht mehr die anderen als Personen, weil er sich gegen die Norm als Orientierungsmuster stellt. Er leistet keine kognitive Sicherheit mehr, er handelt nicht mehr als Person im Recht, sondern als Feind, und in dieser Hinsicht wird er depersonalisiert.

IV. Formulierung und Merkmale des Feindbegriffs Meiner Meinung nach lässt sich der Feindbegriff wie folgt definieren: „Feind“ ist, wer – mit all seinen Geistes- und Willensfähigkeiten – freiwillig entscheidet, sich selbst durch sein äußeres Verhalten vom sozialen System (partiell) zu exkludieren. Er lehnt die Normen als Orientierungsmuster bzw. als Richtschnur personalen und sozialen Verhaltens ab und leistet nicht das, was ein Bürger zu leisten hat, nämlich kognitiv-normative Sicherheit. Diese Sicherheit ist jedoch Bedingung für das Dasein von Personalität der anderen Bürger. Weil er das Dasein von Personalität durch sein Verhalten negiert, soll er von der Rechtsordnung drastisch bekämpft werden, um die in Frage gestellte Sicherheit wiederherzustellen. Die rechtliche Behandlung des Feindes beschränkt sich auf das Geringste, aber Notwendigste, nämlich auf die Garantie des minimalen Respekts gegenüber der Norm und dem Bürger. Die Kennzeichen des Feindbegriffs sind m. E. folgende: x er ist wissenschaftlich, x er ist beschreibend bzw. deskriptiv, nicht legitimatorisch, x er ist neutral bewertend, nicht pejorativ, x er ist relativ, d. h. nur konkrete Rechte werden entzogen bzw. beschränkt. Es handelt sich dabei um eine Selbstentpersonalisierung, oder besser: um eine Depersonalisierung, x er bedeutet Selbstexklusion, d. h. der Täter leistet motu proprio – von sich selbst aus – nicht mehr eine kognitive Sicherheit, die er als Bürger leisten sollte, x er ist zeitlich begrenzt wirksam. Wenn der Feind wieder die kognitive Sicherheit leistet, dann wird er sofort wieder als Person im Recht behandelt. x er ist proportional, d. h., die Güterentziehung erfolgt proportional zur Gefährlichkeit des „Feindes“. Ich fasse zusammen: Der Begriff der Person ist elastisch. Die Rechtsordnung kennt grundsätzlich zwei Ebenen von Rechtspersönlichkeit: Eine

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vollständige (Person im Recht) und eine geminderte (Feind). Die vollständige Persönlichkeit hat nur derjenige, der sie verdient, also derjenige, der mit seinem sichernden Verhalten gesellschaftliches Vertrauen schafft. Verdient er solches Vertrauen nicht, dann wird er depersonalisiert, solange und in dem Maße wie es nötig ist, um die Mindestsicherheit für das gesellschaftliche Leben herzustellen, d. h. die Bedingungen zu schaffen, damit die Bürger Personen im Recht sein können. Person im Recht ist, wer die anderen als Personen im Recht respektiert und ihr Dasein als Personen ermöglicht. Feind ist, wer die anderen nicht als Personen respektiert, d.h. wer den Begriff der Person in der Gesellschaft nicht gelten lässt, wer mit seinem Verhalten verhindert, dass die Norm als Norm gelten kann.

V. Schmerzzufügung versus Kommunikation? Kommunikation durch erzwungene Fremdverwaltung Gemäß seiner Unterscheidung zwischen offener und latenter Straffunktion hat Jakobs bekanntlich die Funktion der Strafe beim Bürgerstrafrecht der des Feindstrafrechts entgegengestellt. „Beim Bürgerstrafrecht“, schreibt Jakobs32, „ist die offene Funktion der Strafe Widerspruch, beim Feindstrafrecht die Beseitigung einer Gefahr“. Für ihn ist der Strafzweck beim Bürgerstrafrecht die Kommunikation bzw. Wiederherstellung der desavouierten Norm, während beim Feindstrafrecht nur eine Schmerzzufügung in Betracht kommt, d. h. keine Kommunikation, sondern die „stumme Anwendung physischer Gewalt.“33 Gegen diese Gegenüberstellung (Schmerzzufügung versus Kommunikation) habe ich folgende Einwendung: Meiner Meinung nach wird im Feindstrafrecht nicht auf den symbolischen Aspekt der Strafe verzichtet. Die Strafe hat in beiden Fällen, im Bürgerstrafrecht wie auch im Feindstrafrecht, eine kommunikative Bedeutung. Staatliche Strafe kommuniziert immer, nicht nur beim Bürgerstrafrecht, sondern auch beim Feinstrafrecht, denn Schmerz ist auch ein normatives Konstrukt. Wenn der Staat einen Feind bekämpft, findet immer auch eine Kommunikation statt, und zwar in einem doppelten Sinne: Zunächst kommuniziert der Staat mit den Bürgern, weil es vor allem um den Schutz der Bürger geht. Mit der Bekämpfung von Feinden wird der Status civitatis erhalten und bestärkt. In diesem Sinne bekämpft legitimes, funktional kontrolliertes Feindstrafrecht Feinde, weil es dadurch gleichzei-

32

Jakobs HRRS 2006, 290. Wie Roellecke JZ 2006, 268 („Im Verhältnis zu den Terroristen bleibt dem Rechtsstaat ... nur die stumme Anwendung physischer Gewalt.“) es formuliert und von Jakobs HRRS 2006, 297, in fine akzeptiert wird. 33

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tig die Bürger schützt.34 Staatliche Strafe kommuniziert folglich auch in diesem Fall Normwiederherstellung, also Normstabilisierung und Normorientierung. Sodann findet eine Kommunikation auch mit dem Feind selbst statt. Der Staat ist zuallererst daran interessiert, dass der Feind seine aggressive Einstellung ablegt und wieder in die Gesellschaft zurückkehrt. Damit der Feind so schnell wie möglich seine aggressive Haltung aufgibt, hält der Staat die Türen offen, um ihn wieder in der Gesellschaft willkommen zu heißen. Der Feind muss nur gewährleisten, was eine Person im Recht bzw. ein Bürger zu leisten hat, nämlich kognitiv-normative Orientierung durch die Ausübung der Normbefolgung. Die Kommunikation mit dem Feind ist also eine Kommunikation der Hoffnung in dem Sinne, dass der Staat hofft, dass der Feind seinen Personenstatus wieder aktualisiert, dass er die anderen wieder als Personen im Recht respektiert und die Norm gelten lässt. Die Kommunikation mit dem Feind ist damit eine instrumentelle Kommunikation mit der potentiellen Personalität des Feindes. Wie man sieht, ist die Kommunikation der Strafe beim Bürgerstrafrecht nicht mit der Kommunikation der Strafe beim Feindstrafrecht gleichzusetzen: Im ersten Fall (Bürgerstrafrecht) handelt es sich um eine funktional stabilisierende Kommunikation mit einem Täter, der normalerweise das Mindestmaß an kognitiver Normgarantie freiwillig leistet. Im zweiten Fall (Feindstrafrecht) handelt es sich um eine instrumentelle potentielle Kommunikation mit einem Täter, dessen Personalität partiell fremdverwaltet wird, weil er wegen seiner extremen Gefährlichkeit und dem Mangel an Respekt gegenüber den Rechten der anderen Bürger nicht in der Lage ist, diesen Personalitätsabschnitt selbst vernünftig zu verwalten. Eine solche intensive Fremdverwaltung prägt dann freilich auch das Bild des Verwalteten: Er ist nicht mehr nur Person, sondern eben auch bekämpfte Gefahrenquelle und insoweit Feind. Dabei handelt es sich nicht um eine totale Fremdverwaltung. Letztere muss und darf im Rechtsstaat nur so weit gehen, dass die vom Feind ausgehende Gefahr auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Der Rechtsstaat bzw. die Rechtsordnung ist daran interessiert, dass der Feind nicht komplett entpersonalisiert wird. Der Rechtsstaat bzw. die Rechtsordnung kommuniziert deshalb mit dem Feind in der Hoffnung, dass er wieder in die Gesellschaft zurückkehrt, d.h. dass er das Mindestmaß an kognitiver Sicherheit leistet, das er als Person im Recht zu leisten hat.

34

Vgl. Polaino Navarrete FS Jakobs, 2007, 552.

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VI. Feindstrafrecht als Rechtstaatlichkeitsgarantie Im Folgenden geht es um die relative Dimension der Rechtstaatlichkeit. Letztere stellt kein absolutes Prinzip dar, sondern ist eine durch die Realität begrenzte Institution. Es gibt keinen 100%igen Rechtsstaat, sondern der Staat muss damit leben, dass es in ihm immer auch einige störende Elemente gibt. Diese störenden Elemente werden in der Regel akzeptiert, solange sie die – mit den treffenden Worten Jakobs’ so genannten – „flankierenden Normen“ nicht verletzen. Flankierende Normen sind solche Normen, „deren Aufgabe es ist, die Geltungsbedingungen der Hauptnormen zu garantieren.“35 Verletzt der Täter (wie etwa beim Terrorismus) solche flankierenden Normen und realisiert sich dadurch die Gefahr einer Destabilisierung, dann ist die ganze Struktur des Rechtsstaates in Gefahr. Die Rechtsordnung befindet sich in diesem Fall in einer Sackgasse: Entweder sie legt die Hände in den Schoß und erlaubt solche Destabilisierungstaten, dann gilt die Norm als Norm, also auch als Orientierungsmuster, nicht mehr, so dass der Rechtsstaat ersatzlos untergehen kann, oder sie isoliert solche Taten als „gesellschaftsunerlaubt“, und zwar drastisch mit einer effektiven und präventiven vorverlagerten Bestrafung (Feindstrafrecht) – Tertium non datur. Nur mit einigen kontrollierten funktionalen Feindstrafrechtsnormen kann man die Idee eines Rechtsstaates noch lebendig halten. Oder anders ausgedrückt: Ein gut angewendetes (funktionales) Feindstrafrecht wirkt nicht nur normstabilisierend und erwartungssichernd, sondern stellt auch eine Garantie des Rechtsstaates dar.

VII. Soll das Feindstrafrecht von einem Bürgerstrafrecht getrennt werden? Zuletzt soll untersucht werden, ob in einem Rechtsstaat das Feindstrafrecht von einem Bürgerstrafrecht getrennt werden soll, wie Jakobs es vorgeschlagen hat: „Ein klar umrissenes Feindstrafrecht ist rechtsstaatlich weniger gefährlich als eine Durchmischung allen Strafrechts mit Einsprengseln feindstrafrechtlicher Regelungen.“36 Die überwiegende Lehre hat sich gegen diese Meinung ausgesprochen. Ich möchte Jakobs’ Ansicht verteidigen: Feindstrafrecht bedeutet eine Verschärfung der Behandlung des Täters im Vergleich zum Bürgerstrafrecht. Eine solche Verschärfung sollte nur stattfinden, wo die besondere Gefährlichkeit des Täters nicht nur vermutet, sondern bestätigt ist. Der Täter sollte also nur dann schärfer behandelt wer35 36

Jakobs ZStW 97 (1985), 775. Jakobs HRRS 2004, 95.

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den, wenn feststeht, dass er wirklich ein Feind der Rechtsordnung ist. Bis zu dieser Feststellung sollte er in seinem ganzen Umfang als Person im Recht behandelt werden. Das positiv geltende Recht hat jedoch oft weniger Garantien, ist also häufig härter als das Feindstrafrecht im funktionalen Sinne. Dabei ist Voraussetzung, dass die Gefahr erwiesen ist, also dass nur derjenige, der ausdrücklich keine Garantie dafür gibt, als Person behandelt werden zu können, als Feind behandelt wird. Feindstrafrecht muss ein Recht der Ausnahme bleiben. Im Gegensatz dazu reagiert das geltende Recht in manchen Bestimmungen bereits auf eine vermeintliche Gefahrquelle, so als ob diese bereits tatsächlich vorläge, und das ohne jegliche Vorkontrolle, die bestätigen würde, dass es sich tatsächlich um einen Feind handelt. Beispiele dafür sind das neue spanische Straßenverkehrsrecht (2007), die Entfernungsstrafe in familiären Bereichen (Gewalt in der Ehe, 2004) oder das neue spanische Jugendstrafrecht (2006), welche eine grobe Verschärfung im Vergleich zu den Vorgängerregelungen bedeuteten. Das heißt, zurzeit werden nach spanischem Recht mehr Täter als Feinde behandeln als es tatsächlich Feinde gibt. Hier wirkt die Behandlung des Täters als Gefahrenquelle rechtstaatlich störend. Es handelt sich also um ein überflüssiges Feindstrafrecht, was durch eine klare Trennung zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht vermieden werden sollte.

C. Feindstrafrecht, Besonderer Teil I. Ein Beispiel Stellen Sie sich folgende Situation vor: Einige Terroristen treffen zusammen und bilden heute eine terroristische Vereinigung. Sie planen für das Jahr 2012 ein großes Attentat in Berlin, das voraussichtlich vielen Menschen das Leben kosten wird, und sammeln dafür Sprengstoff und Waffen. Die Frage lautet: Soll der Staat abwarten, bis die Zweckdelikte, also die Straftaten, auf die das Zusammentreffen der Terroristen gerichtet ist (hier das geplante Attentat), vollzogen werden (oder zumindest bis die Tatbestandsausführung begonnen wird), oder darf der Staat vorverlagernd bestrafen, also schon in dem Augenblick, in dem die Terroristen zusammentreffen und eine Vereinigung bilden oder gefährliche Gegenstände wie Sprengstoffe oder Waffen sammeln, ohne dass die Vereinigung bereits Straftaten begangen hat und ohne dass die Terroristen von den Sprengstoffen Gebrauch bzw. Missbrauch gemacht haben? Diese Fragestellung enthält schon in ihrer Formulierung die beiden Lösungsmöglichkeiten der Problematik, nämlich die Bestrafung auf begangene Taten zu beschränken oder auf die Abwehr

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kommender Taten auszudehnen. Die erste Möglichkeit gilt dem Bürger (Bürgerstrafrecht), die zweite gilt dem Feind (Feindstrafrecht). Es ist mir nicht rätselhaft, warum sich moderne Rechtsordnungen einstimmig für die zweite Lösung, also für eine Feindstrafrechtslösung entscheiden. Denn Feindstrafrechtsnormen sind in einem Rechtsstaat funktional, d.h. dass der Rechtsstaat einiger konkreter Feindstrafrechtsnormen bedarf, um seine rechtsstaatliche Struktur erhalten zu können. Zu diesen Normen, die ich als „Kernfeindstrafrecht“ bezeichnen möchte, gehören drei Gruppen von Institutionen, nämlich die sog. Statusdelikte (Organisationsdelikte), die Besitzdelikte und einige Maßregeln der Besserung und Sicherung.

II. Kernfeindstrafrecht 1. Statusdelikte Sog. Statusdelikte bzw. Organisationsdelikte bilden eine deliktische Figur, die man in jedem Strafgesetzbuch findet. Die übliche Beschreibung der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung enthält zwei verschiedene Merkmale, ein objektives und ein subjektives Element. Das erste ist das Zusammentreffen mehrerer Subjekte, also das Zusammenkommen von zwei, drei oder mehr Personen, die sich in einer Verbindung bzw. in einem verbrecherischen Unternehmen vereinigen, das zweite ist der Zweck, Straftaten zu begehen. Beide Elemente für sich betrachtet sind regelmäßig strafrechtlich neutral: Das erste Elemente bezeichnet unter normalen Umständen sogar ein Grundrecht, das in jeder Verfassung, in jedem Grundgesetz anerkannt wird (etwa in Art. 9 Abs. 1. des deutschen Grundgesetzes: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“). Man darf mit anderen Kollegen beispielsweise eine sportliche Vereinigung bilden (wie etwa den Fußballverein „FC Bayern München“) oder man kann eine kulturelle Vereinigung gründen (wie etwa die „Heinrich Mann Stiftung“) usw. Warum ist die kriminelle bzw. terroristische Vereinigung keine Ausübung eines solchen Grundrechtes? Warum darf man sich hier nicht mit anderen vereinigen? Die übliche Antwort würde lauten: Weil eine Fußballmannschaft zu unterstützen oder Heinrich Mann zu lesen, erlaubte Zwecke sind, die die Rechtsordnung nicht nur nicht verbieten will, sondern sogar in Form eines Grundrechts garantiert. Bei einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung ist aber der Zweck nicht erlaubt, solange dieser darauf gerichtet ist, Straftaten zu begehen. So lautet die restliche Überlegung: Man bestraft Mitglieder einer Vereinigung, gerade weil sie die Neigung haben, sich deliktisch zu verhalten. Damit kommen wir zum zweiten Element, zum Zweck. Ein Zweck wird

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gedanklich gesetzt. In der Phase der Planung geht es um die gedankliche Vorwegnahme der Tat nach der Vorstellung des Täters. Auch dies ist für sich genommen regelmäßig straflos. Gedanken sind straffrei (Cogitationis poenam nemo patitur).37 Worin besteht nun das Unrecht der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung, wenn beide Elemente für sich betrachtet neutral bzw. rechtsadäquat sind, wenn die Vereinigungsfreiheit garantiert und die Gedanken prinzipiell straffrei sind? Das Unrecht einer solchen Vereinigung besteht nicht bloß in der Summe zweier Elemente (es geht also nicht um die Pönalisierung des Neutralen!38), sondern es ist etwas mehr und etwas anderes. Eine solche Vereinigung zu gründen, also den Status zu haben, Mitglied einer solchen Vereinigung zu sein, bedeutet ein verbrecherisches Unternehmen zu organisieren, ein Unternehmen, das schon jetzt – aktuell, de facto – eine soziale Unruhe hervorruft. Das Mitglied einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung wird also nicht deshalb bestraft, weil es sich mit den anderen getroffen hat, und auch nicht, weil es mit den anderen als Kollektiv zu Verbrechen tendiert, sondern aus rein objektiven Gründen: Weil die Bildung solcher Vereinigungen kognitiv-normative Unsicherheit schafft. Deswegen geht der Gesetzgeber davon aus, dass Terroristen, die sich mit anderen zu kriminellen Zwecken vereinigen, die Basis der Gesellschaft attackieren und dadurch die Mindestsicherheit, die eine übliche Normgeltung braucht, zerstören. Aus diesem Grund wird der Täter nicht mehr als Person anerkannt, sondern als Feind behandelt, indem er vorverlagert bestraft wird. Der Zweck einer solchen vorverlagerten Bestrafung ist kein anderer als der Schutz der Bürger, deren Schutzerwartungen sonst grob desavouiert würden. Jetzt versteht man auch, warum sich die aktuellen Gesetzgeber in den Rechtsstaaten einstimmig für eine solche feindstrafrechtlich vorverlagerte Bestrafung entschieden haben. Im Grundfall eines Verbrechens beginnt die Strafbarkeit mit dem Versuch. Die Vorstellung, bei einer terroristischen Vereinigung abwarten zu müssen, bis die rechtsfeindlichen Aktivitäten ihrer Mitglieder das Stadium des Versuchs erreichen, wäre zwar rechtsstaatlich ideal, bringt aber die Brüchigkeit, Fragilität der Ordnung zum Vorschein, die dem Idealen nun einmal in einer schmutzigen Welt eigen ist. Deswegen wird dieses Handeln, das im Rahmen des gesamten Tatplans eigentlich

37 Klesczewski in: Gaede/Meyer/Schlegel (Hrsg.), HRRS-Festgabe für G. Fezer, 2008, S. 114 ff, im Internet abrufbar unter: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/hrrs-fezer-festgabe.pdf. 38 Vgl. etwa Cancio Meliá in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 47 ff und Hefendehl in: ders. (Hrsg.), Grenzlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 89 ff.

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„nur“ eine Vorbereitungshandlung darstellt39, bereits im Vorfeld bestraft, und zwar als vollendete autonome Straftat. Das Vereinigungsdelikt ist dabei von den Zweckdelikten völlig unabhängig (obwohl die erste Tat die Vollziehung der Zweiten zu hindern versucht – deswegen wird die vorverlagerte Tat „Hindernisdelikt“ – aus dem franz. „délit obstacle“ – genannt40). Die Terroristen, die sich zusammen vereinigen, werden wegen vollendeter Bildung einer terroristischen Vereinigung bestraft, ohne dass sie mit der Verwirklichung der Zweckdelikte begonnen haben müssen. Es handelt sich dabei nicht nur um Straftaten, die der terroristisch motivierten Zielsetzung dienen (Attentate, Waffenschieberei, etc.), sondern auch um solche, die den Etat terroristischer Operationen sichern sollen, die also schon de facto die Gesellschaft in Schrecken versetzen.

2. Besitzdelikte Das gleiche beobachtet man bei den Besitzdelikten, eine Form von Straftaten, auf die einige Strafgesetze ihren Focus gerichtet haben. Bestraft wird hier der Besitz von Gegenständen. Dabei wird nicht immer das Wort „besitzen“ verwendet. Der Gesetzgeber gebraucht auch die Worte „vorrätig halten“, „aufbewahren“, „lagern“ u. a. Unter Strafe gestellt ist zum Beispiel der Besitz von Sprengstoff, Schusswaffen, Drogen, Kinderpornographie usw. Warum sollte man den bloßen Besitz dieser Gegenstände vorverlagert unter Strafe stellen, auch dann, wenn der Besitzer den betreffenden Gegenstand noch überhaupt nicht gebraucht hat? Auch hier kann der verbrecherische Zweck des Besitzes nicht der Grund sein, denn Gedanken sind nach dem oben Gesagten straffrei. Der Grund liegt vielmehr darin, dass ein solches Verhalten – genauer: die Interaktion zwischen dem Subjekt (dem Täter) und dem gefährlichen Objekt (der Waffe etc.) – schon de facto kognitive Unsicherheit schafft, so dass die Normgeltung in einer Weise beeinträchtigt wird, dass die Bürger nicht mehr auf die Norm vertrauen können. Um ein Mindestmaß an kognitiver Sicherheit für die Bürger zu garantieren, wird auch im Vorfeld der Besitz von einigen Gegenständen kriminalisiert.

39 Vgl. Puschke in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 9 ff und Chen in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 41 ff. 40 Über die Dogmatik der Vorbereitungsdelikte siehe demnächst Polaino Navarrete/PolainoOrts FS Achenbach, erscheint 2011.

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3. Maßregel Zum dritten Beispiel lese man etwa folgende Überlegungen von Roxin: „Es bedarf keiner längeren Ausführung, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung im Gegensatz zu den Strafen eine Frucht täterstrafrechtlichen Denkens sind. Sie sind aus der spezialpräventiven Theorie Liszts (...) herausgewachsen und orientieren sich prinzipiell ganz an der Täterpersönlichkeit. Da sie keine Schuld voraussetzen, tritt die Einzeltat als Grundlage der Verantwortlichkeit weit zurück. Allerdings sind in das Maßregelsystem rechtsstaatliche Sicherungen eingebaut, und insofern sind auch hier die Tat und ihr Gewicht nicht völlig unerheblich. Aber im Verhältnis zur Strafe sind hier die Vorzeichen umgekehrt. Die Täterpersönlichkeit steht im Vordergrund (...).“41 Wenn man diese Aussagen Roxins, einem der Kritiker des Feindstrafrechts, mit der Jakobsschen Beschreibung des Feindstrafrechts vergleicht, erhält man beinahe den Eindruck, dass beide nahezu identisch sind. Und in der Tat stellen die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die traditionell als legitim betrachtet werden, strukturell feindstrafrechtliche Reaktionen dar, die besonders gefährliche Individuen bekämpfen. Sie sind eine Frucht täterstrafrechtlichen Denkens, die auf offene Exklusion bzw. Depersonalisierung des Täters gerichtet sind. Man denke etwa an die sog. Entfernungsmaßregel, nach welcher der Täter bzw. der Verdächtige von dem Opfer entfernt bleiben muss, mit ihm nicht in Kontakt treten, sich ihm nicht nähern darf usw., oder an die sog. Sicherungsverwahrung, die nicht nur zurück auf die abzuurteilende Tat blickt, sondern auch und hauptsächlich in die Zukunft, in der sich ein „Hang zu erheblichen Straftaten“ für die Allgemeinheit „gefährlich“ auswirken könnte (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 des deutschen StGB). Alles in allem: Die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die auf zurechnungsfähige, gefährliche Täter angewendet werden, bilden ein klares Beispiel rechtsstaatlichen Kernfeindstrafrechts: Solche Täter werden als gefährliche Subjekte angesehen und mit einer effektiven Maßregel bekämpft.

4. Anderes Kernfeindstrafprozessrecht und Strafvollstreckungsrecht Ferner finden sich auch im Prozessrecht sowie auch im Strafvollstreckungsrecht Regelungen, die nur feindstrafrechtlich zu deuten sind: Ein Überwachen des Telefons, ein heimliches Abhören der Wohnung und manches andere mehr sind keine Rechtsinstitute, die den Bürgern gelten, son-

41

Roxin AT I § 6 Rn. 23.

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dern – wie Jakobs42 betont – hier geht es dem Staat um Täter, in denen er Feinde vermutet.

III. Ergebnis Feindstrafrecht hat nach alldem in modernen Rechtsstaaten zweifellos eine empirische Basis: Es gibt ein real funktionierendes Feindstrafrecht. Ein solches Recht enthält schließlich Rechtsinstitute, die völlig legitim sind. Wenn das Bürgerstrafrecht die ultima ratio des Strafrechts bildet, dann ist das Feindstrafrecht die ultima ratio der ultima ratio des Strafrechts, also ein „Auslassventil“, mit dem das Strafrecht eine bessere Stabilisierung und den bestrealisierbaren Rechtsstaat anstrebt – nicht den besten denkbaren, dieser kann in der Praxis nicht existieren. Die Konzeption des funktionalen Ansatzes des Feindstrafrechts ist i. d. S. eine Garantie für den Rechtsstaat.

42

Jakobs in: ders./Polaino-Orts, Delitos de organización: un desafío al Estado, 2009, S. 49

Die Herausforderung des liberalen Strafrechts durch die politische Philosophie Giorgio Agambens PETRA WITTIG

I. Einführung Claus Roxin hat sich stets gegen den Versuch gewehrt, ein „Feindstrafrecht als legitime Alternative zum Bürgerstrafrecht zu etablieren“.1 Niemand könne – so mahnt Roxin eindringlich – wollen, dass die jeweiligen Machthaber bestimmte Personengruppen als „Feinde“ definieren, die als „Unpersonen“2 nicht mehr mit allen Rechtsgarantien eines Beschuldigten ausgestattet sind, denn dadurch verlöre das Strafrecht „seine liberale Funktion als Magna Charta des Verbrechens“.3 Nun steht die von Roxin vertretene und maßgeblich geprägte Konzeption eines Rechtsgüter schützenden rechtsstaatlich-liberalen Tatstrafrechts möglicherweise vor einer neuen, noch radikaleren Herausforderung, die jedoch, wie die nachfolgende Analyse zeigen soll, nur eine vordergründige Ähnlichkeit mit Jakobs' Feindstrafrecht aufweist.4 Es handelt sich um die politische Philosophie des italienischen Philosophen, Philologen und Juristen Giorgio Agamben, die sowohl als pessimistischer Gegenentwurf zum Liberalismus aber auch zu modernen Demokratietheorien zu verstehen ist5. Seine provokanten Thesen hat Agamben vor allem in seinem Werk „Homo sacer“ mit dem programmatischen Untertitel „Die Souveränität der Macht

1

Vgl. nur Roxin AT I § 2 Rn. 127. Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 53. 3 Roxin AT I § 2 Rn. 129. 4 Einen Bezug zwischen Agamben und Jakobs stellt z. B. Prömmel KrimJ 2006, 242 ff her, allerdings vorrangig unter dem Aspekt, ob sich hier eine Entwicklung manifestiert, die vom Zweckgedanken der relativen Straftheorien zu einer Ökonomisierung des Rechts im Sinne einer „neo-liberalen Rationalität“ führt. 5 Siehe Steinhauer in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 192 f. 2

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und das nackte Leben“6 niedergelegt. Dieses bezeichnet einer der Rezensenten hymnisch als eines der „Bücher, die alles umstürzen, die durch die Lektüre neue Augen verleihen, mit denen von nun an alles betrachtet werden muss“7. Agamben, so mit kritischem Unterton ein anderer Rezensent, befriedige die „Lust am düsteren Erhabenen“ und solle „noch einmal jenen Generalschlüssel liefern, mit dem sich das verriegelte „Irrenhaus“ der Moderne aufschließen lässt“.8 Besonders Agambens These vom Konzentrationslager als „verborgene Matrix, als nómos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben“9 hat Aufsehen erregt und besitzt nach Errichtung des Lagers in Guantanamo und nach den Folterungen von Abu Ghraib eine beängstigende Aktualität.10 Einige der in „Homo sacer“ entwickelten Gedanken führte Agamben dann in seinen Werken „Ausnahmezustand“11 sowie „Was von Auschwitz bleibt“12 fort. Während die politische Philosophie Agambens in der philosophischen und politologischen Literatur, aber auch in den Feuilletons eine breite Resonanz erfahren hat, ist sie in der juristischen Fachwelt bisher noch wenig rezipiert worden.13 Das ist schon deshalb verwunderlich, weil Agamben das Recht fundamental in Frage stellt, für ihn „stellt sich der biopolitische Körper des Abendlandes […] als Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Faktum und Recht, Norm und biologischem Leben dar“ 14. Auch stellt er sich in die Tradition deutscher Philosophen und Staatsdenker wie Carl Schmitt, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Im „Homo sacer“15 bezieht er sich außerdem ausführlich auf die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“16 des Strafrechtswissenschaftlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahre 1920. 6

Agamben Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, 2002. Platthaus FAZ vom 19.3.2002. 8 Assheuer DIE ZEIT vom 1. 7. 2004. 9 Agamben (Fn. 6) S. 175. 10 So auch Agamben in einem Interview in Der Spiegel 9/2006, 168 f. 11 Agamben Ausnahmezustand (Homo sacer II. 1), 2004. 12 Agamben Was von Auschwitz bleibt (Homo sacer III), 2003. 13 Aus juristischer Sicht würdigen Agambens Werk vor allem Steinhauer in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 187; Kiesow Rechtsgeschichte 1 (2002), 56; Staff Rechtsgeschichte 5 (2004), 207; aus spezifisch strafrechtlicher Sicht Prömmel KrimJ 2006, 242. Vgl. auch Zartaloudis/Murray (Hrsg.), Law and Critique 2009/3, Special Issue on Giorgio Agamben; nun auch aus rechtssoziologischer Sicht Opitz KJ 2010, 436 . 14 Agamben (Fn. 6) S. 196. 15 Agamben (Fn. 6) S. 145 ff. 16 Binding/Hoche Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihr Ziel, 1920, 2006; hierzu Riha (Hrsg.), Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 2005. 7

Die Herausforderung des Strafrechts durch die Philosophie Agambens

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Der folgende dem verehrten Jubilar gewidmete Beitrag kann das vielschichtige und oft nicht leicht verständliche Werk Agambens weder umfassend darstellen noch kritisch würdigen, sondern nur einige wichtige für das Strafrecht möglicherweise relevante Thesen einführend darstellen.17 Auch kann in diesem Rahmen nur angedacht werden, welche Parallelen und vor allem Unterschiede es zum Feindstrafrecht von Jakobs gibt. Mein Anliegen ist es jedoch vor allem aufzuzeigen, welche Sprengkraft die politische Philosophie Agambens für eben jenes liberale Strafrecht haben könnte, für das Claus Roxin stets so eindrucksvoll eintritt.18.

II. Homo sacer 1. Agambens politische Deutung Für seine Analyse greift Agamben auf eine „rätselhafte“ „Figur des archaischen römischen Rechts“19 zurück, den „homo sacer“. Dieser ist für Agamben als ein für die abendländische politische Tradition ursprüngliches Paradigma von Interesse, als Figur mit „Wiedererkennungsmöglichkeiten“20. Agambens homo sacer stellt teilweise schockierende Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ausprägungen des homo sacer von der Antike bis heute, vom Konzentrationslager über die Guantanamo-Häftlinge bis hin zum hirntoten Organspender her.21 Insofern muss für unsere Zwecke dahingestellt bleiben, ob seine Interpretation des homo sacer den historischen Tatsachen entspricht und ob es „reale“ homines sacri tatsächlich gegeben hat.22 Wie Sextus Pompeius Festus in seinem Traktat „Über die Bedeutung der Worte“ (De significatione verborum)23, beschreibt Agamben den homo 17

Eine gute Einführung bietet z. B. Geulen Giorgio Agamben zur Einführung, 2009. Man denke nur an die klare Absage Roxins nicht nur an ein Feindstrafrecht, sondern auch an Versuche, die sog. Rettungs-Folter zu rechtfertigen (Roxin FS Eser, 2005, 461). 19 Agamben (Fn. 6) S. 81. 20 Zutreffend Geulen (Fn. 17) S. 21. 21 Geulen (Fn. 17) S. 21 f. 22 Kritisch z. B. Kiesow Rechtsgeschichte 1 (2002), 63 f: „historische Phantasie“, „pure Spekulation“. 23 „At homo sacer is est, quem populus iudicavit ob maleficium; neque fas est eum immolari, sed qui occidit, parricidi non damnatur; nam lege tribunicia prima cavetur „si quis eum, qui eo plebei scito sacer sit, occiderit, parricida ne sit“. Ex quo quivis homo malus atque improbus sacer appelari solet.“ Übersetzung nach Agamben (Fn. 6) S. 81: „Sacer ist aber derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt; denn im ersten tribunizischen Gesetz ist festgelegt: „Wenn einer denjenigen umbringt, der aufgrund eines Plebiszits sacer ist, dann wird 18

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sacer als einen Menschen, der aufgrund seiner Heiligkeit zwar straflos getötet werden darf, nicht aber geopfert werden kann. „Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf, ist das heilige Leben“.24 Die „sacratio“ reduziert für Agamben den Menschen auf sein „nacktes Leben“, welches er anknüpfend an die Unterscheidung der griechischen Philosophie zwischen dem „natürlichen“ Leben (zoƝ) und dem „politisch qualifizierten“ Leben (bíos) wie folgt beschreibt: „Doch dieses Leben ist nicht einfach das natürliche reproduktive Leben, die zoƝ der Griechen, auch nicht der bíos als qualifizierte Lebensform; es ist vielmehr das nackte Leben des homo sacer und des wargus [Wolfsmensch, Werwolf], Zone der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Mensch und Tier, zwischen Natur und Kultur“.25 Die „sacratio“ als „Grenzbegriff der römischen Gesellschaftsordnung“26 bilde somit „eine doppelte Ausnahme, sowohl vom ius humanum als auch vom ius divinum, sowohl vom religiösen wie vom profanen Bereich“27. Der homo sacer sei folglich ein Mensch, dessen Leben „außerhalb des menschlichen wie des göttlichen Rechts“28 angesiedelt ist. Die Verfassung des homo sacer wird bei dieser Deutung „nicht so sehr durch die vermeintlich ursprüngliche Doppeldeutigkeit der Heiligkeit“ (als Heiligkeit und Verfluchtheit zugleich) bestimmt, sondern durch die „Eigentümlichkeit der doppelten Einschließung“, in die er durch die an ihm verübte Gewalt versetzt wird.29 Diese Gewalt „ist weder als Opfer noch als Mord noch als Vollstreckung eines Urteils noch als Sakrileg einzustufen“, es wird eine Sphäre des menschlichen Handelns eröffnet, die „weder in diejenige des sacrum facere noch in die der profanen Handlungen gehört“.30 Dennoch: Die Heiligkeit ist die „ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung“31. Im homo sacer

er nicht als Mörder betrachtet“. Daher pflegt man einen schlechten und unreinen Menschen sacer zu nennen.“ 24 Agamben (Fn. 6) S. 92. 25 Agamben (Fn. 6) S. 119. 26 Agamben (Fn. 6) S. 83. 27 Agamben (Fn. 6) S. 92. 28 Agamben (Fn. 6) S. 83. 29 Agamben (Fn. 6) S. 92. 30 Agamben (Fn. 6) S. 92. 31 Agamben (Fn. 6) S. 95.

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fallen Recht und Leben zusammen, sie werden ununterscheidbar. Dadurch wird das Recht inhaltslos.32

2. Homo sacer und Ausnahmezustand Der „Clou Agambens“33 besteht nun darin, dass er die so politisch gedeutete Figur des homo sacer in Beziehung zu Carl Schmitts Souveränitätslehre setzt. Danach ist bekanntlich souverän, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet“34. Für Agamben ist daran anknüpfend „die originäre politische Beziehung der Bann (der Ausnahmezustand als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausschließung und Einschließung)“35. Der homo sacer wiederum stellt „die ursprüngliche Figur des in Bann genommenen Lebens dar und bewahrt das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die politische Dimension konstituiert hat“36. Die souveräne Macht gründet damit im Bann als „der ausschließenden Einschließung des nackten Lebens in den Staat“37. Zwischen „sacratio“ und Souveränität besteht so eine ständige Verbindung, denn „die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität“38. „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist“.39 Homo sacer und Souverän seien

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Zu dieser Annahme des ius sacrum als eines inhaltslosen („nackten“) Rechts kritisch z. B. Kiesow Rechtsgeschichte 1, 2002, 56. 33 Kiesow Rechtsgeschichte 1, 2002, 56, 63. 34 Carl Schmitt Politische Theologie: Vier Kapitel von der Lehre der Souveränität, 2009, S. 14. Im Ausnahmezustand bleibt nach Schmitt „der Staat bestehen […], während das Recht zurücktritt“ (S. 18 f.). Der Ausnahmezustand suspendiert danach die Norm und offenbart „ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit“ (S. 19). Zu Schmitts Theorie des Ausnahmezustands ausführlich Agamben (Fn. 11) S. 42 ff. 35 Agamben (Fn. 6) S. 190. Ausführlich auch zum Ausnahmezustand Agamben (Fn. 11). 36 Agamben (Fn. 6) S. 93. 37 Agamben (Fn. 6) S. 117, ausgeführt auf S. 117 ff. Die klassischen Vertragstheorien von Hobbes bis Rousseau sind damit für Agamben neu zu lesen. So interpretiert er auch den Mythos des Leviathan neu: „Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden“ (Agamben (Fn. 6) S. 134). 38 Agamben (Fn. 6) S. 93. Dies ist für ihn auch die Antwort auf die Frage Benjamins nach dem Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens (Benjamin Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 1965, S. 63); hierzu auch Geulen (Fn. 17) S. 97 f. 39 Agamben (Fn. 6) S. 93.

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„zwei symmetrische Figuren […], die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souverän handeln“40. Sowohl die „souveräne Ausnahme (als Zone der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Recht)“41 als auch der homo sacer stecken damit „den ersten eigentlichen politischen Raum“ ab, „der sowohl vom religiösen wie vom profanen Bereich, von der natürlichen Ordnung wie von der normalen Rechtsordnung abgegrenzt ist“42. Mit diesen Ausführungen ist die Grundlage für ein biopolitisches Verständnis der Souveränität gelegt, wonach deren „fundamentale Leistung […] die Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches Element ist“43. Dieses ist bereits in der Antike in der „sacratio“ angelegt, der moderne Staat rückt jedoch „das biologische Leben in das Zentrum seines Kalküls“44.

3. Menschen- und Bürgerrechte Agamben sieht einen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und der modernen Biopolitik. Problematisch sei, dass Menschenrechte im Nationalstaat an die Bürgerrechte gekoppelt seien. Erkämpfte Freiheiten und Rechte der Individuen „bahnen jedes Mal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament“.45 Da die abendländische Politik somit von Anfang an Biopolitik ist, erweist sich für Agamben auch „jeder Versuch, die politischen Freiheiten auf den Bürgerrechten zu gründen, als nichtig“46. Damit lassen sich totalitäre Regimes und demokratische Systeme kaum noch voneinander unterscheiden. Die „Kontinuität zwischen 40

Agamben (Fn. 6) S. 94. Agamben (Fn. 6) S. 30. 42 Agamben (Fn. 6) S. 94. 43 Agamben (Fn. 6) S. 190. Sein Konzept der Biopolitik ist damit weiter als das der Biomacht oder -politik von Foucault, der festgestellt hatte: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“ (Foucault Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit I, 1999, S. 171). Zu Parallelen und Unterschieden zwischen Foucault und Agamben siehe Geulen (Fn. 17) S. 95 ff; Lemke Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben in: Bröckling u. a. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, 2004, S. 257. 44 Agamben (Fn. 6) S. 16. 45 Agamben (Fn. 6) S. 129. Deshalb steht auch für Agamben die Habeas-Corpus-Akte von 1679 am Beginn der modernen Biopolitik (Agamben (Fn. 6) S. 131 ff). 46 Agamben (Fn. 6) S. 190. 41

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Mensch und Bürger, Nativität und Nationalität, Geburt und Volk“ werde jedoch durch die steigende Zahl der Flüchtlinge aufgebrochen und damit die „Ursprungsfiktion der modernen Souveränität“ in eine Krise gestürzt.47

III. Moderne Erscheinungsformen des Homo sacer 1. Von der „sacratio“ bis zum Konzentrationslager Im archaischen römischen Recht zogen nach den Quellen bestimmte Vergehen die „sacratio“ nach sich, z. B. Tilgung der Grenzen (terminum exarare), Gewalt des Sohnes gegenüber den Eltern (verberatio parentis) sowie Betrug des Patrons gegenüber einem Klienten.48 Agamben beschreibt aber auch spätere Ausprägungen des homo sacer vom „wargus“ (Wolfsmensch, Werwolf) und dem „Friedlosen“ des altgermanischen Rechts bis hin zum KZ-Häftling oder dem Flüchtling. In der modernen Gesellschaft bewohnt das nackte Leben „im neuen biopolitischen Horizont der Staaten mit nationaler Souveränität […] den biologischen Körper jedes Lebewesens“49 Jede – und zwar auch und gerade die moderne – Gesellschaft entscheidet somit über „die Schwelle […], jenseits derer das politisch relevante Leben aufhört, um nur mehr „heiliges Leben“ zu sein und als solches straflos eliminiert werden zu können“50. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ausprägungen des homo sacer in der Moderne beispielhaft dargestellt werden.

2. Der hirntote Mensch Der strafrechtliche Schutz des Lebens endet mit dem Tod, der nach h. M. in der deutschen Strafrechtswissenschaft mit dem Gesamthirntod eintritt.51 Agamben sieht in dieser und vergleichbaren rechtlichen Regelungen eine „Politisierung des Todes“.52 „Ein Recht, das behauptet, über das Leben zu entscheiden, ist in einem Leben verkörpert, das mit dem Tod zusammen fällt.“53

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Agamben (Fn. 6) S. 140. Agamben (Fn. 6) S. 95. 49 Agamben (Fn. 6) S. 148. 50 Agamben (Fn. 6) S. 148. 51 H. M. siehe nur Schroth in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 2010, S. 448 f. 52 Agamben (Fn. 6) S. 169 ff. 53 Agamben (Fn. 6) S. 196. 48

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Die hirntoten, aber noch atmenden Körper, die „Neutoten“ („neomorts“), „Ultrakomatösen“ oder „falschen Lebenden“ („faux vivants“)54 sind für ihn eine „extreme Inkarnation des homo sacer“ als Leben, „das getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird“.55 Der Körper des Hirntoten, „der dem Fortschritt der Medizin und dem Wechsel der juridischen Entscheidungen folgend zwischen Leben und Tod schwankt, [ist] nicht weniger ein rechtliches Wesen als ein biologisches Wesen“56.

3. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Als weiteres Beispiel nennt Agamben die „Kategorie eines „wertlosen“ oder „lebensunwerten Lebens““57, mit der sich die 1920 erschienene Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Binding und Hoche befasst.58 Dieses Werk ist für Agamben in zweierlei Hinsicht von Interesse: Zum einen erklärt Binding den Selbstmord als Ausdruck der Souveränität des lebenden Menschen über sein Dasein und damit zur straflosen Ausnahme vom Tötungsverbot.59 Zum anderen aber hält Binding die „Euthanasie“ auch im Sinne der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ für zulässig. Nach Binding gibt es für die Gesellschaft und den Staat „absolut wertlose“ ja sogar „negativ zu wertende Existenzen“.60 Die Freigabe der Tötung

54 Agamben nennt als „perfektes Beispiel“ die hirntote Karen Quinlan, die nach Abschalten der Beatmungsgeräte wieder anfing zu atmen und bis zu ihrem „natürlichen Tod“ – wenn auch im Koma – weiterlebte (Agamben (Fn. 6) S. 172 f). 55 Agamben (Fn. 6) S. 173 f. 56 Agamben (Fn. 6) S. 195 f. 57 Agamben (Fn. 6) S. 148. 58 Binding/Hoche (Fn. 16). Am 19.5.2010 wurde Binding aufgrund dieser Schrift die Ehrenbürgerwürde der Stadt Leipzig aberkannt. 59 Binding/Hoche (Fn. 16) S. 6 ff. Freilich kritisiert Binding auch den dadurch verursachten „Verlust einer ganzen Anzahl noch durchaus lebenskräftiger Leben, deren Träger nur zu bequem oder zu feige sind, ihre durchaus tragbare Lebenslast weiter zu schleppen“ (S. 15). 60 Binding führt dazu aus: „Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist aufs tiefste erschüttert von diesem grellen Missklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit […] auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite […] . Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung außer dem einen, ein Vorbild größter Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzen stiftet, lässt sich in keiner Weise bezweifeln.“ (Binding/Hoche (Fn. 16) S. 26 f).

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der danach verlangenden „unrettbar Verlorenen“, aber auch der „unheilbar Blödsinnigen“ hält Binding für zulässig.61 Es geht Agamben in diesem Zusammenhang explizit nicht um eine Stellungnahme zur Euthanasie, sondern um die erstmalige Verwendung des „juridisch-politischen Begriffs“62 des lebensunwerten Lebens in Bezug zum Paradigma des homo sacer: „Daß das „lebensunwerte Leben“ kein ethischer Begriff ist, der die Erwägungen und legitimen Wünsche des einzelnen betrifft, liegt klar auf der Hand; es ist vielmehr ein politischer Begriff, der die extreme Metamorphose des tötbaren und nicht opferbaren Lebens betrifft, das der homo sacer verkörpert und auf dem sich die souveräne Macht gründet“.63 Agamben sieht in der Euthanasie damit ein „spezifisch modernes Problem, dessen sich der Nazismus als erster radikal biopolitischer Staat nicht nicht annehmen konnte“64. Sie stehe an der „Kreuzung zwischen der souveränen Entscheidung über das tötbare Leben und der Übernahme der Sorge um den biopolitischen Volkskörper“65. Die Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms sind bei einer solchen Sicht homines sacri, die straflos getötet werden dürfen, Körper, an denen sich die Souveränität des modernen biopolitischen Staates ausdrückt.

4. Versuchspersonen Als weiteres Beispiel nennt Agamben Häftlinge, an denen medizinische Versuche durchgeführt wurden, sog. Versuchspersonen.66 In diesem Kontext schildert Agamben beispielhaft nicht nur Versuche, die Ärzte im natio61 Binding/Hoche (Fn. 16) S. 30 ff. Nach Naucke handelt es sich in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ um einen Anwendungsfall der Normentheorie Bindings (S. XVIII ff). 62 Agamben (Fn. 6) S. 151. 63 Agamben (Fn. 6) S. 151. Es ist insbesondere vor dem Hintergrund des „EuthanasieProgramms“ der Nationalsozialisten und des Inhalts der Schrift von Binding/Hoche nahezu unverständlich, dass Agamben den historisch so belasteten Begriff des „lebensunwerten Lebens“ als „erste juristische Formulierung in einem gutgemeinten [!] Pamphlet zugunsten der Euthanasie“ (Agamben (Fn. 6) S. 146) bezeichnet. Noch befremdlicher ist, wenn Agamben an anderer Stelle ausführt: „Es gibt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die „humanitären“ Erwägungen, die Hitler und Himmler dazu brachten, sofort nach der Machtergreifung ein Euthanasie-Programm auszuarbeiten, in gutem Glauben angestellt wurden, wie ja auch Binding und Hoche von ihrem Gesichtspunkt aus den Begriff des „lebensunwerten Lebens“ bestimmt in gutem Glauben vortrugen“ (S. 149). 64 Agamben (Fn. 6) S. 152. 65 Agamben (Fn. 6) S. 151. 66 Agamben (Fn. 6) S. 163 ff.

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nalsozialistischen Regime an Lagerhäftlingen durchführten (z. B. in Druckkammern), sondern z. B. auch Experimente, die in den Vereinigten Staaten an zum Tode verurteilten Häftlingen durchgeführt wurden (z. B. zur Malariabekämpfung). Weil diese Todgeweihten „aller Rechte und aller Erwartungen, die wir gewöhnlich mit der menschlichen Existenz verbinden, beraubt und dennoch biologisch noch am Leben sind, halten sie sich in einer Grenzzone zwischen Leben und Tod, zwischen Innen und Außen auf, wo sie nichts weiter mehr waren als nacktes Leben. Mithin werden die zum Tod Verurteilten und die Lagerbewohner in gewisser Weise unbewusst den homines sacri angenähert, einem Leben, das getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird“67.

5. Lagerhäftlinge „Das Lager als nómos der Moderne“68. Es ist zu vermuten, dass es vor allem diese provokante These war, die Agambens Weg zum „Shooting-Star“ der politischen Philosophie geebnet hat. Das Lager (und nicht der Staat) wird zum „Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt“.69 Damit wird der Lagerhäftling zum Prototyp des homo sacer in der Moderne. Agamben wirft nun die Frage auf, „durch welche juristischen Prozeduren und welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre“70. Es zeigt sich wieder die enge Verknüpfung zwischen homo sacer und Ausnahmezustand.71 „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“72 67

Agamben (Fn. 6) S. 168. Agamben (Fn. 6) S. 175. Es handelt sich um eine „kontrafaktische Anspielung“ (Geulen (Fn. 17) S. 105) auf Schmitts Werk, Nomos der Erde, 1950. 69 Agamben (Fn. 6) S. 180. 70 Agamben (Fn. 6) S. 180. 71 Agamben (Fn. 6) S. 175 verweist auch darauf, dass die ersten Erscheinungen des Lagers, die von den Spaniern in Kuba errichteten „campos de concentraciones“ bzw. die von den Engländern im zweiten Burenkrieg errichteten „concentration camps“, aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht hervorgingen, ebenso wie die nationalsozialistischen Lager, deren rechtliche Grundlage die „Schutzhaft“ und der in der Weimarer Verfassung vorgesehene Ausnahmezustand waren. 68

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Die Lagerinsassen sind „jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden“73. Dieses nackte Leben „ist indes kein natürliches extrapolitisches Faktum, welches das Recht nur feststellen oder anerkennen muss; es ist vielmehr […] eine Schwelle, auf der das Recht jeweils ins Faktische und das Faktum ins Rechtliche übergeht und wo die Ebenen dazu tendieren, ununterscheidbar zu werden“74. Im Lager ist „die quaestio iuris überhaupt nicht mehr zu unterscheiden von der quaestio facti und demnach ist jede Frage nach der Legalität oder Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos“75. „Das Lager ist der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit, zwischen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird. Was der Aufseher oder der Funktionär vor sich hat, ist kein außerrechtliches Faktum (ein Individuum, das biologisch der jüdischen Rasse zugehört), auf die es das discrimen der nationalsozialistischen Norm anzuwenden gilt; im Gegenteil, jede Geste, jeder Vorfall im Lager […] setzt die Entscheidung über das nackte Leben ins Werk, die den deutschen biopolitischen Körper verwirklicht.“76 Eine extreme Ausformung des homo sacer ist ein Mensch, den Agamben in Anlehnung an den Sprachgebrauch in den nationalsozialistischen Lagern als „Muselmann“ bezeichnet.77 Dieser aufgrund der Verhältnisse in den Lagern, vor allem dem Hunger, völlig apathisch gewordene Häftling bewegt sich nach Agamben „in einer absoluten Ununterscheidbarkeit von Faktum und Recht, Leben und Norm, von Natur und Politik“78. „Auschwitz ist das Todeslager, doch zuvor noch ist es der Ort eines noch nicht gedachten Experiments, bei dem sich jenseits von Leben und Tod der Jude in den Muselmann verwandelt und der Mensch in den NichtMenschen.“79 72

Agamben (Fn. 6) S. 177. In einem späteren Interview bezeichnet Agamben das KZ als perfektes Beispiel für den Ausnahmezustand und nennt als weitere Beispiele für solche „Ausnahmebezirke“ das Lager auf Guantanamo, die „zones d‘attente“ für Immigranten auf Flughäfen, aber auch die zunehmende Kontrolle über den Menschen in modernen Gesellschaften (Der Spiegel 2006/9, 168 f). 73 Agamben (Fn. 6) S. 180. 74 Agamben (Fn. 6) S. 180. 75 Agamben (Fn. 6) S. 179. 76 Agamben (Fn. 6) S. 183. 77 Ausführlich zur Figur des Muselmanns Agamben (Fn. 12) S. 36 ff. 78 Agamben (Fn. 6) S. 194. 79 Agamben (Fn. 11) S. 45.

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Agamben scheut sich auch nicht, die „detainees“ in Guantanamo, die für die US-Administration weder den Status von Angeklagten nach nationalem Strafrecht noch von Gefangenen nach internationalem humanitärem Völkerrecht haben, in diesen Zusammenhang zu stellen. „Vergleichbar ist dies allenfalls mit dem rechtlichen Status der Juden in den Nazi-Lagern, die mit der Staatsbürgerschaft jede rechtliche Identität verloren, aber wenigstens die jüdische noch behielten. […] Mit dem detainee von Guantanamo [erreicht] das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit.“80

IV. Vom Feind zum homo sacer? – Ein Vergleich 1. Ausgangspunkt Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Feindstrafrecht Jakobs' mit seiner Differenzierung zwischen Bürger und Feind einerseits und der politischen Philosophie Agambens mit ihrer Differenzierung zwischen dem bürgerlichen Leben und dem nackten Leben des homo sacer andererseits erörtert werden. Dies ist deshalb gerechtfertigt, weil eine zumindest vordergründige Übereinstimmung nicht zu leugnen ist. Ist nicht der „detainee“ in Guantanmo sowohl „homo sacer“ (Agamben) als auch “Feind“ und „Unperson“ (Jakobs)? Erinnern nicht sowohl Agambens homo sacer als Bezugsgröße der „souveränen Ausnahme“ als auch die Bürger/Feind-Unterscheidung Jakobs' an die für den Begriff des Politischen konstitutive Freund/Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt?81 Der direkte Vergleich zeigt jedoch vor allem, um wie viel radikaler die Thesen Agambens das liberale Strafrecht in Frage stellen als das häufig kritisierte Feindstrafrecht Jakobs‘scher Provenienz. Vielleicht gibt er aber auch Anlass, einige Formulierungen Jakobs', z. B. den der „Exklusion“ des Feindes oder seine Charakterisierung als „Unperson“, noch einmal zu überdenken, da hierdurch eine Nähe zu der Konzeption Agambens, aber auch

80

Agamben (Fn. 11) S. 10. An dieser Stelle kann ein umfassender Vergleich nicht geleistet werden. Es sei nur daran erinnert, dass Agamben sich ausführlich auf Carl Schmitt beruft, auch wenn er dessen Freund/Feind-Unterscheidung als Kriterium des Politischen (Schmitt Der Begriff des Politischen, 8. Aufl. 2009, insb. S. 52 f.) letztlich ablehnt (Agamben (Fn. 6) S. 18, 120). Auch Jakobs' Denken wird zumindest in die Nähe zu Schmitts politischem Denken gerückt siehe z. B. Uwer in: Uwer (Hrsg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat, 2006, S. 42: „An keiner Stelle zitiert Jakobs Carl Schmitt, aber an jeder Stelle scheint er hervor“. 81

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Carl Schmitts hergestellt wird, die bei genauerem Hinsehen nicht gegeben ist.

2. Bürger und Feind (Jakobs) Jeder Normbrecher stellt bekanntlich nach Jakobs die normative Erwartung der Gesellschaft in Frage, er werde sich als Person hinreichend rechtstreu verhalten. Damit kann er „allenfalls eingeschränkt als Person behandelt werden; denn bereichsweise fehlt seiner Personalität eben die kognitive Untermauerung“82. Jakobs wendet sich – in Abgrenzung z. B. zu Fichte und auch zu Rousseau – jedoch explizit gegen die Annahme, jeder Normbrecher verliere aufgrund des Normbruchs vollständig seine Personalität.83 Dies läge zwar im Hinblick z. B. auf die „Friedlosigkeit in mittelalterlichen Rechten“ nahe (auf die sich auch Agamben bezieht). Auf eine „Normaltat“84 reagiere die Gesellschaft jedoch vielmehr (nur) mit Strafe, die in ihrer Bedeutung als Widerspruch gegen den Normbruch ihrerseits normativen Gehalt hat und die den Zweck hat, durch den Strafschmerz die Normgeltung kognitiv zu sichern.85 Zum „Feind“ wird nur der „prinzipiell Abweichende“, der keine Garantie personalen Verhaltens mehr bietet86, z. B. der Terrorist. Er wird anders als der delinquente Bürger nicht bestraft, sondern bekriegt und aus der Gesellschaft (zumindest vorläufig) exkludiert: „[…] es geht um die Herstellung erträglicher Umweltbedingungen dadurch, daß alle diejenigen – sit venia verbo – kaltgestellt werden, die nicht die kognitive Mindestgarantie bieten, die nötig ist, um sie praktisch aktuell als Personen behandeln zu können. Gewiß wird das Verfahren zur Behandlung der feindlichen Individuen rechtlich geregelt, aber es handelt sich um die rechtliche Regelung einer Exklusion: Feinde sind aktuell Unpersonen. Auf den Begriff gebracht ist Feindstrafrecht also Krieg“.87 Jakobs unterscheidet damit zwischen dem gefährlichen Individuum, das als Feind (und aktuelle „Unperson“) mit Mitteln des „Feindstrafrechts“ bekämpft wird und auch werden muss, und einem Straftäter, der nur als

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Jakobs Norm, Person, Gesellschaft, 2008, S. 83. Zum Folgenden Jakobs (Fn. 82) S. 110. 84 Jakobs HRRS 2004, 91. 85 Jakobs Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 29 f. 86 Jakobs HRRS 2004, 95. 87 Jakobs (Fn. 2) S. 53. Der Rückweg in die „volle personale Wirklichkeit“ bleibt jedoch möglich (Jakobs (Fn. 82) S. 84). 83

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Person falsch agiert und deshalb auch in der Bestrafung als Bürger respektiert wird, weil auf ihn das „Bürgerstrafrecht“ Anwendung findet.88

3. Homo sacer (Agamben) und Feind (Jakobs) Ein entscheidender Unterschied zwischen Feind und homo sacer springt damit sofort ins Auge. Die „souveräne Macht“ bestimmt unabhängig vom Verhalten des Betroffenen, wer homo sacer ist. Dies zeigt sich auch deutlich, wenn Agamben in Bezug auf die „sacratio“, die immerhin historisch an bestimmte Vergehen anknüpft, feststellt: „Die Vergehen, die den Quellen nach die sacratio nach sich ziehen […,] hätten demnach nicht den Charakter einer Normübertretung, auf welche die entsprechende Sanktion folgt; vielmehr sind sie die ursprüngliche Ausnahme, in der das menschliche Leben, das einer bedingungslosen Tötbarkeit ausgesetzt ist, in die politische Ordnung eingeschlossen wird“.89 Es bedarf auch keiner weiteren Ausführungen, dass auch Hirntote, Euthanasieopfer, Versuchspersonen und die „Muselmänner“ in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern nicht aufgrund ihres Verhaltens zum homo sacer geworden sind. Vielmehr hat die „souveräne Macht“ entschieden, ihnen ihr Dasein als homines sacri in ihre Körper einzuschreiben. Ob dies einen Normbrecher trifft oder nicht, ist für Agamben schlichtweg irrelevant, denn es handelt sich für ihn um eine politische, keine rechtliche Entscheidung. Dagegen knüpft bei Jakobs die Behandlung eines Menschen als Feind (und nicht als Bürger) an ein delinquentes Verhalten an. Auch geht es Jakobs selbstverständlich nicht um die straflose Tötbarkeit bestimmter delinquenter Individuen. „Wer als Person behandelt werden will, muß seinerseits eine gewisse kognitive Garantie dafür geben, daß er sich als Person verhalten wird. Bleibt diese Garantie aus oder wird sie sogar ausdrücklich verweigert,

88 Zur grundlegenden Unterscheidung zwischen dem „Individuum“, das auch seine Beziehungen zu anderen nur an dem Schema Lust/Unlust orientiert, und der „Person“, die durch das Schema Pflicht (Sollen) und Willkür (Freiraum) definiert wird, siehe Jakobs (Fn. 82). 89 Agamben (Fn. 6) S. 95. Ob diese Interpretation dem Stand der rechtshistorischen Forschung entspricht, kann, wie schon erwähnt (siehe II 1), dahingestellt bleiben, da der homo sacer als für Agambens Denken zentrales Paradigma und nicht als historische Tatsache betrachtet wird.

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wandelt sich das Strafrecht von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat eines ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind.“90 Für Jakobs geht es neben der Deskription immer auch um die Legitimität einer solchen Exklusion des Feindes91, auch wenn es sich beim Feindstrafrecht möglicherweise nicht mehr um Recht handelt.92 Agamben thematisiert ausdrücklich nicht die Legalität und Legitimität bestimmter Ausgrenzungen (diese Frage ist für ihn schlichtweg sinnlos), sondern sein Interesse gilt ausschließlich der Beschreibung einer in der Antike wurzelnden modernen (Bio-)Politik, die sich keinen Deut mehr um Normbruch, Verantwortlichkeit und Personalität schert und deren vorläufiger Endpunkt das Lager ist, der Raum, in dem Recht und Leben ununterscheidbar werden.

4. Zwangs-Entpersonalisierung und Ausnahmezustand Auch soweit Jakobs in Extremsituationen, eben im Ausnahmezustand, eine „Zwangs-Entpersonalisierung“ in Form der Opferung des Lebens von Personen diskutiert, zeigen sich Unterschiede zu Agamben. Beispiel ist die Opferung der Passagiere im Fall eines durch Terroristen gekaperten Flugzeugs, um das Leben vieler weiterer Unbeteiligter zu retten.93 „Freilich kann (und wird wohl auch) das Opfer erzwungen werden. Die Gruppe entpersonalisiert dann zum Vorteil vieler oder sogar zu ihrem eigenen Erhalt einige Personen zwangsweise: der Ausnahmezustand.“94 Der sowohl von Agamben als auch Jakobs verwendete Begriff des Opfers darf uns hier nicht irreführen. Wenn Jakobs von Opferung schreibt, handelt es sich um eine für die Gruppe unvermeidbare und damit hinzunehmende Zwangs-Entpersonalisierung zum Erreichen eines bestimmten Zwecks. Sie knüpft an eine faktische Extremsituation an, die die straflose Tötung und somit die (Auf-)Opferung Unbeteiligter im Ausnahmezustand nach sich ziehen kann. Dort aber, wo der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist, ist die Tötung des homo sacer weder ein Opfer noch ein Mord, sondern in ihr manifestiert sich die moderne Biopolitik.

90

Jakobs (Fn. 2) S. 51. Zu deskriptiven und normativen Dimensionen des Begriffs „Feindstrafrecht“ siehe nur Hörnle GA 2006, 80. 92 Jakobs (Fn. 2) S. 51. 93 Nach Ansicht des BVerfG (BVerfGE 115, 118) ist jedoch die Annahme einer derartigen Opferpflicht verfassungsrechtlich nicht zu legitimieren. 94 Jakobs (Fn. 82) S. 86. 91

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V. Fazit Vorstehend konnten nur einige Aspekte der politischen Philosophie Agambens angerissen werden, soweit sie für das Strafrecht von Relevanz werden könnten. Ausgangspunkt ist dabei vor allem die Figur des homo sacer, die vor dem Hintergrund der Lehre von der „souveränen Ausnahme“ entwickelt wurde und die als paradigmatisch für die abendländische politische Entwicklung angesehen wird. Beschrieben wird ein Leben, das straflos getötet, nicht aber geopfert werden darf, das außerhalb des weltlichen und des göttlichen Rechts steht und somit auf ein „Restleben“, eben das nackte Leben, reduziert ist. Die Legitimitätsfrage wird nicht mehr gestellt. Es hat sich damit gezeigt, dass Agambens Ansatz mit seinem Totalitätsanspruch viel radikaler noch als das Feindstrafrecht Jakobs´ die Gewissheiten über Bord wirft, auf die ein liberales Strafrecht angewiesen ist. Kategorien wie Rechte und Pflichten der Person, Normgeltung und Normbruch, die Jakobs in den Vordergrund stellt, haben bei Agamben weder auf der deskriptiven noch auf irgendeiner normativen Ebene ihre Berechtigung. Für ihn gibt es z. B. nicht nur keine Rechtfertigung für die Euthanasie und die Konzentrationslager der Nazis oder für Guantanamo, die Frage danach ist sogar schlichtweg sinnlos, da sich hierin beispielhaft der Endpunkt einer Entwicklung manifestiert, in der sich das biopolitische Paradigma – und zwar als heute noch existierendes „Paradigma der Möglichkeitsverwirklichung“95 – radikalisiert hat. Im Lager werden Recht und Leben ununterscheidbar. Dahinter gibt es nur noch die „biopolitische Katastrophe“.96 Was lässt sich dem entgegenhalten? Vor allem missfällt an Agambens düsterer und aufklärungsfeindlicher Philosophie ihre Ungenauigkeit. Wo Jakobs' Analyse immer durch ihre Präzision besticht, mag man seine Schlussfolgerungen auf einer normativen Ebene auch nicht teilen, bleibt bei Agamben vieles unklar. Das mag an Agambens philologischer Methode liegen, die Material aus verschiedenartigen Quellen so „neu konstelliert und so montiert, dass Ältestes plötzlich akute Brisanz gewinnt und Jüngstes sich als archaisch erweist“97. Die Lektüre wird für den Juristen vor allem dadurch erschwert, dass Agamben die Begrifflichkeiten nicht hinreichend klärt. Dies trifft z. B. auf die zentralen Begriffe „Recht“, „Staat“ und „Politik“ zu, auch wenn man bei einer wohlwollenden Betrachtung dies so interpretieren kann, dass sich gerade in dieser „absichtlichen Verwirrung der Begriffe […] die problematische Verquickung dieser Aspekte unter dem Einfluss des Rechts“ widerspiegelt.98 Vielleicht ist es aber auch so, dass 95

So zutreffend Geulen (Fn. 17) S. 111. Agamben (Fn. 6) S. 198. 97 Geulen (Fn. 17) S. 20. 98 Geulen (Fn. 17) S. 31. 96

Die Herausforderung des Strafrechts durch die Philosophie Agambens

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Agambens radikale und skandalisierende Gegenwartsdiagnose eingebunden ist „in eine geschichtsphilosophische große Erzählung […], die einen solchen Totalitätsanspruch erhebt, dass sich jede Analyse spezieller Problematiken zu erledigen scheint“99. Auch lässt Agamben offen, wie sich ein Zustand überwinden lässt, bei dem die Politik auf die Ausnahme des nackten Lebens gründet und in dem das Konzentrationslager zum „Paradigma des politischen Raumes“100 geworden ist. Er gibt keinen Hinweis darauf, wie Recht und Politik als normative Ordnungen hierauf reagieren sollten. Der Rückgriff auf die Bürgerrechte, auf die das liberale Strafrecht sich bezieht, ist für Agamben verwehrt, da sie gerade Ausdruck der modernen Biopolitik sind.101 Für ihn muss der politische Raum neu gedacht werden; es gibt keine Rückkehr zu einer klassischen Politik.102 Das Recht bietet keinen Ausweg, sondern ist eher die Wurzel des Übels: Die Politik hat für Agamben eine „dauerhafte Verdunkelung erlitten, denn sie hat sich am Recht infiziert“103. Die neue Politik bleibt nach Agamben „im wesentlichen noch zu erfinden“104. Gleiches gilt für das Recht, hier fordert Agamben lediglich die Verbindung zwischen Recht und Gewalt, wie sie sich im Ausnahmezustand manifestiert, zu zerreißen und eine zweckfreie Rechtsanwendung und damit ein „reines Recht“ zu ermöglichen.105 Vielleicht aber ist es doch ein Verdienst Agambens, uns in seinen vielfach zugespitzten Beschreibungen und seinen so noch nie formulierten Thesen die Gefahren einer Entwicklung vor Augen zu führen, in der das Recht in der Biopolitik seine Bedeutung zu verlieren und der Ausnahmezustand zur Regel zu werden droht. Dann gilt das, was auch für Jakobs' Feindstrafrecht gilt: Die Beschreibung bedrohlicher gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Entwicklungen ist hilfreich und notwendig, aber auf der normativen Ebene muss die Diskussion neu und anders geführt werden. Wie dies gelingen kann, hat Claus Roxin uns immer wieder vorbildhaft gezeigt.

99

So treffend Lettow, Information Philosophie 2008, 26. Agamben (Fn. 6) S. 180. 101 Siehe oben II 3. 102 Anschaulich Agamben (Fn. 6) S. 21: „Doch solange keine völlig neue – das heißt nicht mehr auf die exceptio des nackten Lebens gegründete – Politik da ist, wird jede Theorie und Praxis in einer Sackgasse stecken bleiben, und der „schöne Tag“ des Lebens wird das politische Bürgerrecht nur über Blut und Tod erlangen oder in der vollkommenen Sinnlosigkeit, zu der es die Spektakel-Gesellschaft verdammt.“ 103 Agamben (Fn. 11) S. 104. 104 Agamben (Fn. 6) S. 21. Zu Agambens Andeutungen einer neuen „Lebensform“ also einem „Leben, das seine Form ist und untrennbar von ihr bleibt“ (Agamben (Fn. 6) S. 198), als möglichen Ausweg vgl. Geulen (Fn. 11) S. 113 ff. 105 Agamben (Fn. 11) S. 104. 100

Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas MANFRED HEINRICH

I. Das Rechtsgutsdogma Von besonderer Wichtigkeit in einem demokratisch legitimierten Rechtsstaat ist die Frage, woraus sich die staatliche Strafbefugnis eigentlich ergibt und inwieweit dem Gesetzgeber Schranken bei der Schaffung von Strafbarkeiten gesetzt sind. Damit ist nicht die Fragestellung gemeint, ob der Staat überhaupt berechtigt ist, seinen Bürgern gegenüber ein Strafrecht zur Anwendung zu bringen, ob also der Gesetzgeber überhaupt dazu befugt ist, sanktionsbewehrte Strafvorschriften zu erlassen. Das sog. „ius puniende“ von Staat und Gesetzgeber ist ohne Weiteres schon aus Art. 74 Nr. 1 GG zu entnehmen, belegt die dort erfolgte Zuweisung des Strafrechts zum Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung doch ganz zweifelsfrei, dass unsere Verfassung das Bestehen eines staatlichen Bestrafungsrechts voraussetzt1. Nein, die entscheidende Frage – mit der Claus Roxin sich gerade auch in letzter Zeit wieder intensiv beschäftigt hat2 – geht dahin, ob der Staat in der Ausübung seiner Strafbefugnis frei schalten und walten kann, der Gesetzgeber gewissermaßen nach Lust und Laune beliebige Strafvorschriften schaffen darf – oder ob dem Staat und dem Gesetzgeber nicht vielmehr Grenzen in ihrem Pönalisierungsverhalten gezogen sind, Grenzen im Sinne unüberschreitbarer Schranken. Dem Grundsatze nach ist die Antwort auch insoweit klar: In einem Rechtsstaat muss es solche Schranken geben, alles andere wäre Ausdruck einer Willkürherrschaft – im schlimmsten Fall (um mit den

Der Text dieses Beitrags entspricht in erweiterter Form meiner am 28. Januar 2010 unter Anwesenheit von Claus Roxin in Kiel gehaltenen Antrittsvorlesung. Ich widme ihn meinem hochverehrten Lehrer in Zuneigung und Dankbarkeit. 1 Roxin AT I § 2 Rn. 1. 2 Vgl. nur Roxin AT I § 2; ders. FS Amelung, 2009, 269 ff; ders. StV 2009, 544 ff; ders. FS Hassemer, 2010, 573 ff, sowie – demnächst erscheinend – ders. in: FS Polaino Navarrete zum Thema: „Der Rechtsgutsgedanke in der strafrechtlichen Unrechtslehre“.

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Worten Hassemers, des ehemaligen Vize-Präsidenten des BVerfG, zu sprechen3) bis hin zum „Staatsterror“.

1. Die Idee vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz Worin aber bestehen diese Schranken? Eine wesentliche Grenzziehung ermöglicht das sog. Rechtsgutsdogma, die Vorstellung also, dass die Aufgabe des Strafrechts gerade, ja einzig und allein, im Rechtsgüterschutz besteht4. Nun ist es bislang noch nicht gelungen, den Begriff des „Rechtsguts“ einer allseits anerkannten Definition zuzuführen5. So ist etwa die Rede vom Rechtsgut als einem „als sozial wertvoll erkannten Lebensgut“6, als „rechtlich anerkanntem Interesse an einem bestimmten Gut als solchem in seiner generellen Erscheinungsart“7 bzw. als „werthafter Funktionseinheit“8, oder es werden unter Rechtsgütern „strafrechtlich geschützte Werte, Einrichtungen und Zustände“ verstanden, „die für das geordnete Zusammenleben unentbehrlich sind“9. Ich persönlich bevorzuge den unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Rechtsgutsbegriff, den Roxin verwendet10: Rechtsgüter sind „alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen …, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind“. Aber wie auch immer – einig sind sich die Vertreter des Rechtsgutsdogmas jedenfalls darin, dass das Strafrecht mit seiner Bindung an den Rechtsgüterschutz es weder dem Staat gestattet, schlicht jede beliebige Pflichtwidrigkeit des Bürgers unter Strafe zu stellen11, noch es dem Gesetzgeber ermöglicht, den Verstoß gegen lediglich die guten Sitten, die Moral oder

3

Hassemer in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 64. Vgl. nur etwa Krey AT I Rn. 5: „Rechtsgüterschutz … bezeichnet die eigentliche Funktion des Strafrechts“. 5 Roxin AT I § 2 Rn. 2: „Was Rechtsgüter sind, wird sehr unterschiedlich beschrieben.”; Rönnau JuS 2009, 210: „Trotz großer Anstrengungen ist es bis heute nicht gelungen, über den Begriff des Rechtsguts auch nur annähernd Klarheit zu schaffen.“ 6 Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vor §§ 13 ff. Rn. 9. 7 Maurach/Zipf AT I § 19 Rn.12. 8 SK-Rudolphi vor § 1 Rn. 8. 9 Kienapfel Strafrecht AT, 4. Aufl. 1984, S. 39. 10 Roxin AT I § 2 Rn. 7. 11 Vgl. nur NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 110, 112: Die Lehre vom Rechtsgut sei „der geborene Feind der Ansicht, das Verbrechen sei reine Pflichtverletzung“. 4

Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell?

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ethische Grundsätze zu pönalisieren12 bzw. den bloßen Tabubruch zum Gegenstand eines Straftatbestandes zu erheben13.

2. Die Entwicklung des Rechtsguts-Gedankens Die soeben geschilderte Vorstellung war freilich nicht immer herrschend: Nach einem ersten frühlingshaften Erwachen im Strafrecht des 19. Jahrhunderts14 dümpelte die Idee vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ bis zum Ende der Weimarer Zeit als bloßes Hilfsmittel der Auslegung ohne eigentliche strafsetzungsbegrenzende Kraft so vor sich hin15, um dann schließlich vom Strafrechtsdenken der Nazizeit als Ausprägung liberalen Geistes endgültig zugunsten einer Grundauffassung vom Verbrechen nicht als Rechtsguts-, sondern als Pflichtverletzung zu Grabe getragen zu werden16. Eine Wende ergab sich dann aber schon bald in der Nachkriegszeit, insbesondere im Zuge der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts: Während noch im „amtlichen Entwurf eines Strafgesetzbuches“ im Jahr 1962 einer Strafbarkeit der Homosexualität unter Erwachsenen das Wort geredet wurde, da es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, bestimmte Fälle „ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens auch dann mit Strafe zu bedrohen, wenn durch die Tat kein unmittelbar bestimmbares Rechtsgut verletzt wird“17, wurde schon wenige Jahre später aufgrund nunmehr zur h. M. erstarkter gegenteiliger Auffassung nicht nur jene Strafbarkeit (§ 175 a. F.) aus dem StGB gestrichen18, sondern wurden überhaupt die ehemaligen „Sittlichkeitsdelikte“ unter Verzicht auf rein sitten- und moralschützende Vorschriften in die heutigen „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umgewandelt19. Und auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten setzte sich der Siegeszug des Rechtsgutsdogmas

12

Vgl. statt vieler nur Krey AT I Rn. 11 ff; Wessels/Beulke AT Rn. 9; speziell zur insoweit untauglichen bloßen „Berufung auf ethische Grundsätze“ (etwa im Bereich von Transplantationsmedizin oder Gentechnologie) Roxin AT I § 2 Rn. 19. 13 Vgl. nur Roxin AT I § 2 Überschrift vor Rn. 43: „Tabus sind keine Rechtsgüter“. 14 Vgl. Birnbaum Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, Bd. 15, 1834, 149 ff, auf den die Wortschöpfung „Rechtsgut“ letztlich zurückzuführen ist; näher zu Birnbaum und seinem Verständnis von „Rechtsgut“ Roxin AT I § 2 Rn. 6 mit weiteren Nachweisen. 15 Zu jenem bloß „methodischen Rechtsgutsbegriff“ vgl. Roxin FS Hassemer, 2010, 562. 16 Zum „Streit um den Rechtsgutsbegriff unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“ ausführlich Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 216 ff. 17 E 1962, BT-Drucks. IV/650, S. 376. 18 Durch das 4. StrRG v. 23.11.1973 (BGBl. I, S. 1725; 1974 I, S. 469, 502). 19 So die heutige Überschrift des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB; die Änderung erfolgte durch das 4. StrRG v. 23.11.1973 (BGBl. I, S. 1725; 1974 I, S. 469, 502).

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relativ ungebrochen fort20. Wenngleich nun gerade in der neueren Diskussion auch immer wieder Vorbehalte gegenüber dem Rechtsgutsbegriff zu vermerken sind21 und mittlerweile auch bei vielen ihm prinzipiell gewogenen Autoren durchaus „eine gewisse Rechtsgutsmüdigkeit“22 zu konstatieren sein mag, bleibt doch noch immer festzuhalten: „Die überwiegende Ansicht sieht die Aufgabe des Strafrechts im Schutz von Rechtsgütern vor Gefährdung oder Verletzung.“23 Dessen ungeachtet sind auch heute noch eine Reihe in Geltung stehender Strafvorschriften zu verzeichnen, die unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes zumindest bedenklich erscheinen (wie die „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ des § 183a StGB24 sowie insbesondere auch der „InzestTatbestand“ § 173 StGB25, auf den ich nachher, in Abschnitt III, noch dezidiert zu sprechen kommen werde). Doch schlimmer noch, gerade in den letzten Jahren ist der Gesetzgeber vermehrt dazu übergegangen, neue, aus der Perspektive des Rechtsgüterschutzes höchst zweifelhafte, ja mitunter dem Rechtsgutsdogma eindeutig zuwiderlaufende neue Delikte zu kreieren – wobei ich hier (neben der bloßen Erwähnung der im Jahr 2009 neu geschaffenen 26, unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes höchst problematischen27 §§ 89a, 89b, 91 StGB) insbesondere die (ebenfalls) erst Ende 2008 erfolgte Einfügung des jetzigen § 184c in unser StGB28 nennen möchte, jener Vorschrift, welche nunmehr „die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz jugendpornographischer Schriften“ unter Strafe stellt – und die nachfolgend ein wenig näher betrachtet werden soll. 20

Vgl. nur Maurach/Zipf AT I § 19 Rn. 5: „Es hat den Anschein, dass der immer wieder angefeindete und angezweifelte Begriff des Rechtsgutes sich im Rechtsdenken der Gegenwart im wesentlichen durchgesetzt hat“; und auch bei Roxin AT I3 1997, § 2 Rn.48 heißt es noch, es sei „die Aufgabe der Strafe als Rechtsgüterschutz in der neueren Literatur weitgehend anerkannt.“ 21 Vgl. hierzu nur Roxin AT I § 2 Rn. 120 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 169. 22 So der durchaus ein wenig ernüchternde Befund bei Roxin AT I § 2 Rn. 120. 23 NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 109 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 71. 24 Hierzu etwa Roxin AT I § 2 Rn. 30: „Ein echtes Gefühlsdelikt“. 25 Für Roxin AT I § 2 Rn. 43 „das deutlichste Beispiel“ für strafrechtlichen Tabu-Schutz. 26 Durch das GVVG v. 3.8.2009, BGBl. I, S. 2437. 27 So ist für LPK-Kindhäuser § 89a Rn. 2 „ein Grundproblem“ dieser Vorschriften „die Bezugnahme auf Verhaltensweisen, die weit im Vorfeldbereich einer konkreten Rechtsgutsverletzung angesiedelt sind,“ sowie ein „weiterer Kritikpunkt, dass der Gesetzgeber in Abs. 2 [des § 89a StGB] viele prinzipiell rechtsgutsneutrale Handlungen und deliktsneutrale Verhaltensweisen ohne (wesentlichen) Gefährdungsgehalt unter Strafe stellt“; äußerst kritisch auch NKPaeffgen § 89a Rn. 1 ff, sowie Zöller GA 2010, 607, der unverhohlen ablehnend titelt: „Willkommen in Absurdistan – Neue Tatbestände zur Bekämpfung des Terrorismus.“ 28 … durch das „Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der EU v. 20.12.2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie“ v. 31.10.2008 (BGBl. I, S. 2149), in Kraft getreten am 5.11.2008.

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II. Die Position des Gesetzgebers – dargestellt am Beispiel der Jugendpornographie – Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Vorschrift des § 184c StGB ist unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes schlicht inakzeptabel. Dabei muss man zur Gesetzgebungsgeschichte dieser Norm wissen, dass sie letztlich auf einen „Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie“ vom 22. Dezember 2003 zurückgeht29. Wie schon der Titel jenes Rahmenbeschlusses verrät, geht es in ihm um „Kinder“ und „Kinderpornographie“ – wobei jedoch dort unter „Kind“ etwas anderes verstanden wird, als in unserem nationalen deutschen Strafrecht: nämlich jede Person unter 18 Jahren30. Anders gesagt: „Kinder“ im Sinne jenes europäischen Rahmenbeschlusses sind nicht nur – unserem in § 176 I StGB explizit zum Ausdruck gebrachten Verständnis entsprechend – „Personen unter 14 Jahren“31, sondern auch alle „Jugendlichen“32. Das damit einhergehende Dilemma des deutschen Gesetzgebers, einerseits den europäischen Vorgaben zur Bekämpfung der „Kinder“-Pornographie folgen zu müssen, andererseits aber dem deutschen Rechts- und Kulturverständnis gemäß zwischen „Kindern“ und Jugendlichen“ zu unterscheiden, ist offensichtlich. Nun ist unser Strafgesetzgeber, um die erforderliche Differenzierung zu bewerkstelligen, den Weg gegangen, eine im Wesentlichen der Strafbarstellung von Kinderpornographie entsprechende Parallelregelung für „Jugendpornographie“ zu schaffen, die sich von jener in der Hauptsache33 nur dadurch unterscheidet, dass für dieselben Verhaltensweisen niedrigere Strafrahmen vorgesehen sind34. Ein kurzer Blick auf § 184b StGB (Kinderpornographie) einerseits und § 184c StGB (Jugendpornographie) andererseits bestätigt dies ohne weiteres.

29 Vgl. Fn. 28. – Jener Rahmenbeschluss findet sich in ABl. EU Nr. L 13 v. 20.1.2004, S. 44. 30 So Art. 1 lit. a jenes Rahmenbeschlusses (vgl. bei und in Fn. 29). 31 Ebenso § 19 StGB: „Schuldunfähigkeit des Kindes (amtliche Überschrift): Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“ 32 § 1 Abs. 2 JGG: „Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn … Jahre alt ist.“ 33 Lediglich in Abs. 4 findet sich in § 184c StGB gegenüber § 184b StGB eine Strafbarkeitseinschränkung, zum einen durch Nichterfassung bloß „wirklichkeitsnahen Geschehens“ sowie zum anderen durch die persönliche Straffreistellungsklausel des Satzes 2. 34 Ursprünglich (vgl. den entsprechenden Hinweis bei Hörnle NJW 2008, 3523) wollte die Bundesregierung in ihrem Gesetzesentwurf noch weitergehend die jugend- den kinderpornographischen Schriften vollkommen gleichstellen und – mit der daraus sich ergebenden Konsequenz eines Einheitsstrafrahmens! – lediglich den Text des § 184b StGB um das Tatobjekt „jugendpornographische Schriften“ erweitern, BT-Drucks. 16/3439, S. 5, 9.

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Nun ist es noch vergleichsweise einfach, die in § 184b Abs. 1 StGB enthaltene Strafbarkeit der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie überzeugend zu begründen, handelt es sich bei derlei Erzeugnissen doch um die Dokumentation eines nach § 176 StGB unter Strafe gestellten Kindesmissbrauchs35. Und auch die in § 184b Abs. 4 StGB verankerte Strafbarkeit der Besitzverschaffung und des Besitzes lässt sich im Hinblick auf Kinderpornographie – mit Mühe zwar36, doch immerhin – begründen: Zwar kann es hier nicht um den Schutz der im Zuge der Herstellung des jeweils konkreten pornographischen Materials missbrauchten Kinder gehen, denn dieser Missbrauch ist bereits beendet, wenn sich Dritte um die Erlangung jenes Materials bemühen37. Auch mit dem Schauder sittlicher Empörung, der dem durchschnittlichen Nicht-Pädophilen beim Thema Kinderpornographie über den Rücken läuft, lässt sich die Strafbarkeit nicht begründen – denn, so unsere Prämisse, das Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz, nicht aber dem Schutz der Sitten oder des sittlichen Empfindens38. Und drittens wäre es zumindest fragwürdig, die Strafbarkeit des Konsumenten von Kinderpornographie damit begründen zu wollen, dass durch den Einfluss dieses Materials die Gefahr bestünde, er könne womöglich selbst zum Kinderschänder werden; kriminologisch hinreichend belegbar wäre eine solche Annahme wohl nicht39 – im Übrigen stellte sich dann auch in aller Schärfe die Frage, warum zwar der Besitz von Kinder-, nicht aber der von Gewaltpornographie strafbar ist, bei welchem dieser Gedanke des Anreizes zu eigenen Umsetzungstaten gewiss nicht minder zum Tragen kommen müsste40. Die Strafbarkeit lässt sich jedoch auf einen ganz anderen – wohl erstmals von Schroeder in die Diskussion eingebrachten41 – Gesichtspunkt stützen: „Sammler werden bestraft, weil sie als Unterstützer des Marktes für Kinderpornographie mittelbar Verantwortung für den zukünftigen Missbrauch anderer Kinder tragen (da ein aktives Marktgeschehen neue 35 Auch wenn das ehedem bestehende Junktim zwischen § 184b und §§ 176 bis 176b durch die Neufassung des § 184b formal gelöst wurde, resultieren aufgrund entsprechender Erweiterung auch des § 176 nach wie vor (nahezu) alle Fälle von kinderpornographischen Schriften aus der Begehung einer Straftat nach § 176; näher hierzu Hörnle NJW 2008, 3521 und 3525. 36 Nicht ganz zu Unrecht kritisch – gerade auch im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz – H. Jäger FS Schüler-Springorum, 1993, 232 f. 37 Vgl. M. Heinrich NStZ 2005, 362 sowie Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1070; ebenso schon Schroeder ZRP 1990, 300: „Man kann nicht durch eine spätere Handlung – die Abnahme – für eine frühere Handlung – die Herstellung – ursächlich sein“. 38 So bereits M. Heinrich NStZ 2005, 362. 39 So bereits M. Heinrich NStZ 2005, 362. 40 Schönke/Schröder26-Lenckner/Perron § 184 Rn. 63; M. Heinrich NStZ 2005, 362. 41 Schroeder ZRP 1990, 300; in diesem Sinne, Schroeder folgend, auch die Gesetzesmaterialien zum 27. StrÄG v. 23.7.1993 (BGBl. I, S. 1346), vgl. BT-Drucks. 12/3001, S. 5 und 12/4883, S. 8; vgl. auch Schroeder NJW 1993, 2581.

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Angebote hervorbringt)“42. Kurzum, es geht letztlich um die Austrocknung des Marktes für Kinderpornographie, um auf diese Weise die Neuproduktion einschlägigen Materials und den damit verbundenen künftigen sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern43. Die Strafbarkeiten in § 184b StGB im Hinblick auf Kinderpornographie sind also Ausdruck strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Wie aber steht es mit den Strafbarkeiten des § 184c StGB im Bereich der sog. Jugendpornographie? Hier sieht es im Hinblick auf die Kompatibilität mit dem Rechtsgutsdogma bei Weitem schlechter aus44. Schon bei der Herstellungs- und Verbreitungsstrafbarkeit des Abs. 1 entfällt jenes im Hinblick auf die Verbreitung von Kinderpornographie so schlagende Argument, dass es sich bei einem solchen Material um die Abbildung strafbaren Verhaltens, dort nämlich des Kindesmissbrauchs, handele. Bei Jugendpornographie muss man sich bewusst machen, dass im Regelfall das abgebildete Geschehen, nämlich die nötigungsfreie Vornahme sesexueller Handlungen von, an oder vor Jugendlichen, selbst nicht strafbar ist!45 Und was die Strafbarkeit der Besitzverschaffung nach Abs. 4 anlangt, so stellt sich zum einen schon die Frage, ob es einen dem „Markt für Kinderpornographie“ entsprechenden, irgend von Erwachsenenpornographie abgrenzbaren „Markt für Jugendpornographie“, den zu fördern die Strafbarkeit begründen könnte, denn überhaupt gibt. Und wenn es ihn gibt, so gleich die nächste Frage, besteht dann auch dieselbe Notwendigkeit wie bei der Kinderpornographie, ihn auszutrocknen? Das ist wohl eher anzuzweifeln 46. Diese Fragen hat der Gesetzgeber im Zuge seiner Bestrebungen um eine weitestgehende Parallelisierung von Kinder- und Jugendpornographie ganz offenkundig nicht gesehen, geschweige denn zufriedenstellend beantwortet. Betrachten wir zunächst einmal die Herstellungs- und Verbreitungsstrafbarkeit nach Abs. 1: Erklärtes Anliegen des Gesetzgebers des § 184c StGB ist der Darstellerschutz47. Nun ist es in Übereinstimmung mit den Wertun42

Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1070. Vgl. schon M. Heinrich NStZ 2005, 362. 44 So heißt es denn auch bei Hörnle NJW 2008, 3524 im Hinblick gerade auf die Strafbarkeit von Besitz und Besitzverschaffung in § 184c Abs. 2 und Abs. 4 StGB (ohne dabei aber dezidiert auf die Rechtsgutsproblematik einzugehen): „An dieser Stelle wirkt sich die undifferenzierte, nicht zwischen Kindern und Jugendlichen unterscheidende Herangehensweise im EU-Rahmenbeschluss negativ aus.“ 45 Eine solche Strafbarkeit besteht im Hinblick auf Jugendliche nur in den engen Grenzen des § 182 StGB. 46 In diesem Sinne auch Hörnle NJW 2008, 3524; nach ihr ist „kritisch nachzufragen, ob der Markt für die weniger gefährliche Jugendpornographie genauso umfassend bekämpft werden muss wie der Markt für Kinderpornographie“. 47 Vgl. BT-Drucks. 16/9646, S. 38; siehe auch Schönke/Schröder-Eisele § 184c Rn. 2: „Rechtsgut der Vorschrift ist … der Jugendschutz und der Schutz der jugendlichen Darsteller.“ 43

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gen des neugefassten § 182 StGB durchaus akzeptabel, dass das Gesetz in § 184c Abs. 1 StGB (auch) solche jugendpornographischen Schriften einem Herstellungs- und Verbreitungsverbot unterstellt, die eine Straftat nach § 182 StGB, also den „sexuellen Missbrauch von Jugendlichen“, zum Gegenstand haben – was nach dessen Absätzen 1 und 2 der Fall ist bei Ausnutzung einer Zwangslage des Jugendlichen oder bei Zahlung eines Prostitutionsentgelts. Tatsächlich aber werden in § 184c Abs. 1 StGB nicht nur solchermaßen eine Straftat nach § 182 StGB dokumentierende jugendpornographische Schriften erfasst, sondern ohne Unterschied alle einschlägigen Schriften, auch diejenigen, die ein vollkommen freiwillig erbrachtes Sexualverhalten des Jugendlichen wiederspiegeln48. Damit entsteht die kaum nachvollziehbare Merkwürdigkeit, dass dem freiwillig sexuell agierenden Jugendlichen zwar in Anerkennung seines Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung gestattet wird, sich seinen Wünschen gemäß sexuell zu betätigen, es aber bei Strafe verboten sein soll, dies auch per Foto oder Film festzuhalten – und zwar selbst dann, wenn der Jugendliche das Anfertigen von Fotos oder Filmaufnahmen ausdrücklich wünscht49. Mit anderen Worten: Sein innerhalb der Grenzen des § 182 StGB bestehendes Recht auf sexuelle Selbstbestimmung endet dort, wo es um die mediale Fixierung dessen geht, was zu tun ihm zweifelsfrei gewährt ist. Das ist nichts anderes als eine partielle Entrechtung des Jugendlichen. Selbst aber, wenn man davon ausginge, dass es ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers sei, Jugendliche auch gegen ihren Willen von Darstellerrollen im pornographischen Gewerbe und von sonstigen, womöglich ja unbedachten pornographischen Entblößungen fernzuhalten50, ist nicht begründbar, warum dann gem. § 184c Abs. 4 StGB auch der bloße Besitz entsprechender Produkte und die Besitzverschaffung unter Strafe stehen sollen51. Man bedenke: „Der Besitz von sexualbetonten Fotos ihrer 17-jährigen Freundin48 So heißt es denn auch bei Schönke/Schröder-Eisele § 184c Rn. 2: „Hinsichtlich des Darstellerschutzes steht … nicht der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen im Vordergrund.“ 49 Hörnle NJW 2008, 3523 gibt zugunsten der Norm zu bedenken: „Bei amateurhafter, unentgeltlicher Betätigung (etwa mit selbst gemachten Bildern im Internet) ist auf langfristige Folgen zu verweisen, die die nicht mehr rückgängig zu machende Verbreitung pornographischer Bilder haben kann, und darauf, dass Jugendliche noch nicht in der Lage sind, derartige Risiken hinreichend zu würdigen.“ Das überzeugt mich nicht, denn auch die aus „jugendlichem Leichtsinn“ vorgenommene unbedachte Präsentation ansehensschädigender Bilder aus anderen, nicht sexuell konnotierten Lebensbereichen (wie etwa die Dokumentation von „Saufgelagen“) birgt die Gefahr aufgrund ihrer Unumkehrbarkeit entstehender bleibender Schädigung in sich. 50 Vgl. hierzu etwa die in Fn. 49 wiedergegebene Argumentation von Hörnle. 51 In diesem Sinne insoweit auch Hörnle NJW 2008, 3524: „Das Anliegen, Jugendliche von Darstellerrollen im pornographischen Gewerbe und von sonstigen unbedachten pornographischen Entblößungen fernzuhalten, macht es nicht erforderlich, auch den Besitz solcher Produkte und die Besitzverschaffung unter Strafe zu stellen.“

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nen ist für 18-Jährige … strafbar!“52 Anders als bei der Kinderpornographie kann es hier kaum um die Austrocknung eines irgend eingrenzbaren, spezifischen illegalen „Marktes“ für Jugendpornographie gehen – schon allein deswegen nicht, weil die tatsächliche Verbreitung von jugendpornographischem Material nahezu unüberschaubar sein dürfte. Um mit Hörnle zu sprechen: „Es darf unterstellt werden, dass auf den Festplatten sehr vieler Rechner pornographische Fotos und Filme zu finden sind … Selbst wenn die Darsteller meistens volljährig waren, dürfte die Zahl der … Datenträger, auf denen unter legalen Bildern auch die pornographische Abbildung einer oder eines Jugendlichen zu finden ist, beträchtlich sein.“53 Erschwert wird die Situation bei alledem noch dadurch, dass nach der Gesetzesfassung nicht bloß Abbildungen echter Jugendlicher von der Strafbarkeit des § 184c StGB erfasst sind, sondern – jedenfalls im Rahmen der Abs. 1 bis 354 – auch die von sog. „Scheinjugendlichen“55, d. h. in Wahrheit bereits Über-18-Jährigen, die aber ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrem Gehabe, ihrer Aufmachung oder dem Kontext nach, in dem sie sich präsentieren, als jugendlich erscheinen. Geht man einmal davon aus, dass einerseits eine sichere Unterscheidung von noch Jugendlichen und jungen Erwachsenen (anders als ja vielleicht zwischen Kindern und Nicht-Kindern) in aller Regel nicht möglich ist56, und dass andererseits im Pornogeschäft auch auf Konsumentenseite die Nachfrage nach Darstellern im mittleren oder gar reiferen Lebensalter nur recht gering sein, die Nachfrage vielmehr zu allermeist auf die Darbietungen vergleichsweise junger oder jung erscheinender Darsteller gerichtet sein dürfte57, gelangt man mit der Strafvorschrift des § 184c Abs. 5 StGB in spürbare Nähe zu einem allgemeinen Pornographieverbot. 52

Dies gibt bereits Schroeder GA 2009, 217 zu bedenken. Hörnle NJW 2008, 3524; sie fügt kritisch hinzu: „... und jeder, der Besitz an diesen Gegenständen hat, macht sich nach § 184c IV StGB strafbar“, mit der Folge (noch immer Hörnle): „Das Besitzverbot in § 184c IV StGB … kriminalisiert zahlreiche Bürger.“ 54 § 184c Abs. 4 soll hingegen schon nach Auffassung des Gesetzgebers nicht auf „Scheinjugendliche“ anwendbar sein; gerade deswegen sei bei seiner Formulierung (anders als bei § 184b Abs. 4) auf die Einbeziehung von Schriften, die kein „tatsächliches“, sondern ein bloß „wirklichkeitsnahes“ Geschehen wiedergeben, verzichtet worden, vgl. die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses in: BT-Drucks. 16/9646, S. 38; näher hierzu Hörnle NJW 2008, 3525. 55 Zu der angesichts des Schutzzwecks der Norm, pornographischen Aktivitäten von Jugendlichen entgegenzuwirken, unproblematischen Strafwürdigkeit im Falle der Darstellung sog. „Scheinerwachsener“, d. h. bereits erwachsen wirkender Jugendlicher, vgl. Hörnle NJW 2008, 3524; freilich dürfte in diesen Fällen eine Strafbarkeit des i. d. R. insoweit unwissenden Konsumenten in den meisten Fällen mangels Vorsatzes entfallen. 56 So auch Hörnle NJW 2008, 3525. 57 In diesem Sinne auch Hörnle NJW 2008, 3525. 53

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Aus alledem heraus ist kein vernünftiger, auf Rechtsgüterschutz gerichteter Sinn und Zweck der Strafbarkeit von Jugendpornographie – jedenfalls in ihrer heute im Gesetz vorgesehenen Weite – zu erkennen. Es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass völlig unbelastet vom Gedanken sinnvollen Rechtsgüterschutzes mit der Vorschrift des § 184c StGB einer diffusen, prinzipiell pornographiefeindlichen Moralvorstellung Vorschub geleistet werden soll58. Das ist mit dem Gedanken vom Rechtsgüterschutz als alleiniger Aufgabe des Strafrechts nicht vereinbar. Soweit also die Situation im Hinblick auf den Gesetzgeber, dem – wie die Vorschrift des § 184c StGB deutlich zeigt – jener Gedanke ganz offenkundig nicht sonderlich am Herzen liegt.

III. Die Position der Rechtsprechung – dargestellt am Beispiel der Inzest-Entscheidung des BVerfG – Noch weit problematischer erscheint in diesem Zusammenhang freilich die Positionierung des Bundesverfassungsgerichts. Wäre es doch eigentlich Aufgabe dieses obersten Kontrollorgans in unserem Staate, dem Gesetzgeber seine aus dem Erfordernis des Rechtsgüterschutzes erwachsenden Schranken im Bereich der Strafgesetzgebung aufzuzeigen – denn niemand sonst vermag dies zu tun – so ist statt dessen festzustellen, dass das BVerfG selbst nicht gerade ein glühender Anhänger des Rechtsgutsdogmas ist. So hat sich denn tatsächlich das BVerfG noch nie zum Erfordernis einer Rechtsgutsverletzung als Voraussetzung zulässiger Strafbarstellung bekannt59, obwohl sich im Rahmen seiner Rechtsprechung gleich mehrfach eine solche Möglichkeit ergeben hat: bei dem noch unter der alten Gesetzeslage im Jahre 1957 ergangenen Beschluss zur Strafbarkeit der Homosexualität unter Erwachsenen60, der Entscheidung zur Pönalisierung des Besitzes geringer Mengen von Cannabis-Produkten ausschließlich zum Zwecke des Eigengebrauchs von 199461 und erst jüngst in seinem Beschluss zur Strafbarkeit des Geschwisterinzestes aus dem Jahr 2008 (hierzu gleich nachfolgend). In all diesen Fällen hat unser höchstes Gericht sich gegen eine Verfassungswidrigkeit der jeweiligen Strafvorschrift ausgesprochen – was unter dem Gesichtspunkt des „Strafrechts als Rechtsgüterschutz“ evident unrichtig ist. 58

In diesem Sinne schon zum Entwurf des Gesetzes Reinbacher/Wincierz ZRP 2007, 196. Dies moniert schon Roxin FS Hassemer, 2010, 563. 60 BVerfGE 6, 389 ff; vgl. auch BVerfGE 36, 41 ff. 61 BVerfGE 90, 145 ff. 59

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Dies sei im Folgenden ein wenig näher erläutert anhand jener erst jüngst ergangenen Entscheidung62 des BVerfG zu dem schon seit langem in § 173 StGB verankerten Tatbestand des Inzests, des Verwandtenbeischlafs, genauer gesagt zu der in Abs. 2 S. 2 geregelten Variante des Beischlafs unter Geschwistern. Es ging im konkreten – auch in der Boulevardpresse seinerzeit ausgiebig behandelten – Fall um ein Geschwisterpaar aus Sachsen, das getrennt voneinander aufgewachsen war und dessen erstes Kennenlernen erst erfolgte, als der Bruder bereits 24 und die Schwester immerhin auch schon 16 Jahre alt war. Kurz und gut: Die beiden verliebten sich ineinander, beschlossen, ein gemeinsames Leben zu führen und haben bis zum heutigen Tage vier gemeinsame Kinder in die Welt gesetzt – mit der Folge, dass der Bruder bereits mehrfach zu einer Freiheitsstrafe (zuletzt zu einer insgesamt zweieinhalbjährigen Haftstrafe) verurteilt und auch der Schwester erst jüngst wieder eine einjährige Familienbetreuung auferlegt wurde63. Das BVerfG ist angesichts dieses Falles zu dem kaum nachvollziehbaren Ergebnis gekommen, die Strafbarkeit des Geschwister-Inzests sei verfassungsmäßig nicht zu beanstanden. Daran wird man nun gewiss auf absehbare Zeit nicht mehr rütteln können – das BVerfG ist insoweit die letzte Entscheidungsinstanz. Richtiger wird die Entscheidung damit freilich nicht. So möchte ich – auf den Spuren Roxins wandelnd64 – noch einmal kritisch auf die für dieses Ergebnis ins Feld geführten Argumente zu sprechen kommen und mich dabei insbesondere mit der Frage beschäftigen, ob die Regelung des § 173 StGB denn nun im Dienste des Rechtsgüterschutzes steht oder nicht. Womit also lässt sich die Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs, insbesondere des Geschwister-Inzests legitimieren? Im Wesentlichen werden in der Diskussion und wurden auch vom BVerfG in seiner Entscheidung drei Argumente herangezogen 65: Zum einen begründe sich die Strafbarkeit des Inzestes mit einer durch ihn bedingten Schädigung der familiären Ordnung, wobei insbesondere auf den in Art. 6 GG verbürgten Schutz von Ehe und Familie hingewiesen wird,66 zum anderen sei beim Inzest stets oder doch zumindest typischerweise eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung einer der beteiligten Personen zu verzeichnen; und schließlich gehe es bei der Inzeststrafbarkeit um die Verhinderung erbkranken Nachwuchses67. Alle drei dergestalt herange62

Beschluss v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, BVerfGE 120, 224 - 255. Näher zur konkreten Fallgestaltung BVerfGE 120, 224 (234 f). 64 …der sich in StV 2009, 544 ff schon intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt hat. 65 Vgl. BVerfGE 120, 243 ff sowie zur Widerlegung dieser „drei vermeintlichen Rechtsgüterverletzungen, die der Senat herausgefunden zu haben glaubt“ Roxin StV 2009, 546 ff. 66 Hier und nachfolgend BVerfGE 120, 224 (243 ff bzw. 245 ff). 67 BVerfGE 120, 224 (247 f). 63

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zogenen Gründe vermögen jedoch die Strafbarkeit des Inzestes nicht zu tragen. Was zunächst das Argument einer Schädigung der familiären Ordnung anlangt: Weder setzt die Vorschrift voraus, dass die Geschwister bei Tatbegehung aktuell miteinander, mit den Eltern oder auch mit weiteren Geschwistern in einer Familie zusammenleben oder überhaupt auch nur jemals in einer solchen Familienstruktur zusammengelebt haben68 – man denke an unser sächsisches Geschwisterpaar, dass sich erst im Erwachsenenalter kennen gelernt hat. Noch ist dem Alter der Geschwister nach oben hin eine Grenze gesetzt – so dass auch Geschwister erfasst werden, die erst im fortgerückteren Erwachsenenalter, längst dem gemeinsamen Familienverband entwachsen und voneinander unabhängig im Leben stehend, den Beischlaf miteinander vollziehen.69 Wie soll es in all diesen Fällen zu einer Beeinträchtigung der gemeinsamen Ursprungsfamilie kommen? Selbst aber bei einem – wohl nur bei jüngeren Geschwistern gegebenen – Zusammenleben im gemeinsamen Elternhaus stellt sich die Frage, warum nur die Vollziehung des Beischlafes vom Tatbestand erfasst wird, während andere Formen sexueller Handlungen, die in ihrer „Intensität und Drastik der Vollziehung eines ,regulären‘ Geschlechtsverkehrs keineswegs nachzustehen“ brauchen70, nicht erfasst werden – ungeachtet des Umstandes, dass sie kaum minder geeignet sein dürften, die familiäre Ordnung zu zerrütten. Und drittens schließlich: Wie erklärt es sich unter der Prämisse des Schutzes der familiären Ordnung, dass nur leibliche Geschwister erfasst werden, nicht aber Stief-, Adoptiv- oder Pflegegeschwister, auch wenn diese schon von frühester Kindheit an in einer Familie zusammenleben?71 – und vielleicht noch nicht einmal wissen, dass sie keine leiblichen Geschwister sind! Ohne noch auf weitere Bedenken eingehen zu wollen – es gibt deren noch einige!72 – dürfte schon angesichts der soeben angeführten deutlich geworden sein, dass die Strafbarkeit des Geschwisterbeischlafes nicht überzeugend auf den Schutz der familiären Ordnung gestützt werden kann. Als zweites zum Argument einer Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung. Dieses erweist sich bei genauerem Hinsehen schon von vornherein als vollkommen untauglich, die Strafbarkeit des Geschwister-Inzestes zu begründen73. Denn das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – ganz ohne Zweifel ein hochrangiges Rechtsgut! – findet sich abschließend und vielschichtig geregelt in den §§ 174 ff. StGB, eben den explizit hierauf 68

In diesem Sinne bereits Roxin StV 2009, 546 (Argument „Erstens“). In diesem Sinne bereits Roxin StV 2009, 546 (Argument „Zweitens“). 70 Roxin StV 2009, 546 (Argument „Fünftens“). 71 Vgl. schon Roxin StV 2009, 546 (Argument „Sechstens“). 72 Vgl. nur etwa Roxin StV 2009, 546 (Argument „Drittens“ und „Viertens“). 73 In diesem Sinne hier und nachfolgend schon Roxin StV 2009, 546/547. 69

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gerichteten „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ – so dass es ganz gewiss eines in diese Richtung zielenden zusätzlichen Schutzes durch eine eigenständige Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs nicht bedarf74. Wo aber keines der Geschwister unter 14 Jahre alt ist (was ja zum Eingreifen der §§ 176, 176a StGB wegen Kindesmissbrauchs führen würde) und auch eine sexuelle Nötigung (strafbar nach § 177 StGB) nicht im Spiel ist, liegt schon aufgrund der Selbstverantwortlichkeit des Partners keine Rechtsgutsverletzung vor75. Im konkreten Fall zu verzeichnende individuelle Abhängigkeiten minderen Maßes finden sich nicht nur im Rahmen inzestuöser Beziehungen, sondern kaum weniger häufig auch im Rahmen sexueller Beziehungen zwischen Nicht-Verwandten und vermögen hier genauso wenig wie dort an der Selbstverantwortlichkeit des Partners etwas zu ändern. Im Übrigen sei noch darauf hingewiesen, dass schon die Tatbestandsgestaltung des Geschwisterinzests selbst gegen einen gezielten Schutz der sexuellen Selbstbestimmung spricht: Dass § 174 Abs. 2 S. 2 StGB – wie Hassemer zu Recht erklärt76 –„dieses Rechtsgut nicht im Programm“ hat, wird schon darin offenkundig, dass unter der Annahme, eines der beiden Geschwister beeinträchtige beim Geschwisterinzest in strafbarkeitsbegründender Weise das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung des anderen, schlechterdings nicht erklärbar wäre, warum dann beide Geschwister – also Täter und Opfer – gleichermaßen und in gleichem Maße zu bestrafen sind77. Was als letztes nun das dritte Argument für eine Strafbarkeit des Geschwisterinzestes betrifft, die Verhinderung erbkranken Nachwuchses, so erweist sich auch dieses gleich in mehrfacher Hinsicht als untauglich. Zum einen – um insoweit einmal mehr mit Roxin zu sprechen78 – „verbieten es die Menschenwürde und die Erfahrungen der nationalsozialistischen Vergangenheit grundsätzlich, Erbgesundheitspolitik mit den Mitteln des Strafrechts zu betreiben“; der Gesichtspunkt einer wie auch immer formulierten „Volksgesundheit“ kann schon aus diesem Grunde keine Berücksichtigung finden. Ganz entsprechend darf man unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde auch nicht „von einer in der Erzeugung angelegten Minderwertigkeit des erzeugten Kindes oder von einem Schaden für die Gesellschaft … sprechen“79. Zum anderen kann ein solcher Strafgrund der Eugenik schon deswegen in den meisten Fällen des Inzestes nicht greifen, weil – gerade im Zeitalter moderner Verhütungsmethoden – aus einer inzestuösen 74 So schon Bottke FS Volk 2009, 101: „Die §§ 174 ff. StGB sind ausreichend, wenn das sexuelle Selbstbestimmungsrecht betroffen ist. § 173 StGB ist hierfür nicht notwendig.“ 75 Auch insofern bereits Roxin StV 2009, 547. 76 Hassemer in: BVerfGE 120, 268. 77 Auch hierzu wieder Roxin StV 2009, 547. 78 Roxin StV 2009, 547 (bei Argument „Fünftens“). 79 Roxin StV 2009, 547 (bei Argument „Viertens“).

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Verbindung „nur in seltenen Fällen Kinder hervorgehen werden“80. Und sollte dies doch einmal der Fall sein – wie etwa konkret bei jenem sächsischen Geschwisterpaar, über dessen Schicksal das BVerfG letztlich zu entscheiden hatte – so ist die Frage, ob der Inzest eine erhöhte Gefahr von Erbschäden mit sich bringt, selbst in Fachkreisen in höchstem Maße umstritten, keinesfalls jedoch mit einem eindeutigen „Ja“ zu beantworten81. Keines der drei üblicherweise – und auch vom BVerfG – vorgebrachten Hauptargumente für eine rechtsgüterschützende Funktion und damit für eine hinreichende Legitimität des Inzest-Tatbestandes vermag also zu überzeugen. Und auch die vom BVerfG ins Spiel gebrachte Überlegung, dass aufgrund einer in unserer Gesellschaft verbreiteten allgemeinen „Inzestscheu“ ja doch „nur wenige Geschwisterpaare überhaupt von dem Verbot in einer einschränkend spürbaren Weise betroffen sind“ 82, vermag nicht für, sondern ganz im Gegenteil nur gegen die Strafbarkeit des Inzestes zu sprechen: Was hilft es den wenigen betroffenen Geschwisterpaaren, dass nur sie und nicht auch zahlreiche andere von der Strafbarkeit des Inzests erfasst werden? Ist es nicht geradezu zynisch83, ja im Ansatz gar menschenverachtend, auf diese Weise den Umstand herunterspielen zu wollen, dass die – zugegebenermaßen – wenigen Betroffenen mitunter äußerst hart unter der Strafverfolgung zu leiden haben? – bei Vorhandensein von „Inzestkindern“84 bis hin zur Zerstörung der betreffenden „Inzest-Familie“ – und wie bitte verhält sich das zu dem in Art. 6 GG ausgelobten Schutz von Ehe und Familie? Und überhaupt: Wenn aufgrund jener vom BVerfG konstatierten „Inzestscheu“ realiter nur wenige Inzestfälle zu verzeichnen sind, warum dann die Strafbarkeit? Kann unsere Gesellschaft mit diesen wenigen Einzelfällen nicht auch ohne Bestrafung zurecht kommen?85 Die Antwort auf diese Fragen möge nun jeder für sich selbst beantworten, aber jedenfalls bleibt – bitter genug – festzuhalten: „Tatsächlich steht hinter der Strafdrohung [des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB] wohl in Wahrheit nur eine diffuse Moralvorstellung. Das aber kann für eine Strafbarkeitsbegründung nicht ausreichen“ (so Cornils86), und – noch bitterer –: „Das Bundes80

Roxin StV 2009, 547 (bei Argument „Erstens“). Vgl. bereits Roxin StV 2009, 547 (bei Argument „Zweitens“). 82 BVerfGE 120, 224 (252). 83 Auch Hassemer in: BVerfGE 120, 273 meint: „Solche Argumente können im Strafrecht, das seit jeher in besonderer Weise auf die Person hin orientiert ist, zynisch wirken.“ 84 So der in BVerfGE 120, 224 (248) verwendete, schon per se diffamierende Begriff. 85 In diesem Sinne auch Bottke FS Volk, 2009, 103; Cornils ZJS 2009, 89 sowie Roxin StV 2009, 549 („Viel näher läge die Forderung, dass die Vorschrift auch wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung nicht erforderlich sei.“). 86 Cornils ZJS 2009, 88; auch für Satzger/Schmitt/Widmaier-Wittig § 173 Rn. 2 bleibt „als Fazit …, dass § 173 unzulässigerweise lediglich bestehende oder vermutete Moralvorstellungen, nicht aber konkrete Rechtsgüter schützt“, und für Schönke/Schröder-Lenckner/Bosch 81

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verfassungsgericht hat also im Ergebnis dem Strafrecht die Aufgabe der Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Moralvorstellungen zugewiesen“ (so Greco87). Doch aber was nutzt dieses Aufbegehren? Die Rechtsverbindlichkeit der Inzest-Entscheidung steht außer Frage – das BVerfG ist hier die letzte Instanz. Schlimmer noch: Das Gericht spricht in seiner Entscheidung dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes auch in abstracto jede strafsetzungsbegrenzende Wirkung ab. So erklärt es ganz unverblümt, es dürfe zwar „eine Strafandrohung … nach Art und Maß dem unter Strafe gestellten Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein“88, aber: „Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten“.

IV. Zwischenbefund Im Hinblick auf die Idee vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ ergibt sich somit ein recht düsterer Befund. Nicht nur der Gesetzgeber – wie vorher schon gezeigt (oben II.) – sondern auch die einzige dem Gesetzgeber übergeordnete Kontrollinstanz, das BVerfG (soeben III.), scheinen dem Rechtsgutsdogma nicht sonderlich verhaftet zu sein. Ist damit also das Ende des Rechtsgutsdogmas markiert? Wird die Überzeugung von der rechtsgüterschützenden Zielsetzung des Strafrechts jetzt untergehen und in den Fluten des Vergessens versinken? Ist – um nunmehr auf den Titel dieses Beitrags zurückzukommen – das „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ ein Auslaufmodell? Die Antwort lautet: Meines Erachtens: Nein! Ich wage die Prognose: Die Idee von der Bindung des Strafrechts an den Rechtsgüterschutz wird nicht untergehen – kampflos jedenfalls werden wir sie nicht preisgeben! So ist es denn auch mehr als nur ein Zeichen der Hoffnung, dass der einzige Strafrechtler im entscheidenden Senat – der schon erwähnte damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Hassemer – in seinem von der Mehrheitsentscheidung abweichenden Sondervotum89 vehement für die Verfassungswidrigkeit des Inzest-Tatbestandes und für eine strikte Bindung des Strafrechts an den Rechtsgüterschutz eingetreten ist und auch nahezu

§ 173 Rn. 1 ist „nach wie vor zu bezweifeln ob mit § 173 letztlich nicht doch überlieferte Moralvorstellungen strafrechtlich sanktioniert werden“. 87 Greco ZIS 2008, 235. 88 Hier und nachfolgend BVerfGE 120, 224 (241). 89 BVerfGE 120, 224 (255 ff).

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sämtliche im Schrifttum erschienenen Stellungnahmen zur Mehrheitsentscheidung ablehnender Natur waren90.

V. Aufruf zum Kampf91 Für eine kraftvolle Wiederbelebung des Gedankens vom Rechtsgüterschutz als erster und einziger Aufgabe des Strafrechts ist aber in der jetzigen Situation nach meinem Dafürhalten ein Doppeltes erforderlich:

1. Die Bekräftigung des Rechtsgutsgedankens Zum einen muss man deutlicher herausarbeiten, deutlicher nach außen hin zur Geltung bringen und auch sich selbst deutlicher bewusst machen, dass mit dem Bekenntnis, das Strafrecht diene ausschließlich dem Rechtsgüterschutz, gleich ein Mehrfaches an Wirkung verbunden ist: Das Rechtsgutsdogma ermöglicht es nicht nur, im Sinne eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriffs92 dem Staat in seinem mitunter kaum zu verkennenden Drang nach überbordender Strafgesetzgebung eine Grenze zu ziehen 93 – eine Möglichkeit, die zugegebenermaßen angesichts der rechtsgutsdogmafeindlichen Einstellung des BVerfG zumindest derzeit weitestgehend leer läuft. Die Rechtsgutslehre vermag als zweites vielmehr auch, kriminalpolitische Postulate aufzustellen, die den Gesetzgeber zwar vielleicht nicht zu zwingen vermögen, die aber durchaus dazu geeignet sind, ihm – und auch dem Verfassungsgericht! – gegenüber bewusstseinsbildend zu wirken, sie zum 90

Vgl. nur Bottke FS Volk, 2009, 93; Cornils ZJS 2009, 87; Duttge JA 2008, 549; Greco ZIS 2008, 234; Hörnle NJW 2008, 2085; Hufen/Jahn JuS 2008, 550; Noltenius ZJS 2009, 15; Roxin StV 2009, 544; Zabel JR 2008, 453; Ziethen NStZ 2008, 617; sowie Fischer § 173 Rn.2; LK-Dippel § 173 Rn. 15; Satzger/Schmitt/Widmaier-Wittig § 173 Rn. 2; Schönke/SchröderLenckner/Bosch § 173 Rn. 1; vgl. auch Karst Die Entkriminalisierung des § 173 StGB, 2009, S. 199 ff; im Ergebnis dem BVerfG zustimmend jedoch Kühl JA 2009, 837; ders. FS Stöckel, 2010, 129 f; ders. FS Maiwald, 2010, 447 ff. 91 Diese recht kriegerisch daherkommende Formulierung sei mir nachgesehen, nicht zuletzt auch angesichts der ebenfalls recht martialisch erscheinenden Worte von Roxin FS Hassemer, 2010, 559: „Die Anhänger eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriffs haben den Fehdehandschuh mit bemerkenswerter kämpferischer Leidenschaft aufgenommen.“ 92 Zu diesem vgl. nur etwa Roxin AT I § 2 Rn. 12 mit Fn. 27; ders. FS Hassemer, 2010, 559. 93 Eine Befähigung, die dem Rechtsgutsbegriff aber nicht selten von vornherein abgesprochen wird; so beklagt erst jüngst Roxin FS Hassemer, 2010, 559 explizit, dass (auch) „sehr namhafte Autoren wie Stratenwerth, Hirsch und Jakobs einen gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriff für unmöglich und auch im gedanklichen Ansatz für verfehlt erklärt“ haben (vgl. Stratenwerth FS Lenckner, 1998, 377 ff; Hirsch FS Spinellis, 2001, 425 ff; Jakobs FS Saito, 2003, 17 ff). Siehe auch Roxin AT I § 2 Rn. 120 mit zahlreichen Nachw. weiterer Skeptiker.

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Nachdenken zu bewegen und auf diese Weise jenen Einfluss auf Legislative und Judikative zu nehmen, der notwendig erscheint, das Strafrecht in rechtsgutsorientierten und damit letztlich auch rechtsstaatlich unbedenklichen Bahnen zu halten94. Auf diese Weise ist die Rechtsgutslehre schließlich auch bisher am Nachhaltigsten wirksam geworden – man denke nur an die gerade nicht aufgrund eines Machtworts des BVerfG, sondern aufgrund allmählich über die Rechtsgutslehre vermittelter Einsicht des Gesetzgebers schon vor Jahren vorgenommene Streichung des Tatbestandes der Homosexualität. Und drittens schließlich sollte man sich noch einmal explizit bewusst machen und auch nach außen hin unmissverständlich klarlegen, dass die Rechtsgutslehre auch und gerade in strafrechtsdogmatischer Hinsicht eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung aufweist, ja – in meinen Augen – geradezu Dreh- und Angelpunkt unseres gesamten Strafrechts darstellt: Nicht von ungefähr habe ich die von mir in meiner Habilitationsschrift entwickelte Täterlehre auf dem Begriff des „Rechtsgutszugriffs“ aufgebaut, ja aus ihm heraus entwickelt 95, wobei für mich der Begriff des „Rechtsgutszugriffs“ ein Synonym ist für „täterschaftliche Tatbestandsverwirklichung“, ja für „Täterschaft“ schlechthin96. Auf die Auswirkungen des Rechtsgüterschutzprinzips auf zahlreiche Bereiche der Strafrechtsdogmatik weist auch Roxin in seinem jüngsten Beitrag zum Thema97 hin: „Tatsächlich gibt es beträchtliche Auswirkungen solcher Art.“98 Er spricht dabei u. a. von den „Systematisierungsleistungen im Besonderen Teil“, vom „Prinzip der teleologischen Auslegung ,nach dem geschützten Rechtsgut‘“, vor allem aber von der „dogmatische[n] Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs … in seiner Verknüpfung mit der Lehre von der objektiven Zurechnung.“99 Zusammenfassend also: Das Rechtsgüterschutzprinzip hat eine dreifache Wirksamkeit: Es hat das Potential zur Strafsetzungsbegrenzung, es ermöglicht seit ehedem eine starke kriminalpolitische Richtungsweisung und es ist von immensem Einfluss auf die Strafrechtsdogmatik. Sich und anderen dies gerade jetzt in einer – zumindest vermeintlich – dunklen Stunde des Rechtsgutsdogmas klar zu machen und die aus dem Rechtsgüterschutzprinzip abzuleitenden Konsequenzen herauszuarbeiten und allerorts mit Nachdruck 94

Zur Idee vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz als „kriminalpolitischer Wegweisung“ vgl. nur etwa Sternberg-Lieben in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Fn. 3); in diesem Sinne auch Schünemann ebd., S. 137 („normative Richtlinie“); Roxin AT I § 2 Rn. 12. 95 M. Heinrich Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 101 ff. 96 M. Heinrich (Fn. 95) S. 128 ff und passim. 97 Roxin FS Hassemer, 2010, 559 ff. 98 Roxin FS Hassemer, 2010, 572. 99 Roxin FS Hassemer, 2010, 572.

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zur Geltung zu bringen, ist die eine Voraussetzung für ein Überleben, ja eine Stärkung der Idee vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“.

2.Die Verfeinerung der Idee vom Rechtsgüterschutz Ich sprach vorhin freilich von einem doppelten Erfordernis. Damit meinte ich, dass es mir des Weiteren notwendig erscheint, den Gedanken des Rechtsgüterschutzes ein wenig mehr ins Detail gehend als bisher auszuarbeiten. Nicht nur, dass – wie eingangs schon erwähnt – trotz im Kern durchaus bestehender Übereinstimmung noch immer nicht Einigkeit darüber erzielt werden konnte, was eigentlich unter einem „Rechtsgut“ zu verstehen ist. Der Umgang mit dem Rechtsgutsdogma – auch seitens seiner Befürworter – krankt vielmehr auch daran, dass in letztlich undifferenzierter Weise stets nur recht schlagwortartig auf das Rechtsgüterschutzprinzip als solches und das Erfordernis eines Rechtsgutsbezugs als solches verwiesen wird, ohne dass – wie doch sonst im Strafrecht üblich – versucht würde, den Gedanken vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ in ein handhabbares Instrumentarium einzelner Gesichtspunkte und Beurteilungskriterien auszuformen. Den Versuch, das Grundgerüst eines solchen „Schemas“ zu entwickeln und damit den noch immer ein wenig groben Knüppel des Rechtsgüterschutzprinzips in ein besser handhabbares Miteinander mehrerer treffgenauer Einzelkriterien umzugestalten, möchte ich nun zum Ende meines Beitrags hin noch unternehmen.

VI. Das Drei-Stufen-Schema des Rechtsgüterschutzes Mir schwebt dabei ein Drei-Stufen-Schema vor. Die Verträglichkeit einer Strafbarkeit mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes hängt m. E. nämlich von der Beantwortung dreier Fragen ab: 1. Was soll geschützt werden? 2. Zu wessen Gunsten soll der Schutz bestehen? oder kurz: Wer soll geschützt werden? und 3. Wovor soll geschützt werden? Kurzum also: Was und wer soll wovor geschützt werden? Die Beantwortung dieser drei Fragen führt ohne Weiteres zu den wesentlichen Voraussetzungen eines dem Rechtsgüterschutz gewidmeten Strafrechts, wie ich es mir vorstelle. Im Einzelnen:

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1. Die Frage nach dem „Was“ des Rechtsgüterschutzes Die Beantwortung der ersten Frage, „was“ geschützt werden soll, steht in engem Zusammenhang mit der funktionalen Grundorientierung unseres Strafrechts. Was also ist Sinn und Zweck unseres Strafrechts? Die Antwort kann im Rahmen unseres von der Verfassung vorgegebenen Wertesystems nur dahin gehen, dass das Strafrecht dem Schutz des Einzelnen und der Gemeinschaft dient, sich im Rahmen eines friedlichen Zusammenlebens frei zu entfalten. Oder, um noch einmal auf die schon erwähnte Rechtsgutsdefinition Roxins zurückzugreifen100: Das Strafrecht muss den Schutz gewähren, der „für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig“ ist. Somit ist die erste Voraussetzung richtig verstandenen Rechtsgüterschutzes das Vorhandensein eines in dem eben beschriebenen Sinne strafrechtsrelevanten Schutzgutes – mithin eben eines Rechtsgutes. Damit lassen sich natürlich schon sehr konkrete Aussagen machen: Nachdem es eben die Aufgabe des Strafrechts ist, das friedliche Miteinander in unserer Gesellschaft und die in einem solchen Umfeld freie Entfaltung des Einzelnen zu gewährleisten, kann der bloße Schutz von guten Sitten und Moral, von Religion und kulturhistorisch gewachsenem Tabu schon deswegen nicht dem Rechtsgüterschutz und damit der strafrechtlichen Absicherung unterfallen, weil in unserer pluralistischen Gesellschaft mit ihrer unüberschaubaren Vielzahl mitunter diametral entgegengesetzter sittlicher, religiöser und moralischer Auffassungen keine von ihnen den anderen vorgezogen werden kann, ohne damit die anderen zu dominieren. Das aber wäre einem friedlichen Miteinander und einer Entfaltung des Einzelnen in keiner Weise zu-, sondern ganz im Gegenteil in hohem Maße abträglich. Es kann somit nicht Aufgabe unseres Staates, und schon gar nicht unseres Strafrechts, sein, das sittliche, moralische oder religiöse Empfinden seiner Bürger zu schützen, sondern nur, ihnen gerade ungeachtet ihren unterschiedlichen sittlichen, moralischen oder religiösen Vorstellungen ein friedliches Zusammenleben in der Gemeinschaft zu sichern.

2. Die Frage nach dem „Wer“ Nun zu der oben an zweiter Stelle gestellten Frage: Zu wessen Gunsten soll der Schutz bestehen? oder kurz: Wer soll geschützt werden? Diese Frage ist letztlich logische Konsequenz der Erkenntnis, dass die zu schützenden Rechtsgüter nicht allein um ihrer selbst willen, gewissermaßen 100

Vgl. oben Abschnitt I.1.

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in ihrer abstrakten Existenz schlechthin, geschützt sein können, sondern dass sie stets nur eingedenk ihrer Zuordnung zu einem außerhalb ihrer selbst stehenden Rechtssubjekt Schutz genießen. Nicht um die abstrakte Aufrechterhaltung irgendwelcher hehren Werte kann und darf es dem Strafrecht gehen, sondern allein um den gezielten Schutz zugunsten konkreter Rechtsgutsträger. Ja, im Grunde stellt sich schon die Frage, ob der Begriff des „Rechtsguts“ nicht bereits per se ein Zuordnungsbegriff dergestalt ist, dass es überhaupt kein Rechtsgut geben kann ohne ein mit ihm untrennbar verknüpftes Bezugssubjekt, sprich: einen Rechtsgutsträger. Aber wie auch immer. Auch wenn dies im Rahmen der gängigen Strafrechtsdogmatik bislang noch nicht in dieser Weise zum Ausdruck gebracht worden ist, ist doch immerhin auch in ihr in keineswegs bezugsfreier Weise stets nur die Rede von Rechtsgütern im Sinne von „Individualrechtsgütern“ oder von „Rechtsgütern der Allgemeinheit“. Alles in allem wird man also festhalten dürfen, dass der Begriff des Rechtsgüterschutzes immer mit der Frage „zu wessen Gunsten“ verknüpft ist – was am Ende bedeutet, dass von Rechtsgüterschutz nur die Rede sein kann, wenn sich in hinreichender Konkretheit nicht nur ein zu schützendes Rechtsgut, sondern auch ein entsprechender Rechtsgutsträger benennen lässt – mag dies nun ein Individuum, eine Mehrzahl von Individuen oder gar die Allgemeinheit sein. Daraus folgt, dass immer dort, wo sich kein Rechtsgutsträger hinreichend konkret benennen lässt, auch nicht von Rechtsgüterschutz gesprochen werden und damit das Strafrecht auch nicht eingreifen kann. So lässt sich an dieser Stelle beispielsweise die Frage stellen und beantworten, ob denn auch solche Strafvorschriften im Dienste des Rechtsgüterschutzes stehen, bei denen es um – nach herkömmlicher Terminologie – den Schutz von sog. „Scheinrechtsgütern“ geht: Gemeint sind hier Tatbestände wie etwa der Subventionsbetrug nach § 264 StGB, der Kreditbetrug nach § 265b StGB oder der ehemalige Versicherungsbetrug des § 265 StGB a. F., deren vergleichsweise hohe Strafdrohungen vielfach mit einem Verweis auf die zu schützenden Rechtsgüter eines funktionierenden Subventions-, Kredit- oder Versicherungswesens gestützt werden101. Ein weiteres Beispiel ist der vorgebliche Schutz der „Volksgesundheit“, wie er uns auch als Argument für die Inzeststrafbarkeit begegnet ist102. Wenn hier nun von Kritikern der Begriff des „Scheinrechtsgutes“ verwendet wird, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass bei solchen hoch ab101 Vgl. hierzu etwa Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht Rn. 195 (zu § 265b StGB), 801 (zu § 264 StGB) bzw. Schönke/Schröder-Perron § 265 Rn. 2. 102 Vgl. oben bei Fn. 78/79.

Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell?

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strakten Konstruktionen die Grenzen des Rechtsgüterschutzes überschritten sind103, so ist dies im Ergebnis richtig. Nicht überzeugend erscheint mir freilich die Erwägung, solche Scheinrechtsgüter seien gar keine Rechtsgüter – denn es wird sich kaum bestreiten lassen, dass eine Beeinträchtigung von Subventions-, Kredit- oder Versicherungswirtschaft auch die Grundlagen für ein gedeihliches Miteinander in unserer Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht. Eigentlicher Grund für das Nichtgegebensein strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes ist in diesen Fällen nach meinem Dafürhalten, dass sich hier nicht mit hinreichender Konkretheit ein Rechtsgutsträger als taugliches Subjekt legitimen Rechtsgüterschutzes benennen lässt. Während bei Rechtsgütern der Allgemeinheit – man nehme nur etwa die über die Aussagedelikte geschützte Rechtspflege – als Träger dieses Rechtsgut eben ganz dezidiert die Allgemeinheit als solche benannt werden kann, ist nicht so recht ersichtlich, wer eigentlich in den Genuss eines Schutzes der Subventions-, Kreditoder Versicherungswesens kommen soll – die Allgemeinheit bestenfalls erst auf Umwegen.

3. Die Frage nach dem „Wovor“? Als letztes schließlich noch zum dritten Punkt in meinem Drei-PunkteSchema. Kann vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ nur die Rede sein, wenn es überhaupt um ein Rechtsgut geht (Punkt 1 – man denke an die Frage: „Was soll geschützt werden?“) und ein konkret benennbarer Rechtsgutsträger vorhanden ist (Punkt 2 – „Wer soll geschützt werden?“), so geht es nunmehr um die dritte Frage: „Wovor soll geschützt werden?“. Meine These geht nun dahin, dass von legitimem Rechtsgüterschutz nur die Rede sein kann, wenn auch ein konkretes Abwehrerfordernis besteht. Das bedarf allerdings in besonderer Weise der Erläuterung: Wie ich schon bei früherer Gelegenheit104 ausführlichst dargelegt habe, leidet die gängige Formel vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ unter einer gewissen Unvollständigkeit: Denn mit dieser Formel wird noch nicht umfassend – könnte man es rechnerisch erfassen, müsste man wohl sagen: gerade einmal zur Hälfte – zum Ausdruck gebracht, um was genau es dem Strafrecht denn nun wirklich geht105. Man erfährt nämlich aus ihr zwar, was das Strafrecht schützen will – eben ausschließlich Rechtsgüter; nicht aber wird so recht klar, wovor das Straf103

Vgl. nur Roxin FS Hassemer, 2010, 566: „Scheinrechtsgüter … sind Allgemeinbegriffe, wie die ,Volksgesundheit‘ oder die ,Leistungsfähigkeit des Versicherungswesens‘, die nur aus der Addition einzelner konkreter Rechtsgüterverletzungen hergeleitet werden und eine Strafbarkeit begründen sollen, die sich aus konkreten Verletzungshandlungen nicht herleiten lässt“. 104 M. Heinrich (Fn. 95) S. 107 ff. 105 M. Heinrich (Fn. 95) S. 107.

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recht diese Rechtsgüter eigentlich schützen soll. Auch im einschlägigen Schrifttum wird dieser Aspekt – erstaunlicher Weise – weitgehend außer Acht gelassen106. Dabei ergibt sich das hier anzumahnende Manko ganz ohne weiteres schon aus einer einfachen logischen bzw. sprachlogischen Betrachtung: Der Begriff „Schutz“ knüpft notwendig an zweierlei an – zum einen gewiss an die Frage, zu wessen Objektes Gunsten er ausgelobt ist, zum anderen aber nicht minder gewiss auch an die gerade in die entgegengesetzte Richtung weisende weitere Frage, zu welcher Unbill Abhaltung er bestimmt ist107. Mithin ist bei ihm also eine dualistische Aufspaltung zu verzeichnen in einen „Schutz für“ und einen „Schutz vor“. Als Beispiel für diese Dualität sei hier nur die Pflicht der Eltern zum Schutz ihrer Kinder genannt: Zum einen sind sie verpflichtet, ihren Kindern in umfassender Weise Schutz zu gewähren (Schutz für), andererseits bedeutet dies für sie aber auch, in concreto auf ihre Kinder eindringende Gefahren von diesen abzuhalten (Schutz vor)108. Verkürzt man nun die Fragestellungen zum Rechtsgutsdogma – wie bislang im strafrechtlichen Schrifttum üblich – auf allein die Frage: „Was ist geschützt?“, so begibt man sich damit von vornherein der Möglichkeit eines umfassenderen Erkenntnisgewinns zu Grundlagen und Reichweite des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Die Strafnormen wirken ja nicht unmittelbar auf die zu schützenden Rechtsgüter ein, überziehen diese nicht etwa mit einer undurchdringlichen, per se schadenabweisenden Hülle, sondern wenden sich ganz im eigentlichen Sinne eines Abwehrmittels dezidiert gerade in entgegengesetzter Richtung gegen den Quell der befürchteten Rechtsgutsbeeinträchtigung109. Ein Bild vom Strafrecht als mit dem Rücken zu den Rechtsgütern und den Blick fest auf die allseits dräuenden Lebenswidrigkeiten gerichtet, wäre hier nicht falsch110. So erscheint es für die Beantwortung der Frage, ob eine konkrete Strafbarkeit auch mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes kompatibel ist, von durchaus erheblicher Bedeutung, gegenüber welchen Anbrandungen das unter Schutz gestellte Rechtsgut denn tatsächlich geschützt werden soll. Dies soll nun abschließend noch kurz anhand einiger weniger Beispiele gezeigt werden:

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Es greift schon vergleichsweise weit, wenn bei NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 109 vom „Schutz von Rechtsgütern vor Gefährdung oder Verletzung“ die Rede ist. 107 M. Heinrich (Fn. 95) S. 107/108. 108 M. Heinrich (Fn. 95) S. 108; dort auch zur Widerspiegelung dieser Dualität in der Aufspaltung der Garantenpflichten bei den unechten Unterlassungsdelikten gemäß den Aspekten des Beschützer- und des Überwachungsgaranten. 109 So schon M. Heinrich (Fn. 95) S. 108. 110 Vgl. bereits M. Heinrich (Fn. 95) S. 112.

Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell?

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Wenn der Tatbestand des Totschlags lautet: „Wer einen Menschen tötet …“ so ließe dies dem Wortlaut nach auch die Annahme zu, auch der Selbstmord sei strafbar (wobei es hier sinnvollerweise natürlich nur um die Strafbarkeit des Selbstmordversuchs gehen kann). Dass dem nicht so ist, wird allgemein konsentiert. Begründen lässt sich das – schon – mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes, und zwar mittels der Frage: „Schutz wogegen?“. Die Antwort lautet: Das Leben ist ausschließlich gegenüber den Angriffen Dritter geschützt111. Nicht hingegen entspricht es einem mit unseren grundlegenden Verfassungswertungen übereinstimmenden Rechtsgüterschutz, dieses Rechtsgut im Wege paternalistischer Bevormundung der freien Verfügung des konkreten Rechtsgutsträgers zu entziehen. Ähnliches gilt im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung in den Fällen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung: Hier ist man sich mittlerweile darin einig, dass derjenige, der sich sehenden Auges in eine Gefahr begibt (etwa ohne hinreichendes Training an einem Motorradrennen teilnimmt112) im Falle der Gefahrverwirklichung (etwa eines Unfalls) selbst die alleinige Verantwortung für die ihm entstehenden Schädigungen trägt, so dass ein etwaiger Dritter, der ihn zur Teilnahme aufgefordert hat, mangels objektiver Zurechenbarkeit des Geschehens keine Verantwortung für die entstandenen Unfallfolgen zu tragen hat113. Dies beruht letztlich darauf, dass trotz eingetretener Rechtsgutsbeeinträchtigung unter dem Aspekt des „Schutzes vor“ nicht nur nicht auf denjenigen zugegriffen werden kann, der sich selbst gefährdet (vgl. hierzu bereits den vorherigen Absatz), sondern auch nicht auf denjenigen, der sich an dieser Selbstgefährdung beteiligt – denn: Insoweit besteht unter der Perspektive des Rechtsgüterschutzes kein konkretes Abwehrerfordernis. Ein letztes Beispiel sei noch genannt: Wenn jemand den neben ihm Stehenden zur Seite schubst, um zu verhindern, dass diesem ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, damit aber nur erreichen kann, dass der andere vom Ziegelstein nunmehr an der Schulter getroffen wird, hat unser Retter zwar die Schulterverletzung des Getroffenen kausal verursacht114, sie ist ihm aber nach allgemeiner Auffassung nicht objektiv zurechenbar 115. Der Handelnde hat ja immerhin eine weit schwerere, womöglich tödliche Kopfverletzung verhindert, so dass ungeachtet der auf sein Verhalten zurückzuführenden Schulterverletzung er das Risiko eines schweren Schadens beseitigt, den schweren Schaden selbst verhindert und damit per Saldo dem Körper des 111

Vgl. hierzu nur Krey/Heinrich BT I Rn. 96 m. w. N. in Fn. 191. Vgl. etwa den Fall BGHSt 7, 112; näher hierzu HKGS-M. Heinrich Vor § 13 StGB Rn. 134. 113 Zu diesem Ergebnis vgl. HKGS-M. Heinrich Vor § 13 StGB Rn. 134 m. w. N. 114 Vgl. HKGS-M. Heinrich Vor § 13 StGB Rn. 24, 29. 115 Vgl. HKGS-M. Heinrich Vor § 13 StGB Rn. 92. 112

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Verletzten keinen Nachteil zugefügt hat. Auch diese Behandlung der Fälle sog. „Risikoverringerung“ lässt sich ohne Schwierigkeiten auf den Ansatz vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ zurückführen. Zwar ist die körperliche Unversehrtheit zweifelsfrei ein Rechtsgut und nicht minder gewiss ist im konkreten Fall der Verletzte auch Träger dieses Rechtsgutes. Fragt man nun aber, wovor dem betreffenden Rechtsgut denn Schutz gewährt werden soll, liegt die Antwort auf der Hand: natürlich vor drittverursachten Verschlechterungen der Opfersituation, nicht aber vor Verbesserungen! Ein den Voraussetzungen strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes entsprechendes Abwehrerfordernis ist hier nicht gegeben.

VII. Ergebnis Alles in Allem, und hier will ich nun zum Ende kommen, hoffe ich, zumindest ansatzweise gezeigt zu haben, wie eine Ausdifferenzierung der Formel vom „Strafrecht als Rechtsgüterschutz“ aussehen könnte und welche Vorteile daraus für den argumentativen Umgang mit dem Rechtsgutsdogma gezogen werden können. Mit der Dreistufigkeit eines „was wird geschützt“, eines „wer wird geschützt“ und eines „wovor wird geschützt“ und den daraus sich ergebenden Forderungen nach 1. dem Gegebensein eines Rechtsgutes, 2. dem Vorhandensein eines benennbaren Rechtsgutsträgers und 3. dem Vorliegen eines konkreten Abwehrerfordernisses glaube ich der bislang recht undifferenzierten Formel vom „Rechtsgüterschutz als der Aufgabe des Strafrechts“ eine – wie ich hoffe – etwas überzeugungsund durchsetzungsmächtigere Handhabbarkeit geben zu können, als dies bisher der Fall war. Dieser Ansatz wird noch näher auszuarbeiten sein, vermag aber in all seiner Bescheidenheit schon allein ob seiner Existenz zum Ausdruck zu bringen, dass die im Titel meines Vortrags gestellte Frage: „Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell?“ aus meiner Sicht mit einem klaren „Nein“ zu beantworten ist. Wollen wir hoffen, dass tatsächlich die Lehre vom Rechtsgüterschutz in nicht allzu ferner Zukunft in gestärkter Form wie ein Phönix aus der Asche steigt! In der festen Überzeugung, damit dem Jubilar aus dem Herzen gesprochen zu haben, widme ich ihm diesen Beitrag mit tief empfundenem Dank als dem Menschen, der es wie kein Zweiter verstanden hat und noch immer versteht, ein auf den Menschen hin ausgerichtetes, am Subjekt orientiertes strafrechtliches Weltbild Gestalt annehmen zu lassen. Möge ihm und uns seine Schaffens- und Überzeugungskraft noch viele Jahre erhalten bleiben!

Zur Legitimation der Strafgesetze Zu Fähigkeit und Grenzen der Rechtsgutstheorie MARIO ROMANO

I. Zu den bedeutendsten Arbeiten, die Claus Roxin in den letzten Jahren vorgelegt hat, zählen diejenigen, die den Grenzen des Strafrechts gewidmet sind. „Was darf der Staat unter Strafe stellen?“ ist der Titel eines interessanten Aufsatzes,1 in dem der Autor ein Thema wieder aufgreift, mit welchem er sich auch auf den ersten Seiten des ersten Bandes seines hervorragenden Lehrbuches bereits befasst hat. Kein Gelehrter unseres Faches kann umhin, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Zu wissen, was der Staat tun darf und was nicht, welche Verhaltensweisen er bestrafen darf und welche nicht, ist nicht nur für die Theorie der Gesetzgebung wichtig, sondern vor allem dazu, die Freiheitsräume des Einzelnen zu verstehen, jene Räume, die nicht einschränkbar sind durch gesetzgeberische Eingriffe, jene, die dem potentiell strengsten Bereich der Rechtsordnung anvertraut sind. Ein verdienstvolles Unterfangen, unverzichtbar, aber schwierig, da es das Verhältnis zwischen Autorität und Individuum mit einbezieht: Wenn man einerseits demokratische politische Systeme und parlamentarische Regierungsformen voraussetzt und andererseits die strenge Beachtung des Legalitätsprinzips einfordert, so geht es darum, die Grenzen der Machtbefugnisse der aus freien Wahlen rechtmäßig hervorgegangenen Mehrheiten herauszufinden. Auch ich möchte weiter unten auf dieses Thema zurückkommen und einige in der Vergangenheit2 schon behandelte Aspekte wiederaufgreifen, in der Absicht, meine Gedankengänge eingehender darzulegen: Ich möchte das tun in steter Erinnerung an die gemeinsamen, in freundschaftlicher Dialektik geführten, für mich sehr fruchtbaren Diskussionen mit dem eminenten Münchener Maestro, dem viele von uns doch so viel zu verdanken haben. 1

Roxin FS Marinucci, 2006, 715; aber auch ders. FS Núňez Barbero, 2007, 671. Romano JuS 1985, 413; ders. Commentario sistematico del codice penale I, 3. Aufl. 2004, S. 299 ff. 2

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II. Die These von Roxin ist allgemein bekannt und braucht nicht nochmals im Einzelnen dargelegt zu werden: Ausgehend vom materiellen Verbrechensbegriff leitet er den Rechtsgutsbegriff von den Aufgaben des Strafrechts ab. Auf der Basis dieser Aufgaben betrachtet er als Rechtsgut all jene Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.3 Auf der Basis dieses Begriffes vom Rechtsgut, dessen Wurzeln in der Zeit der Aufklärung zu suchen seien und der den Ideen des Staatsvertrags entspringe, würden die elementarsten Verbrechen sofort begreiflich: Tötung, Körperverletzungen, Diebstahl und Betrug. Eine moderne Gesellschaft aber könnte kein friedliches Zusammenleben garantieren ohne eine funktionierende Rechtspflege, ohne eine gesunde Währung oder die Erhebung von Steuern. So stünden neben dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum Universalrechtsgüter, welche die Allgemeinheit als solche betreffen. Dabei müsse man aber – fährt der Verfasser fort – auf der Hut sein, der Behauptung nur scheinbarer Rechtsgüter beizustimmen, mit anderen Worten, solcher Güter, deren Verletzung dem Einzelnen keinen Schaden zufügt. Roxin teilt die personale Rechtsgutstheorie, der zufolge die Allgemeingüter, um strafrechtlichen Normen unterstehen zu können, dem Individuum zu dienen haben, mit anderen Worten, sich als vermittelte Interessen des Individuums nachweisen lassen müssen.4 Dank diesen Voraussetzungen erscheine ein so gearteter Rechtsgutsbegriff als „systemkritisch“: Er bleibe nicht darauf beschränkt, ein einfaches Hilfsmittel bei der systemimmanenten Auslegung der Tatbestände darzustellen – wie es die methodologische Konzeption behauptet –, sondern er sei imstande, die Grenzen der Strafbefugnis des Gesetzgebers abzustecken. An dieser Stelle nimmt Roxin eine ins Einzelne gehende Untersuchung in Angriff, um aufzuzeigen, wann es sich nicht um ein Rechtsgut handelt, mit anderen Worten, was nicht genügt, dem Gesetzgeber die Befugnis zu geben, neue Tatbestände zu schaffen. Und das Resultat der Suche nach Rechtsgütern, die fähig sind, zu ihrem Schutz geschaffene Strafgesetze zu stützen, ist eine lange Reihe von negativen Antworten:5 Keine Rechtsgüter schützten rein ideologisch motivierte oder gegen Grundrechte verstoßende Strafgesetze. Die reine Umschreibung gesetzlicher Zielvorstellungen legitimiere nicht 3

Hier und nachfolgend Roxin AT I S. 16 f. Insbes. Hassemer FS Kaufmann, 1989, 85 ff; ders. Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 160. Verschiedene Einschätzungen des kritischen Beitrags der Theorie nun in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007. 5 Hier und nachfolgend Roxin AT I S. 18 ff. 4

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die Schaffung eines Tatbestandes (z. B. gebe die Idee der Existenz einer drogenfreien Gesellschaft noch keine Antwort auf die Frage, ob ein verbotenes Verhalten das friedliche Zusammenleben beeinträchtigt). Die einfache Unmoral, die Unsittlichkeit oder die Verwerflichkeit eines Verhaltens verletzten keine Rechtsgüter. Der Verstoß gegen die eigene Menschenwürde oder gegen die Würde der Menschheit stelle keinen hinreichenden Grund für Strafe dar (man denke etwa an die Kommerzialisierung zur Transplantation bestimmter menschlicher Körperorgane). Ein strafrechtlicher Schutz der Gefühle könne nur dann zugestanden werden, wenn das Verhalten anderer das Sicherheitsgefühl beeinträchtigt. Bewusst selbstschädigendes Verhalten könne nicht bestraft werden; überwiegend symbolische Strafnormen seien abzulehnen. Tabus seien keine Rechtsgüter, wie auch geschützte Objekte unerfassbarer Abstraktheit. Am Ende dieser sorgfältigen Analyse gesteht der Verfasser seine Überzeugung bezüglich des Rechtsgüterschutzprinzips ein: Es sei richtig, dass es keine automatischen Lösungen bietet, es sei aber dennoch dazu im Stande, konkrete Argumentationsrichtlinien zu geben, die dazu geeignet sind, eine rationale Diskussion über die Strafbefugnis des Staates zu gestatten und auf diese Weise dazu beizutragen, eine rechtsstaatswidrige Überdehnung pönalisierender Eingriffe zu verhindern.6

III. Das so entstandene Bild verdient Bewunderung, und das klare Eingeständnis seitens Roxins in Bezug auf die ernsten Schwierigkeiten, mit denen sich die Theorie auseinanderzusetzen hat, dazu die Vorsicht und der nuancierte Stil, dessen sich der Autor bedient, sind ebenso schätzenswert wie die stolze Überzeugung, mit der er sie als ultimatives, entscheidendes liberales Bollwerk präsentiert. Was die beiden Ausgangspunkte betrifft, die Aufgaben des Strafrechts und die brennende Notwendigkeit der Klarstellung der Strafbefugnis des Staates, stimme ich mit Roxin uneingeschränkt überein: Im Hinblick auf die ersteren gehöre ich zu denjenigen, welche die Aufgabe des Strafrechts mit dem Schutz der menschlichen Person in der Gesellschaft identifizieren. Das Strafrecht trägt dazu bei, die soziale Ordnung und die grundlegenden Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens zu bewahren. Trotz seiner offensichtlichen défaillances stellt es einen effizienten Faktor der Sozialisierung dar: Durch die Strafandrohung und die damit beabsichtigte Abschreckung, vor allem aber durch die Begrenzung der Hand6

Roxin AT I S. 29.

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lungsfreiheit bewirkt und stärkt es die Gesetzestreue und die Akzeptanz der Anforderungen des sozialen Lebens.7 Was nun das Begrenzungsbedürfnis angeht, so ist die Lösung des Problems in der Tat unabdingbar. Es ist in erster Linie ein Problem der Garantien: Das Risiko der Prävarikation der öffentlichen Macht ist auch in unserer Zeit gewiss nicht gebannt, es besteht auch in den gesunden modernen Demokratien. Außerdem handelt es sich dabei um ein Problem der Effizienz. Je zahlreicher die Strafnormen sind, desto komplizierter und weniger realisierbar ist ihre Anwendung; je stärker ihre Nicht-Anwendung wächst, desto weniger wirksam werden sie auf dem Gebiet der Abschreckung und der Generalprävention. Nicht nur das. Ihre Wirksamkeit beruht auf dem Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche der Rechtsordnung und auf der ausgewogenen Stufung ihres Eingriffs. Es ist nutzlos, ja sogar schädlich, Strafgesetze dort einzuführen, wo weniger anspruchsvolle Normen genügen oder dieselben Resultate garantieren würden. Darüber hinaus ist es illusorisch, davon auszugehen, dass Strafdrohungen präventive Kontrollen ersetzen können, welche andere Zweige der Rechtsordnung leichter und mit geringerem Aufwand an wirtschaftlichen Ressourcen und menschlichem Leid beherrschen könnten.

IV. Da somit ohne Schwierigkeiten anzuerkennen ist, dass die Gründe für die Bestimmung der Grenzen des Strafrechts ebenso zahlreich wie durchschlagend sind, stellt sich nun nichtsdestoweniger die Frage, ob das Rechtsgut das geeignete Instrument zur Erreichung dieses Zweckes darstellt. An dieser Stelle beginnen die Zweifel. Der Begriff Rechtsgut an sich ist ohnehin mindestens zum Teil unklar.8 Roxin verzeichnet mit Sorgfalt eine lange – aber noch längst nicht vollständige – Reihe von doktrinären Definitionen, welche allein schon diese Ungewissheit aufzeigen. Und auch die von ihm geprägte Definition scheint nicht geeignet, entscheidende Lösungen zu liefern. Tatsache ist, dass man sich jedes Mal, wenn man sich von den wenigen grundlegenden Individualrechtsgütern, d. h. Leben, Unversehrtheit der Person, Freiheit und Eigentum, entfernt, gezwungen sieht, diesen nicht näher definierte „Zwecksetzungen“ oder „Werteinheiten“ oder die Interessen der Allgemeinheit betreffende Angelegenheiten an die Seite zu stellen: Endgüter und Mittelgüter, Realgüter und Funktionen der Staatsorgane, um die 7 8

Romano Commentario sistematico del codice penale I, 3. Aufl. 2004, S. 9. Erörterungen in dieser Richtung bereits in Romano JuS 1985, 417 ff.

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beste Garantie für sie zu erzielen. Das heißt, man kann nicht umhin, auch verschiedene und unterschiedliche Werte als Rechtsgüter zu betrachten, welche die reguläre Abwicklung des sozialen Lebens betreffen: den Staat und seine Institutionen, die Volksgesundheit, das öffentliche Vertrauen, die Rechtspflege, die Lebensmittelsicherheit, die Disziplin im Straßenverkehr, die Regulierung der Finanzmärkte usw. Lauter wichtige Güter, die sich aber wohl nicht a priori bestimmen lassen. Und da ihre Bestimmung ex ante nicht möglich ist, versucht man, ihren Charakter durch weitere Bezeichnungen zu definieren wie z. B. „Konkretheit“, oder „Greifbarkeit“, Ausdrücke, die aber nur zu einer generellen Einschränkung geeignet erscheinen. Derselbe Einwand gilt wohlgemerkt auch für die oben zitierte personale Rechtsgutstheorie: Zu welchem Zeitpunkt berührt die Verletzung eines Universalrechtsguts auch die einzelne Person, oder bestimmte einzelne Personen? Gerade für die Güter von grundlegender Bedeutung, auf welche sich der genannte Ansatz bezieht, ist eine Vorverlagerung des Schutzes unvermeidlich, der sich auf die Strafbarkeit von Verhaltensweisen gründet, die in einiger Entfernung stehen zu der konkreten Verletzung eines einzelnen Rechtsgutes. Dies beweisen die abstrakten Gefährdungsdelikte, die aus vielfachen Gründen aus unseren Strafsystemen wahrscheinlich nicht eliminiert werden können. Wenn demnach so geartete Schemata unvermeidbar sind, wird die Verankerung, die das Rechtsgut eigentlich darstellen möchte bzw. sollte, in weit geringerem Maße zuverlässig, denn jegliche Pönalisierung von Verhaltensweisen, die an und für sich nur geringe Bedeutung haben, könnte sich als Schutz von entlegenen fundamentalen Rechtsgütern entfalten. Dazu kommt noch Folgendes: Die Rechtsgüter sind keine ausschließlichen Charakteristika des Strafrechts; auch jene von anderen Bereichen der Rechtsordnung geschützten Güter sind Rechtsgüter: so z. B. die Korrektheit der Privatverhältnisse, mit denen sich das Zivilrecht befasst, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Organe als Aufgabe des Verwaltungsrechts, die Steuer- und Gebührenpflichten, mit denen sich das Steuerrecht beschäftigt. Wie geartet müsste nun im Unterschied dazu die spezielle Eigenschaft derjenigen Rechtsgüter sein, die allein den strafrechtlichen Eingriff rechtfertigen sollten?

V. In diesem Sinn sieht ein bekannter Lösungsansatz die spezielle Eigenschaft dieser Rechtsgüter in ihrer Bindung an die Verfassung: Nur Rechts-

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güter von Verfassungsrang könnten Strafdrohungen begründen.9 Diese Ansicht ist interessant, da sie in der einzelnen Strafnorm (in jeder Strafnorm) die Existenz eines unerlässlichen Elements (eines ganz bestimmten Rechtsguts) fordert, das von Fall zu Fall mit der übergeordneten Rechtsquelle verglichen werden muss, aus deren „Zustimmung“ es seine Legitimität ableitet. Ich wiederhole, eine interessante Auffassung, denn selbstverständlich kann es nur die Verfassung sein, welche für die Strafgewalt des Gesetzgebers unüberschreitbare und kontrollierbare Grenzen festsetzt. In der Substanz aber kann diese These, welche die Rechtsgüter a priori als durch die Verfassung schützbar definiert, nicht aufrechterhalten werden. Wenn man den Bezug auf die Verfassung als direkt und spezifisch versteht, so ist die Liste der Rechtsgüter in der Tat bald erschöpft. Versteht man den Bezug dagegen nur indirekt oder mittelbar, so geht der reale Informationsgehalt verloren und jede realisierbare Begrenzung der Strafbefugnis wird unmöglich.10 Anders ausgedrückt: Obgleich die Verfassung Regeln und Werte, die für Bürger und Institutionen grundlegend sind, an erste Stelle stellt, darf sie nie als abgeschlossener Katalog von Rechtsgütern verstanden werden, denn das würde bedeuten, dass sie für die dynamische Entwicklung der sozialen Realität und für die unvermeidlichen zeitgeschichtlich bedingten Veränderungen undurchdringbar gemacht wird. Die Rechtsgüter sind juristische Werte, in erster Linie aber Werte des Lebens der Menschen, Werte, die zum großen Teil an der Entwicklung des realen Lebens teilhaben, wobei sie die Rolle der Schlichtung der in der Gesellschaft entstehenden Konflikte übernehmen. Es scheint somit nicht annehmbar zu behaupten, dass die durch Strafnormen zu schützenden Rechtsgüter von vorne herein bereits als Rechtsgüter anzusehen sind, insofern sie durch die Verfassung garantiert sind: Entweder handelt es sich um reine Fiktion, oder man reduziert die Verfassung auf ein geschlossenes normatives System.11 9

In der bezüglich dieses Themas zum Teil von der deutschen inspirierten italienischen Doktrin ist für diese Bewertung die Bezugnahme auf Bricola Nss.dig. it. XIX (1973), 15 ff unerlässlich. Für diese Art von Überlegungen ist auch Angioni Contenuto e funzioni del concetto di bene giuridico, 1983, S. 152 ff wichtig. Die Theorie hat im Laufe der Zeit mehr Kritiker als Anhänger gefunden (vgl. Marinucci/Dolcini Corso di diritto penale I, 2001, S. 496 ff), es muss ihr aber das Verdienst zuerkannt werden, zur Sensibilisierung einer ganzen Generation von Gelehrten für die verfassungsrechtlichen Merkmale des Verbrechensbegriffs beigetragen zu haben: so Donini Il volto attuale dell’illecito penale, 2004, S. 66 ff, dessen Ansicht ich teile. Eine eingehende Bewertung der Blütezeit und der Krise der Theorie, verbunden mit einem nicht uninteressanten Versuch der Neubelebung findet sich in Manes Il principio di offensività nel diritto penale, 2005, S. 47 ff, 158 ff. Zu der Theorie außerdem noch Cavaliere FS Volk, 2009, 120. 10 In analoger Weise Donini (Fn. 9) S. 70. 11 So bereits in JuS 1985, 420.

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VI. Roxin erkennt übrigens ausdrücklich die Zeitabhängigkeit der Rechtsgüter an. Er hat klar vor Augen, dass in den seit der Aufklärungszeit vergangenen dreihundert Jahren neue Güter aufgetaucht sind, die ebenfalls des Schutzes durch Strafnormen bedürfen. So unterstreicht er die Notwendigkeit einer Erweiterung der Rechtsgüter in einem modernen Strafrecht. Er lenkt dementsprechend die Aufmerksamkeit auf einige Beispiele von Gütern, welche einst undenkbar waren (oder nicht existierten), in unserer Zeit aber festen Bestand haben.12 Ein erstes Beispiel ist der menschliche Embryo. Auch wenn man ihn nicht einem schon lebenden Menschen gleichstellen kann, wie eine fundamentalistische Strömung es fordert, da ihm noch die Personenqualität fehlt, birgt der Embryo einen potentiellen Menschen in sich und muss demzufolge als Rechtsgut betrachtet werden. Auch wenn er sich außerhalb des Mutterleibes befindet, wird gegenüber möglichen Manipulationen eine Vorverlagerung des Schutzes notwendig sein, wie es, wenn auch mit unterschiedlicher Regelung, im Falle des Schwangerschaftsabbruchs gehandhabt wird. Als neue Rechtsgüter, die den uns überlieferten Begriff des Rechtsguts überschreiten, sind darüber hinaus auch Tiere und Pflanzen zu betrachten. In der Vergangenheit wurde nicht auf ihren Schutz geachtet, da die Zerstörung weiter Bereiche der Schöpfung in den heute sich vollziehenden Dimensionen unvorstellbar war; in unserer Zeit aber kann der Staat mit gutem Recht Tiere und Pflanzen in den Aktionskreis seiner Strafnormen mit einbeziehen, auch wenn sie für das soziale Leben des Menschen keinen Nutzen haben. Insbesondere für die Tiere, die für die Rechtsgutslehre immer schon eine Verlegenheit darstellten, legitimiert das Grundgesetz (Art. 20a) eine solche Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes. Der Schutz der Rechtsgüter muss schließlich auch auf das Leben der künftigen Generationen erweitert werden. Der Staat trägt im Namen der Solidarität mit unseren Nachfahren die Verantwortung für die Erhaltung der Ressourcen der Erde (laut Art. 20a GG: „die natürlichen Lebensgrundlagen“), während wir im Interesse unserer wirtschaftlichen Prosperität Wälder abholzen, das Klima zerstören und die Umwelt mit Schadstoffen verunreinigen. Gewiss haben diejenigen recht, die schon längst die Werte des Umweltschutzes in den Vordergrund stellen und fordern, mit den Instrumenten des Strafrechtes die Zukunft abzusichern, d. h. durch die Anwendung „zukunftsbezogener Verhaltensnormen“, auch wenn sie keinen Rückbezug auf individuelle Interessen haben. Es ist aber nicht richtig – so beschließt Roxin seine Ausführungen – zu behaupten, auf diese Weise verlasse man das 12

Roxin AT I S. 29 ff.

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Rechtsgüterschutzkonzept, denn in Wirklichkeit wird es nicht verlassen, sondern nur erweitert. Die Pflicht, die Umwelt zu erhalten, entspricht in der Tat einer „universellen Grundnorm“, die den Vorrang hat vor den Interessen der Einzelnen der gegenwärtigen Generation.13

VII. An diesem Punkt wird der grundsätzliche Einwand gegen die Theorie der Rechtsgüter klar, oder besser, gegen die These, der zufolge die Bestrafungsbefugnis des Staates ihre Begrenzung im Begriff des Schutzes der zuvor identifizierten Güter findet, die allein es gestatten würden, eine legitime Basis für Strafnormen darzustellen. Zuzugeben, dass die Rechtsgüter geschichtlich bedingt sind, bedeutet gleichzeitig anzuerkennen, dass sie entstehen und vergehen, je nach den kulturellen Gegebenheiten und Wertverständigungen, wie sie den Gesellschaften der verschiedenen Epochen entspringen. Mit Recht besteht Roxin auf dieser Wandelbarkeit des Rechtsgutsbegriffes. Er gibt dafür das Beispiel exhibitionistischer Handlungen, deren Bestrafung heute zulässig ist, da sie die Angst auslösen, Opfer von sexuellem Übergriff zu werden, die aber in der Zukunft als ungefährliche Symptome einer seelischen Störung erscheinen und somit nicht mehr strafbar sein könnten, oder im Fall von pornographischem Material, dessen Verbreitung unter Erwachsenen heute im Wesentlichen straflos ist, in der Zukunft aber strafbar werden könnte, wenn festgestellt würde, dass der Konsum von Pornographie oder einiger ihrer Formen in verstärktem Maße zur Begehung von Sexualdelikten führt. 14 Schon allein aufgrund dieser Wandelbarkeit der Rechtsgüter scheint sich nun ihre Funktion der Begrenzung der staatlichen Gewalt nicht theoretisieren zu lassen. Bei der Erforschung dieser Begrenzung wäre es außerdem angebracht zu präzisieren, an welches Strafrecht und an welche Strafen man denkt. Denn wenn man die gewohnte Ebene unseres deutschen bzw. italienischen Rechtssystems in Betracht zieht, so verfügt der Gesetzgeber bekanntlich bei seiner Tätigkeit über eine sehr weite Palette von Sanktionen, welche von den lebenslangen oder zeitigen Freiheitsstrafen bis zu den Geldstrafen reichen, die einer verbreiteten und wohl begründeten Meinung zufolge ihrerseits eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Diese Präzisierung ist wichtig, denn wenn der Wirkungskreis des Strafrechts die Dimensionen des gesamten Arsenals der verfügbaren Strafen annimmt, erscheint die Begrenzung durch den Begriff des Rechtsgutes noch 13 14

Nochmals Roxin AT I S. 29. Roxin AT I S. 33.

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problematischer. In der Tat erscheint es unlogisch, die Notwendigkeit eines Rechtsgutes von besonderer Relevanz zu postulieren, wenn es möglich ist, im Falle seiner Verletzung auf eine Geldstrafe von bescheidenem Ausmaß zurückzugreifen. Aber nicht nur das. Die Kompetenz der Strafbefugnis unserer Rechtsordnungen kennt neben dem traditionellen Strafrecht seit langem einen immer blühenderen und fruchtbareren Sektor, der dem Bereich der sogenannten Ordnungswidrigkeiten anvertraut ist, von denen Roxin zu Recht behauptet, dass, in Antwort auf das Subsidiaritätsprinzip und auf die Bagatellnatur der Verletzung, auch sie Rechtsgüter schützen können, wie in den von ihm vorgetragenen Beispielen der Störung des öffentlichen Friedens oder der Parkverbote. Ich teile diese Meinung, möchte aber bemerken, dass auf diese Weise der Begriff des Rechtsgutes an und für sich zerfließt und von Fall zu Fall verschwommener wird und auf diese Weise viel von seiner Fähigkeit der Begrenzung einbüßt.

VIII. Dieser Verlust an Schärfe des Begriffes vom Rechtsgut, das geeignet ist, Strafnormen zu legitimieren, verdient es, unter dem Gesichtspunkt einiger der in Roxins langer Liste erwähnten Fälle der Ablehnung von zur Legitimierung von Strafnormen geeigneten Rechtsgütern betrachtet zu werden. Was den Handel mit menschlichen Organen betrifft, die einer Therapie zu dienen bestimmt sind, oder die Manipulation von menschlichen Eizellen, behauptet Roxin, die aktuellen Strafnormen könnten nicht mit der Verletzung der Menschenwürde gerechtfertigt werden. Diese Rechtfertigung stehe in Opposition zum Erlaubtsein besagter Verhaltensweisen, die, im Rahmen vernünftiger Regelungen, wichtig seien, um Leben zu retten oder um in der Zukunft der Nachkommenschaft schwere Erbleiden zu ersparen. Die bestehenden Rechtsnormen spiegelten also nicht das Rechtsgüterschutzprinzip wider, da die verbotenen Verhaltensweisen weder die Sicherheit noch die Freiheit irgendeines Menschen beeinträchtigten.15 Es scheint jedoch nicht leicht, die Behauptung aufrecht zu erhalten, die Würde des Menschen, deren Bewahrung und Stärkung für uns alle eine unverzichtbare Notwendigkeit darstellt, sei kein Rechtsgut, das hinreichend ist, um Strafnormen zu legitimieren (und in einem anderen Beispiel gibt Roxin in der Tat selbst die Bedeutung zu), besonders dann, wenn die angestrebte Regelung durch einfache Geldstrafen umgesetzt werden könnte, und wenn man einräumt, dass – wie soeben gesehen – auch diejenigen Rechts-

15

Roxin AT I S. 21.

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güter geeignet sein können, welche die Basis für Ordnungswidrigkeiten darstellen. Was weitere Fälle anbelangt (z. B. den Erwerb und den Besitz von Drogen aller Art), fasst der Autor das Fehlen einer konkreten Schädigung anderer ins Auge, denn entsprechend der anerkannten liberalen Rechtsordnung könnte nur diese Schädigung Strafgesetze begründen. 16 Bekannt ist aber, dass auch das Schadensprinzip bestreitbar ist, sofern es nicht imstande ist zu klären, auf welchen Schaden und auf welchen anderen es Bezug nimmt. Die eindeutige Ablehnung gemäßigter, in den angelsächsischen Rechtssystemen nicht seltener Formen von juristischem Paternalismus scheint mir nicht vertretbar.17 Es geht nicht darum, der individuellen Freiheit einen weiten Raum abzusprechen, sondern darum anzuerkennen, dass diese Freiheit nicht uneingeschränkt sein kann. Die Helmpflicht für Motorradfahrer oder die Gurtpflicht für Autofahrer sind gewiss paternalistisch, mit der Absicht, in erster Linie den Fahrer selbst zu schützen. Aber die angemaßte Freiheit der Einzelnen, weder Helm noch Gurt zu gebrauchen, hat schließlich die gesamte Staatsgemeinschaft belastende soziale Kosten zur Folge: Unfälle erfordern ärztliche Behandlung und Krankenhausaufenthalte. Eine so gewissenhafte Rücksicht auf die Freiheit des Einzelnen bei alles in allem leichten Störungen wie dem Nichtgebrauch von Gurt oder Helm scheint mir unangebracht. Ich möchte damit sagen, dass die Gesetzespflicht, Helm und Gurt zu gebrauchen, in Anbetracht von Statistiken, welche die Verminderung der durch Zusammenstöße oder Stürze verursachten Schäden dokumentieren, nicht unerträglich erscheint. Wenn ein heutiger Gesetzgeber, der sich gezwungenermaßen tagtäglich mit den Risiken des Straßenverkehrs konfrontiert sieht, für die Gesetzesverletzung eine Geldstrafe oder eine Geldbuße festlegt, lässt sich dem wohl kaum ein anderes Argument entgegenstellen als die vorangenommene, postulierte, aber wenig sinnvolle individuelle Freiheit.18

IX. Analoge Überlegungen könnte man in Bezug auf andere Strafnormen anstellen, die dem Anschein nach heute nur Tabus schützen oder überwiegend 16 Über die Homogenität zwischen dem Schadensprinzip und der als kontinentale Version des ersteren zu verstehenden Theorie des Rechtsgutes vgl. Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 984. Zu der ausgedehnten Thematisierung des Schadensprinzips in der neueren italienischen Doktrin Donini Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 1546; Forti Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 597; Francolini Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 276. 17 Näher hierzu Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 994 ff. 18 Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 996.

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symbolischen Charakter zu haben scheinen. Ich glaube nicht, dass man deren Legitimität von vornherein verneinen kann, mit der Begründung, sie schützten keine Rechtsgüter, da man nicht nur auf die aktuelle Beeinträchtigung „leibhaftiger“ Personen achten muss, sondern auch auf die Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen auf die Gesellschaft, in der wir leben, und demzufolge auf die interpersonellen Beziehungen in der Zukunft. Strafnormen, die den Inzest oder den Erwerb oder Besitz von Rauschmitteln, auch von leichten Drogen, usw. bestrafen, wie sie auch heute noch in zahlreichen zeitgenössischen Strafrechtssystemen gültig sind, dürfen meiner Ansicht nach nicht a priori als illegitim betrachtet werden19 – auch wenn sie selbstverständlich alle ohne Ausnahme in gewissem Maße diskutierbar sind. Ich möchte dazu sogar bemerken, dass aus zahlreichen von Roxin diskutierten Fällen eher eine Missbilligung seitens des Autors in Bezug auf die Zweckmäßigkeit von Normen zur Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen hervorzugehen scheint als die Annahme der Nicht-Existenz eines zugrunde zu legenden geeigneten Rechtsgutes. Und ich selbst hege oft starke Zweifel an der Zweckmäßigkeit bestimmter geltender Strafnormen. Ich muss auch sagen, dass ich einigen von Roxin vorgeschlagenen Ergebnissen voll und ganz beistimme. Ein Beispiel: Auch ich bin der Ansicht, dass es nicht angebracht ist zu versuchen, das Problem des Negationismus mit Hilfe einer Strafnorm zu lösen. Ich stimme aber der von Roxin angeführten Begründung nicht zu, derzufolge die deutsche Strafnorm nicht legitim wäre, weil es sich um ein „überwiegend symbolisches Gesetz“ handele.20 Die Norm, die den Negationismus bestraft, ist in der Tat abzulehnen aufgrund des Gesichtspunkts größtmöglicher Freiheit in Meinungsäußerung und Forschung, die eine demokratische Rechtsordnung jeder Person garantieren muss.21 Ich füge jedoch hinzu, dass mir eine derartige Strafnorm dagegen nicht nur legitim erscheinen würde, sondern auch akzeptabel, wenn die verbotenen Verhaltensweisen (Billigung, Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des Holocausts) nur für den Fall strafbar wären, dass sie unter in zeitlicher und örtlicher Hinsicht den öffentlichen Frieden konkret gefährdenden Umständen erfolgen.22

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Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 989. Roxin AT I S. 27. 21 Nochmals Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2008, 994. 22 Zu dieser Schlussfolgerung bezüglich einer eventuellen (aber nicht notwendigen!) Einführung einer den Negationismus betreffenden Strafnorm in Italien Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2007, 502. 20

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X. Zu verneinen, dass die Rechtsgüter entscheidend sind für eine vorherige Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis, bedeutet nicht, ihnen ihren Beitrag zur Verstehbarkeit des Tatbestands unter verschiedenen Aspekten abzusprechen. Aufgabe des Strafrechts bleibt nicht nur und nicht so sehr die Garantie der Gültigkeit der Normen,23 sondern der Schutz der ihnen vorgegebenen Rechtsgüter. Und den Rechtsgütern müssen nicht unerhebliche Funktionen zuerkannt werden: Eine dogmatische Funktion, die nützlich ist für die Anerkennung des Strafrechtssystems, eine klassifizierende Funktion mit dem Ziel, die Tatbestände in einer Rechtsordnung so zu gruppieren, dass eine tendenzielle Hierarchie der Werte widergespiegelt wird; eine Auslegungsfunktion, die für das Verständnis der Bedeutung des Vergehens von außen Hilfe bietet. Es ist eine übertriebene Forderung, die Legitimierung einer Strafnorm von der speziellen Eigenschaft dieses oder jenes Rechtsgutes abhängig zu machen, zweifellos aber – wie Roxin zu Recht klar hervorhebt – kommt den Rechtsgütern eine beträchtliche kritische Funktion bei der Orientierung der Kriminalpolitik zu. Allerdings ist es wahr, dass der Begriff des Rechtsgutes von einer naturgegebenen wesentlichen Unbestimmtheit geprägt ist. 24 Konventionell können die Rechtsgüter als „funktionelle Werteinheiten“ definiert werden, die sich dank des in der Gesellschaft verbreiteten freien Pluralismus der Ideen herausbilden, in welchem die Interessen der Einzelnen und der gesellschaftlichen Formationen aufeinanderprallen und neu geordnet werden. Auch wenn man sie so versteht, muss jedoch gesagt werden, dass die Rechtsgüter nicht – wie die angesprochene liberale Theorie behauptet – von Fall zu Fall vom Gesetzgeber nach seinem Gutdünken geschaffen werden. Sie sind weder sein „Produkt“, noch sind sie eine reine Abbreviatur der Zweckidee. Sie sind dem Gesetzgeber vorgegeben, der dann die Aufgabe hat, die aus der Gesellschaft kommenden Signale zu interpretieren, die ihn auf konkrete Werte hinweisen, die er auch strafrechtlich zu schützen hat. In diesem Identifikationsprozess der Güter ist das Strafrecht nicht an und für sich spezifisch gegenüber den anderen Bereichen der Rechtsordnung, denn – wie schon gesagt – haben auch diese letzteren die Verteidigung der Güter zum Ziel: Das quid pluris, das die Strafe rechtfertigt, ist außerhalb des Rechtsguts zu suchen. Demzufolge ist die Zulässigkeit einer effektiven Kontrolle der realen Bedeutung des geschützten Rechtsgutes seitens des Verfassungsgerichtes aus23

So die Meinung von Jakobs AT S. 9. Kritisch Neumann »Alternativen: keine«.- Zur neueren Kritik an der personalen Rechtsgutslehre, in: Personale Rechtsgutslehre (Fn. 4) S. 88. 24 So auch de Vero Corso di diritto penale I, 2004, S. 128 ff und Palazzo Corso di diritto penale, 2008, S. 63 ff, beide mit umfangreichen Ausführungen.

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zuschließen. Schon in der Vergangenheit glaubte ich aus diesem Grunde, behaupten zu können, dass auf verfassungsrechtlicher Ebene unter Beziehung auf die dem Rechtsgut zuzusprechende Rolle ein bloßer „strafrechtlicher Schutz des Nichts“ oder des „reinen Haltlosen“25 illegitim ist: Denn bis zu dieser extremen Grenze ist es nur der Gesetzgeber – mithin das Parlament, in einer demokratischen Rechtsordnung Ausdruck der Volkssouveränität – der als legitimer Ausleger der in der Gesellschaft bestehenden Auffassungen über Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit fungiert.

XI. Ist es also unvermeidlich, daraus zu folgern, dass das Strafrecht unserer Rechtsordnungen unbegrenzte Dimensionen annehmen könnte? Sicherlich nicht. Gewiss, dem Gesetzgeber, den demokratisch gewählten Mehrheiten, ist für eine mehr oder weniger lange Periode die Aufgabe anvertraut, sich um die Steuerung der öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern.26 Der Gesetzgeber, sonst niemand, hat die Aufgabe, von Fall zu Fall jene wesentliche Bindung zwischen Gesellschaft und Gesetzen wahrzunehmen, die allein die rohe Normativität des Rechts verlebendigen kann. Es besteht aber kein Zweifel darüber, dass der Gesetzgeber nicht unanfechtbarer Herr seiner eigenen Entscheidungen ist, wenn er die Rechtsgüter festlegt, die durch die bedrückendsten Strafen geschützt werden sollen (Geldstrafen und Beschränkung der persönlichen Freiheit, zu denen noch die Belastung und das Drama des Strafprozesses mit dem daraus folgenden sozialen Stigma kommen). Gerade die prinzipielle Ernstlichkeit des Strafeingriffs zwingt den Gesetzgeber, in ganz besonderer Weise über die Zweckmäßigkeit seiner Durchführung nachzudenken. Er wird sich um eine breite soziale Zustimmung und umfangreiche parlamentarische Konvergenzen bemühen müssen, indem er sich dabei der größtmöglichen Vorsicht bedient, sowohl hinsichtlich der Frage nach Einführung oder Nicht-Einführung von Tatbeständen als auch im Hinblick auf Art und Umfang der Strafen. Er wird überhaupt jede Strafregelung in einer anerkannten verifizierbaren Sozialschädlichkeit verankern müssen: Obwohl die Rechtsgüter nicht ex ante begrenzbar sind, stellen sie das Moment der Verletzung dar, das heißt, das Moment der in jedem Tatbestand unentbehrlichen Beeinträchtigung. Das der Verfassung meines Landes 25

In Commentario sistematico del codice penale I, 3. Aufl. 2004, S. 304. Wie sehr richtig gesagt wurde (ohne jedoch den Hinweis zu unterlassen, dass „das Strafrecht die ultima ratio ist, das letzte verfügbare Mittel, um ein Anliegen der Allgemeinheit zu schützen...“): „Über die Momente, die Ziele, die Instrumente der Strafpflichten und des Strafverbots entscheidet von Fall zu Fall der Gesetzgeber“, so Hassemer Abweichende Meinung, I, Buchstaben a) und b), in BVerfGE 120, 224 (256). 26

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zu entnehmende Prinzip des Tatstrafrechts bleibt mit allen damit verbundenen Konsequenzen für den Gesetzgeber stets „ein Muss“. Gewiss ist es richtig, dass der Gesetzgeber dadurch in seiner moralischen und politischen Verantwortung im Wesentlichen gebunden ist. Man darf aber den Appell nicht unterschätzen, der mit Recht oft an ihn gerichtet wird, er solle stets im Rahmen einer „rechtsgüterorientierten Kriminalpolitik“ agieren. Jenseits der deklamatorischen Töne, mit denen dieser Ausdruck vorgeschlagen wird, stellt er in Wirklichkeit eine „verfassungsrechtliche Richtlinie“27 dar, eine eloquente Devise, um die unverzichtbare Notwendigkeit zu unterstreichen, die Zahl und die Qualität der Strafdrohungen in Schranken zu halten, ein auch vom Subsidiaritätsprinzip empfohlenes Erfordernis, die zugleich Bedingung ist für eine zufriedenstellende Funktion des gesamten Systems. „Rechtsgüterpolitik“ – ich wiederhole –, das soll nicht heißen, dass der Strafnorm für ihre konstitutionelle Legitimität ein Rechtsgut von spezifischer Qualität zugrunde liegen muss, sondern dass das verbotene Verhalten eine „plausible“ Schädlichkeit für den Menschen oder die Gesellschaft in sich tragen muss. Wie ich schon sagte, wird das Verfassungsgericht, ein nicht gewähltes und als solches nicht politisch verantwortliches Organ, eine Norm nicht für illegitim erklären können aufgrund der Unangemessenheit eines vom Gesetzgeber des strafrechtlichen Schutzes würdig und bedürftig gehaltenen Rechtsguts, außer diese Norm beschützt im Gegensatz zu den Absichten dessen, der sie einführte, in Wirklichkeit überhaupt nichts. Die Verfassungswidrigkeit kann sich dagegen aus der Tatbestandsnorm als solcher ergeben, aufgrund von Nichtbeachtung der für den Erlass der Gesetze vorgesehenen Verfahren oder aufgrund der Verletzung der individuellen Grundrechte und des Rationalitätsprinzips, das von der logischen Kohärenz der Rechtsordnung und vom Gleichheitsprinzip geprägt ist.28

27

So Pedrazzi FS Marinucci, 2006, XV. Wünschenswert erscheint hier eine immer mutigere und einschneidendere Rolle unserer Verfassungsgerichte. Ich habe die Notwendigkeit einer inneren Kohärenz in der Gesamtheit des Strafsystems hervorzuheben versucht, im Zusammenhang der Beziehung zwischen dem Gesetz 40/2004 (zum Thema künstliche Zeugung) und dem Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung (194/1978): vgl. Romano Riv. it. dir. proc. pen. 2007, 511. Zu der offensichtlichen peinlichen Verletzung des Gleichheitsprinzips in der italienischen Gesetzgebung der letzten Zeit vgl. Art. 61, N. 11-bis des italienischen Codice Penale (eingeführt 2008, abgeändert 2009). Vorgesehen ist ein erschwerender Tatumstand (mit Straferhöhung bis zu einem Drittel) für einen Täter, der die Straftat begeht, „während er sich illegal auf dem nationalen Territorium befindet“ (eine nunmehr vom Verfassungsgericht für unrechtmäßig erklärte Regelung). Zu diesem Punkt sehr gut Gatta Riv. it. dir. proc. pen. 2009, 713; Gatta in: Corbetta/Della Bella/Gatta (Hrsg.), Sistema penale e „sicurezza pubblica“: le riforme del 2009, 2009, S. 9. 28

Rechtsgüterschutz versus Bestätigung der Normgeltung? MIGUEL POLAINO NAVARRETE

I. Einführung Ende der 60er Jahre des vorherigen Jahrhunderts, gerade Absolvent der juristischen Fakultät der Universität Sevilla, kam ich zum ersten Mal an das strafrechtliche Institut der Universität München. Dort schrieb ich unter der wissenschaftlichen Betreuung von Reinhart Maurach meine Dissertation zum Thema „Die subjektiven Unrechtselemente“1, die kurz danach an der Universität Sevilla vorgelegt wurde. Anfang der 1970er Jahre kam ich, schon promoviert, als Humboldt-Stipendiat nach Freiburg i. Br., wo ich am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht von Hans-Heinrich Jescheck beraten zwei Jahre lang meine Habilitationsschrift zum Thema „Rechtsgut im Strafrecht“2 vorbereitete. Wenige Jahre später, Mitte der 1970er Jahre hatte ich wieder die Chance, einen anderen – jungen und weltweit renommierten – Strafrechtler persönlich kennenzulernen: Claus Roxin, den verehrten und hochgeschätzten Jubilar, in dessen Institut in München ich eine weitere Monographie über die Dogmatik der Sexualstraftaten vorbereiten durfte.3 Innerhalb von fast fünf Jahren stand ich also in Verbindung mit drei der größten Figuren der modernen Strafrechtsdogmatik. Meine akademischen Beziehungen zu Claus Roxin habe ich mehrere Jahrzehnte lang fortgesetzt. Dank herzlicher Einladungen besuchte ich ihn an seinem Lehrstuhl an der Universität München und hatte weiterhin das Glück mit ihm intensive akademische Tagungen an den spanischen Universitäten Córdoba und Sevilla durchzuführen. Beizutragen zu dieser würdigen Festschrift zu Ehren des geehrten Jubilars anlässlich seines 80. Geburtstags

Für die Übersetzung in die deutsche Sprache bedanke ich mich ganz herzlich bei Herrn Dr. Luis Greco (München) und bei Herrn Ass.-Prof. Dr. Miguel Polaino-Orts (Sevilla). Für die sprachliche Korrektur des Textes bedanke ich mich bei Prof. Dr. Katharina Niemeyer (Köln). 1 Polaino Navarrete Los elementos subjetivos del injusto en el Código penal español, 1972. 2 Polaino Navarrete El bien jurídico en el Derecho penal, 1974. 3 Polaino Navarrete Introducción a los delitos contra la honestidad, 1975.

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ist für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch Ausdruck meiner langen und tiefen Verbundenheit und Treue. Der verehrte Jubilar hat in seinem sehr umfangreichen Werk auch mehrmals die Schutzaufgabe des Strafrechts untersucht.4 Aus diesem Grunde möchte ich ihm die folgenden Gedanken über die Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsgedankens und über die Beschränkung der staatlichen Bestrafungsbefugnis auf Rechtsgutsverletzungen in der heutigen Strafrechtsdogmatik herzlichst widmen. Schon in meiner Dissertation aus dem Jahre 1971 – und danach in anderen Publikationen5 – habe ich mich zu den verschiedenen Theorien zur Rechtsnatur des strafrechtlichen Unrechts geäußert, nämlich zu den subjektiven, den objektiven und den imperativistischen Theorien. Jede dieser Theorien, mit den jeweiligen Varianten, beschreibt den Unrechtsbegriff aus unterschiedlicher Sicht, unter besonderer Hervorhebung konkreter Aspekte. Sehr auffällig ist aber, dass alle theoretischen Varianten einen gemeinsamen Nenner aufweisen, nämlich den Begriff des Rechtsguts, der den Inhalt des Unrechts bildet. Dieser Inhalt wird durch verschiedene Merkmale ausgefüllt (Interesse, ethisches Minimum usw.), aber der Hauptbegriff „Rechtsgut“ bleibt unverzichtbares Element jeder Theorie, sodass das Rechtsgutsdogma in der Theorie ausnahmslos als Derivation von einem der Leitprinzipien des modernen Strafrechts vertreten wird: dem Lesitivitätsprinzip (oder dem Prinzip der Materialität des Unrechts), dem die lateinische Maxime „nullum crimen sine iniuria“ entspricht.

II. Dogmengeschichtliche Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs Die dogmengeschichtliche Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs lässt sich zeitlich weit zurückverfolgen und ist inhaltlich überaus vielfältig. Ohne Zweifel hat die brennende Bedeutung des Themas die – manchmal polemische – Diskussion in der Rechtslehre entfacht. Aber der facettenreiche Charakter dieses Begriffs hat des Öfteren die Überlegungen der Strafrechtswissenschaftler in eine Richtung gelenkt, die nicht gangbar ist, weil sie zu keinem positiven Ergebnis führt oder für die Praxis ohne Nutzen ist. Die Untersuchung des Schutzobjekts in der strafrechtlichen Wissenschaft geht dabei schon in das zweite Jahrhundert hinein. 4

Zuerst Roxin JuS 1966, 377 ff; zuletzt z. B. ders. AT I § 2; ders. FS Hassemer, 2010, 573 ff. 5 Polaino Navarrete Derecho Penal, Parte general, Band II, 2000, Kap. 13; ders. El injusto típico en la Teoría del delito, 2000; ders. Enciclopedia Jurídica Básica, Band I, 1995, S. 795 ff; ders. Enciclopedia Penal Básica, 2002, S. 179 ff; ders. Instituciones de Derecho Penal, Parte general, 2005, Kap. 6.

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Beginnend mit den unmittelbaren geschichtlichen Vorläufern der Theorie der Rechtsverletzung (Beccaria, Montesquieu, Voltaire, die ideologischen Grundlagen der Aufklärungsbewegung und die Rechtsgrundsätze der Philosophie Kants) hat der Prozess der fortschreitenden wissenschaftlichen Entwicklung der Strafrechtsdogmatik geradewegs die begriffliche Abgrenzung des Rechtsguts hervorgebracht. Nach dem Gedanken des subjektiven Rechts (P. J. A. v. Feuerbach), verstanden als abstraktes und geistiges Moment, welches das Schutzobjekt zu erklären versucht, folgt der Begriff des Gutes, der auf das Tatsächliche und Reale bezogen ist, welches wiederum einer positiven juristischen Wertung zugänglich ist (J. M. F. Birnbaum). Einen Wechsel in der Betrachtung bedeutet das rechtsphilosophische Postulat Hegels von der Negierung des allgemeinen Willens, das als Grundlage dafür diente, die objektive Rechtsordnung als solche als Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes anzusehen (A. F. Berner, H. Hälschner, A. Finger). Die terminologische und dogmatische Einführung des Rechtsgutsbegriffs im eigentlichen Sinne wurde im strafrechtlichen Bereich sowohl durch eine formale Konstruktion (K. Binding) als auch durch eine inhaltliche Darstellung des Begriffs (F. v. Liszt) bewirkt. Nach diesen Grundlegungen enthält ein weiter Bereich der Lehre fundamentale und substantielle Darstellungen des Rechtsguts, die unter sich in ihrer Bedeutung unterschiedlich sind, die aber diesem Begriff immer einen materiellen Inhalt geben. Einerseits wird das strafrechtliche Schutzobjekt mit dem Interesse identifiziert (R. v. Ihering, E. Hertz, R. Kessler, M. E. Mayer, A. Merkel, F. A. H. v. Ferneck, E. Wolf), ein Begriff allerdings, der durch seine beschränkte Weite und seine charakteristische Ungenauigkeit zur Abgrenzung nicht geeignet erscheint, das Rechtsgut zu bestimmen. Andererseits versucht man das Wesen des Rechtsguts mit dem sicheren Kriterium des Zustands in den Griff zu bekommen (realistische Theorie von T. R. Schütze, H. Garland, M. Hirschberg, idealistische Theorie von F. Oetker); dabei werden aber Argumente verwandt, die wegen ihres bruchstückhaften Charakters und ihrer generalisierenden Abstraktion – entweder aus Mangel oder aus Übertreibung – untauglich sind. Im Zuge der dogmengeschichtlichen Entwicklung folgen den aufgeführten grundlegenden substantiellen Theorien die methodisch formalen Bestimmungen des Rechtsguts. Die wissenschaftlichen Konstruktionen dieser dogmatischen Richtung werden durch folgende Hauptströmungen gekennzeichnet: Am Anfang stehen die teleologisch-positivistischen Auffassungen, die unter Zugrundelegung der normativen Tatbestandsbeschreibungen das Rechtsgut mit dem Zweck der Norm gleichsetzen (R. M. Hönig, M. Grünhut).

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Die methodischen Lehren erfahren die umfassende Entwicklung innerhalb der systematischen Richtung der Marburger Schule (E. Schwinge, L. Zimmerl, K. Klee), die jedoch mit guten Gründen bei der Begriffsbildung der Deliktstypen des Besonderen Teils auf ein rein formales Verständnis der Rechtswidrigkeit verzichtet und anerkennt, dass dem Wesen des strafrechtlichen Unrechts auch antisoziale Momente zuzurechnen sind. Die systematische Darstellung erreichte schließlich eine unerträgliche Entfaltung in der nationalsozialistischen Auffassung vom Wesen des Unrechts, wie sie von der Kieler Schule vertreten wurde (F. Schaffstein, G. Dahm, W. Gallas), wobei die klärenden Bemühungen bedeutender Juristen unweigerlich von der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus aufgesogen wurden. Nach dem wissenschaftlichen Niedergang der abstrakten Konstruktionen des tatbestandlichen Unrechts kann die Herausbildung der wirklich materiellen Lehren vom Rechtsgut, die zugleich metapositivistisch sind, als eine jüngere Errungenschaft des modernen Strafrechts angesehen werden. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Errungenschaft, die als unumstößliches Dogma aufgefasst werden dürfte. Im Gegenteil muss sie als wissenschaftlicher Gewinn gewertet werden, der in Zukunft weiterer dogmatischer und kriminalpolitischer Bestimmung – und zwar in dynamischer Weise – bedarf, um die angemessene Anpassung an die jeweiligen Anforderungen des Soziallebens zu gewährleisten. Bei dem Versuch, einen materiellen Begriff des Rechtsguts zu gewinnen, heben die gegenwärtigen Theorien mit größerer oder geringerer Einseitigkeit verschiedene Aspekte des geschützten Objekts in den gesetzlichen Tatbeständen hervor. In jüngerer Zeit hat man, um die strafrechtliche Natur des Rechtsguts zu bestimmen, u. a. die folgenden Gesichtspunkte dieses Begriffs besonders untersucht: strafrechtlicher Schutz und ethisches Minimum (Guallart), Notwendigkeit einer Zweiteilung in Individual- und Universalgüter (Maurach, H. Jäger), Grundgesetz und positive Strafrechtsordnung (Sax), präpositive Natur und liberaler Charakter des Rechtsgutsbegriffs (Sina), Bestimmung von werttragenden äußeren Gegenständen als Rechtsgut (Roxin), rein juristische Grundlage des tatbestandlichen Unrechts gegenüber den Postulaten der sozialethischen Intoleranz (Just-Dahlmann, Lackner, Gallas, Hanack), Verbindung zwischen Rechtsgütern und sozialethischen Werten (Welzel), das Merkmal der Objekt-Person-Beziehung im Rechtsgutsbegriff (Tiedemann), der Widerspruch zu ethisch-sozialen Anforderungen als grundlegendes substantielles Element der Rechtswidrigkeit (Stratenwerth, Mattes), die bestimmende Aufgabe des Rechtsguts bei der Beschreibung der gesetzlichen Tatbestände (Jescheck), der Aspekt der personalen Selbstverwirklichung als immanentes Merkmal des Rechtsgutsträgers (M. Marx), die Schutzgüter als werthafte soziale Funktionseinheiten (Rudolphi), Sozial-

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schädlichkeit und Strafrechtsschutz (Amelung), Theorie des Rechtguts und ihr Einfluss auf die Praxis (Hassemer) u. a.

III. Die funktionalistische Kritik am Gedanken des Rechtsgüterschutzes und das Gegenkonzept vom Schutz der Normgeltung Das seit Jahrhunderten einhellig vertretene Rechtsgutsdogma fand im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Günther Jakobs einen Autor, der sich ihm entschieden widersetzte oder es mindestens kritisch neu formulierte. Nach dem von Jakobs vertretenen funktionalistischen Ansatz verlieren alle strafrechtlichen Begriffe – wie etwa Handlung, Zurechnung, Person, Strafe und auch Rechtsgut – ihren ontologischen, vorjuristischen oder naturalistischen Gehalt und werden vollumfänglich normativiert. Jakobs verzichtet nicht auf die sozialethischen Aspekte des Strafrechtsschutzes, von denen auch sein Lehrer Welzel die Legitimation des Strafrechts abgeleitet hatte.6 So meint Jakobs, das Strafrecht habe die Geltung „positiver sozialethischer Aktwerte“ zu sichern, und betont: „So muß man ansetzen, wenn man die Wirkungen des Strafrechts nicht nur – wie Sommer und Winter – als natürliche Vorgänge, sondern – wie Rede und Antwort – als gesellschaftliche Vorgänge verstehen will.”7 Das heißt aber, wie Jakobs weiter schreibt, dass sich ab diesem Punkt die Wege trennen und die ontologisierende Strafrechtsdogmatik zerbricht. Der erste von Jakobs formulierte Einwand gegen den Rechtsgutsbegriff geht vom materiellen Gehalt des strafrechtlichen Unrechts aus. Die Verletzung eines Guts sei ein bloßer natürlicher Vorgang, der per se keine strafrechtliche Relevanz hat, sondern in der Welt ubiquitär ist.8 Die strafrechtlich relevante Verletzung müsse deshalb normativ definiert werden und von ihren ontologischen oder naturalistischen Dimensionen entkleidet werden. Ferner könne man den Vorgang Straftat–Strafe nach Jakobs nicht allein negativ deuten, als Zufügung eines neuen Übels wegen eines früheren Übels

6 Welzel Das deutsche Strafrecht S. 1 ff, 4: „Aufgabe des Strafrechts ist der Schutz der elementaren sozialethischen Gesinnungs- (Handlungs-)werte und erst darin eingeschlossen der Schutz der einzelnen Rechtsgüter”. Kritisch zu Welzels Position Polaino Navarrete Naturaleza del deber jurídico y función ético-social en el Derecho Penal, 2004; vgl. auch in: FS Cerezo Mir, 2002, 109 ff). 7 Jakobs AT1, 1983, S. V; ders. Zur Gegenwärtigen Straftheorie, in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muss sein! Muss Strafe sein? Philosophen - Juristen - Pädagogen im Gespräch, 1998, S. 29 ff, bes. S. 39. 8 Jakobs FS Saito, 2003, 780 ff.

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(so bereits Grotius9: „poena est malum passionis, quod infligitur propter actionis“). Vielmehr sei nach einer positiven Erklärung zu suchen, die den Zusammenhang zwischen Strafe und Bestätigung der Struktur der Gesellschaft verdeutlichen kann.10 Dies leistet nach Jakobs das von Hegel inspirierte Argument, nach dem sowohl die Strafe, als auch die Straftat Ausdruck von kommunikativ relevantem, einander aber widersprechendem Sinn seien. Der Straftäter drücke aus, dass die Norm nicht gilt. Dem widersetze sich die Strafe. Sie verkörpere einen generellen Widerspruch gegen den individuellen, durch die Straftat geäußerten Widerspruch gegen die Norm. Hierdurch bestätige das Strafrecht die für eine Gesellschaft konstitutiven Normen, also die normative Identität der Gesellschaft.11 Mit Hegel könnte man dies als Negation der Negation des Rechts bezeichnen.12 Drittens vollzieht Jakobs einen Paradigmenwechsel in der Strafrechtswissenschaft: Funktion des Strafrechts sei nicht der Schutz von Gütern vor Verletzungen oder Gefährdungen, sondern vielmehr die Bestätigung des status quo der Sozialstruktur, die aus Normen und Personen im Recht (i. S. v. Adressaten von Rechten und Pflichten) bestehe. Die Funktion des Strafrechts sei also, sicherzustellen, dass die Norm weiterhin gilt.13 Deshalb kümmere sich das Strafrecht nicht um den Ersatz des Schadens an einem Gut, sondern allein um die Bestätigung der Identität der Gesellschaft.14 Aus einem letzten Grund sei es für die funktionale Dogmatik unsinnig, vom Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts zu sprechen: Das Strafrecht setze seinen Apparat erst dann in Bewegung, wenn die Rechtsgutsverletzung bereits eingetreten ist. Mit den Worten Welzels: Das Strafrecht komme immer „zu spät“15. Zusammengefasst: Nach dem funktionalen Konzept stehen Rechtsgüterschutz und Normgeltungsschutz einander entgegen. Das ist aber m. E. unrichtig, und dies aus folgenden Gründen.

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Grotius De iure belli acpacis, 1625, liber II, caput XX, De poenis. Jakobs ARSP-Beiheft 74, 2000, 57 ff. 11 Jakobs Sociedad, norma y persona en una teoría de un Derecho penal funcional, Übersetzung von Cancio Meliá/Feijoo Sánchez, 1996, S. 11. Schon vorher: Klug Die zentrale Bedeutung des Schutzgedankens für den Zweck der Strafe, 1938, bes. S. 49 ff kritisch dazu Lüderssen ZStW 107 (1995), 877 ff, bes. S. 882 ff; Baratta FS Arthur Kaufmann, 1993, 393 ff, bes. 404 ff. 12 Jakobs La autoría mediata con instrumentos que actúan por error como problema de imputación objetiva, Übersetzung von Cancio Meliá, 1996, S. 7 ff. 13 Eingehend zum Sinnpotential des Begriffs Normgeltung: Polaino-Orts El Funcionalismo en Derecho Penal. Libro, Homenaje al Profesor Günther Jakobs, Band II, 2003, 61 ff, bes. 73 ff. 14 Jakobs (Fn. 11) S. 11. 15 Jakobs FS Saito, 780 ff. 10

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IV. Rechtsgüterschutz und Bestätigung der Normgeltung: sich gegenseitig ausschließende Aufgaben? 1. Unfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs, den spezifischen Bereich des Strafrechts gegenüber sonstigen natürlichen Verletzungen zu kennzeichnen? Jakobs hat Recht damit, dass man die Verletzung von Gütern von der Verletzung von Rechtsgütern unterscheiden muss. Natürliche Katastrophen (Erdbeben, Tsunamis, Orkane usw.), der Ablauf des Lebens oder der Zeit selbst können zerstörerische Effekte auf viele Güter der Menschen haben. Dies hat aber mit dem normativen Bereich des Schutzes von Rechtsgütern durch das Strafrecht nichts zu tun. Das Strafrecht ist eine normative Disziplin, und zu den fundamentalen Zügen des Rechtsgutsbegriffs gehört die Normativität. Nicht jede Verletzung eines beliebigen Guts ist schon strafrechtlich relevant. Insofern ist es die Strafrechtsnorm, die die Gebotenheit, gewisse Güter vor gewissen Angriffsweisen zu schützen, schafft oder anerkennt. Erst dann werden diese natürlichen Güter zu Rechtsgütern, erst dann überschreitet die Verletzung oder Gefährdung eines solchen Guts den Bereich des bloß Natürlichen und wird zu etwas strafrechtlich Relevantem.

2. Ist die Bestätigung der Normgeltung der einzige positive Aspekt des Vorgangs Straftat–Strafe? Es ist Jakobs zuzugeben, dass die Bestimmung eines Übels als ein Übel an sich etwas logisch Irrationales ist, denn die bloße Rache nützt weder dem Einzelnen, noch der Gesellschaft. Deshalb muss man nach einer positiven Dimension, also nach dem Nutzen oder dem Ertrag des Vorgangs Straftat– Strafe suchen. Dennoch ist die Tatsache, dass man einen positiven Zweck verfolgt, nicht unverträglich damit, dass die zwei Komponenten des Vorgangs, um den es geht, also die Straftat und die Strafe, je Übel an sich darstellen, noch zwingt sie dazu, dass man in der Stabilisierung der Normgeltung den einzigen positiven Aspekt in dem Vorgang erblickt und dem Rechtsgut jede Bedeutung abspricht. Vielmehr verkörpert auch der Rechtsgutsbegriff mehrere positive Dimensionen, denn das Rechtsgüterschutzprinzip hat eine sichernde, präventive Funktion gegenüber möglichen Verletzungen. Der Vorgang Straftat–Strafe hat also durchaus positive Aspekte, nämlich präventiv-schützender Art, die sich nicht in der Bestätigung der Normgeltung erschöpfen.

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3. Verschiebt die Lehre der Bestätigung von Normgeltung den Rechtsgüterschutz in den Hintergrund? Nach der funktionalen Lehre kommt das Strafrecht immer zu spät, also nach Eintritt der Verletzung, sodass dem Rechtsgutsbegriff eine nachrangige Rolle hinter dem Gedanken der Normgeltung zugewiesen wird. Dieser Einwand ist teilweise berechtigt, teilweise aber auch nicht. Zum einen ist das Argument des Zu-spät-Kommens zu einseitig. In der Tat kommt das Strafrecht aus naturalistischer Perspektive zu spät, um dem Toten sein Leben oder dem Verwundeten seine körperliche Unversehrtheit zurückzugeben. Dies ist aber nicht die Aufgabe des Strafrechts. Es wäre utopisch und irreal, vom Strafrecht – oder von jedem sonstigen staatlichen Mittel – die Vermeidung der Verletzung aller Güter individueller oder kollektiver Art zu verlangen. Kriminalität ist in modernen Staaten etwas Normales. Es gibt keinen einzigen Staat ohne eine wenn auch noch so geringe Kriminalitätsrate, und etwas anderes ist in einer Gesellschaft von Menschen nicht einmal denkbar, sondern nur in einer göttlichen, himmlischen, perfekten Gesellschaft. Die Verletzung von Rechtsgütern gehört zum Wesen der modernen Gesellschaften. Insofern kommt das Strafrecht eigentlich nicht zu spät an, sondern es kommt gerade noch so früh an, wie es nur ankommen darf. Das Strafrecht weiß, dass es nichts Unmögliches anordnen kann, und versucht deshalb, den weitestgehenden und möglichst vollständigen Schutz anzubieten. Dies erfolgt durch eine sorgfältige und realistische Auswahl der für ein gemeinschaftliches Leben unverzichtbaren Rechtsgüter. Zum anderen ist es unrichtig, das Rechtsgutsparadigma durch das Normgeltungsparadigma zu ersetzen, als ob sich beide gegenseitig ausschließen würden. Der strafrechtliche Schutz besteht aus dem Schutz der Gesinnungswerte der anderen Personen im Recht. Schutz und Prävention bilden nach meinem Konzept eine untrennbare Einheit und verhalten sich zueinander wie Mittel und Zweck. Aus normativer Perspektive kommt das Strafrecht gerade zum richtigen Zeitpunkt an – nämlich sobald sich das Unvermeidbare, das heißt die Begehung einer Straftat und damit die Verletzung eines Rechtsguts, ereignet hat –, um den Täter zu bestrafen und gleichzeitig künftigen Verletzungen dadurch vorzubeugen, dass es klarstellt, welche gravierenden Folgen die Begehung von Straftaten für die Freiheitssphäre des Straftäters nach sich zieht. Das Strafrecht schützt also Rechtsgüter, um Verletzungen eben derselben Güter vorzubeugen, womit es die Autorität der Norm als Bestandteil der Sozialstruktur bestätigt. 16 Der Schutz von Rechtsgütern ist also der Inhalt (contenido), die Prävention von Straftaten der 16

In diesem Sinne auch Alcácer Guirao Cuadernos de Derecho y Jurisprudencia Penal, 11, 2001, S. 293 ff., bes. 334.

Rechtsgüterschutz versus Bestätigung der Normgeltung?

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Zweck (fin), oder anders gesagt: Der Schutz von Rechtsgütern ist die Funktion, die Bestätigung der Normgeltung ist die unmittelbare Wirkung dieser Funktion.

V. Beseitigung einer Gefahr versus Normgeltung? Eine kleine Bemerkung zur Funktion der Strafe beim Feindstrafrecht Aus der verschiedenartigen Behandlung, die bürger- und feindstrafrechtliche Fälle in den rechtsstaatlichen Ordnungen erfahren, zieht Jakobs nun aber eine straftheoretische Konsequenz, welche – gemäß seiner Unterscheidung zwischen offener und latenter Straffunktion – die offene Funktion der Strafe betrifft: „Beim Bürgerstrafrecht“, schreibt Jakobs17, „ist die offene Funktion der Strafe Widerspruch, beim Feindstrafrecht die Beseitigung einer Gefahr“. Gegen diese Schlussfolgerung möchte ich mich im Folgenden wenden. Ist die Einschätzung, die Funktion des Feindstrafrechts sei die Beseitigung einer Gefahr, in dieser Polarität zutreffend? Meines Erachtens nicht. Zwar stellt sich die Funktion in einer Art und Weise dar, die weitestgehend der Beseitigung einer Gefahr gleichkommt. Aber diese negative Komponente erschöpft nicht den kompletten Bereich der Aufgaben des Feindstrafrechts. Gefahrbeseitigung bzw. Gefahrenabwehr18 ist nämlich nur ein Mittel, nicht aber die Funktion feindstrafrechtlicher Normen, und zwar weder deren latente noch deren offene Funktion. 19 Die Funktion der Strafe – auch der Feindstrafe – hat vielmehr mit der Ratio des Rechts zu tun, also mit dem Schutz von für die Gesellschaft bzw. für die Person unverzichtbaren Rechtsgütern und mit der Stabilisierung gesellschaftlicher Systeme. Jedes soziale Element ist in dem Maße funktional, wie es die Leistung erbringt, die gesellschaftlichen Strukturen herauszubilden.20 Nur solchermaßen leistungsfähige Elemente werden als gesellschaftsstabilisierend integriert. Die anderen werden vom System verworfen, ganz so, wie es § 14 Abs. 3 LuftSichG ergangen ist, als er vom Bundesverfassungsgericht21 im Februar 17

Jakobs HRRS 2006, 290. Jakobs HRRS 2006, 295 ff; grundlegend Pawlik FS Schroeder, 2006, 357 ff. 19 Zur Unterscheidung Merton Social Theory and Social Structure, 1963, S. 60 ff; Ryffel Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, 1974, S. 254 ff; auch Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 50 ff. 20 Luhmann Funktion und Kausalität, in: ders. (Hrsg.) Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 1970, S. 10: „Als funktional gilt eine Leistung, sofern sie der Erhaltung einer komplex strukturierten Einheit eines Systems dient“. 21 BVerfG NJW 2006, 751. 18

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2006 für verfassungswidrig, also für gesellschaftlich dysfunktional erklärt wurde.22 Die Strafe weist also neben ihrer Funktion, die konkreten Rechtsgüter zu schützen und somit auch die Bestätigung der konkreten Normgeltung zu gewährleisten, auch eine dieser Funktion vorgelagerte Ermöglichungsfunktion auf. Denn um die Normgeltung zu sichern, ist es – wie hier bereits mehrfach ausgeführt wurde – notwendig, dass die Bürger (Personen im Recht) ein gewisses kognitives Vertrauen in die Geltung der Normen haben – „reine Normativität“, sc. normative Erwartungssicherheit, ist ohne Vertrauen auf deren Möglichkeit (kognitive Sicherheit) nun einmal nicht möglich. Aus dieser Einsicht folgt aber ein komplexer Strafbegriff, der normative und kognitive Funktionen gleichrangig beinhaltet, so dass sich sehr wohl23 von einem „echten“ Strafcharakter des Feindstrafrechts sprechen lässt. Kurz: Der negative Aspekt (Beseitigung einer Gefahr) reicht nicht aus, um die Existenz der feindstrafrechtlichen Normen zu erklären. Es geht vielmehr auch bei diesem Strafen stets auch um den positiven Aspekt der Stabilisierung der Normgeltung – hier mit Bezug auf die kognitive Sicherheit –, und dieser bildet sowohl beim Feindstrafrecht, als auch beim Bürgerstrafrecht den Inhalt des Strafzwecks. Feinde stellen die Bedingungen gemeinschaftlichen Lebens prinzipiell – bzw. buchstäblich radikal – in Frage, und so drastisch, wie sie die Grundlagen der Gesellschaft (bzw. die Hauptgüter der Gesellschaft) angreifen, müssen sie auch bekämpft und – wenn es sein muss – „bekriegt“ werden.24 Aber nicht etwa nur aus dem Grund, dass sie der Gesellschaft lästig oder unangenehm sind, sondern weil sie nicht einmal die Mindestanerkennung gegenüber den Anderen als Personen im Recht leisten, weil sie sich mit ihrem Verhalten gerade dem normalen Rhythmus der aktuell verhaltensleitenden Praxis entgegensetzen und Rechtsstaatlichkeit sich ansonsten nur noch als ein Postulat durchhalten lässt. Der Kampf gegen prinzipiell Abweichende hat insoweit auch eher die Funktion, die Bürger und die Gesellschaft zu schützen, als einen Feind zu bekriegen. Beim Feindstrafrecht begegnet man mithin zwar einer Gefahr, aber nicht, um mit dieser Maßnahme Schmerz

22 Zur Problematik vgl. etwa Jakobs ZStW 117 (2005), 848 ff; Merkel Die Zeit Nr. 29 vom 8.7.2004, 33 f; Pawlik JZ 2004, 1045 ff; Sinn NStZ 2004, 585 ff; Mitsch JR 2005, 274 ff. 23 Entgegen der von Cancio Meliá ZStW 117 (2005), 267 ff, behaupteten „contradictio in adiecto“. 24 Vgl. hierzu auch – den offenen Strafcharakter freilich der Sache nach ablehnend – Jakobs HRRS 2004, 90: „Bürgerstrafrecht ist das Recht aller, Feindstrafrecht das Recht derjenigen, die gegen den Feind stehen; dem Feind gegenüber ist es nur physischer Zwang, bis hin zum Krieg.“ Ferner Roellecke JZ 2006, 268: „Im Verhältnis zu den Terroristen bleibt dem Rechtsstaat … nur die stumme Anwendung physischer Gewalt.“

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zuzufügen,25 sondern weil solche Gefahrenbeseitigung das einzige Mittel ist, die gesellschaftliche Struktur im Großen und Ganzen zu erhalten.26 Feindstrafrechtliche Normen erbringen auch im Rechtsstaat prinzipiell eine Leistung zum Rechtsgüterschutz und somit auch zur Stabilisierung des Systems. Der Grund hierfür ist einfach zu erfassen: Obwohl der Feind die Mindestgarantie dafür, als Person behandelt zu werden, sc. die Anderen als Personen zu respektieren, nicht leistet und teils sogar nach dem Ende bzw. der Vernichtung des gesellschaftlichen Lebens in der bestehenden Form trachtet, lebt er doch nicht außerhalb der Gesellschaft. Trotz seines ganz und gar im Stadium der Individualität verbleibenden Projekts ist der Feind – wenn auch nur äußerlich – noch mit der Gesellschaft verbunden, und dementsprechend wird er durch das Recht auch nur partiell entpersonalisiert.27 Er behält also einen Teil seiner formalen Personalität, indem er etwa ein Recht auf einen fairen Prozess hat, aber auch etwa darauf, durch das öffentliche Gesundheitssystem behandelt zu werden, etc. Anders ließe sich gegenüber den Bürgern auch nicht durch Feindstrafrecht die Normgeltung – hier in Form ihrer kognitiven Grundvoraussetzungen – demonstrieren. Umgekehrt wäre es nicht möglich, ein von der Gesellschaft – freilich in einem materialen und nicht nur äußerlichen, etwa exterritorialen oder gar nur staatsbürgerschaftsrechtlichen Sinn – gänzlich isoliertes Individuum zu bekämpfen. Denn der Feind ist Feind wegen seiner Gefährlichkeit, also zwar aufgrund individueller Faktoren, über die aber nach gesellschaftlichen Bedürfnissen zu befinden ist – die Identifikation eines Feindes ist notwendigerweise konkret gesellschaftsabhängig.28 Der Feind-Status bedarf also des Tertium Comparationis einer gewissen gesellschaftsbezüglichen Existenz: Feinde gibt es nur relativ zu Bürgern, sc. wenn und soweit diese in radikaler, das grundlegende kognitive Normvertrauen betreffender Weise nicht mehr als Gesellschaft der Personen im Recht respektiert werden. Die Art und Weise, in der der Feind bekämpft wird, mag, wie bereits erwähnt, auch gerade jene der Gefahrbeseitigung sein. Die Funktion der Strafe als Ultima Ratio der staatlichen Sanktionen ist es aber, die konkreten Rechtsgüter der Gesellschaft oder der Person und damit die gesellschaftliche Struktur zu erhalten,29 und deswegen verzichtet die Strafe beim Feindstrafrecht auch nicht auf ihre kommunikative Bedeutung: die Erwartungs-

25

Zum Aspekt des Strafschmerzes vgl. Jakobs Staatliche Strafe, 2004, S. 26 ff. Detailliert zu dieser Idee bereits Polaino-Orts Derecho Penal del enemigo: Desmitificación de un concepto, 2006, S. 128 ff. 27 Jakobs HRRS 2006, 293 f. 28 Zur Abgrenzung des strafrechtlichen Feindbegriffs im Sinne eines inimicus vom Begriff des Feindes als hostis bei Carl Schmitt siehe Jakobs HRRS 2006, 294. 29 Dazu grundlegend Jakobs ZStW 107 (1995), 843 ff. 26

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sicherung.30 Indem man die Feinde bekämpft, werden primär die Bürger in ihrem Normvertrauen geschützt; die Bekämpfung der Feinde kommuniziert den Bürgern als Personen im Recht, dass sie an ihrem gesellschaftlichen Projekt festhalten können. Zusammengefasst: Auch Feindstrafrecht stabilisiert das soziale System, da es die normativen Erwartungen aktuell erwartbarer macht und so den Bürgern ihr tatsächliches personales Wohl (ein Rechtsgut!) ermöglicht.

VI. Die Relevanz von Rechtsgütern als Grundlage des Straftatsystems Man kann weitere Argumente anführen, die die Bedeutung des Rechtsgüterschutzprinzips für die Dogmatik der strafrechtlichen Unrechtslehre umso mehr steigern. Ich werde exemplarisch zwei dieser Argumente ausführlicher behandeln: Zum einen ist ein autopoietischer Normenschutz – also ein Schutz der Norm um der Norm willen – etwas an sich Unzureichendes. Zum anderen ist eine Bezugnahme auf die Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts für die Kennzeichnung des Unrechts des Versuchs und der Vollendung unverzichtbar.

1. Schützt die Norm nur sich selbst? Für die funktionale Lehre ist die Selbststabilisierung des Systems die Funktion des Strafrechts. Damit führt sie den Gedanken der Autopoiesis konsequent ins Extrem: Nach diesem Gedanken gibt sich die Gesellschaft selbst eine Gesellschaftsstruktur, in der alle ihre konstitutiven Elemente produziert und reproduziert werden (Autopoiesis bedeutet nämlich Selbstreproduktion, oder genauer: Selbstreproduktionsvermögen). Alle diese Vorgänge erfolgen innerhalb des Systems, und es ist nicht möglich, einen Zweck zu verfolgen, der den der sozialen Struktur transzendiert. Demnach ist also die Funktion der Norm die Bestätigung ihrer eigenen Geltung. Mich persönlich überzeugt dieser Entwurf nicht, weil er die Frage nach dem Inhalt der Norm als etwas Sekundäres behandelt. Keiner leugnet – und ich behaupte es sogar ausdrücklich – dass das Rechtsgut eine auch normative Kategorie darstellt. Aber ebenso wenig darf man verkennen, dass normative 30 Anders Jakobs HRRS 2004, 89: „Gefahrbekämpfung statt Kommunikation“; Polaino-Orts (Fn. 26) S. 107 ff., 227 ff. meint hingegen im hiesigen Sinne, die Funktion der Strafe beim Feindstrafrecht sei die Bestätigung der Normgeltung und gleichzeitig die Gefahrbeseitigung, weil der Feind nicht von der Gesellschaft trennbar ist, die Gefahrenbekämpfung also nicht die Kommunikation ausschließt.

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Kategorien auch einen Inhalt haben. Und der von der Norm geschützte Inhalt ist gerade nichts anderes als ein schutzbedürftiges und -würdiges Rechtsgut. Die Norm bezweckt also meiner Ansicht nach nicht, sich selbst zu schützen, sondern die in ihr enthaltenen Güter und Werte. Dadurch schützt sie auch mittelbar die eine bestimmte Sozialstruktur konstituierende Norm.

2. Das Rechtsgut als gestaltendes Element des tatbestandsmäßigen Unrechts Nach der funktionalen Lehre stellen sowohl die Vollendung, als auch der Versuch einen perfekten Normbruch dar31, womit auch ich einverstanden bin32. Das heißt aber noch nicht, dass man auf den Rechtsgutsbegriff (genauer: auf Verletzung oder Gefährdung des Rechtsguts) verzichten kann, um die Schwere des Unrechts zu beurteilen. Wenn man auf das Rechtsgut verzichtet und annimmt, dass Versuch und Vollendung perfekte Normbrüche seien, wie kann man dann noch erklären, dass dem Versuch grundsätzlich33 eine mildere Strafe zukommt, als der Vollendung? Dieser Strafunterschied beruht auf der höheren Schädlichkeit des vollendeten Unrechts. Das ist der Grund, weshalb es einen qualitativen Unterschied, der zu einem erhöhten Strafbedürfnis führt, gibt, obwohl das Unrecht des versuchten Delikts mit dem Unrecht des vollendeten Delikts vollkommen identisch ist (beide haben einen Erfolg, verkörpern einen normativen Unwert, und beide setzen die Verletzung normativer Erwartungen voraus). Das Unrecht des versuchten Delikts besteht aus einem „perfekten Normbruch“ plus einer „Rechtsgutsgefährdung“, das Unrecht des vollendeten Delikts aus einem „perfekten Normbruch“ plus einer „Rechtsgutsverletzung“. In beiden Fällen ist die Bezugnahme auf das Rechtsgut unverzichtbar. Zusammenfassend: Norm und Rechtsgut sind keine Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr im Gegenteil Begriffe, die aufeinander notwendig angewiesen sind. Die Norm ist die Form, das Rechtsgut der Inhalt.

31 Jakobs AT S. 165; Vehling Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, 1991, S. 87; Rey Sanfiz Die Begriffsbestimmung des Versuchs und ihre Auswirkung auf den Versuchsbeginn, 2006. 32 Dazu Polaino Navarrete FS Gössel, 2002, 157 ff. 33 Mit einigen Ausnahmen, zu ihnen Polaino Navarrete (Fn. 1); ders. GS Zipf, 1999, 271 ff.

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VII. Fazit 1. Dem Begriff des Rechtsguts kommt bei der Bestimmung des Inhalts des tatbestandsmäßigen Unrechts und bei der Bestimmung der Aufgabe des Strafrechts eine große Bedeutung zu. 2. Die primäre Aufgabe des Strafrechts ist der Schutz von Rechtsgütern und die Prävention von Angriffen, die diese Güter verletzen. 3. Die Bestätigung der Normgeltung ist nicht nur eine Funktion im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern vielmehr die direkte und hauptsächliche Wirkung des Schutzes von Gütern und Werten, die der Norm zugrunde liegen. 4. Die Aufgabe des Rechtsgüterschutzes ist mit der Aufrechterhaltung von Normgeltung nicht unverträglich. Vielmehr ergänzen sich beide Aufgaben gegenseitig, obwohl sie sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen: Die erste Aufgabe rechtfertigt das System des Strafens, die zweite die Struktur des Rechtssystems (und somit des Sozialsystems). 5. Die schematische Entgegensetzung Kommunikation–Bekämpfung bzw. Normgeltungsbestätigung–Gefahrbeseitigung trifft nicht zu: Feindstrafrecht ist auch und prinzipiell Rechtsgüterschutz und somit auch Kommunikation; es bekämpft zwar besonders gefährliche Risikoquellen, verzichtet dabei aber nicht auf die gesellschaftsschützende und gesellschaftsstabilisierende Bedeutung. Diese liegt wie beim Bürgerstrafrecht in der Vorbeugung von Angriffen gegen Rechtsgüter und mittelbar auch in der Bestätigung der Normgeltung, also der Sicherung normativer Erwartungen, anders als bei diesem allerdings mit dem Schwerpunkt auf der vorgelagerten Ebene des kognitiven Normvertrauens. In diesem Sinne legitimes Feindstrafrecht bekämpft Feinde, weil es gleichzeitig Bürger schützt. 6. Dies wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass dem Rechtsgutsbegriff in der modernen Strafrechtsdogmatik – etwa bei der Bestimmung des Unrechts des Versuchs und der Vollendung – weiterhin eine wichtige Rolle zukommt.

Normschutz als Strafrechtsgut? Normentheoretische Überlegungen zum legitimen Strafen JÖRG SCHEINFELD

I. Einleitung Mit Engagement und Überzeugungskraft hat Claus Roxin in mehreren Publikationen das Erfordernis eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriffs begründet.1 Aus dem „Prinzip des subsidiären Rechtsgüterschutzes“ ergeben sich ihm „zwar keine Patentlösungen, aber doch ziemlich konkrete Argumentationsrichtlinien, die dazu helfen können, eine rechtsstaatswidrige Überdehnung strafrechtlicher Befugnisse zu verhindern.“2 Wie überaus fruchtbar die Besinnung auf diese Argumentationsrichtlinien ist, hat der Jubilar mit seiner Kritik der Inzest-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt: eine Argumentation, welche die Verfehltheit der Entscheidung wie auch die der Strafnorm des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB unwiderstehlich offenlegt.3 Mir will der Ansatz eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriffs auch verfassungsrechtlich vorzugswürdig erscheinen. In besagter InzestEntscheidung lehnt es die Senatsmehrheit zwar ausdrücklich ab, einen solch kritischen Rechtsgutsbegriff heranzuziehen, doch ist die Argumentation durchaus zirkelhaft, wenn nur darauf verwiesen wird, dass ein solches Konzept in Widerspruch gerate zum Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers;4 1

Roxin AT I § 2; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Symposium für Schünemann, 2005, S. 135 ff; ders. FS Marinucci, 2006, 715 ff; und jüngst ders. FS Hassemer, 2010, 573 ff – vgl. ferner Hefendehl GA 2007, 1 ff; Swoboda ZStW 122 (2010), 24 ff. 2 Roxin FS Marinucci, 2006, 737. 3 Roxin StV 2009, 544 ff, in Übereinstimmung übrigens mit allen sonstigen Stellungnahmen zu diesem Beschluss, vgl. nur Bottke FS Volk, 2009, 93 ff; Cornils ZJS 2009, 87 ff; Hantke http://www.rub-rr.de/?q=node/19; Hörnle NJW 2008, 2085 ff; Hufen/Jahn JuS 2008, 550 ff; Noltenius ZJS 2008, 15 ff; J. Schäuble FoR 2008, 98 ff; Thurn KJ 2009, 74 ff; Zabel JR 2008, 453 ff; Ziethen NStZ 2008, 617 f; begrenzt Androulakis FS Hassemer, 2010, 271 ff. 4 BVerfGE 120, 224 (242) – Über diesen Einwand hinaus widerspricht sich der Senat selbst, wenn er zunächst betont, dass das Strafrecht „ultima ratio“ sei und nur eingesetzt werden dürfe, wo ein besonders sozialschädliches und ein für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträgliches Verhalten verhindert werden müsse, er dieses Legitimationserfordernis aber im

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denn wie weit der gesetzgeberische Beurteilungsspielraum reicht, das ist ja gerade die Frage. Dass nach Ansicht der Senatsmehrheit der Gesetzgeber weiter nur von der Verfassung selbst begrenzt wird, und zwar dann, „wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt“,5 das ist gut vereinbar mit einer wohlverstandenen und kritischen Rechtsgutslehre: „Es ließe sich ohne weiteres sagen, dass eine Strafvorschrift, die kein Rechtsgut schützt, als übermäßiger Eingriff in die Freiheit des Bürgers unwirksam ist.“6 Freilich hat der Gesetzgeber bei der Wertung, ob er mit der Verfolgung eines bestimmten Zwecks ein Strafrechtsgut schützt, eine Einschätzungsprärogative. „Wo sich aber eine ernsthaft vertretbare Begründung dafür nicht finden lässt, müsste die Unwirksamkeit eines solchen ‚unverhältnismäßigen‘ Strafgesetzes die Folge sein.“7 Ein so verstandenes Rechtsgutskonzept lässt sich problemlos in das gängige Schema der Verhältnismäßigkeitsprüfung integrieren.8 Es geht dabei um die Frage, ob der verfolgte Zweck ein – in den Augen der Verfassung – „legitimer Gesetzeszweck“ ist.9 Denn ohne „eine Antwort auf die Frage nach der Legitimation des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks hängen alle Überlegungen über Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Strafdrohung zur Erreichung dieses Zwecks ebenso wie die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Luft“.10 Es ist den Kritikern des Rechtsgutskonzepts einzuräumen, dass die Wertung, etwas komme als Strafrechtsgut nicht in Betracht (beispielsweise die Eugenik), notfalls beim Angemessenheitsaspekt der Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen könnte. 11 Doch ist es bis zu diesem Prüfpunkt, das zeigt die großzügige Haltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber bedenklichsten Strafnormen, für den betreffenden Gesetzeszweck ein freier Fall, den das Netz der Angemessenheitsprüfung in der Rechtspraxis nicht stets

Folgenden nicht mehr aufgreift und das Verbot des Geschwisterinzests gar nicht daran misst (Hörnle NJW 2008, 2085; Noltenius ZJS 2008, 17; Roxin StV 2009, 545; ders. FS Hassemer, 2010, 581). 5 Ebenda.; insoweit ausdrücklich zustimmend Roxin FS Hassemer, 2010, 577. 6 Roxin in: Hefendehl (Fn. 1) S. 144; ähnlich ders. AT I § 2 Rn. 92. – Bei dieser Prüfung dürfen durchaus Verhaltens-, Androhungs- und Sanktionsnorm zusammen genommen werden (dazu Hefendehl FS Roxin, 2001, 158 ff). 7 Roxin in: Hefendehl (Fn. 1) S. 144; ders. AT I § 2 Rn. 94. 8 Hassemer FS Androulakis, 2003, 217 ff. 9 So für den Gesetzeszweck des „Schutzes vor sich selbst“ auch Möller Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 14. 10 Roxin StV 2009, 544 ff. 11 Vgl. dazu die Monographien von Appel Verfassung und Strafe, 1998 und Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996.

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aufzufangen vermag.12 Zur Vermeidung einer „orientierungslosen Beliebigkeit“13 erscheint deshalb die bewusste Fragestellung nötig: Was darf der Gesetzgeber unter Strafe stellen? Soll etwa ein „Gut“ wie das „Pietätsgefühl der Allgemeinheit“ strafrechtlich abgesichert werden dürfen? Das Verfassungsgericht müsste sich dieser und ähnlicher Fragen annehmen und eine vom Einzelfall abstrahierende Verfassungslehre der legitimen Strafzwecke entwickeln.14 Dazu kann eine gesetzgebungskritische Rechtsgutslehre ihren Teil beitragen. Roxin selber möchte den Kreis der klassischen Rechtsgüter behutsam erweitern und beispielsweise derart vergrößern, dass auch der Embryo unter einen gewissen strafrechtlichen Schutz gestellt werden darf. Er konzediert, dass für einen Schutz des Embryos der überlieferte Rechtsgutsbegriff nicht weiterhelfe. Doch könne man „den Embryo strafrechtlich nicht schutzlos lassen, weil er als Vorform menschlichen Lebens bis zu einem gewissen Grade in dessen Schutzbereich“ falle. 15 Es sei daher, schreibt Roxin 2006, „für das Strafrecht eine noch zu lösende Aufgabe, die Existenz des Embryos als ein dem geborenen menschlichen Leben sich annäherndes Rechtsgut zu erfassen und seinen Schutz in einer Weise auszugestalten, die dem vorgeburtlichen Lebensrecht ebenso wie den Bedürfnissen der Forschung und der Heilung schwerer Krankheiten so weit wie möglich gerecht“ werde. 16 Genau zu diesem Zweck belebt die moderne Ethik und die moderne Strafrechtswissenschaft ein Argumentationsschema wieder: das Sichberufen auf einen Normschutz, der ein bestimmtes Verbot über dessen eigentliche Grenzen hinaus erstreckt.17 Im Folgenden wollen wir diesem Gedanken näher treten. 12

Vgl. BVerfGE 6, 389 (männliche Homosexualität); 120, 224 (Geschwisterinzest); 90, 145 ff (bloßer Cannabis-Besitz); 90, 241 (einfache Auschwitzlüge) – in der letztgenannten Entscheidung hat der Senat das sozialschädliche der Auschwitzlüge immerhin noch in Drittinteressen gesucht und darin gesehen, dass, wer einschlägige Nazi-Verbrechen leugnet oder verharmlost, die in Deutschland lebenden Juden schwer in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt und – so könnte man hinzusetzen – ihnen Orientierungssicherheit nimmt (Seelmann FS Hassemer, 2010, 257 f); diese Ableitung darf aber nach Ansicht des Jubilars heutzutage keine Geltung mehr beanspruchen (Roxin AT I § 2 Rn. 41; vgl. ferner Kühl Auschwitz-Leugnen als strafbare Volksverhetzung?, in: Bernsmann/Ulsenheimer [Hrsg.], Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen, 2003, S. 110 ff). 13 Roxin FS Hassemer, 2010, 580. 14 Roxin StV 2009, 545; Scheinfeld Der Kannibalen-Fall – Verfassungsrechtliche Einwände gegen die Einstufung als Mord und gegen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe, 2009, S. 41 (dort zur „Leerformel“ [MüKo-Hörnle § 168 Rn. 20] des „Pietätsgefühls der Allgemeinheit“ als Schutzgut des § 168 StGB). 15 Roxin AT I § 2 Rn. 53. 16 Roxin AT I § 2 Rn. 54. 17 Birnbacher Universitas 2000, S. 417; Gutmann Rechtliche und rechtsphilosophische Fragen der Präimplantationsdiagnostik, in: Gethmann-Siefert/Huster (Hrsg.), Recht und Ethik in

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II. Das Prinzip: Normschutz Mit „Normschutz“ gemeint ist dabei, dass das betreffende Verbot – wie beim Umgang mit dem frühen Embryo – zwar nicht als genuines Verletzungsverbot oder als Solidaritätspflicht im engen Sinn legitimierbar ist, dass dieses Verbot aber eine Fundamentalnorm der Rechtsordnung vor Erosion bewahren will.18 Um die Struktur der Normschutzargumente genau vor Augen zu haben, bietet es sich an, ein konkretes Beispiel zu betrachten. Wir werden dabei sehen, dass das Normschutzargument am Ende nichts anderes bietet als ein Dammbruchargument – jenes unterscheidet sich von diesem nur dadurch, dass es vom psychischen Geschehen abgelöst und hochgezogen wird auf die Ebene der Normentheorie. Deshalb lassen sich gegen das Normschutzargument auch ganz ähnliche Einwände erheben wie gegen Dammbruchargumente, nämlich logisch-normative (III.) und empirischpsychologische (IV). Hier nun das einschlägige Beispiel des strafrechtlich geschützten Lebensrechts anenzephaler Neugeborener: Bei einer Anenzephalie handelt es sich um ein „angeborenes vollständiges oder weitgehendes Fehlen der Großhirnhemisphären, der Neurohypophyse und des Zwischenhirns sowie des Schädeldaches…“.19 Wir wollen uns auf die klaren Fälle beschränken und die Kinder betrachten, die vollständig ohne Groß- und Mittelhirn geboren werden. Man ist sich darüber einig, dass diese Kinder keinerlei Bewusstsein und also keinerlei Erleben haben. 20 Sie können daher auch subjektiv nicht verletzt werden, weil dazu begrifflich zumindest ein rudimentäres Erleben nötig ist.21 Aus diesem Grund kann ihnen gegenüber auch keine unmittelbare Rechtspflicht begründet werden: „Im Hinblick auf ein nicht schädigungsfähiges Wesen“ kann „gegenüber anderen eine Pflicht der Interessenbeachtung (Schadenvermeidung) schon nicht verständlich gemacht und a fortiori nicht legitimiert werden“.22 Das Fehlen jeglichen Eigeninteresses ist auch der Grund dafür, dass man diese der Präimplantationsdiagnostik, 2005, S. 155 f; Merkel Früheuthanasie – Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, 2001, S. 417 ff, 582 ff; ders. FS Müller-Dietz, 2001, 513 ff; ders. Forschungsobjekt Embryo – verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, 2002, S. 144 ff; ders. in: Damschen/Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen – Pro und Contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, 2003, S. 47 ff; ders. Willensfreiheit und rechtliche Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008, S. 124 ff; auch Weber-Hassemer scheint dem Ansatz allgemein Kredit zu geben, vgl. in FS Hamm, 2008, 838. 18 Zum Tötungsverbot vertreten von Merkel (vgl. die Nachweise zum Autor in Fn. 17). 19 Reiche in: Roche Lexikon Medizin, 2009, Stichwort: Anenzephalie. 20 Zu den medizinischen Einzelheiten vgl. Medical Task Force on Anencephaly NEJM 322 (1990), 669 ff; ferner Holzgreve/Beller Clinical Obstetrics and Gynecology 35 (1992), 821 ff. 21 Merkel in: Damschen/Schönecker (Fn. 17) S. 49 f. 22 Merkel Früheuthanasie (Fn. 17) S. 441.

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Kinder weltweit und in jeder Klinik unbehandelt sterben lässt.23 Dagegen soll derjenige, der ein solches Kind aktiv tötet (etwa indem er lebenswichtige Organe entnimmt), nach Ansicht der meisten das Unrecht eines vorsätzlichen Totschlags begehen (§ 212 Abs. 1 StGB).24 Begründet wird das (auch) mit dem Prinzip des Normschutzes: „Die Fundamentalnormen unserer Rechts- und Moralordnung – Menschenwürde, Lebensrecht, Gleichheitssatz – werden über die Grenzen hinaus, die von den Kriterien ihrer genuinen Begründung gezogen würden, allgemein, nämlich allen geborenen Menschen garantiert.“25 Die hauptsächlichen Gründe lägen in der: „Humanität, Stabilität, symbolischen Konsistenz, Orientierungskraft der normativen Gesamtrechtsordnung unserer Gesellschaft“. Ein solches Normensystem sei „bei weitem vorzugswürdig“, ja „zwingend“, die Ausgrenzung der Anenzephalen aus dem Schutz subjektiver Grundrechte sei „indiskutabel“. Mit dem Schutz des Anenzephalen vor aktiver Tötung werde ersichtlich primär nicht der Anenzephale geschützt, sondern „das allgemeine Tötungsverbot als Fundamentalnorm der Ethik und des Rechts“. Eine Rechtsordnung, die alle geborenen Menschen unter den Schutz des Tötungsverbots stelle, sei gegenüber einer, die „für jeden individuellen Lebensschutz eine gewissermaßen persönliche Qualifikation“ verlange, klar vorzuziehen. – Dieser Ansatz lässt sich auf andere Normfelder übertragen, beispielsweise auf die Verbote der aktiv-absichtlichen Sterbehilfe26 und der verbrauchenden Embryonenforschung27. Ergänzt wird die konkrete Normschutzargumentation mit dem Hinweis, dass sich „das gesamte Strafrecht durchaus schlüssig und plausibel primär als eine Art Normschutzunternehmung deuten“ lasse: „als besonders nachdrückliche rechtliche Sicherung der sozialen Verhaltensnormen, die für die Möglichkeit einer Gesellschaft von Freien und Gleichen unbedingt notwendig sind“.28 „Nicht Güterschutz, sondern Normenschutz“ sei „die unmittelbare Aufgabe des Strafrechts“.29 Diese These geht zurück auf Jakobs. Zum „Strafrechtsgut“ erklärt er „die Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen strafrechtlichen Erwartung“, dies sei „praktizierte Normgeltung“.30 23

Gegenteiliges ist nicht bekannt, vgl. Merkel Früheuthanasie (Fn. 22) S. 623. Anders die Empfehlung der American Medical Association Council on Ethical and Judicial Affairs, JAMA 273 (1995), 1614 ff: die Organentnahme (und damit einhergehende Tötung!) sei „ethisch zulässig“ und sollte es auch rechtlich sein (wenn die Eltern zustimmen und prozedurale Sicherungen beachtet werden). 25 Merkel (Fn. 21) S. 49 – dort auch zum folgenden Text. 26 Vgl. bei Merkel (Fn. 22) S. 417 ff, 582 ff; MüKo-Schneider § 216 Rn. 8. 27 Merkel Forschungsobjekt Embryo (Fn. 17) S. 144 ff; ders. (Fn. 21) S. 47 ff. 28 Merkel (Fn. 21) S. 48 f. 29 Merkel Willensfreiheit (Fn. 17) S. 125. 30 Jakobs AT Abschn. 2 Rn. 1 ff, 2. 24

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III. Logisch-normative Einwände 1. Strafrecht als Normschutzunternehmung Bei der These, das Strafrecht schütze in erster Linie die unabdingbaren Verhaltensnormen und wolle einen „Normgeltungsschaden“ verhindern, handelt es sich um eine unangemessene Erhebung des Sekundären zum Primären. Nehmen wir den Fall, dass sich jemand anschickt, seinen Erbonkel des Geldes wegen zu töten! Wenn sich nun das Tötungsverbot in die Willensbildung und Entschlussfassung einmischt, dann doch nicht, um sich selbst, sondern um das Lebensinteresse des Erbonkels zu schützen, ihm also die Verfügungsmacht über sein Leben zu sichern. Das soziale Normensystem, sagt Roxin, „soll nicht um seiner selbst willen erhalten werden, sondern um der Menschen willen, die in der Gesellschaft leben“.31 Diese Selbstverständlichkeit geht verloren, wenn man den Normenschutz zum primären Zweck der Strafe erhebt.32 Und blickt man auf die Normlegitimation, dann erkennen wir in dieser Verzerrung nicht nur einen argumentativen Umweg, sondern eine Gefahr, die Strafe auszudehnen und auf an sich „untadelige“ Verhaltensweisen zu erstrecken.33 Das wird die folgende Analyse zeigen.

2. Das Problem der „Zurechnung“ Es ist wichtig, sich zunächst einen Punkt bewusst zu machen: Normschutzargumente haben überhaupt nur Sinn, wenn die zu verbietende Praxis (etwa die aktive Tötung eines Anenzephalen oder eines Embryos) für sich betrachtet als (rechtsethisch) untadelig bewertet wird.34 Denn sonst würde das Normschutzargument eher davon ablenken, dass schon diese Praxis „in sich selbst verwerflich“ und deshalb zu verbieten ist; das Normschutzargu31

Roxin AT I § 2 Rn. 110 – unter Verweis auf Mir Puig GA 2003, 866; ders. FS Hassemer, 2010, 594; in der Sache ähnlich MüKo-Herzberg § 22 Rn. 20. – „Der Staat“, sagte schon Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs zum Grundgesetz, sei „um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. 32 Wobei sich die Theorie vom Strafrecht als Normschutzunternehmung auch so bilden lässt, dass sie mit hiesiger Sicht übereinstimmt und also allein Freiheitsrechte der Bürger als zu schützende Normen erfasst. So sieht es etwa Merkel (Fn. 29) S. 124 f. (mit Fn. 198), der dann aber, wie er am Beispiel der Tötung eines anenzephalen Neugeborenen darlegt, die Annahme gelten lässt, eine Freiheitsrechte schützende Norm könne Schaden nehmen durch ein Verhalten, das niemandes Freiheitsrecht und Verfügungsmacht verletzt. – Weiter zugestanden sei hier (mit dem Jubilar), dass Strafvorschriften „auch auf das allgemeine Rechtsbewusstsein einwirken“ wollen (Roxin AT I § 2 Rn. 38); derlei Einwirkung ist aber nur dort legitim, wo sich eine Primärnorm begründen lässt (dazu näher im folgenden Text). 33 Ähnlich Schütze Embryonale Humanstammzellen, 2007, S. 284. 34 So zu Dammbruchargumenten sehr zutreffend Enoch Oxford Journal of Legal Studies 21 (2001), 631 unten.

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ment wäre aus Sicht seiner Verfechter daher kontraproduktiv: „Hier wie sonst schwächt der Rückgriff auf das Sekundärargument anderweitiger böser Folgen ersichtlich die apodiktische Unbedingtheit der primären Behauptung.“35 Normschutzargumente stützen sich also, das wollen wir festhalten, allein auf den Schutz vor Normerosion, und sie erkennen an, dass die zu verbietende Handlung im Übrigen, insbesondere dem Schutzobjekt gegenüber, nicht zu tadeln ist. So begründete strafrechtliche Normen und Normdeutungen, die eine für sich betrachtet untadelige Praxis X verbieten, weil ihr gewisse Normerosions-Risiken innewohnen, weisen, wie man leicht sieht, eine Besonderheit auf: Die an der untadeligen Praxis Beteiligten werden strafrechtlich in die Haftung genommen für ein – bloß befürchtetes – Fehlverhalten anderer Personen. Die Logik der Normschutzargumentation könnte etwa gegenüber einem Arzt, der mit Zustimmung der Eltern ein anenzephales Neugeborenes tötet, zur Begründung einer Bestrafung wegen Totschlags wie folgt lauten: „Du hast zwar in der Sache kein (moralisches) Unrecht begangen, du bist aber bis an die Grenze des (moralisch) Erlaubten gegangen (du hast ein nichtschädigungsfähiges Wesen getötet), und das veranlasst vielleicht andere, diese Grenze zu überschreiten (also ein schädigungsfähiges Wesen zu töten). Deshalb verbieten wir dir die an sich untadelige Handlung.“ Wie seltsam diese Legitimation eines strafrechtlichen Verbots anmutet, wird klar, wenn man einmal andere Verbote betrachtet. Niemand käme auf die Idee, einem Autofahrer, der innerorts 50 km/h schnell fährt, vorzuwerfen, er veranlasse mit seinem ,An-die-Grenze-Gehen’ andere Verkehrsteilnehmer dazu, innerorts 70 zu fahren – so wie niemand dem Notwehrübenden vorwirft, seine einschneidend-scharfe, aber erforderliche Verteidigung veranlasse andere, die Grenzen der Notwehr zu überschreiten. Kurzum: Wer sich im Rahmen des (rechtsethisch) Erlaubten hält, der hat mit unerlaubten (oder sonst verwerflichen) Taten anderer nichts zu schaffen, weil seine erlaubte Tat eben keine Aussage darüber trifft, ob Unerlaubtes begangen werden soll.36 Sonst dürfte man auch, und mit größerer psychologischer Plausibilität, Reporter für Amokläufe strafrechtlich verantwortlich machen, weil sie mit ihrer Berichterstattung über begangene Amokläufe neue Amokläufe provozieren.37 Vor solcher „Zurechnung“ sähe man aber die Presse35

Für Dammbruchargumente betont dies Merkel in: Fateh-Moghadam/Sellmeier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 285. 36 Scheinfeld in: Schildmann/Fahr/Vollmann (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende in der modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, 2006, S. 168; vgl. auch Frisch in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 229. 37 Zu diesem Zusammenhang zwischen Berichterstattung und neuen Amokläufen Coleman, The copycat effect – How the media and popular culture trigger the mayhem in tomorrow’s headlines, 2004, S. 165 ff.; Robertz/Wickenhäuser Der Riss in der Tafel, 2010, S. 95 f; ferner

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freiheit als Schutzwall bereitstehen (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Ganz ähnlich müssen wir es im oben genannten Beispiel des Arztes sehen. Ihn für die Entnahme der Organe des Anenzephalen wegen eines Totschlags zu bestrafen, kann nicht damit begründet werden, dass seine Tat, begangen an einem nichtschädigungsfähigen Wesen, andere Personen dazu verleiten wird, ein schädigungsfähiges Wesen zu töten. In einer so begründeten Bestrafung läge eine nicht zu rechtfertigende Instrumentalisierung desjenigen, der an sich erlaubt handelt.38 Für Taten anderer, die uns nicht zuzurechnen sind, stehen wir strafrechtlich nicht in der Haftung39 – schon gar nicht dann, wenn Taten anderer nur für die Zukunft vermutet werden und – psychologisch denkbar unplausibel – angeblich von einem an sich untadeligen Verhalten angestoßen werden sollen.40 Diese Wertung der Strafrechtsdogmatik sollten wir auch auf der Ebene der Normbegründung anerkennen und eine Bestrafung ex iniuria tertii41 als illegitim einstufen.42 Denn sonst verlassen wir die Basis personaler Unrechtszuschreibung und billigen zudem ein Strafrechtsgut, das vom Normsetzer fast immer legitimierend eingesetzt werden kann, und das einen stark „freiheitsfeindlichen Charakter“43 hat.

3. Normerosion durch Normschutz Ein genauer Blick auf die Normschutzthese muss uns zudem erkennen lassen, dass sie genau das bewirkt, wovor zu schützen sie uns verspricht: jüngst Deutscher Presserat Praxis-Leitfaden, Berichterstattung über Amokläufe – Empfehlung für Redaktionen, 2010, S. 35. 38 Und der auf dem Feld der „Organentnahme bei Anenzephalen“ sogar einen erheblichen Erfolgswert schafft, indem er die Gesundheit der organbedürftigen Kleinstkinder weitgehend wiederherstellt. 39 Diese Selbstverständlichkeit ist denn auf dogmatischer Ebene auch anerkannt; die Zurechnungssperre geht sogar noch weiter: vgl. nur Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 233 ff, 312; Hörnle Grob anstößiges Verhalten – Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 184 ff; Jakobs ZStW 89 (1977), 5 ff; Naucke ZStW 76 (1964), 424 ff; Otto FS Maurach, 1972, 96; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 155; Roxin FS Tröndle, 1989, 179 ff; Wehrle Fahrlässige Beteiligung am Vorsatzdelikt – Regressverbot, 1986, S. 32; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 1999, S. 329 f. 40 Und ohnehin wären die Wirkungen dieser Taten, um eine Formulierung des BVerfG aufzugreifen, „schwer von den Wirkungen anderer Einflüsse isolierbar und daher nicht ohne weiteres greifbar“ (BVerfGE 120, 224 [244]). Roxin kritisiert zu Recht, dass der Senat ein derart bemakeltes „Schutzgut“ gelten lässt (StV 2009, 546). 41 Dagegen wendet sich auch Roxin FS Hassemer, 2010, 587 – unter Verweis auf Anastasopoulou Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, 2005, S. 178–194. 42 Roxin FS Hassemer, 2010, 586 f. 43 Schütze (Fn. 33) S. 284.

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eine Erosion des Primärverbots.44 Das wird besonders deutlich, wenn wir die erweiterte Zuschreibung von Menschenwürde betrachten. Schreibt man dem Embryo zum Zwecke des Normenschutzes Menschenwürde zu, dann ist damit zugleich – wie bei genuiner Menschenwürde lebender Personen – eine Verrechenbarkeit dieser Position ausgeschlossen. Verbrauchende Embryonenforschung, mag sie für andere noch so heilsbringend sein, wäre für den Embryo nur tödlich und mit der Zuschreibung von Menschenwürde unvereinbar. Seelmann hat das sehr klarsichtig auf den Punkt gebracht: „Eine mit Rücksicht auf den Normschutz vorgenommene Erweiterung eines nicht verrechenbaren Rechts, des Rechts auf Wahrung der Menschenwürde, muss sich ihrerseits gerade um des spezifischen Falles von Normenschutz an dieser Nichtverrechenbarkeit orientieren. Denn die Norm, die man schützen will, ist im unmittelbaren Anwendungsbereich nicht verrechenbar. Wie soll sie dann aber in diesem Inhalt der Unverrechenbarkeit geschützt werden können, wenn man ihre Anwendung auf Fälle ausdehnt, in denen sie zur Verrechnung stehen kann?“45 Wenn aus Gründen des Normschutzes dem Embryo Menschenwürde zugeschrieben und diese Rechtsposition zugleich für abwägbar erklärt wird, kann die auf den Normschutzgedanken gestützte Erstreckung der Menschenwürde den ihr zugedachten Schutz folglich nicht erfüllen. Vielmehr sorgt die Erstreckung umgekehrt dafür, dass es mit den Embryonen nun Menschenwürdeträger gibt, die einer Verrechenbarkeit unterliegen. Was den Verfechtern der Normschutzthese als attraktiver Kompromiss erschien, der die Praxis staatlichen Strafens mit den Gefühlen und dem Schutzwillen der Bürger versöhnen sollte, kehrt sich ins Gegenteil und erweist sich als Gefahr für die zu schützende Norm. Das vermag auch das Beispiel der anenzephalen Neugeborenen zu veranschaulichen. Schreibt man den Anenzephalen (ohne Groß- und Mittelhirn) ein Lebensgrundrecht zu, damit zum Zwecke des rechten Normbewusstseins alle lebenden Menschen gleiche Lebensgrundrechte haben, dann lässt sich diesen Neugeborenen gegenüber nicht durchhalten, was die Rechtsgemeinschaft dem Träger eines wahren Lebensgrundrechts schuldet. Wie gesagt werden Anenzephale weltweit in keiner Klinik am Leben erhalten – obwohl das zumindest einige Monate möglich wäre. Was für ein Lebensgrundrecht ist das, das die mögliche, leidlose und zeitlich erhebliche Lebensverlängerung nicht gebietet? Ein Grundrecht zweiter Klasse, das die 44

v. Freier Recht und Pflicht in der medizinischen Humanforschung – Zu den rechtlichen Grenzen der kontrollierten Studie, 2009, S. 274. 45 Seelmann in: Holderegger/Pahud de Mortanges (Hrsg.), Embryonenforschung – Embryonenverbrauch und Stammzellenforschung – Ethische und rechtliche Aspekte, 2003, S. 39; ders. in: Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S. 76; zustimmend v. Freier (Fn. 44) S. 274.

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Geltung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht stützt, sondern nach der Logik drohender Normerosion gerade gefährdet.46 Weil es nun aber stets so liegt, dass das allein zu Normschutzzwecken geschützte Objekt weit, nämlich im entscheidenden Legitimationsgrund hinter dem von der Primärnorm geschützten Gut zurückbleibt, sind Abstriche am Schutzumfang wohl unvermeidlich. Es ist daher nie die eigentliche und primäre Norm, die mit der Ausdehnung der Strafbarkeit geschützt wird, sondern eine ganz eigenständige und andere. Und diese Norm muss dann auch eigenständig und anders legitimiert werden.47 Wenn das „Theorem des Normschutzes“ nach allem normativ nicht begründbar ist, dann stellt es sich uns dar als „ein pragmatisches (und temporäres) Zugeständnis“48 an die normtheoretisch abgelehnten Verhältnisse und folglich als ein Dammbruchargument im neuen Gewande. Das führt uns zur empirischen Plausibilität des Ansatzes.

IV. Empirisch-psychologische Einwände Wenn wir uns auf das rationalisierte Dammbruchargument in Form des Normschutzargumentes einlassen, dann müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, was der Philosoph Hegselmann für Dammbruchargumente zutreffend betont und was für Normschutzargumente ganz genauso gilt: Die Möglichkeit, dass „moralisch etwas dramatisch schiefgehen könnte“, besteht „überall und jederzeit“.49 Es geht also nie darum, die Gefahr einer Normerosion ganz auszuschließen, sondern stets darum, sie möglichst gering zu halten. Für uns entscheidend ist dabei, dass die Gefahr einer Normerosion am geringsten ist, wenn man die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem an 46

Zu nötigen weiteren Abstrichen vom Lebensgrundrecht der Anenzephalen vgl. Scheinfeld (Fn. 36) S. 169 ff – Ferner ist anzumerken: Was uns beim tödlichen Umgang mit Anenzephalen doch nur beunruhigen kann, ist die Möglichkeit des Irrtums über die Erlebensfähigkeit des Kindes. Die Folgen eines solchen Irrtums sind aber bei Gestattung des allgemein praktizierten Unterlassens (des Verhungernlassens) viel schlimmer als bei Zulassung des Tuns (aktives Töten). Schon deswegen leuchtet es vor dem Hintergrund des Normschutzes nicht ein, nur das aktive Töten zu verbieten. 47 Man könnte beispielsweise direkt auf die Gefühle derjenigen Bürger abheben, die von der jeweiligen Praxis (etwa der verbrauchenden Embryonenforschung) emotional beeinträchtigt werden. Das ist aber in einer pluralistischen Gesellschaft jenseits von nachvollziehbaren Bedrohungsgefühlen, die hier nicht in Rede stehen, überaus problematisch (ablehnend Roxin AT I § 2 Rn. 26 ff; eingehend Hörnle [Fn. 39] S. 78 ff). 48 v. Freier (Fn. 44) S. 273 – temporär deshalb, weil man nicht dauerhafte Inkompetenz in der Beurteilung der an sich richtigen Normbildung unterstellen darf (ebenda, S. 277). 49 Hegselmann in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie – Beiträge und Stellungnahmen, 1992, S. 197 (208 – Regel 2).

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der sachlich plausibelsten Stelle zieht. Denn dann versprechen die Hemmungsgründe die größte Kraft zu entfalten, weil jeder sie – eben wegen ihrer Plausibilität – am ehesten für sich und als Leitlinien für sein Verhalten akzeptieren kann. Ist die Grenze an der richtigen Stelle gezogen, kann sich der einzelne sagen, dass das Recht eine gerechte und ausgewogene Regelung trifft, der man den Gehorsam nicht versagen sollte, denn es gibt ja keine bessere. Würde man hingegen – zur Vermeidung einer Normerosion – etwa die Organentnahme bei eindeutig erlebensunfähigen Anenzephalen bei Strafe verbieten und bestrafen, müssten sich die Akteure doch sagen: „Hier sollen jetzt andere Kinder, die organbedürftig sind, ihr Leben lassen müssen, obwohl wir uns – für diese Fälle – einig sind, dass den Anenzephalen kein Unrecht geschieht. Das erscheint mir unzumutbar, und bei dieser Unterlassung mache ich nicht mit!“ Wenn sich der Akteur der „an sich zulässig, aber dennoch verboten“-Argumentation bewusst ist, dürfte es ihm psychologisch eher schwer fallen, die zu Normschutzzwecken strikt aufgestellte Norm zu befolgen, weil es ja, wie er weiß, für diesen Fall keine durchgreifenden Sachgründe gibt, die lebensrettende Hilfe zu unterlassen. Kommt es dann zur Missachtung des Verbots und zur Vornahme der Organentnahme,50 ist sogar ein Normbruch in der Welt. Dieser Normbruch, den die „ungerechte“ Regelung provoziert hat, könnte ebenfalls eine gewisse Normerosion bewirken. Die Akteure könnten zu der Einstellung gelangen, dass die eigenen Maßstäbe offenbar gerechter als die gesetzlichen seien, weshalb nicht diese, sondern viel öfter jene gelten sollten. Zum Schutz vor Normerosionen ein Verbot über seine eigentliche Legitimation hinaus auszudehnen, ist nicht richtig. Die Grenze zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten wird von den Verfechtern der Normschutzthese wenig plausibel und nachgerade kontraproduktiv gezogen.51 Die größte Eignung dazu, eine Normerosion zu verhindern, besteht nicht dann, wenn wir an irgendeiner recht beliebigen Stelle das Risiko der Normerosion entscheidend sein lassen und ein Verbot aussprechen, vielmehr ist die Hemmungseignung dann am größten, wenn wir die Grenze an der sachlich überzeugendsten Stelle ziehen. Da Risiken der Normerosion mit jeder Erlaubnis oder Ausnahme verbunden sind, würde es die Gefahr der Normerosion geradezu steigern, wenn wir die Grenze nun auch noch sachlich verfehlt zögen. Die hemmende Kraft der Vernunft, die die sachlich plausible Grenze verteidigt, würde preisgegeben, ohne dass ein Gewinn zu verzeichnen wäre. 50

Wie 1984 und 1987 in Münster (vgl. dazu Holzgreve/Beller Clinical Obstetrics and Gynecology 35 [1992], 821 ff). 51 Für den „Schutz des Tötungstabus“ als Legitimation des § 216 StGB ähnlich Kubiciel JZ 2009, 602.

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Hemmend wirken könnte dann höchstens noch das Drohen einer Sanktion. Aber diese Hemmungen bestehen ja auch und zusätzlich, wenn man das Verbot an der sachlich einleuchtenden Stelle setzt. Die Grenze zur Unplausibilität hin zu verschieben, hätte also psychologisch nur Nachteile (ganz abgesehen von den normativen und tatsächlichen Kosten, die mit der Festschreibung „ungerechten“ Rechts verbunden sind).52 Die Kontraproduktivität einer anderen als der plausibelsten Grenzziehung würde sich zudem verbinden mit einer gewissen Arroganz gegenüber denjenigen, die an der Praxis beteiligt sind und die wir in der Gefahr sehen, der Verführungskraft der Weiterungen zu erliegen. 53 Denn im Grunde heißt der Hinweis auf eine Gefahr der Normerosion ja: „An sich halte ich die Praxis X für legitim und für plausibel legitimierbar; ihr Beteiligten hingegen werdet nicht erkennen, dass es sich um die beste oder um die plausibelste Grenzziehung handelt, zumindest werdet ihr es nicht durchhalten können, die Grenzüberschreitung zu vermeiden.“ Zu solcher Arroganz besteht aber kein Anlass. A priori spricht nichts dafür, dass die an einer Praxis Beteiligten weniger gut erkennen können, dass die gewählte Grenze richtig gezogen worden ist; und wenn die Beteiligten überhaupt eine Grenzüberschreitung vermeiden können (und das setzt das Normschutzargument stets dann voraus, wenn schon eine der zu verbietenden Praxis ähnelnde Praxis besteht – im Vergleich zum Anenzephalenbeispiel ist dies etwa die Organentnahme von ganzhirntoten Säuglingen), dann können sie die Grenzüberschreitung doch wohl am ehesten in dem Fall vermeiden, wo ihnen die Grenzziehung als plausibel einleuchtet oder einleuchten sollte. – Und ganz allgemein und normentheoretisch muss man wohl einwenden, dass eine Rechtstheorie, die ihren Ausgang bei einem Menschenbild der autonomen und normativ ansprechbaren Person nimmt, keine Normbegründungen akzeptieren darf, die sich den Normadressaten denkt als ein bloß irgendwie zu motivierendes Objekt oder als einen „symbolisch zu vertröstenden Normunterworfenen“.54 Wenn wir es oben als normativ verfehlt rügen mussten, einem untadelig Handelnden die bloß befürchteten schlimmen Taten anderer zuzurechnen, dann kehrt dies hier auf psychologisch-empirischer Ebene wieder: Es leuchtet schlicht nicht ein, dass ein untadeliges Verhalten zu beklagenswerten Taten verführen sollte. Die Verfechter von Normschutzargumenten ähneln deshalb dem, der den Konsumenten von Schokoladenzigaretten für das 52

Am Beispiel der Entnahme von Organen anenzephaler Neugeborener: Kommt es zum Verstoß gegen die sekundäre Norm (Normschutznorm), wird jemand bestraft, der nichts Verwerfliches getan hat; unterbleibt die Organentnahme in Befolgung der Normschutznorm, versterben Kleinkinder, die mit der Organübertragung hätten gerettet werden können. 53 Vgl. dazu Schauer Harvard Law Review 99 (1985), 373; ähnlich v. Freier (Fn. 44) S. 274 ff. 54 v. Freier (Fn. 44) S. 275.

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Rauchen anderer Leute verantwortlich machen will. Weil die psychologischen Implikationen der Normschutzthese sehr fraglich sind, scheint mir hier wiederum ein Satz des Jubilars zu passen: „Auf eine rein hypothetische, empirisch nicht im geringsten abgestützte Annahme“ lasse sich „keine Strafbarkeit gründen.“55 Weshalb der Normschutz sich auch bei psychologisch-empirischer Betrachtung nicht als Strafrechtsgut empfiehlt.

V. Verfassungsrechtliche Folgerungen Wenn das „Strafrecht“ tatsächlich „als Seismograph der Verfassung“ gelten darf,56 dann ist es höchste Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht eine aus dem Grundgesetz entwickelte Theorie des legitimen Strafens formt. Diese Theorie würde dann etwa auf dem Gebiet der Eugenik zu Folgendem führen: Einem genetisch geschädigten Ehepaar die Fortpflanzung zu verbieten, weil es wahrscheinlich ein geschädigtes Kind zeugen würde, ist dem Staat nicht erst deshalb verwehrt, weil das Verbot im Einzelfall „unangemessen“ ist (etwa wenn eine Adoption ausscheidet), sondern schon deshalb, weil die Verfolgung eugenischer Gesichtspunkte – einmal abgesehen von Fällen extremen Leidens der Nachkommen –57 dem Staat nicht zusteht und daher schon ganz generell kein „legitimer Gesetzeszweck“ im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist.58 Es wäre dann zugleich klargestellt, dass eugenische Gesichtspunkte auch beim Geschwisterinzest keine Legitimation hergeben. Was nun den „Normschutz als Strafrechtsgut“ betrifft, so dürften unsere Einwände auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht durchschlagen und die Verfassungswidrigkeit einer solchen Zweckverfolgung ergeben: Die insoweit stärksten Gründe sehe ich darin, dass erstens der Verstoß gegen die Sekundärnorm (Normschutznorm) die Primärnorm gar nicht antastet und folglich auch keinen Normgeltungsschaden verursacht und dass es zweitens schlechterdings nicht angeht, diejenigen, die sich untadelig verhalten, zur Verhinderung einer Normerosion leiden zu lassen, obwohl letztlich dritte Personen die Normerosion zu verantworten haben und sich zwischen beiden Personengruppen kein Band der Zurechnung findet.59 Über diese beiden 55

Roxin StV 2009, 546. Landau FS Strauda, 2006, 216. 57 Hörnle NJW 2008, 2087; Merkel in: Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, 2000, S. 185 ff. 58 So eindringlich Hassemer abweichende Meinung zur Inzest-Entscheidung, BVerfGE 120, 224 (255 ff, 258 f); dem stimmt Roxin zu, StV 2009, 547. 59 Dass eine Rechtsordnung, die zu diesem Mittel greift, an Humanität gewönne (vgl. oben im Text nach Fn. 25), lässt sich wohl nicht sagen. 56

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Einwände hinaus dürfte eine solche Normschutzstrafe mit dem „Menschenbild der Verfassung“60 nicht vereinbar sein. Die Verfassung respektiert die Bürger als mündige und (gerade auch indem es staatliches Strafen und Strafe-Androhen zulässt) als normativ ansprechbare Personen. Damit geht es nicht überein, den Bürger mit der Begründung zu bestrafen, er könne sein Verhalten nicht auf ein streng zweckbegrenztes Verbot abstimmen. Obendrein dürfte sich eine solche Strafbegründung nicht mit dem Demokratieprinzip vertragen. Denn wenn alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), müsste das Volk – nach der Normschutzthese – dem Parlament die Straflegitimation deshalb übertragen, weil es sich selbst (das Volk) hier und da für zu unverständig hält, gewisse plausible (!) Verbote und normative Differenzierungen zu begreifen.61 Das ist prima facie eine recht abwegige These. Das Volk würde zudem, wenn es seiner Verstandeskraft schon selbst nicht recht traut, zwingend auf die mildere Möglichkeit staatlicher Aufklärung über „die Richtigkeit des Rechts“ setzen und also eine rein normschützende Strafe als „nicht erforderlich“ ablehnen: Was sich an normativer Differenzierung plausibel begründen lässt, lässt sich „dem Volk“ auch erklären. Es kommt hinzu, dass auf vielen der für die Normschutzthese einschlägigen Gebiete (Sterbehilfe, Transplantationsmedizin, verbrauchende Embryonenforschung etc.) Akteure beteiligt sind, denen es zugetraut und zugemutet werden darf, die Begründung einer streng zweckbezogenen und rechtsethisch vorzugswürdigen Primärnorm nachzuvollziehen. Mit Blick auf diese Thesen gegen die Normschutzthese habe ich die begründete Hoffnung, dass der Jubilar ihnen zustimmen wird. Denn er hat sich in seiner Besprechung der Inzest-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diese Richtung vernehmen lassen: Der verfassungsrichterliche Senat gesteht zu, dass das vorgebliche Schutzgut „Familie“ im Fall des Beschwerdeführers nicht berührt ist; gleichwohl heißt er eine Bestrafung auch in solchen Fällen mit der Begründung gut, dass eine Strafvorschrift „ihr Gewicht“ gewinne „durch die Absolutheit, mit der sie die umfassende und situationsunabhängige Beachtung“ einfordere;62 der Senat findet es also in der verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine Strafvorschrift „absolut“ und „umfassend“ zur Bestrafung führt, obwohl die zugrunde gelegten (eigentlichen) Schutzzwecke dies nicht erfordern (und das kommt der Normschutz60

Hier ist der Topos unverdächtig, weil er sich nicht in missbräuchlicher Weise gegen ein Grundrecht wendet, sondern als Grundrechtsverstärker dient (zu diesem ursprünglichen und eigentlichen Sinn vgl. BVerfGE 7, 198). 61 Erst recht greift dieser Einwand, wenn man in rechtsphilosophischer Hinsicht der Theorie vom Gesellschaftsvertrag folgt (vgl. dazu bei Roxin FS Hassemer, 2010, 577 f); Schünemann in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 137 f). 62 BVerfG 120, 224 (251).

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these doch zumindest sehr nahe). Zu diesem Punkt der Entscheidung bemerkt Roxin nur lakonisch: „Das ist ein ernsthaft nicht vertretbarer Gedanke.“63 Und diese Bewertung bestätigt meines Erachtens für die Normschutzthese die vorstehende Analyse.

VI. Schlussbemerkung Dass manche Taten allein deswegen bestraft werden, um fundamentale Normen der Rechtsordnung vor Erosion zu schützen, ist vermutlich eine korrekte Beschreibung der Rechtswirklichkeit. Doch vermag diese Normschutzthese in normativ-legitimatorischer Hinsicht nicht zu befriedigen. Als Grund für eine rein normschützende Bestrafung bleibt letztlich nur ein empirisches Faktum: der Wille der Mehrheit. Im Mehrheitswillen liegt aber kein hinreichender Grund, der den Einsatz gerade des Strafrechts legitimieren könnte. Das hat auch der Jubilar plausibel gemacht. 64 So wie „der Nutzen vieler“ ihnen „kein Recht gegen einen“ gibt, 65 so gibt der bloße Wille vieler diesen kein Recht zur Bestrafung der Abweichler – solange es an einem Schaden fehlt. Ein Strafrechtsgut des Normschutzes ist daher nicht anzuerkennen. Wieder einmal hat mir die Lektüre Roxin’scher Texte ein Licht aufgesetzt und mir problematische Sachfragen erhellt. Anders kenne ich es übrigens auch nicht. Im Grunde begleitet mich der Jubilar in dieser Weise seit meinem Studium, ja sogar seit meiner ersten Vorlesungsstunde. Mit Nachdruck hat damals Rolf Dietrich Herzberg in seiner Vorlesung zum Allgemeinen Strafrecht die Lektüre des Roxin’schen Lehrwerks empfohlen: Es sei „so gut geschrieben, dass man es abends im Bett lesen“ könne. Wenn auch nicht im Bett, so doch auf dem Sofa und am Schreibtisch, habe ich mich tatsächlich gerne und stets mit Gewinn in die eindringlichen Gedanken des Jubilars versenkt und mir die Welt des Strafrechts von ihm öffnen lassen. Möge der verehrte Jubilar mich weiterhin und in gewohnter Manier über vieles ins Bild setzen! Die dafür nötige Schaffenskraft wünsche ich ihm von ganzem Herzen.

63

Roxin StV 2009, 549 – unter Verweis auf Hörnle NJW 2008, 2087. Roxin FS Hassemer, 2010, 593. 65 Kant Reflexion über Moralphilosophie Nr. 6586 (XIX, 97); ebenso Köhler AT S. 283. 64

Gibt es Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts? LUÍS GRECO

I. Einleitung1 Zu den Leitmotiven des wissenschaftlichen Werks des Jubilars, also zu den Themen, die man weltweit sofort mit seinem Namen verbindet, gehören nicht nur die objektive Zurechnung und die Tatherrschaft, sondern auch der Rechtsgutsbegriff. Schon in „Täterschaft und Tatherrschaft“ schloss er sich – anlässlich der Erörterung der eigenhändigen Delikte – der Rechtsgutstheorie an.2 Der von ihm mitverfasste Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs (AE 1966) stellte die dort vorgeschlagene Liberalisierung des Sexualstrafrechts unter die Flagge des Rechtsgüterschutzes,3 und so verhielten sich auch die Stellungnahmen des Jubilars zur Strafrechtsreform.4 In letzter Zeit ließ er nicht davon ab, den Rechtsgutsgedanken trotz der immer lauter zu vernehmenden Kritik zu verteidigen.5 Nach einer Verankerung der Theorie an staatsphilosophischen Überlegungen (letztlich an der Sozialvertragslehre),6 erwartet er von ihr nicht nur dogmatische Leistungen bei der Konstruktion des Systems und der Grundbegriffe der Straftatlehre,7 sondern vor allem bei kriminalpolitischen Fragen, also bei Fragen über die Angemessenheit und Legitimität von Strafrechtsvorschriften. Wie schon zur Zeit der Strafrechtsreform soll das Rechtsgut u. a. bloße Moralwidrigkeiten – dies auch entgegen dem Bundesverfassungsgericht und seiner InzestEntscheidung8 – aus dem Bereich des Strafbaren ausschließen und paternalistischen Vorschriften entgegenstehen; insbesondere ist es nicht mit der 1

Der Verfasser bedankt sich bei Prof. Dr. R. Hefendehl für wertvolle Hinweise. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 2006, S. 413 ff. 3 Baumann u. a. Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches AT, 1966, § 2 I: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter ...“. 4 Insbesondere Roxin Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 13 ff, 42 ff. 5 Roxin in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, 2005, S. 145 ff; ders. AT I § 2 Rn. 109 ff; ders. FS Hassemer, 2010, 561 ff. 6 Roxin in: Hefendehl (Fn. 5), S. 138; ders. AT I § 2 Rn. 8; ders. FS Hassemer, 2010, 566. 7 Ausführl. Roxin Libro Homenaje a Polaino Navarrete, im Erscheinen. 8 Roxin FS Hassemer 2010, 568 ff. und näher ders. StV 2009, 544 ff. 2

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ratio legis zu identifizieren und umfasst keine Schutzobjekte, die „ungreifbar abstrakt“ sind. 9 Die Rechtsgutslehre muss deshalb ermöglichen, echte von bloßen Scheinrechtsgütern zu unterscheiden. Zu den vom Jubilar als solche gekennzeichneten Scheingütern gehören die Volksgesundheit (bei den Tatbeständen des BtMG), der öffentliche Friede (bei §§ 130, 166 StGB), die Leistungsfähigkeit des Versicherungswesens (bei § 265 StGB) und das Subventionswesen als solches (§ 264 StGB).10 Die vorliegende, dem Jubilar gewidmete Abhandlung befasst sich allein mit der an letzter Stelle benannten Aufgabe des Rechtsgutsbegriffs. Denn die Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz von Rechtsgütern ist wenig aussagekräftig, wenn Rechtsgüter frei erfindbar sind. Soll die Rechtsgutslehre ihrem strafrechtsbegrenzenden Anspruch gerecht werden – der von Kritikern zunehmend angezweifelt wird11 – dann muss sie sich die Frage stellen, ob es für die Postulierung eines neuen kollektiven Rechtsguts allgemeine Kriterien gibt.12

II. Das Problem Kollektive Rechtsgüter machen es dem Gesetzgeber leicht. Beruft er sich nicht auf ein individuelles, sondern auf ein kollektives Rechtsgut als Schutzgegenstand einer Strafvorschrift, wird es für ihn einfacher, sowohl einen weitergehenden Schutz – sei es durch ein früher einsetzendes Verbot, sei es durch den früheren Eintritt der Vollendung (zwei Formen der sog. Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes), sei es durch die Irrelevanz der

9 Roxin in: Hefendehl (Fn. 5) S. 141 f, 143; ders. AT I § 2 Rn. 17 ff, 32 ff, 46 ff, 75 ff; ders. FS Hassemer, 2010, 567, 568. 10 Roxin AT I § 2 Rn. 46, 47 ff, 76, 77. 11 Nachweise s. u. Fn. 19. 12 Zur Notwendigkeit der Ausarbeitung von Kriterien Hirsch in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklung im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 15; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 166. Auch wenn man der Ansicht ist, dass die Problematik der sog. bloßen Moralwidrigkeiten und des Paternalismus besser mit anderen Kategorien als der des eigentlich zweckmäßigkeitsbezogenen Rechtsguts zu lösen ist (Greco Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 349 ff; ders. ZIS 2008, 234 ff; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts, 2010, S. 63 ff), bedeutet das nicht, dass man bei der Rechtfertigung von Verboten auf Zweckverfolgung, also auf Rechtsgüterschutz verzichten darf – sonst wäre man bei der Pflichtverletzungslehre, deren Unrichtigkeit im Vorliegenden vorausgesetzt werden muss. Will man Verbote durch Zwecke rechtfertigen, muss man unter den logisch denkbaren Zwecken diejenigen ausschließen können, die zur Rechtfertigung einer Strafvorschrift nicht taugen. Dieser Frage widmet sich die vorliegende Abhandlung.

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Einwilligung des unmittelbar Betroffenen – als auch strengere Strafandrohungen zu rechtfertigen.13 Dies soll anhand dreier Beispiele gezeigt werden: 1. Der Tatbestand des § 265b StGB („Kreditbetrug“) vertypt einen Ausschnitt eines Betrugs, dessen Vollendung aber bereits mit der Täuschungshandlung eintritt und nicht erst mit dem Schaden, wie es bei der dem Schutz eines Individualrechtsguts dienenden Vorschrift des Betrugs (§ 263 StGB) der Fall ist. Diese Asymmetrie wird insbesondere durch die Behauptung gerechtfertigt, dass der Betrug nur das individuelle Vermögen, der Kreditbetrug dagegen (zumindest auch) das Kollektivrechtsgut der Funktionsfähigkeit des Kreditwesens schützt.14 2. Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 BtMG, die das Handeln mit Betäubungsmitteln unter Strafe stellt, soll nach h. M. das kollektive Rechtsgut der Volksgesundheit schützen.15 Der Tatbestand des Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 („Handeltreiben“) wird bekanntlich schon durch jede eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit verwirklicht.16 Angedroht wird eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe. Die Einwilligung des Empfängers des Betäubungsmittels ist unbeachtlich.17 Der das entsprechende Individualrechtsgut schützende Tatbestand, nämlich § 223 StGB, setzt demgegenüber die objektiv zurechenbare Verursachung einer körperlichen Misshandlung oder Gesundheitsschädigung voraus und droht ebenfalls bis zu 5 Jahre Freiheitsentzug oder Geldstrafe an. Die Einwilligung ist nur ausnahmsweise (§ 228 StGB) unbeachtlich. 3. Die Vorschrift des § 316a StGB („räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“) droht für den Angriff gegen Leib, Leben oder die Entschlussfreiheit eines Kraftfahrers – also für den Versuch einer Körperverletzung oder Nötigung, ohne dass es auf den Erfolg ankommt –, der unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs erfolgt und auf die Begehung eines Raubes oder raubähnlicher Delikte gerichtet ist (m. a. W.: der eine Vorbereitungshandlung oder höchstens den Versuch eines solchen Tatbestands darstellt), eine Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren an. Die Strafdro13 Zur Legitimationswirkung von kollektiven Rechtsgütern ausführl. Krüger Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, 2000, S. 57 ff; ferner Volk JZ 1982, 87 f; Hassemer NStZ 1989, 557; Seelmann KritV 1992, 453 f; Weigend FS Triffterer, 1996, 699 f. 14 BT-Drucks. 7/5291, S. 14; aus der Lit. Bottke wistra 1991, 17 f; Lackner/Kühl § 265b Rn. 1; Lampe Der Kreditbetrug (§§ 263, 265 b StGB), 1980, S. 37 ff, wenn auch krit.; ders. FS Tiedemann, 2008, 101; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron § 265b Rn. 3; LK-Tiedemann § 265b Rn. 9; ders. Wirtschaftsstrafrecht BT Rn. 17; MüKo-Wohlers § 265b Rn. 1; aus der Rspr. OLG Stuttgart NStZ 1993, 545; OLG Celle wistra 1991, 359. 15 R. Schmitt FS Maurach, 1972, 125; Malek BtMG Kap. 2 Rn 2; Körner BtMG AMG § 29 BtMG Rn. 236 ff; Weber BtMG § 1 Rn. 3 ff. 16 BVerfG NJW 2007, 1193; BGHSt 50, 252 (256); zust. m. w. N. Weber BtMG, § 29 Rn. 153. 17 Statt aller Weber BtMG, vor § 29 Rn. 1445.

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hungen bei den dem Schutz individueller Rechtsgüter bezweckenden Tatbeständen, die einen Verletzungserfolg voraussetzen, sind dagegen bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe bei der Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB), bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe bei der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) und mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe beim Raub (§ 249 Abs. 1 StGB). Die Vorschrift des § 316a StGB wird durch das Rechtsgut der Sicherheit des Straßenverkehrs gerechtfertigt.18 Unter Zugrundelegung eines Individualrechtsguts wären die drei angesprochenen Vorschriften vermutlich nicht haltbar. Dieses Potenzial kollektiver Rechtsgüter, Probleme des Gesetzgebers zu lösen, ist der Grund dafür, dass sie für die Wissenschaft zum Problem wurden. Kritische Stimmen sind auf mehreren Ebenen zu vernehmen: Auf einer fundamentalsten Ebene bewegen sich die Autoren, die wegen dieses Problems bereits die Rechtsgutslehre für bedenklich erachten.19 Diese fundamentalere Kritik muss indes in der vorliegenden Abhandlung ausgeklammert werden. Hier sei nur angemerkt, dass, wenn man Strafvorschriften mit einem Hinweis auf zu erreichende Schutzwirkungen begründet – worauf kaum einer verzichtet –, man sich implizit schon sehr nahe an der Rechtsgutslehre befindet und dass auch die wichtigste Konkurrentin dieser Lehre, nämlich die Rechtsverletzungslehre, mit vergleichbaren Problemen zu ringen hat.20 Die Kritik, mit der sich die Abhandlung befassen will, bewegt sich deshalb auf einer weniger fundamentalen Ebene. Für die hier interessierende Kritik liegt das Problem nicht bei der Rechtsgutslehre, sondern nur bei den kollektiven Rechtsgütern: Entweder werden kollektive Rechtsgüter allgemein unter Verdacht gestellt (so die personalen Rechtsgutslehren, u. IV.), oder es werden einige von ihnen, häufig sog. Scheinrechtsgüter, einer Kritik unterzogen (u. V.). Zunächst ist eine Klarstellung des Begriffs des kollektiven Rechtsguts angebracht (u. III.).

18 Günther JZ 1987, 377; Lackner/Kühl § 316a Rn. 1; MüKo-Sander § 316a Rn. 2; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Hecker § 316a Rn. 1; aus der Rspr. BGHSt 49, 8 (11); 52, 44 (46). 19 Jakobs ZStW 97 (1985), 752 ff; aus der Sicht der Rechtsverletzungslehre Naucke KritV 1993, 137 f; ders. Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 415; E. A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 148. 20 Ausführl. Greco (Fn. 12) S. 309 ff, 333 ff.

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III. Begriff des kollektiven Rechtsguts Überwiegend wird der Begriff des kollektiven Rechtsguts nicht definiert, sondern schlicht vorausgesetzt.21 So liest man, kollektive Rechtsgüter seien diejenigen, deren Träger nicht der Einzelne ist, sondern die Allgemeinheit,22 was selbstverständlich nicht falsch ist, dennoch wenig weiterführt. Vereinzelt wird versucht, diesen Bezug zur Allgemeinheit zu präzisieren. Insbesondere Hefendehl führt in Anlehnung an Alexy die Kriterien der „NichtAusschließbarkeit von der Nutzung“, der „Nicht-Rivalität des Konsums“ und der „Nicht-Distributivität“ an:23 „Nicht-Ausschließbarkeit von der Nutzung“ bedeutet, dass niemand von der Nutzung des Gutes ausgeschlossen werden kann; „Nicht-Rivalität des Konsums“ meint, dass die Nutzung durch A die durch B weder beeinträchtigt, noch erschwert; und „Nicht-Distributivität“ heißt, dass es begrifflich, tatsächlich oder rechtlich unmöglich ist, das Gut in Teile zu zerlegen und diese den Individuen als Anteile zuzuordnen. Plausibel als Definiens eines Kollektivrechtsguts dürfte allein das dritte Kriterium sein, das der „Nicht-Distributivität“ oder „Nicht-Teilbarkeit“.24 Denn die „Nicht-Rivalität des Konsums“ lässt sich nicht auf nicht konsumierbare Güter anwenden.25 Die „Nicht-Ausschließbarkeit von der Nutzung“ scheint eine Folge der „Nicht-Teilbarkeit“ oder eine Neubeschreibung von ihr zu sein. Ein Rechtsgut ist deshalb als kollektiv anzusehen, wenn es sich nicht in einzelnen Individuen zuzuordnende Anteile spalten lässt. Die Rechtspflege ist ein kollektives Rechtsgut, weil sie jedem Bürger auf gleiche Weise zusteht. Die Reinheit der Luft ist ein kollektives Gut, weil es keine Teile der Luft gibt, die dem Individuum A, andere, die B oder C zustehen, sondern weil jeder das Recht hat, die Luft als Ganzes zu atmen. Dagegen ist eine Erbmasse ein individuelles Gut, weil es Anteile gibt, die dem jeweiligen Erben zustehen.

21

Vgl. MüKo-Radtke Vor § 38 ff Rn. 2; Satzger/Schmitt/Widmaier-Kudlich Vor § 13 ff Rn.

5. 22

Z. B. NK-Hassemer/Neumann Vor § 1 Rn. 127; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vor § 13 Rn. 9. 23 Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 111 f; ders. in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 126 f; Alexy Internationales Jahrbuch für Philosophie und Gesetzgebung 1989, S. 54 f. 24 Ebenso Alexy (Fn. 23) S. 54 f; Koriath GA 1999, 564; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 123. Auf die Nicht-Ausschließbarkeit stellt dagegen Kuhlen ZStW 105 (1993), 704 ab. 25 Vgl. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 113, der als Beispiel die Sicherheit des Geldes anführt.

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IV. Der allgemeine Angriff der personalen Rechtsgutslehren Man verstehe unter personaler Rechtsgutslehre die These, nach der jedes zulässige Rechtsgut einen Bezug zum Individuum aufweisen muss. Dieser Bezug zum Individuum kann aber, genauer betrachtet, auf zwei Weisen gedeutet werden, woraus sich zwei Versionen der personalen Rechtsgutslehre ergeben: Zunächst kann er als ein direkter verstanden werden, so dass an sich nur Güter von Individuen, also von „Menschen aus Fleisch und Knochen“ in Betracht kämen. Nach dieser radikalen personalen Rechtsgutslehre dürfen also nur teilbare Güter Gegenstand von Strafvorschriften sein. Kollektive Rechtsgüter gibt es demnach eigentlich nicht.26 Den Bezug zum Individuum kann man dagegen auch als einen indirekten deuten, so dass kollektive, also unteilbare Güter zulässig wären, sofern sie sich auf Individuen zurückführen ließen.27 Demnach würde die Umwelt nicht wegen ihres Eigenwerts geschützt werden, sondern weil sie die Grundlage der Existenz einzelner Menschen ist.28 Die Existenz von Menschen ist etwas Teilbares – jeder existiert für sich – also Individuelles. Diese Deutung der personalen Rechtsgutslehre könnte man als gemäßigte bezeichnen könnte. Dagegen kann die sich auf staatstheoretischer Ebene bewegende Behauptung, dem Staat müsse es immer um die Interessen von Individuen gehen, weil der Staat für den Menschen und nicht der Mensch für den Staat existiert, für die Einordnung als personale Lehre nicht ausreichen.29 Erstens wird diese Behauptung heute kaum noch – auch nicht von den Gegnern der personalen Rechtsgutslehre – in Frage gestellt, 30 so dass sie nicht speziell die personale Lehre auszeichnet, sondern vielmehr auch von ihrer Konkur-

26 Ferrajoli Diritto e Ragione, 5a ed. Roma, 1998, S. 481 (Zitat); Tavares Teoria do injusto penal, 2. Aufl. Belo Horizonte, 2002, S. 216 ff. 27 Hassemer in: Philipps/Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 91 ff; w. N. bei Greco (Fn. 12) S. 314 Fn. 470. 28 Hassemer in: Philipps/Scholler (Fn. 27) 92. 29 Vgl. dennoch Roxin AT I § 2 Rn. 11; ders. in: Hefendehl (Fn. 5) S. 139, der sich aus diesem Grund als Vertreter einer personalen Rechtsgutslehre einordnet, meines Erachtens aber nicht zu Recht. 30 Aus zwei Gründen sage ich „kaum noch“: Zunächst weil es noch die nicht unmissverständliche Äußerung Weigends ZStW 98 (1986), 44 ff, 52 ff, 57 gibt; zweitens weil die zwei Kontexte, in denen es Vorschläge gibt, den strafrechtlichen Schutz von dem Bezug auf menschliche Interessen loszulösen – nämlich der Umwelt- und der Tierschutz – mit der Frage der kollektiven Rechtsgüter an sich nichts zu tun haben. Der behauptete Eigenwert der Umwelt oder der Tiere soll nicht nur von individuellen Menschen, sondern auch von der Allgemeinheit der Menschen unabhängig sein.

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rentin, der dualistischen Rechtsgutslehre akzeptiert wird.31 Zweitens und wichtiger noch ist die Erwägung, dass ein Staat, der immer der Individuen wegen und niemals nur um seiner selbst Willen handelt, eigentlich selber etwas ist, was allen unteilbar zusteht, also ein echtes kollektives Rechtsgut. Der Bezug zum Individuum, den dieser Satz enthält, ist deshalb um eine Stufe indirekter als der Bezug i. S. d. gemäßigten personalen Rechtsgutslehre, weil er durch ein zweites, allgemeineres kollektives Gut eines Staates, der für die Individuen handelt, vermittelt wird. Dieses zweite Gut soll demnach hinter dem von der jeweiligen Vorschrift geschützten spezifischeren Gut stehen. Ein derartiger doppelt indirekter individueller Bezug kann einer personalen Rechtsgutslehre, die sich von der Konkurrenz abheben will, nicht genügen. Die Stellungnahme zur personalen Rechtsgutslehre muss sich deshalb allein mit der radikalen oder gemäßigten Version befassen und nicht mit dieser allgemeineren staatstheoretischen Behauptung. Erweist sich nun nicht einmal die gemäßigte Version als vertretbar, dann muss dieses Urteil erst recht für die einen Schritt weitergehende radikale Version gelten. In der Tat ist nicht einmal die gemäßigte Version überzeugend. Man denke an die Bestechungsdelikte. Gleichgültig, welches Gut man ihnen zugrunde legt – Lauterkeit des öffentlichen Dienstes,32 das Vertrauen der Bevölkerung in die Reinheit der Amtsausübung,33 das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Verwaltung34 usw.35 – lässt sich dieses geradezu musterhaft kollektive, weil unteilbare Gut nicht einmal indirekt auf Individuen zurückführen.36 Man stelle sich einen überlasteten Amtsträger vor, der es nicht geschafft hat, den Akt, auf den ein Bürger einen Anspruch hat, rechtzeitig vorzunehmen, und der für den (längst überfälligen) Erlass des Akts ein Geschenk erhält; man nehme ferner an, der Amtsträger erlässt den Akt nach Feierabend, so dass für niemanden irgendein Nachteil entsteht. Der Bürger ist hier kein Opfer, sondern vielmehr Täter nach § 333 StGB.37 Dabei haben 31

So auch Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 73, 82 („Selbstverständlichkeit“) m. Nachw. zu früheren Vertretern des Gegenstandpunkts auf S. 67 ff. 32 BT-Drucks. 6/3250, S. 258. 33 Kargl JZ 2005, 512; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 321 (zusätzlich zu dem zuletzt genannten Gesichtspunkt). 34 Schönke/Schröder-Heine § 331 Rn. 3: „Funktionsfähigkeit des Staatsapparats“. 35 Von einem „komplexen Rechtsgut“ sprechen Lackner/Kühl § 331 Rn. 1. 36 So auch Kuhlen ZStW 105 (1993), 704; ihm zust. Anastosopolou Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, 2005, S. 43. 37 Ebenso wenig kann man auf Grundlage eines konsequent als wirtschaftlich verstandenen Vermögensbegriffs einen Vermögensschaden bejahen. Zwar hat der Bürger einen rechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Erlass des Akts, dieser Anspruch ist aber wirtschaftlich wertlos; und der Erlass des Akts wird wohl seinen Preis wirtschaftlich wert sein. Deutet man das Vermögen anders, wäre immer noch an eine Einwilligung bzw. ein Einverständnis zu denken.

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andere Bürger, deren Ansprüche vom gleichen Amtsträger ebenso wenig befriedigt werden, keinen Schaden davon, dass er erst außerhalb der Dienstzeiten tätig wird. Der einzig vorhandene individuelle Bezug bewegt sich hier auf der allgemeineren Ebene eines unteilbaren, und deshalb kollektiven Interesses aller Bürger an einem Staatsapparat, von dem man sich keine Sonderbehandlung erkaufen kann. Dies ist aber ein doppelt indirekter individueller Bezug, der – wie gezeigt – für eine personale Rechtsgutslehre, die sich von der dualistischen Rechtsgutslehre unterscheiden will, nicht mehr ausreicht. Auf der Grundlage einer personalen Rechtsgutslehre, die sich selber ernst nimmt, müsste man in dem vorgestellten Fall eine teleologische Reduktion des § 331 StGB vornehmen.38 Ein solches Ergebnis erscheint aber inakzeptabel und wäre eine „reductio ad absurdum“ der personalen Rechtsgutslehre. Man kann die Feststellung, nach der der Tatbestand des § 331 StGB ein irreduzibel kollektives Rechtsgut schützt, als „Bestechungsargument“ bezeichnen. Das Bestechungsargument belegt, dass nicht einmal die gemäßigte personale Rechtsgutslehre vertretbar ist.39 Umso weniger lässt sich die Theorie in ihrer radikalen Version vertreten.

V. Der differenzierte Angriff: verdächtige und unverdächtige kollektive Rechtsgüter 1. Von dieser Einsicht gehen die an nächster Stelle anzusprechenden Versuche aus: Sie verzichten darauf, kollektive Rechtsgüter pauschal unter Verdacht zu stellen, sondern richten den kritischen Blick von vornherein auf bestimmte verdächtig wirkende Güter, die häufig auch für Scheinrechtsgüter gehalten werden. Darunter fallen – neben den anfangs erwähnten Gütern der Volksgesundheit, der Funktionsfähigkeit des Kreditwesen und der Sicherheit des Straßenverkehrs – u. a. der öffentliche Frieden, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung.40 Das Bestechungsargument belegt nicht nur negativ, dass die personale Rechtsgutslehre unzulänglich ist, sondern auch positiv, dass es mindestens ein zulässiges kollektives Rechtsgut gibt – dasjenige, das durch § 331 StGB geschützt werden soll.41 Und wenn es bereits unproblematisch ein kollekti38 Wohl in diese Richtung dennoch Kargl in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Personale Rechtsgutslehre und Opferorientierung im Strafrecht, 2007, S. 77 ff. 39 Im Ergebnis übereinstimmend Kuhlen ZStW 105 (1993), 703 f.; Schünemann GA 1995, 208 ff; Krüger (Fn. 13) S. 74 ff, 80 f; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 61 ff. 40 Für Nachweise s. u. VI. 41 Ähnlich Hefendehl in: ders. u. a. (Fn. 23) S. 121, der zudem die Rechtspflege- und Geldfälschungsdelikte erwähnt.

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ves Rechtsguts gibt, dann erscheint es wenig wahrscheinlich, dass davon nur ein Einziges vorhanden ist. Überwiegend anerkannt und daher kaum verdächtigt werden etwa die hinter den Staatsschutzdelikten (wenn auch nicht in allen Ausprägungen; vgl. etwa die §§ 90 ff StGB), den Geldfälschungsdelikten oder den Rechtspflegedelikten stehenden kollektiven Rechtsgüter. Die Frage, der man sich zuwenden muss, lautet also: Anhand welcher Kriterien kann diese Unterscheidung zwischen verdächtigen und unverdächtigen Rechtsgütern vorgenommen werden? b) Schünemann bringt gegen sog. Scheinrechtsgüter einen methodischen Einwand an, nämlich das sog. „Ockhamsche Rasiermesser“: Entia non sunt multiplicanda. Es sei nicht zulässig, ein kollektives Rechtsgut zu postulieren, wenn man „ohne Schwierigkeit ein individuelles Rechtsgut aufweisen kann“; man müsse als „pragmatische Maxime“ davon ausgehen, dass ein Straftatbestand „im Zweifel als ein abstraktes Gefährdungsdelikt zum Schutz konkret fassbarer Rechtsgüter“ zu interpretieren sei.42 Der oben erwähnte Kreditbetrug ließe sich z. B. durch einen Hinweis auf das individuelle Rechtsgut des Vermögens erklären. Eines zusätzlichen kollektiven Gutes der Funktionsfähigkeit des Kreditwesens bedürfe es hier nicht. Der Einwand weist allerdings ein Problem auf: Es bleibt unklar, wann man bei einer Vorschrift ein individuelles Rechtsgut „ohne Schwierigkeit aufweisen kann“, m. a. W., auf welcher Ebene sich das Argument bewegt, ob es nämlich ontologisch oder normativ gemeint ist. Deutet man das „Ockhamsche Rasiermesser“ als ontologische These, nämlich als eine These über dasjenige, was es in der Welt gibt, ist sie wohl dahingehend auszulegen, dass es in der Welt nicht mehr Seiende, also mehr kollektive Entitäten, gibt, als sie für eine sinnvolle Erklärung der Welt, also der Straftatbestände, erforderlich sind. Das befremdet – denn es kann nicht um die Frage gehen, ob das Kreditwesen existiert oder nicht. Deutet man die These dagegen normativ, also in dem Sinne, das kollektive Gut sei in diesem Kontext irrelevant, dann müsste man Relevanzkriterien darlegen können - dazu gleich mehr (u. 3.). Die diesen Einwand zugrunde liegende Intuition ist dennoch richtig. Man erinnere sich: Das Problematische an kollektiven Rechtsgütern ist, dass sie alle Probleme lösen. Die h. M. argumentiert, dass der Tatbestand des Kreditbetrugs ein kollektives Rechtsgut schützen müsse, da sonst die Vorverlagerung durch ein abstraktes Gefährdungsdelikt nicht legitimierbar sei.43 Man kann den Einwand als Mahnung gegen eine solche Vervielfältigung von Seienden lesen, wenn sie einzig dazu dienen soll, dem Gesetzgeber Recht zu geben. Wäre dies zulässig, dann hätten die Rechtsgutskritiker 42 43

Schünemann in: Kühne/Miyazawa (Fn. 12) S. 15 ff, 25 f, 27. Z. B. Schönke/Schröder-Lenckner/Perron § 265b Rn. 3; MüKo-Wohlers § 265b Rn. 2.

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Recht: Der Rechtsgutslehre käme jede Rationalisierungsfunktion abhanden, sie gliche vielmehr einem ideologischen Kunstgriff, der jede noch so willkürliche Entscheidung des Gesetzgebers nachträglich als rational hinstellen könnte. Soll der Rechtsgutsbegriff irgendeinen Sinn haben und sich nicht in einem Zirkel erschöpfen, dann muss er Gegenstände bezeichnen, die unabhängig von der Tatsache wertvoll sind, dass es zu ihrem Schutz ein strafbewehrtes Verbot gibt. Das Gut wird geschützt, weil es wertvoll ist, und nicht umgekehrt ist es wertvoll, weil es geschützt wird. Daraus lässt sich bereits ein erstes, unbestreitbar richtiges Ergebnis ableiten: Für die Postulierung eines kollektiven Rechtsguts reicht es nie aus, dass die einschlägige Vorschrift ohne kollektives Rechtsgut illegitim wäre. Das dürfte der richtige Kern des Einwands des „Ockhamschen Rasiermessers“ sein. Ein erstes Zwischenfazit kann man bereits ziehen, nämlich in Form einer Regel 1, die man als Zirkularitäts-Test bezeichnen könnte: Die Tatsache, dass eine Strafvorschrift ohne Postulierung eines kollektiven Rechtsguts nicht legitimierbar wäre, ist noch kein Grund, ein solches Rechtsgut zu postulieren. 3. Autoren wie Schünemann, Hefendehl, Hörnle, Anastosopoulou44 und vor allem der Jubilar45 stellen bereits die Existenz der unter Verdacht stehenden kollektiven Rechtsgüter in Frage. Es wird behauptet, diese Güter seien nicht mehr als Worthülsen, deren wahrer Sinn aus nichts anderem als der Summe bestimmter individueller Rechtsgüter bestehe. Diese Summe sei aber keine eigenständige, von ihren einzelnen Bestandteilen unabhängige, kollektive Substanz. So sei etwa die Volksgesundheit kein kollektives Gut, denn ein Volkskörper, der gesund oder krank sein kann, existiere nicht. Die Volksgesundheit sei nicht mehr als eine Sammelbezeichnung für die Gesundheit eines jeden Individuums.46 Entsprechendes ließe sich von der Funktionsfähigkeit des Kreditwesens behaupten: Sie sei eigentlich die Summe der Vermögen der einzelnen Kreditgeber.47 Auch dieses Argument fußt auf einer richtigen Einsicht, nämlich auf der oben niedergelegten Definition eines kollektiven Rechtsguts. Kollektive Rechtsgüter sind unteilbare Güter, nicht Güter einer Vielzahl von Individu44

Schünemann (Fn. 42) S. 26, 28; ders. in: Hefendehl u. a. (Fn. 23) S. 149 ff; ders. in: v. Hirsch u. a. (Hrsg.), Mediating principles, 2006, S. 26; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 82; Hörnle Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 88; Anastosopoulou (Fn. 36) S. 43 ff, 237 ff, 296 ff. 45 S. o. Fn. 9, 10. 46 So etwa Roxin AT I § 2 Rn. 46; ferner Frisch FS Stree/Wessels, 1993, 94; Köhler ZStW 104 (1992), 27 f; Wohlers (Fn. 12) S. 191; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 35) S. 142 ff; Schünemann in: Hefendehl u. a. (Fn. 23) S. 146 f; Anastosopoulou (Fn. 36) S. 270; NK-Puppe vor § 13 Rn. 189. 47 Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 118, 260 ff.

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en. Das Betroffensein einer Vielzahl von Individuen heißt noch nicht, dass ein kollektives Rechtsgut vorliegt.48 Die Grenze des Arguments besteht aber in der Tatsache, dass es sich auf einer ontologischen Ebene bewegt: Die kritisierten Rechtsgüter werden zu Scheinrechtsgütern erklärt, also zu etwas Nichtseiendem. Das Argument fußt also auf einer Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein. Diese Vorgehensweise ist nicht aus prinzipiellen Gründen abzulehnen,49 ihre begrenzte Reichweite darf dennoch nicht übersehen werden. Erstens ist ein solches ontologisches Argument äußerst anspruchsvoll. Ob es die Volksgesundheit „gibt“ oder nicht, genauer, ob es eine Dimension der Gesundheit gibt, die nicht auf die Summe der „individuellen Gesundheiten“ zurückführbar ist, ist eine schwierige Frage sozialer Ontologie, d. h. der Theorie, die den Inbegriff der Seienden aufzählt, die zu dem, was man Gesellschaft nennt, gehören. Eine individualistische bzw. atomistische Beschreibung der Gesellschaft, die davon ausgeht, nur individuelle Entitäten seien reell, hätte es leichter mit dem Argument als eine kollektivistische bzw. organizistische Beschreibung, die Individuen als bloße Akzidenzien und überindividuelle Gebilde wie das Volk, den Staat, Institutionen oder soziale Systeme als einzig Reelles betrachtet. Es empfiehlt sich deshalb, eine Lösung anzubieten, die von derartigen Vorfragen unabhängig ist, was auch dem modernen sog. politischen (im Gegensatz zum klassischen) Liberalismus angemessener wäre, dessen Devise genau darin besteht, Fragen politischer oder normativer Rechtfertigung von der Lösung weiterer allgemein-philosophischer Probleme abzukoppeln.50 Diese Schwäche wirkt auch in der juristischen Debatte nach. Denn die Verlagerung der Diskussion auf die ontologische Ebene macht einen gegenüber ontologischen Repliken wehrlos. Solange der Gegner sich nicht darauf beschränkt, auf die Vielzahl der Betroffenen zu pochen, sobald er etwas Unteilbares, insb. eine gesellschaftliche Institution, anführen kann, verliert das Argument einen Großteil seiner Kraft (oder sein Vertreter muss in eine sozialontologische Diskussion eintreten). Man nehme etwa die Volksgesundheit. Ein Vertreter der h. M. kann sie mit der Behauptung eines kollektiven „Körpers“ verteidigen;51 er kann sich auch weniger theorielastig äußern und sagen, es geht um das „Interesse des Staates an der Erhaltung eines gesunden Bürgerstandes und einer lebensfähigen Gesellschaftsordnung“.52 48 So auch Krüger (Fn. 13) S. 120 f, mit Hinweis auf die Brandstiftungsdelikte und auf den Mord mit gemeingefährlichen Mitteln; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 141. 49 Anders die sog. Normativisten, insb. Jakobs Strafrecht AT, S. VII f. 50 Insb. Rawls Political Liberalism, 2005, S. 374 ff; Larmore The Autonomy of Morality, 2008, S. 144 ff. 51 So wohl BT-Drucks. VI/1877, S. 5. 52 Beulke/S. Schröder NStZ 1991, 394.

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Er kann darauf verweisen, es bestehe ein Unterschied zwischen einer Lage, in der eine Vielzahl von Menschen krank ist, und einer echten Epidemie; dass saubere Straßen, funktionierende Krankenhäuser, dass reine Luft, ein gutes Abwassersystem und effiziente Impfung alles zu dem gehören, was man mit dem Begriff der „Volksgesundheit“ bezeichnet. Er könnte sich ferner auf benachbarte Rechtsgebiete beziehen – insb. auf das öffentliche Recht53 –, die ohne Bedenken von der Volksgesundheit sprechen, was eigentlich aus der Perspektive des Arguments ein Rätsel ist (denn entweder sprechen die Staatsrechtler von einem Gespenst, oder der Schein der Scheinrechtsgüter ist ein nur rechtsgebietsspezifischer Schein bzw. auch ihre Existenz eine rechtsgebietsspezifische – beide nicht sehr plausible Annahmen). Ähnliches ließe sich zur Kreditwirtschaft sagen: Statt von einzelnen Investoren und ihren Interessen könnte von einer Gesellschaft gesprochen werden, in der Kredite aufgenommen werden können, und von der Tatsache, dass man kaum wesentlich über die Steinzeit hinaus wäre, wenn neue Ideen und Unternehmungen immer allein auf das Eigenkapital ihrer Schöpfer angewiesen wären.54 Ein weiteres Zwischenfazit lässt sich in Form einer Regel 2 bzw. eines Distributivitäts-Tests ziehen: Die Tatsache, dass eine Vielzahl von Individuen ein Interesse an einem Gut hat, ist noch kein Grund, ein kollektives Rechtsgut zu postulieren. 4. Für Amelung55 besteht der liberale Charakter der Rechtsgutslehre – auch wenn sie eine bloß systemimmanente Perspektive einnimmt – darin, dass sie als Bollwerk gegen den Moralisten und den Despoten im Strafrecht dient. Sowohl der Moralist als auch der Despot glauben daran, eine Verhaltensnorm durch einen Hinweis auf sie selbst rechtfertigen zu können, ohne dass es eines Gegenstandes „hinter“ der Norm bedürfe, der im Falle ihrer Missachtung beeinträchtigt würde. Die von Amelung für bloß scheinbar erklärten kollektiven Rechtsgüter seien gerade solche, die sich nicht auf einen Gegenstand hinter einer Verhaltensnorm beziehen, sondern die vielmehr eine bloße Neubeschreibung einer Gesellschaft sind, in der solche Verhal53

Vgl. m. w. N. Steiner MedR 2003, 1 ff; Frenzel DÖV 2007, 243 ff (zwar krit., aber eher zur Terminologie). 54 In eine solche Richtung insb. Lampe (Fn. 14) S. 38 ff, der überindividuelle Komponenten des Schutzguts des § 265b StGB sorgfältig ausarbeitet, sie dennoch für kaum verletzbar hält; Bottke wistra 1991, 7, der dieses Problem der Verletzbarkeit der Sache nach mit dem Kumulationsgedanken löst. Dieses Argumentationsmuster, also der Verweis auf nicht-distributive und deshalb eindeutig kollektive Dimensionen des zu schützenden Guts, taucht insbes. bei Tiedemann bzgl. des Wirtschaftsstrafrechts im Allgemeinen auf: ders. in: ders. (Hrsg.), Die Verbrechen in der Wirtschaft, 1972, S. 10 ff; ders. Verhandlungen des 49. Deutschen Juristentages, 1972, C 19 ff; ders. JuS 1989, 691; ders. Wirtschaftsbetrug, 1999, S. XII; ders. Wirtschaftsrecht AT Rn. 45. 55 Amelung in: Hefendehl u. a. (Fn. 23) S. 169 ff, 171 ff.

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tensnormen beachtet werden. So sei etwa die Sicherheit kein Gut, das von Straftaten beeinträchtigt würde, sondern eben die „Kehrseite der faktischen Geltung von Normen“. Entsprechendes ließe sich zu den Versuchen sagen, Vertrauen oder Gefühle als Schutzgüter eines Straftatbestandes anzusehen. Das Argument weist eine entscheidende Schwäche auf. Es bewegt sich nämlich auf der begrifflichen bzw. semantischen Ebene. Es wird nämlich behauptet, Sicherheit, Vertrauen usw. bedeuten nichts anderes als allgemeine Einhaltung der Verhaltensnormen. Damit kann einer Replik, die sich auf einer empirischen Ebene bewegt, nichts mehr entgegnet werden. Denn ein Verteidiger der unter Verdacht gestellten kollektiven Güter kann immer noch replizieren, er spreche nicht von der allgemeinen Einhaltung von Verhaltensnormen, sondern von den empirischen Folgen dieser Einhaltung – bei der Sicherheit etwa davon, dass man auf der Straße auch zu später Stunde spazieren gehen kann, dass man sich keine Gedanken machen muss, wenn die Kinder für eine Stunde auf dem Handy nicht erreichbar sind usw. Würde Amelung trotzdem darauf bestehen, das Wort „Sicherheit“ allein zur Bezeichnung der Normeinhaltung selbst zu benutzen, könnte sein Kritiker nachgeben und meinen, es gehe ihm gerade nicht um die Sicherheit i. S. von Amelung, sondern um eine Sicherheit2, die die oben benannten und viele ähnliche faktische Konsequenzen bezeichnet. Das Argument von Amelung kann nicht erklären, warum diese Sicherheit2 als kollektives – weil nicht nur einer Vielzahl von Individuen, sondern allen in nicht-distributiver Weise zustehendes – Rechtsgut nicht in Betracht kommen darf. Das Argument fußt dennoch auf einer durchaus berechtigten Einsicht, die es auszuarbeiten gilt. Ähnlich wie beim Bestechungsargument knüpft man am besten an der nicht ernsthaft zu bestreitenden Annahme an, dass der Tatbestand des Diebstahls ein individuelles Rechtsgut schützt (Diebstahlsargument).56 Die Einsicht hinter Amelungs Argument ist, dass die Heranziehung von Konsequenzen, die auf der Ebene der oben genannten Sicherheit2 stehen, letztlich dazu führt, dass jeder Tatbestand dem Schutze kollektiver Rechtsgüter zugeordnet werden müsste.57 Denn auch beim Diebstahlstatbestand lässt sich hinter dem von der einzelnen Normverletzung in Frage gestellten Eigentum an der konkreten Sache die gesellschaftliche Institution des Eigentums (und selbstverständlich auch die Sicherheit) erblicken, das als Institution etwas Unteilbares und deshalb irreduzibel Kollekti56 Wobei es gleichgültig ist, ob man allein das Eigentum (etwa Schönke/SchröderEser/Bosch § 242 Rn. 1/2) oder Eigentum und Gewahrsam (z. B. Lackner/Kühl § 242 Rn. 1) für einschlägige Schutzgüter erklärt. Im Folgenden wird der Text aus stilistischen Gründen allein vom Eigentum sprechen, der Sache nach ließe sich das selbe, was zum Eigentum gesagt wird, zum Eigentum und Gewahrsam sagen, nur in etwas umständlicherer Formulierung. 57 Dazu führt letztlich die von Müssig Schutz abstrakter Rechtsgüter, 1994, S. 173 ff, 178 ff. vorgeschlagene institutionelle Reformulierung der Rechtsgutslehre.

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ves darstellt. Es verhält sich deshalb nicht so, dass die kritisierten Rechtsgüter für sich nicht existieren (dies ist wieder eine Frage sozialer Ontologie), sondern nur, dass ihre Beeinträchtigung neben der Verwirklichung des normwidrigen Verhaltens keinen neuen Unwertgehalt aufweist. Man könnte sich dennoch fragen, warum? Es sieht so aus, als würden sich kollektive Rechtsgüter auf zweierlei Weise strafrechtlich manifestieren: Die eine Gruppe, wozu etwa die Rechtsgüter der Bestechungs- und auch der Rechtspflege-, Geldfälschungs-, Staatsschutz- und Umweltdelikte gehören, tritt sozusagen unvermittelt in Erscheinung. Der Angriff gegen das Gut kann deshalb nur als ein direkter vorgestellt werden, das Mitbetroffensein eines weiteren individuellen Gutes durch das verbotene Verhalten ist etwas bloß Kontingentes. So kann ein Meineid eine Freiheitsberaubung oder einen Betrug zur Folge haben, dies muss aber nicht sein. Die kollektiven Güter der anderen Gruppe treten demgegenüber nicht direkt in Erscheinung, sondern immer vermittelt durch ein präziseres (in der Regel) individuelles Rechtsgut. Hier verhält es sich umgekehrt, dass man sich einen Angriff gegen diese kollektiven Güter nur als einen indirekten vorstellen kann, dessen direkter Gegenstand das individuelle Gut ist, und der seine kollektive Manifestation nur als Reflex trifft. Das ist beim Eigentum als gesellschaftlicher Institution, bei der Volksgesundheit und bei der Sicherheit in ihren vielen Ausprägungen der Fall. Aus strafrechtlicher Perspektive lassen sich diese Güter nicht unmittelbar angreifen: der straffähige Angriff gegen die Institution des Eigentums oder gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs muss immer gleichzeitig gegen Güter von Individuen gerichtet werden. Dagegen kann der unmittelbare Angriff als strafrechtliches Unrecht nicht konzipiert werden: Ein unmittelbarer Angriff gegen die Institution des Eigentums war etwa die Verankerung der Sozialbindung des Eigentums in der Weimarer Reichsverfassung,58 ein Angriff gegen die Volksgesundheit wäre z. B. der Abbau von Krankenhäusern, ein Angriff gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs wäre die Einstellung der elektronischen Geschwindigkeitskontrolle auf Autobahnen – also allesamt Verhaltensweisen, die als Strafunrecht nicht in Betracht kommen können. Gerade diese Tatsache, dass der unmittelbare (also der durch kein individuelles Gut vermittelte) Angriff auf die kollektiven Güter der zweiten Gruppe nicht strafrechtlich vorstellbar ist, beweist, dass die Beeinträchtigung dieser Güter strafrechtlich nicht von Relevanz ist und dass diese Güter keine eigenständige Strafvorschrift tragen können. Sie sind – entgegen der Lehre von den Scheinrechtsgütern – nicht inexistent, sondern haben kein spezifisches normatives Gewicht. Hinter jedem Individualrechtsgut lässt sich ein solches 58

Hierzu Badura in: HdB des VerfR I § 10 Rn. 58 – dies ist wohl bemerkt nur eine Beschreibung, keine Kritik.

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weiteres kollektives Rechtsgut konstruieren, so dass deren Beeinträchtigung gegenüber der Beeinträchtigung des entsprechenden Individualrechtsguts kein Novum darstellt. Der Vorteil der hiesigen Argumentation gegenüber beiden oben diskutierten Thesen von den Scheinrechtsgütern ist, dass sie sich auf der normativen Ebene bewegt und nicht mehr auf einer auf einer semantischen oder ontologischen Ebene. Semantische oder ontologische Repliken verlieren deshalb ihre Schlagkraft. Und somit lässt sich eine Regel 3, die man als Nicht-Spezifizitäts-Test bezeichnen könnte, herleiten: Es ist nicht gestattet, ein kollektives Rechtsgut als Schutzgut einer bestimmten Vorschrift zu postulieren, wenn die Beeinträchtigung dieses Rechtsguts immer gleichzeitig die Beeinträchtigung eines Individualrechtsguts voraussetzt.

VI. Anwendung der drei Regeln auf ausgewählte Rechtsgüter Selbstverständlich sind die drei genannten Regeln – der Zirkularitäts-Test, der Distributivitäts-Test und der Nicht-Spezifizitäts-Test – nur negative Voraussetzungen der Postulierung eines kollektiven Rechtsguts, in dem Sinne, dass sie notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Postulierung eines kollektiven Rechtsguts bestimmen. Sie sind durch ein positives Argument zu ergänzen, das darzulegen vermag, dass der zu schützende Gegenstand auch etwas Wertvolles ist. Ob sich auch für dieses positive Argument allgemeine Regeln formulieren lassen, ist hier nicht zu untersuchen.59 Es gilt vielmehr, die vorgeschlagenen Kriterien an den drei anfangs benannten Tatbeständen zu erproben:60 1. Der Kreditbetrug (§ 265b StGB) schützt kein kollektives Rechtsgut, sondern das Vermögen der Kreditgeber.61 Die in der Gesetzesbegründung62 beschworenen Gefahren für das Vermögen des Kreditgebers, der Gläubiger der Kreditgeber und der Gläubiger des Kreditnehmers genügen nicht dem Distributivitäts-Test. Der Verweis auf Dimensionen der Kreditwirtschaft, die diesen Test bestehen, erliegt dem Nicht-Spezifitäts-Test, da es unmöglich ist, die Kreditwirtschaft in strafrechtlich relevanter Weise direkt anzugreifen, ohne das Vermögen einzelner Menschen zumindest abstrakt zu gefährden. 59

Eher zweifelnd Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 24. Dass die Rechtsgüter der oben nach Fn. 41 genannten Tatbestände die Tests bestehen, kann aus Platzgründen nicht näher ausgeführt werden, dürfte aber offensichtlich sein. 61 Ebenso Park-Heinz § 265b StGB Rn. 2; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23) S. 262 f. 62 BT-Drs. 7/5291, S. 14. 60

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2. Auch die Volksgesundheit der Betäubungsmitteltatbestände besteht nicht den Nicht-Spezifitäts-Test. Die Behauptung, ohne Volksgesundheit wären die Vorschriften nicht zu rechtfertigender Paternalismus, wird vom Zirkularitäts-Test ausgeschlossen. Alle Dimensionen dieses Gutes, die den Distributivitäts-Test bestehen, scheitern daran, dass sie niemals direkt angreifbar sind, sondern nur zusammen mit einer zumindest abstrakten Gefährdung individueller Güter. 3. Der Tatbestand des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a StGB) schützt ebenfalls nur individuelle Rechtsgüter. Die Sicherheit des Straßenverkehrs wird durch jede versuchte Körperverletzung bzw. Nötigung bzw. Raub gegen einen Kfz-Fahrer automatisch mit beeinträchtigt und kann nicht angegriffen werden, ohne dass individuelle Güter tangiert sind. Sie hat also neben den individuellen Rechtsgütern dieser Tatbestände keine spezifische normative Relevanz, die eine neue Strafvorschrift rechtfertigen könnte.63 4. Eine Anwendung der hier entwickelten Tests auf weniger „leichtgewichtige Gegner“64 würde den hiesigen Rahmen überschreiten und muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. An dieser Stelle will ich nur Zweifel äußern, ob den Urkundendelikten65 und den sog. Delikten gegen den Wettbewerb (etwa §§ 16 ff UWG)66 tatsächlich ein kollektives Rechtsgut zugrunde liegt. Denn mindestens auf den ersten Blick scheinen die behaupteten kollektiven Güter den Nicht-Spezifitäts-Test nicht zu bestehen.

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Weitere kollektive Rechtsgüter, die insbesondere bei den zwei letzten Tests durchfallen, sind der öffentliche Frieden (krit. auch Schroeder Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 12; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter [Fn. 23] S. 290 ff; Hörnle [Fn. 44] S. 90 ff) und die öffentliche Sicherheit (im Ergebnis ebenso Hefendehl Kollektive Rechtsgüter [Fn. 23] S. 289 f; Cavaliere FS Volk, 2009, 121 ff). 64 Ausdruck von Neumann ZStW 106 (1994), 195. 65 Zweifelnd, aber letztlich i. S. eines kollektiven „Vertrauensrechtsguts“ Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 23), S. 244 ff. 66 Für Vermögensschutz Lüderssen BB 51 (1996), 2527 ff; Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 309 f; Maurach/Schroeder/Maiwald BT/2 § 68/2.

Gefühlte Rechtsgüter? KLAUS VOLK

Kein anderer hat im Streit um den Rechtsgutsbegriff größere Pionierarbeit geleistet, tiefgründiger geforscht und plausibler argumentiert als mein verehrter Freund Claus Roxin. Niemand hat es besser verstanden, dem rechtsstaatlichen Ethos mehr Geltung zu verschaffen und die kriminalpolitischen Grundlagen eines freiheitlichen Strafrechts nachhaltiger auszugestalten als er. Ihm möchte ich diese nachdenkliche Betrachtung widmen.1 Sie handelt letztlich davon, ob das Strafrecht rational handelt, wenn es auf (vermeintlich) Irrationales Rücksicht nimmt. Zwei Bemerkungen zu den „Kulissen“ (nicht: Prämissen) sollte ich voranstellen. Es geht mir, jedenfalls nicht explizit, um ein pro oder contra zur Funktion oder Existenzberechtigung des Begriffes Rechtsgut.2 Und ich sollte zugestehen, dass ich mich schon mehrfach kritisch zu dessen Leistungsfähigkeit geäußert habe. Er limitiere die Eingriffe des Gesetzgebers nicht mehr, sondern legitimiere sie; gegen das usurpierte Recht des Gesetzgebers, Rechtsgüter zu erfinden, sei das Konzept machtlos geblieben.3 Dieses Vorurteil hoffe ich im Folgenden unterdrücken zu können, weil es für mein Vorhaben keine Rolle spielt. In gewisser Weise muss ich es allerdings erst einmal erneuern.

I. Die Fläche ist die Schwäche Wir haben dem Begriff einen so weiten Anwendungsbereich zugeschrieben, dass er, je näher wir dem Rand kommen, sich verflüchtigt und kritische 1 Zu dieser Festschrift sollte ursprünglich nur beitragen, wer nicht schon zehn Jahre zuvor Gelegenheit hatte, Claus Roxin zu ehren. Die Herausgeber haben mitgeteilt, dass er sich entschlossen habe, für seine Münchner Freunde anderes gelten zu lassen, und eine sehr kurze Frist gesetzt. Irgendetwas, das auf Halde liegt und noch nicht veröffentlicht ist? Aber nicht doch. Claus Roxin, dem Innovativen, ist eigens Geschriebenes geschuldet. Also kann es aber auch nur eine Skizze sein. Ich bitte den verehrten Jubilar, der immer nur formvollendet geschliffene Diamanten präsentiert, um Nachsicht. 2 Roxin AT I § 2 hat diese Kontroverse enzyklopädisch aufgearbeitet. 3 Volk zuletzt in FS Hassemer, 2010, 916.

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Urteile nicht mehr zulässt. Mit seiner Hilfe, so hat Claus Roxin bekräftigt, lassen sich Straftaten nicht von Ordnungswidrigkeiten abgrenzen. Auch Ordnungswidrigkeiten schützen Rechtsgüter.4 Wie ernst nehmen wir es damit? Als (beliebiges) Beispiel aus dem Bereich der „rechtsstaatlich problematischen Vorverlagerung der Strafbarkeit“5 soll das Kapitalmarktstrafrecht dienen. Es schützt unter anderem die Institution der Börse in ihrer Funktion der Kapitalallokation und Preisbildung, das Vertrauen der Anleger in die Integrität der ablaufenden Prozesse, etc. Das muss man noch nicht für einen der Fälle halten, für die Roxin beklagt, dass angebliche Allgemeininteressen zu Rechtsgütern erklärt werden, was die strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Rechtsgutsbegriffs im Bereich der Vorfeldkriminalisierung außer Kraft setze und ein Missbrauch sei.6 Nun enthält aber das WpHG in § 39 einen umfangreichen Katalog von Ordnungswidrigkeiten, die man mit dem funktionalistischen Rechtsgut in Einklang bringen muss, weil § 38 Abs. 2 WpHG die seit den Anfängen des Wirtschaftsstrafrechts bekannte Technik benutzt, eine Ordnungswidrigkeit zur Straftat „aufzuwerten“, wenn sie Folgen hat (die „Einwirkung“ auf den Preis eines Finanzinstruments). Also kann das originäre Rechtsgut nur identisch sein. Das gilt generell. Bei allen Gefährdungsdelikten wird die Gefährdung der Gefährdung durch zahlreiche Ordnungswidrigkeiten erfasst. Das Ordnungswidrigkeitenrecht „verdankt seine Existenz ... dem Subsidiaritätsprinzip und dem Bagatellcharakter der Rechtsgutsverletzungen, nicht aber ihrem Fehlen“.7 Damit ist das Konzept des Rechtsgüterschutzes zwar „gerettet“, aber auch geschwächt. Das beeindruckende Pathos der meisten Beiträge zum Prinzip des Rechtsgüterschutzes ist nur verständlich, wenn man es auf die Kriminalisierung, die „Strafwürdigkeit“, bezieht und nicht auf Sanktionierung durch Strafe oder Buße. Wenn wir Strafrechtler uns doch mit der gleichen Verve, die wir irgendeinem fragwürdigen Straftatbestand angedeihen lassen, der Ordnungswidrigkeiten im Allgemeinen annehmen würden, von denen wir doch auch sagen, dass sie ein Rechtsgut schützen... Das hatte nur scheinbar mit dem Thema nichts zu tun. Je weiter wir den Begriff des Rechtsguts fassen und in das Vorfeld ausgreifen lassen, desto weniger wird es möglich, sinnvolle und erwünschte Ausnahmen von der Pönalisierung (oder allgemeiner: Sanktionierung) noch aus dem Rechtsgut selbst zu erklären. Da gibt es dann nur noch dezisionistische „safe-harbourRegeln“, die nicht selten auf moralischen Ansichten beruhen (im Falle des 4

Roxin AT I § 2 Rn. 60 ff. Roxin AT I § 2 Rn. 75. 6 Roxin AT I § 2 Rn. 75. 7 Roxin AT I § 2 Rn. 62. 5

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WpHG wirtschaftsethischen Erwägungen). Das ist zwar legitim, vor allem, wenn man es offen sagt, hat aber mit dem Begriff des Rechtsguts nichts mehr zu tun.8 Es liegt nahe einzuwenden, dass dies an dem extrem komplexen und komplizierten Bereich liege, aus dem das Beispiel gewählt wurde, oder an den Sachgesetzlichkeiten des Wirtschaftsstrafrechts im Allgemeinen. Dezisionen, die sich aus dem Rechtsgut nicht ableiten lassen oder sich sogar gegen es richten, finden sich aber überall, auch im Kernstrafrecht.

II. Entscheidungen gegen das Rechtsgut Juristisch findet man sie unter der Rubrik „erlaubtes Risiko“. Dahinter steckt eine Abwägung, in der das Rechtsgut nur ein Rechnungsposten ist. Ein Risiko ist, wirtschaftlich gesehen, nur ein Rechenwert. Er bezeichnet die Abweichungen vom erwünschten Zustand. Der Rest ist eine Frage des Preises. Was kostet das Risiko? In Deutschland gab es 4.152 Tote im Straßenverkehr (in 2009); weltweit sind es über eine Million. Diese Zahlen ließen sich drastisch verkleinern, wenn wir Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit festlegen würden.9 Die Gründe, weshalb wir es Jahr für Jahr hinnehmen, dass auf der Straße mehr Deutsche sterben als im Krieg, sind klar: Sie haben mit der Freiheit zu tun, schneller von A nach B zu kommen, mit der Logistik der Versorgung, also auch mit unserem Wohlergehen, und so fort. Tausende von Toten sind im erhöhten Risiko eingepreist und per Saldo tolerabel. Der Gesetzgeber handelt (hier) als homo oeconomicus und sucht nach der optimalen Allokation der Ressourcen.

III. Sicherheit und Sicherheitsgefühl In diesem Beispiel war die Sicherheit (im Straßenverkehr) messbar. In den meisten Fällen wird von der Exekutive festgelegt, was Sicherheit ist. Am 17. November 2010 hatte das Innenministerium mitgeteilt, dass ihm konkrete Hinweise auf Terrorplanungen islamischer Extremisten in Deutschland vorlägen. Noch während es daran festhielt, dass die Sicherheitslage unverändert sei, führte ARD-Deutschlandtrends eine Umfrage 8

Näher Volk FS Hassemer, 2010, 922 f. Beispiel von Bänziger aus seinem Vortrag „Risiko, Rendite, Regulierung als volkswirtschaftliches Optimierungsproblem“ auf dem 3. Symposion von ECLE (Economy. Criminal Law. Ethics) im Institute for Law and Finance, Frankfurt 19.11.2010, demnächst als Tagungsband erscheinend bei de Gruyter unter dem Titel „Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt“. 9

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durch. 88 % der Deutschen gaben an, sie fühlten sich nicht gefährdet, sondern eher sicher (und das waren sogar 5 % mehr als vor den Terrorwarnungen).10 Das wird die Regierung nicht dazu veranlassen, ihre Vorsorge zu reduzieren. Sie weiß es eben besser. Zumindest liegt bei ihr die Prärogative für die Einschätzung der Lage. Über „die Sicherheit“ können nur die demokratisch Legitimierten entscheiden und nicht die demoskopisch Versierten. Wie aber läge es in dem umgekehrten Falle, dass sich die Bevölkerung unsicher fühlt, während es für die „offizielle Seite“ dafür keine Gründe gibt?

IV. Gefühlsschutz und virtuelle Bedrohung Roxin hat getitelt: „Der Schutz von Gefühlen kann nur bei Bedrohungsgefühlen als Rechtsgut anerkannt werden.“11 Das scheint die soeben angesprochene Situation zu erfassen, zumal Roxin Strafdrohungen für legitim hält, „wo der Einzelne sich ... in seinem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt fühlt. Denn ein friedliches und freies Zusammenleben setzt voraus, dass man sich nicht vor anderen fürchten oder sich von ihnen diskriminieren lassen muss.“12 Der Zusammenhang zeigt, dass es nicht auf den Einzelnen ankommt, sondern auf ein unterstelltes oder tatsächlich diagnostiziertes kollektives Sicherheitsgefühl als sozialpsychologisches Faktum. Auch und erst recht dann fragt sich allerdings, ob man einschreiten darf, wenn sich die Leute bedroht sehen durch die pure Anwesenheit von „Zigeunern“ oder durch den Anblick von Frauen, die Burka tragen. Man kennt das ja. „Die Leute“ fühlen sich, wie kriminologische Forschungen zur Divergenz von realer Kriminalität und Kriminalitätsangst gezeigt haben, eher durch „Gammler“ im U-Bahn-Durchgang bedroht als dass sie einen Mord befürchten würden. Und die Criminalis Constitutio Carolina hat „landschädliche Leute“ unter Strafe gestellt, von denen konkrete Gefahren nicht ausgingen. Nun war das Roxin-Zitat, wie ja durch die Auslassung kenntlich gemacht, nicht vollständig. „Durch bestimmte Verhaltensweisen“ muss das Sicherheitsgefühl in Mitleidenschaft gezogen sein. Das betrifft die Tatbestände §§ 111, 130, 140, 166 185 ff StGB. Roxin bezieht sie auf die „Schutzaufgabe“ des Staates, für ein Zusammenleben zu sorgen, das die Grundrechte gewährleistet.13 Das ist der entscheidende Aspekt. Denn auch das Tragen 10

Quelle Süddeutsche Zeitung vom 4./5.12.2010, S. 6. Roxin AT I § 2 vor Rn. 26 ff. 12 Roxin AT I § 2 Rn. 27. 13 Roxin AT I § 2 Rn. 28. 11

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einer Burka wäre ja eine bestimmte Verhaltensweise, die aber eben niemanden in seinen Rechten bedroht.14 Dennoch bleiben, bei allen Anstrengungen, einen Rückbezug auf rechtlich gesicherte oder vernünftig zu begründende Rechtsgüter zu finden, „echte Gefühlsdelikte“ übrig (Roxin nennt § 183a StGB).15 Tatjana Hörnle kommt auf anderem Wege und mit anderen Zwischenergebnissen zum gleichen Schluss.16 Sie geht davon aus, dass von „echten Gefühlsschutzdelikten“ nur die Rede sein könne, wenn „die Möglichkeit der verletzten Rechte anderer untersucht und verneint wurde.“17 Das kann auch sozusagen in der zweiten Reihe der Fall sein, „weil hinter den negativen Gefühlen bestimmter Betroffener Rechte dieser Personen stehen.“18 Deren Gefährdung ist nicht immer zurechenbar. Danach bleiben Tatbestände, die – ohne Bezug auf Rechte – gesellschaftliche Tabus verletzen oder noch nicht einmal das, sondern „einfach nur“ Gefühle.19 Hörnle lässt letztlich offen, ob man Strafnormen mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Tabuschutz rechtfertigen kann, hält aber „jedenfalls eine Mindestforderung“ für unabweisbar: „Eine solche Begründung der Weiterexistenz dieser Normen und der damit verbundene Verzicht auf eine durchgängig zweckrationale Rechtfertigung sollte in der strafrechtsinternen Diskussion offen ausgesprochen werden.“20 Ist das wirklich ein Verzicht? Das hängt davon ab, was man unter „zweckrational“ versteht. Welcher „Zweck“ rechtfertigt denn, und wie „rational“ wird er verfolgt?

V. Zweckrational: Der Zweck Ich greife die Strafzweckdiskussion nicht auf, sondern etwas aus ihr heraus. Der positive Effekt der Generalprävention „wird gemeinhin in der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung gesehen“. Es geht darum, „die Rechtstreue 14

Sondern vielleicht selbst durch Art. 4 GG geschützt ist, was hier aber nicht diskutiert werden muss. 15 Roxin AT I § 2 Rn. 30, und empfiehlt die Abschiebung in das Polizei- oder Ordnungswidrigkeitenrecht, was dem Rechtsgutsproblem seine Schärfe nehmen, es aber nicht beheben würde. 16 Hörnle in: Hefendehl/v. Hisch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 268 ff; wobei sie den Kreis dieser Delikte weiter zieht als Roxin. 17 Hörnle (Fn. 16) S. 269. 18 Hörnle (Fn. 16) S. 271. 19 Hörnle rechnet dazu auch § 86a StGB und § 130 Abs. 3 StGB (Hörnle (Fn. 16) S. 278 f) – strikt dagegen Roxin AT I § 2 Rn. 43 ff. 20 Hörnle (Fn. 16) S. 280.

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der Bevölkerung zu stärken.“21 Die Strafjustiz erzeugt einen „Vertrauenseffekt, der sich ergibt, wenn der Bürger sieht, dass das Recht sich durchsetzt“. Daneben tritt der „Befriedungseffekt, der sich einstellt, wenn das allgemeine Rechtsbewusstsein sich auf Grund der Sanktion22 über den Rechtsbruch beruhigt.“23 All das beruht auf „sozialpsychologischen Annahmen.“24 Mit anderen Worten und sehr pointiert gesagt: Der Zweck des Strafrechts ist der Schutz von Gefühlen. Vertrauen, die Befriedung eines aufgewühlten Rechtsbewusstsein – solche „sozialpsychologischen“ Befunde (besser gesagt: Hypostasierungen) sind nichts anderes als Gefühle. Diese Strafzwecklehre verträgt sich nicht ohne weiteres mit den Lehren zum Rechtsgut. Kaum etwas beunruhigt die Leute mehr als das ein Tabubruch (von dem gerade zu konstatieren war, dass er mit dem Ansatz „Rechtsgüterschutz“ nicht zu vereinbaren sei).25 Ist es dann nicht rational, wenn das Strafrecht auf „Irrationales“ Rücksicht nimmt und reagiert? Gegen eine derartige These kann sich die Lehre von der positiven Generalprävention nicht wehren, weil sie sich immunisiert hat. Sie beruht auf Annahmen, die weder beweisbar noch falsifizierbar sind.26 Folglich kann sie auch der Annahme, dass ein Tabubruch beunruhigt und verunsichert, nichts entgegensetzen. Sie braucht Hilfe von außerhalb: was immer die Leute in ihrem Vertrauen (etc.) stört – pönalisiert wird es nur, wenn ein Rechtsgut betroffen ist, und darüber hat nicht der Normadressat zu befinden, sondern ein rationales Kalkül, das den Rechtsstaat notfalls auch gegen seine Bürger verteidigt. Das führt zu auf den ersten Blick paradoxen Ergebnissen. Was die Lehre von der Integrationsprävention trägt, das ist der Schutz von „homogenen Überzeugungen“, die in unserer Gesellschaft „vorhanden“ oder „verwurzelt“ sind. In der Diskussion um das Rechtsgut aber sollen Delikte zum Schutz dieser Überzeugungen eine „absolute Ausnahme“ darstellen.27 Einerseits soll der Strafzweck darin bestehen, „Vertrauen“ zu schaffen und zu stärken, andererseits soll es „Vertrauensrechtsgüter“ nicht geben, weil sozialpsychologische Befunde „zu vage“ sein sollen, um ihnen Rechtsgutsqualität zuzusprechen.28 Das ist nur haltbar, wenn man den Zweck der Strafe von ihrem Grund

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Roxin AT I § 3 Rn. 26. Was gerne übersehen wird: Es könnte auch ein Freispruch sein, denn der „Rechtsbruch“ hat immer erst die Dimension eines Verdachts. 23 Roxin AT I § 3 Rn. 27. 24 Roxin AT I § 3 Rn. 30. 25 Wie die unselige Entscheidung des BVerfG zum Inzest verblümt bestätigt. 26 Roxin AT I § 3 Rn. 30. 27 Hefendehl GA 2002, 23; Ich teile die Ansicht von Stratenwerth in: Hefendehl/v. Hisch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 255 ff, 257. 28 Roxin AT I § 3 Rn. 84. 22

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trennt. Anders und sehr zugespitzt gesagt: Das Gefühl, unser Recht sei gut, wird als Effekt erstrebt, aber gefühlte Rechtsgüter soll es nicht geben.

VI. Rechtsgut und Rationalität Unsere Rechtsgutlehre ist geprägt vom methodologischen Individualismus. Sonst gäbe es die Diskussion um „kollektive“ Rechtsgüter gar nicht, und erst recht nicht die um „abstrakte“, solche also, die von den Interessen des Individuums absehen und sie auf eine andere Ebene heben. Dass dieser Individualismus Grenzen hat, die man überschreiten muss, ist bekannt. Der personale Rechtsgutsbegriff kann „letzten Endes nur erfassen, was dem Einzelnen um seiner selbst wichtig ist, böse formuliert: als homo oeconomicus, oder etwas freundlicher: als ein allein auf sein eigenes Wohlergehen bezogenes Subjekt“.29 Die häufig genannten Bereiche jenseits der traditionellen Grenzen sind der Schutz von Embryonen, der Umwelt und derjenige zukünftiger Generationen.30 Vielleicht aber liegt die eigentliche Crux im Begriff der „Rationalität“. Während man sich in der Ökonomie damit schon lange beschäftigt,31 hat es den Anschein, dass man in Kriminalpolitik und Strafrechtslehre noch immer ganz unbefangen Rationalität so versteht, wie sie im Modell des homo oeconomicus inbegriffen ist, oder, weniger böse: wie man sie seit der Aufklärung begriffen hat. Das ist nicht mehr möglich. Die Forschungen zur eingeschränkten (oder begrenzten) Rationalität sind für niemanden, der eine Entscheidung zu treffen hat, besonders überraschend. Vollständig rationales Verhalten ist eine Utopie. Idealbedingungen findet man nie vor; es mangelt oft an Zeit oder Informationen.32 Die Abkehr vom Paradigma des homo oeconomicus, die in dieser neuen Institutionenökonomik vollzogen wird, liegt in der Erkenntnis, dass es nicht um Maximierung des Nutzens geht und oft noch nicht einmal in einer Optimierung. Man stellt die Suche nach Alternativen ein, wenn man eine gefunden hat, mit der man zufrieden ist („satisficing“). Da stellen sich zwar gewissen Assoziatio-

29

Stratenwerth (Fn. 27) S. 258. Vgl. Roxin AT I § 2 Rn. 51 ff, der für eine „Erweiterung“ des Rechtsgüterschutzgedankens plädiert. 31 Ich bin weit davon entfernt, die ökonomische Analyse des Strafrechts anzumahnen, vgl. meinen kritischen Beitrag in FS Widmaier, 2008, 987 ff. 32 Herbert Simon Theories of Decision-Making in Economics and Behavioral Science, in: American Economic Review, 49 (1959), S. 253-283. Simon erhielt für seine Entdeckung der „bounded ratinality“ den Nobelpreis. 30

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nen an das Entscheidungsverhalten der Justiz und der Anwaltschaft sowie des Gesetzgebers ein, die aber vom Thema ablenken würden). Die neue Forschungsrichtung „Behavioural Economics“ hat den homo oeconomicus gründlich dekonstruiert. Es geht, sehr verkürzt gesagt, darum, dass viele Entscheidungen nach traditioneller Denkweise fehlerhaft getroffen werden. Die Leute gehen die Sache mit einfachen Heuristiken an, verwenden Daumenregeln und nehmen geistige Abkürzungen, reagieren nicht auf das Problem, sondern seine Darstellung, sind relativ leicht manipulierbar, etc. Diese Fehler sind nach der alten Lehre Zufälle oder Anomalien. In der Verhaltensökonomie sind sie systematisch, also konstitutiv für das Modell. Ende der siebziger Jahre kam die neue Erwartungstheorie hinzu (prospect theory; generalized expected utility).33 Diese Lehren, umstritten und gefeiert, haben inzwischen in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens großen Einfluss. Auch für die Rechtspolitik sind sie kaum zu überschätzen.34 Die Rechtswissenschaft wird sich damit gründlich auseinandersetzen müssen. Was bedeuten sie, wiederum nur angesprochen und nicht gebührend ausgeführt, für die Rechtsgutstheorie? Zunächst einmal nicht viel. Schützen wir (um im alten Beispiel zu bleiben) den Kapitalmarkt und die Funktion der Börse, so haben wir es mit Akteuren zu tun, die sich nicht streng rational verhalten, sondern häufig irrational35 und nach Gefühl entscheiden. Wenn wir Unvernunft in diesen Bereichen nicht kriminalisieren, schützen wir nicht Gefühl, Intuition und Unvernunft, sondern, einer bestimmten Ethik folgend, die Freiheit, sich unvernünftig zu entscheiden (so wie wir auch bei „Gefühlsschutztatbeständen“ die Anbindung an ein freiheitsethisches Rechtsgut suchen, den „öffentlichen Frieden“ nämlich). Sie wird allerdings nicht überall gewährt. Wer unvernünftig entscheidet und sich auf Gefühl und Intuition beruft, macht sich wegen Untreue strafbar, wenn er andere schädigt. Der Schaden allein kann den Unterschied zum Gefährdungsdelikt nicht ausmachen – welche Schäden „Unvernunft“ an den Kapitalmärkten zum Nachteil aller anzurichten vermag, weiß jeder. Argumentationen mit „Freiheit“ und „Schaden“ liefern keine Letztbegründung.

33

Kahnemann/Tversky Prospect Theory: An Analysis of Decisions under Risk, Econometrica 1979, 47 (2), S. 263 ff. 34 Ein Beispiel: Wenn man Arbeitnehmer dazu bringen will, mehr in die betriebliche Altersvorsorge einzuzahlen, muss man ihnen anbieten, auf einen Teil der Lohnzuwächse in der Zukunft zu verzichten; sie werden das dem finanziell äquivalenten Beitrag aus dem aktuellen Gehalt vorziehen. Darf der Gesetzgeber mit solchen Psychofallen arbeiten? 35 Aufsehen erregte Dan Ariely Predictably Irrational: The hidden forces that shape our decisions, 2008.

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VII. Ethische Erwartungen Es ist, wie gesagt, der methodologische Individualismus, der die Rechtsgutlehre prägt. Die Forschungen zu behavioral economics (um sie ein letztes Mal zu erwähnen) haben nicht nur jene Einsichten in Pragmatismus und „Irrationalität“ vermittelt, sondern auch die Konsistenzen in den Präferenzen der Leute untersucht. Dazu zählen Fairness, die Abneigung gegen Ungleichheit und „reciprocal altruism“ – Werte also, die von persönlichem Nutzen und Wohlergehen weit entfernt sind und meist konträr dazu stehen.36 All das sind noch immer ökonomische Theorien, auch wenn sie Sozialpsychologie etc. integrieren. Sie sind aber immerhin bemüht, ein Menschenbild zu entwerfen.37 Welche ethischen Erwartungen integriert unser Begriff vom Rechtsgut und welche schließt er aus? Ein Rechtsgut kann nur sein, was „für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig“ ist.38 Dieser Begriff nimmt keine Rücksicht auf die Erwartungen und Präferenzen der Normadressaten; er filtert sie nach Kriterien der „Notwendigkeit“, die nicht an „social behaviour“ orientiert sind. Das ist keine Kritik, sondern eine Umschreibung seines Prinzips. Auf diese Weise wird zum Beispiel der bereits erwähnte Tabu-Bruch des Feldes verwiesen. Das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) schütze nicht ein „modernes Tabu“, sondern in Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts den demokratischen Rechtsstaat. „Denn das Tragen solcher Kennzeichen fördert die Ausbreitung verfassungswidriger Organisationen, die für unser freiheitliches Gesellschaftssystem eine Gefahr darstellen.“39 Diese These sichert den Bezug zum Grundprinzip des Rechtsgüterschutzes. Empirisch könnte es allerdings auch umgekehrt liegen: Erst breiten sich die Organisationen aus, und dann demonstrieren sie ihre Existenz durch das Tragen von Kennzeichen.

36

Z. B. Rabin Psychology and Economics, Journal of Economic Literature, 36 (1998), 11 ff; Fehr/Schmidt A Theory of Fairness, Competition and Coperation, The Quarterly Journal of Economics 114 (1999), 817 ff. 37 Darin liegt der endgültige Abschied vom homo oeconomicus begründet. Er zeichnet kein Menschenbild. Er ist (nur) ein „theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen“, Homann/Suchanek Ökonomik, 2. Aufl. 2005, S. 412 38 Roxin AT I § 2 Rn. 7. 39 Roxin AT I § 2 Rn. 45.

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VIII. Ausgrenzung oder Integration? Was würde geschehen, wenn man den Rechtsgutsbegriff öffnet und es als legitime staatliche Aufgabe ansieht, auch Tabus zu schützen,40 ethisch fundierte Erwartungen, „Gefühle“? Auf den ersten Blick steht zu befürchten, dass mehr kriminalisiert wird als unter der Herrschaft des jetzt geltenden Prinzips. Aber die Gesellschaftspolitik zeigt, dass Ausgrenzung ebenso viel Kraft kostet wie Integration. Die Begründungslast bleibt die gleiche. Der Schutz „homogener Überzeugungen“ soll, wie bereits dargelegt (oben V.), nach herrschender Rechtsgutslehre die „absolute Ausnahme“ sein. Er würde ja, wenn man ihn in die staatliche Aufgabe des Strafschutzes einbezieht, nicht zur Regel. Die Anbindung allen Strafrechts an die Verfassung bliebe gewahrt – eine Selbstverständlichkeit. Die Erweiterung des begrifflichen Horizonts über das Individuum und seine Freiheit hinaus würde das Prinzip des Rechtsgüterschutzes anders fundieren, aber nicht mit irgendwelchen Beliebigkeiten konfundieren. Ein Vorteil wäre nicht zuletzt die Harmonisierung mit der Strafzwecklehre, die auf gesellschaftliches Bewusstsein zielt und, wie oben pointiert gesagt, „Gefühle“ bekräftigen will. Zurück zu den Stichworten Ausgrenzung, Integration und Begründungslast. Es kostet einigen Aufwand, Gefühle, Tabus, etc. aus dem Begriff des Rechtsguts auszugrenzen. Wenn man dergleichen einbezieht, ist damit ja nicht automatisch strafrechtlicher Schutz angesagt. Die Begründung, weshalb das geschehen oder nicht geschehen sollte, verlagert sich – bei gleichem argumentativen Aufwand – nur an eine andere Stelle, nämlich zur Verhältnismäßigkeit oder Subsidiarität des strafrechtlichen Eingriffs. Und ich meine, dass sie dort auch hingehört. Man muss nur einmal die Begründung lesen, mit der sich Roxin gegen die Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ wendet.41 Die Ausführungen bleiben genauso eindrucksvoll und überzeugend, wenn man sich das Wort Rechtsgüterschutz hinweg denkt: Es fehlt an der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Mittels Strafrecht. Ich will mit alledem nicht gesagt haben, dass der Begriff des Rechtsguts entbehrlich sei. Erweitert man ihn, wie in dem hier nur skizzierten integrativen Konzept, leistet er nicht mehr als etwa der Handlungsbegriff. Die Vorteile dieses Konzepts scheinen mir darin zu liegen, dass es die „gesamten Strafrechtswissenschaften“ erfasst, also auch den riesigen Bereich der Ordnungswidrigkeiten, der ethischen Verfassung und den Erwartungen unserer Gesellschaft entspricht, deren sozialpsychologische Realitäten aufnimmt, 40 Ich lasse die Frage beiseite, ob nicht die Rechtsfigur des abstrakten Gefährdungsdelikts im Grunde ein moderner Tabuschutz ist, weil sie ein Verhalten tabuisieren. 41 Roxin AT I § 2 Rn 41.

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die Erwartungen an ein nicht anthropozentrisches Strafecht der Zukunft zu integrieren vermag, die Argumente für eine restriktive Handhabung eines liberalen Strafrechts an die richtige Stelle verlagert.

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I. In einer seiner beeindruckendsten Szenen pointiert jener „Klassiker“ der Filmgeschichte, der in der jüngeren biopolitischen Debatte auffällig häufig zum Beleg für das „Menschheitsdrama im Zeitalter der genetischen Optimierung“1 genommen wird, den neuen „Zeitgeist“ aus der Perspektive seiner Hauptfigur in lakonischer Schlichtheit: „Meine Zellen waren mein Schicksal. Weshalb sollte jemand so viel Geld in meine Ausbildung investieren, wenn es tausend andere Bewerber gibt, deren Ergebnisse weitaus »sauberer« sind. Natürlich ist Diskriminierung verboten – Genoismus nennt man das. Aber niemand nimmt das Gesetz ernst! Verweigert man sich der Angabe seiner genetischen Charakteristika, können sie jederzeit eine Probe von einem Türgriff nehmen, oder von einem Händedruck, sogar vom Speichel auf dem Bewerbungsformular; im Zweifelsfall kann man mit einem legalen Drogentest ganz einfach einen illegalen Blick darauf werfen, welche Zukunft man in der Firma hat… Ich gehörte zu einer neuen Unterschicht, die nicht mehr definiert war durch die gesellschaftliche Stellung oder durch die Hautfarbe – nein: Wir haben Diskriminierung zu einem automatischen Prozess entwickelt“2. Der Glaube an die genetische Prädetermination einer jeden Biographie ist die neue Religion, die alles Leben innerhalb der Gesellschaft von Kindesbeinen an beherrscht: Sie zwingt jedermann, „mit eben jenen Karten zu spielen, die ihm ausgeteilt wurden“, sowohl die „Invaliden“, deren Schicksal die Eltern „lieber in Gottes Hände als in die ihres Hausgenetikers“ gelegt haben, aber auch die „Validen“, die „Vitros“, deren Lebensweg aufgrund ihres „genetischen Quotienten“ eigentlich schon mit ihrer Geburt garantiert war: Doch auch diese leiden, wenngleich unter einer anderen Last: der „Last 1 2

Nord F.A.Z. v. 15.02.2002, Nr. 39, BS6. Niccol Gattaca, 1997.

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der Perfektion“; für sie gibt es also „keine Ausreden mehr für ein Versagen“. Das Blutbild ist der „neue Pass“, der über Karrierewege ebenso wie über soziale Kontakte, Freundschaften und Familiengründung3 bestimmt: Wer als „Degenerierter“ gilt, kann noch so viel lernen, trainieren oder sonst sich anstrengen und hat innerhalb der Legalität dennoch keine Chance. Und ebenso wenig haben die Eltern im Rahmen ihrer „Reproduktionsplanung“ noch eine „freie Wahl“ bei der Inanspruchnahme jener neuen Möglichkeiten der artifiziellen Optimierung, wenn in der „schönen neuen Welt“4 das humangenetische Beratungsgespräch etwa wie folgt verläuft: Genetiker: „Ich war so frei und habe alle potentiell abträglichen Beschwerden ausgeschaltet: vorzeitige Kahlheit, Kurzsichtigkeit, Alkoholismus, Gewaltbereitschaft und Fettleibigkeit usw.“ Eltern: „Wir wollten keine schweren Krankheiten …, ja, aber… wir haben uns nur gefragt, ob wir vielleicht ein paar Dinge nicht doch dem Zufall überlassen sollten…“ Genetiker: „Sie wollen doch für Ihr Kind den bestmöglichen Start. … Vergessen Sie nicht: Das Kind ist noch immer von Ihnen, nur eben das Beste von Ihnen. Sie könnten tausendmal empfangen, und niemals ein solches Ergebnis erzielen.“5 Diese Impressionen aus der Welt „Gattaca“6 entfalten ihre beklemmende Wirkung wahrlich nicht zuletzt dadurch, dass sie sich nur graduell von der Gegenwart unterscheiden.7 Denn seit der gelungenen Sequenzierung des menschlichen Genoms gelten auch in unserer Welt die Gene als „Schlüssel für das Ganze“ und richten sich alle Blicke (und Förderprogramme) hoffnungsvoll insbesondere auf die Fortschritte der medizinischen Genomforschung, die möglichst rasch neue Therapiemöglichkeiten vorzugsweise für die sog. „Volkskrankheiten“ und für neurologische Regressionsverläufe entwickeln soll.8 Dass das bisherige Ausbleiben von Erfolgen auf diesem 3 Ebenso beeindruckende Szene: Eine Arbeitskollegin interessiert sich für die Hauptfigur, stiehlt aus dessen Schreibtisch ein Haar und lässt es „an der Straßenecke“ genetisch untersuchen. Nach wenigen Minuten erhält sie das umfangreiche Auswertungsergebnis per Computerausdruck mit dem Hinweis: „9,3, ein guter Fang!“. 4 Huxley Brave New World, 1932. 5 Wie Fn. 2. 6 Bekanntlich verweist der Titel auf die vier Nukleinbasen der DNA: A für Adenin, C für Cytosin, G für Guanin und T für Thymin. Die Abfolge GATTACA eben dieser Basen kann erstaunlich oft in der menschlichen DNA gefunden werden. 7 In diesem Sinne schon Platthaus F.A.Z. v. 11.07.1998, Nr. 158, 39. 8 Beispielhaft sei nur auf den Ankündigungstext der (bei Manuskriptschluss) aktuellen Jahrestagung der medizinischen Genomforschung hingewiesen (http://www.molgen.mpg.de /news/news-molgen-mpg-de-22.11.2010/PM_2010_11_23_ngfn_Jahrestagung.pdf).

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Gebiet nicht nur durch unzureichende Erkenntnisse, sondern weit mehr durch eine viel größere Komplexität des Zusammenwirkens von genetischen und epigenetischen Einflüssen jenseits von Monokausalitäten und genetischen Allmachtsphantastereien bedingt sein könnte, ist eine Einsicht, die sich erst langsam zu verbreiten scheint. Hier wie auch schon im Rahmen der Schwangerenvorsorge und neuerdings im Kontext der Genanalyse nach künstlicher Befruchtung (Präimplantationsdiagnostik) konzentrieren sich alle Bemühungen und Zielvorstellungen zwar auf die Prävention „schwerster erblicher Schädigungen“; doch lässt schon die Praxis der PND, aber im Kontext der PID nicht zuletzt auch die Bezugnahme des Bundesgerichtshofs auf die „in § 3 S. 2 ESchG … normierte Ausnahme vom Verbot der Geschlechtswahl“9 erkennen, dass die „Grenze“ zwischen „negativer“ und „positiver“ Eugenik fließend und keineswegs naturgegeben ist.10 Ganz in diesen Kontext einer durch die genetische Ausstattung und der mit ihr verknüpften Risikokalkulation beherrschten (Negativ-)Bewertung gehört auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008:11 Auf der Suche nach einem „Strafgrund“, der die Kriminalisierung des Beischlafs zwischen Geschwistern (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB) rechtfertigen könnte, stützt sich der Senat „ergänzend“ auf „eugenische Gesichtspunkte“, womit er den Umstand meint, dass bei evtl. gezeugten Kindern „die Gefahr erblicher Schädigung nicht ausgeschlossen werden könne“. Das strafbewehrte Inzestverbot lasse sich daher (auch) „unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als irrational ansehen“ 12. Blickt man auf die tatbestandliche Fassung der Strafvorschrift, so muss diesem Begründungsgang sogar weiter reichend nicht etwa nur „ergänzendes“, sondern ausschlaggebendes Gewicht zukommen: Denn nur in diesem Lichte wird verständlich, warum sich das Handlungsunrecht von vornherein auf den Vollzug des Beischlafs beschränkt, während die Delikte zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung (§§ 174 ff StGB) sonst zur Markierung der unteren Strafbarkeitsgrenze durchweg schon die Vornahme „sexueller Handlungen“ (§ 184 f StGB) genügen lassen (vgl. §§ 174-174c, 176, 177 Abs. 1, 179 f, 182, 183a StGB).13 Nur wenn sich der Blick über die sexuelle 9

BGH NJW 2010, 2672 ff. Statt vieler z. B. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001, S. 38; Kollek Präimplantationsdiagnostik, Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2000, S. 153. 11 BVerfGE 120, 224 ff m. Bspr. Roxin StV 2009, 544 ff, m. Fn. 4 zu weiteren (durchweg ablehnenden) Stellungnahmen aus der Strafrechtswissenschaft. 12 BVerfGE 120, 224 (247 f). 13 Die abweichende systematische Einordnung des § 173 StGB ließe sich vielleicht noch als redaktionelles Versehen deklarieren, für die von den §§ 174 ff StGB abweichende Restriktion des Tatunrechts bedarf es jedoch eines überzeugenden Sacharguments. 10

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Betätigung hinaus (von deren regelmäßiger Freiheitlichkeit bei erwachsenen Personen14 auch der Gesetzgeber ausgeht) auf die allein aus einem Beischlaf ggf. resultierenden Folgen (bei unterbliebener Verhütung) richtet, gewinnt die verhaltensbezogene Restriktion an Plausibilität. Nicht anders liegt es mit dem schon vom historischen Gesetzgeber zur Begründung herangezogenen Rechtsgut des „Schutzes von Ehe (?) und Familie“15: Nichts spricht nämlich für die Annahme, dass die behaupteten „familienschädlichen Wirkungen“ qua Störung der „sozialen Rollenverteilung“ und des „familiären Ordnungsgefüges“16 nur bei einem Beischlaf, nicht jedoch bei Vornahme sonstiger sexueller Handlungen zu besorgen seien. Im Übrigen verlangt der Tatbestand allein das Geschwisterverhältnis als solches, nicht etwa das Bestehen einer „häuslichen Gemeinschaft“ (arg. e contr. § 247 StGB)17, die bei Volljährigen (vgl. § 173 Abs. 3 StGB) heutzutage ohnehin nur ausnahmsweise noch gegeben sein dürfte. Trifft es außerdem zu, dass – so das eigens eingeholte Rechtsgutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht – der Inzest meist „nicht die Ursache, sondern die Folge zerrütteter Familien ist“18, so bleibt in der Tat ganz und gar „unerfindlich“, welche „Familie“ unter diesen Umständen überhaupt (noch) geschädigt werden könnte.19

II. Die gesamte Last der behaupteten „Strafwürdigkeit“ des Geschwisterinzests (im Sinne eines Werturteils über die Notwendigkeit des „sozialethischen Tadels“)20 trägt somit das „erbbiologische Argument“, dessen Relevanz das Bundesverfassungsgericht augenfällig mit Rücksicht auf seine

14

Und nur erwachsene Personen – überdies beide Geschwisterteile – machen sich strafbar, § 173 Abs. 3 StGB! 15 Vgl. BT-Drucks. VI/1552, S. 14; VI/3521, S. 17. 16 BVerfGE 120, 224 (244 f). 17 Läge es anders, müsste über die Brücke des § 11 Abs. 1 Nr. 1a StGB das Zusatzerfordernis der Familiengemeinschaft überall dort verlangt werden, wo das Gesetz Geschwister als „Angehörige“ erfasst (z. B. §§ 157, 213, 230, 258 Abs. 6 StGB). 18 Albrecht/Sieber Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen Geschwistern, 2007, S. 83. 19 Treffend Roxin StV 2009, 546. 20 Zur „Strafwürdigkeit“ im Unterschied zur „Strafbedürftigkeit“ näher Roxin AT I § 23 Rn. 34 ff; grundlegend Otto Schröder GS, 1978, 53 ff; zum Missbilligungscharakter der Kriminalstrafe insbesondere Kühl FS Eser, 2005, 149 ff.

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historische Diskreditierung in den Hintergrund zu rücken sucht. 21 Für die Annahme, dass es im hiesigen Kontext gleichwohl in Anspruch genommen werden dürfe, genügt es jedoch nicht, pauschal auf die Andersartigkeit des lebensweltlichen Kontextes verglichen mit den Verbrechen des NS-Regimes zu rekurrieren: Nur weil es heute nicht mehr aus Gründen der „Rassenhygiene“ um eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ geht, folgt noch keineswegs die Legitimation für die Bestrafung jener, die trotz ihrer „schadensgeneigten“ genetischen Disposition fortpflanzungsgeeignetes Verhalten ausüben. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 193322 sah für ausgewählte erblich bedingte (körperliche oder psychische) Behinderungen bekanntlich die „Zwangssterilisierung“ zwecks einer „dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und Rassenpflege“23 vor, was der Deutsche Bundestag später als „nationalsozialistisches Unrecht“ und daher mit dem Grundgesetz unvereinbar auswies.24 Soll allein die Intensität des staatlichen Zwangszugriffs auf der Rechtsfolgenseite bei ansonsten gleicher Werthaltung (keine tolerierbare Fortpflanzung bei zu erwartenden erblichen Schädigungen) den entscheidenden Unterschied zwischen heute und damals ausmachen? Was sich in diesem Licht nur mit besonderer Schärfe zeigt, ist das weitreichende normative Begründungsdefizit der vom Bundesverfassungsgericht präsentierten „erbbiologischen Argumentation“: Selbst wenn in bestimmten Konstellationen die Zeugung von Kindern tatsächlich mit einem genetisch bedingten Schadensrisiko behaftet ist, besagt das noch nichts darüber, ob dies – gemessen an der geltenden Gesamtrechtsordnung und ihrer tragenden Prinzipien – zum Anknüpfungspunkt genommen werden darf für hoheitliche Interventionen und insbesondere für ein strafbewehrtes Verbot. Genauer muss dabei in normativer Hinsicht zwischen drei Ebenen unterschieden werden: Erstens ist zu differenzieren hinsichtlich des (primär) verfolgten Ziels; soll der Genpool des Kollektivs im Sinne einer übergreifenden Gesundheits- und Bevölkerungspolitik zugunsten der als positiv klassifizierten Erbanlagen beeinflusst oder sollen bei Kindern einer bestimmten 21

Vgl. BVerfGE 120, 224 (248): „Die ergänzende Heranziehung dieses Gesichtspunkts … ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist“. 22 RGBl. I, S. 529. Zur Vorgeschichte des Gesetzes vgl. Senn ZRG GA 116 (1999), 407 ff; zu seiner Umsetzung Czeguhn in: Czeguhn/Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie 1850-1945, 2009, S. 147 ff; zur Geschichte des Gesetzes nach 1945: Zielke Sterilisation per Gesetz, 2006. 23 Gütt/Rüding/Ruttke Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, 2. Aufl. 1936, S. 55: „Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassengedankens“. 24 BT-Drucks. 11/1714; siehe auch BT-Drucks. 13/10284 sowie Gesetz v. 25.08.1998 (BGBl. I, S. 2501).

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Familie konkret befürchtete erbliche Schädigungen verhindert werden? Diese beiden doch sehr unterschiedlichen Zielsetzungen werden vom Bundesverfassungsgericht merkwürdig miteinander vermischt, indem zunächst von „eugenischen Gesichtspunkten“ gesprochen (vgl. die Begriffsbestimmung bei Francis Galton: „Wissenschaft von der Verbesserung der Rasse“) 25, im Anschluss aber ausschließlich auf das durch die spezifische Konstellation bedingte Risiko von Erbschäden abgestellt wird. Zweitens bedarf es der Unterscheidung, wer auf der Grundlage einer „erbbiologisch“ motivierten Zielsetzung die jeweilige Entscheidung zu treffen hat: die fortpflanzungswillige Person selbst (und ihr Partner) i. S. einer sog. „liberalen Eugenik“ oder die staatliche Hoheitsgewalt. Im erstgenannten Fall kann es stets nur um das konkrete Risiko einer evtl. (Schadens-)Folge im Zeugungsfall gehen, während in letzterem je nach Regelungszusammenhang divergierende Zwecke intendiert sein können: entweder die individuelle, ggf. gegen eine Fortpflanzung gerichtete Entscheidung lediglich zu ermöglichen oder aber das Verhalten der Normadressaten durch Beschränkung des Handlungsspielraums im Legalbereich gezielt zu regulieren, sei es nur punktuell durch Implementieren eines „erbbiologisches Anknüpfungsverbot“ aus Gerechtigkeitsgründen (mit tendenziell fortpflanzungsfreundlicher Wirkungsrichtung) oder mit weit größerer Eingriffsintensität im Wege eines expliziten Fortpflanzungsverbots. Ein solches stünde allerdings stets im Verdacht, nicht – jedenfalls nicht ausschließlich – der Prävention individuellen Leids zu dienen (dessen Eintritt doch keineswegs sicher ist), sondern der Vermeidung von erbgeschädigten Kindern aus Gründen des „Gemeinwohls“. Die dritte normative Ebene hat schließlich die genuin strafrechtliche Legitimationsfrage zum Gegenstand, ob sich der Einsatz des Strafrechts – eine legitime Zielsetzung vorausgesetzt – mit Blick auf jene dem pönalisierten Verhalten in tatsächlicher Hinsicht immanenten Gefahr rechtfertigen lässt. Auch insoweit gibt der bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsgang Rätsel auf: Zum einen wird – als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – das „ultima-ratio-Prinzip“ hervorgehoben, wonach die Androhung und ggf. Verhängung und Vollstreckung von Kriminalstrafe wegen des mit ihr verbundenen Unwerturteils nur dann in Betracht komme, wenn das betreffende Verhalten „in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist“26. Im Hinblick auf die besorgte „Gefahr des 25 In: Inquiries into Human Faculty and its Development, 1885, S. 24; Sachlich deckungsgleich führte Ploetz den Begriff der „Rassenhygiene“ ein, vgl. in: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, 1895, S. 13: „Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung und Vervollkommnung der menschlichen Rasse…“. 26 BVerfGE 120, 224 (240).

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Entstehens von Erbschäden“ lässt es das Gericht jedoch genügen, dass diese „nicht ausgeschlossen werden könne“27. Dabei hat sich in jüngerer Vergangenheit doch zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass legitimer Gegenstand des Strafrechts nur jenes rechtsgutsgefährdende Verhalten sein kann, das einen „hinreichenden Rechtsgutsbezug“28 aufweist, mit dem also in Bezug auf das jeweilige Rechtsgut ein substantielles, spezifisches Schädigungspotential einhergeht.29 Da der Gedanke des Rechtsgüterschutzes als solcher eher zur Früh- und „Rundumverteidigung“30 denn zur Begrenzung des strafrechtlichen Zugriffs drängt, bedarf es nach v. Hirsch ergänzend der Feststellung eines (hinreichend manifesten) „Zurechnungszusammenhangs zwischen dem in Frage stehenden Verhalten und der (möglichen) Gefährdung oder Beeinträchtigung andererseits“31. Der zur kriminellen „Tat“ erhobenen Handlungsweise muss somit – wenngleich je nach „Bedeutsamkeit“ des auf dem Spiele stehenden Schutzinteresses sicherlich variierend32 – in der jeweiligen Lebenssituation eine typische, d. h. mehr als nur denkmögliche, der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechend naheliegende Schadensträchtigkeit immanent sein.33

III. Gemessen an der vorstehend skizzierten Strukturanalyse lässt sich für § 173 Abs. 2 S. 2 StGB jedenfalls hinsichtlich der Entscheidungskompetenz eine klare Zuordnung vornehmen: Die hoheitliche Intervention eröffnet für die Normadressaten keinerlei Handlungs- und Entscheidungsspielräume; vielmehr ist ganz im Gegenteil das pönalisierte Verhalten, das im Vorfeld einer möglichen (aber keineswegs sicheren) Fortpflanzung liegt, für verboten und strafbar erklärt. Dass dies ausschließlich der Abwendung individuellen Leids diene, konkret also die Belastung (allein) der Eltern mit einem schwer behinderten Kind oder eine traumatisch verlaufende Schwangerschaft mit frühzeitigem Kindstod (vor oder nach der Geburt) verhindern 27

BVerfGE 120, 224 (247). Roxin FS Hassemer, 2010, 589. 29 Siehe dazu z. B. Duttge FS Weber, 2004, 295 m. w. N. 30 Zur „Sogwirkung“ treffend Kühl FS Tiedemann, 2008, 37. 31 In: GA 2002, 11; vgl. auch Wohlers GA 2002, 17; in der Sache ebenso Frisch in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 227; vertiefend v. Hirsch/ Wohlers (ebd.) S. 200 ff. 32 In diesem Sinne bereits Geppert Schlüchter GS, 2002, 55. 33 Dazu am Beispiel des § 323a StGB jüngst Duttge FS Geppert, 2011, 63 ff; siehe auch Hirsch FS Tiedemann, 2008, 148 f mit Unterscheidung zwischen „konkreten“ und „abstrakten Gefährlichkeitsdelikten“, von denen bei den letztgenannten das „materielle Unrecht“ fehle („bloß formeller Normungehorsam“). 28

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solle, ist schon deshalb wenig glaubhaft, weil es die Rechtsordnung in sonstigen Fällen als eine höchstpersönliche Angelegenheit des jeweiligen Paares ansieht, von den evtl. genetischen Risiken überhaupt Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, hieraus Schlussfolgerungen gar in Richtung einer sexueller Enthaltsamkeit zu ziehen. Das neue Gendiagnostikgesetz34 legt die Entscheidungsbefugnis über die Ermittlung des erbbedingten Schädigungsrisikos ganz in die Hände der im Rahmen der humangenetischen Beratung untersuchungswilligen Personen, die in die Vornahme einer genetischen Analyse (nach umfänglicher Aufklärung) und zusätzlich in die Kenntnisnahme von deren Ergebnis („Recht auf Nichtwissen“)35 einwilligen müssen (§§ 8 f GenDG). Wird die Einwilligung vor Befunderhebung bzw. vor Kenntnisnahme widerrufen, so hat dies grundsätzlich die unverzügliche Vernichtung der Proben und Daten zur Folge (vgl. §§ 12 Abs. 1 S. 4 i. V. m. S. 2 Nr. 2, Abs. 2, 13 Abs. 1 S. 2 GenDG)36 und bleibt das evtl. erbbedingte Risiko für das weitere Geschehen ohne jedwede rechtliche Relevanz: Weder kann das Paar zwangsweise untersucht noch an der Zeugung von (ggf. geschädigten) Kindern gehindert werden, und schon gar nicht am Sexualverkehr (selbst unter Verwendung von Verhütungsmitteln). Dies und insbesondere das Einwilligungserfordernis gilt auch für die sog. „genetischen Reihenuntersuchungen“, d. h. für solche, die (wie z. B. das Neugeborenenscreening)37 zu medizinischen Zwecken „systematisch der gesamten Bevölkerung oder bestimmten Personengruppen … angeboten“ werden (§ 3 Nr. 9 GenDG). In den Gesetzesmaterialien ist zwar missverständlich auch davon die Rede, dass in diesen Konstellationen „das öffentliche Interesse an der Reihenuntersuchung über das individuelle Interesse der untersuchten Person gestellt“ werde,38 zugleich aber von der „Gefahr einer Druckausübung auf Teilnahme“39, was nur unter der Prämisse der Freiwilligkeit vorstellbar ist. Selbst im Falle einer Kollision mit dem „Kindeswohl“ wird die ablehnende Entscheidung der Eltern jedenfalls nach Hinweis auf mögliche rechtliche Folgen bei Erkrankung des Kindes akzeptiert (sog. „informed refusal“)40.

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Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen v. 31.07.2009 (BGBl. I, S. 2529, S. 3672). 35 Dazu im Überblick Duttge DuD 2010, 34 ff. 36 Zu Recht kritisch zur paternalistischen „Schutzklausel“ des § 12 Abs. 1 S. 3 GenDG: Genenger NJW 2010, 115. 37 Vgl. BR-Drucks. 633/08, S. 41. 38 BR-Drucks. 633/08, S. 66. 39 Wie vorstehende Fn. 40 Dazu näher Liebl u. a. Monatsschrift für Kinderheilkunde 2001, 1329; siehe auch die „Richtlinie zur Organisation und Durchführung des Neugeborenenscreenings auf angeborene Stoffwechselstörungen und Endokrinopathien in Deutschland“, Monatsschrift für Kinderheilkunde 2002, 1425: „Wie andere freiwillige medizinische Maßnahmen erfordert das Screening

Strafbarkeit des Geschwisterinzests aufgrund „eugenischer Gesichtspunkte“? 235

Aus alledem folgt: Die Annahme, dass sich die Strafbarkeit des Geschwisterinzests mit dem Präventionsgedanken hinsichtlich erbgeschädigter Kinder begründen lasse, ist unabhängig von den damit in Bezug genommenen empirischen Grundlagen schlechterdings unvereinbar mit den im Medizinrecht fest verankerten Grundwertungen des Gesetzgebers zugunsten des Selbstbestimmungsrechts und der Privatsphäre aller evtl. genetisch belasteten Personen. Mit dieser auf evtl. künftige Kinder41 gerichteten Begründung allein die geschwisterlichen Paare herauszugreifen und diese – noch dazu pauschaliter – massiv in ihrer Fortpflanzungsfreiheit zu hindern, zerstört die „Einheit der Rechtsordnung“42 und verletzt jenseits des jedenfalls naheliegenden Eingriffs in den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ 43 mit Blick auf sonstige Träger „ungesunder“ Gene auch den Gleichheitssatz. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik nennt in ihrer kritischen Stellungnahme zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts das Beispiel eines nicht blutsverwandten Elternpaares, das ein Kind mit einer rezessiv vererbbaren Krankheit wie Mukoviszidose oder spinale Muskelatrophie geboren hat: Das Risiko für ein weiteres Kind mit eben derselben Erkrankung beträgt 25 %, bei anderen genetischen Konstellationen besteht sogar ein noch höheres Risiko, und „dennoch wird für solche Elternpaare, genauso wie für andere Paare auch, die Entscheidungsfreiheit über die Verwirklichung ihres Kinderwunsches und die damit verbundene individuelle Risikobewertung … zum unantastbaren Kernbestand ihres Persönlichkeitsrechts gezählt“44. Gleichsam als Lehre aus ihrer eigenen historischen Verstrickung hat sich die Deutsche Humangenetik in ihrer „Erklärung anlässlich des 75. Jahrestages der Verkündung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mit Nachdruck „von jeder Form eugenischer Bestrebungen“ und „jeder Form von Diskriminierung … aufgrund von genetisch bedingter Krankheit oder Behinderung“ distanziert.45 Unabhängig davon, ob man die bloße Merkmalsträgerschaft der potentiellen Eltern46 ohne eigene funktionelle die in der Krankenakte dokumentierte Einwilligung eines Elternteiles“; zu den Einzelheiten vgl. Höfling/Dohmen MedR 2005, 331 f. 41 Roxin bezweifelt deshalb mit guten Gründen schon den Rechtsgutsbezug, vgl. in: StV 2009, 547. 42 Zum gleichheitsverbürgenden Postulat einer „geistigen Einheit des rechtlichen Sollens“ grdl. Engisch Die Einheit der Rechtsordnung, 1935 (Neudruck 1987). 43 Dazu überzeugend Roxin StV 2009, 547 f. 44 Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V. Eugenische Argumentation im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot, Stellungnahme v. 29.04.2008 (abrufbar unter: http://www.gfhev.de/de/startseite_news/2008_GfH_Stellungnahme_Inzesturteil.pdf). 45 Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V. medgen 2008, 331 f. 46 Somit abweichend von der Konstellation beim Schwangerschaftsabbruch wegen „embryopathischer Indikation“, dazu einerseits BVerfGE 88, 203 (256 f), andererseits v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 3 Abs. 3 Rn. 421 m. w. N. (auch zur Gegenauffassung).

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Beeinträchtigung bereits vom Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erfasst sehen will oder nicht (genetische Aberration mit evtl. erblicher Schädigungsfolge als „regelwidriger körperlicher Zustand“47?), steht jedenfalls Art. 3 Abs. 1 i. V .m. Art. 1 Abs. 1 GG, im hiesigen Kontext konkretisiert durch die Zielsetzung des Gendiagnostikgesetzes (siehe § 1)48, einer Anknüpfung an die genetische Disposition für gleichheitswidrige Beschränkungen der Handlungs- und Entfaltungsfreiheit diametral entgegen. Die durch das Beischlafverbot des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB erzwungene (partielle) Außerfunktionsetzung der Geschlechtsorgane (im Hinblick auf den Partner der Wahl) reicht in ihrer Eingriffsintensität noch weiter als die – mit Blick auf den benannten Präventionszweck weit zielführendere – Sterilisation. Diese ist aber grundsätzlich nur mit Einwilligung der betroffenen Person erlaubt, mithin als Resultat der eigenverantwortlichen Lebensplanung und Entscheidung gegen eine Elternschaft. Die Sterilisation von Kindern schließt § 1631c BGB deshalb selbst bei Vorliegen der elterlichen Zustimmung kategorisch aus. Auch bei einwilligungsunfähigen Erwachsenen eröffnet § 1905 BGB die Möglichkeit eines dahingehenden ärztlichen Eingriffs nur, soweit dies nicht dem „natürlichen Willen“ des Betroffenen widerspricht;49 zudem muss bei Unterbleiben desselben ernstlich eine („nicht durch andere zumutbare Mittel“ zu verhindernde) Schwangerschaft zu besorgen sein, mit der für die konkret Betroffene „eine Gefahr für das Leben oder … einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands“ einherginge, „die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte“ (Abs. 1 Nr. 3-5). Die Regelung richtet sich daher dezidiert gegen jedwede „Zwangssterilisation“ (vgl. Abs. 1 Nr. 1) und erlaubt Maßnahmen einzig und allein im höchstpersönlichen (medizinischen) Interesse der betroffenen Person;50 Dritt- oder Allgemeinin47

BVerfGE 57, 153 (160); 96, 288 (301); 99, 341 (356 f); v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 3 Abs. 3 Rn. 418; anders die sozialrechtliche Begriffsbestimmung, die auf eine Beeinträchtigung der Eingliederung in die Gesellschaft abstellt (z. B. BSG Soziale Sicherheit 1993, 28). 48 „Zweck dieses Gesetzes ist es, … eine Benachteiligung auf Grund genetischer Eigenschaften zu verhindern, um insbesondere die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren“. 49 Gleichgültig, ob verbal, durch Gesten oder körperliche Gegenwehr zum Ausdruck gebracht, vgl. dazu MüKo-BGB-Schwab § 1905 Rn. 17. 50 Ob hinsichtlich der Indikation die Ähnlichkeit des Gesetzestextes mit § 218a Abs. 2 StGB trotz Aussparens der dort zu berücksichtigenden „gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse“ mittelbar auch das Einbeziehen „embryopathischer“ Risiken erlaubt, wird hier – soweit ersichtlich – offenbar nicht erörtert. Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung kommt jedenfalls nur bei krankheitsbedingter Veranlassung i. e. S. in Betracht, vgl. § 24b SGB V.

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teressen bilden gerade keine tragfähige Rechtfertigung.51 Selbst die durch einen „abnormen Geschlechtstrieb“ motivierte Kastration setzt nicht nur die Einwilligung des Betroffenen voraus, sondern eine Zielsetzung, die bei diesem eine damit einhergehende schwerwiegende Störung oder ein schwerwiegendes Leiden zu heilen bzw. zu lindern oder dem Betroffenen im Falle vorausgegangener Sexualstraftaten „bei seiner künftigen Lebensführung zu helfen“ sucht (§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 KastrG; zum erforderlichen Einverständnis bei Einwilligungsunfähigen vgl. § 3 Abs. 3 Nr. 1 KastrG; bei Unfähigkeit bedarf es einer vitalen Indikation, vgl. § 3 Abs. 4 KastrG). Ein hierauf gerichteter Zwangseingriff würde die von der Rechtsordnung bewusst eng gezogenen Grenzen eindeutig überschreiten; wie sollte sich dann aber in diesem Licht die (partiell) erzwungene Unterdrückung des Sexualtriebes legitimieren lassen? Mit der Einbeziehung des Eheverbots aus § 1307 BGB hat allerdings kürzlich Krauß noch einen weiteren bedenkenswerten Gesichtspunkt eingeführt: Dieses lasse sich möglicherweise als Beleg dafür ansehen, „dass der Strafgesetzgeber mit § 173 Abs. 2 S. 2 StGB nicht im Moralbereich herumirrt, sondern mit den außerstrafrechtlichen Bestimmungen einen legitimen Schutzzweck, eben ein Rechtsgut, gefunden“ habe. Eine solchermaßen „normbezogene Deutung“ des Inzestverbots könne als „Pönalisierung außerehelicher Sexualpartnerschaften von Geschwistern und damit als Stabilisierung des Eheverbots und einer verbotsbezogenen Krisenintervention“ verstanden werden.52 Auch die von der h. M. befürwortete „teleologische Reduktion“ des § 173 StGB im – praktisch kaum mehr vorstellbaren – Fall eines ehelichen Beischlafs zwischen Blutsverwandten (nach irrtümlicher Eheschließung)53 würde hierzu gut passen. Das Praktizieren einer „wilden Ehe“ als solches vermag aber nicht zu erklären, warum dies gerade bei Geschwistern, aber nicht in anderen personellen Konstellationen strafbar sein soll. Eine „eugenische“ Zwecksetzung kann hierfür, wie Krauß selbst erkennt, jedenfalls keinen Aufschluss liefern, zumal sich § 1307 BGB auch auf die sog. halbbürtigen Geschwister erstreckt, zwischen denen also wegen Verschiedenheit des Vaters oder der Mutter gar keine genetische Verwandtschaft besteht. Das Eheverbot steht daher ersichtlich im Zusammenhang mit familien- und gesellschaftsbezogenen Aspekten, von denen bereits die Rede war: Klarstellung der „sozialen Rolle“ jedes Familienmitglieds und Verhin-

51 Vgl. BT-Drucks. 11/4528, S. 75; Soergel-Zimmermann BGB § 1905 Rn. 8, wonach das Gesetz auch kein „Wohl des noch ungezeugten Kindes“ anerkenne, „niemals zu existieren“. 52 Krauß FS Hassemer, 2010, 430. 53 Siehe etwa HKGS-Rotsch/Gasa § 173 StGB Rn. 2; Schönke/Schröder/Lenckner § 173 Rn. 5, jew. m. w. N.; a. A. noch RGSt 5, 159 ff.

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derung einer „Geschlechtskonkurrenz“ innerhalb der Kernfamilie. 54 Für die angenommene Schädigung der jeweils konkreten Familie fehlt es jedoch am Schadensnachweis wie auch an einem einleuchtenden Grund für die Ungleichbehandlung gegenüber anderen grob familienschädlichen Handlungen;55 soweit hingegen auf ein außerhalb des familiären Zusammenlebens bestehendes „Ordnungsgefüge“ abgestellt wird, so handelt es sich hierbei nach den treffenden Worten Claus Roxins um eine bloße Fiktion und nicht um ein Rechtsgut.56 In seiner normativen Dimension ist das Eheverbot im Übrigen bereits durch das Verbot der Doppelehe (§ 172 StGB) abgesichert und bedarf daher keiner weiteren „Stabilisierung“.

IV. Stehen dem „embryopathischen“ bzw. „eugenischen“ Argument als Grundlage für hoheitliche Zwangsinterventionen somit schon die Regelungsprinzipien der dem Strafrecht vorgelagerten (Primär-)Rechtsordnung entgegen,57 so kommt der empirischen Substanz einer solchen Argumentation nur noch Relevanz im Rahmen der – das Ergebnis im Ganzen allenfalls bekräftigenden – strafrechtlichen Legitimationsfrage zu. Um diese differenziert beantworten zu können, bedarf es nochmals der Vergegenwärtigung, warum und inwieweit überhaupt von einem erhöhten, genetisch bedingten Schadensrisiko bei der Fortpflanzung von (vollbürtigen) Geschwistern ausgegangen werden kann. Das Problem liegt in Folgendem:58 „Da Verwandte in einem Teil ihres Genmaterials exakt übereinstimmen, treffen bei einer 54 Vgl. etwa MüKo-BGB-Müller-Gindullis § 1307 Rn. 1; in diesem Sinne auch StaudingerSträtz BGB § 1307 Rn. 5. 55 Dazu bereits mit Recht Roxin StV 2009, 546: „aus Untreue, Egoismus, Gefühlsrohheit…, ohne dass je daran gedacht würde, ein solches Verhalten per se unter Strafe zu stellen“. 56 Ebd. 57 Über das vorstehend Benannte hinaus könnte aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sogar ein explizites, gegen Diskriminierung gerichtetes „Anknüpfungsverbot“ resultieren, wie es in der Debatte um eine evtl. Wiedereinführung der „embryopathischen Indikation“ (zwecks Eindämmung der „Spätabbrüche“) kontrovers diskutiert wird. Insoweit ist das geltende Recht allerdings unklar, weil es die mittelbare Einbeziehung dieser Fälle in die „medizinisch-soziale Indikation“ (§ 218a Abs. 2 StGB) akzeptiert, wie die jüngste Änderung des SchwKG (vgl. dort § 2a Abs. 1) nun auch mit der Autorität des Gesetzgebers ausweist. Zum Problem näher (jew. m. w. N.): Duttge in: Wewetzer/Wernstedt (Hrsg.), Spätabbruch der Schwangerschaft: Praktische, ethische und rechtliche Aspekte eines moralischen Konflikts, 2008, S. 86 ff; ders. in: Schumann (Hrsg.), Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen bei embryopathischem Befund, 2008, S. 95 ff, sowie zuletzt in: Festschrift anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Institute of Comparative Law der Chuo Unviersity Tokio, 2011 [im Erscheinen]. 58 Nach Klein, Inzest: Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, 1991, S. 86 ff; siehe auch Albrecht/Sieber (Fn. 18) S. 112 ff m. w. N.

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zwischen ihnen herbeigeführten Befruchtung gehäuft gleiche Allele59 auf den einander entsprechenden Genloci zusammen. Genetisch bedeutet damit Inzucht die Vermehrung der homozygoten60 und Verminderung der heterozygoten61 Genpaare … Die Homozygotisierung umfasst natürlich auch das Homozygotwerden der rezessiven62 Allele, einschließlich … der ggf. vorhandenen schädlichen rezessiven Allele. Letztere kommen im homozygoten Zustand mit ihren vitalitätsmindernden Erbinformationen ungehindert zum Zuge. Das Ausmaß der durch Inzucht bewirkten Homozygotisierung hängt davon ab, wie groß der gemeinsame Erbgutanteil der verwandten Eltern ist. Findet Inzucht in der ersten Generation statt und weisen die inzüchtenden Eltern noch völlige Heterozygotie auf, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit für die Homozygotenrate der Nachkommen immer die Hälfte des übereinstimmenden Erbgutanteils der Eltern“. Da Geschwister in der Hälfte ihrer Gene übereinstimmen, liegt bei ihnen der Inzuchtkoeffizient somit bei 25 %. Dieses Risiko besteht realiter und nicht nur virtuell aber erst dann, wenn zwei Personen zusammenkommen, die auf derselben Ausprägung ihres Erbmaterials Merkmalsträger derselben schädlichen Disposition sind (meist infolge Fehlens eines für den Stoffwechsel erforderlichen Proteins). Mit welcher Wahrscheinlichkeit für die verschiedenen in Betracht kommenden Erbkrankheiten in den Bevölkerungen einzelner Länder jeweils mit einer erblichen Belastung auf einem der rezessiven Allele konkret gerechnet werden muss, ist offenbar bisher wenig geklärt: Das Gutachten des MaxPlanck-Instituts referiert eine Studie mit 38 Populationen aus Asien, Afrika, Europa und Südamerika, die das Risiko für eine Übertragung genetischer Anomalien bei inzestuösen im Vergleich zu nicht-verwandten Verbindungen um den Faktor von 1,7 bis 2,8 % höher liegend einschätzt.63 Sofern das Auftreten einer schweren genetischen Schädigung bei nicht verwandten Eltern tatsächlich nur „ein seltener Zufall“ ist,64 scheint sich die statistische Risikoerhöhung trotz der bei rezessiven Allelen wohl signifikant höheren Trägerschaft von ungünstigen Ausprägungen gleichwohl eher in Grenzen zu halten. Proportional zur Gesamtbevölkerung gibt es augenscheinlich keine absoluten Zahlen; die Angaben zur prozentualen Verteilung sind sehr va59 Allel bezeichnet eine mögliche Ausprägung des Gens bzw. eine unterschiedliche Variante desselben an einem bestimmten Ort auf dem jeweiligen Chromosom (Genloci). 60 Meint das exakte Übereinstimmen des betreffenden Allelpaares („reinerbig“). 61 Meint die Nichtübereinstimmung des betreffenden Allelpaares („intermediäre Merkmalsausprägung“). 62 Meint das unterlegene, nicht-dominante Allel, das sich deshalb im Phänotyp nicht auswirkt. 63 Albrecht/Sieber (Fn. 18) S. 113. 64 So Szibor Rechtsmedizin 2004, 392.

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ge.65 Weitere Studien beziehen sich im Wesentlichen auf nicht-westliche Populationen (z. B. Arabische Staaten, Israel, Japan, Indien)66 und sind der erheblich abweichenden medizinischen und sozialen Rahmenbedingungen wegen auf hiesige Verhältnisse nicht übertragbar. Eine kanadische Untersuchung ermittelte eine sehr hohe Quote von 43 % an ernsten, z. T. schweren Beeinträchtigungen, hatte jedoch mit lediglich 29 untersuchten Kindern keinerlei repräsentative Datengrundlage.67 Eine sehr breit angelegte Studie für das Gebiet des heutigen Tschechien stammt bereits aus den 1960er Jahren und ermittelte für Kinder aus inzestuösen Verbindungen einen deutlich erhöhten Anteil von Spontanaborten, Frühversterben und Missbildungen schon im Vergleich zu Kindern, die aus entfernter miteinander verwandten Verbindungen hervorgingen. Die Studienleiterin resümierte, dass das Risiko der Homozygotie für Kinder aus „Verwandtenehen“ (zwischen weiter entfernten Blutsverwandten) „häufig überschätzt“ werde, während für Kinder aus Inzestverbindungen (i. e. S.) ein „beträchtliches Risiko“ bestehe;68 eine andere Interpretation bezeichnet diese (und andere) Resultate hingegen als „nicht besonders drastisch“69. Hieran zeigt sich die besondere Schwierigkeit beim Umgang mit dem vorhandenen Zahlenmaterial: Zwar lässt sich nicht mehr ernstlich bestreiten, dass statistisch gesehen das Risiko erbbedingter Schäden bei Kindern aus inzestuösen Beziehungen verglichen mit solchen von nicht-verwandten Eltern höher ist;70 jedoch fehlen (jedenfalls für den hiesigen Raum) belastbare Zahlen, um dieses Risiko auch nur einigermaßen verlässlich beziffern zu können, und mehr noch besteht gänzliche Unklarheit, welche Risikosteigerung dann ab welcher Risikoschwelle aus normativ-rechtlicher Sicht als hinreichend („erheblich“, „substantiell“) bewertet werden kann. Entscheidend ist aber letztlich ein anderes Momentum: Die ggf. schadenstiftende Ursache haftet nicht dem pönalisierten Verhalten an, sondern ist diesem gleichsam vorgelagert. Nur wenn die zusammentreffenden Personen jeweils für sich eine krankheitsspezifische Disposition mitbringen, die überdies auch noch so zueinander „passt“, dass sich diese sodann im Phänotyp des 65

Bromiker et al. beziffern das Risiko von erblich bedingten Missbildungen in den westlichen Ländern auf 1,0 bis 2,4 %, bei inzestuösen Ehen auf 2,9-8,0 %, vgl. in: Clinical Genetics 66 (2004), 63 ff. 66 Im Überblick referiert bei Albrecht/Sieber (Fn. 18) S. 115 ff; vgl. auch Klein (Fn. 58) S. 89 ff. 67 Vgl. Baird et al. The Journal of Pediatrics 1982, 854 ff. 68 Seemanová Zeitschrift für die ärztliche Fortbildung 80 (1986), 802. 69 Klein (Fn. 58) S. 89. 70 In diesem Sinne auch – freilich ohne weiteren Beleg – die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (Fn. 44); dagegen zweifelnd Hörnle NJW 2008, 2087; Zabel JR 2008, 456; wie hier wiederum Jung FS Leferenz, 1983, 314, aber nur vage von einem „gewissen Risiko“ sprechend.

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gezeugten Kindes tatsächlich ausprägen kann, verhilft der Sexualverkehr gleichsam als „Transportmittel“ dieser Anlage zum Durchbruch. Das beiderseitige Verhalten für sich ist jedoch – von § 173 StGB abgesehen – ganz und gar sozialadäquat, in Anlehnung an die Aids-Fälle jedenfalls71 so lange, wie die eigene Disposition nicht bekannt oder durch konkrete „triftige Anhaltspunkte“ leicht erkennbar ist.72 Das Praktizieren des Sexualverkehrs mit nicht ausschließbarer, aber unbekannter Anlageträgerschaft ist also im Sinne der „objektiven Zurechnungslehre“ als „erlaubtes Risiko“ zu qualifizieren, und zwar auch dann, wenn man dabei maßgeblich auf „konkrete Sondernormen“ bzw. generalisierte „Sorgfaltsregeln“ abstellen will:73 Denn die Rechtsordnung hält in Situationen solcher Unkenntnis bzw. Unerkennbarkeit keinerlei Verhaltensnormen bereit, weder im Sinne eines Verbots mit Blick auf den Sexualverkehr noch im Sinne eines Gebots, d. h. in Richtung einer Pflicht zur vorherigen Kenntnisverschaffung durch Inanspruchnahme der humangenetischen Beratung. Diese ist vielmehr eine freiwillige, persönliche Angelegenheit, die zwangsweise aufzuoktroyieren jener „Gesundheitsdiktatur“ gleichkäme, wie sie Zeh in ihrem „Corpus Delicti“ eindrucksvoll beschrieben hat: „Wenn wir vernünftig denken …, schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden“74. Von hier aus wäre dann auch der „Zwang zum gen-konformen Verhalten“75, wie ihn „Gattaca“ so einprägsam zur Anschauung gebracht hat, nicht mehr weit.

V. Es bestätigt sich somit dasjenige, was H. Jäger bereits vor mehr als 40 Jahren festgehalten hat: Das erbbiologische Argument dürfte lediglich „nachgeschoben“ sein, um dem eigentlich ganz irrationalen, hochemotionalen Strafbedürfnis („Blutschande“) den Mantel der „Rationalität“ zu leihen.76 In Wahrheit drückt sich im Inzestverbot jedoch ein uraltes, seit den 71 Da erst das Zusammentreffen zweier „passender“ Merkmalsträger das spezifische Schadensrisiko schafft, ist es naheliegend, Kenntnis bzw. Kennenmüssen auf die genetische Disposition auch des anderen zu erstrecken. 72 Zur „Individualisierung des erlaubten Risikos“ näher Duttge FS Maiwald, 2010, 147 f; zuvor bereits Murmann FS Herzberg, 2008, 123 ff, jew. m. w. N.; zum fahrlässigkeitsspezifischen „Veranlassungsmoment“ im Überblick: MüKo-Duttge § 15 Rn. 120 ff. 73 Vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 66 f, § 24 Rn. 14 ff, 52. 74 Zeh Corpus Delicti. Ein Prozess, 2009, S. 58. 75 Treffend Eberbach in: Sass (Hrsg.), Genomanalyse und Gentherapie, 1991, S. 84 ff. 76 H. Jäger Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 66; ebenso Jung FS Leferenz, 1983, 312; Roxin AT I § 2 Rn. 43.

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Mythen (Ödipus)77 tief in den unbewussten Daseinsschichten der Menschen wurzelndes Tabu aus, das in alter Zeit seine soziale Bedeutung im Sinne einer „Sexualmoral“ gehabt haben mag, die heute aber längst in Vergessenheit geraten, zur bloßen „Hülse“ geworden ist.78 Wie Hörnle überzeugend herausgearbeitet hat, verliert der Tabu-Schutz seine Berechtigung, wenn er in unserem Gesellschafts- und Rechtssystem nicht mehr zweckrational begründet und insbesondere nicht mehr auf den Schutz der Rechte anderer zurückgeführt werden kann.79 Die Strafvorschrift hat – so Jung – dann „keine Existenzberechtigung mehr in einer strafrechtlichen Legalordnung, die nach rationalen Kriterien aufgebaut ist“80. Doch ganz in diesem Sinne hat sich auch schon der vielzitierte Hommel über „Moralisten“ geärgert, „welche die ganze Welt nach ihrem System regieren wollen und gleichwohl die drei Worte: Mensch, Bürger und Christ nicht zu unterscheiden wissen: ein offenes Feld, nach eigenem Belieben … auch unschuldige … Handlungen in Verbrechen umzugießen …“81. An anderer Stelle hielt er fest: „Es kann etwas schändlich, es kann etwas sündig und doch bürgerlich kein Verbrechen sein“82. Wohin es führen kann, wollte man es anders sehen, davon gibt nicht nur die jüngere deutsche Geschichte Zeugnis, sondern lässt auch die vermehrte Behandlung von gen- und biotechnologischen Zukunftsszenarien in Literatur, Kunst und Film83 erahnen. Dass das Recht von diesen lernen kann, hat die facettenreiche „Law-and-Literature“-Bewegung84 längst nachhaltig erwiesen. Und das ist auch kaum verwunderlich: Denn jede „echte Dichtung handelt vom Menschen und seiner Welt“, ebenso wie das Recht, das „letztendlich immer den Menschen in seiner schicksalhaften Existenz, in seinem Verwobensein mit den Schicksalen anderer, in seinem Schuldigwerden und 77 Zur weit verbreiteten Verarbeitung der Thematik in der neueren Literatur näher Schoene „Ach wäre fern, was ich liebe“, 1997. 78 Treffend Jung FS Leferenz, 1983, 318. 79 Hörnle Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 457; siehe auch dies. in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Fn. 31) S. 279 f. 80 Jung FS Leferenz, 1983, 320. 81 Hommel Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, hrsg. v. Lekschas, 1966, S. 49 Anm. m). 82 Ebd. (Fn. 81) S. 2. 83 Das aktuellste Beispiel „Splice“ spielt die Versuchungen der Wissenschaft und möglichen Folgen einer Interspezies-Hybridbildung (Kombination von tierischer und menschlicher Keimzelle) durch. 84 Bspw. Dolin A Critical Introduction to Law and Literature, 2007; Ledwon (Hrsg.), Law and Literature, 1996; Lüderssen Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2002/2007; Mölk (Hrsg.), Literatur und Recht, 1996; Morawetz Literature and the Law, 2007; Müller-Dietz Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen, 2007; Posner Law and Literature, 1988.

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in seiner Angewiesenheit auf die Nachsicht anderer“ zum Gegenstand hat. 85 Dies ist auch dem verehrten Jubilar wahrlich alles andere als fremd, bedenkt man nur, dass er selbst als Mitbegründer und langjähriger Präsident der Karl-May-Gesellschaft die Grenzen zur Literatur überschritten und wegweisende Erkenntnisse für die Kriminologie, das Strafvollzugsrecht und die Straftheorie gewonnen hat.86 Aber auch wer ihm in seiner dezidiert präventionstheoretischen Strafzweckbestimmung und entschiedenen Abwehr gegenüber jedweder „vergeltungstheoretischen Denkungsart“87 nicht restlos folgen will,88 muss ihm nachdrücklich zustimmen, dass im hiesigen Kontext die Verhängung und Vollstreckung von Kriminalstrafe nicht nur ohne Berechtigung, sondern schädlich ist. Denn meist wird es so liegen, „dass die inzestuöse Bindung der Geschwister … für sie angesichts ihrer inneren Vereinsamung den einzigen Halt im Leben bedeutet und ihnen ein wenig Geborgenheit und Glück vermittelt … Eine Einwirkung durch sozialfürsorgerische Maßnahmen wäre schonender und humaner als die gewaltsame Zerstörung einer solchen Quasi-Familie durch Bestrafung und Inhaftierung …, die von allen Beteiligten nur als Unglück empfunden werden kann. Für die Kinder kann es ein traumatisierendes Schockerlebnis sein, wenn sie mit dem Bewusstsein durchs Leben gehen müssen, dass ihre Erzeugung ihren Vater in die Strafanstalt gebracht hat. Die verfassungsrechtliche Judikatur eines Rechts- und Sozialstaates sollte solche Aspekte nicht gänzlich ausblenden“89. Und der verehrte Jubilar möge weiterhin in vorderster Linie die Fahne der „Rechtsgutstheorie“ hochhalten und die „Idee gesetzgebungskritischen Rechtsgutsdenkens“90 mit Leben und Durchschlagskraft erfüllen. Ad multos annos!

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Kaufmann NJW 1984, 1062. Siehe insbes. den Essayband: Roxin, Karl May, das Strafrecht und die Literatur, 1997; weiterhin etwa ders. in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Nr. 5 (1970), S. 11 ff; Nr. 7 (1971), S. 11 ff; Nr. 13 (1972), S. 21 ff; Nr. 20 (1974), S. 26; Nr. 21 (1974), S. 3 f; Nr. 28 (1976), S. 25 ff; Nr. 43 (1980), S. 5 ff; Nr. 45 (1980), S. 3 ff; Nr. 50 (1981), S. 4 ff; Nr. 72 (1987), S. 51 f; Nr. 75 (1988), S. 46 ff; Nr. 95 (1993), S. 49; Nr. 110 (1996), S. 20 ff; in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1974, 15 ff; 1976, 215 ff; in: Karl Mays »Winnetou«, 1989, S. 283 ff; in: Karl Mays »Orientzyklus«, Bd. 1 (1991), S. 83 ff; in: Eggebrecht (Hrsg.), Karl May, der sächsische Phantast, 1987, S. 13 ff. 87 Siehe die zusammenfassende Darstellung in: Roxin AT I § 3 Rn. 8 ff, 37 ff. 88 Vgl. zuletzt Duttge Menschengerechtes Strafen, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 9 n. F.), 2010, S. 1 ff. 89 Roxin StV 2009, 545. 90 Zuletzt Roxin FS Hassemer, 2010, 573 ff. 86

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit Ein würdevolles Rechtsgut in einem Rechtsstaat MIGUEL ONTIVEROS ALONSO

Dass die Herausgeber dieses Werkes mir erlauben, zur akademischen Debatte im Bereich der Strafrechtswissenschaften beizutragen, würdige ich mit großem Dank. Der Dank ist jedoch noch größer, wenn es darum geht, dem weltweit herausragendsten Strafrechtswissenschaftler, Claus Roxin, eine tiefempfundene Ehrerbietung auszusprechen. Der Titel dieser Ausarbeitung ist kein Zufall. Er ist eine Kausalität. Wenn sich jemand auf unserem Arbeitsgebiet dadurch auszeichnet, dass er ist, wer er sein will und wie er sein will, und er auf diese Weise das Ansehen und die wohl verdiente Anerkennung gewonnen hat, dann handelt es sich um unseren Jubilar. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird übersetzt mit man selbst zu sein, ohne Beeinflussung des Geistes von außen, und Claus Roxin ist ein nachahmenswertes Beispiel auf diesem und vielen anderen Gebieten für diejenigen, die, so wie ich, am Anfang einer Laufbahn im Bereich der Strafrechtswissenschaften stehen.

I. Einleitung Dank der Sorglosigkeit und Freude über die drei Maximen der mexikanischen Regierung – welche schon seit Jahrzehnten Tradition sind – befindet sich das Strafrecht dieses Landes in einer seiner tiefsten Krisen: eine öffentliche Politik, die auf Unterdrückung ausgerichtet ist, mehr Strafandrohungen und Strafarten sowie das Fehlen einer strafrechtlichen und kriminalpolitischen Orientierung, wenn sie auch teilweise definiert wurde – und bei alledem ein vermehrtes Begehen von Straftaten. Unser Strafrecht ist nicht nur genauso wie vor fünfzig Jahren. Die Lage ist noch schlimmer. Kurz zusammengefasst: mehr Gefängnis und mehr Gewalt. Dies ist eine Tendenz, die nicht aufzuhalten ist und für welche mittelfristig nur schwer eine Lösung zu finden sein wird. Es fehlen Ideen, die dann durch Vorwärtsbewegungen konkretisiert werden könnten, in dem Sinne, dass sie in die Systeme

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der Einführung und Ausübung von Gerechtigkeit eingreifen, bei Staatsanwaltschaften, vor Gericht und in den Gefängnissen.1 Aus dem Vorangegangenen lässt sich eine hohe Verantwortung der Wissenschaft ableiten. Sie ist der einzige Raum, der übrig bleibt, um würdevoll zu debattieren und Vorschläge zu erarbeiten. Danach wird man an der Umsetzung der strafrechtlichen und kriminalpolitischen Leitlinien arbeiten müssen, die aus dieser Debatte hervorgehen. Schlussendlich wird man den Gesetzgeber, die Prozessbevollmächtigten und die Richter von der Notwendigkeit überzeugen müssen, Dynamik in unser Strafrecht zu bringen, es moderner zu gestalten. Das alles entgegen der so begrenzten Sichtweite derjenigen, die die Einführung von Gerechtigkeit in Mexiko in der Hand haben. Schon vor Zeiten hätte die Situation unseres Strafrechts verändert werden müssen. In den Ländern um uns herum ist das bereits geschehen. In Europa, der Wiege unserer juristischen Tradition, wurden große Reformen durchgeführt. Die Tendenz, public policies auf dem Gebiet des Strafrechtes zu vermenschlichen, hat dort Priorität, was sogar schon zu ersten Schritten der Harmonisierung des europäischen Strafrechts2 geführt hat. Den Prozess in der Europäischen Union zu beobachten und zu bewerten, ist eine plausible Option für die politische Orientierung in unserem Land. Vielleicht könnte man mit der Debatte über einen der zentralen Punkte unseres Strafrechts beginnen. Ich beziehe mich auf eines seiner Ziele: den Rechtsschutz, der, zusammen mit der Maximierung von Garantien, das identifiziert, was das Strafrecht durch seine Anwendung3 zu erreichen sucht. Schützen unsere Gesetze wirklich die rechtlichen Güter? Bei kurzer Durchsicht eines jeden beliebigen unserer Strafgesetze (ich glaube, es sind so in etwa 34), kann der Leser erkennen, dass es dort in der Tat Rechtsgüter gibt, die den Schutz durch das Strafrecht verdienen. Es finden sich in ihnen aber auch einige Irreführungen und, was noch schwerwiegender ist, einige den Interessen von Gruppen, die versucht haben, sie hinter Rechtsgütern zu verstecken, geschuldete Regelungen, die gezielt deswegen in den Straftatenkatalog aufgenommen wurden, um einen ungerechten Sachverhalt zu schützen 1 Die völlig plausible, von unserem Jubilar seit Jahrzehnten formulierte Forderung, dass das Strafrecht nach den Prinzipien von Rechtmäßigkeit, Rationalität, Abwägung und Legalität ausgerichtet werden muss, ist eine noch offenstehende Aufgabe. Siehe hierzu: Roxin Derecho Penal. Parte General. Tomo I (Traducción de Diego-Manuel Luzón Peña, Miguel Díaz y García Conlledo y Javier de Vicente Remesal), 1997, S. 81 ff. 2 Genauso, wie es Vogel eindeutig dargelegt hat: „Por un código penal europeo“, Übersetzung von Miguel Ontiveros Alonso Iter Criminis, Nummer 9, Zweite Epoche, Nationales Institut für Strafrechtswissenschaften (Instituto Nacional de Ciencias Penales - INACIPE) Januar-März 2004, S. 313 ff. 3 Zu den Zielen und Funktionen des Strafrechts Roxin Derecho Penal (Fn. 1), S. 88 ff.

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und zu behüten und, was schon skurril anmutet, um den Feind strafrechtlich zu verfolgen.4 Die bekannte Forderung, ein minimales Strafrecht zu schaffen, ist durchaus umsetzbar. Die dazu erforderlichen Anstrengungen müssen damit beginnen, alles zu beseitigen, was kein Rechtsgut ist, und es aus unserem Strafgesetz herauszunehmen. Danach wird man außerdem auch das noch entfernen müssen, was sehr wohl ein juristisches Gut darstellt, aber keinen Strafschutz verdient. Schlussendlich müssten wir jene in unserem Strafrecht als typisch dargestellten Verhaltensweisen identifizieren, welche zwar den Strafschutz verdienen, bei denen man sich aber bei der Identifizierung des Schutzobjekts geirrt hat. Diese Arbeit bedeutet keine simple Umbenennung des juristisch geschützten Gutes, sie erfordert eine ganzheitliche Neuausrichtung des Straftatenkatalogs, und natürlich eine grundlegende Neueinschätzung in Bezug auf die damit einhergehenden juristischen Auswirkungen.5 Da es sich bei der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“, wie ich glaube – zusammen mit dem Leben – um das wichtigste Rechtsgut in einem Rechtsstaat handelt, möchte ich im Folgenden kurz darstellen, was als Grundlage für eine maximale Gewährleistung des Rechtsguts der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ dienen könnte; nicht weniger aber auch nicht mehr als in Anlehnung an die im ersten Artikel unserer Verfassung als kategorisch verbürgte menschliche Würde.

4 So wie es Francisco Muñoz Conde klar ausgedrückt hat, wenn er sagt: „Es scheint so, als wenn wir uns immer mehr dem annähern, was Günther Jakobs schon in tangentialer Weise bei den Tagungen der deutschen Strafverteidiger im Mai 1985 in Frankfurt am Main als ein Strafrecht des Feindes beurteilte und später ausführlich bei der Berichterstattung vor dem Kongress in Berlin im Oktober 1999 über ‚Die Strafrechtswissenschaft vor dem Jahrtausendwechsel‘. Mit dieser Art von Strafrecht, sagt der genannte Strafrechtswissenschaftler, verhandelt der Gesetzgeber nicht mit seinen Bürgern, sondern schreckt seine Feinde mit drakonischen Drohungen für ihre Straftaten ab, mit der Kürzung der Prozessgarantien und Erweiterung der Möglichkeit, weit vom Schaden eines juristischen Gutes entfernte Verhaltensweisen zu bestrafen“, vgl. Muñoz Conde Das neue autoritäre Strafrecht: Erwägungen zum sogenannten „Strafrecht des Feindes“, in: Ontiveros Alonso/Peláez Ferrusca (Hrsg.), La influencia de la ciencia penal alemana en Iberoamérica. Libro en homenaje a Claus Roxin, Tomo I, 2003, 119. 5 Eine sehr plausible Anleitung zur Identifikation von juristischen Gütern, die strafrechtlichen Schutz verdienen, stellt der Text von González-Salas/Campos Raúl dar: Die Theorie des juristischen Gutes innerhalb des Strafrechtes, Sammlung juristischer Studien, 2001, S. 61 ff.

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II. Stellen die Moral und die guten Sitten in unseren Strafgesetzen ein strafrechtliches Rechtsgut dar? Entweder ist es die Moral oder sind es die guten Sitten, manchmal auch beides – wie im Falle unseres Bundesstrafgesetzes – aber der Leser kann in jedem Strafgesetz des Landes abschätzen, dass sie ein in den Kapiteln oder entsprechenden Titeln festgelegtes Rechtsgut darstellen, welches gegen Korruption Minderjähriger, Kinderpornografie, Sex-Tourismus, Personenhandel und Zuhälterei geschützt wird. Es gibt eine große Palette von Fragen, die wir dem Gesetzgeber hierzu stellen könnten: Wer sind Sie, um über die Moral, die guten Sitten und was das bedeutet zu bestimmen? Wir könnten uns auch fragen, ob diese beiden Konzepte durch das Strafrecht geschützt werden sollten oder nicht – natürlich nur dann, wenn jemand eine gute Definition dafür anbieten könnte, auch wenn sie nur mittelmäßig wäre, was die Moral und die guten Sitten bedeuten. Wie ermessen die Richter den durch ein strafbares Verhalten an der Moral angerichteten Schaden? Dies ist eine Frage, die keine halben Antworten erlaubt, da die Kenntnis des am Rechtsgut angerichteten Schadens unverzichtbar für die Individualisierung der Strafe ist. Ohne materielle Rechtswidrigkeit gibt es kein Unrecht, und ohne dieses gibt es keine Straftat. Die Rechtstheorie hat erfolglos versucht, die Moral für das Recht verständlich zu machen. In Wirklichkeit hängt, wie Rüthers behauptet, alles vom persönlichen Blick des Betrachters auf die Welt ab. 6 Deutschland, wo tiefgründige philosophische Gedanken hervorgebracht wurden, ist bei diesem Versuch auf dramatische Weise gescheitert; die Bezugnahme auf die Moral und die Sitten haben in Deutschland ein ganzes Gebäude von Ausreden für das Ausrotten von Tausenden von Menschen in den Konzentrationslagern der Nazis errichtet.7 Tatsache ist, dass niemand versteht, was diese beiden Konzepte bedeuten. Und diejenigen, die sich in die Studie vertieft haben, werden verstehen, dass 6

Rüthers Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 1999, S. 233. Wir haben uns bereits an anderer Stelle auf die dramatischen Folgen bezogen, die die Moral und die guten Sitten auf das Strafrecht ausüben: „Schlussendlich erscheint es ziemlich gefährlich, die Moral und die guten Sitten als zu schützende juristische Güter aufrecht zu erhalten, denn man darf nicht vergessen, dass die Moral und die Sitten des Volkes sich im Laufe der Zeit verändern, wodurch es passieren kann, dass in Zukunft etwas als gesellschaftlich akzeptiert betrachtet wird, was man heutzutage mit der vollen Härte des Rechtes bestrafen will. So war es für das deutsche Volk im Dritten Reich gesellschaftlich akzeptiert, diejenigen in Konzentrationslagern festzuhalten, zu foltern und umzubringen, die eine andere Ideologie oder Religion verfolgten, d. h. eine andere Moral und andere Sitten“, Ontiveros Alonso Strafrechtliche Studie über die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern, Organización Internacional del Trabajo/Secretaría del Trabajo y Previsión Social/Instituto Nacional de Ciencias Penales (Hrsg.), Mexiko 2004, S. 43. 7

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der Staat nicht einmal versuchen sollte, die Moral und die guten Sitten mit seiner erdrückendsten, repressivsten und gewaltsamsten Waffe zu regeln: mit dem Strafrecht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorweg genannten Straftaten aus unserer Strafrechtsordnung verschwinden sollten. Die Verhaltensweisen, die sich traditionell abseits der Moral und der guten Sitten abspielen, haben einen unerträglichen Einfluss auf die persönliche Entwicklung der Opfer, besonders bei Frauen und Kindern. Zu dieser Opfergruppe muss man noch diejenigen hinzuzählen, die nicht in der Lage sind, die Bedeutung bestimmter Tatsachen zu verstehen, etwa die Mitglieder von Gemeinschaften aus Ureinwohnern oder Erwachsene in fortgeschrittenem Alter. Leider ist angesichts der aktuellen Zustände der Schutz für diese Gruppen in hohem Maße unzureichend, und das Ergreifen juristisch orientierter Schutzmaßnahmen ist nur spärlich zu verzeichnen. Dazu haben die Rücksichtnahme auf die Moral als geschütztes Rechtsgut und die Mutlosigkeit der mit dem Rechtssystem verbundenen Handlungsträger, sich im Rahmen der Gesetzgebung weiterzuentwickeln, beigetragen, wie auch das niedrige Niveau der Einführung und Ausübung von Gerechtigkeit in unserem Land. Im Folgenden werde ich mich bemühen, ein reales und praktisches Bild eines Staates der ungerechten Sachverhalte zu zeichnen, der dies alles in Mexiko verursacht hat.

III. Öffentliche Moral und gerichtliche Schande Während diese kurzen Gedankengänge niedergelegt werden, berichten die Massenmedien in unserem Land über die Freilassung eines Gewerkschaftsführers, der wegen Bestechung mehrerer Mädchen verhaftet wurde, denen er Geld angeboten hatte, um mit ihnen den Geschlechtsverkehr auszuüben. Mit Hilfe eines Netzes von Mithelfern wählte er seine Opfer, die in Supermärkten arbeiteten und die Ware der Kunden einpackten, aus. In allen Fällen handelte es sich um Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, denen der wahrscheinlich Verantwortliche zwischen 600 und 2.000 Pesos für vaginalen und oralen Geschlechtsverkehr bezahlte. Am Wohnsitz des Angeklagten wurden Fotografien der Opfer in verschiedenen entblößten Stellungen gefunden und sogar von den Mädchen unterschriebene Zahlungsbelege über die erhaltenen Beträge.8 Unabhängig von dem Versuch, sich zum Thema Verantwortlichkeit des heute Verurteilten auszusprechen, oder ein Urteil darüber zu fällen, ob es vielleicht außer einer Straftat der Korruption Minderjähriger noch eine an8

Siehe www.reforma.com (nationaler Teil) und www.reforma.com/justicia, vom 21.1.2006.

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dere Straftat der Korruption öffentlich Angestellter gab, ist dieser Fall von großem Nutzen für die wissenschaftliche Analyse, denn er zeigt den Missbrauch, den unsere Gerichtshöfe ausüben, wenn es mit darum geht, das Konzept Moral zu interpretieren. Für den damaligen Freispruch des heute Verurteilten brachte der Richter unter anderem folgende Argumente vor: „Das Verbot der Korruption Minderjähriger, welches uns beschäftigt, greift ein, wenn der Täter perverse Handlungen vornimmt, die dazu führen und ausreichend sind, die normale physisch-psychische Entwicklung oder den natürlichen sexuellen Instinkt des minderjährigen Opfers aus der Bahn zu bringen und damit eine Abweichung von den guten moralischen und sexuellen Vorstellungen, die in dieser Gesellschaft bestehen, zu verursachen, das heißt, die Minderjährige in Bezug auf das sexuelle Empfinden, das sie normalerweise haben sollte, zu zerrütten“.9 Diese kurze Bezugnahme auf das vom Richter vorgetragene Argumentationsmodell legt die fehlende Klarheit in Bezug auf das dar, was man unter Moral verstehen kann und außerdem eine schwerwiegende Verunsicherung hinsichtlich des in unserem Lande gültigen Gesetzes. Daher ist es wichtig aufzuzeigen, dass an keiner Stelle des Strafgesetzbuches „perverse Handlungen“ als Voraussetzung einer Korruption Minderjähriger gefordert werden, noch viel weniger, dass die normale physisch-psychische Entwicklung oder der natürliche sexuelle Instinkt der Opfer entgleisen muss. Weiterhin findet sich kein Wort, wonach zum Beweis des Vorliegens dieser Straftat irgendeine Art von Zerrüttung gefordert wird. 10 Bei sorgfältiger Betrachtung des oben wiedergegebenen Absatzes erkennt man, dass der Richter in dieser Sache das im Strafgesetzbuch für den Bundesdistrikt Mexiko genannte Rechtsgut der öffentlichen Moral falsch interpretiert, indem er fordert, dass die normale physisch-psychische Entwicklung der Mädchen Schaden nehmen müsse, und damit mit einem Rechtsgut verwechselt, welches zum Beispiel im Hinblick auf die Straftat der Vergewaltigung von Bedeutung ist, nicht aber auf die Korruption Minderjähriger. Weiterhin erwägt er, unter Anwendung der Terminologie aus dem 15. Jahrhundert, dass es zur Schädigung des Rechtsguts notwendig sei, dass der 9 Siehe Constantino Rivera/Quintino Zepeda/Ontiveros Alonso in: Instituto Nacional de Ciencias Penales (Hrsg.), Wissenschaftliche Analyse einer gerichtlichen Schande (Korruption Minderjähriger), 2006. Aufgrund bedauerlicher politischer Verhinderungen durch den Gerichtshof – traditionell in unserem Land – wurde diese Studie nicht veröffentlicht. Sie wird jedoch demnächst, in angemessener Form bereichert, herausgegeben unter dem Titel „Strafrecht, Politik und gerichtliche Schanden“ (Korruption Minderjähriger und Korruption bei Einrichtungen in Mexiko). 10 Ebenda.

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Täter „perverse Handlungen“ ausführt, welche den „natürlichen sexuellen Instinkt“ des Opfers negativ beeinflussen. Schon diese Beobachtungen erscheinen ausreichend, um eine Art von akademischem Alarm auszulösen. Zusätzlich aber dringt der Richter noch in die Arbeit der Gesetzgebung ein und schafft ein neues Rechtsgut, wenn er fordert, dass das Strafverhalten „die Entgleisung der guten moralischen und sexuellen Vorsätze, die in der Gesellschaft bestehen”, hervorrufen muss. Schlussendlich bringt er auch ein neues Element ein, wenn er anführt, dass die Wirkung so weit gehen müsse, „die Minderjährige zu zerrütten“. Später dann und entgegen den internationalen Abkommen in Bezug auf den in Mexiko gültigen Kinderschutz argumentiert der Richter: „Die Straftat der Korruption Minderjähriger wurde nicht begangen, da die angegriffene Minderjährige keinen Geschlechtsverkehr nach diesen Tatbeständen akzeptierte, und dadurch keinerlei sexuelle Perversion erlitt, denn wenn es so gewesen wäre, hätte sie weitere zerrüttende Beziehungen akzeptiert“.11 Daraus lässt sich schließen, dass es für den Vertreter der Gerechtigkeit notwendig ist, ein Opfer von mehrmaligen sexuellen Aggressionen zu sein, um die sexuelle Zerrüttung zu beweisen. Auf diese Weise wird die öffentliche Moral um das Element der sexuellen Zerrüttung erweitert, ein Element, das nicht in unserer Gesetzgebung berücksichtigt wurde, abgesehen davon, dass damit etwas völlig Inakzeptables verlangt wird, nämlich die mehrmalige Schädigung des passiven Opfers, um zu beweisen, dass es wirklich eine „sexuelle Perversion“ erlitt. Als wäre das bisher Aufgezeigte noch nicht ausreichend, argumentiert der zuständige Richter: „Es handelt sich nicht um eine Straftat, da die angegriffene Minderjährige ihr Einverständnis erteilte“. Zweifellos sollte der Richter wissen, was allgemein bekannt ist: Bei einer solchen Straftat ist das Einverständnis untauglich für den Ausschluss der strafrechtlichen Haftung. Das leitet sich nicht nur aus dem geistigen Inhalt der Moral ab, sondern vor allem daraus, dass es hier um ein supraindividuelles (öffentliches) Rechtsgut geht, was als solches für ein Individuum nicht verfügbar ist.12 11

Ebenda. Der Ausschluss des Einverständnisses bei Straftaten in Verbindung mit der kommerziellen sexuellen Ausnutzung von Kindern ist nicht nur eine theoretische Frage, er ist auch eine in unserem Land gültige rechtliche Anordnung. Siehe hierzu das Abkommen zur Bekämpfung von Personenhandel und Ausbeutung von fremder Prostitution (Convenio para la represión de la trata de personas y de la explotación de la prostitución ajena). Es wurde von der General12

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Jedoch, die öffentliche oder individuelle Moral als Rechtsgut im Sinne unserer Strafgesetze zu betrachten, bedeutet sogar, ein Attentat auf die kindliche Würde zu verüben, wie man aus dem folgenden Argument ersehen kann, welches der Richter in dieser Sache bei der Festlegung vorbrachte, dass die Anzeigeerstatterin kein Opfer der Straftat der Korruption Minderjähriger sein könnte: „…weil diese gestörte Wahrnehmung von Geschlechtsverkehr schon vorher bei ihr bestand und sie daher in dem Moment, als ihr der Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten vorgeschlagen wurde, spontan zusagte…“ Man könnte vielleicht denken, dass der Richter sich einfach nur geirrt hat. Aber die Unkenntnis unseres Gesetzes, besonders im Hinblick auf das sogenannte Rechtsgut der öffentlichen Moral, ist hier so groß, dass in dem Fall, der uns gerade beschäftigt, der Gerichtshof leider beschloss, die Verantwortung für die Geschehnisse – im Sinne einer radikalen Viktimodogmatik – auf die Opfer zu übertragen mit einer Begründung anhand ihrer persönlichen Vorgeschichte: „…da sie vor einiger Zeit alkoholische Getränke zu sich genommen und sogar schon in der Vergangenheit Geschlechtsverkehr hatte“ … „Genau deshalb, weil ihre persönliche Vorgeschichte vorteilhaft dazu beigetragen hat, ihr Einverständnis für das Verhalten gegen die gesellschaftliche Moral zu geben, erlauben diese Aspekte, Folgeschlüsse auf fehlende Ehrlichkeit und Moral bei der Minderjährigen zu ziehen…“ In dem Zusammenhang ist es wichtig, Nachdruck darauf zu legen, dass der Tatbestand der Korruption Minderjähriger nicht den Schutz der Jungfräulichkeit oder des Hymens der Opfer im Sinne hat, denn wäre es so, würde man zusätzlich zu der Diskriminierung durch die Beleidigung des weiblichen Geschlechts, besonders im Fall der Opfer, die bereits im Vorfeld der Tat Geschlechtsverkehr hatten, in die unsägliche Behauptung verfallen, dass bei diesen Personen ungestraft jede Handlung in Verbindung mit sexueller Ausbeutung vorgenommen werden könne, da sie aufgrund des fehlen-

versammlung der UNO unter 317 (IV) am 2.12.1949 getroffen und trat am 25.7.1951 allgemein in Kraft, siehe Artikel 24; Ratifizierung durch Mexiko am 21.2.1956, veröffentlicht im Diario Oficial des Bundes am 19.5.1956; Inkrafttreten in Mexiko am 21.6.1956. Es legt folgendes fest: „Art 1. Die Parteien des vorliegenden Abkommens verpflichten sich, jede Person zu bestrafen, welche zur Befriedigung der Leidenschaft einer anderen Person 1.1 Die Prostitution mit einer anderen Person vereinbart, auch mit dem Einverständnis der anderen Person; 1.2. Die Prostitution einer anderen Person ausnutzt, auch mit dem Einverständnis dieser Person“.

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den Hymens nicht mehr durch die Rechtsordnung geschützt wären.13 Dies ist in einem Rechtsstaat unhaltbar. Unabhängig von der schwerwiegenden Unkenntnis, die derjenige Richter vom Strafrecht besitzt, der bei seinem Urteilsspruch verkündet, dass die Mädchen nicht korrumpiert werden konnten, weil „sie bereits in der Vergangenheit Geschlechtsverkehr hatten“ oder „weil sie dem Angreifer ihr Einverständnis gegeben hatten“, kommt die Frage nach dem an den Opfern verursachten Schaden auf. Wurden wirklich ihre Moral und ihre guten Sitten beschädigt, als man sie für den Geschlechtsverkehr und die Nacktfotos bezahlte, oder ist nicht vielmehr etwas weitaus Wichtigeres beschädigt worden? In der Tat, dem ist so. Wer ein Kind korrumpiert, einen Menschen sexuell oder im Hinblick auf seine Arbeitskraft ausbeutet, mit von ihnen angefertigten pornografischen Bildern Geschäfte macht oder in ein anderes Land reist, um den Sex-Tourismus zu genießen, verübt ein Attentat auf etwas viel wichtigeres und wertvolleres, als auf die Moral und die guten Sitten. Dieses Verhalten sollte bestraft werden, denn bei seiner Durchführung wird ein Rechtsgut höchster Relevanz beeinträchtigt. Daher verdienen in solchen Fällen die Opfer den höchsten Grad an rechtlichen Schutzmaßnahmen und die Angreifer eine größere Schlagkraft seitens des Strafrechtssystems. Nach dem, was man aus den von Spezialisten in der Materie14 durchgeführten Studien erfährt, sind die von den Opfern erlittenen Nachwirkungen solcher Straftaten wie den hier beschriebenen nicht vorübergehend. So kommen die von Straftaten wie der Korruption Minderjähriger oder des SexTourismus betroffenen Mädchen entweder nicht über die durch die Straftat entstandenen psychologischen Auswirkungen hinweg oder sie benötigen mehrere Jahre, um sich emotional zu festigen. Dazu kommt der körperlich erlittene Schaden, zum Beispiel durch sexuelle Penetration in vaginaler oder analer Form. Hinzu kommen außerdem noch die Gefahr, sich mit Geschlechtskrankheiten anzustecken, sowie die Möglichkeit einer ungewollten Schwangerschaft.

13

Constantino/Ontiveros/Quintino (Fn. 9) S. 8. Zum Beispiel lt. Alicia Elena Pérez Duarte: „Wenn ein Junge oder Mädchen es schafft, seinem Ausbeuter zu entkommen, und an seinen Ausgangsort zurückkehrt, stellt sich heraus, dass ihre Familien und ihre Gemeinden sie zurückstoßen, weil sie Prostituierte waren; daraufhin befinden sich diese Minderjährigen erneut auf der Straße als sichere Opfer für neue ‚Verkuppelungen‘. Ein fataler Kreislauf, in dem viele dieser Kinder durch Selbstmord ein Ende finden“, vgl. Pérez Duarte Der Gebrauch von Minderjährigen für die Prostitution, eine Form von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung, in: Gedankengänge über die von Mexiko übernommenen Verpflichtungen im internationalen Umfeld, Liber ad Honorem Sergio García Ramírez, Band I, 1998, 536. 14

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Das Gleiche geschieht mit den Opfern von Menschenhandel, die aus ihrem kulturellen Umfeld herausgerissen und gezwungen werden, unter sklavenähnlichen Umständen zu arbeiten. Es genügt, einige Gebiete der Hauptstadt zu besuchen und die „Laufstege“ zu beobachten, die von Mädchen und Jungen in den Straßen um „La Merced“ benutzt werden; Opfer der Netze der organisierten Kriminalität. Nicht anders liegen die Dinge in der Innenstadt von Acapulco und Tijuana. Ist es die Moral dieser Kinder, die nach Jahren erzwungenen Geschlechtsverkehrs geschädigt ist? Was wirklich geschieht ist, dass man ihnen das Recht nimmt, sie selbst zu sein. Das bedeutet, man nimmt ihnen die Möglichkeit, sich frei zu entfalten: die freie Entwicklung ihrer Persönlichkeit wird beschädigt.

IV. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit in ihrer Eigenschaft als strafrechtliches Rechtsgut In Anlehnung an Art. 1, § 3 unserer politischen Verfassung basiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit theoretisch auf der menschlichen Würde. Diese stellt, zusammen mit dem Leben, den wichtigsten Wert im Rechtsstaat dar, und man versteht darunter die Freiheit, die jeder Mensch hat, er selbst zu sein. Das heißt, dass „nicht einmal der Staat, die Organe, die ihn bilden, und keine Person in das geistige Leben und die Individualität von Frau und Mann eingreifen dürfen“15. Daher muss jede Art von Diskriminierung, aus welchem Grund auch immer, durch die Rechtsordnung verfolgt und bestraft werden. Mexiko ist diesen Werten durchaus verpflichtet. Unser Gesetz zum Schutz der Rechte der Kinder – Mädchen und Jungen – und Jugendlichen bezieht sich ausdrücklich auf die Verpflichtung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schützen, wie in Art.11 niedergelegt: „Ihnen ein würdiges Leben ermöglichen, genügende Ernährung zu garantieren, sowie die vollständige und harmonische Entwicklung ihrer Persönlichkeit…“ Dass unsere Rechtsordnung diese Schutzebene berücksichtigt, ist ein plausibler Beweis für den Einfluss, den die internationalen Abkommen zum Schutz der besonders verletzbaren Gruppen auf unsere Gesetzgebung im Hinblick auf die Risiko-Situationen unserer Gesellschaft ausgeübt haben. Dieser Einfluss sollte auch das Strafrecht mit umfassen. Man darf nicht 15 Nur ein Strafrecht mit sehr festen Fundamenten in Bezug auf die menschliche Würde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit kann in der Lage sein, Freiheit zu schaffen, so wie es Isensee/Kirchhof festhalten, vgl. Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 1996, S. 113.

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vergessen, dass die Straftaten, die gegen die freie Entfaltung der Persönlichkeit gerichtet sind, die drittlukrativste transnationale Tätigkeit der organisierten Kriminalität ausmacht, gleich nach dem Drogen- und dem Waffenhandel; … und dennoch platziert sich Mexiko als Herkunfts-, Transitund Zielort für verbotene Aktivitäten in Verbindung mit der Ausbeutung von Menschen.16 Falls diese Aufgabe ernsthaft in Angriff genommen werden sollte, müsste man damit anfangen zu akzeptieren, dass unser Katalog der Rechtsgüter sehr schlecht aufgestellt ist. Der Grund dafür ist das geringe Interesse am Schutz der Würde eines Menschen und die Leichtfertigkeit der Behörden im Umgang damit. Dazu kommt der marginale, oft fehlende Einfluss der Spezialisten auf die juristische Praxis. Letztlich wurden die spärlichen belehrenden Diskussionen in Mexiko über die Umrisse oder die Eigenschaften eines Rechtsgutes an sich durch das Verwaltungsrecht und eben das Strafrecht als Bestrafung der Armut selbst übersetzt. Wenn man akzeptiert, dass das strafrechtliche Rechtsgut „ein soziales Interesse darstellt, unentbehrlich für das Leben in einer Gesellschaft, und den Schutz durch das Strafrecht verdient“, hat man den ersten Schritt getan. Wenn wir außerdem damit einverstanden sind, dass das Strafrecht die schwerwiegendsten Angriffe auf die wichtigsten Rechtsgüter ahnden soll, haben wir schon zwei starke Säulen für den kritischen Apparat, der den Ausschluss der Moral aus unserer Strafordnung rechtfertigt. Die Moral durch die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu ersetzen, ist lange kein bloßer Vorschlag mehr. Kürzlich ist der Bundesstaat Baja California mit einer ganzheitlichen Reform seines Strafgesetzes zum Vorkämpfer in unserem Land geworden. 17 Dieses ist das erste Mal in der Geschichte unseres Landes, dass der Bezug auf die Moral und die guten Sitten abgeschafft wurde, um die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ als Rechtsgut, geschützt durch die Straftatbestände im Zusammenhang mit der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern, festzulegen. Baja California wird damit zum nachahmenswerten Beispiel für die Gesetzgeber des gesamten Landes, denn zweifellos ist diese Reform ein Vorbild im Rahmen des strafrechtlichen Schutzes für die verwundbarsten Gruppen unseres Landes, vielleicht vergleichbar mit dem Standard zur Regelung der Kriminalpolitik, der heute in der Europäischen Union debattiert wird.

16

Siehe die Statistiken über die Ausbeutung von Menschen unter www.grupoantitrata.org. Am 18.11.2005 veröffentlichte Reform (Offizielle Zeitung des Staates Baja California Nr. 51). 17

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V. Perspektiven Der Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit muss auf internationaler Ebene verstärkt werden. Leider haben die Netze der organisierten Kriminalität, die sich der Ausbeutung von Menschen widmet, dank der Globalisierung einen großen Einfluss erreicht, und ihre Mitglieder geben bei der Entscheidungsfindung durch unsere für die Einführung und Ausübung von Gerechtigkeit zuständigen Organe den Ton an. Außerdem gibt es Interessen, welche die Evolution unseres Strafrechtssystems verhindern. In der Tat bewegen sich die politischen Entscheidungen weiterhin außerhalb der Maßgaben, die im Schutz der Menschenrechte fundiert sind, besonders in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Die ethischsoziale Funktion des Rechts hat in unserem Land an Boden verloren, und man sieht noch dunkleren Zeiten als den jetzigen entgegen. Vor diesem Hintergrund bleibt als einzig würdevoller Raum für die Debatte und die Entwicklung von Ideen die Wissenschaft. Dort findet sich der Rahmen für die wichtige Aufgabe, die unser Jubilar Claus Roxin Jahre hindurch wahrgenommen hat, eine Arbeit, die sich zweifellos in der Bewunderung wiederspiegelt, die von Mexiko und der Welt aus mit diesem Buch der Ehrung bestätigt wird.

Motive im Tatstrafrecht JOSÉ MILTON PERALTA

I. Einleitung und Problemstellung Dass die Motive des Täters für die Strafe von Bedeutung sind (vgl. etwa § 211 StGB, Art. 80 argStGB), stellt für das Tatstrafrecht eine Herausforderung dar.1 Um Gedanken kümmert sich der liberale Staat nicht.2 Andererseits existiert eine starke Intuition in dem Sinne, dass „es nicht dasselbe ist“, ob man aufgrund von nichtigen oder von anerkennungswürdigen Gründen handelt. Dies scheint uns vor ein Dilemma zu stellen. Entweder muss man die liberalen Prämissen aufgeben, um eine stark verwurzelte Intuition zu berücksichtigen, oder man verteidigt sie mit dem Gefühl, das Wichtige hinter dieser Intuition nicht erfassen zu können. Im Allgemeinen hat die Literatur einen dieser beiden Wege eingeschlagen. Einer Mindermeinung, welche die Berücksichtigung von Motiven ablehnt,3 steht die h. L. gegenüber, die es für richtig hält, die Motive zu berücksichtigen, entweder weil sie das dahinterstehende Problem gar nicht in ihre Erwägungen mit einbezieht,4 oder weil sie diese Schwierigkeiten aufgrund utilitaristischer Argumente bezüglich einer größeren Notwendigkeit der Prävention als überwindbar ansieht (unten II.). Der vorliegende Beitrag versucht einen dritten Weg zu gehen, was heißt, eine Theorie zu formulieren, welche die Relevanz der Motive zu erklären vermag, sich jedoch noch innerhalb eines Strafrechts bewegt, das vor den Gedanken des Individuums halt macht.5 Dazu sind an erster Stelle die Grundlagen einer Theorie der Strafzumessung für ein Tatstrafrecht kurso-

Übersetzt von Anna Richter. Vgl. Kühl ARSP, Beiheft 37, 1990, 84 und 148 ff. 2 Für alle Nino Ética y derechos humanos, 1984, S. 204 f; Roxin AT I § 2 Rn. 1 ff. 3 Noll FS Mayer, 1965, 232; Roxin AT I § 10 Rn. 78; Nino Los límites de la responsabilidad penal, 1980, S. 385 ff. 4 BGHSt 3, 132; Bacigalupo Derecho penal, parte general, 2. Aufl. 1999, S. 622; Jescheck/Weigend AT S. 472; Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 90 ff; Schmidhäuser FS Gallas, 1973, 81 ff. 5 Es gibt einige Versuche, wie den von Müssig, unten VII. 1

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risch zu klären6 (unten III.). Zweitens soll eine eigene Lösung entwickelt werden, welche Motive und Rechtfertigungsgründe miteinander verknüpft (unten IV., V.). Schließlich wird das Problem der Motive noch mit den subjektiven Rechtfertigungselementen verbunden (VI.).

II. Straftheorien und Handlungsmotive Teile der Literatur gehen für die Begründung der Relevanz von Motiven von der gemeinsamen Prämisse aus, man habe es immer mit derselben Tat zu tun, gleichgültig, aus welchen Motiven heraus sie begangen wurde. Die Motivation des Handelnden verändere nicht die Tat, sondern sei nur ein eigenständiger Grund für eine größere Angemessenheit der Strafe. 7 Von dieser Perspektive aus sind zwei große Begründungsschemata zu erkennen. Das erste geht von der Vergeltungstheorie oder der Theorie der positiven Generalprävention aus, um Motiven aufgrund ihres geistigen Inhalts Relevanz zuzusprechen. Im Gegensatz dazu sieht das zweite Schema Motive als erheblich an, weil sie ein Anzeichen unterschiedlicher Präventionsnotwendigkeit darstellten; dies geschieht auf Grundlage der Theorien der Spezialund der negativen Generalprävention. Der Vergeltungsgedanke als Basis einer strafbegründenden Relevanz von Motiven verträgt sich indes bereits schwer mit dem Bild eines Staates, dessen einzige Aufgabe es ist, die Bedingungen des sozialen Miteinanders der Menschen zu gewährleisten.8 Aber das Verhältnis zwischen Motiven und Vergeltung wurde auch auf eine andere Art konzipiert, die einer Überprüfung wert ist. Es wurde behauptet, dass eine Ablehnung der Relevanz der Motive konsequenterweise die „Ausklammerung eines jeglichen Gewissensprozesses“ bedeuten würde.9 Wenn ein Täter einen Grund geltend mache, um seine Verantwortung für eine Handlung auszuschließen, dann gebe er zu verstehen, dass der Zweck seines Verhaltens nicht darin bestand, das 6 Überwiegend ist die Frage der Relevanz der Motivationen eine Frage der Strafhöhe und keine über das „Ja oder Nein“ der Strafe. Jedenfalls kann die hier entwickelte Antwort auch die Bedeutung der Motive in diesen Fällen erklären. Vgl. meine Doktorarbeit, Motivos y derecho penal, Teil 3 Kapitel 5 Abs. 1 (im Druck). 7 Vgl. Moore/Hurd Stanford Law Review, 2004, 1128 f. 8 Vgl. Ferrajoli Derecho y razón, 5. Aufl. 2001, S. 223; Magariños Los límites de la ley penal en función del principio constitucional del acto, 2008, S. 100 f, 103 und 112; Roxin AT I § 2 Rn. 17 ff; grundlegend ist die Diskussion zwischen Hart und Devlin (Hart Law, Liberty and Morality, 1963, S. 4 ff bzw. Devlin in: Dworkin [Hrsg.]: The Philosophy of Law, 1997, S. 65 ff). 9 Kelker Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 405 f (dies stellt auch das beste Aufgreifen der Gedanken von Schmidhäuser [Fn. 4] S. 178 ff dar); dies. FS Gallas, 1973, 81 ff.

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Gesetz zu verletzen. Wenn man also aufhöre, Beweggründe zu bewerten, so müsse man bereit sein, Personen, die im weiteren Sinne nicht schuldig sind, zu bestrafen. Hinter dieser Rechtfertigung versteckt sich jedoch ein Fehlschluss, denn es ist eine Sache, festzulegen, welche subjektiven Bedingungen notwendig sind, damit die Strafe legitim ist und eine andere, diese subjektiven Zustände als Gegenstände der Bestrafung zu übernehmen.10 Um nur ein anschauliches Beispiel zu nennen: Bedingung der Bestrafung ist es, dass der Täter die Möglichkeit gehabt hat, die Norm zu kennen. Wenn er die Norm nicht kennen kann, kann er sich in einem strafrechtlich relevanten Sinn nicht korrekt motivieren. Hieraus ergibt sich hingegen keine Erforderlichkeit einer Bewertung der inneren Einstellung des Täters zur Norm, dessen also, ob der Täter die Norm als richtig ansieht oder nicht. 11 Das eine impliziert das andere nicht. Die positive Generalprävention rechtfertigt die Relevanz der Motive, indem sie den Akzent auf das legt, was diese kommunizieren. Jede Tatbegehung stelle die Geltung der verletzten Norm in Frage.12 Wenn aber der Handelnde wegen so niederer Beweggründe wie dem Hass auf eine Rasse oder eine Nationalität handele, dann werde der Wert jener Norm auf eine noch intensivere Weise in Frage gestellt,13 was eine höhere Strafe notwendig mache.14 Diese Theorie hat zahlreiche empirische und normative Schwierigkeiten damit, die Bestrafung an sich und konkret dieses Problem zu erklären.15 Aber selbst wenn man dies beiseiteschiebt, muss man sich fragen, ob Kommunikation als hinreichende Rechtfertigung für die Höhe der Strafe in Betracht kommen kann. Auch wenn man es als plausibel ansieht, dass niedrige Beweggründe die Normstabilität stärker gefährden, müsste noch gefragt werden, ob alles, was die Normen bedroht, als strafschärfend berücksichtigt werden darf.16 Dies ist zu verneinen. Der beste Beleg stellt die Straflosigkeit der Vorbereitungshandlungen dar, welche ganz klar ein Infragestellen der Norm bekunden können. Das Gleiche muss für die Motive gelten. Wenn die Prämissen eines liberalen Staats ernst genommen werden, 10

Peralta ADPCP 2010 (im Druck). Vgl. Sancinetti Teoría del delito y disvalor de acción, 2005, S. 145 ff und 531 ff. 12 Jakobs AT Abschn. 1 Rn. 4 ff; Lesch Injusto y culpabilidad en derecho penal, 2001, S. 22 ff, 26 ff; diesbezügliche Kritik: Puppe FS Grünwald, 1999, 470, 476 ff. 13 Heine Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, 1988, S. 219, 221 ff; Moore/Hurd Stanford Law Review, 2004, 1103 und 1106 f: objektive, vom Täter nicht notwendig bezweckte Verhaltensbedeutung; Schünemann FS Bockelmann, 1979, 132. 14 Heine (Fn. 13) S. 213 ff, 215; Jakobs NJW 1969, 490; in einer weniger intellektualistischen Version Haffke GA 1978, 48. 15 Vgl. hierzu etwas ausführlicher Peralta Doxa 31 (2008), 604 ff m. w. N. 16 Moore/Hurd Stanford Law Review, 2004, 1113 ff. 11

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können Gedanken nicht Gegenstand von Sanktionen sein. Diese Garantie wurde nicht im Hinblick auf sozial akzeptierte Gedanken eingerichtet, denn diese würden auf keinen Fall bestraft, sondern gerade mit Blick auf jene, die sozial störend wirken können. Der Satz cogitationis poenam nemo patitur bedeutet also, dass bestimmte Gedanken uneingeschränkt gedacht werden dürfen, obwohl sie sozial unangebracht sind.17 Nach traditionelleren utilitaristischen Theorien sind die Motive nur ein Indiz für das Strafbedürfnis. Das Entscheidende sei nicht ihr semantischer Inhalt, sondern dass sie im Allgemeinen von Faktoren begleitet würden, die schon aus sich selbst heraus eine Anpassung der Sanktion rechtfertigten. Nach den Prämissen der Spezialprävention kennzeichneten niedrige oder triviale Motive einen gefährlicheren Täter, der die Tat wahrscheinlicher wiederholen könnte, was eine intensivere Strafe rechtfertige. Aber auch diese Theorie weist mehrere sowohl empirische als auch theoretische Probleme auf.18 Das schwerwiegendste besteht darin, dass mit dieser Rechtfertigung eigentlich zukünftige Handlungen bestraft werden und hiermit das Tatprinzip verletzt wird. Schließlich wird auch behauptet, dass die Motive die Stärke des kriminellen Entschlusses des Täters kennzeichnen. Je niedriger oder banaler das Motiv, desto entschlossener sei der Täter19 und entsprechend strenger müsse auch eine angedrohte Strafe sein, soll sie denn negativ-generalpräventiv als Anreiz gegen die Begehung derartiger Taten wirken.20 Unter Ausklammerung der sonstigen empirischen und theoretischen Nachteile der negativen Generalprävention21 ist im vorliegenden Zusammenhang nur zu betonen, dass eine auf diese Weise bestimmte Strafe das Schuldprinzip verletzt. Die Strafe wird nicht mehr gemäß den Möglichkeiten des Täters, die Tat zu vermeiden, abgestuft, sondern aufgrund von utilitaristischen Bedürfnissen, die das übersteigen können, was der Täter für seine Tat verdient.

17

Nino (Fn. 2) S. 441; im selben Sinn Roxin AT I § 2 Rn. 26. Vgl. Peralta Doxa 31 (2008), 602 ff m. w. N. 19 Engisch Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Aufl. 1965, S. 26 und 55 f; ähnlich auch Gallas ZStW 60 (1941), 399 f; Welzel ZStW 60 (1941), 467 ff. 20 Vgl. für alle Feuerbach Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. I, 1799 (Neudruck Scientia, 1966), S. 41 ff. 21 Vgl. Peralta Doxa 31 (2008), 604 ff m. w. N. 18

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III. Die Notwendigkeit einer Begründung aus der Verbrechenslehre Das Problem der bisherigen Theorien hat nicht so viel mit den einzelnen Straftheorien an sich zu tun,22 sondern mit der direkten Übertragung der Gedanken dieser Theorien auf die Strafbemessung. Dadurch entsteht insbesondere bei den präventiven Theorien die Tendenz, dass sich die Strafe über die für ihre Legitimierung gegenüber dem Individuum gebotenen Voraussetzungen hinwegsetzt. Wenn dies in anderen Bereichen des Strafrechts geschähe, etwa bei der Bestimmung der abstrakt angedrohten Strafe, würden die Einwände nicht auf sich warten lassen. Denn jemanden zu bestrafen, nur weil er in seinem Inneren unmoralisch ist, weil schon seine Gedanken eine Herausforderung der Norm bedeuten oder weil er eine gefährliche Person ist, bedeutete schlicht und einfach die Aufgabe des Tatstrafrechts. Gerade um diese Exzesse zu vermeiden, wurde eine Verbrechenslehre entwickelt, die liberalen Maßstäben entspricht.23 Die Literatur hat sich über die Kontrolle der für die Strafbestimmung zulässigen Argumente besorgt gezeigt. Auch wenn man grundsätzlich direkt von den Strafzwecken abgeleitete Überlegungen akzeptiert, versucht man ihre Tragweite durch das Schuldmaß zu begrenzen.24 Utilitaristische Zwecküberlegungen dürfen somit nur bis an eine durch die Schuld festgelegte Obergrenze heranreichen. Die Reichweite der Funktionsfähigkeit besagter Grenze ist jedoch nicht klar. Denn es gibt kein eindeutiges Kriterium dafür, wie diese Obergrenze bestimmt werden soll. Die Erklärung und Spezifizierung der Kriterien, die es ermöglichen, klar und kontrollierbar festzulegen, wann eine bestimmte Änderung der Bestrafung das angemessene Schuldmaß respektiert, ist daher eine dringende Angelegenheit. Als Mittel hierfür kommt letztlich allein die Verbrechenslehre in Betracht. Diese hat sich nämlich bereits bei der Frage nach dem „Ob“ der Strafe bewährt, so dass es ihr gegenüber kaum Alternativen gibt, die sich diesbezüglich besser ausnehmen könnten. Mit den anschaulichen Worten von Silva Sánchez muss die Strafzumessungslehre „als quantitative (oder

22

Vgl. Peralta ZIS 2008, 506 ff (http://www.zis-online.com/dat/artikel/2008_10_276.pdf). Die angestrebte utilitaristische Rechtfertigung dieser Struktur geht von einem Optimismus der sozialen Forderungen aus. Jedenfalls ist die Beziehung notwendigerweise zufällig, vgl. Hart Punishment and Responsibility, 1968, S. 12; Hassemer in: Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, S. 37; Kuhlen in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1996 S. 59, 61; Peralta ZIS 2008, 515 f. 24 Arthur Kaufmann FS Lampe, 2003, 28, ders. Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 208; Nino (Fn. 2) S. 261; ähnlich Otto ZStW 87 (1975), 576; Roxin FS A. Kaufmann, 1993, 522; Silva Sánchez La expansión del derecho penal, 2. Aufl. 2001, S. 116; Moore/Hurd Stanford Law Review, 2004, 1114 sprechen hier von einer „schwachen“ Vergeltungstheorie. 23

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graduelle) Dimension des Systems der Verbrechenslehre“ erscheinen, worin Unrecht und Schuld „abstufbare materielle Größenordnungen darstellen“.25

IV. Motive und Rechtfertigungsgründe: eine durchführbare Lösung Ein gangbarer Weg hätte dreierlei zu beachten: erstens, dass die Motive nur in dem Maße strafrechtlich berücksichtigt werden können, wie sie für den Täter den Beweggrund zur Begehung der Tat gebildet haben – es reicht nicht aus, dass der Täter rassistisch ist, sondern es ist notwendig, dass die Tat aus einem rassistischen Grund begangen wurde;26 an zweiter Stelle, dass im Tatstrafrecht mindestens eine Fallkonstellation existiert, in der die Motive erheblich zu sein scheinen: in den Rechtfertigungsfällen, in denen sich die Frage stellt, ob die Tat wegen des Vorliegens einer Rechtfertigungslage begangen wurde. Schließlich müsste man als Drittes klären, was mit dem Begriff der normalen – also nicht verwerflichen – Motivation, Straftaten zu begehen, gemeint ist. Im Allgemeinen ist man sich darin einig, dass ein Motiv nicht niedrig ist, wenn es eine objektive Konfliktsituation widerspiegelt. In diesem Sinne sagt man, dass ein nicht verwerfliches oder alltägliches Motiv ein mehr oder weniger „verständliches“ Motiv ist.27 Aus diesen drei Überlegungen ergibt sich die folgende Lösungshypothese: Die Motive beziehen sich auf die „Rechtfertigungsnähe“ der Tat. Nimmt man an, dass Rechtfertigungsgründe abstufbar sind,28 dann ist eine Art Rechtfertigungsskala denkbar: zunächst und ganz oben gäbe es Gründe, die das Unrecht völlig ausschließen; auf mittlerer Ebene stünden die Gründe, die, indem sie die Tat verständlich machen, eine teilweise Rechtfertigung herbeiführen; und auf der untersten Ebene befänden sich niedrige oder banale Motive, die überhaupt nichts rechtfertigen, sondern es ermöglichen, die positiv verwirklichte Seite des Unrechts vollständig zuzurechnen. Die Rechtfertigungsgründe erfüllen für das „Ja oder Nein“ der Strafe nur eine negative Funktion.29 Sie können nur das Unrecht eines bereits strafrechtserheblichen Verhaltens verneinen. So wie es ganz entsprechend auch 25

InDret 1/2007, 5 und 8. Kelker (Fn. 9) S. 485 ff; Paeffgen GA 1982, 267. 27 Fletcher Gramática del Derecho penal, 2008, S. 71, 189; Kelker (Fn. 9) S. 487 f; Lange GS Schröder, 1978, 220; Paeffgen GA 1982, 268. 28 Diese Frage wurde im Allgemeinen übergangen (vgl. z. B. Silva Sánchez InDret 1/2007, passim). Ausnahmen bei Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafrechtsausschluss, 1983, S. 114 ff; auch Schönke/Schröder-Lenckner § 32 Rn. 22. 29 Genauso wie die Entschuldigungsgründe und die subjektiven Unrechtselemente Fletcher Lo justo y lo razonable, 2005, S. 45 ff und 49 f; Kindhäuser InDret 4/2008, 8 ff. 26

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bei der Schuld der Fall ist, schließen die Rechtfertigungsgründe schon begrifflich die strafrechtliche Relevanz (das Unrecht) von etwas, das schon existiert, aus. Infolgedessen können sie in der Strafzumessung nur zur Milderung der durch die positive Unrechtsseite verkörperten Schwere führen. Werden Motive auf diese Weise mit Rechtfertigungsgründen verknüpft, so können niedrige Motive als Negation jeglichen Grads von „Rechtfertigung“ der Tat verstanden werden, so dass die oben geltend gemachten liberalen Bedenken nicht mehr zum Tragen kommen. Denn die Motive zeigen nur an, dass ein Unrecht mit einer bestimmten, nach ihrem begründenden Aspekt festgelegten Schwere nicht aufgrund irgendeines mildernden Grundes verringert werden kann. Derjenige, der aufgrund eines Motivs handelt, welchem das Recht keinerlei Wert einräumt, verwirklicht alles, was auf der positiven Seite des Unrechts vorausgesetzt wird, denn seine Motivation zeigt an, dass man kein Teilstück des von ihm verwirklichten Unrechts als gerechtfertigt ansehen kann. Das niedere oder banale Motiv bedeutet, einen Sachzustand als Handlungsgrund ausgewählt zu haben, der keinerlei unrechtsausschließende oder -mindernde Relevanz hat. Bei der Vertatbestandlichung der niederen und unwichtigen Motive bestraft der Gesetzgeber die Motivationen nicht auf eine von der Tat unabhängige Weise, ebenso wenig wie er dies bei der Vertatbestandlichung der Rechtfertigungsgründe tut. Er bestimmt nur die Schwere der Tat anhand ihrer Rechtfertigungsnähe. Die gesetzliche Vertatbestandlichung der niedrigen oder banalen Motive bewirkt folglich nichts anderes, als der Intuition Geltung zu verschaffen, dass derartige Gründe ein Verhalten überhaupt nicht rechtfertigen können. Im Gegensatz dazu können jedoch andere Gründe, die das Unrecht nicht völlig ausschließen, eine partielle Rechtfertigung bewirken. Die klassische Sichtweise zur Relevanz der Motive kehrt sich folglich um. Die niedrigen Motive erhöhen nicht den Unwertgehalt einer bestimmten Tat, vielmehr ist es so, dass ihre Anwesenheit eine Milderung ausschließt. Die mit niederen oder trivialen Motiven begangene Tat stellt deshalb die Grundtat dar. Demgegenüber wird dasjenige, was man allgemein für die Grundtat bzw. den Grundtatbestand hält, nach hiesiger Perspektive zu einer gemilderten bzw. privilegierten Tat, da sie das Vorhandensein eines partiellen Rechtfertigungsgrundes impliziert.30

V. Rechtfertigungsstufen bei Notwehr und Notstand Das hier entworfene Modell ist nur plausibel, wenn man Fälle der partiellen Rechtfertigung findet, die es ausschließen, dass man von niederen oder 30

Ähnlich Müssig Mord und Totschlag, 2005, S. 4 f.

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banalen Beweggründen spricht. Dies ist anhand der beiden paradigmatischsten Rechtfertigungsgründe Notwehr und Notstand zu erproben. 1. Bei der Notwehr ist sich die Lehre darin einig, dass die Provokation die Verantwortlichkeit des Provozierten mindern muss.31 Überwiegend spricht die Literatur von Provokation in diesem Sinne auch nur dann, wenn das Verhalten des zukünftig Angegriffenen unrecht ist und selbst eine Art Angriff darstellt.32 Dieses Erfordernis (das die bloß unmoralischen Handlungen ausschließt) ergibt sich aus der Tatsache, dass nur etwas, das einen rechtlichen Unwert verkörpert, die rechtliche Verantwortlichkeit des Angreifers mindern kann. Unter den Begriff der Provokation ist diejenige Fallgruppe zu subsumieren, in welcher der rechtswidrige Erstangriff aufhört, bevor dem Provozierten die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu verteidigen, so dass seine spätere Reaktion nicht als Notwehr eingestuft werden kann, weil das Erfordernis der Gegenwärtigkeit des Angriffs fehlt. Trotzdem ist anerkannt, dass der Täter auch nicht für die Tat haften muss, als wäre nichts geschehen, obwohl nicht völlig klar ist, warum dies so sein muss. Eine Notwehrlage setzt zunächst einen Angriff voraus, also eine von einem Menschen drohende Verletzung rechtlicher geschützter Interessen.33 Dieser Angriff muss nicht nur rechtswidrig, sondern auch – nach einer zutreffenden Mindermeinung, deren Richtigkeit hier nicht eigenständig begründet werden kann – schuldhaft sein.34 Bei bloßer Gefahr kann nicht von Notwehr gesprochen werden, sondern höchstens von einem defensiven Notstand, was zu wesentlichen Einschränkungen der Verteidigungsbefugnisse führt.35 Der Grund, weshalb sich diese Einschränkungen bei einem rechtswidrigen und schuldhaften Angriff nicht ergeben, ist, dass das Opfer der Notwehrhandlung für die Situation verantwortlich ist.36 Dies und nur dies führt dazu, dass es sich in einer schlechteren Situation befindet als ein anderer, der, wenn auch unwillentlich,37 ebenfalls eine Gefahr für die sich schützende Person darstellt. Hier kann man sehen, dass ein Teil der Rechtfertigung der Notwehr (derjenige Teil, der den Unterschied zum defensiven Notstand markiert) einzig und allein auf die Verantwortlichkeit des Opfers für die Handlung des Täters zurückzuführen ist. 31 Ashworth Principles of Criminal Law, 4. Aufl. 2004, S. 268; Fletcher (Fn. 27) S. 189; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 286 f. 32 Vgl. Jakobs AT Abschn. 12 Rn. 55; Roxin AT I § 15 Rn. 72 f; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron § 32 Rn. 59. 33 Statt aller Lackner/Kühl26 § 32 Rn. 2. 34 Vgl. Jakobs AT Abschn. 12 Rn. 14 ff und 17; Palermo La legítima defensa, 2007, S. 372 ff. 35 Vgl. Anführungen in Fn. 34. 36 Palermo (Fn. 34) S. 379 f; Roxin AT I § 22 Rn. 91 ff. 37 Siehe Fn. 34.

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Die Begründung der sog. Schneidigkeit des Notwehrrechts ist umstritten.38 Wir gehen hier davon aus, dass es sich um ein Problem der objektiven Zurechnung handelt.39 Wer einen anderen unrechtmäßig angreift, schafft das unerlaubte Risiko, dass dieser andere reagiert.40 Wer ein unerlaubtes Risiko schafft, muss die Konsequenzen seiner Taten auf sich nehmen und kann vom Staat nicht mehr den Schutz durch Strafe erbitten, wie derjenige, der sich nicht freiwillig in diese Situation begibt. Letzteres kann auch mit dem Einwilligungsgedanken und dem ultima ratio-Prinzip verbunden werden (welche sich nicht gegenseitig ausschließen).41 Wer sich freiwillig einem Risiko aussetzt, verwirklicht einen der Einwilligung nahestehenden Akt.42 Das Strafrecht ist nicht dafür da, all seine Schutzressourcen auf denjenigen zu verwenden, der in Risiken einwilligt. Es muss sie im Gegenteil auf die schwereren Fälle richten, in denen das Opfer nichts tun konnte, um einen Konflikt zu vermeiden.43 In den hier ins Auge gefassten Provokationsfällen fällt also die Gegenwärtigkeit weg, aber die weiteren Voraussetzungen der Notwehrlage, der rechtswidrige und schuldhafte Angriff, durch welchen sich das Opfer zum Teil für die Situation verantwortlich macht, sind an sich vorhanden. Tatsächlich geht das spätere Opfer von der allgemeinen Erfahrung aus, dass derjenige, der Adressat von provozierenden Verhaltensweisen ist, reagiert. Jene provozierenden Verhaltensweisen stellen einen unrechtmäßigen Angriff dar und implizieren auch die Erzeugung eines unerlaubten Risikos.44 Im Großen und Ganzen ist dies die Idee von Müssig, der bezüglich dieses Problemaspekts ohne Zweifel den ersten großen Schritt getan hat. Er behauptet, dass die Konfliktsituationen, in denen sich das Motiv in etwas Verständliches verwandelt, in jenen Fällen gegeben sind, in denen das Opfer mittels seines unrechtmäßigen Verhaltens Anlass zum Konflikt gegeben hat,45 d. h., wenn das „Motiv“ des Täterverhaltens darauf zurückzuführen ist, dass das Opfer zuvor seine Rechte verletzt hat. 46 Müssig hebt auch her38

Für alle Roxin AT I § 15 Rn. 1 ff. Cáncio Melia ZStW 111 (1999), 375 ff; Müssig (Fn. 30) S. 311 ff. 40 Jakobs AT Abschn. 12 Rn. 49; Müssig (Fn. 30) S. 279, 373 ff; ähnlich, wenn auch mit anderer Begründung Kelker (Fn. 9) S. 500 ff v. a. S. 503 ff sowie Köhler AT S. 360. 41 Schünemann NStZ 1996, 439. 42 Müssig (Fn. 30) S. 343 ff; Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 12, spricht auch von Umständen, die der Teilnahme nahestehen. 43 Vgl. diesbezüglich Cancio Meliá ZStW 111 (1999), 375 ff. 44 Jakobs AT Abschn. 12 Rn. 49; Müssig (Fn. 30) S. 279, 373 ff; ähnlich, wenn auch mit anderer Begründung Kelker (Fn. 9) S. 500 ff und v. a. S. 503 ff sowie Köhler AT, S. 360. 45 Müssig (Fn. 30) S. 245 ff, 252 ff, auch wenn er das Problem nicht auf den Exzess bezieht und nur die „Provokation“ durch ein strafrechtliches Unrecht als strafmildernd ansieht. 46 Wenn der Provokateur dem Angriff ausweicht, so hat das Verhalten des Angreifers schon die Grenze zum Exzess überschritten und ist er wegen einer Tat ohne bedeutende Milderung 39

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vor, inwiefern dies in den Fällen, in denen der Täter aufgrund von niederen oder banalen Beweggründen handelt, anders ist. In diesen Fällen hat das Opfer nichts oder nichts rechtlich Zurechenbares getan.47 Hier ist das gesamte Unrecht nur das Werk des Täters. Das Opfer, das wegen seiner Rasse, seinem Geschlecht oder seinen Behinderungen ausgewählt wird, ist hingegen völlig der Willkür des Täters ausgesetzt. Daher benötigt und verdient es den vollständigen Schutz des Strafrechts. Dies ist auch der Fall, wenn das Opfer den Konflikt aufgrund von Handlungen erzeugt, welche die Ausübung eines Rechts darstellen, zum Beispiel eine bestimmte Religion zu verfechten oder eine bestimmte Ideologie zu verteidigen.48 Insoweit wird das traditionell bestehende Spannungsverhältnis zwischen Bewertung von Beweggründen und Grundrechten aufgelöst, denn ein Beweggrund ist besonders dann als niedrig einzustufen, wenn ihm wegen Verletzung eines dem Opfer zustehenden Grundrechts nicht auch in minimalster Weise rechtfertigende Wirkung zukommt. 2. An nächster Stelle ist die Problematik im Rahmen des rechtfertigenden Notstands zu untersuchen. In Deutschland definiert sich dieser als Schädigung eines Rechtsguts zur Vermeidung einer Gefahr für ein anderes Rechtsgut, dessen Wert „wesentlich“ überwiegt (§ 34 StGB), in Argentinien als Verursachung eines Schadens, um einen anderen, größeren zu vermeiden, mit dem der Täter nichts zu tun hat (Art. 34 Nr. 2 argStGB). Trotz der unterschiedlichen Formulierung kann man sagen, dass beide Gesetze weitgehend gleichwertige Regelungen enthalten. Alle für den Interessensbegriff bzw. die Interessenabwägung oder den Schadensbegriff bzw. den Schadensvergleich erheblichen Elemente lassen schon aus sich heraus unterschiedliche Abstufungen zu. Unsere Überlegungen, die am Beispiel des Wertes der in Frage stehenden Güter zu entwickeln sind, lassen sich auf andere derartige Elemente entsprechend übertragen. Wir wissen schon, dass das Notstandsrecht nur dann existiert, wenn die auf dem Spiel stehenden Güter des Täters einen wesentlich höheren Wert haben als diejenigen des Angegriffenen.49 Das Verhalten ist grundsätzlich nicht gerechtfertigt, wenn der Täter das Rechtsgut eines anderen angreift, das denselben oder einen nicht wesentlich geringeren Wert hat als das geschützstrafbar. Denn auch wenn er seine Pflicht, die Konfrontation zu vermeiden, erfüllt hat, so kann das Verhalten des Täters immer noch mit seinem eigenen Verhalten verbunden werden. Wenn nun der sich verteidigende Provokateur nicht bestraft wird, so ist das nicht darauf zurückzuführen, dass keinerlei Unrecht mehr besteht, sondern darauf, dass der Rest des Unrechts (das parallel zur Verringerung der Verantwortlichkeit des Angreifers besteht) entsprechend dem ultima ratio Prinzip nicht bestraft wird. 47 Müssig (Fn. 30) S. 263 ff u. 266 ff. 48 Dies verbindet sich direkt mit der Idee der Provokation. 49 Jescheck/Weigend AT S. 362.

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te, auch wenn ein anderes Gut gerettet wird. Dies kann als Exzessfall im aggressiven Notstand definiert werden, welcher, obwohl vorsätzlich, eine geringere Strafe erfordert als eine ohne jegliche Rechtfertigung begangene Tat.50 Diese beiden Fälle der Rechtfertigung und des Exzesses in der Rechtfertigung sind jedoch nicht die einzigen, die mit einem Notstand dieser Art verbunden werden können. Es können außerdem Fälle auftreten, deren Wert demjenigen des gerechtfertigten Falls gerade entgegengesetzt ist, das heißt, Fälle in denen die angegriffenen Güter den geschützten wesentlich überlegen sind. Hier kann man nicht mehr von einem einfachen Exzess sprechen, der eine wesentlich gemilderte Strafe verdient. Trotzdem erfolgt eine partielle Rechtfertigung, da immer noch ein Gut gerettet wird. Die Beziehung zwischen der hier erwähnten Exzesssituation und den niederen oder banalen Beweggründen ist die gleiche, wie diejenige, die wir zwischen diesen Motiven und der Notwehr hergestellt haben. Auch hier folgt die Bedeutung der niederen oder banalen Motive daraus, dass sie ein Indiz für die Abwesenheit auch nur minimaler unrechtskompensierender Umstände bilden. Bezogen auf den aggressiven Notstand ist dann von dieser Art von Motiven zu sprechen, wenn das Verhalten des Täters in keinster Weise auf keiner seiner Stufen mit dem Schutz irgendeines rechtlich relevanten Interesses verbunden werden kann. Das argentinische StGB erweist sich insofern als besonders treffend, wenn es in Art. 41 lit. b bei der Aufzählung der Strafzumessungsgründe „die Motive“ erwähnt, die die Person zur Straftatbegehung bestimmten, und „dem Elend und der Schwierigkeit, sich den Lebensunterhalt oder den der Seinigen zu verdienen“ eine besondere Bedeutung beimisst. Hier wird eine deutliche Verbindung zwischen Motiven und Notstandssituationen hergestellt, welche die Tat zumindest geringfügig rechtfertigen, auch wenn sie nicht das gesamte vom Täter begangene Delikt rechtfertigen und überdies keine Exzessfälle sind. Die Literatur ist sich darin einig, derartigen Notsituationen eine das Unrecht mindernde Kraft zuzuerkennen,51 auch wenn eher von einem Schuldminderungsfaktor gesprochen wird. Aber das Recht, in dieser Situation etwas zu tun, entsteht nicht aus der Tatsache, dass die Schuld des Täter vermindert ist, und ebenso wenig lässt sich die mildernde Bedeutung dieser Motivationen durch eine solche Schuldminderung erklären. Wichtig ist vielmehr, dass auch im Falle der vollen Schuld die Situation weiterhin als mindernd bewertet werden soll, und zwar wegen der objektiven, partiell unrechtskompensierenden Notstandssituation. 50 Schönke/Schröder-Lenckner § 32 Rn. 22; im selben Sinn Valle Muñiz ADPCP 1992, 594 f. 51 Vgl. De la Rúa Código penal argentino, 2. Aufl. 1997, S. 709; Hart (Fn. 23) S. 16; Schaffstein FS Gallas, 1973, 110; Ziffer Lineamientos de la determinación de la pena, 2001, S. 133.

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Nun muss man sich fragen, wann der Fall vorliegt, dass zum Beispiel eine Tat völlig ungerechtfertigt ist und so jegliche Notstandssituation, sei sie auch noch so klein und entfernt, verneint werden muss. Nehmen wir das Beispiel des Diebstahls. Das Beispiel der Tatbegehungsgründe für dieses Delikt hat eine zentrale Bedeutung, weil es uns erlaubt, eines der am weitesten verbreiteten Motive zu erklären, ohne dass weitere Argumente hinzugefügt werden müssen: das der Habgier. Was als Habgier verstanden werden will, oder besser gesagt, was als Habgier verstanden werden muss, ist nicht das „von Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit getriebene ... Streben nach Vermögensmehrung“,52 sondern die absolut fehlende Notwendigkeit, das Vermögen zu vermehren. Die Habgier impliziert, dass jener Vorteil, den der Täter mit der Tat anstrebt, überhaupt nicht notwendig ist, um den „eigenen Lebensunterhalt oder den der Seinigen“ zu gewährleisten, sondern dass es sich um etwas Überflüssiges handelt, das unter keinem Aspekt Eingriffe in Rechte Dritter rechtfertigen kann.53

VI. Motive und subjektive Elemente der Rechtfertigungsgründe 1. Nachdem schon festgelegt wurde, dass die Motive die Schwere des Unrechts anzeigen, muss eine letzte wichtige Präzisierung vorgenommen werden, die noch deutlicher zeigen wird, warum nach dieser Theorie unter keinem Gesichtspunkt die für die Tat bedeutsamen Motive bestraft werden. Damit dem Täter ein objektiv korrektes Verhalten zugeschrieben werden kann, muss er unter subjektiven Bedingungen handeln, die es erlauben, das objektiv korrekte Verhalten auf seine Person und nicht bloß auf den Zufall zurückzuführen. Wenn die Person zufälligerweise unter dem Schutz eines Rechtfertigungsgrundes handelt, ohne zu wissen, dass dieser existiert, dann ist diese Situation wertmäßig mit derjenigen identisch, in welcher jemand einen Straßenhund in dem Glauben tötet, es handele sich um einen Menschen. Dies stellt eine Situation dar, welche die Strafe des Versuchs verdient. Daher ist es notwendig, dass die Person die Rechtfertigungssituation 52

Schönke/Schröder-Eser § 211 Rn. 17. Daher müssen bei der Bemessung der Strafe die dem Notstand nahestehenden Umstände mildernd und die den niederen Motiven nahestehenden Umstände erschwerend wirken; vgl. Schaffstein FS Gallas, 1973, 110; NK-Streng § 46 Rn. 52. Diese Rechtfertigung der Bedeutung der Motive war von einigen der Autoren bereits auf ähnliche Weise erahnt worden, nur wurde sie nicht hinreichend deutlich ausgesprochen, vgl. Heine (Fn. 13) S. 265 ff; Schroeder JuS 1994, 277; Stratenwerth Recht und Staat 1971, S. 30; ders. FS Weber, 1963, 171, 173 ff, 178 und 190; ferner Woesner NJW 1980, 1139; Ziffer (Fn. 51) S. 133 und sogar v. Liszt selbst in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. II, 1905, S. 192 und 198. 53 Roxin AT I § 14 Rn. 97. 53

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zumindest erkennt. Die Frage ist nun, ob noch etwas Weiteres notwendig ist, wie etwa eine besondere Absicht oder Motivation. Dies scheint für einen Staat, der nur Rechtsgüter schützen will, unnötig, funktionsstörend und außerdem illegitim zu sein. Mehr zu fordern als das bloße Wissen führt tatsächlich zu Folgen, die in jeder Hinsicht inakzeptabel sind, denn dies würde bedeuten, dem Täter zu sagen, dass er nur wegen seiner Gesinnung ein objektiv gewünschtes Verhalten unterlassen solle. Bei Rechtfertigungsgründen, die eine Rechtspflicht enthalten, käme dies zudem einem Gebot der Pflichterfüllung aus Pflicht gleich.54 Außerdem wäre dies unvereinbar mit der gebotenen Trennung der durch das Recht regelbaren Bereiche von denen durch die Moral regelbaren. Zu Recht erklärt deshalb Roxin: „Schon das Bewusstsein, etwas Rechtmäßiges herbeizuführen, beseitigt den Handlungsunwert und damit das Unrecht“. 55 Ein Verhalten, das „auffällt“,56 erlaubt es nur, bestimmte Fragen über den inneren Zustand des Täters zu stellen und nicht andere. Man darf nicht alle Türen öffnen, um den subjektiven Aspekt zu untersuchen, sondern dies nur insoweit, als es mit den Prämissen eines liberalen Staates vereinbar ist. 2. Nach alledem wird ersichtlich, dass auch für die partielle Rechtfertigung nur notwendig ist, dass der Täter die sie begründenden Umstände kennt, ohne dass er ihretwegen handeln muss. Das bedeutet, dass eine Tat angesichts einer (zeitlich oder aufgrund ihrer Intensität) unangemessenen „Reaktion“ auf eine Provokation als gemildert angesehen werden kann, obwohl der Täter nicht aufgrund der Provokation, sondern aus anderen Gründen handelt.57 Das Gleiche gilt in dem Fall, in welchem ein Täter, der zugunsten eines Dritten und angesichts der Unmöglichkeit eines geringeren Eingriffs ein Gut von größerem Wert verletzt als das gerettete, und dies nur, um etwa seine frauenfeindlichen Interessen zu verfolgen. Dieser Täter verwirklicht ein vermindertes Unrecht, obwohl er aufgrund niederer Beweggründe handelt. Hiermit sollte klar sein, dass die im strafrechtlichen Sinne relevanten „Motive“ nicht auf eine subjektive Frage Bezug nehmen. Bis jetzt wurde von Motiven als etwas Subjektivem gesprochen, nur um die Diskussion verständlicher zu machen. Ebenso werden die Rechtfertigungsgründe normalerweise auch als Gründe thematisiert, die die Person motivieren sollen, 54

Roxin AT I § 14 Rn. 99. Roxin AT I § 14 Rn. 97 ff; in demselben Sinne Jakobs AT Abschn. 11 Rn. 20 m. w. N.; Köhler AT S. 322; Stratenwerth/Kuhlen AT § 9 Rn. 148. Es ist nicht verwunderlich, dass der entgegengesetzte Gesichtspunkt u. a. von Jescheck/Weigend (AT S. 328) und Wessels/Beulke (AT Rn. 275 ff) vertreten wird, die der Gesinnungsunwertstheorie folgen. 56 Jakobs Estudios de derecho penal, 1985, S. 301 ff. 57 So differenzierend Moore/Hurd Stanford Law Review 2004, 1095. 55

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auch wenn später bei der Untersuchung der zur Rechtfertigung erforderlichen subjektiven Elemente etwas anderes gesagt wird. Die Motive wurden immer als etwas Mentales verstanden. Um zu erklären, was sie bezeichnen, war es daher notwendig zu zeigen, dass sie tatsächlich normalerweise eine Situation der Unrechtsminderung begleiten. Besagte Methodik muss jedoch aufgegeben werden. Das Handeln aufgrund von niederen oder banalen Beweggründen impliziert nicht einen Fall maximalen Unrechts, wie auch das Handeln wegen nicht niederer Motive keinen Fall des gemilderten Unrechts impliziert. Die Motive begleiten nur üblicherweise besagte Variationen, aber diese werden unabhängig davon gerechtfertigt. Wer wegen Rassenhasses tötet, tut dies also normalerweise zulasten eines Opfers, das nichts rechtlich Relevantes getan hat, um diesen Angriff zu erzeugen. Und wer angesichts eines Provokationsakts tötet, tut dies normalerweise jenseits von niederen oder unbedeutenden Überlegungen. Beide Umstände bedingen sich jedoch nicht gegenseitig, und daher ist es logisch und in der Tat auch empirisch möglich, dass sie nicht zusammentreffen. Dies erklärt auch, warum die Motive keine die Schuld (als Ort, an dem die Möglichkeit bewertet wird, die Tat ihrem Täter zuzuordnen) betreffende Frage sind. Der Gedanke, dass die Milderung wegen der Schwierigkeit, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, immer eine gemeinsame Minderung von Unrecht und Schuld benötigt, übersieht die Tatsache, dass die Minderung des Unrechts objektiv ist, und dass einzig bewertet werden muss, ob die Person diese Situation kannte, womit auch die Idee des Fehlens von Zwang vereinbar ist.58 Dasselbe kann zum Exzess oder den Provokationsfällen gesagt werden. Beide Annahmen sind damit vereinbar, dass der Täter tatsächlich von seiner partiellen Rechtfertigung weiß, sich aber durch etwas anderes motivieren lässt.59

58 In diesem Sinne ist es auffällig, dass Art. 81 lit. a) argStGB zur Berücksichtigung des Affekts („emoción violenta“) verlangt, dass der Täter unter „Umständen [handelt], die [das Verhalten] entschuldbar machen“, und dass die Literatur für die Berücksichtigung der Milderung wegen Affekts oder Verblendung gem. Art. 21 spanStGB „gerechte“ Schmerzen fordert, so Bacigalupo Derecho penal, parte general, S. 601. 59 Ich bin mir bewusst, dass § 33 StGB die asthenischen und die sthenischen Affektzustände unterschiedlich behandelt. Der Unterschied beruht anscheinend nicht auf dem Grad der Schuldminderung, sondern auf der inneren Einstellung des Täters: Angst versus Hass. Dies scheint meine Theorie schachmatt zu setzen. Wenn man es jedoch genau betrachtet, dann beruhen beide Exzessarten auf unterschiedlichen Voraussetzungen, die der hier behandelten Problematik der Motive fremd sind. Während der Hass von der Kenntnis der mangelnden Notwendigkeit des Verhaltens zur Vermeidung irgendeiner Gefahr begleitet wird, setzt die Angst im Gegensatz hierzu voraus, dass man glaubt, es sei notwendig, sich weiterhin zu verteidigen. Der Exzess in einem asthenischen Affektzustand beruht also auf einer Art Erlaubnistatbestandsirrtum, welcher im sthenischen Affektzustand fehlt.

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VII. Fazit Nach einer kritischen Überprüfung der Konstruktionen, die das Spannungsverhältnis zwischen Berücksichtigung von Motiven einerseits und Tatstrafrecht andererseits zu lösen versuchten, wurde gefolgert, dass sie entweder die Bestrafung von über die Verantwortlichkeit für die Tat hinausgehenden Neigungen bedeuteten oder schlicht und einfach eine Bestrafung von Gedanken. Die eigene Lösung besteht im Großen und Ganzen darin, die Strafzumessungslehre nach dem Muster der Verbrechenslehre zu konzipieren, indem jedes einzelne Element des Straftatbegriffs als abstufbar verstanden wird. So sind die Motive mit anderen, normalerweise für die Verbrechenslehre erheblichen Umständen zu verbinden: den Rechtfertigungsgründen. Konkret zeigen die niederen und trivialen Motive, im Gegensatz zu den Motiven, die gewöhnlich die Fälle des verminderten Unrechts begleiten, das völlige Fehlen von Umständen an, welche die Tat, wenn auch nur teilweise, rechtfertigen könnten. Letztlich entpuppen sich Motive nur als ein Epiphänomen, in dem sich die objektive Schwere des Unrechts widerspiegelt. Die Zurechnung dieser Umstände erfolgt nach allgemeinen Regeln, so dass allein die Kenntnis der objektiven Situation der minimalen Unrechtsminderung oder des völligen Fehlens der Minderung Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung ist, nicht aber die wirklichen Motive des Täters. Dies garantiert dem Täter sein „Recht, innerlich böse zu sein und weiterhin das zu sein, was er ist“.60

60 Ferrajoli

Derecho y Razón, 5. Aufl. 2001, S. 223.

Auf einen Schelmen anderthalbe? Zum Fehlgebrauch einer misslungenen Rechtsfigur MICHAEL HETTINGER

I. Introitus 1. Cantus laetus Er liebt die Sprache; seine geschriebene wie seine gesprochene ist unverwechselbar die seine. Die Rede zeigt ihn wortgewaltig, bilderreich und suggestiv, mit Einsprengseln von selbstironisch gebrochenem Pathos, unterstützt teils durch die Gestik eines Propheten, wenn es der Sache nützt und die Atmosphäre ihn dazu animiert. Sein „Schlusswort“ macht noch aus der langweiligsten Tagung das erhoffte Ereignis – kurz, die Rede ist von Claus Roxin, dessen – man glaubt es kaum – 80. Geburtstag es zu feiern gilt.

2. Thematische Optionen Was nun kann man einem solchen Autor und Rhetor widmen, einem, der nicht nur immer Lust auf die Debatte zu haben scheint, sondern auch zu ach so Vielem sich schon – häufig als Erster, teils mehrfach – geäußert hat. Was kann man tun in solcher Lage? Eine neue „steile“ These aufstellen? Einen vehementen Widerspruch gegen eine seiner Thesen erheben? Eines seiner Lieblingsthemen traktieren und ihm am Ende – „bäuchlings“, zumindest jedoch „im Ergebnis“ – zustimmen?

3. Consilium Angesichts solcher Optionen erscheint es doch ersprießlicher, etwas anzutippen, zu dem er schwerlich schon Stellung genommen haben wird, weil es in der aktuellen Form noch zu „frisch“ ist und die Thematik jedenfalls in Teilen zudem nicht gerade im Zentrum seiner vielfältigen Interessen steht.

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Michael Hettinger

Zwar hat er „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“1 geschrieben, sich mehrfach mit „Zweck und Rechtfertigung von Strafen und Maßregeln“2 befasst und sich an einer stattlichen Reihe von Gesetzesentwürfen der „Alternativ-Professoren“3 beteiligt; aber zu Strafzumessungsregelungen betreffenden Gesetzgebungsvorhaben hat er, soweit mir nicht etwas entgangen ist4, sich bisher noch nicht näher geäußert. Das ist deshalb etwas verwunderlich, weil ja auch im Strafrecht – nicht nur aus Sicht der Beschuldigten – durchaus entscheidend ist, „was hinten raus kommt“, wie zu seinen Kanzlerzeiten Helmut Kohl einmal etwas unelegant, aber doch treffend, formuliert hat.

II. Maximum pars Die Seite der Rechtsfolgen stößt bemerkenswerter Weise in der deutschen Strafrechtswissenschaft traditionell nur auf wenig Interesse.5 Das wäre nun nicht bedauerlich, befänden sich Gesetzgebung und Rechtsprechung in 1 Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970; 2. Aufl. 1973 – mit spanischer, japanischer, englischer, koreanischer, italienischer und portugiesischer Übersetzung; s. FS Roxin, 2001, 1553. 2 Roxin AT I § 3 m. w. N. zu seinen eigenen Arbeiten; s. auch Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht, S. 1, 8 ff. 3 Aufgeführt sind sie in der FS Roxin, 2001, 1555 f. Zur Entstehung dieses Kreises von Professoren s. E.-W. Hanack in: Thomas Horstmann/Heike Litzinger (Hrsg.), An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen, 2006, S. 68, 91 ff; zu jenem Kreis auch Maihofer, Roxin und Stratenwerth, alle in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 389, 399; 447, 459, 461 ff; 553, 562. 4 Man lese das Schrifttumsverzeichnis in der ihm gewidmeten FS (Fn. 3), 1553 ff, das Publikationen von 1959-2001 aufweist, sowie dessen Fortführung in dem ihm zum 75. Geburtstag gewidmeten Heft 5 von GA 2006, 431 ff. 5 Immerhin verfügen wir über einige Lehrbücher zum Sanktionenrecht und – z. T. – vorzügliche Kommentierungen der §§ 46 ff StGB. In diesen Werken stehen aber – sinnvoller Weise – Fragen de lege lata im Vordergrund und findet Kritik nur begleitend statt; über das Erwartbare hinaus reichen allerdings die Darlegungen Strengs Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 2002, Rn. 408 ff und passim. Die von Silva-Sánchez FS Hassemer, 2010, 625 f geäußerte Vermutung zum Grund dieser „Enthaltsamkeit“ dürfte jedenfalls in unseren Tagen nicht mehr zutreffen. Der Weg, den er sodann beschreibt, wird hierzulande schon lange beschritten; zu einer Punktstrafe wird (auch) er allerdings nicht führen können; zu den Gründen vgl. Hettinger GA 1993, 1; ders. Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, 1997, S. 97 mit Fn. 380; ders. FS Maiwald, 2010, 299 Fn. 30. – Zur heute etwas in Vergessenheit geratenen intensiven Diskussion vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert, Fragen des Strafens und der Strafzumessung betreffend s. Hettinger FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, 405, 416 ff, 422 ff.

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diesem Bereich, wenn nicht in Bestform, so doch in zumindest gutem Zustand. Schön wär’s! Aber dem ist bei Weitem nicht so.

1. Lücken und Sprengsätze Selbst wer nur bescheidene Ansprüche stellt, kann mit der derzeitigen Rechtslage schwerlich zufrieden sein. Auch auf die Gefahr hin, dass eine intensivere Beteiligung der „Theoretiker“ zu einer ähnlichen Unübersichtlichkeit führen könnte, wie sie in der Dogmatik zu den Voraussetzungen der Strafbarkeit an allzu vielen Stellen zu verzeichnen ist, sollte nicht auf Kritik sowie auf Vorschläge verzichtet werden mit dem Ziel, den derzeitigen Sachstand „doch noch“6 auf ein akzeptables Niveau zu heben. Ebenso zu überdenken wären im Hinblick auf das Strafzumessungsrecht eine Reihe neuerer und neuester Vorschriften. Im Strafprozessrecht betrifft das § 354 Ia StPO7 sowie die neuen Bestimmungen zur sog. Verständigung im Strafverfahren,8 im materiellen Recht insbesondere § 46b StGB.9 Eine vorherige 6 Drei im Anspruch unterschiedlich weitreichende Versuche zur Reform der Strafdrohungen mit dem Ziel einer „Harmonisierung“ seien exemplarisch benannt: Das „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ vom 28.10.1994, das insbes. die Strafdrohungen für Körperverletzungsdelikte „zur wirksamen Bekämpfung der Kriminalität“ (so BT-Drucks. 12/6853, 2) verschärfte, verbunden mit dem weiteren Ziel, „das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit im Verhältnis zu den Eigentums- und Vermögensdelikten aufzuwerten und mit einem besseren Schutz zu versehen“ (aaO 19); dazu Hettinger GA 1995, 399; ferner das „Gesetz zur Bekämpfung der Korruption“ vom 13.08.1997 (umfassende Nachw. des Schrifttums in LK-Tiedemann vor § 298, §§ 298, 299, jeweils vor Rn. 1 sowie in LK-Sowada vor § 331 Rn. 20), das bei den §§ 331 ff StGB die Strafdrohungen konzeptionslos neu bestimmt (nicht: geordnet) hat; dazu Hettinger NJW 1996, 2272 f; schließlich und vor allem das 6. StrRG, das sich ja insbesondere die Harmonisierung der Strafrahmen – freilich nur des StGB – auf die Fahne geschrieben hatte; in diesem Bereich ist das Gesetz auf der ganzen Linie gescheitert; näher zu ihm und zur Kritik Hettinger FS Küper, 2007, 95; zum (Referenten-)Entwurf dieses Gesetzes ders. Entwicklungen (Fn. 5), S. 32 ff. – Nur erwähnt seien außerdem der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts, BR-Drucks. 3/04 vom 02.01.2004 und die Erläuterung des Schicksals dieser Reformbemühung bei Wilkitzki GA 2006, 398 sowie die offenbar einem Grundsatz „semper reformanda“ folgenden fortwährenden „Reformen“ im Bereich der Sexualdelikte; dazu instruktiv in LK-Hörnle vor § 173 Rn. 4 ff, insbes. Rn. 16 ff, 26; Fischer vor § 174 Rn. 4; MKRenzikowski vor § 174 Rn. 61 ff, 74, 77, 79 ff. 7 An BGHSt GrS 34, 345 sei ebenso erinnert wie an die beiden, die ausweitende Rechtsprechung des BGH „korrigierenden“ Entscheidungen des BVerfG NStZ 2004, 273 und BVerfGE 118, 212 = NJW 2007, 2977. Meyer-Goßner § 354 Rn. 28a hält § 354 Ia zu Recht für „systemwidrig“; sehr krit. auch HK-StPO/Temming § 354 Rn. 18; SK-StPO/Wohlers § 354 Rn. 51. Zu § 354 Ib StPO krit. Wasserburg GA 2006, 393. 8 Zu deren Kritik s. nur Fezer NStZ 2010, 177; Fischer § 46 Rn. 115 ff, 118 ff m. w. N.; Murmann ZIS 2009, 530; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 17 und passim; Weigend FS Maiwald, 2010, 829, 847: „… schrittweise Erosion“; zu den Entwürfen Hettinger FS Egon Müller, 2008, 261 und Weßlau ebd., S. 779; s. auch Backes FS Hassemer, 2010, 985.

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Folgenbeurteilung hinsichtlich der Auswirkungen auf die Praxis des Strafverfahrens10 ist hier ebenso wenig erkennbar wie ein mit dem Schuldstrafrecht wenigstens vereinbares Konzept. Zu Recht diagnostiziert ein renommierter Strafverteidiger: „Spätestens mit dem Inkrafttreten des ‚Gesetzes zur Verständigung im Strafverfahren‘ ist das Strafzumessungsrecht, der alten Schule jedenfalls, tot“.11

2. Ein Gesetzesentwurf zur Änderung des StGB So gesehen fügt es sich gut, dass die Bundesregierung am 15.10.2010 den „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ 12 vorgelegt hat, vorbereitet durch einen Referentenentwurf13 aus dem Mai des Jahres. Vielleicht lässt sich ja des Jubilars Interesse an der in diesem Entwurf versteckten Thematik wecken und auf diese Weise nebenbei ein „grau-weißer“ Fleck auf der von ihm vermessenen Karte des materiellen Strafrechts tilgen. Worum geht es? Nun, vorab ließe sich anlässlich dieses Entwurfs ein weiteres Mal über Sinn und Unsinn, Risiken und Nebenwirkungen von sog. adhoc-Gesetzen räsonieren. 14 Das freilich wäre einer eigenen, durchaus umfangreichen Betrachtung wert und kann hier schon deshalb nicht näher untersucht werden. Im Mittelpunkt des Interesses soll vielmehr ein Teil dessen stehen, was Gegenstand dieses Entwurfs ist, dessen Titel „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ seinen Inhalt – wie häufig – nur unvollständig wiedergibt: Die geplante Einführung eines Strafrahmens für minder schwere 9 Zu dieser Norm s. Schönke/Schröder-Kinzig § 46b Rn. 2, 20 f; NK-StGB/Streng § 46b Rn. 4 ff, jeweils m. w. N.; sehr krit. NK-StGB/Vormbaum § 164 Rn. 79. Zu § 46b III StGB s. auch Fischer § 46b Rn. 21 f; vgl. aber auch Kaspar/Wengenroth GA 2010, 453, die dem Gedanken des „Schuldausgleichs“ keine Bedeutung mehr zumessen wollen. Ihr Kriterium der Vermittelbarkeit der Strafe (gegenüber der Allgemeinheit) als „adäquate und (?) angemessene Sanktion“ (471) überzeugt mich nicht. – Zur Problematik des Komplexes der „Maßregel“ der Sicherungsverwahrung, die in den letzten Jahren Änderungen im Galopp erfahren hat, s. Fischer § 66 Vorbem. vor Rn. 1. 10 Vgl. dazu Fischer § 46b Rn. 4b. 11 Strate NStZ 2010, 362, 364; s. auch Harms FS Nehm, 2006, 289, 294. 12 BR-Drucks. 646/10; ergänzt wird dieser Entwurf durch die Empfehlung des federführenden Rechtsausschusses und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten in der 877. Sitzung des BR am 26.11.2010 sowie die Stellungnahme des BR in BR-Drucks. 646/10 (Beschluss) vom 26.11.2010. 13 Das mir vorliegende Exemplar weist den Bearbeitungsstand 25.05.2010 aus. 14 Die Gründe sind vielfältig, nicht alle sind einsehbar, manche kritikwürdig; s. etwa Hettinger Entwicklungen, S. 13 mit Fn. 38, S. 27 mit Fn. 104-108, S. 34 mit Fn. 143; ferner Lackner/Kühl vor § 1 Rn. 2; vor § 13 Rn. 3; vor § 38 Rn. 4 ff; instruktiv auch Wilkitzki GA 2006, 398. Im Auge zu behalten ist nach wie vor, was Lackner NJW 1976, 1233, 1234 f zum Stil der Gesetzgebung niedergeschrieben hat; dazu auch Dreher NJW 1970, 1153.

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Fälle in einem neuen § 244 III StGB, um die durch § 244 I Nr. 1a und 1b StGB i. d. F. des 6. StrRG von 1998 entstandenen Misslichkeiten zu beseitigen.

3. Zum Inhalt des Gesamtvorhabens Zunächst jedoch ein knapper Überblick zum Gesamtvorhaben des Entwurfs. Schon der Referentenentwurf nannte die Anlässe der Initiative: Die polizeiliche Kriminalstatistik weist für den Zeitraum 1999-2008 bei den als Widerstand gegen die Staatsgewalt erfassten Fällen eine Steigerung von 30,74 % aus, weshalb – einmal mehr und ohne nähere Nachfrage, wie dieser „statistische Anstieg“ zu erklären ist: mehr Pfändungen, mehr Aggression infolge sozialen Abstiegs oder fehlende Ein- oder Aufstiegschancen u. a. m.? Ob derlei geprüft wurde, erfährt man nicht – die Obergrenze der Strafdrohung des § 113 I StGB von zwei auf drei Jahre erhöht werden soll. Dieses Vorhaben, auf das noch einmal kurz zurückzukommen sein wird, wurde wahrscheinlich deshalb aus der Schublade gezogen, weil eine Entscheidung des BVerfG zu § 113 II 2 Nr. 1 StGB zu „Handlungsbedarf“ geführt hatte. Das Gericht hatte nämlich die von der bisher h. M. vertretene „weite“ Auslegung des Begriffs „Waffe“, wonach gefährliche Werkzeuge – im der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ein Personenkraftwagen – erfasst sein sollten, als Verstoß gegen das Analogieverbot des Art. 103 II GG bewertet.15 „Bemerkenswert“ ist die Folgerung, die das BVerfG aus der Verwerfung der weiten Auslegung zieht: „Teleologischen Überlegungen (könne) dadurch Rechnung getragen werden, dass das Beisichführen gefährlicher Werkzeuge in Verwendungsabsicht als unbenannter ‚besonders schwerer Fall‘ im Sinne des Gesetzes gewertet“16 werde. Ist das nicht eine wunderliche Pirouette? Der „mögliche Wortsinn des Begriffs der Waffe“ umfasst einen Personenkraftwagen nicht; das soll aber unschädlich sein, weil es ja neben dem Regelbeispiel, das dem Bestimmtheitsgebot unterfällt, unbenannte besonders schwere Fälle gibt. Was soll man von so etwas halten, setzt man nur einmal kurz die professionelle deutsche17 Brille ab? Die Antwort kann redlicherweise nur „nichts“ lauten (oder: typisch deutsches Glas15 BVerfG NJW 2008, 3627; so schon bisher NK-StGB/Paeffgen § 113 Rn. 85 m. N. auch zu Kritikern dieser Entscheidung. 16 BVerfG NJW 2008, 3629; es fährt fort: „… soweit – was vorliegend möglich erscheint – die weiteren Voraussetzungen hierfür vorliegen“; zu dieser Entscheidung s. die zahlreichen Nachw. bei Lackner/Kühl § 113 Rn. 24 sowie bei Koch/Wirth ZIS 2009, 90; vgl. auch Kudlich FS Stöckel, 2010, 93. – Warum wohl ist man diesem „Dreh“ zuvor nicht ernstlich „näher getreten“? 17 Es ist immerhin notierenswert, dass m. W. bis heute kein Gesetzgeber eines anderen Landes diese angeblich so „moderne“ Technik übernommen hat.

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perlenspiel) und die Forderung, die unbenannten besonders schweren Fälle als eindeutig misslungene Gesetzgebungsmethode endlich abzuschaffen. Dass das auch – hinsichtlich der Figur der minder schweren Fälle – weitere Vorteile hätte, jedenfalls haben könnte, ist an anderer Stelle bereits näher18 ausgeführt. Es ehrt m. E. die Sachbearbeiter, die diesen Entwurf erstellt haben, dass sie den vom BVerfG aufgezeigten Weg nicht gehen wollen.19 Noch einmal zurück zu § 113 I StGB: Die Ausschüsse haben die Anhebung des Höchstmaßes der Freiheitsstrafe auf drei Jahre gebilligt. Darüber hinaus haben sie vorgeschlagen, in Absatz 1 nach dem Wort „dabei“ einzufügen „oder sonst in Ausübung seines Dienstes“, weil – so die Begründung des Vorschlags – durch die Erhöhung des Strafrahmens die bisherige Privilegierung im Verhältnis zur Nötigung (Rücksichtnahme auf mögliche Affektsituationen durch die Konfrontation mit einer Vollstreckungshandlung) nicht mehr bestehe.20 Ob man diese Parallelisierung zu § 240 StGB konzeptionell vollständig durchdacht hat, ist den spärlichen Materialien nicht zu entnehmen, mag aber hier ebenso unerörtert bleiben wie die Bitte des Bundesrats, „im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob … § 114 Absatz 3 StGB auch Katastrophenschutzhelfer und Kräfte sonstiger Rettungsdienste erfassen soll“.21 Schließlich, so der letzte zum Entwurf führende Beweggrund, erscheine es erforderlich, „den Anwendungsbereich des § 305a Absatz 1 StGB auszuweiten“, da sich in Nr. 2 die Beschränkung auf Kraftfahrzeuge der Polizei und der Bundeswehr als problematisch erwiesen habe.22, 23 Die kriminalpolitische „Berechtigung“ dieser Ausweitung mag ebenfalls auf sich beruhen. 18

FS Maiwald, 2010, 293, 318 f. Der Hinw. des BVerfG ist folgerichtig, deckt aber nur „schonungslos“ den Charakter dieser Figur der unbenannten besonders schweren Fälle auf. Sie täuscht schlicht darüber hinweg, dass der Gesetzgeber sich mit ihrer Verwendung aus seiner Verantwortung stiehlt und – Hannemann, geh du voran – den Gerichten zumutet, die Arbeit nachzuholen, die er vorab zu investieren zu bequem war. In der Anhörung zum Entwurf des 6. StrRG haben die als Sachverständige geladenen Praktiker sich mehrheitlich für diese Zumutung „bedankt“ und damit immerhin ein Innehalten des Gesetzgebers, der diese Technik in dem Gesetz hatte inflationär einsetzen wollen, bewirkt; dazu Hettinger FS Küper, 2007, 109 mit Fn. 72. – Folgerichtig schlägt der neue Entwurf i. Ü. die vorgesehene Ergänzung des § 113 II 2 Nr. 1 StGB auch für §§ 121 III 2 Nr. 2 und 125a Satz 2 Nr. 2 vor. 20 BR-Drucks. 646/10 (Beschluss), 1. – Damit ändert sich womöglich der Charakter des Delikts, weil die Vollstreckungshandlung nicht mehr Voraussetzung des Eingreifens der Norm ist. Den Strafrahmen des § 113 II StGB will man trotz Verschärfung des Regelstrafrahmens beibehalten. Beides sei hier lediglich notiert. 21 BR-Drucks. 646/10 (Beschluss), 2. – Zum problematischen Verhältnis des derzeitigen § 113 StGB zu §§ 240, 223 StGB s. Zopfs GA 2000, 527 und NK-StGB/Paeffgen § 113 Rn. 1, 90 ff. 22 BR-Drucks. 646/10, 2. - § 305a I Nr. 2 StGB soll ersetzt werden durch: 2. ein für den Einsatz wesentliches technisches Arbeitsmittel der Polizei, der Bundeswehr, der Feuerwehr, des 19

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4. Mein Thema und sein Ausgangspunkt Was hier interessieren soll, ist einzig und allein die Vorstellung der an dem Gesetzesvorhaben Beteiligten, auf welchem Weg der Gesetzgebungsfehler repariert werden soll, zu dem es anlässlich der Beratung des 6. StrRG im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags gekommen war: §§ 177 III Nr. 1, 244 I Nr. 1a (auch im Verhältnis zu Nr. 1b), § 250 I Nr. 1a (ebenfalls auch im Verhältnis zu Nr. 1b) StGB des geltenden Rechts. Welche Vorstellungen den Rechtsausschuss im Gesetzgebungsverfahren – man war wieder einmal in Eile24 – zu dieser Änderung des Entwurfs veranlasst haben, ist anderwärts dargestellt.25 Gewiss kann man das „verbindlicher“ formulieren,26 aber Tatsache ist, dass hier ein kapitaler Bock geschossen worden war. Das Gesetz ist an dieser Stelle eindeutig falsch und selbst der beste Interpret, wenn er sich nicht zu „Solon“ aufschwingen will, muss das hinnehmen. „Man sollte nicht versuchen, im Wege angeblicher Auslegung Ergebnisse zu erzielen, die dem Text des neuen Gesetzes nicht entsprechen. Das Ergebnis wäre bestenfalls, daß aus einem ganz schlechten Gesetz ein nur noch ziemlich schlechtes würde; das würde dem Gesetzgeber allenfalls die Notwendigkeit einer baldigen Änderung verdunkeln können“,27 ist warnend schon früh geschrieben worden. Dass hier „im Grund“ die Auslegungskunst versagen muss, ist verschiedentlich erkannt und ausgesprochen.28 Alle Versuche, es gibt ja etliche,29 können den Schaden bestenfalls begrenzen, aber eben nicht beheben, ohne die Grenzen zu überschreiten, die der Auslegung des materiellen Strafrechts gezogen sind. Die Vielzahl der

Katastrophenschutzes oder eines Rettungsdienstes, das von bedeutendem Wert ist, oder 3. ein Kraftfahrzeug der Polizei, der Bundeswehr, der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder eines Rettungsdienstes. 23 Zur Kritik des § 305a StGB s. Lackner/Kühl § 305a Rn. 1; NK-StGB/Zaczyk § 305a Rn. 1. 24 Dazu Hettinger FS Küper, 2007, 109 mit Fn. 71; Scheffler in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 174, 228 f. 25 Vgl. z.B. Hettinger Festgabe für Paulus, 2009, S. 74 f; Hörnle Jura 1998, 169, 172 sowie den folgenden Text m. w. N. 26 Etwa wie Jäger JuS 2000, 651, 653; Hilgendorf/Frank/Valerius in: Vormbaum/Welp, Das StGB (Fn. 24), S. 258, 352. 27 Dencker JR 1999, 33, 36. 28 S. etwa Fischer § 244 Rn. 15: „… systematisch nicht auflösbar“; Hettinger Festgabe für Paulus, 2009, S. 75: Die einzige mögliche Therapie bestünde in „einer Korrektur, um der elenden Diskussion ein Ende zu bereiten“; Schlothauer StV 2004, 655, 656: „Chaotisierung des Rechts“. 29 Problemaufrisse und Lösungsvorschläge etwa bei Fischer § 244 Rn. 13 ff; Kindhäuser § 244 Rn. 6 ff; Küper Strafrecht. BT. Definitionen und Erläuterungen, S. 459; Mitsch Strafrecht BT 2/Teilbd. 1 § 1 Rn. 235 f; LK-Vogel § 244 Rn. 11 ff; Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT/2 Rn. 260 ff; Zopfs Jura 2007, 510, 516, jeweils m. w. N.

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Lösungsansätze belegt nur, dass die Fassung der genannten Normen „missglückt“ ist, von vornherein keine in sich stimmige Gesetzesanwendung zulässt. Es ist nicht mehr zu übersehen, „dass mit den Mitteln herkömmlicher Auslegungstechnik eine umfassende, sachgerechte Lösung für alle denkbaren Einzelfälle nicht zu erreichen ist“.30 Der Wortlaut in Verbindung mit dem Sinnzusammenhang gibt das vom Gesetzgeber Gemeinte nicht wieder und das Gemeinte lässt sich im Weg einer Auslegung, die diesen Namen noch verdient, eben nicht erreichen! Angesichts dieses unbestreitbaren Befunds liegt die Forderung auf der Hand, der Gesetzgeber möge den von ihm angerichteten unmöglichen Zustand durch eine neue Regelung beenden.31

5. Der Lösungsvorschlag des Entwurfs Dieser Forderung will der Entwurf – es bestehe „Änderungsbedarf“ – nun nachkommen. Er schlägt vor, den bisherigen § 244 III StGB unter Streichung des derzeit noch enthaltenen – 2002 vom BVerfG für nichtig erklärten – § 43a StGB zu Absatz 4 zu machen und einen neuen Absatz 3 einzufügen: „In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren“. Zur Begründung heißt es, es fehle „an einer § 250 Absatz 3 StGB entsprechenden Strafzumessungsregelung für den minder schweren Fall. Das erweist sich insbesondere im Hinblick auf den Diebstahl mit einem gefährlichen Werkzeug nach § 244 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a StGB als problematisch“.32 Auf Empfehlung des Rechts- und des Innenausschusses wurden dann im Entwurfstext noch „nach dem Wort ‚Fällen‘ die Angabe ‚des Absatzes 1 Nummer 1 Buchstabe a Alternative 2‘“ eingefügt. „Ein Bedürfnis für die Einführung eines minder schweren Falles für alle Fälle des § 244 Absatz 1 StGB“ sei, so die Begründung, nicht dargelegt und auch nicht ersichtlich. „Die derzeit geltende Mindeststrafe von sechs Monaten führt in der Praxis nur in den Fällen zu Schwierigkeiten, bei denen der Täter ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 244 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a Alternative 2 StGB bei sich führt. In diesen Fällen kann es zu Ergebnissen kommen, die als nicht angemessen erscheinen kön-

30 BGHSt 52, 257, 262 ff, 266; krit. LK-Vogel § 244 Rn. 18; er folgert aus der Entscheidung (dort 269), der Gesetzgeber müsse auf der Grundlage dieser Deutung „etwa Strafmilderung bei minder schweren Fällen oder eine Geringwertigkeitsklausel vorsehen oder § 244 Abs. 1 Nr. 1a) StGB auf Waffen beschränken“. 31 Dencker JR 1999, 33, 36; Hettinger Festgabe für Paulus, 2009, S. 75; Fischer § 244 Rn. 15; Lackner/Kühl § 244 Rn. 3; Mitsch Strafrecht BT 2/Teilbd. 1 § 1 Rn. 236: „… dringend erforderlich“. 32 BR-Drucks. 646/10, 4.

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nen“.33 Im „Besonderen Teil“ der Begründung werden sodann die schon o. g. Probleme beschrieben, die der Praxis zu schaffen machen, und die auch in der Diskussion im Schrifttum – wahrlich nicht überraschend – zu keiner rundum überzeugenden Lösung geführt haben. Vom Anwendungsbereich des § 244 I Nr. 1a StGB seien u. U. auch Taten erfasst, „die nur einen geringen Unrechtsgehalt aufweisen. Schwierigkeiten bereitet insbesondere das Beisichführen von Alltagsgegenständen, von denen viele auch als Mittel zur Gewaltanwendung oder -androhung eingesetzt werden könnten (z. B. Schlüssel oder Gürtel).“ Unter – vorbehaltloser – Berufung auf BGHSt 52, 257 heißt es im Weiteren, die Auslegung des Begriffs „gefährliches Werkzeug“ könne nur „nach objektiven Kriterien erfolgen, für die es eine Vielzahl von Lösungsansätzen gibt, von denen sich noch keiner durchgesetzt hat. Um sicherzustellen, dass in jedem Einzelfall eine angemessene Strafe verhängt werden kann, bedarf es einer Strafzumessungsregelung für den minder schweren Fall“.34

6. Königs- oder Holzweg? Zunächst einmal ist es zu begrüßen, dass man Willens ist, nach über 12 Jahren (!) die Misere zu beenden, die das 6. StrRG hier angerichtet hat.35 Zu fragen bleibt freilich, ob mit § 244 III StGB-E der Königsweg oder aber ein Holzweg betreten würde. Der Entwurf knüpft mit seinem Vorschlag augenscheinlich an Überlegungen an, die im Zusammenhang mit § 250 III StGB für die Problematik bei § 250 I Nr. 1a StGB schon 1999 angestellt worden, damals allerdings als Notbehelf bis zu einer wünschenswerten Gesetzesrevision gemeint waren.36 Das hätte zur „Vorsicht“ anhalten können. Andererseits hatte das BVerfG bei § 113 II StGB ja gerade vorgeführt, auf welchem Weg „teleologische Überlegungen“ sich Bahn brechen könnten: durch Ausweichen auf eine Strafzumessungsregel. Was dem Gericht der unbenannte besonders schwere Fall geboten hat, will der Entwurf sich über die Einführung eines Strafrahmens für minder schwere Fälle schaffen. „Von Verfassungs wegen“ dürfte dem – jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG – nichts im Weg stehen. Bleibt allerdings die 33 So die Empfehlung der Ausschüsse, die der BR übernommen hat, BR-Drucks. 646/10 (Beschluss), 3. 34 BR-Drucks. 646/10, 6; ebenso schon der Referentenentwurf (Fn. 6), 7 f. 35 Blickt man auch unter dem Aspekt der verstrichenen Zeit auf die Intensität der Diskussion in Rechtsprechung und Literatur, so bestätigt der Befund einmal mehr die Mahnung Belings anlässlich seiner Kritik des Strafgesetz-Entwurfs von 1919 in: Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung, 1922, 183 f (zit. in GA 1995, 429). 36 Dencker JR 1999, 36. Der Entwurf entspricht damit jedoch den Überlegungen Vogels (Fn. 30).

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Frage: Wäre der Gesetzgeber auch gut beraten, die vorgeschlagene Bestimmung einzuführen? Diese Frage hat einen – heute häufig übersehenen – eigenständigen Wert im Auge, nämlich das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, mithin eine spezielle Qualitätsfrage. Je „weiter“, ungenauer, unklarer Gesetze, im Rahmen des nach der Rechtsprechung des BVerfG Zulässigen, versteht sich, abgefasst werden, desto mehr „Verantwortung“ bürdet der Gesetzgeber den Gerichten auf – um den Preis hierdurch provozierter möglicher Fehlentwicklungen. Am Beispiel des § 244 III StGB-E lässt die Problematik sich veranschaulichen. Dabei ist – trotz aller hier nicht näher darzulegenden Bedenken37 – die Rechtsprechung des BGH zum Begriff der minder schweren Fälle zugrunde gelegt. Danach liegt ein minder schwerer Fall dann vor, wenn „das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des für einen minder schweren Fall vorgesehenen Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint“.38 Da bei diesem Regelungstyp „unbenannte Strafrahmenänderung“ nicht einmal typische Voraussetzungen („Regelbeispiele“) normiert sind, entscheidet eine quantitative (Be-)Wertung von Unrecht und Schuld über den anzuwendenden Strafrahmen.39 Demzufolge sind die begrifflichen Voraussetzungen der Strafbarkeit identisch sowohl für den Regel- als auch für den Ausnahmestrafrahmen. Insofern setzt die Frage, ob ein konkreter Fall als minder schwer einzustufen ist, also voraus, dass über das begriffliche Vorliegen der Fälle, für die der Regelstrafrahmen gedacht ist, Klarheit besteht. Eben daran fehlt es aber – sozusagen voraussetzungsgemäß – bei der Fallgruppe des § 244 I Nr. 1a Alt. 2 StGB, für die § 244 III StGB-E als „Nothelfer“ einspringen soll. Wenn gerade unklar ist, ob überhaupt ein Fall des § 244 I Nr. 1a Alt. 2 StGB vorliegt, lässt sich das nicht über die Annahme eines minder schweren Falls eben dieser Qualifikation kaschieren (so wenig eine Befugnis besteht, in einem Fall, in dem die Voraussetzungen des § 266 StGB zweifelhaft sind, § 153a StPO anzuwenden!). Verführe nun das Gesetz so, wie vom Entwurf vorgeschlagen, erinnerte das an die Lage zu § 250 I und II StGB a. F. auf Basis der seinerzeitigen Rechtsprechung. Der BGH hatte § 250 I Nr. 1 StGB a. F. auch dann bejaht, wenn der Einwand, es habe sich bei dem Gegenstand, den der Täter oder ein anderer Beteiligter beim Raub bei sich geführt hatte, um eine Scheinwaffe gehandelt, zutraf, jedenfalls nicht widerlegt werden konnte. Freilich könne dann, so der BGH seinerzeit, 37

Dazu Hettinger FS Pötz, 1993, 77. Schönke/Schröder-Stree/Kinzig vor § 38 Rn. 55 m. w. N. zur Rechtsprechung des BGH; Hettinger FS Pötz, 1993, 77, 82 f, 110 f. 39 Hettinger wie Fn. 38, 82 ff, 102-104, aber auch 109 ff. 38

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schon die Herabsetzung der objektiven Gefährdung des Opfers durch Verwendung einer Scheinwaffe, was auch ein Indiz für einen nicht gesteigerten verbrecherischen Willen sein könne, die Annahme eines minder schweren Falles (i. S. des § 250 II StGB a. F.) rechtfertigen.40 So wenig dies eine überzeugende Rechtsprechung war, so wenig wäre die Einführung des § 244 III StGB-E – milde formuliert – eine überzeugende Gesetzgebung.41 Ein begriffliches Problem auf diese Weise lösen zu wollen, wäre ein weiterer Schritt zur Auflösung jeglicher Rechtssicherheit verbürgenden Form. So nicht! – möchte man rufen.

7. Alternativen Bleibt ein kurzer Blick auf Alternativen. Man könnte – einerseits – die Qualifikationsmerkmale der §§ 177 III, 244, 250 StGB in Regelbeispiele umformulieren – aber m. E. nur um den Preis einer damit verbundenen Streichung der unbenannten besonders schweren Fälle! –,42 wodurch zwar eine Neuformulierung des § 250 I Nr. 1a und 1b StGB nicht vermeidbar wäre, wohl aber immerhin § 250 III StGB überflüssig würde. Andererseits könnte man es beim Tatbestandscharakter der Normen belassen und lediglich eine neue Bestimmung der qualifizierenden Merkmale vornehmen. Dann bliebe der Gesetzgeber – wie es sich gehört! – ebenfalls in der Pflicht, saubere, d. h. Rechtssicherheit verbürgende Arbeit zu leisten. Den ohnehin problematischen Regelungstyp der minder schweren Fälle nunmehr auch noch zum Auffangbecken für missratene oder – wie hier – eindeutig falsche, weil nicht wie intendiert umsetzbare Regelungen der Voraussetzungsseite eines Straftatbestands zu machen, ist ein Irrweg. Es ist m. E. hoch an der Zeit, der schleichenden Auflösung der auch Freiheit verbürgenden Formen im materiellen wie im prozessualen Strafrecht Einhalt zu gebieten. Mag auch das BVerfG diese Fehlentwicklungen von Verfassungs wegen nicht aufhalten können oder wollen – dass es verschiedentlich gar in der Rolle des Animateurs auftritt, war ja zu berichten –, es ändert nichts daran, dass ein solcher Gesetzgebungsstil nur als miserabel bezeichnet werden kann.

40 Dazu näher Hettinger JZ 1982, 849, 852 f. Kuriose Folge: Statt des Regelstrafrahmens des § 249 I StGB a.F. (1-15 Jahre) konnte ein Täter des Strafrahmens für minder schwere Fälle (15 Jahre) teilhaftig werden. 41 Vgl. auch Dencker JR 1999, 36. 42 Näher dazu Hettinger FS Maiwald, 2010, 293, 307 ff, 318 ff.

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III. Conclusio „Alles ist möglich“ ist keine Maxime seriöser Gesetzgebungskunst. Das Vorgehen des Entwurfs kann man nach dem unter II. 6. Gesagten wie folgt charakterisieren: Der Gesetzgeber hat 1998 in sich unstimmige, d. h. falsche Normen produziert. Diese sollen nunmehr mit Hilfe der ihrerseits schon lange ihres Inhalts beraubten Rechtsfigur der minder schweren Fälle „repariert“ werden. Die Diagnose lautete – einmal mehr –, dass die Gesetzgebung sich eines weiteren Stücks traditioneller Rationalität begeben würde, käme sie – wie zu befürchten ist – dem Vorschlag nach. Hält der Sinkflug an?43

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Dazu übergreifend auch Schünemann GA 2010, 353. Wenn er am Ende seiner Skizze – vielleicht noch von zarten Erwartungen beseelt – das Lissabon-Urteil des BVerfG „gegenüber den herrschenden politischen Kräften“ zitiert (360), so sind nach dem „Kniefall“ dieses Gerichts damit womöglich noch verbundene „Hoffnungen“ Schnee von gestern.

Das Verbot unbestimmter Strafen Der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Deliktsfolgen GERHARD DANNECKER

Der verehrte Jubilar beginnt die Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip in seinem Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, mit der Feststellung, „dass ein Rechtsstaat den Einzelnen nicht nur durch das Strafrecht, sondern auch vor dem Strafrecht schützen soll. Die Rechtsordnung muss (…) sich auch beim Einsatz der Strafgewalt Schranken auferlegen, damit der Bürger nicht dem willkürlichen oder übermäßigen Zugriff des ,Leviathans Staat‘ schutzlos ausgeliefert ist. (…) Das jetzt zu besprechende Gesetzlichkeitsprinzip dient der Vorbeugung gegen eine willkürliche, nicht berechenbare Bestrafung ohne Gesetz oder auf Grund eines unbestimmten oder rückwirkenden Gesetzes.“1 Stiefkind des Gesetzlichkeitsprinzips sind die Deliktsfolgen, obwohl inzwischen als gesicherte Auffassung in Lehre und Rechtsprechung betrachtet werden kann, dass Art. 103 Abs. 2 GG mit seinem Verbot unbestimmter Strafgesetze nicht nur auf die rechtlichen Voraussetzungen der Bestrafung einer Tat, sondern auch auf die strafrechtlichen Rechtsfolgen,2 und zwar sowohl auf die Art3 als auch auf das Ausmaß4 der strafrechtlichen Rechtsfolgen, anzuwenden ist. Umstritten ist allerdings, ob auch die Strafzumessungsgesichtspunkte gesetzlicher Regelungen bedürfen. Diesbezüglich bestand insbesondere in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Vermögensstrafe zwischen der Mehrheit und den drei Richtern Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff Dissens. 1

Roxin AT I § 5 Rn. 1. So die ganz h. M; vgl. nur SK-Rudolphi § 1 Rn. 3; Lackner/Kühl § 1 Rn. 1; Schönke/Schröder-Eser § 1 Rn. 1, 23; Roxin AT I § 5 Rn. 4; BK-Rüping Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 70 ff; Fischer § 1 Rn. 4. 3 Langer FS Dünnebier, 1982, 433; SK-Rudolphi § 1 Rn. 11; MüKo-Schmitz § 1 Rn. 52; Schönke/Schröder-Eser § 2 Rn. 23; Fischer § 1 Rn. 6. 4 Schönke/Schröder-Eser § 2 Rn. 23; MüKo-Schmitz § 1 Rn. 52; Fischer § 1 Rn. 6. 2

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Ob an die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit gesetzlich vorgegebener Deliktsfolgen dieselben Anforderungen zu stellen sind wie an die gesetzliche Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen, ist indessen eine nach wie vor offene Frage.5 Denn im Unterschied zur Tatbestandsbestimmtheit steht die Sanktionsbestimmtheit in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip schuldangemessener Strafe im Einzelfall. Insgesamt, so Claus Roxin, lasse sich sagen, dass bei den Rechtsfolgen eine etwas größere Unbestimmtheit als bei den Strafbarkeitsvoraussetzungen hingenommen werden könne, weil das Schuldprinzip und die kodifizierten Strafzumessungsgrundsätze (§ 46 StGB) dem Straftäter einen gewissen Grad an ausgleichender Sicherheit gäben.6 Die Grenzziehung zwischen noch hinreichender Bestimmtheit und Verfassungswidrigkeit ist aber problematisch, wie ein Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.3.20027 zur Vermögensstrafe zeigt: Während die Senatsmehrheit § 43a StGB a. F. für zu unbestimmt erklärte, kamen die oben genannten drei Richter in einer abweichenden Meinung zu dem Ergebnis, die Vermögensstrafe sei hinreichend bestimmt gewesen. In der Literatur ist dieses Urteil zwar auf Zustimmung gestoßen, allerdings wurden die konkreten Aussagen zunächst wenig erörtert. Erst im Zusammenhang mit der Diskussion um die Bußgeldandrohung des § 81 Abs. 4 GWB, der für juristische Personen einen Bußgeldrahmen von 10 % des Umsatzes vorsieht, wobei nicht auf den Umsatz der juristischen Person, sondern der „wirtschaftlichen Einheit“ abzustellen ist, werden die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts eingehend diskutiert:8 „Ganze Passagen dieses Urteils erscheinen wörtlich übertragbar auf das neue Gesetz“ (§ 81 Abs. 4 S. 2 GWB).9 Auf diesen speziellen Bereich des Wirtschaftsstrafrechts soll im Folgenden jedoch nicht eingegangen werden. Vielmehr erscheint es geboten, den unterschiedlichen Anforderungen nachzugehen, die von der Senatsmehrheit einerseits und den Richtern in ihren abweichenden Voten an die Bestimmtheit strafrechtlicher Rechtsfolgen andererseits gestellt werden. Im Folgenden sollen zunächst die Wurzeln des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ und seine Anwendung auf die Strafe dargelegt werden, um anschließend deutlich zu machen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den „überkommenen rechtsstaatlichen Grundsät5

Vgl. Epping/Hillgruber-Radtke/Hagemeier Art. 103 GG Rn. 36 f. Roxin AT I § 5 Rn. 82; ebenso LK-Dannecker § 1 Rn. 196; NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 20. 7 BVerfGE 105, 135 ff. 8 Achenbach WuW 2002, 1154 ff; ders. ZWeR 2009, 3 ff; Hassemer/Dallmeyer Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, 2010, S. 16 ff. 9 Bechtold/Buntscheck NJW 2005, 2970. 6

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zen“, die der Verfassungsgeber in Art. 103 Abs. 2 GG übernommen hat, Rechnung trägt, während die Auffassung in der abweichenden Meinung die von Feuerbach im Rahmen seiner psychologischen Zwangstheorie entwickelte Herleitung aus der Generalprävention unberücksichtigt lässt und damit den Schutz des Art. 103 Abs. 2 GG verkürzt. Abschließend soll auf der Grundlage des genannten Urteils zu der kontrovers diskutierten Frage Stellung genommen werden, inwieweit Regelbeispiele, die „in der Regel“ zur Veränderung des Strafrahmens führen sollen, mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sind.

I. Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips Wenngleich es sich bei dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ unstreitig um ein herausragendes Rechtsprinzip handelt, dessen hoher Wert allgemein anerkannt ist, besteht über die Ratio des Gesetzlichkeitsprinzips keine einheitliche Vorstellung,10 und dies wirkt sich, wie zu zeigen sein wird, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus. 1. Der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ erfordert eine verbindliche Entscheidung des Gesetzgebers (Gesetzlichkeitsprinzip) in der Form eines geschriebenen, verschriftlichten Gesetzes, die dem Bürger und den Rechtsanwendern Orientierungssicherheit bietet, indem eine hinreichend bestimmte Gesetzeslage geschaffen wird, an der die Normadressaten ihr Verhalten ausrichten können (Bestimmtheitsgrundsatz). Das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG richtet sich speziell an die staatliche Strafgewalt und begrenzt diese. Insofern ist heute noch tragendes Fundament des Gesetzlichkeitsprinzips die Forderung des politischen Liberalismus nach einer Bindung der Judikative an abstrakt formulierte Gesetze. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass mit der Verhängung einer Strafe eine hoheitliche Missbilligung zum Ausdruck gebracht wird und eine solche Wertung besondere rechtsstaatliche Sicherungen erfordert. 2. Im Hinblick darauf, dass die Kompetenz zur Strafgesetzgebung dem Gesetzgeber zugewiesen ist, handelt es sich bei diesem Verfassungsgrundsatz (auch) um eine Konkretisierung des Gewaltenteilungs-11 und des Demokratieprinzips.12 Da die Bestrafung einen besonders einschneidenden 10

Ausführlich dazu LK-Dannecker § 1 Rn. 50 ff. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 GG Rn. 180; Schünemann nulla poena sine lege?, 1978, S. 1 ff, 9 ff. 12 BVerfGE 75, 329 (341 f); 78, 374 (382); Grünwald ZStW 76 (1964) 13 f, 16; Volkmann ZRP 1995, 221 ff. 11

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Eingriff in die Freiheit des Bürgers darstellt, muss die Legitimation zur Bestimmung ihrer Voraussetzungen beim Parlament als der gewählten Volksvertretung liegen.13 Durch die Gewaltenteilung, die im Gesetzlichkeitsprinzip ihren Ausdruck findet, wird die Aufgabe des Richters auf die Anwendung des Rechts begrenzt und die Exekutive von der Mitwirkung bei der Bestrafung gänzlich ausgeschlossen. Der Gesetzgeber ist in der Pflicht, abstrakt-generell über die Strafbarkeit zu entscheiden;14 er hat insofern selbst eine verbindliche Entscheidung zu treffen.15 3. Eine dritte Herleitung des Gesetzlichkeitsprinzips liegt in der Generalprävention, wie sie ursprünglich von Feuerbach in seiner „psychologischen Zwangstheorie“ entwickelt worden ist. Für Feuerbach, der die Formel „nulla poena sine lege“ eingeführt hat,16 lag der Schwerpunkt zunächst auf der Strafdrohung. Im Rahmen seiner Theorie vom psychologischen Zwang, die er in Anlehnung an die Überlegungen Beccarias in dessen „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ entwickelte, sollte Zweck der Strafdrohung die Abschreckung sein. Als geeignetstes psychologisches Zwangsmittel sah er die Androhung von Strafe, und zwar durch ein geschriebenes, möglichst bestimmt abgefasstes, allgemeines und notwendiges Gesetz: „Es spricht zu allen Bürgern und stellt diese Strafe, eben weil es ein Gesetz ist, als eine rechtlich nothwendige Folge des Verbrechens dar.“17 Dadurch würde dem Menschen die Lust am Rechtsbruch am ehesten verdorben.18 Erst aus der staatsrechtlichen Wurzel des Grundsatzes „nulla poena sine lege“ ergab sich für Feuerbach neben der Notwendigkeit einer gesetzlich bestimmten Strafe das Erfordernis, der Willkür des Staates durch die Forderung nach der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit entgegenzutreten. Obwohl die damals vorherrschende aufklärerische Sozialschadenslehre, die die Strafe als Sanktion für die Verletzung subjektiver und individueller

13

BVerfGE 71, 108 (114); 73, 206 (234 f); 92, 1 (12); Roxin AT I § 5 Rn. 20. BVerfGE 75, 329 (341); 78, 374 (382); 95, 96 (131); 105, 135. 15 Eingehend zum Gesetzlichkeitsprinzip BVerfGE 7, 89 (92); 47, 109 (120); 78, 374 (382); 85, 69 (73); 87, 209 (224); 92, 1 (12); Sachs-Degenhart Art. 103 GG Rn. 49; Jarass/PierothPieroth Art. 103 GG Rn. 40; von Münch/Kunig-Kunig Art. 103 GG Rn. 17; SK-Rudolphi § 1 Rn. 2; BK-Rüping Art. 103 GG Abs. 2 Rn. 14 f; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 166; MüKo-Schmitz § 1 Rn. 8; Dreier-Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 15; Fischer § 1 Rn. 1; AK-Wassermann Art. 103 GG Rn. 44. 16 Feuerbach Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1832, § 20, S. 19. 17 Feuerbach Revision I, 1799, S. 49; vgl. auch ders. (Fn. 16) §§ 13 ff S. 15 ff. 18 Feuerbach (Fn. 16) § 13 S. 15 f. 14

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Rechtsakte verstand,19 ermöglicht hätte, auf einen Rechtsakt des Gesetzgebers zu verzichten und die Strafbarkeitsvoraussetzungen – anders als in der späteren Lehre vom Rechtsgüterschutz – durch rationale, letztlich soziologische Reflexionen über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zu erzielen,20 wandte sich Feuerbach gegen die Herleitung des Rechts aus Moral oder Sittlichkeit: Das Gesetz soll die Unsicherheit und Willkür der bloß philosophischen Methode vermeiden und der Idee der rechtlichen Freiheit dienen. Nur das positive Recht könne Gewissheit des Rechts gewährleisten.21 Erst in der „Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs“ fordert er festumrissene Strafbarkeitsvoraussetzungen, um die Autorität der geschriebenen Norm der richterlichen „Willkür“ entgegenzusetzen.22

II. Anwendbarkeit des Gesetzlichkeitsprinzips auf die Rechtsfolgen der Tat 1. Nach Art. 103 Abs. 2 GG muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Demgegenüber stand, wie soeben dargelegt, die Forderung nach gesetzlich bestimmten Strafen („nulla poena sine lege“) im Mittelpunkt des Interesses. Entsprechend fanden sich im Preußischen Strafgesetzbuch, im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes und im Reichsstrafgesetzbuch Regelungen, die den Grundsatz „nulla poena sine lege“ und nicht den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ explizit zum Ausdruck brachten: § 2 des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten lautete: „Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Übertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ § 2 des Strafgesetzbuchs des Norddeutschen Bundes lautete: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ § 2 Abs. 1 RStGB lautete: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ 19

Dazu Stinzing/Landsberg Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft III/1, 1898, S. 386 f; Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1951, S. 214 f, 219 f. 20 Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 5. 21 Feuerbach Entwurf des Gesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen für das Königreich Baiern, 1810, S. 66 f. 22 Feuerbach Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayrischen Staaten II, 1804, Teil 1, S. 31 ff; Teil 3, S. 11 ff.

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2. Erst in der Weimarer Reichsverfassung wurde in Art. 116 WRV der Begriff der Strafe durch den der „Strafbarkeit“ ersetzt und deren Bestimmtheit postuliert: Art. 116 WRV lautete: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ Diese Modifikation gegenüber der Vorgängervorschrift des § 2 Abs. 1 RStGB wurde aufgrund der Beratungen des Unterausschusses am 30.5.1919 vorgenommen. Eine sachliche Änderung war damit, wie sich dem Protokoll über die 33. Sitzung entnehmen lässt,23 nicht beabsichtigt.24 Auch im Schrifttum herrschte die Auffassung vor, Art. 116 WRV und § 2 Abs. 1 RStGB seien trotz des unterschiedlichen Wortlauts inhaltlich gleich.25 Lediglich Frank26 und Gerland27 vertraten die Auffassung, der Verfassungsgesetzgeber habe eine sachliche Abweichung nicht gewollt, jedoch habe Art. 116 WRV nur einem Teil der in § 2 Abs. 1 RStGB enthaltenen Sätze Verfassungsrang verliehen. Allerdings sollte das Verbot unbestimmter Strafdrohungen nach Auffassung von Gerland von Art. 116 WRV umfasst sein.28 Das Reichsgericht hingegen sah in der Entscheidung RGSt 56, 318 f das Verbot unbestimmter Strafdrohungen als aufgehoben an: Mit den Worten „die Strafbarkeit“ werde nunmehr die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung gefordert und nicht mehr ein Gesetz, das zur Zeit der Begehung der Tat eine bestimmte Strafart androhe. Aus der Entstehung der Reichsverfassung könne nichts für die Auslegung des Art. 116 WRV hergeleitet werden.29 In späteren Entscheidungen geht das Reichsgericht jedoch dann von dem „mit § 2 Abs. 1 StGB sachlich übereinstimmenden Art. 116 WRV“ aus.30 3. Im Verhältnis zu diesen vieldiskutierten Fragen trat die Erörterung des sachlichen Gehalts des nulla-poena-Prinzips in den Hintergrund. Dies gilt insbesondere für das Bestimmtheitsgebot, das lediglich bezüglich Strafdrohungen, die nach Art und Maß völlig in das Ermessen des Richters gestellt waren, diskutiert wurde.31 Selbst die in unbeschränkter Höhe angedrohte 23

Reichstagsdrucksache Nr. 2894. Eingehend dazu Schreiber Gesetz und Richter, 1976, S. 181 f. 25 Von Liszt/Eb. Schmidt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1921, S. 89 Fn. 2; von Hippel Strafrecht Bd. II, 1930, S. 34; LK-Ebermayer/Lobe/Rosenberg § 2 Anm. I 1 a. E.; Düringer JW 1919, 701 f; Käckell ZStW 41 (1920), 684; Stier-Somlo Reichs- und Landesstaatsrecht, 1924, S. 311; Ohlshausen Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 1942, § 2 Anm. 3; Anschütz Verfassung des Deutschen Reichs, 1926, Art. 116 Anm. 2. 26 Frank Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 1931, § 2 Anm. 1. 27 Gerland in: Nipperdey (Hrsg.), Grundrechte und Grundpflichten I, 1929, S. 370 f. 28 Gerland (Fn. 27) S. 373 Anm. 26. 29 Ebenso RGSt 57, 119. 30 RGSt 57, 404 (406). 31 Gerland (Fn. 27) S. 379; von Liszt/Eb. Schmidt (Fn. 25) S. 274. 24

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Geldstrafe wurde überwiegend nicht als unbestimmte Strafe angesehen, weil der Gesetzgeber dadurch jede nur denkbare Summe als solche angedroht habe.32 4. Das Grundgesetz hat die „überkommenen rechtsstaatlichen Grundsätze“ in Anlehnung an Art. 116 WRV übernommen und garantiert nunmehr in Art. 103 Abs. 2 GG: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Der Verfassungsgeber behielt damit die Formulierung „Strafbarkeit“ bei. In den Beratungen bestand jedoch Einigkeit, dass Art. 103 Abs. 2 GG auch das Strafmaß umfassen sollte.33 Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an die Rechtsfolgen der Tat in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG einbezogen,34 weil Tatbestand und Rechtsfolge gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachlich aufeinander abgestimmt sein müssten.35 Das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, lasse sich in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. Insofern sei auch die Strafdrohung für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung. Von daher werde unmittelbar einsichtig, dass sich Art. 103 Abs. 2 GG sowohl auf den Unrechtstatbestand als auch auf die Höhe der Strafdrohung beziehe.36 „Der Einzelne soll nicht nur von vornherein wissen können, was strafrechtlich verboten ist, sondern auch, welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen jenes Verbot droht.“37 Eine strafende staatliche Antwort auf eine Zuwiderhandlung gegen eine Strafnorm müsse für den Normadressaten vorhersehbar sein.38 Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Strafdrohung in einem vom Schuldprinzip geprägten Straftatsystem gerecht auf den Straftatbestand und das in ihm vertypte Schuldprinzip abgestimmt sein muss.39 Auf diese Weise wird dem im Grundgesetz angelegten Bild vom

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So Gerland (Fn. 27) S. 379 Anm. 57. Eingehend dazu Schreiber (Fn. 24) S. 202 f. 34 BVerfGE 25, 269 (285 ff) und später BVerfG NJW 2005, 2141; zustimmend Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 GG Rn. 178 und 197; Dreier-Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 38; Sachs-Degenhart Art. 103 GG Rn. 61; Schmidt-Bleibtreu-Schmahl Art. 103 GG Rn. 24 und 34; Jarass/Pieroth-Pieroth Art. 103 GG Rn. 42 und zum Ordnungswidrigkeitenrecht KK-Rogall § 3 OWiG Rn. 4 und 37; Rebmann/Förster/Hannich § 3 OWiG Rn. 3; Bohnert § 3 OWiG Rn. 7. 35 BVerfGE 5, 269 (286). 36 Vgl. auch BVerfG NJW 2002, 1779 ff. 37 BVerfGE 25, 269 (285). 38 BVerfGE 26, 41 (42); 45, 363 (370 ff). 39 BVerfGE 86, 288 (313). 33

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Menschen im demokratischen Rechtsstaat als verantwortlich handelndem Subjekt Rechnung getragen.40

III. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Vermögensstrafe Mit seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe im Jahre 200241 hat das Bundesverfassungsgericht neue Maßstäbe für die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit gesetzlicher Strafdrohungen gesetzt und Leitlinien entwickelt. Zunächst soll auf den Dissens zwischen der Senatsmehrheit und den drei Richtern hinsichtlich der Reichweite von „nulla poena sine lege“ für die Straffolgen und die Strafzumessung eingegangen werden, um in der Folge dann zur Zulässigkeit speziell der Vermögensstrafe Stellung zu nehmen. 1. Das Bundesverfassungsgericht kommt in der Entscheidung zu dem Ergebnis, dass § 43a StGB den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips und des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht gerecht wird und deshalb verfassungswidrig ist. Damit hat das Bundesverfassungsgericht der Vermögensstrafe ein jähes Ende bereitet42 und eine „dogmatische und kriminalpolitische Fehlleistung des Gesetzgebers“43 korrigiert. a. Die Mehrheit des Senats stellt zunächst fest, dass das Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch für die Strafdrohung gilt. Strafe müsse als missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes kriminelles Unrecht in Art und Maß durch den parlamentarischen Gesetzgeber normativ bestimmt werden, die für eine Zuwiderhandlung gegen eine Strafnorm drohende Sanktion müsse für den Normadressaten vorhersehbar sein. Der Gesetzgeber darf, so das Bundesverfassungsgericht weiterhin, bei der Festlegung der Strafrechtsfolgen auf ein abstraktes Höchstmaß an Präzision verzichten, wie es mit absoluten Strafen theoretisch zu erreichen wäre. Er darf einen Strafrahmen vorsehen und damit dem Richter die Festsetzung einzelner Rechtsfolgen innerhalb der gesetzlich festgelegten Strafrahmen überlassen, damit dieser eine schuldangemessene Strafe verhängen kann. Der Richter darf nicht durch eine zu starre gesetzliche Strafdrohung gezwungen werden, eine Strafe zu verhängen, die nach seiner Überzeugung 40

BVerfGE 113, 273 (308); Hassemer/Dallmeyer (Fn. 8) S. 16 ff. BVerfGE 105, 135 ff. 42 So Park StV 2002, 395. 43 So Park Vermögensstrafe und „modernes“ Strafrecht, 1996, S. 183; siehe auch Park/Barton StV 1995, 19; Dierlamm NStZ 1995, 335. 41

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Unrecht und Schuld des Täters nicht entspricht. Deshalb seien Schuldprinzip und Einzelfallgerechtigkeit auf der einen Seite sowie Rechtsfolgenbestimmtheit und Rechtssicherheit auf der anderen Seite abzuwägen und in einen verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich zu bringen, die beiden Prinzipien möglichst viel an Substanz belasse. Hinsichtlich des Maßes der in Frage kommenden Strafe habe der Gesetzgeber einen Strafrahmen zu bestimmen, dem sich grundsätzlich das Mindestmaß einer Strafe ebenso wie eine Sanktionsobergrenze entnehmen lasse. Wenn der Gesetzgeber eine neue Strafart einführe, wie dies bei der Vermögensstrafe nach § 43a StGB a. F. der Fall gewesen sei, sei er gehalten, dem Richter – über die herkömmlichen Strafzumessungsgrundsätze hinaus – besondere Leitlinien an die Hand zu geben, die dessen Entscheidung hinsichtlich der Auswahl und der Bemessung der Sanktion vorhersehbar machen. Zur Regelung der „eigentlichen Zumessung der Strafe“ sei der Gesetzgeber jedenfalls dann verpflichtet, wenn er das „ohne Schwierigkeiten“ tun könne.44 Damit stellt sich das Bundesverfassungsgericht zunächst in die Tradition der bisherigen Entscheidungen, nach der sich das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen lasse, die Strafdrohung somit für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung sei.45 Es geht jedoch insofern weiter, als auch gesetzliche Vorgaben für die Strafzumessung gefordert werden. b. Demgegenüber kommen die drei Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff bezüglich der Vermögensstrafe in einem Minderheitsvotum zu dem Ergebnis, dass die Vermögensstrafe jedenfalls in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof46 mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sei,47 weil der Bestimmtheitsgrundsatz in erster Linie den Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs betreffe und gesetzliche Verhaltenssteuerung durch Vorhersehbarkeit nur für die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie für Art und Obergrenze der Strafe erforderlich sei, nicht aber für die im Einzelfall angemessene Strafart und Strafhöhe. Wenn der Gesetzgeber dem Richter hinsichtlich des Strafmaßes einen großen Entscheidungsraum eröffne, könne dies sogar von der Verfassung gefordert sein, um dem Strafrichter ein ausreichend hohes Maß an Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen. Das Grundgesetz stelle den 44

BVerfGE 105, 135 (168 ff). BVerfGE 14, 245 (252); 25, 269 (285); 45, 363 (371); Dannecker Das intertemporale Strafrecht, 1992, S. 254 f. 46 BGHSt 41, 20 (24 ff). 47 BVerfGE 105, 135 (172 ff). 45

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einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Rechtsordnung; es komme deshalb für das staatliche Strafen darauf an, die Schuld des Täters, seine Verantwortung für die Tat, den individuellen Besonderheiten entsprechend festzustellen. Die Rechtsfolgenentscheidung stelle einen Bewertungsvorgang dar, bei dem eine Fülle unterschiedlicher Faktoren zu verarbeiten sei und der sich so von der klassischen Subsumtion unter Begriffe des Tatbestands unterscheide. Die vom Richter in den umfassenden Abwägungsprozess einzustellenden, Tat und Täter charakterisierenden Strafzumessungsgesichtspunkte seien komplex und von Fall zu Fall unterschiedlich, so dass eine Strafdrohung, die einen weiten richterlichen Entscheidungsraum eröffnet, besonders geeignet sei, dem Einzelfall gerecht zu werden und damit der Einzelfallgerechtigkeit zu dienen. Gesetzliche Verhaltenssteuerung durch Vorhersehbarkeit gebiete Art. 103 Abs. 2 GG daher nur für die Voraussetzungen der Strafe sowie für Art und Obergrenze der Strafe, nicht hingegen für die im Einzelfall angemessene Strafart und Strafhöhe. c. Der Verfassungsgeber hat die „überkommenen rechtsstaatlichen Grundsätze“ in Art. 103 Abs. 2 GG übernommen. Hierzu gehört aber neben den staatsrechtlichen Wurzeln auch die Generalprävention, die einer Verengung des Bestimmtheitsgrundsatzes dahingehend, dass er in erster Linie den Besonderen Teil des StGB begrenze, wie sie in der abweichenden Meinung vertreten wird, entgegensteht. Die spezifisch strafrechtliche Herleitung des Gesetzlichkeitsprinzips, wie sie ursprünglich von Feuerbach mit seiner „psychologischen Zwangstheorie“48 entwickelt worden ist, legte den Schwerpunkt eindeutig auf das Erfordernis eines gewissen und bestimmten Strafübels als der angedrohten Sanktion49 und forderte eng begrenzte Strafrahmen: Art und Höhe der Strafe müssten so genau festgelegt sein, dass sie in jedem Einzelfall zwingend ermittelt werden können.50 Zwar wird heute mit der Theorie des psychologischen Zwangs häufig auch die aus ihr abgeleitete Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips in Frage gestellt und für überholt erklärt.51 Diese Kritik beruht darauf, dass nur ein geringer Teil der kriminalitätsgeneigten Menschen überlegt an eine Straftat herangeht, und insbesondere nicht die Höhe der angedrohten Strafe, sondern die Tatsache, dass bestraft wird, generalpräventiv im Sinne der Abschreckung der Allgemeinheit wirkt. Dabei wird jedoch, so zutreffend Claus Roxin, „verkannt, dass, wenn man den Abschreckungsgedanken durch den ,positiven Aspekt‘ der Generalprävention ergänzt, die straftheoretische 48

Dazu Roxin AT I § 3 Rn. 22. Feuerbach Über die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers, 1800, S. 132 ff. 50 Näher dazu Dannecker (Fn. 45) S. 112 ff. 51 Siehe dazu Roxin AT I § 5 Rn. 23. 49

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Begründung des nullum-crimen-Satzes aktueller denn je ist. Wenn nämlich die Androhung und Verhängung von Strafen wesentlich dazu dienen soll, die Rechtstreue der Bevölkerung zu stabilisieren und in vielen Fällen normentsprechende Verhaltensdispositionen überhaupt erst aufzubauen, dann ist dies nur bei klarer gesetzlicher Regelung des strafbaren Verhaltens möglich. Fehlt es daran, so kann das Strafrecht die bewusstseinsbildende Wirkung, auf die es für die Beachtung seiner Vorschriften angewiesen ist, nicht erreichen.“52 Der Verfassungsgeber hat aber diese „überkommenen rechtsstaatlichen Grundsätze“ in Art. 103 Abs. 2 GG übernommen, so dass jedenfalls im Grundsatz auch die strafrechtlichen Rechtsfolgen dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz zu unterstellen sind. Dabei sind die Vorhersehbarkeit und Erkennbarkeit nicht als individualpsychologischer Befund, sondern als generalisierende Erkenntnismöglichkeit zu verstehen. Damit ist das Bestimmtheitsgebot Grundlage für die generalpräventive Wirkung der Normen. 2. Trotz der unterschiedlichen Auffassungen der Senatsmehrheit und der drei Richter in ihrer abweichenden Meinung besteht im Grundsatz Einigkeit dahingehend, dass sich das Gesetzlichkeitsprinzip und der Bestimmtheitsgrundsatz auf Strafart und Obergrenze der strafrechtlichen Rechtsfolgen beziehen: Der Gesetzgeber selbst muss bestimmen, in welchen Fällen eine Vermögensstrafe zu verhängen ist. Weiterhin muss er einen Strafrahmen vorgeben, dem eine Sanktionsobergrenze entnommen werden kann, damit durch den begrenzten Strafrahmen ein Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung nach Tatunrecht und Schuldmaß festlegt ist. Dissens besteht lediglich bezüglich der Frage, ob auch Strafzumessungsgesichtspunkte für den Bürger vorhersehbar sein müssen. Dennoch kommen die Senatsmehrheit und die drei Richter in ihrer abweichenden Meinung bereits im Hinblick auf die Strafart der Vermögensstrafe und deren Obergrenze zu divergierenden Ergebnissen, weil unterschiedlich hohe Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung der Straffolgen und der Strafzumessung gestellt werden. Bevor hierzu Stellung genommen wird, soll kurz dargelegt werden, welche Anstrengungen Rechtsprechung und Literatur unternommen haben, um § 43a StGB in verfassungskonformer Weise auszulegen. Erst vor diesem Hintergrund kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewürdigt werden. a. Die Vermögensstrafe wurde als Teil einer schuldangemessenen Gesamtsanktion verstanden, die jedoch keine Strafrahmenerweiterung bewir-

52

Roxin AT I § 5 Rn. 23.

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ken durfte.53 Da also die Vermögensstrafe neben der gesetzlich vorausgesetzten Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren nicht zu einer über die Schuld hinausgehenden Strafe führen durfte, musste die an sich verwirkte Freiheitsstrafe so gekürzt werden, dass sie zusammen mit der Vermögensstrafe schuldangemessen blieb.54 Da mit der Vermögensstrafe ein Teil der Schuld des Täters abgegolten wurde, war dieser Teil für die Bemessung der Freiheitsstrafe verbraucht und musste sich deshalb strafmildernd auf die Freiheitsstrafe auswirken.55 Um diesen Vorgaben Rechnung zu tragen, wurde die Vermögensstrafe wie folgt gebildet: In einem ersten Schritt musste eine schuld- und tatangemessene (hypothetische) „Gesamtfreiheitsstrafe“ von mehr als zwei Jahren nach den Regeln des § 46 StGB gebildet werden, von der dann in einem zweiten Schritt ein Abschlag zwischen einem Monat und zwei Jahren zu machen war, der als „Ersatzfreiheitsstrafe“ für den Fall der Uneinbringlichkeit der Vermögensstrafe bestimmt werden musste.56 Sodann war das dem Täter zu entziehende Vermögen mit der Ersatzfreiheitsstrafe in ein schuldangemessenes Verhältnis zu bringen und der so bestimmte Geldbetrag als Vermögensstrafe zu verhängen.57 Abschließend musste geprüft werden, ob die Vermögensstrafe neben der um die Ersatzfreiheitsstrafe reduzierten Freiheitsstrafe, die verhängt werden sollte, weder strafschärfend wirkte noch zu einer Strafrahmenerweiterung führte.58 Im Ergebnis musste die an sich verwirkte Freiheitsstrafe also so gekürzt sein, dass sie zusammen mit der Vermögensstrafe eine schuldangemessene Gesamtsanktion darstellte. b. Bezüglich des Erfordernisses gesetzlicher Vorgaben für die Anwendung einer Sanktion legt die Senatsmehrheit59 dar, dass der Gesetzgeber gehalten sei, die grundsätzlichen Entscheidungen zu Art und Ausmaß denkbarer Rechtsfolgen selbst zu treffen und dem Richter den Rahmen möglichst klar vorzugeben, innerhalb dessen er sich bewegen muss. Je schwerer die angedrohte Strafe ist, umso dringender sei der Gesetzgeber verpflichtet, dem Richter Leitlinien an die Hand zu geben, die die Sanktion vorhersehbar machen, die bei Verwirklichung des Straftatbestands droht, und den Bürger über die zu erwartende Strafrechtsfolge ins Bild zu setzen. Hierfür bedürfe es gesetzlicher Festlegungen zur Art der für den jeweiligen Tatbestand in Frage kommenden Sanktionen.

53

BGH StGB § 43a Vermögensstrafe 1; BGHSt 41, 20 (26); Lackner/Kühl § 43a Rn. 6. OLG Düsseldorf StV 1996, 549; 1998, 550. 55 OLG Düsseldorf StV 1998, 550; Lackner/Kühl § 43a Rn. 7. 56 SK-Horn § 43a Rn. 7. 57 SK-Horn § 43a Rn. 7. 58 Tröndle/Fischer § 43a Rn. 14. 59 BVerfGE 105, 135 (152 ff). 54

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Demgegenüber wird in dem Minderheitsvotum60 darauf abgestellt, dass die Strafnormen, die auf § 43a StGB verweisen, und die Berücksichtigung der Strafzumessungsgrundsätze für den Richter bereits hinreichende Vorgaben enthielten, in welchen Fällen er die Vermögensstrafe wählen sollte. Die Vermögensstrafe komme nur bei Delikten in Betracht, die im Rahmen organisierter Kriminalität mit hoher Gewinnerwartung begangen würden. Deshalb kämen nur Strafnormen in Betracht, die an das Handeln der Täter als Mitglied einer Bande anknüpfen, die sich zur fortgesetzten Begehung gleichartiger Taten zusammengeschlossen hat. Bei den Tatbeständen des Betäubungsmittelgesetzes deute die maßgebliche Tathandlung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in dieselbe Richtung, da Handeltreiben stets gewinnorientiert sei. Ähnliches gelte auch für die Bezugstatbestände des Asylverfahrens- und des Ausländergesetzes. Die tatbestandliche Ausgestaltung der Strafnormen, die auf § 43a StGB verweisen, enthalte insoweit ein Stück vorweggenommener Strafzumessung. Die Verhängung einer Vermögensstrafe könne daher im Einklang mit der gesetzgeberischen Vorstellung daran orientiert werden, ob die abzuurteilende Tat der organisierten, gewinnorientierten Kriminalität zugeordnet werden kann. Der entscheidende Unterschied der Auffassungen liegt darin begründet, dass die Senatsmehrheit die neu eingeführte Strafart als solche am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG misst, während das Minderheitsvotum deren Einbettung in die Rechtsfolgen der Rechtsprechung überlässt und erst deren Ergebnis einer Bewertung unterzieht. Dabei soll, da das Bestimmtheitsgebot nur auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen bezogen wird, es konsequenterweise ausreichen, dass die das Unrecht bestimmenden Tatbestandsmerkmale Vorgaben für die Strafzumessung enthalten. Versteht man Art. 103 Abs. 2 GG dagegen als Kodifizierung der hergebrachten Grundsätze des Gesetzlichkeitsprinzips, so muss der Gesetzgeber jede Strafart eigenständig bestimmen, indem er Vorgaben für die Einpassung in das Gesamtgefüge mit den weiteren Strafen trifft, die für die Strafgerichte bindend sind. Weiterhin stützt die Senatsmehrheit61 die Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe darauf, dass der Gesetzgeber in anderen Bereichen – für die Entscheidung zwischen Freiheits- und Geldstrafe in § 47 StGB, für die Anordnung eines Fahrverbots neben einer Freiheits- oder Geldstrafe in § 44 StGB und für die Verhängung einer kumulativen Geldstrafe in § 41 StGB – präzise Anweisungen gegeben habe. Dies wäre für die Vermögensstrafe als neue Strafart gleichermaßen möglich und erforderlich gewesen. Dadurch trägt die Senatsmehrheit dem Umstand Rechnung, dass es sich bei dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ nicht um einen allge60 61

BVerfGE 105, 135 (172 ff). BVerfGE 105, 135 (160 f).

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mein gültigen Satz handelt, der losgelöst von der jeweiligen Entwicklungsstufe des Strafrechts gilt. So hebt Arthur Kaufmann hervor, dass dieser Satz nur in einem umfassend kodifizierten Strafrecht, das echte Tatbestände hat, Geltung beanspruchen kann, nicht hingegen für ein nur unvollkommen kodifiziertes Strafrecht oder ein System des richterlichen Fallrechts.62 Nachdem der Gesetzgeber aber das Sanktionenrecht im Allgemeinen Teil detailliert für die Entscheidung zwischen Freiheits- und Geldstrafe für die Anordnung eines Fahrverbots und die Verhängung einer kumulativen Geldstrafe normiert hat, ist er bei der Einführung neuer Sanktionen verpflichtet, ebenfalls entsprechend detaillierte Regelungen zu treffen. Sodann hebt die Senatsmehrheit63 die Bindung der Richter an den Willen des Gesetzgebers hervor und legt dar, dass die Bewertung des Gesetzgebers eine ganz andere gewesen sei als die vom Bundesgerichtshof vorgenommene. Während die Bundesregierung davon ausgegangen sei, dass es sich um eine besonders spürbare Sanktion handele, die, um dem Schuldgrundsatz zu genügen, auf besonders gravierende Fälle beschränkt bleiben müsse, also eine besondere Belastungswirkung angenommen habe, habe der Bundesgerichtshof die Ansicht vertreten, es handele sich bei der Vermögensstrafe, die entsprechend der gesetzlichen Konstruktion einen Teil der an sich verwirkten Freiheitsstrafe ersetze, um eine Rechtsfolge, die gegenüber dem durch sie substitutierten Teil der Freiheitsstrafe die mildere sei. Da die unterschiedlichen Einschätzungen der Vermögensstrafe den Anwendungsbereich der Vermögensstrafe beeinflussten, hätte der Gesetzgeber dazu Festlegungen im Gesetz treffen müssen. Der Senatsmehrheit64 ist zuzustimmen, wenn sie einem Rückgriff auf die gesetzgeberischen Motive, soweit diese im Gesetz selbst keinen Niederschlag gefunden haben,65 eine Absage erteilt, zumal es sich um Überlegungen der Bundesregierung und nicht der Gesetzgebungsorgane – Bundestag oder Bundesrat – handelte.66 Bei der Erforschung des historischen Willens des Gesetzgebers darf nicht auf die Vorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen abgestellt werden, wie dies die Vertreter der sog. subjektiv-historischen Methode fordern,67 sondern auf den vom Ge62

A. Kaufmann Das Schuldprinzip, 1976, S. 92 Fn. 31. BVerfGE 105, 135 (162). 64 BVerfGE 105, 135 (162 f). 65 Siehe dazu auch Horn Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 179; vgl. auch BGHSt 1, 74 (76); 8, 295 (298); Jescheck/Weigend AT § 17 Abs. 4 S. 2; SKRudolphi § 1 Rn. 31; MüKo-Schmitz § 243 Rn. 72; krit. dazu Tiedemann Die Anfängerübung im Strafrecht, S. 78. 66 BVerfGE 54, 297; Bleckmann JuS 2002, 943; NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 108. 67 Hierfür sprechen sich Naucke Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 191 ff; ders. FS Engisch, 1969, 274 ff; Krahl Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht und des 63

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setzgeber verfolgten Zweck (sog. objektiv-historische Methode).68 Hierbei geht es nicht um den Willen der mitwirkenden Parteien.69 Da Gesetze in einer parlamentarischen Demokratie typischerweise auf einem Kompromiss widerstreitender Regelungsinteressen beruhen, darf auch nicht nur auf den Willen derjenigen abgestellt werden, die das Gesetz zustande gebracht haben. Es geht vielmehr um die konkrete Fassung des Gesetzes, das die Lösung eines spezifischen Entscheidungsproblems darstellt.70 c. Bezüglich des Erfordernisses eines gesetzlichen Strafrahmens mit einer Unter- und Obergrenze führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass sich der Gesetzgeber auf Strafrahmen festlegen müsse, denen sich grundsätzlich das Mindestmaß einer Strafe ebenso wie die Sanktionsobergrenze entnehmen lasse.71 Die Senatsmehrheit72 fordert daher feste Obergrenzen auch für die Vermögensstrafe. Sei diese auch keine der Höhe nach unbegrenzte Geldstrafe, so werde ihre Höhe doch erst zum Zeitpunkt der konkreten Rechtsanwendung auf den Einzelfall sichtbar. Hier werde die Aufgabe, die herkömmlich dem Strafgesetzgeber obliege, dem Richter übertragen und damit ohne Not auf die Vorgabe einer allgemeinen Obergrenze verzichtet. Dadurch werde ein sehr weiter, abstrakt uferloser Strafrahmen eröffnet, der nicht mehr als Orientierung für die konkrete Bemessung der Vermögensstrafe dienen könne. Diese Unsicherheit werde auch nicht dadurch gemildert, dass die Vermögensstrafe nicht straferweiternd neben die Freiheitsstrafe trete, sondern Teil eines durch die Einfügung der Vermögensstrafe nicht veränderten Strafquantums sei. Auch die Vorhersehbarkeit einer schuldangemessenen Gesamtrechtsfolge ändere nichts an der mangelnden Bestimmbarkeit der Vermögensstrafe, die als Einzelstrafe Teil der Gesamtsanktion sei, zumal der Begriff des Vermögens eine unscharfe Größe sei und hinzu komme, dass der Richter diesen Wert nach § 43a Abs. 1 Satz 3 StGB schätzen dürfe.

Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986, S. 40 ff sowie Schroth Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37 ff, unter Berufung auf Art. 103 Abs. 2 GG aus; kritisch dazu Bringewat Rn. 277 f; Stratenwerth FS German, 1969, 258. 68 Eingehend dazu Schroth (Fn. 67) S. 37 ff m. w. N.; vgl. dazu auch Rüthers JZ 2006, 58. 69 Vgl. NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 117; MüKo-Schmitz § 243 Rn. 73; Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 328 ff; Loos FS Wassermann, 1985, 123 ff; Schroth (Fn. 67) S. 78 f; Wank Die Auslegung von Gesetzen, S. 64 f. 70 Näher dazu Loos FS Wassermann, 1985, 123; SK-Rudolphi § 1 Rn. 31; Schroth in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 282. 71 BVerfGE 105, 135 (163 ff). 72 BVerfGE 105, 135 (164 ff).

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Demgegenüber wird in dem Minderheitsvotum73 – konsequenterweise – als ausreichend angesehen, dass die Obergrenze daraus hergeleitet werden kann, dass sich die Vermögensstrafe in die Gesamtstrafe einfüge und einer Ersatzfreiheitsstrafe von einem Monat bis zu zwei Jahren entsprechen müsse; insoweit seien eine Unter- und Obergrenze festgelegt. Außerdem wird im Tätervermögen als Bemessungsfaktor für die Vermögensstrafe ein wesentlicher Beitrag zur Bestimmtheit der Strafdrohung gesehen, weil es sich um einen empirischen Begriff handele, dessen Anwendung methodisch besser gesichert und nachprüfbar sei als normative Konzepte. Auch das Fehlen eines gesetzlichen Umrechnungsschlüssels für die Minderung der an sich verwirkten Freiheitsstrafe im Hinblick auf die Höhe der Vermögensstrafe mache die Norm nicht unbestimmt. Ein Umrechnungsschlüssel nach Art des Tagessatzsystems diene vor allem der Herstellung größerer Praktikabilität. Er werde aber, wenn nicht nur laufendes Einkommen, sondern auch erhebliches Vermögen zu berücksichtigen sei, entweder nicht in reiner Form durchgehalten oder er begünstige den reichen Täter in ungerechter Weise. Schließlich wird geltend gemacht, die von der Senatsmehrheit dem Gesetzgeber abverlangte Konkretisierung der Vermögensstrafe führe im Ergebnis zu einer Annäherung an die Geldstrafe, die damit zum verfassungsrechtlich geforderten Leitbild für Vermögenseingriffe zu Strafzwecken werde, und nähme einer neu gestalteten Vermögensstrafe einen Gutteil der abschreckenden Wirkung. Hier wird deutlich, dass dem Gesetzgeber eine weitreichende Einschätzungsprärogative beigemessen werden muss, wenn er neue Strafarten einführt. Zu Recht werfen die drei Richter in ihrem Minderheitenvotum74 die Frage auf, was denn der parlamentarische Gesetzgeber in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise hätte tun können, um den Bestimmtheitsmaßstäben der Senatsmehrheit zu genügen. Bei der Festsetzung einer absoluten Höchstsumme liefe er Gefahr, gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen, weil Belastungsobergrenzen im Rahmen des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks den reichen Täter begünstigten. Bei einer gesetzlich vorgegebenen Höchstsumme könne ausgerechnet derjenige Täter mit einem besonders großen Vermögen sicher sein, nicht sein ganzes Vermögen zu verlieren. Schließlich wird ein Vergleich zur lebenslangen Freiheitsstrafe gezogen, deren Dauer von der Lebensdauer des Verurteilten abhänge. Gleichwohl sei diese Frage keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG ausgesetzt. Wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht einen Strafrahmen fordert, der dem Richter eine Orientierung bei der konkreten Bemessung der Strafe 73 74

BVerfGE 105, 135 (176 ff). BVerfGE 105, 135 (176 f).

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ermöglicht, kommt die Vermögensstrafe als neue Strafart per se nicht in Betracht. Diese Schlussfolgerung ist bedenklich weitreichend. Hier stellt sich die Frage, ob nicht durch klare und präzise Regelungen im Bereich der Tatbestandsvoraussetzungen sowie durch ergänzende Strafzumessungsregeln, die speziell auf die Vermögensstrafe bezogen sind und an die sich die Rechtsprechung der Fachgerichte zu halten hat, hinreichende Bestimmtheit erlangt werden könnte. Dies ist zu bejahen, denn es kann nicht Aufgabe des Grundsatzes „nulla poena sine lege“ sein, Strafarten, soweit sie mit den Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sind, auszuschließen. Allerdings ist bei mit schwerwiegenden Strafen typischerweise verbundenen intensiven Grundrechtseingriffen ein Schweigen des Gesetzgebers als Verstoß gegen die von der Verfassung gesetzten Grenzen zu bewerten.

IV. Fazit Art. 103 Abs. 2 GG, der die überkommenen Grundsätze des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ garantiert, findet seine Fundierung im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung; im Vordergrund steht deshalb die „freiheitsgewährleistende Funktion“ des Gesetzlichkeitsprinzips.75 Hinzu kommt die Herleitung aus der Generalprävention, wie sie Feuerbach für den Satz „nulla poena sine lege“ entwickelt hat. 1. Wenn man den Grundsatz „nulla poena sine lege“ ernst nimmt, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Sanktion zu verhängen ist, in welchem Verhältnis sie zu anderen Strafarten steht und welche Strafzumessungsgesichtspunkte hierbei zu berücksichtigen sind. In einem kodifizierten und ausdifferenzierten Sanktionensystem muss der Gesetzgeber solche Entscheidung in der gleichen Tiefe und Dichte wie für die bereits gesetzlich geregelten Strafarten treffen. Insoweit ist der Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe zuzustimmen. Die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips dürfen jedoch nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber zu Entscheidungen gezwungen wird, die mit dem Gleichheitssatz kollidieren, wie dies bei der Forderung fester Obergrenzen der Fall ist. Wenn aber ausnahmsweise auf feste Obergrenzen verzichtet werden muss, um einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu vermeiden, müssen die Tatbestandsvoraussetzungen und die Strafzumessungsgründe besonders detailliert im Gesetz geregelt werden. 75

BVerfGE 75, 329 (341).

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2. Die gesetzlichen Strafrahmen des Strafgesetzbuchs tragen diesen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG im Grundsatz76 Rechnung, da sie dergestalt begrenzt sind, dass angedrohte Freiheitsstrafen, die (wahlweise neben Androhung von Geldstrafe) beim allgemeinen gesetzlichen Mindestmaß von einem Monat beginnen (§ 38 Abs. 2 StGB), bei einem, zwei, drei oder fünf Jahren enden und dass Androhungen im Höchstmaß von fünf, zehn oder fünfzehn Jahren bei drei oder sechs Monaten und im letzten Fall bei einem oder zwei Jahren beginnen. Das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit bedeutet nicht, dass die Rechtsfolge, die jeweils im Einzelfall verwirkt ist, als feste Größe unmittelbar dem Gesetz zu entnehmen sein müsste. Der Gesetzgeber genügt dem Bestimmtheitsgebot in der Regel, wenn er einen Rahmen für die Rechtsfolgenbemessung zur Verfügung stellt. Wo die tatbestandsmäßige Handlung und ihr Erfolg verschiedene Grade der Schwere des Unrechts und der Schuld aufweisen können, ist es sogar geboten, dem Richter im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit flexibler Reaktion einzuräumen.77 3. Als problematisch gelten jedoch die Modifikationen des Regelstrafrahmens für „besonders schwere“ und „minder schwere“ Fälle, durch die der Richter innerhalb der gesetzlichen Strafdrohungen nach h. M. gesetzliche Leitlinien für die Strafzumessung erhält.78 Dadurch wird insofern eine erhöhte Bestimmtheit erreicht, als dem Richter die Anwendung eines gegenüber dem Regelstrafrahmen schärferen bzw. milderen Strafrahmens nicht freigestellt ist. Vielmehr hat er, wenn ein Regelbeispiel verwirklicht ist, aufgrund der Indizwirkung ohne weitere Begründung von einem besonders schweren bzw. milderen Fall auszugehen. Nur eine Abweichung von der tatbestandlich indizierten Bewertung muss unter Bezugnahme auf die dem Regelbeispiel zugrunde liegenden Wertungsgesichtspunkte begründet werden.79 Der Bestimmtheitsgrundsatz erfordert nicht, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafzumessungsregeln abschließend wie bei einem Straftatbestand gesetzlich umschreibt. Wenn das Gesetz neben gesetzlich bestimmten Regelbeispielen nicht näher bezeichnete andere Fälle als besonders schwer erfasst, können diese in Analogie zu den gesetzlich genannten Regelbeispielen gebildet werden.80 76 Zur Fragwürdigkeit der Aussagekraft von Strafrahmen siehe Hettinger FS Küper, 2007, 95 ff. 77 BVerfGE 45, 187 (260); BGHSt 30, 105 (110). 78 BGHSt 26, 104 (105); 33, 370 (373); Dölling JuS 1986, 689; Mitsch BT I § 1 Rn. 171 ff; MüKo-Schmitz § 243 Rn. 2. 79 BGH StV 1989, 432. 80 Näher dazu Arzt JuS 1972, 385 ff; Blei FS Heinitz, 1972, 419 ff; Maiwald FS Gallas, 1973, 138 f; Scheffler Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, 2006, S. 19 ff; Zieschang Jura 1999, 563 ff.

Das Verbot unbestimmter Strafen

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Bei solchen unbenannten besonders schweren Fällen ist die Unbestimmtheit größer als bei der unmittelbaren Anwendung der gesetzlichen „RegelUmstände“. Der durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz vom 19.12.2001 eingeführte Verbrechenstatbestand der gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Steuerhinterziehung, der eine Verkürzung großen Ausmaßes voraussetzte, war nicht hinreichend bestimmt und wurde deshalb vom Gesetzgeber aufgehoben.81 Hingegen hat das Bundesverfassungsgericht ein Regelbeispiel des besonders schweren Falles des Landesverrats (§ 94 Abs. 2 Nr. 2) zu Recht für verfassungsmäßig erklärt82, weil die gesetzlich geregelten Beispiele die gesetzgeberische Wertung verdeutlichen, so dass gesetzliche Leitlinien für die Strafzumessung vorgegeben sind, an denen sich der Richter zu orientieren hat. Die Regelbeispieltechnik ist allerdings nur so lange berechtigt, wie der Gesetzgeber damit die Erfordernisse der möglichst weitgehenden Bestimmtheit und der schuldangemessenen Strafe in ein angemessenes Verhältnis bringt.83 Wenn allerdings die Möglichkeit besteht, den Strafrahmen durch eine sachlich gerechtfertigte Normierung von Qualifikations- und Privilegierungstatbeständen zu konkretisieren, ist der Gesetzgeber gehalten, hiervon Gebrauch zu machen und so zu einer erhöhten Bestimmtheit beizutragen. 4. Das Bestimmtheitsgebot dient ebenso wie der Gesetzesvorbehalt einem doppelten Zweck: Der Bürger soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten ist und mit welcher Strafe er rechnen muss, damit er sein Verhalten entsprechend einrichten kann. Außerdem soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber die Entscheidung über Strafbarkeit und Strafe trifft und nicht der Richter, dem eine Nachbesserung des Gesetzes untersagt ist. Wenn diese Postulate ernst genommen werden, kommt die freiheitsgewährleistende Funktion des Gesetzlichkeitsprinzips ebenso zum Tragen wie das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip, und es wird der Herleitung des Gesetzlichkeitsprinzips aus der Generalprävention Rechnung getragen. Damit kommen alle das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip tragenden Erklärungs- und Begründungsansätze zur Anwendung. Claus Roxin sieht darin zu Recht die „heute noch lebenskräftigen staatstheoretischen und strafrechtlichen Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips“.84

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Harms FS Kohlmann, 2003, 413 ff. BVerfGE 45, 363 (370). 83 Sachs-Degenhart Art. 103 GG Rn. 68 f; Schönke/Schröder-Eser/Hecker § 1 Rn. 29; kritisch dazu Krahl (Fn. 67) S.146 ff; Maiwald NStZ 1984, 440; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 231; Zieschang Jura 1999, 564. 84 So Roxin AT I § 5 Rn. 18. 82

Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz Zur Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010 LORENZ SCHULZ

I. Zur Einleitung Wenn im Folgenden der Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) nach der Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010 analysiert wird, dann kann die ausgewogene Darstellung des Gesetzlichkeitsprinzips im Lehrbuch des Jubilars vorausgesetzt werden.1 Seit der 4. Auflage des Lehrbuchs hat das Prinzip nicht nur durch eine vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung,2 die sich namentlich in Festschriftbeiträgen finden,3 sondern auch durch eine Reihe von Kammerentscheidungen des BVerfG4 und die hier zu analysierende Senatsentscheidung Aufmerksamkeit erfahren. Mit den nachfolgenden Überlegungen werden insbesondere die Folgen der Entscheidung gewürdigt. Die Konjunktur des Bestimmtheitsgrundsatzes in der jüngeren Vergangenheit ist grundlegenden Entwicklungen des Rechts geschuldet.5 Der beschleunigte kulturelle, durch zunehmende Inter- und Transnationalität charakterisierte Wandel insbesondere in Technik und Wirtschaft führt im Recht 1

Roxin AT I § 5. Siehe Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 86 ff; trotz Zweifel i. E. auch Paeffgen, StraFo 2007, 442 ff. Die neuerliche Aufmerksamkeit ist umso erstaunlicher, als es vormals bereits tot gesagt worden war; Naucke Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973, und die von ihm betreute Dissertation von Krahl Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1986; siehe auch Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, „Tiefpunkt“, S. 6. 3 Siehe nur Kudlich FS Stöckel, 2009, 93 ff; Kühl FS Seebode, 2009, 61 ff; Kuhlen FS Otto, 2007, 89 ff; Otto FS Seebode, 2009, 81 ff. 4 BVerfG vom 1.06.2006 (1 BvR 150/03; NJW 2006, 3050; Rechtsradikale Parole als Phantasieprodukt), BVerfG vom 12.09.. 2006 zu § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB (2 BvR 2273/06, NJW 2007, 1666; Verbot der Gleichsetzung von „unvorsätzlich“ mit „entschuldigt“) und vom 14.09 2007 (2 BvR 2238/07; StraFo 2008, 463; Verbot der Gleichsetzung eines Pkw mit „Waffe“). 5 Für das Europarecht siehe Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 59, 64; siehe auch Hecker Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 110 mit Ablehnung von dynamischen Verweisungen; siehe auch Paeffgen, StrFo 2007, 447 ff. 2

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zu wachsender Flexibilität der Normierung, die europäisch und global durch den „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ noch verstärkt wird. Was rechtssoziologisch früh wahrgenommen wurde, ist inzwischen dogmatisch weitgehend akzeptiert. Es geht um den Umstand, dass die Primärnormen der Gesetzlichkeit, begleitet von einer Zunahme an „kooperativer“ und „konsensualer“ Normsetzung,6 zurücktreten zugunsten von Sekundärnormen insbesondere verwaltungsrechtlicher Natur.7 In diskurstheoretischer, mehr noch aber in evolutionär-systemtheoretischer Perspektive wird dies mit der Konzeption einer im Entstehen begriffenen nichtstaatlichen Verfassungsordnung verknüpft.8 Damit kommt eine Rechtssetzung zum Zuge, die jenseits parlamentarischer Gesetzgebung durch Exekutive oder Judikative erfolgt. Das berührt bereits den allgemeinen Gesetzesvorbehalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und nicht erst die strafrechtliche Gesetzlichkeit (Art. 103 Abs. 2 GG). Aber auch die letztere begegnet einer wachsenden Unbestimmtheit von Tatbestandsmerkmalen und systematischen Zunahme von Verweisungsketten bei Blankettnormen. Im Wirtschaftsstrafrecht ist mehr und mehr eine Normsetzung zu beobachten, bei der der parlamentarische Gesetzgeber exekutiv gesetztes Recht nur noch affirmiert. Der Tatbestand der Untreue, der mittels Einbezugs der schwarzen Kassen zugleich zur Korruptionsbekämpfung beiträgt, ist zum Passepartout der Wirtschafts- und Finanzkriminalität geworden, eine Entwicklung, die im öffentlichen Recht von manchen als zeitgemäß begrüßt wird. Die Untreue hat deshalb wie kaum ein anderer Tatbestand zu einer in zahlreiche Fallgruppen ausdifferenzierten Kasuistik geführt. Die zunehmende Unbestimmtheit zeigt sich nicht nur in den erwähnten, nur noch schwer nachvollziehbaren Verweisungsketten bei offen akzessorischen Strafrechtsnormen. Damit einher gehen auch latente oder offene Wertungskonflikte der Rechtsmaterien, auf die in einem strafrechtlichen Tatbestand verwiesen wird. Dafür legt nicht nur die notorisch schwierige Ausfüllung der Pflichtwidrigkeit bei der Untreue Zeugnis ab, die mit der vorliegenden Entscheidung des Verfassungsgerichts zumindest restringiert wird. Nicht weniger schwierig ist beispielsweise der Tatbestand des § 266a StGB, der durch den Verweis auf arbeits-, sozial- und steuerrechtliche Vorschriften die Akzessorietät des Strafrechts besonders strapaziert. Wo die klassische Konditionalgesetzgebung noch vorherrscht, wird sie schließlich im Zeichen der Opportunität verfahrensrechtlich flexibilisiert. 6

Becker Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005. Vgl. Ruffert in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, S. 1085 ff. 8 Siehe Vesting Rechtstheorie, 2007. Dies gilt namentlich für Teubners Rezeption der Systemtheorie, siehe ders. ZaöRV 2003, 1 ff; siehe auch Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 345 ff für den „transnationalen Rechtspluralismus“). 7

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Das führt vermehrt dazu, dass die Reichweite des Bestimmtheitsgrundsatzes im Verfahren ausgehandelt wird. Dieser Entwicklung hat der Gesetzgeber mit der Normierung der „Verständigung“ (§ 257c StPO) Vorschub geleistet. Die Verfahrensperspektive spiegelt auch eine Tendenz zu „verfahrensrechtlichen Bezugsnormen“. War zunächst das Paradigma moderner strafrechtlicher Tatbestände der Tatbestand des Subventionsbetrugs (§ 264 StGB),9 so wurde es inzwischen der Tatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB).10 Dass der Tatbestand als law in progress permanent modifiziert wird, fügt sich in das Bild eines Ermittlungsparagraphen ein, der dazu dient, das reichhaltige Arsenal der Grundrechtseingriffe zu eröffnen. Im Ergebnis rückt damit die namentlich von Feuerbach betonte Form der Legalität, in der sich materieller und prozessualer Legalität staatlichen Handelns eng verzahnt finden, 11 in die Ferne, als wäre sie ein Leuchtturm, von dem sich das Schiff berechenbarer Strafrechtspflege allmählich entfernt.

II. Die Entscheidung vom 23. Juni 2010 Mit der Entscheidung vom 23. Juni 2010 zum Tatbestand der Untreue12 hat das BVerfG die Quintessenz aus seiner bisherigen Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz gezogen und fortentwickelt. Das Gericht geht einen 9

Benthin Subventionspolitik und Subventionskriminalität, 2010. Selbst die Rechtsprechung hat ihm abgesprochen, ein identifizierbares Rechtsgut zu schützen. Nach BGHSt 43, 158, (167), dient die Vorschrift dem Schutz eines nicht näher konkretisierten Rechtsguts eigener Art. Das BVerfG diagnostizierte für Abs. 2 offen die „Weite und Vagheit“ der Vorschrift, aufgrund derer die Auslegung nach herkömmlichen Methoden prinzipiell versage (2 BvR 1520/01, Rn. 100). Die Rechtsgutsdiffusion bewirkt eine Hinwendung zum Typus eines offenen Tatbestands und einem Prozessrecht, das auf Vorsorge zielt, was optimal durch „verfahrensrechtliche Bezugsnormen“ (Ermittlungs- bzw. Aufspürungstatbestände) erreichbar ist. 11 Ausgehend von der Notwendigkeit einer intrinsischen Begründung des nullum crimenSatzes (263 ff) stellt Greco Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2010, zwar die Fragilität der Begründung Feuerbachs heraus, entwirft aber zugleich eine rationalfunktionalistische Theorie der Abschreckung, um Feuerbachs assoziationspsychologische Zwangstheorie (95 ff) zu reformulieren. 12 HRRS 2010 Nr. 656. Unter den Anm. sind im hiesigen Kontext einschlägig: Becker HRRS 2010, 383 ff, Radtke GmbHR 2010, 1121 und Saliger NJW 2010, 3195; Kudlich JA 2011, 66 verweist auf seinen Beitrag FS Stöckel, 2009, 93ff. In der Kommentarliteratur ist die Entscheidung bereits bei AnwK-StGB/Gaede, § 1 Rn. 24 ff ausführl. berücksichtigt. Die Entscheidung zu drei Verfassungsbeschwerden bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Fallgruppen der „modernen“ Untreue: (1) Bildung schwarzer Kassen (Fall „Siemens/ENEL“) und (2) Kredituntreue (Fall „Berliner Bankenskandal“). Aufgehoben wurde nur die Entscheidung zu den Vorständen der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG. Das Gericht hob nicht nur den Beschluss des 5. Strafsenats des BGH (der die Anwendung des LG Berlin in der Sache bereits abgelehnt hatte), sondern auch die erstinstanzliche Entscheidung selbst auf. 10

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Weg konsequent weiter, den es bereits beim vormaligen Tatbestand des groben Unfugs (§ 360 Nr. 11, 2. Alt. StGB a.F.)13 eingeschlagen hatte14. Der Bestimmtheitsgrundsatz dient, so das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, der Sicherstellung der grundgesetzlichen Gewaltenteilung und dem Individualschutz, mithin einem doppelten Zweck.15 Er soll sicher stellen, dass nur der Gesetzgeber selbst die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festlegt.16 Zugleich soll nach der freiheitsgewährleistenden Funktion des Grundsatzes jedermann vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.17 Stellt man auf die Voraussehbarkeit ab, kann diese allerdings, wie im Sondervotum der SitzblockadenEntscheidung mit Recht ausgeführt wird, durch eine ständige Rechtsprechung gewährleistet werden.18 Dem trägt der Senat im späteren Verlauf der Begründung Rechnung. Zunächst wird die erste Zweckrichtung anhand des Wesentlichkeitsgedankens präzisiert. Demnach muss der Gesetzgeber „wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess […] und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret […] umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straf13 Heute präzisiert in § 118 Abs. 1 OWiG („Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.“). Die Entscheidung wurde ganz überwiegend zurückgewiesen; siehe nur Schönke/Schröder-Eser § 1 Rn. 18; LK-Dannecker § 1 Rn. 185 („Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen“); Schünemann (Fn. 2) S. 33; zust. Mayer in: Materialien zur Strafrechtsreform I 1954, S. 262; offen Ignor Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 154. Erwartungsgemäß sind auch bei § 118 Abs. 1 OWiG die Zweifel stark; vgl. Bohnert § 118 OWiG Rn. 2 („unbestimmt“), anders Göhler § 118 OWiG Rn. 3. 14 Zutr. Seebode FS Spendel, 1992, 326f. 15 Über diese Doppelfunktion besteht auch im Schrifttum weitgehend Einigkeit; siehe Roxin (Fn. 1). 16 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 70, mit Hinweis auf BVerfGE 75, 329 (341) und BVerfGE 123, 267 (408). Betont man diese Funktion, mag man die Voraussehbarkeit durch die Irrtumsvorschriften geschützt sehen; so Ransiek Gesetz und Lebenswirklichkeit. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, 1989, S. 20 f et passim. 17 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 71, mit gleichem Hinweis auf BVerfGE 75, 329 (341). Diese Funktion hatte das Gericht bereits 1962 anlässlich der Verfassungsmäßigkeit des damaligen § 71 StVO herausgearbeitet. 18 Für die Beurteilung der Bestimmtheit einer Strafnorm ist anerkannt, dass auch die Verwendung von Begriffen, die eine sehr weite Auslegung zulassen und aus diesem Grunde nach Art. 103 Abs. 2 GG Bedenken begegnen könnten, dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis genügen, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung eine Auslegung erfahren haben, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet (vgl. BVerfGE 26, 41 (43); 45, 363 (372); 57, 250 (262); 73, 206 (243) m. w. N.). Gleiches muss gelten, wenn man die Frage, mit welcher Auslegung der Norm in Grenzbereichen zu rechnen ist, nicht im Rahmen der Bestimmtheit der Norm, sondern unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit der Auslegung prüft.

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tatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 75, 329 ).“19 Dass ihm dabei, den Lebensverhältnissen geschuldet, Flexibilität attestiert werden müsse, wird auch in der vorliegenden Entscheidung wiederholt.20 Deshalb dürfe der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden und sogar zu Generalklauseln greifen: „Das Bestimmtheitsgebot bedeute also nicht, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit unmittelbar in ihrer Bedeutung für jedermann erschließbaren deskriptiven Tatbestandsmerkmalen zu umschreiben. Es schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht nicht von vornherein aus. (vgl. BVerfGE 48, 48 ; 92, 1 ; ferner BVerfGE 75, 329 ) Der Gesetzgeber kann Tatbestände auch so ausgestalten, dass zu ihrer Auslegung auf außerstrafrechtliche Vorschriften zurückgegriffen werden muss. Dies führt, soweit es sich nicht um Normen zur Ausfüllung eines strafrechtlichen Blanketts handelt, nicht dazu, dass auch die betreffenden außerstrafrechtlichen Vorschriften am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen wären (vgl. BVerfGE 78, 205 ).“21 Was das heißt, wird nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit bestimmt: „Zu prüfen sind die Besonderheiten des jeweiligen Straftatbestands einschließlich der Umstände, die zu der gesetzlichen Regelung führen (BVerfGE 28, 175 ), wobei der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso genauer festlegen und präziser bestimmen muss, je schwerer die von ihm angedrohte Strafe ist (BVerfGE 75, 329 ). Dafür sei auch der Kreis der Normadressaten von Bedeutung (BVerfGE 48, 48 ).“22 Wegen der Verhältnismäßigkeit entziehe sich die Bestimmtheit der generellen Festlegung. Der gebotene „Grad an gesetzlicher Bestimmtheit“ lasse sich nur „im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung“ definieren, für die namentlich die „möglichen Regelungsalternativen“ zu berücksichtigen seien. Demnach genüge es in „Grenzfällen ausnahmsweise […], wenn lediglich das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist (vgl. BVerfGE 48, 48 ; 92, 1 )“.23 Die verfassungsrechtlichen Bedenken ließen sich jedenfalls dann ausräumen, wenn eine gefestigte Rechtsprechung vorliegt, 19

BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 72. BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 73; mit Verweis auf BVerfGE 14, 245 (251); 28, 175 (183); 47, 109 (120). 21 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 74. 22 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 75. 23 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 76. 20

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wie dies bereits in der zitierten Ausgangsentscheidung zu dem damaligen Tatbestand des groben Unfugs (§ 360 Abs. 1 Nr. 11, 2. Alt. StGB) festgehalten wurde: 24 „Verfassungsrechtliche Bedenken, die die Weite eines Tatbestands (merkmals) bei isolierter Betrachtung auslösen müsste, können zudem durch weitgehende Einigkeit über einen engeren Bedeutungsinhalt, insbesondere durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, entkräftet werden (vgl. BVerfGE 26, 41 ; 87, 209 ; 92, 1 ). Allein die Tatsache, dass ein Gesetz bei extensiver, den möglichen Wortlaut ausschöpfender Auslegung auch Fälle erfassen würde, die der parlamentarische Gesetzgeber nicht bestraft wissen wollte, macht das Gesetz nicht verfassungswidrig, wenn und soweit eine restriktive, präzisierende Auslegung möglich ist (vgl. BVerfGE 87, 399 ).“ Gleichwohl bleibe der Gesetzgeber zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen. Er entscheide, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mittels einer strafrechtlichen Norm verteidigt wird. Den Gerichten sei es verwehrt, in diese Entscheidung korrigierend einzugreifen. 25 Dies folge aus dem Analogieverbot, das untechnisch zu verstehen sei.26 Es verbiete „jede Rechtsanwendung, die - tatbestandsausweitend - über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht.“27 Damit wird das Analogieverbot materiell angereichert und entspricht einem Präzisierungsgebot, mit dem eine gesetzwidrige Auslegung vermieden werden soll. Aus dem Präzisierungsgebot folgert der Senat das von ihm so genannte Verschleifungsverbot, das, in der Sache nicht neu, folgendermaßen formuliert wird: „Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in 24 BVerfGE 26, 41, wonach der Tatbestand „zum überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen gehört und durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden ist.“ Vgl. davor BVerfGE 14, 245 (253) zu § 21 StVG 1952 („Inhalt und Bedeutung des Begriffs der ´öffentlichen Sicherheit und Ordnung´ sind durch die Rechtsprechung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt.“) Kritisch die h. M. im Strafrecht. 25 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 78 mit Verweis auf BVerfGE 64, 389 (393) und 92, 1 (13). 26 Das BVerfG folgt dem seit BVerfGE 71, 108 (115); für Folgeentscheidungen siehe BVerfGE 73, 206 (235) und 92, 1 (12). Zur Analogie im engen Sinn, insbesondere zur fehlenden Qualität eines logischen Schlusses siehe Schulz, in: Liu (Hrsg.), Wertpluralismus, Toleranz und Recht, 2004. 27 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 78. Dabei sei der mögliche Wortsinn als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen.

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anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen; vgl. BVerfGE 87, 209 ; 92, 1 ).“28 Dies wird mit dem in der vorliegenden Entscheidung nicht weiter ausgeführten Hinweis auf die „methodengerechte“ Auslegung ausgeführt.29 Einen zu weit gefassten Wortlaut einer Norm hätten die Gerichte restriktiv auszulegen, um damit den gesetzgeberischen Willen sicherzustellen.30 Mit anderen Worten: Es genügt, wenn ein Tatbestand bestimmbar formuliert ist, sofern die Bestimmtheit durch („restriktive“) Auslegung seitens der Gerichte sichergestellt werden kann: Die Gerichte dürften nicht auch noch durch eine „fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen (vgl. BVerfGE 71, 108 ; 87, 209 ; 92, 1 ).“ Deshalb sei die Rechtsprechung auch gehalten, „verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot).“31 28

BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 79. Was das Gericht darunter versteht, geht aus früheren Entscheidungen hervor. So heißt es im Beschluss zu § 57a StGB, dass „unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe“ dann verwendet werden dürften, „wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt.“ Dass das Gericht auch dem Umstand einer gefestigten Rechtsprechung methodologischen Charakter zuspricht, ist pikant, zumal die Festigkeit einer Rechtsprechung definitionsbedürftig ist. Das verweist auf das nach der vorliegenden Entscheidung verbleibende Desiderat, wie eine entstehende Rechtsprechung zu überprüfen ist. 30 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 80 mit Verweis auf BVerfGE 82, 236 (270 f); 87, 399 (411). 31 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 81. Beim Tatbestand der Untreue ist der gesetzgeberische Wille, im Rahmen des 6. StrRG auf die darin sonst weitgehende Einführung der Versuchsstrafbarkeit bei § 266 StGB zu verzichten, eindeutig. Damit diese Entscheidung des Gesetzgebers nicht unterlaufen wird, ist nach der vorliegenden Entscheidung eine nachvollziehbare, in der Regel zahlenmäßig zu belegende Ermittlung und Benennung des (Gefährdungs-) Schadens erforderlich. Weiterhin sind an den Vorsatz besonders hohe Anforderungen zu stellen, insbesondere dann, wenn der Täter nicht eigensüchtig gehandelt hat. Aus dem kognitiven Element des Vorsatzes darf das voluntative Element nicht geschlossen werden. Da dies das Billigen des Taterfolgs einschließt, folgt der Senat für die Fälle der konkreten Vermögensgefährdung der „Kanther“-Entscheidung des 2. Senats des BGH mit dem Erfordernis einer überschießenden Innentendenz, „dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr“. 29

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Dieses Gebot wird vom Senat wegen seiner Bedeutung in den Tenor aufgenommen. Damit wird ein spezifisches Modell von Arbeitsteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgestellt.32 Zur Präzisierung dieser Arbeitsteilung lassen sich zwei Modalprinzipien unterscheiden. Nach dem „klassischen“ Prinzip sind alle Möglichkeiten vorab anzunehmen, nach dem konkurrierenden können neue Möglichkeiten hinzukommen.33 Demnach setzt die vom BVerfG genannte Arbeitsteilung das klassische Modalprinzip voraus, das der lange Zeit prägenden aristotelischen Ontologie zugrunde liegt. Um ein aristotelisches Bild zu benutzen: Der Gesetzgeber liefert den Samen, der sich in der Rechtsprechung entfaltet.34 Demnach gilt: Die bestimmbare Norm soll „nach Möglichkeit“ bestimmt („präzisiert“) werden. Damit wird das Bestimmtheitsgebot für die Rechtsprechung als Optimierungsgebot vorgestellt. Die Pflicht zu optimaler Präzisierung wächst mit der Unbestimmtheit der Tatbestandsmerkmale: „Besondere Bedeutung hat diese Pflicht bei solchen Tatbeständen, die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen durch Verwendung von Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat. Gerade in Fallkonstellationen, in denen der Normadressat nach dem gesetzlichen Tatbe32 Vgl. Roxin (Fn. 1) Rn. 28, 31; Krey Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 ff („arbeitsteiliges Zusammenwirken“). Siehe auch im Hinblick auf die verfassungskonforme Auslegung Voßkuhle, AöR 125 (2000), 194 ff. 33 Der Konflikt zwischen beiden Prinzipien ist geistesgeschichtlich bedeutsam. Das zweite, „eschatologische“ Prinzip, lässt sich mit dem klassischen Stichwort evolutio, modern auch mit dem der Autopoiese verbinden; vgl. Schulz Das rechtliche Moment des Pragmatismus, 1988, S. 224 ff. Das erste Prinzip steht für die attische Philosophie, namentlich für die aristotelische Ontologie der Entelechie, und ihren juristischen Impuls der restitio. Plakativ kann man auch von offenem und geschlossenem System sprechen. Der Bestimmtheitsgrundsatz lässt sich im Grundsatz in beiden Modellen definieren. Während er wie auch hier für das klassische Prinzip naheliegt, sobald es rechtshistorisch auf Gesetzlichkeit umstellt wird, hat er im Gefüge des gegenläufigen Prinzips keinen leichten Stand. Das zeigt sich am Beispiel der autopoietisch evolutionären Systemtheorie Luhmanns (siehe ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993): Zwar bedarf diese der Berechenbarkeit, um die Unterscheidung von Recht-Unrecht und damit die kommunikative Anschlussfähigkeit zu garantieren. Soweit Luhmann (Das Recht der Gesellschaft, 1993, 9. Kap.) die Teilnehmerperspektive einnimmt, kommt er dem Anspruch der Richtigkeit selbst im Sinne der one right answer und damit einer Einzelfallgerechtigkeit weit entgegen. In der Beobachterperspektive muss sich Gerechtigkeit allerdings in der „Pflege von Konsistenz“ erschöpfen, für die Vertretbarkeit genügt; vgl. Renner, Ancilla Iuris 2008, 62 ff; zur Einzelfallgerechtigkeit siehe Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004. 34 Der Metapher entspricht auf gewisse Weise der im Kern moderne Positivismus von Aristoteles: Zwar ist es nach dem 5. Buch der Nikomachischen Ethik das Herz der Gerechtigkeit, d.h. Ausdruck der generellen Gerechtigkeit, den Normen zu folgen. Die gesetzgeberischen Normen können allerdings wegen der Starrheit jeder Normierung dem Einzelfall strukturell nicht immer gerecht werden, so dass die judikative Billigkeit als integraler Teil in die Gerechtigkeit eingerückt wird, ohne dass man dem Text eine Hierarchie von Primär- und Sekundärprinzip entnehmen könnte, für die immerhin die Einteilung der Untersuchung spricht.

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stand nur noch die Möglichkeit einer Bestrafung erkennen kann und in denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (vgl. BVerfGE 26, 41 ; 45, 363 ), trifft die Rechtsprechung eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Sie kann sich auch in über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes (vgl. dazu BVerfGE 74, 129 ; 122, 248 ) hinausgehenden Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen niederschlagen.“35 Die Konsequenz aus dem Präzisierungsgebot ist demnach, dass Änderungen der präzisierenden Rechtsprechung voraussehbar sein müssen. Das ist neu und trägt einem Problem Rechnung, das nicht nur im Strafrecht seit geraumer Zeit formuliert wird.36 Dieser Bezugspunkt ergibt sich nicht alleine aus dem Vertrauensschutz, sondern auch aus darüber „hinausgehenden Anforderungen“. Worin diese liegen, wird erst beim Prüfungsumfang ausgeführt. Im Ergebnis heißt dies: Die weitgehende Delegation der Definitionsmacht an die Judikative lässt sich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gliederung der Gewalten nur vertreten, wenn die Rechtsprechung der Kontrolle unterliegt. Die erkennbare Verflüssigung des Bestimmtheitsgebots legitimiert der Senat mit einer höheren Kontrolldichte. Diese ist wiederum an der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Domäne des Gesetzgebers ausgerichtet: „Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung, ob die Strafgerichte diesen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Vorgaben gerecht geworden sind, ist das Bundesverfassungsgericht nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Sowohl die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes als auch die Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts betreffen die Entscheidung über die Strafbarkeit und damit die Abgrenzung von Judikative und Legislative. Für die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen ist das Bundesverfassungsgericht zuständig.“37

35 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 81. Siehe auch BVerfG StV 2010, 564, 565 (= Rn. 81; ebenfalls zur Untreue). 36 Neumann KritV 2000, 151 ff (wiederveröffentlicht in ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 150 ff), m. w. N. für die zivilrechtliche Diskussion; siehe bereits im Hinblick auf das Strafbarkeitsbewusstsein Haffke Das Rückwirkungsverbot des Art 103 GG bei einer Änderung der Rechtsprechung zum materiellen Recht, 1970. 37 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 82.

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Damit geht der Senat weit: Die Kontrolle wird ausdrücklich, auch das ist neu, auf die Obersatzbildung bei der Fallgruppenbildung bezogen.38 Damit fungiert das BVerfG im Grundsatz als zusätzliche Revisionsinstanz. Nicht anders ist die nachfolgende Ausführung zum Prüfungsumfang zu verstehen: „Stützen die Gerichte insbesondere ihre Auslegung und Anwendung der Strafnorm auf ein gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals oder der Norm insgesamt, prüft das Bundesverfassungsgericht das Bestehen eines solchen gefestigten Verständnisses in vollem Umfang nach (vgl. BVerfGE 92, 1 ; 92, 1 - abw. M.). Entsprechendes gilt, wenn die Strafbarkeit nach einer weit gefassten Norm mittels gefestigter komplexerer Obersätze eingegrenzt wird, wie sie etwa bei der Bildung von Fallgruppen und auf diese bezogene Spezifizierungen der Anforderungen der Strafrechtsnorm anzutreffen sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft insoweit, ob die Gerichte bei Anwendung und Auslegung der Strafnorm bei den bislang entwickelten, die Norm konkretisierenden Obersätzen geblieben sind, gegebenenfalls ob sie diese im Rahmen der Strafnorm folgerichtig weiterentwickelt und ob sie sie der Würdigung des konkreten Falls zugrunde gelegt haben.“39 Damit legt das Gericht an die ordentliche Gerichtsbarkeit den Maßstab der einzig richtigen Entscheidung an. Dieser Figur bedarf es, um die angestrebte Kontrollierbarkeit (Revisibilität) zu gewährleisten.40 Um dem Einwand der Superrevisionsinstanz41 zu entgegnen, belässt der Senat der ordentlichen Gerichtsbarkeit dabei wieder einen Bereich der Vertretbarkeit und relativiert damit jenen Anspruch: „Dagegen wird ein - gegebenenfalls in höchstrichterlichen Obersätzen gefestigtes Normverständnis einer inhaltlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nur in dem Sinne unterzogen, dass es nicht evident ungeeignet zur Konturierung der Norm sein darf (vgl. BVerfGE 26, 41 mit - nur verstärkendem - Hinweis darauf, dass die gefestigte Aus38 Das fällt auf, weil zuvor nur allgemein von „Grundsätzen“ gesprochen wurde; vgl. die Entscheidung im Fall Wallraff (zu § 823 Abs. 1 BGB), wo die Aufgabe, „Grundsätze zu entwickeln“, ausdrücklich von der „unvermittelten einzelfallbezogenen Güter- und Interessenabwägung“ geschieden wird. Nur mittels solcher Grundsätze könne die Berechenbarkeit, Klarheit und Sicherheit des Rechts gewährleistet werden (BVerfGE 66, 116). 39 BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 83. 40 Neumann Wahrheit im Recht, 2004; der Zweifel in ders., Rechtstheorie 1996, 415 ff (zugleich in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 30 ff) bezieht sich auf die Konzeption bei Dworkin und Habermas. Rechtsvergleichend zur höchstrichterlichen Rechtsprechungsänderung einschließlich der Common Law Tradition siehe Probst, Die Änderung der Rechtsprechung, 1993, dort S. 21 ff zur Figur der einzig richtigen Entscheidung. 41 Beulke FS Maiwald, 2010, 25 f.

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legung „allgemein anerkannt“ sei). Insoweit werden - ebenso wie hinsichtlich der Anwendung der gegebenenfalls durch Obersätze konturierten und präzisierten Strafnorm - grundsätzlich keine Fragen des Verfassungsrechts aufgeworfen. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle strafgerichtlicher Entscheidungen am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG berührt nicht die Verantwortung der Gerichte, namentlich des Bundesgerichtshofs, für die Auslegung und Anwendung des Strafrechts.“42 Die konkrete Reichweite der Prüfungskompetenz im Verhältnis zu den Strafgerichten bleibt jedoch offen. Im Ergebnis zieht der Beschluss des BVerfG vom 23. Juni 2010 die Quintessenz aus früheren Entscheidungen. Über diese Systematisierung hinaus fügt er in zwei Belangen Neues hinzu. Die Kontrolle wird auf die Obersatzbildung bezogen und damit qualitativ erweitert. Sie gilt nun auch der Änderung einer gefestigten Rechtsprechung, was zu Anforderungen führt, die den Vertrauensschutz wahren und zugleich über ihn hinausgehen. Das ist folgenreich.

III. Tragweite und Folgen der Entscheidung Will man die Entscheidung angemessen analysieren, sind wenigstens drei Aspekte in den Blick zu nehmen: (1) Das technische Problem, wie Rechtsprechungsänderungen berechenbar werden, (2) die rechtstheoretische Frage der Voraussetzungen einer höheren Kontrolldichte und schließlich (3) der verfassungsrechtlich entscheidende Aspekt der Gewaltenteilung.

1. Techniken der Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung Das BVerfG geht jedenfalls davon aus, dass das Vertrauen der Normadressaten in den Fortbestand einer gefestigten Rechtsprechung schützenswert ist.43 Daran schließt die geläufige Frage an, wie sich der Vertrauensschutz bei einer Rechtsprechungsänderung gewährleisten lässt.44 Sie lässt sich unter den hier aufgeworfenen Fragen noch am leichtesten beantworten. Ein bewährtes Mittel des Rechtssystems liegt im Obiter Dictum. Es wird, das lässt sich bereits absehen, vor dem Hintergrund der hier analysierten Entscheidung eine Konjunktur erleben.45 Das aktuelle Beispiel der Strafbar42

BVerfG, 2 BvR 2559/08 v. 23.06.2010, Rn. 84. Zu diesem Ausgangspunkt im Schrifttum siehe Probst (Fn. 40) S. 474 Fn. 438 m. w. N. 44 Siehe bereits Birk, JZ 1974, 740, mit einer Analyse verschiedener Formen der Ankündigung. 45 Ausführl. Lilie, Obiter dictum und Divergenzausgleich im Strafrecht, 1993. 43

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keit des Compliance Officer illustriert dies. Compliance, d.h. Normtreue, die von reflexiver und dynamischer Art ist und eine institutionelle Gewährleistung von Selbstkontrolle nach sich zieht und zugleich ein weiteres Beispiel für die wachsende Bedeutung von Sekundärnormen liefert, ist ein vergleichsweise neues und zunehmend bedeutsames Phänomen. Nur in einem engen Sinn ist die Frage der Strafbarkeit einer neu auftretenden Berufsgruppe für die Berechenbarkeit bei Rechtsprechungsänderung nicht einschlägig, weil es an einer gefestigten Rechtsprechung noch fehlt. In einem weiteren Sinn ist jedoch die Ausbildung einer Fallgruppe zu bestehenden Tatbeständen auch von der Ratio der hier analysierten Entscheidung erfasst, was sub specie Vertrauensschutz leicht ersichtlich ist. Der 5. Senat des BGH hat in einem Obiter Dictum seiner Entscheidung vom 17. Juli 2009 die Strafbarkeit des Compliance Officer als Garant im Grundsatz bejaht und damit eine breite wissenschaftliche Diskussion ausgelöst, zu der in der Sache hier nicht Stellung genommen werden kann und muss. Die kommunikative Folge dieser Diskussion bei den betroffenen Normadressaten ist schon jetzt gewiss, zumal die Erwartung einer im Detail noch ungeklärten Strafbarkeit teilweise aus Geschäftsinteresse noch geschürt wird.46 Neben dem Obiter Dictum in einem das Verfahren regulär abschließenden Urteil bieten auch die Abschlussentscheidungen im Raum des Verdachts Gelegenheit zur Information über eine kommende Rechtsprechung. Der skandalträchtige Umstand, dass verfahrensabschließende Einstellungen aufgrund Opportunität (§ 153 ff StPO) der rechtlichen Überprüfung nicht zugänglich sind, führt dazu, dass solche Entscheidungen auch nicht begründet werden müssen. Nur in Ausnahmefällen findet sich so eine Begründung der Entscheidung. Die Beispiele von der innovativen Einstellung bei „Contergan“, zu einem Zeitpunkt, in dem § 153a StPO noch nicht geltendes Recht war, bis hin zur Einstellung im Fall Helmut Kohl, demonstrieren, dass eine Begründung erst dann gegeben wird, wenn eine Entscheidung auf mangelnde Akzeptanz stößt. Der Umstand, dass der 1. Senat des BGH in unmittelbarer Folge der hier erörterten Entscheidung eine Einstellung begründet, bestätigt diesen Umstand. In der Entscheidung vom 13. Sept. 2010 zu „Schelsky/AUB“ wurde der Untreuevorwurf nach § 154 StPO eingestellt. Dieser Beschluss wurde vom Senat in Ansehung der Entscheidung des BVerfG bewusst abweichend von der herkömmlichen Praxis umfänglich begründet. Maßgebliche Restriktionen der Rechtsprechung zum Untreuetatbestand, die durch die Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2011 vorgegeben wurden, werden in diesem Beschluss übernommen. Weitere Innovationen der Vorwegnahme einer rechtsverbindlichen Rechtsprechungsänderung können hier nur exemplarisch genannt werden. Wegen 46

Siehe Krüger, ZIS 2011, 1 m. w. N.

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des anhaltenden, durch die Digitalisierung des Wirklichen ausgelösten Strukturwandels der öffentlichen Kommunikation ist hier eine systematische Stellungnahme nicht möglich. Abschließendes kann noch nicht gesagt werden. Vielmehr muss mit neuen Mitteln der Information gerechnet werden. So ist nicht auszuschließen, dass die Rechtsprechung künftig einflussreiche Medien oder die einschlägigen Verbände der Anwaltschaft, sei es die BRAK oder den DAV, direkt von Überlegungen für eine neue Entscheidungspraxis informiert. Die für eine Systematisierung nötige Medientheorie des Rechts ist erst im Entstehen begriffen.47 Deshalb seien nur zwei Beispiele genannt. So hat der BGH bei der vorgenommenen Herabsetzung der Promillegrenze von 1,3 auf 1,1 Promille, um einem neuerlichen Vorwurf der Verletzung des Rückwirkungsverbots48 zu entgehen, den Vertrauensschutz dadurch gewährleistet, dass der Vorsitzende des befassten Senats in angemessener Frist im Weg mehrerer Äußerungen in Fachzeitschriften die Rechtsprechungsänderung angekündigt hat,49 was wiederum durch die Medien verlässlich den Normadressaten nahe gebracht wurde. Das könnte nun vermehrte Nachahmung finden. Indirekter Art und insoweit angreifbarer ist eine Variation dieses Mittels durch einen Richter des 2. Senats des Bundesgerichtshofs, der zugleich den für die Praxis einflussreichsten Kommentar des StGB herausgibt. Er hat im Weg eines Interviews für den „Spiegel“ angekündigt, dass er in der kommenden Auflage in der Kommentierung zur Bestechlichkeit im Geschäftsverkehr (§ 299 StGB) die Kassenärzte als Beauftragte der Kassen einstufen und sie damit dem Tatbestand unterwerfen werde.

2. Kontrolldichte und Richtigkeit Der Senat erhöht ausdrücklich die Kontrolldichte und schränkt damit den Entscheidungsspielraum der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein. Dieser Einschränkung der Vertretbarkeit entspricht rechtstheoretisch der Rekurs auf die Richtigkeit von Entscheidungen. Es liegt nahe, dies, wie die verwaltungsrechtliche Dogmatik zum unbestimmten Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum, anhand der Figur einer einzig richtigen Entscheidung zu

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Siehe dazu nur Vesting Ancilla Iuris 2010, 47 ff. Das Tatbestandsmerkmal der Fahruntauglichkeit wird für den Normadressaten maßgeblich mit der nicht aus dem Gesetz hervorgehenden Promillegrenze identifiziert; vgl. dazu bereits Naucke NJW 1968, 2321. 49 Salger DRiZ 1990, 19, ders. NZV 1990, 5 („Es gilt im konkreten Fall für eine Übergangsphase das Vertrauen in den bisherigen Grenzwert von 1,3 Promille zu erschüttern und auf seine mögliche Herabsetzung hinzuweisen. Ein solcher Versuch für den Bereich von Promillegrenzen wird mit diesem Beitrag unternommen.“). 48

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begreifen.50 Ohne eine Rezeption der deutschen Verwaltungsdogmatik, in der sie bereits vorher dem Verständnis von Richtigkeit zugrunde gelegt worden war, hat sie Dworkin rechtstheoretisch aufgegriffen, um in Abkehr des Positivismus seines Lehrers H.L.R. Hart eine emphatische Konzeption der Richtigkeit grundzulegen.51 Dass diese Figur schon vor der Diskussion in der Rechtstheorie im Strafrecht anhand der so genannten Punktstrafe aufgenommen wurde, ist lehrreich dafür, dass sie manchmal ontologisch verwendet wurde und sich damit selbst in Verruf brachte.52 Schon die Rede vom Punkt birgt eine Suggestion von Präzision, die irreführt. Die Frage ist nicht gestrig, da diese Theorie subkutan bei der Verständigung (§ 257c StPO) mit der Vorstellung von Unter- und Obergrenzen der Strafe eine Neuauflage erfährt. Auch hier ist allerdings zu bedenken, dass die Bildhaftigkeit von Punkt, Grenze und Linie schief ist.53 Dworkin hat, um den Anspruch der one right answer zu operationalisieren, eine Prinzipientheorie formuliert, für die die normtheoretische Gegenüberstellung von Regel und Prinzip elementar ist. Dies ist nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar, da der angloamerikanische Ausgangspunkt in einer case law-orientierten rule of law basiert.54 Demnach folgen die Gerichte keinen Maßgaben des Parlaments, sondern entscheiden in einem quasi vorstaatlichen Raum der Freiheit in einem ureigenen Kosmos ohne Zugriff des Gesetzgebers, was den von John Locke postulierten Freiheiten entspricht. Deshalb konnte die Gewaltenteilung kaum die Aufmerksamkeit des englischen Verfassungsrechts gewinnen, ein Umstand, der auch die amerikanische Reflexion der Gewaltenteilung lange bestimmte.55 Dworkins Forderung einer Integrität gerichtlicher Entscheidung jenseits der regelbestimmten rule of law zielt auf die Überwindung dieses Ausgangspunkts. Seine Dichotomie von Regel und Prinzip wurde in Deutschland von Alexy rezipiert und diente diesem dazu, eine genuine Grundrechtstheorie zu formulieren. Demnach sind Grundrechte keine Regeln, die durch einfache 50

So auch, i. E. kritisch, Neumann (Fn. 40). Dworkin Bürgerrechte ernst genommen, 1977, S. 58 ff; siehe Schulz Normiertes Misstrauen, 2001, S. 245 ff. 52 Arthur Kaufmann war es ursprünglich um die Scheidung von Erkenntnistheorie und Ontologie gegangen. Später legte er die These der Punktstrafe als „substanzontologisch“ ad acta, vgl. Neumann FS Spendel, 1992, 434 ff. 53 Schulz (Fn. 51); Neumann FS Spendel, 1992, 441. 54 Reinhardt Konsistente Jurisdiktion, 1997, plädiert rechtssystemübergreifend im Anschluss an Fikentschers Theorie der Fallnorm für eine institutional-approximative Präjudizienbindung, sieht dabei aber keinen Raum für die Figur der einzig richtigen Entscheidung. 55 Möllers Die drei Gewalten, 2008, S. 33. 51

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Subsumtion anwendbar wären, sondern Prinzipien, die zugleich als Optimierungsgebote ausgewiesen werden können. Nahe liegt bei diesem Verständnis eine Identifizierung von Prinzip und Optimierungsgebot, die sich in der Grundrechtstheorie von Alexy auch findet.56 Sprach Dworkin für seinen Begriff des Prinzips von einem Prima-facie-Sollen, so findet sich dies bei Alexy durch den Optimierungsgedanken präzisiert, eine Konzeption, die in der Verfassungsdogmatik weithin rezipiert wurde. Eine normtheoretische Schwierigkeit blieb dabei zunächst unbeachtet. Sie wird am Beispiel des Bestimmtheitsgrundsatzes schnell sichtbar. Zunächst gebietet es das Justizsystem, dass dieser Grundsatz als Regel gehandhabt werden muss.57 Er ist, schon bei der Entscheidung eines ordentlichen Gerichts, noch mehr aber im Weg der Verfassungsbeschwerde beim BVerfG, verletzt oder nicht. „Ein bisschen unbestimmt“ wäre hier keine Option, unabhängig von dem praktischen Befund, dass es ein Mehr oder Weniger an Bestimmtheit gibt.58 Zugleich entspricht es dem dogmatischen Hausverstand, dass das Gebot ein Optimierungsgebot ist.59 Die Rede des BVerfG von einer Präzisierung „nach Möglichkeit“ entspricht dem. Dabei geht es um Optimierung, nicht etwa um maximale Präzision („Präzision um jeden Preis“).60 Die als solche ohnehin zweifelhafte Präzision des Geldwäschetatbestands (§ 261 StGB) ist eben kein Beispiel des gesetzgeberischen Auftrags,61 einen Tatbestand deutlich und bestimmt zu formulieren.62 Unge56 „Der für die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien entscheidende Punkt ist, dass Prinzipien Normen sind, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß realisiert wird. Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote […]. Demgegenüber sind Regeln Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können.“ Alexy Theorie der Grundrechte, 1986, S. 75 f. 57 Siehe BVerfGE 109, 133 (172: „anders als das aus Art. 2 I i.V. mit Art. 20 III GG folgende allgemeine Vertrauensschutzgebot“). 58 Das dürfte auch für einen Ansatz gelten, der nicht-objektivistisches Mehr oder Weniger bei der (Sach-) Richtigkeit zulässt (so Neumann (Fn. 36) S. 161). Sind die prozeduralen Vorkehrungen tatsächlich „konstitutiv“ für die richtige Entscheidung (Neumann (Fn. 36) S. 161), liegt es nahe, sie als Regeln zu handhaben und damit dem Mehr oder Weniger zu entziehen. 59 Siehe nur Kuhlen (Fn. 2) S. 3 Fn. 19, mit Verweis auf Alexys klassische Konzeption; ders. FS Otto, 2007, 105 a. E. (Das Gebot sei „lediglich“ ein Optimierungsgebot, das mit anderen „Gesichtspunkten“ in „praktische Konkordanz“ zu bringen sei); siehe auch BGH JR 2005, 209 (211); a. A. Jähnke ZIS 2010, 462 Fn. 10. 60 NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 19; Schünemann (Fn. 2) S. 33 f. Das Postulat größtmöglicher Bestimmtheit (vgl. Satzger/Schmitt/Widmaier § 1 Rn. 20; MüKo-Schmitz § 1 Rn. 41) wird allerdings nicht als Maximierungsgebot verstanden. 61 So auch NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 41. 62 Die allgemein beobachtete philosophische Wende zur Neuzeit bei Descartes zeichnet sich durch das Streben nach certitudo aus, das bei Descartes selbst zur Forderung von ideae clarae et disctinctae führt. Diese wird im Recht aufgenommen. Vermutlich vermittelt über die Schule Christian Wolffs wird die Forderung nach einem Jus Certum in Deutschland von Carl Gottlieb Suarez in das 1794 in Kraft getretene „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“

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achtet der Grenzziehung zwischen Optimierung und Maximierung ist diese Optimierung neuerlich überprüfbar. So ergibt sich die Frage, ob der Gesetzgeber wie im vorliegenden Fall der Untreue nachjustieren muss, wenn er dies kann.63 Auch könnte man ihm abverlangen, bei bestehenden Formulierungsalternativen die eher bestimmte Alternative zu wählen, beispielsweise statt des Merkmals „in großem Ausmaß“ eine Quantifizierung vorzunehmen.64 Weiterhin wäre nach der genannten Konzeption des BVerfG zu fragen, ob nicht die Präzisierung eines bestimmbaren Tatbestands eine zunächst fehlende Bestimmbarkeit heilen kann. Diese zu verneinende65 Frage lässt sich durch die Annahme erledigen, dass der Umstand einer gefestigten Rechtsprechung als Indiz für eine von Anfang an bestehende Bestimmtheit gewertet wird66 - mithin nur mit dem klassischen Modalprinzip operiert werden darf, wonach alle Möglichkeiten der Auslegung von Anfang an gegeben sind.67 Im Hinblick auf die Dichotomie von Regel und Prinzip wäre diese nicht absoluter Natur, d.h. ein Prinzip könnte zugleich auch Regelcharakter haben.68 Auf das damit verbundene konstruktive Problem für Alexys Prinzipientheorie wurde früh aufmerksam gemacht69 und eine Reihe von normtheoretischen Konzeptionen provoziert, die auf eine Behebung des Problems zielten und hier auf sich beruhen mögen.70 Entscheidend ist der Anknüpfungspunkt bei Dworkin, dass eine einzig richtige Entscheidung (Interpretation) möglich bleiben muss, ein Ausgangspunkt, der trotz der Schwierigkeit mit dieser Figur für das Prinzip der Gesetzlichkeit unver(ALR) umgesetzt; Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 87 ff. Gesetze müssen demnach „deutlich und bestimmt“ abgefasst werden; Suarez, Vorträge über Recht und Staat, 1960, S. 16 (siehe auch S. 235). Für „Klarheit und Genauigkeit“ als Bedingungen von Verlässlichkeit, Voraussehbarkeit, Täuschungsfreiheit und Nachprüfbarkeit der Strafrechtspflege“ (Hervorh. i. O.) auch NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 20. 63 So NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 28 und MüKo-Schmitz § 1 Rn. 46. 64 Bei § 370 AO a.F. hat dessen Urheber im Gesetzgebungsverfahren, Jürgen Meyer (DStR 2002, 881), denn auch eine nachträgliche Restriktion über ein Rundschreiben des Bundesfinanzministeriums an die Obersten Finanzbehörden der Länder (BMF-Schreiben) empfohlen. Während der § 370a AO a.F. vom Bundesgerichtshof für obsolet betrachtet wurde und vom Gesetzgeber in der Folge bei Gelegenheit heimlich aufgehoben wurde, folgte der BGHSt 18, 360 (361) bei § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB der Konzeption des BVerfG. Ist es auch „für sich genommen ein unbestimmter“ Begriff, so erhält er „in der Interpretation durch die Gerichte seine den Anforderungen der Rechtssicherheit gerecht werdenden Konturen“ (BGHSt 18, 361). 65 Kuhlen FS Otto 2007 104 m. w. N. 66 Simon Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 449 f. 67 S. o. (Fn. 37). 68 Siehe auch Schulz (Fn. 51), S. 251. 69 Sieckmann Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990. 70 Siehe Poscher Rechtswissenschaft 2010, 349 ff.

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zichtbar ist, soweit mit ihm, das wird auch bei Dworkin hervorgehoben, Eingriffe in Grundrechte verbunden sind. Man mag diese Figur deshalb als regulative Idee handhaben, anders als Dworkin, der sie konstitutiv begriff und der Interpretation aufgab, eine ontologisch gegebene einzig richtige Entscheidung zu entdecken und dafür den quasi-übermenschlichen Richter Herkules als Agent der Interpretation bemühen musste.71 Die Konzeption einer regulativen Idee lässt es allerdings noch offen, ob es die einzig richtige Entscheidung tatsächlich geben kann.72 Die Pointe dieser Konzeption liegt ohnehin nicht bei dieser Frage, sondern im pragmatischen, prozeduralinstitutionellen Kontext. Es geht ihr um die Sicherstellung von Kontrolle bei Grundrechtseingriffen. Gibt es diese wie im Strafrecht in besonderem Maß, bedarf es besonderer Garantien. Das bringt gerade das Bestimmtheitsgebot zum Ausdruck, mit dem die rechtsstaatlich gebotene Bestimmtheit zugeschärft wird. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass nicht nur nach der vorliegenden Entscheidung das Gebot eine Norm mit Optimierungscharakter ist.

3. Die Erweiterung des Analogie- zum Präzisierungsgebot Das BVerfG spricht vom Analogieverbot in untechnischer Weise und deutet es als Gebot, den Tatbestand nach Möglichkeit zu präzisieren. Sobald man die Analogie im weiten Sinn handhabt, bleibt es eine Frage der terminologischen Verabredung, welche der beiden Redeweisen man vorzieht.73 Das Bild eines Präzisierungskontinuums illustriert die Rede davon, dass Gesetzgeber und Rechtsprechung funktional-arbeitsteilig zusammenwirken. Damit koinzidieren allerdings innerhalb der Viergliederung des Bestimmtheitsgrundsatzes74 zwei Funktionen des Bestimmtheitsgrundsatzes: lex certa 71 Dworkins starke Annahme entspräche im Strafrecht beispielsweise bei der Strafzumessung der klassischen Theorie der Punktstrafe. 72 So Neumann (Fn. 40); insoweit krit. Schulz ZIS 2007, 357 f. Die Differenz zu der von Neumann zurückgewiesenen These, dass es eine „an sich“ richtige Entscheidung gibt, die aber mit den gegebenen unscharfen Rechtsregeln und -prinzipien nicht erkannt werden könne (siehe ders. (Fn. 36) S. 159), erschließt sich nicht sofort. Sie ist dann essentiell, wenn hierzu „metaphysische“ und „soziale“ Existenz unterschieden werden. Mit Neumanns „Als ob“ wird ein weites, „soziales“ Feld erschlossen, auf dem umsichtiges Management gefragt ist, das jenes Teamwork zwischen Legislative und Judikative wirksam beaufsichtigt. 73 Roxin (Fn. 1) Rn. 36 spricht im Hinblick auf Analogie und erlaubter oder verbotener Analogie von „rein terminologische(n) Fragen, über die es nicht lohnt zu streiten“. 74 Bestimmtheitsgebot im engen Sinn (lex certa), Analogieverbot (lex stricta), Verbot der Rückwirkung (lex praevia) und Verbot des Gewohnheitsrechts (Gebot der lex scripta); siehe Roxin AT I § 5 Rn. 7 ff. Dass die lateinischen Bezeichnungen Stichworte sind, die nicht allzu streng genommen werden können, zeigt vor allem der Umstand, dass der Bestimmtheitsgrundsatz die Schriftlichkeit des Rechts, mithin eine lex scripta, voraussetzt und diese im Gefolge

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und lex stricta.75 Das mag man bedauern. Für die Alltagssprache, die von Rechtsanwendung spricht oder wie im österreichischen Rechtssystem das Urteil immer noch „Erkenntnis“ nennt, ist die Einebnung eher kontraintuitiv. Davon profitiert die elegante Rede von einem situativ gemünzten Angemessenheitsdiskurs, in dem andere Gründe zur Geltung kämen als im Normbegründungsdiskurs.76 Diese Rede würde im Hinblick auf die Gewaltengliederung das BVerfG zugleich auf den Angemessenheitsdiskurs beschränken,77 eine demokratietheoretisch gewiss liebenswerte Vorstellung, die allerdings naiv anmutet. Die richterzentrierte systemtheoretische Auffassung der Rechtsanwendung weiß das ohnehin, überbietet die Naivität allerdings mit einem Bekenntnis zur letztlichen Unbestimmtheit der Rechtsanwendung. Angemessener ist es, mit demokratietheoretisch schlechtem Gewissen allerlei Unbestimmtheit einzuräumen und gleichwohl auf Kontrollierbarkeit durch eine je andere Staatsgewalt und zusätzlich gewaltinterne, selbstreflexive Kontrollmöglichkeiten zu setzen. Die Einführung eines vom Begründungsdiskurs separaten Angemessenheitsdiskurses muss, bevor man ihre Vor- und Nachteile seziert, in ihrer diskurstheoretischen Pointe gesehen werden. Diese liegt in dem Vorzug, im Hinblick auf die im Begründungsdiskurs verortete Universalisierbarkeit den Einwand einer essentiellen Situativität diskursiver Verständigung abzuschneiden. Vorteilhaft an der Einführung ist die Forderung, bei der Normanwendung diskursiv alle normativen und situativen Gesichtspunkte zu berücksichtigen und dann unparteilich zu entscheiden. Dafür braucht es allerdings die Konstruktion eines spezifischen Diskurses nicht. Diese enthält sich auch in technischer Hinsicht eines Kriteriums für die Selektion von Gesichtspunkten, so dass ihre praktische Ergiebigkeit gering bleibt. Die Gefahr einer nichtuniversalistischen Entscheidungspraxis hängt allerdings auch daran, welche Ergiebigkeit man der Konstruktion attestiert.78 Verneint man diese gänzlich und diskreditiert den Anwendungsdiskurs als eine Art Programmkommission für ausrangierte Politiker,79 erscheint die Gefahr als übermächtig. Im

des neuzeitlichen Strebens nach certitudo notwendig als lex certa begriffen werden muss; siehe auch Kuhlen FS Otto 2007, 92 zum Stichwort der lex stricta. 75 Bei der Sitzblockadenentscheidung des BVerfG hatte Amelung NJW 1995, 2585 die „Ableitung“ der lex stricta aus lex certa als „auffällige“ Neuerung vermerkt; vgl. auch Mittelsdorf JuS 2002, 1062 Fn. 3 („Ausprägung“); anderer Ansicht Schroeder JuS 1995, 876 („Fehlauffassung“). Nach Simon (Fn. 66), S. 444 f erfolgte der Schritt ohne Not. 76 Günther Der Sinn für Angemessenheit, 1988. 77 Siehe Habermas, der Günthers Konstruktion übernimmt (265 ff), in: ders Faktizität und Geltung, 1992, S. 235 f, 294 ff. 78 Alexy in: ders. Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 63. 79 Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 87.

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Ergebnis ist der Ausgangspunkt vorzugswürdig, dass die Rechtsanwendung sich, im Einklang mit Günther, nicht in strategischem Handeln erschöpft und der Anspruch einer einzig richtigen Entscheidung aufrechterhalten werden kann.80 Konstruktiv genügt die Annahme eines praktischen Diskurses, in dem eben mit den unterscheidbaren Fragen der Begründung und Anwendung von Normen nur unterschiedliche Operationsformen am Werk sind.81 Das Gericht und noch die Staatsanwaltschaft ist der Neutralität verpflichtet, auch wenn letztere mit der Anklage nicht von der Tat überzeugt sein muss. Gleichwohl sind beide als Teilnehmer des praktischen Diskurses dem Anspruch der einzig richtigen Entscheidung ausgesetzt.82 Bei diesem Ausgangspunkt braucht es zunächst die gekünstelte Einschränkung des Bestimmtheitsgrundsatzes auf die Rechtsprechung nicht.83 Die Frage nach der Wortlautgrenze, dem möglichen Wortsinn, innerhalb dessen zu präzisieren ist, bleibt damit naturgemäß noch unbeantwortet.84 Dass für eine Antwort eine schlicht semantische Perspektive nicht genügt, ist rechtstheoretisches Gemeingut, das hier vorausgesetzt werden soll. Wenn man sich auf die Pragmatik der Wortverwendung einlässt,85 stößt man erwartungsgemäß auf eine komplexe Lagerbildung, die sich aus unterschiedlichen Begriffen von Pragmatik ergibt. Setzt man wiederum voraus, dass der Pragmatik des Sprachgebrauchs eine normative Dimension eigen ist, ergibt sich eine einfache Lagerbildung. Die Diskussion im Detail wiederzugeben ist hier nicht der Ort. Es soll genügen, auf unterschiedliche Lesarten der gegenwärtig vielleicht einflussreichsten normativen Pragmatik von Bran-

80 Siehe Habermas (Fn. 77) S. 277 ff, 285 f. Die Diskrepanz zwischen Situativität und Anspruch der einzig richtigen Entscheidung wird „durch das argumentative Verfahren der kooperativen Wahrheitssuche idealiter geschlossen“ (Hervorh. i. O.). Zugleich wird die Kanonisierung der juristischen Auslegungslehre unter den Vorbehalt des argumentativen Verfahrens im Gesetzgebungsprozess gestellt (S. 286). 81 Alexy in: ders. Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 56. 82 Für den Richter Alexy Begriff und Geltung des Rechts, 1994, S. 64; ausführl. Schulz (Fn. 51), S. 254 ff. 83 So aber mit dem Argument der Doppeldeutigkeit von „Bestimmen“ Kuhlen FS Otto, 2007, 94 m. w. N., der den Gesetzgeber konsequent nur an Art. 20 Abs. 3 GG messen möchte, dabei aber wiederum nur einen „perspektivischen“ Unterschied erkennen kann. 84 Vgl. NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 82, 92 für hard cases; monographisch siehe Klatt Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 31 ff und Simon (Fn. 66), S. 111 ff zum Verhältnis von Umgangssprache und Fachsprache. 85 Vgl. Klatt (Fn. 84) 2004; Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004. Anders als Klatt, der sich auf Brandom bezieht, votiert Bung für eine mit Davidson geläuterte „semantische“ Perspektive, in der auch im Recht der Wahrheitsbegriff als Grundbegriff benutzt werden darf. Zur Ablösung der Semantik durch Pragmatik siehe auch Christensen/Kudlich (Fn. 79) passim, sowie auch Kudlich, FS Stöckel, 2009, 103 f.

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dom zu verweisen.86 Es ist der weitreichende Versuch,87 soziales Handeln ohne Intentionalität zu beschreiben, indem die in jedem Handeln implizierten Normen in einem Modell der deontischen Buchführung expliziert werden.88 Traditionelle Semantik weicht hier kommunikativer Pragmatik, der ein experimenteller, lerntheoretischer Konstruktivismus des Gebens und Nehmens von Gründen eigen ist. Während diese Pragmatik auf der einen Seite gewissermaßen hemdsärmelig gehandhabt wird und ihr deflationär ein verbindlicher Anspruch auf Richtigkeit abgesprochen wird,89 wird sie auf der anderen Seite mit diesem Anspruch instrinsisch verknüpft.90 Nach der realistischen Lesart normativer Pragmatik, mit der im Grundsatz Richtigkeit im Sinne einzig richtiger Interpretationen vorausgesetzt wird, räumt man ein, dass das Recht verbindliche – und sanktionierbare - Praktiken der Interpretation entwickeln kann und dabei in einem je verschiedenen institutionellem Gefüge Präzisierungen, d.h. konkretere Rechtsbindungen möglich sind. Es ist hier bewusst von Praktiken die Rede,91 um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Suggestion einer gelingenden Sicherung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes durch canones der Auslegung irreführt. Es entspricht dem Optimierungsgebot, den Grundsatz über jene hinaus sicher zu stellen. Die Auslegungslehre muss eingebettet werden in eine rechtswissenschaftliche Sicherung durch Dogmatik und eine institutionelle Sicherung durch Routinen.92 Dass schließlich der Gesetzgeber in eine hinreichende Vorleistung getreten sein muss, die nach der vorliegenden Entscheidung zumindest in einer bestimmbaren Norm mit direktiver Kraft besteht,93 wird gerne vergessen. Die regulative Idee der einzig richtigen Entscheidung an eine Norm heranzutragen, die diese Vorgabe nicht erfüllt oder gar in vernunftrechtlicher Terminologie nicht rational ist, wäre kontraproduktiv. In den Kontext einer systematischen Sicherung des Grundsatzes gilt es die Figur der gefes86 Vgl. beispielhaft Christensen/Kudlich (Fn. 79) S. 275 ff, die für ihre „Theorie der Praxis“ auf Brandom zurückgreifen. Zu Brandoms normativer Pragmatik siehe Schulz (Fn. 51), S. 265 f. 87 Der Versuch führt den Pragmatismus von Peirce mit dem Gedankengut Hegels zusammen. 88 Buch geführt wird über Verpflichtungen und Berechtigungen. Beide Elemente konstituieren Intentionalität. Entscheidend ist die Ich-Du-Perspektive, in der die irreduzible Dialogizität des deontologischen Spiels von Begründung eingebettet wird. 89 Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 8) S. 302. Der deflationären Vereinnahmung durch Richard Rorty ist Brandom Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), 189 ff entgegengetreten. 90 Siehe Klatt (Fn. 84). 91 Siehe Schulz (Fn. 51). 92 NK-Hassemer/Kargl § 1 Rn. 102 ff. 93 Siehe auch Habermas (Fn. 77) S. 286.

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tigten Rechtsprechung zu stellen. Dann mag es auch hinzunehmen sein, dass ihre Situierung zwischen Primär- und Sekundärnormen nach wie vor problematisch ist und das einprägsame Bild vom „juristischen Halbleiter“ immer noch passt.94 Ob die Konzeption des BVerfG zulässig oder gar geboten ist, folgt der Funktionsverteilung staatlicher Gewalt. So unterschiedlich diese im Rechtsvergleich sein mag, besteht eine durchaus erstaunliche Einigkeit darin, dass für eine funktionierende Teilung der Gewalt zumindest eine Dreiheit vorauszusetzen ist, die man als Ergebnis der historischen Entwicklung als Legislative, Exekutive und Judikative identifiziert. Das mag sich dem kommunikationstheoretischen Umstand verdanken, dass die Dreiheit eine Grundstruktur für gelingende Kommunikation liefert.95 Die Teilung der Gewalt wäre nämlich als Trennung der Gewalten, mithin ihrer kommunikativen Isolierung missverstanden. Der Teilung der Gewalt (power, pouvoir) ist zwar immer auch eine Abwehrfunktion (Mäßigung der Staatsmacht) eigen, die bereits in der antiken Tradition einer Bändigung der Tyrannis aufscheint.96 Sie liefert aber, vermutlich in der Hauptsache, ein Strukturmodell für die Rechtserzeugung. Nicht Hemmung und Beschränkung allein, sondern Konstituierung und Balancierung sind demnach der „Dreiklang grundgesetzlicher Gewaltenteilung“97. Mit dieser Formulierung verbindet sich eine Betonung der Funktionalität der Aufteilung der Gewalten. Geht es nach dem BVerfG, soll die Dreigliederung garantieren, „dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, d.h. von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“ und „auf eine Mäßigung der Staatsgewalt insgesamt hinwirken“98. Spätestens im Gefolge der gescheiterten Revolution von 1848 rückte in der deutschen Diskussion der Gewaltenteilung die Idee des Rechtsstaats ins Zentrum, die zum Substitut für die unerreichte parlamentarisch eingebettete Volkssouveränität wird. Damit war die Einrichtung systematischer gerichtlicher Kontrolle des staatlichen Handelns der Verwaltung verknüpft, die einherging mit dem Votum für umfassende Legalität, d.h. von Gesetzen, die von der Volksvertretung (mit) beschlossen und vom Monarchen sanktioniert werden. Während in Frankreich der Justiz im Gefüge der Gewalten die geringste Bedeutung zukam und die angelsächsische rule of law eine gerichtliche Überprüfung ohne Gesetz zuließ, wurde in Deutschland das Ge94

Neumann (Fn 36) S. 156. Siehe Schulz in: Seelmann (Hrsg.), Subjekt und Kulturalität II, 2011, S. 229, 241 ff. 96 Stolleis, in: ders. Staat und Staatsraison in der frühen Neuzeit, 1990, S. 167. 97 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland I, 1987, S. 1012. 98 BVerfGE 68, 1 (86); siehe auch 95, 1 (15); 98, 218 (251 f). 95

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setz das Mittel, das staatliche Handeln zu rationalisieren. Schon die Weimarer Verfassung bereitete den Weg des Grundrechtsschutzes durch Gerichte, dem eine objektive Komponente zuwächst, die in der späteren Rede von einer „objektiven Werteordnung“ oder, nüchterner, in der spezifisch deutschen These einer Schutzfunktion der Grundrechte mündet.99 Wenn man für die deutsche Rechtsordnung mit einer rechtsvergleichend eminenten grundrechtlichen Durchdringung der gesamten Rechtsordnung und der flankierenden nicht weniger eminenten Kontrollfunktion des BVerfG eintritt, das zum Vorbild der post-autoritären oder post-totalitären Demokratien in Spanien, Polen, Ungarn und Südafrika wurde, muss man sich der demokratietheoretischen Schattenseite dieses Umstands bewusst bleiben.100 Analysiert man die vorliegende Entscheidung vor diesem Hintergrund, besticht die Lösung, die in die Kontrolle von Rechtsprechungsänderungen hinein getrieben wird, durch eine hohe Funktionalität. Diese Effektivität der Kontrolle wirft Licht auf die künftig weiter zu entfaltende Rede von „Anforderungen“, die über den Vertrauensschutz hinausgehen und auf eine nicht-folgenorientierte, prozedural-deontologische Begründung hinauslaufen dürfte. Diese Erwartung entspricht jedenfalls der Genese des Bestimmtheitsgrundsatzes, bei der die abwehrrechtliche Funktion als Palladium gegen staatliche Willkür nur eine treibende Kraft war.101 Fast müßig wirkt hier die geläufige Frage, ob die Konzeption des Gerichts der Rechtsfortbildung das Wort redet und damit den Gesetzgeber enteignet.102 Auch wenn einer gefestigten Rechtsprechung darin notgedrungen normatives Gewicht zuwächst, hält das Gericht daran fest, dass der Tatbestand die Rechtsprechung dirigiert. Dem Gesetzgeber bleibt es schließlich unbenommen, im Hinblick auf eine gefestigte Rechtsprechung ein neues 99

Ausgehend von der „Lüth“-Entscheidung des BVerfG. Siehe Böckenförde, in: ders. Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 159 ff; siehe auch Haller Einführung, in Haller/Günther/Neumann (Hrsg.), Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa. Gerichte als Vormund der Demokratie?, 2011. 101 Zur Entwicklung der Gesetzesbindung in der Naturrechtslehre der Aufklärung bis zu Kant siehe Schreiber Gesetz und Richter, 1976, S. 38 ff. Zu ergänzen ist der interne Zusammenhang zwischen Gesetzlichkeit und Entstehung des öffentlichen Strafrechts, vgl. zuletzt Landau FS Maleczek, 2010, 241. Das kanonistische Rechtssystem ist so der Beginn moderner Gesetzlichkeit; vgl. Berman Recht und Revolution, 1995, S. 190 ff, 307 ff sowie MartinezTorrón, Anglo-American Law and Canon Law, 1998, S. 167, beide mit dem Satz von Petrus Lombardus: Non enim consisteret peccatum si interdictio non fuisset („Es gibt keine Sünde ohne vorangegangenes Verbot“). Die Berechenbarkeit in abwehrrechtlicher und gewaltengliedernder Hinsicht dürfen dabei nicht isoliert gesehen werden, siehe Schulz (Fn. 51). 102 Das Spektrum der Deutungen ist breit. Einerseits wird der Status einer Rechtsquelle bestritten (Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 432: bloße Quelle der Rechtserkenntnis), auf der anderen Seite zuerkannt (Fikentscher Methoden des Rechts IV, 1977, S. 143 f: Quelle von Fallnormen). 100

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Wort zu sprechen, sei es durch Übernahme oder durch Zurückweisung der Rechtsprechung. Funktional entscheidend ist, dass mit der vorliegenden Entscheidung die Auffassung zurückgewiesen wird, dass die Judikative auch dann nicht gegen die Gliederung staatlicher Gewalt verstößt, wenn die Entscheidung eines Gerichts „besonders abwegig oder unüblich“ ist. 103 Hält man an der funktionalen Perspektive fest, dass es um wachsende Richtigkeit geht, ist das Gewaltengliederungsprinzip mehr als ein Verfahrensprinzip, das keine Vorgaben für das materielle Recht enthält.

IV. Fazit Mit der vorliegenden Entscheidung fasst das BVerfG seine Rechtsprechung zur Bestimmtheit einzelner Tatbestände zusammen und erstreckt sie auf sämtliche Tatbestände. Das Analogieverbot, das nach traditionellem Verständnis eine Rechtsanwendung jenseits des möglichen Wortsinns ausschließt, wird als Präzisierungsgebot vorgestellt. Dieses Gebot ist eine Regel mit Optimierungscharakter.104 Damit kann eine vertretbare, der gesetzgeberischen Direktive jedoch nicht entsprechende Auslegung innerhalb des möglichen Wortsinnes ausgeschlossen werden. Neu ist, dass der Bestimmtheitsgrundsatz – nicht nur aus Gründen des Vertrauensschutzes – auf Rechtsprechungsänderungen ausgedehnt wird und dafür zugleich die Kontrolldichte erhöht wird, indem der regulative Anspruch einer einzig richtigen Entscheidung auch auf die Obersatzbildung bei Fallgruppen bezogen wird. Die stärkere Kontrollmöglichkeit des BVerfG, die eine materiell an Richtigkeit ausgerichtete Auffassung der Gewaltenteilung fortschreibt, ist zu begrüßen. Das Gericht interpretiert damit den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG in einer Weise, die den Grundsatz vor dem Hintergrund eines zunehmenden Einflusses europa- und internationalrechtlicher Rechtsgestaltung auf das deutsche Recht im „Wettstreit der Rechtsordnun-

103 So aber Möllers (Fn. 55) S. 105: „Die abwegige Gesetzesauslegung eines Gerichts mag ansonsten gegen Gesetz oder Verfassung verstoßen, aber sie verstößt solange nicht gegen die Gewaltengliederung, wie das Gericht in seinen Verfahren noch als Gericht handelt, also etwa nicht auf eigene Initiative entscheidet. Interessanterweise wird die Sicht von Verfassungsgerichten häufig nicht geteilt, die, wenn ein unteres Gericht eine besonders ungewöhnliche Gesetzesauslegung praktiziert hat, einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip feststellen.“ 104 Der von Küper, NStZ 2008, 600 geäußerte Zweifel gegenüber Kuhlens Feststellung, dass dies der Rechtsprechung des BVerfG entspricht (so ders., FS Otto, 2007, 97), hat sich mit dieser Senatsentscheidung erübrigt. Die viel zitierte, im 92. Band noch im Sondervotum enthaltene Feststellung, dass die Auslegung auch innerhalb des möglichen Wortsinns nicht weitergehen darf, „als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen“ (BVerfGE 92, 1, (20)) entspricht dem hier Festgestellten.

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gen“ gut aufstellt.105 So gilt der Gesetzlichkeitsgrundsatz auch im Unionsrecht. Während nach Art. 7 Abs. 1 EMRK kein förmliches Gesetz vorausgesetzt und damit gesellschaftlichen Anschauungen die Türe direkt geöffnet ist,106 kann dem für das deutsche Recht entgegen getreten werden.107

105 Zu dieser Perspektive Jähnke ZIS 2010, 469 f. Wettstreit heißt, was insbesondere im Völkerstrafrecht erkennbar ist: Dass das anglo-amerikanische Rechtsdenken Gesetzgebung und Rechtsprechung vehement beeinflusst; Satzger, JuS 2004, 943ff. 106 EGMR NJW 2001, 3038 (= Rn. 50) mit Rekurs auf S.W. vs. UK vom 22. Nov.1995 (ÖJZ 1996, 356), einem Fall, in dem der Beschwerdeführer in Großbritannien wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilt worden war, obwohl nach Common Law seit dem 18. Jahrhundert galt, dass die Eheschließung die allgemeine Zustimmung zur „Vergewaltigung“ enthalte (defence of marital immunity). Nach dem EGMR sei die Rechtsänderung mit dem Wesen des Verbrechens vereinbar, weil sie aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und einer Reformdiskussion „vernünftig“ vorhersehbar war. 107 AnwK-StGB/Gaede § 1 Rn. 3 m. w. N. Das betrifft den europäischen Haftbefehl. Lässt man richtigerweise im Zweifelsfall eine materielle Prüfung zu, ist nicht ausgeschlossen, dass nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG i.V. mit dem ordre publicVorbehalt) der hinreichende, nach deutscher Vorgabe dringende Verdacht mangels Bestimmtheit einer Norm ausscheidet.

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts

Handlungseinheit und Konkurrenz bei nicht zweckorientiertem Handeln JUAREZ TAVARES

Im Rahmen der Konkurrenzen ist es, wie Roxin treffend bemerkt hat, immer noch nicht befriedigend geklärt, wann eine Handlung vorliegt und wann mehrere Handlungen gegeben sind.1 Dieses Problem ist nicht nur eine Frage der deutschen Strafrechtsdogmatik, sondern auch der anderer Rechtssysteme, wie dem brasilianischen, in dem diese Unterscheidung eine noch wichtigere Rolle spielt, weil Handlungsmehrheit zu kumulativen Strafen führen kann, also zu gravierenden Konsequenzen für den Verurteilten.2 In Ergänzung zu dieser Frage sagt Roxin noch, der Handlungsbegriff des Straftatsystems sei ungeeignet für jede Konkurrenzlehre, weil dieser Begriff nur die Mindestanforderungen an das strafbare Verhalten festlege und seiner Natur nach einen vortatbestandlichen Ursprung habe, während der Handlungsbegriff der Konkurrenzlehre nur Tatbestandsverhalten beschreibe.3 Diese Betrachtungen Roxins regen dazu an, mit den Überlegungen zum Thema auf einem anderen Gebiet anzusetzen, nämlich dem des Handlungsbegriffes selbst und seiner Rolle für alle Strafrechtsfragen, auch für die Konkurrenzlehre. Könnte man nicht mit lediglich einem einheitlichen Handlungsbegriff für alle Verwendungen dieses Wortes arbeiten, oder bedarf es unbedingt zweier oder mehrerer Handlungsbegriffe, also auch eigens eines für die Konkurrenzen geeigneten? Roxin ermutigt, dieser Frage nachzugehen, indem er indirekt doch indiziert, dass bei Konkurrenzen fahrlässiger Verbrechen noch ein vortatbestandlicher Handlungsbegriff vorkommen kann: „Wenn ein Fahrer dagegen infolge mangelnder Aufmerksamkeit die Herrschaft über seinen Wagen verliert und dieser daraufhin mehrere Passanten überfährt, ohne dass der Fahrer zwischenzeitlich die Gewalt über das

Mit besonderem Dank an Prof. Dr. Fabricius für die hilfreiche Korrektur des Textes. Roxin AT II § 33 Rn. 10. 2 Art. 69 bras. StGB: Wenn der Täter durch mehrere Handlungen oder Unterlassungen zwei oder mehrere ähnliche oder verschiedene Verbrechen begeht, werden ihm die angedrohten Strafen kumulativ zuerkannt. 3 Roxin AT II § 33 Rn. 11. 1

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Fahrzeug hätte wiedererlangen können, liegt eine Handlungseinheit vor.“4 Die Ausdrücke „Herrschaft“ und „Gewalt“ über den Wagen geben schon deutlich an, dass es hier nicht mehr um eine reine tatbestandsmäßige Handlung geht, sondern um eine Erwägung über die Entwicklung einer vom Täter beherrschten Kausalität, was eine weitere Diskussion über die Nützlichkeit eines doppelten Handlungsbegriffes für die Verbrechensstruktur einerseits und die Verbrechenskonkurrenz andererseits fördern kann. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, auf die Suche nach einem Handlungsoberbegriff zu gehen, was seit langem von der Strafrechtsdogmatik aufgegeben wurde, sondern eben zu diskutieren, ob es möglich wäre, dieselbe Handlungsstruktur für beide Gebiete zu benutzen, um den konkreten Fall einer Kohärenzentscheidung unterzuordnen.

I. Die Entscheidung über die Handlungsgegenstände Die Strafrechtsdogmatik sucht immer nach einer definitiven Lösung ihrer verschiedenen Fragen, als bestimmte und präzise Formel. Es ist die konstante Verfolgung der Stabilität als Überwindung des Komplexen, des Widersprechenden und des Unbekannten. Ein solches Merkmal der Strafrechtsdogmatik scheint ein Reflex der Bedeutung der Wissenschaft der Modernität zu sein, die, wie es von Prigogine gezeigt wurde, auch in der positivistischen Tradition unter den Oberbegriff der Naturgesetze eingeordnet wird.5 Um die Naturgesetze für ein bestimmtes Gebiet zu entdecken, braucht man keinen anderen theoretischen Aufbau zu schaffen, sondern nur sie auf diesem Gebiet zu verwenden, um eine richtige Entscheidung für den konkreten Fall zu erlangen. Andererseits kann die Herstellung einer Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt auch auf der Grundlage eines nicht in der Natur vorhandenen und in der Erfahrung überprüften Merkmals, sondern unter normativer oder ontologischer Einsicht gelingen, was von der Strafrechtslehre als eine Überwindung eines positivistischen Gedankens angesehen werden sollte. Wie Habermas betreffend die hermeneutischen Wissenschaften schon sagte: „Kein Anzeichen weist ernstlich darauf hin, dass ihre Verfahrensweisen dem Modell der strikten Erfahrungswissenschaften ganz integriert werden können.“6 Unabhängig von der positivistischen Tradition, die noch in unserem Rechtsdenken vorhanden ist, werden in der Rechtswissenschaft, als normativer Wissenschaft, ihre wichtigen Fragen auf die Stabilität hin orientiert, obwohl der Handlungsbegriff 4

Roxin AT II § 33 Rn. 68. Prigogine Les fin des certitudes, 1996, S. 125. 6 Habermas Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1985, S. 89. 5

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weder eine natürliche Konsequenz einer Realitätsbetrachtung sein soll, wie es vom Positivismus gedacht wurde, noch eine reine Rechtsformulierung im Sinne eines Strafrechtsbegriffes, wie von Radbruch entfaltet.7 Wenn es akzeptiert würde, dass alle Rechtsbegriffe das Ergebnis einer Entscheidung sind, oder besser, einer linguistischen und argumentativen Feststellung, die das Empirische unter dem Normativen nachbildet, könnte man noch versuchen, einen Handlungsbegriff zu finden, der einem solchen Feststellungsverfahren entspräche und sowohl dem Straftatsystem, wie auch der Konkurrenzlehre diente. Vor allem muss man aber bemerken, dass das von der Rechtswissenschaft hergestellte Paradigma der Stabilität einer Rechtsordnung, wie es dem positivistischen Modell entstammt, im Sinne einer Universalität der Rechtssätze und der Zeitlosigkeit ihrer Anwendung, zu einer deterministischen Ausgleichung führt, in der als erste Konsequenz die Person eliminiert wird. Scharfsinnig erklärt dies Morin – auch bezüglich anderer Erkenntnisgebiete – : Zuerst wird das Individuum aus dem Erkenntnisverfahren entlassen und durch neutrale und objektive Begriffe ersetzt; dann wird es aus der Psychologie ausgeschlossen und zu Anreiz, Antwort und Verhalten gewechselt; es wird auch aus der Geschichte, der Anthropologie und Soziologie zugunsten des sozialen Determinismus, der Struktur und der Organisation eliminiert.8 Die Eliminierung des Individuums spielte dieselbe Rolle und hat dieselbe Bedeutung des Zeitverlustes, ein Paradigma zu der Stabilität der Rechtssätze, aber mit unberechenbarer Konsequenz für die Personen als Normadressaten. Eine Norm gilt im Prinzip für immer: Das ist die Stabilitätsvoraussetzung der Rechtsordnung; auf diese Weise expliziert die Strafrechtslehre auch Universalitätsbegriffe, die im Prinzip zeitlose Merkmale tragen sollen. In dem Maße, in dem die Strafrechtslehre in ihrem Schmelztiegel zeitlose und subjektsfreie Begriffe produziert, entfaltet sich eine „Entgesellschaftung“ bzw. kognitive Dissonanz der Rechtsadressaten vor der Rechtsordnung.9 Als passende Antwort auf diesen Sozialisationsbruch durch die Rechtsordnung mittels der Subjektseliminierung hat Roxin den personalen Handlungsbegriff formuliert, der, unabhängig seiner strikt avisierten Anwendung für das Straftatsystem, eine Kohärenz der Rechtsordnung in all ihren Gebieten hervorbringen kann – schon eine hervorragende Konsequenz. Seit der Habermas´schen Formulierung des kommunikativen Handelns und seiner Kritik am instrumentellen bzw. strategischen Handlungsbegriff10 7

Radbruch FS Frank, Bd. 1, 1930, 161. Morin Le concept de sujet, in: Alain Touraine Penser le sujet, 1999, S. 47-55. 9 Böhnisch/Lenz/Chröer Sozialisation und Bewältigung, 2009, S. 54; Sennett Der flexible Mensch, aus dem Amerikanischen von Martin Richter, 2000, S. 120. 10 Habermas Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1995, S. 292. 8

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ist auch für die Rechtswissenschaft ein neuer Weg, Kritik an den traditionellen strafrechtlichen Handlungsbegriffen zu üben, eröffnet, da die Strafrechtslehre normalerweise mit rein instrumentellen Begriffe arbeitet. Dazu könnte man vielleicht mit den Habermas´schen Worten beginnen: „Für die Analyse des Handlungsbegriffs ist das Konzept der Regelbefolgung fundamental, während der Aspekt der Zwecktätigkeit oder der Zielerreichung erst unter kausalen Fragestellungen relevant wird“.11 Regel im Habermas´schen Sinne wäre hier im Wesentlichen nicht als ein Mittel zu einem Zweck zu verstehen, sondern als ein Referenzobjekt, woran der Handelnde seine Mittel orientiert, weil sie zu den Umständen gehört, unter deren Geltung er sagen kann, worin sein Wissen besteht. Dieses Wissen hat mit den Regeln des Zentralnervensystems oder mit der Kompetenzbestimmung nichts zu tun; solche Regeln dienen einer Infrastruktur des Handelns,12 aber integrieren das Handeln nicht nur als rechtliche menschliche Tätigkeit, sondern auch als soziales Handeln. Das Wissen, worüber man sprechen sollte, bezieht sich zuerst auf einen empirischen Kontext, in dem sich instrumentelle Handlungen entwickeln; danach auch auf Konventionen, die den empirischen Kontext regulieren und die sozialen Handlungen unterstützen; auch auf Erfahrungen, Kulturzustände und Verhalten; und endlich auf die Tragweite der Strafrechtsnormen, die den Sinn der verbotenen bzw. gebotenen Tätigkeit erklären. Ohne dieses Wissen könnte der Mensch weder seine Körperbewegung sozial koordinieren noch komplexere Operationen vollziehen. Das Problem eines rein instrumentellen Handlungsbegriffes, wie dem der kausalen oder der finalen Handlungslehre, liegt darin, die menschliche Tätigkeit als eine technische Aufgabe aufzufassen, die nur auf der Mittel-Zweck-Beziehung aufgebaut ist. Wie Habermas sagt: „Im instrumentellen Handeln nimmt das Subjekt mit den Gegenständen keine kommunikative oder gegenseitige, sondern eine zweckorientierte oder einseitige Beziehung auf.“13 Das führt zu der Konsequenz, dass es hier keine andere Beziehung zu anderen Subjekten gäbe, was für die Rechtsordnung fragwürdig ist. Um das Subjekt als Zentralfigur der Rechtsordnung wieder einzusetzen und einen Sozialisationsbruch zu beseitigen, wäre eine nicht auf alleiniger Mittel-Zweck-Beziehung verfasste Handlungslehre zu erarbeiten, mit einem Begriff, der auch die sozialen und rechtlichen Regeln an sich miterfasst, was auch zu einem performativen Handlungsbegriff führen könnte. In diesem Sinn hat schon Max Weber bemerkt: „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens) kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder künftig erwarteten Verhalten anderer (Rache für 11

Habermas (Fn. 6) S. 273. Habermas (Fn. 6) S. 275. 13 Habermas (Fn. 6) S. 277. 12

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frühere Angriffe, Abwehr gegenwärtigen Angriffs, Verteidigungsmaßregeln gegen künftige Angriffe).“14 Das heißt, jede Handlung hat als Voraussetzung die Existenz eines Anderen und auch die Befolgung von Regeln, ohne die sie nicht als sozial und rechtlich angesehen werden darf. Die Entscheidung für einen solchen Handlungsbegriff bedeutet nicht, zu dem aufgegebenen Handlungsoberbegriff zurückzukehren, der für alle Gebiete des Strafrechts geeignet wäre. Hier könnte man dem Habermas´schen Vorschlag eines angemessenen Diskurses folgen, in dem Sinn von Günthers Abwägung, nach der keine antizipierte korrekte Lösung verhängt werden darf, sondern eben nur die, die den Fall besser löst, aber unter der Voraussetzung einer demokratischen Ordnung,15 in die das Subjekt als Zentralfigur einzusetzen sei und welche die anderen ebenfalls als unter den Rechtsnormen stehende Subjekte ansehe. Die Stellung der Person als Zentralfigur der Rechtsordnung und eines Handlungsbegriffes ist nicht nur eine Konsequenz eines demokratischen Staats, sondern dient auch den empirischen Zuständen der Gesellschaft, die nicht als eine Masse von Körpern angesehen werden darf.16 Zumal eine performative Handlung immer ein Referenzobjekt braucht, das nicht nur aus empirischen Daten besteht, sondern hauptsächlich Verhaltensregel sein soll, kann man schon feststellen, dass ein Handlungsbegriff für das Straftatsystem sowohl vortatbestandliche, wie auch tatbestandliche Gegenstände enthalten soll, die implizit in allen seinen Äußerungen erscheinen. Im Folgenden soll nun dargetan werden, dass diese Konklusion nicht im Widerspruch zu Roxins Handlungsbegriff steht, der den Weg für neuere Thematisierungen von Handlungsgegenständen eröffnet hat.

II. Handlungseinheit und performativer Handlungsbegriff Wenn es um strafrechtlich relevante Handlungen geht, wäre es nicht adäquat, lediglich über kommunikatives Handeln zu sprechen. Die Frage nach einem strafrechtlich geeigneten Handlungsbegriff sollte sich auch nicht exklusiv auf den Konsens der Rechtsadressaten hin orientierten, was eben für die Legitimierung der Rechtsnormen und auch der Kriminalisierungsarten erforderlich ist, sondern hauptsächlich auf Gegenstände des Dissenses hin, 17 der sich entweder als unerlaubtes Risikoverhalten oder als schädliche Handlung äußert. Es wäre besser, über einen performativen Handlungsbegriff zu 14

Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 11. Habermas Faktizität und Geltung, 1994, S. 315; Günther Der Sinn für Angemessenheit, 1988, S. 49. 16 Krüger Kommunikatives Handeln oder gesamtgesellschaftliche Kommunikationsweise, in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 2002, S. 245. 17 Arielli Unkooperative Kommunikation, 2005, S. 21. 15

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verhandeln, aber unter den Voraussetzungen einer demokratischen Ordnung, welche die Begrenzungen für nicht-empirische oder wahrnehmungslose Gegenstände zur Orientierung der Adressaten setzt. Die erste Frage zu einem performativen Handlungsbegriff und seiner Nützlichkeit für die Konkurrenzregeln ist, ob ein solcher Begriff die Aufgabe des Straftatsystems ausfüllen kann oder nicht, das heißt, ob man auch ähnliche Begriffe benutzen kann, um die Entscheidung für die Handlungseinheit bei Verbrechenskonkurrenz zu erreichen. Als performative Handlung ist diejenige zu verstehen, die – im Gegensatz zu einem zweckorientierten Verhalten, bei welchem der Handelnde agiert im Hinblick auf „das Eintreten eines erwünschten Zustandes, indem er in einer gegebenen Situation erfolgversprechende Mittel wählt und in gegebener Weise anwendet“,18 – die Gegenstände des Kontextes, die Lebenswelt, die Verhaltensregeln und die Entscheidungen weiterer Akteure als Verhaltensorientierungsreferenz mitberücksichtigt. Eine performative Handlung setzt damit voraus, dass sie zu einem von einer Person geführten Verfahren gemacht19 und deshalb auch unter sozialisatorische Interaktion eingeordnet wird, unabhängig davon, ob der Täter mit den anderen in Konsens oder in Dissens handelt.20 Dies stimmt auch in etwa mit Roxins Formulierung eines personalen Handlungsbegriffes überein. Soweit die performative Handlung sich in einer sozialen Interaktion befindet und an deren Gegenständen orientiert, spielt auch hier die soziale Bedeutung von Handlungssinn und Lebenswelt eine Rolle,21 die das Verhalten als Rechtsnormengegenstand besser zu verstehen ermöglicht. Unter den verschiedenen existierenden Bedeutungen von „Sinn“ und „Lebenswelt“, die auch passiv oder aktiv angenommen werden,22 könnte man sich hier vielleicht nach zwei Modellen richten, dem einen von Weber, dem anderen von Hitzler und Honer. Die Referenz nach dem Sinn des Handelns wird wichtiger, soweit das Strafrecht nicht nur die Tatbestandshandlung, sondern auch die vorstrafrechtlichen Merkmale anerkennt. Vorstrafrechtliche Handlungsmerkmale sind auch, völlig oder teilweise, bei allen bisherigen Handlungslehren (kausal, final, sozial, funktional und personal) vorhanden, was die strafrechtlich relevante Handlung auch auf die Ebene des sozialen Verhaltens bringt. Weber begreift als „Sinn“ eines sozialen Verhaltens den entweder „tatsächlich … in einem historisch gegebenen Fall … oder durchschnittlich und 18

Habermas Philosophische Texte, 2009, Bd. 1, S. 162. Opalek Directives, Norms and Performatives, in: di Bernardo (Hrsg.), Normative Structures of the Social World, 1988, S. 193. 20 Arielli (Fn. 17) S. 19. 21 Göhlich/Zirfas Kommunikatives Handeln in der Lebenswelt, in: Wulf/Göhlich/Zirfas (Hrsg.), Grundlagen des Performativen, 2001, S. 57. 22 Hofstadter Gödel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band, 17. Aufl. 2007, S. 103. 19

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annähernd in einer gegebenen Masse von Fällen von den Handelnden oder in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinten Sinn.“23 Der Sinn beinhalte damit zwei große Perspektiven: entweder als gegebener Fall bzw. gegebene Masse von Fällen, also als faktische Daten, oder als begrifflich konstruierte Bedeutung, die von dem Handelnden subjektiv gemeint wird. Zumal der Sinn einer sozialen Handlung nicht nur ein typisiertes Konstrukt sei, sondern auch das gemeinte Ergebnis für gegebene Fälle, die dem Handelnden als historisch oder als naheliegend in den Sinn kommen, könnte man auch einer vortatbestandlichen Handlung einen relevanten Sinn zusprechen. Sofern der Sinn von dem Handelnden in bestimmten Fällen subjektiv gemeint wird, braucht er dazu auch, sei es entweder als gegebener Zustand oder als konstruierter Typus, ein Orientierungsobjekt als Referenzpunkt für seine Tätigkeit. Dieses Orientierungsobjekt soll nicht eine transzendentale Bedingung für den Handlungsbegriff bilden, sondern einen praktischen Bedarf, um den reinen Sinn des Handelns festzuhalten. Hinsichtlich der Partikularität der strafrechtlich relevanten Tat, die auf einen zuschreibenden Täter begrenzt wird, könnte man den von Hitzler und Honer bearbeiteten und reduzierten Begriff der kleinen sozialen Lebenswelt gebrauchen. „Eine kleine soziale Lebenswelt ist ein in sich strukturiertes Fragment der Lebenswelt, innerhalb dessen Erfahrungen in Relation zu einem speziellen, verbindlich bereitgestellten intersubjektiven Wissensvorrat statthaben.“24 Um die personale Verantwortlichkeit zu fixieren, wäre ein Konzept einer ganzen Lebenswelt, wie es von Habermas angenommen worden ist, eben zu breit, da es sich hier nicht direkt um ein Legitimationsproblem der kriminalisierenden Normen, sondern um das Festhalten aller konkreten Gegenstände des Kontextes, in dem die Handlung begangen wird, handelt. Die Kontextgegenstände, also die kleine Lebenswelt, werden als Referenz bzw. Orientierungsobjekte für den Täter angenommen, um die Handlung in einem Risikoverfahren für das Rechtsgut als sein eigenes Werk mitzuberücksichtigen. Die Verbindung beider Anforderungen liegt nicht weit entfernt von der Habermas´schen Handlungslehre, als er doch explizit sagt, „die sprach- und handlungsfähigen Subjekte müssen sich aus dem Horizont ihrer jeweils geteilten Lebenswelt ‚auf etwas‘ in der objektiven Welt beziehen, wenn sie sich in der Kommunikation miteinander ‚über etwas‘ verständigen oder im praktischen Umgang ‚mit etwas‘ zurechtkommen wollen.“25 Als ein prak23

Weber (Fn. 14) S. 1. Hitzler/Eberle Phänomenologische Lebensweltanalyse, in: Flick/v. Kardorff/Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 2000, S. 116. 25 Habermas Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, 2001, S. 16. 24

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tisches Objekt, ist dieses „etwas“ nicht als eine Vermittlung zu dem Handelnden und dem Sinn, sondern als ein Element der Wirklichkeit des Handelns anzunehmen. Wenn Roxin sagt, dass bei fahrlässigen Taten der Schwerpunkt der Handlungseinheit in der beständigen Herrschaft über den Kausalzusammenhang liege, nimmt er auch die Äußerung dieser Herrschaft als ein reines Referenzobjekt der Handlung an. Die Einheit ergibt sich hier nicht aus einem externen Objekt, sondern aus dem gesamten Verfahren, in dem die Handlung selbst ihren Sinn findet. Zum anderen kann Roxin, wenn er des Weiteren noch sagt, dass es keine Handlung gebe, wenn sie nicht, im Sinne einer Persönlichkeitsäußerung, beherrscht oder beherrschbar sei,26 auch vortatbestandliche Handlungen als relevant akzeptieren, was sein System zu einer ganz kohärenten Ordnung führt. Um sich mit einem performativen Handlungsbegriff zu beschäftigen, wäre es auch wichtig, von Anfang an klarzulegen, was bei einem nicht zweckorientierten Handeln unter Handlungseinheit zu verstehen wäre. Mit der Bestimmung der Handlungseinheit sucht die herrschende Strafrechtslehre normalerweise nach einer Unterscheidung zwischen der natürlichen Handlung bzw. der Handlung im natürlichen Sinne und der natürlichen Handlungseinheit. Bei der Formulierung beider Begriffe geht man von einer natürlichen Lebensauffassung aus.27 Zuerst sagt die Lehre, dass sich keine „Probleme hinsichtlich der Feststellung einer Handlungseinheit ergeben in den Fällen, in denen der Täter nur eine Willensbetätigung im natürlichen Sinne zur Deliktsbegehung benötigt“,28 weil ein solcher einzelner Willensakt schon per se eine Handlungseinheit bilde,29 obwohl mehrere Erfolge eingetreten wären, unabhängig davon, ob diese Erfolge vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt oder die Tat vollendet oder nur versucht worden sei. Das soll auch für Unterlassungsdelikte gelten. Handlungseinheit ist auch anzunehmen, wenn mehrere natürliche Handlungen zu einer einzigen Tatbestandshandlung rechtlich verklammert werden, und schließlich bei verschiedenen Einzelhandlungen, die wegen ihrer Ähnlichkeit und zeitlichräumlichen Nähe in natürlich objektiver Betrachtung zu einer Handlungseinheit zusammengefasst werden.30 Die herrschende Lehre arbeitet also mit drei Kategorien von Handlungen: der Handlung im natürlichen Sinn, der Handlung als Tatbestandshandlungseinheit und der Handlung als natürliche Handlungseinheit. Da die Tatbestandshandlungseinheit und die natürliche Handlungseinheit zu einer juristischen Handlungseinheit führen, kann man 26

Roxin AT I § 8 Rn. 44. Kühl AT § 21 Rn. 6; Schönke/Schröder-Stree/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 52 ff Rn. 10. 28 Kühl AT § 21 Rn. 7; auch Köhler AT S. 688; Otto Grundkurs Strafrecht, 2005, § 23 Rn. 6; als einzige Körperbewegung Baumann/Weber/Mitsch AT § 36 Rn. 15. 29 Roxin AT II § 33 Rn. 15; Welzel Das Deutsche Strafrecht, 1969, S. 225. 30 Roxin AT II § 33 Rn. 19. 27

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beide Kategorien in eine einzige rechtliche Klasse einordnen. 31 Im Allgemeinen ist es möglich, mit dem Kriterium der tatbestandlichen Handlungseinheit verschiedene Fälle zu lösen, ohne den Begriff der natürlichen Handlung zu benutzen, im Sinne der Argumentation, die auf dem schon von Gallas eröffneten Weg einer reinen normativen Ansicht die Frage nach der Handlungseinheit in eine Tatbestandsfrage umsetzt.32 Es gibt aber Fälle, wie bei fahrlässigen Taten oder bei sukzessiven, iterativen und verschiedenartigen Tatbestandserfüllungen, die eben nicht durch eine rein normative Formel im Sinne einer Handlungseinheit geklärt werden können. Zum anderen wird immer noch intensiv diskutiert, ob bei mehreren Verletzungen von höchstpersönlichen Rechtsgütern eine natürliche Handlungseinheit zu bejahen sei.33 Die herrschende Meinung will hier eine natürliche Handlungseinheit nur ablehnen, wenn die Mehrheit von Einzelhandlungen nicht auf einem einheitlichen Tatentschluss beruht.34 In der Regel liegt damit eine Handlungseinheit nicht nur vor, wenn ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang der Einzeltat, in Kombination mit einer objektiv und für einen Dritten erkennbaren Zusammengehörigkeit oder einer Mehrheit gleichartiger Handlungsakte vorhanden ist, sondern auch, wenn der Täter im Zuge eines einheitlichen Entschlusses vorgeht, womit sich dieses Kriterium der Rechtsprechung zum natürlichen Handlungsbegriff annähert. Die Gegenmeinung argumentiert bei den Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter mit der Unmöglichkeit einer Steigerung einer solchen Verletzung, die wegen rechtlicher und sittlicher Betrachtung zu einer anderen Wertebene geführt werden sollte.35 Hinsichtlich der Schwankungen der Rechtsprechung, die mal eine natürliche Handlungseinheit bei Schüssen auf eine Menschenmenge oder auf vier Polizisten zur Vermeidung einer Festnahme noch annimmt, wenn ein besonders enger zeitlich und räumlicher Zusammenhang besteht, mal eine solche Handlungseinheit ablehnt, wenn zwischen den Taten eine große Distanz vorliegt, neigt Roxin dazu, die natürliche Handlungseinheit nur auf Fälle anzuwenden, in denen es keine iterative höchstpersönliche Rechtsgutsverletzung gibt.36 Das gilt wohl für vorsätzliche Taten. Bei fahrlässigen Taten orientiert sich Roxin, wie schon am Anfang gesagt, an der mangelnden Herrschaft über die Kausalität. Wenn der Täter diese Herrschaft verliert und sie bis zum Zusammenstoß mit den anderen Fußgängern nicht wiedererlangen kann, liegt eine Handlungseinheit 31

Wessels/Beulke AT Rn. 759. Jescheck/Weigend AT, 1996, S. 711; NK-Puppe, § 52 Rn. 12; Stratenwerth/Kuhlen AT S. 396. 33 Roxin AT II § 33 Rn. 38. 34 Fischer Vor § 52 Rn. 8. 35 Maiwald Die natürliche Handlungseinheit, 1964, S. 81. 36 Roxin AT II § 33 Rn. 11. 32

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vor. Hier benutzt Roxin eine Art von Handlungsbegriff im Sinne eines performativen Begriffes, nach dem der Täter seine Tätigkeit in einer Weise auf bestimmte Objekte hin orientiert, die auch den Kausalzusammenhang prägt. Die Frage ist, ob ein solcher Begriff auch auf vorsätzliche Taten anzuwenden wäre. Wenn die Mindermeinung die natürliche Handlungseinheit als ungeeignet für iterative vorsätzliche Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter ansieht, argumentiert sie mit der Qualität des Angriffes im Hinblick auf das vom Täter antizipierte Ziel. Aber das Ziel lässt sich dieser Meinung nach nicht mehr auf ein Kausal- bzw. Handlungsobjekt oder ein Referenz- bzw. Orientierungsobjekt reduzieren, sondern verleiht der Tat selbst einen Wert für eine rechtliche und sittliche Sicht. Dieser Einsicht nach hätte der Handlungsbegriff dann nur einen rhetorischen Effekt. Eine entscheidende Lösung zur Handlungseinheit würde erst ermöglicht, wenn man dem Handlungsbegriff eine normative Konnotation erteilte und ihn als Tatbestandsmerkmal annähme, in welchem der typisierte Erfolg auch eine wichtigere Rolle spielte, um die Tateinheit zu charakterisieren. Der Gedanke der Gegenmeinung besteht im Grunde genommen darin, die Frage nach der Handlungseinheit als ein sittliches Problem anzunehmen, einer Impressionstheorie folgend. Im Gegensatz dazu braucht eine nicht zweckorientierte Handlung kein Ziel zu erreichen; sie orientiert sich an Referenzobjekten, die die Tätigkeit des Täters als eigene erscheinen lassen. Sein Inhalt entfaltet sich dann nicht in einer natürlichen Auffassung, wie es die herrschende Meinung annimmt, sondern in der Kommunikation mit der kleinen Lebenswelt und seinem Orientierungsobjekt, die auch den Kausalzusammenhang bzw. die Risikoschaffung mitberücksichtigt. Was die Handlungseinheit betrifft, wären hier weder natürliche Umstände, noch sittliche oder rein rechtliche Bewertungen, sondern in einem Kommunikationsverfahren situierte Referenzobjekte enthalten. Wichtig wäre nicht das vom Täter gewünschte Ziel, sondern, wie er sich in seiner Lebenswelt orientieren kann.

III. Das performative Verfahren und die Handlungseinheit Um einen performativen Handlungsbegriff bzw. eine performative Einheit zu schaffen, ist es auch notwendig, dass die Referenz- bzw. Orientierungsobjekte und der Kausalzusammenhang vom Täter verinnerlicht werden.37 Die Objektsverinnerlichung betrifft nicht nur die positiv bewerteten, sondern auch die verbotenen Erfolge. Das führt nämlich beides zu einer personalen Betrachtung der kleinen Lebenswelt mit allen ihren Umständen. 37

Posselt Katachrese: Rhetorik des Performativen, 2005, S. 71.

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Obwohl bei dieser Betrachtung auch Normen beteiligt sind, die vom Täter angenommen werden sollen, um seine eigene Tätigkeit als richtig zu verwirklichen, impliziert das keine normative Auffassung. Die Normen dienen hier der personalen Kommunikation mit der kleinen Lebenswelt und den anderen Leuten, ohne dass damit eine Bewertung über das Verhalten des Akteurs ausgesprochen wird, um seine Tätigkeit als Einheit oder Mehrheit zu bejahen. Die Einheit resultiert hier aus dem Modus, wie der Täter in seiner Tätigkeit subjektiv alle äußerlichen Objekte vereinnahmt, d. h. wie sich das Kommunikationsverfahren zu der kleinen Lebenswelt entwickelt und dann die performative Tätigkeit fundiert. Bei verschiedenen Referenzobjekten, die das Verhalten orientieren – sei es empirisch oder normativ – kann eine Handlungseinheit vorliegen, wenn der Täter sie in ein einziges Kommunikationsverfahren einverleibt, ohne jedes Mal, wenn solche Objekte eintreten, ein neues Verfahren zu schaffen. Bei den fahrlässigen Taten, bei denen der Täter sein Auto mit unerlaubter Geschwindigkeit fährt und sukzessive zwei Passanten überfährt, kann man Handlungseinheit bejahen, wenn der Fahrer bei jedem Überfahren auch dasselbe Kommunikationsverfahren behält; oder Handlungsmehrheit, wenn er nach dem einen bei einem anderen Passanten einen neuen Ansatz braucht, um seine Fahrtätigkeit weiterzuführen. In letzterem Fall unterbricht das Vorhandensein der neuen Passanten vor dem Täter das Kommunikationsverfahren und zieht eine Handlungsmehrheit nach sich. Diese Lösung nähert sich Roxins Auffassung von der Herrschaft über die Kausalität an, unter Berücksichtigung dessen, dass es hier nicht um eine Herrschaft über die Kontrolle des Autos, sondern um ein Kommunikationsverfahren zwischen dem Täter und den anderen geht. Dasselbe Argumentationsmuster kann auch auf vorsätzliche Delikte angewendet werden. Das Kommunikationsverfahren ändert sich nicht in Abhängigkeit davon, ob der Täter den Erfolg gewollt hat oder nicht. Bei jedem Kommunikationsverfahren spielt der Wille eine entscheidende Rolle,38 ganz gleich, ob die Erfolge vorsätzlich oder nicht vorsätzlich herbeigeführt werden. Soweit der Mensch in einer zivilisierten Gesellschaft lebt, kann er nicht wirklich tätig sein, ohne dass alle Umstände der kleinen Lebenswelt zu seiner Gedankenausbildung beitreten, nicht aber als rein kausale bzw. finale Komponenten, sondern durch ein subjektives Aufnahmeverfahren, in dem auch personale Eigenschaften notwendigerweise mitspielen; daher die Ähnlichkeit dieser Auffassung zu der von Roxin über einen personalen Handlungsbegriff. Ausgehend von einem solchen Begriff könnte man noch sagen, dass bei mehreren vorsätzlich sukzessiven oder iterativen Erfolgen eine 38 Habermas Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, S. 59; Tugendhat Erwiderung, in: Scarano/ Suárez (Hrsg.), Tugendhat Ethik: Einwände und Erwiderungen, 2006, S. 293; ders. Antropología en vez de metafísica, 2008, S. 123.

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Handlungseinheit zu bejahen sei, wenn alle Erfolge in einem einzigen Kommunikationsverfahren integriert werden, so dass der Täter nicht jedes Mal, wenn ein Erfolg verwirklicht wird, seine Tätigkeit zu aktualisieren braucht. Mit dieser Aktualisierung erneuert der Täter das Risikoverfahren, wodurch das Rechtsgut in Gefahr gerät. Das geschieht ohne weiteres bei sukzessiver Tatbestandsverwirklichung, z. B. in dem Fall Dagobert, in dem der Wechsel des Angriffsmittels noch zu demselben kommunikativen bzw. performativen Verfahren gehört. Diese Lösung ist nicht weit von der Begründung des BGH entfernt, die auch über die Annahme eines einheitlichen Lebensvorgangs nicht hinausgeht.39 Problematischer könnte die Behandlung von iterativen höchstpersönlichen Rechtsgutsverletzungen sein. Aber, wie gesagt, die Lösung der Mindermeinung ist dafür auch nicht hinreichend, weil sie überhaupt auf einem sittlichen Argument beruht, was als nicht adäquat für ein reines Rechtssystem angesehen werden kann. Somit könnte man dann überprüfen, ob eine auf dem performativen Handlungsbegriff beruhende Lösung angemessener wäre als die der natürlichen Handlungseinheit, wie es die Rechtsprechung annimmt. Roxin stellt gegenüber der Rechtsprechungslösung für verschiedene Fälle von höchstpersönlicher Rechtsgutsverletzung und die beimessende Differenzierung zwischen Handlungseinheit und Handlungsmehrheit die richtige Erwägung an, dass sie sich hier „nicht ohne Willkür durchführen“ lasse und es „plausibel [sei] anzunehmen, dass die Erschießung z. B. von vier Menschen durch vier Schüsse vier verschiedene Handlungen voraussetzt.“40 Bei der Analyse der Begründung von BGH-Entscheidungen41 könnte man aber auch hier eine bestimmte Argumentationsmethode finden. Beide Entscheidungen lassen durchaus erkennen, dass die Lösung des BGH hier hauptsächlich auf der natürlichen Handlungseinheit basiert. Obwohl für die Bestimmung einer Handlungseinheit „eine Mehrheit gleichartiger Handlungsakte; enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang der Einzelakte“ und „ihre auch objektiv und für einen Dritten erkennbare Zusammengehörigkeit“42 verlangt wird, was zu den objektiven Umständen der kleinen Lebenswelt gehört, ist es wesentlich, dass der Täter seine Akte in einer einzigen Willensbetätigung einschließt, d. h. die Tat einem einheitlichen Willen entspricht.43 Es wird dann eine Verschmelzung der Kriterien der natürlichen Handlungseinheit und des Begriffs der Handlung im natürlichen Sinne bestehen. Es ist vielleicht möglich zu sagen, dass die von Roxin bemerkte Schwankung der Rechtspre-

39

BGHSt 4, 219. Roxin AT II § 33 Rn. 41. 41 BGH 2, 246; BGH NStZ 1984, 311. 42 Roxin AT II § 33 Rn. 31. 43 So im Grunde genommen auch BGHSt 4, 220; 10, 230. 40

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chung aus der empirischen Labilität eines präziseren Begriffs der Einheit der Willensbetätigung hervorgeht. In diesem Sinn gibt es dann Raum für eine Lösung, die weder sittliche noch subjektive Kriterien verwendet. Vor allem ist es erforderlich anzunehmen, dass der Handlungsbegriff eine weitere Funktion erfüllt, als nur eine rhetorische Klassifikationsaufgabe, d. h. der Handlungsbegriff, um eine positive und erfolgreiche Wirkung für die Verbrechenslehre zu entfalten, auf alle Strafrechtsgebiete auszudehnen ist. Infolgedessen könnte man sehr wohl mit einem performativen Handlungsbegriff arbeiten und damit noch die nachfolgenden Fälle zu lösen versuchen. Nimmt man zwei Fälle an: a) Jemand schießt vier Mal auf eine einzige Person; b) Jemand schießt vier Mal auf vier Personen. Um eine Handlungseinheit im ersten Fall zu bejahen, muss man bestimmen, ob die vier Schüsse noch von einem einzigen Kommunikationsverfahren umfasst werden können. Das Kommunikationsverfahren enthält hier nicht nur die Techniknormen für das Benutzen der Waffe, sondern auch das Opfer als Orientierungsobjekt und den Sinn des Tatbestandsverbotes. Obwohl eine performative Handlung als vortatbestandlich angenommen wird, kann sie nicht die normative Seite des Objektsverletzung außer Acht lassen, weil erst die Anerkennung des Sinnes der Verbotsnorm eine Begrenzung der rechtlich relevanten Kausalität ermöglicht und erst mit ihr die personale Konnotation der Tat ausgedrückt werden kann. Die Handlungseinheit ist nur dann abzulehnen, wenn bei jedem Schuss der Täter noch einmal alle Umstände der kleinen Lebenswelt aktualisieren muss, um den Sinn seiner Tätigkeit als Rechtsgutsverletzungshandlung anzunehmen und die Kausalität auf das Opfer zu verwirklichen. Das kann auch objektiv dargelegt werden, wenn der Täter z. B. eine lange Unterbrechung zur Tatausführung braucht, um die Waffe wieder mit Munition zu versehen, oder das versteckte Opfer wieder zu treffen. Aber auch im zweiten Fall b) kann man nicht von vornherein eine Handlungseinheit ablehnen. Hier soll kein sittliches Argument angeführt werden, die Untersuchung des Vorliegens einer Handlungsmehrheit soll vielmehr der Methode des ersten Falles folgen: Wenn der Täter vier Schüsse auf vier Leute in ununterbrochener Sequenz abgibt, sodass er keine anderen Akte vorzunehmen braucht, als nur schnell die Schüsse in eine einzige Richtung und mit dem gleichen Druck auf den Abzug abzugeben, würde es keine Aktualisierung der Umstände der kleinen Lebenswelt geben, was dem als Handlungseinheit behandelten Fall des Bombenwurfs in ein Haus44 ähnelt, in dem das Risikoverfahren nicht geändert wird. Es gibt aber normalerweise Handlungsmehrheit, wenn der Täter entweder irgendeinen Wechsel im Hinblick auf die Richtung der Schüsse vollbringt oder die Waffe nachladen oder sich bewegen muss, um alle Opfer zu erreichen. Bei der 44

Kühl AT § 21 Rn. 7.

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letzten Annahme wegen der Veränderung der Umstände muss der Täter die Gegenstände der kleinen Lebenswelt und das Risikoverfahren noch aktualisieren, um die Tat zu begehen, was ohne weiteres zu einer Handlungsmehrheit führt.

IV. Fazit 1. Die Verbrechenslehre sucht nach einem Handlungsbegriff, der sowohl für das Straftatsystem, wie auch für andere Gebiete des Strafrechts nutzbar zu machen ist. Im Allgemeinen ist man skeptisch, ob dies zu erreichen ist, soweit es sich um die Frage der Konkurrenzen handelt. Um es aber zu ermöglichen, ist es nicht tauglich, mit einem zweckorientierten Handlungsbegriff zu arbeiten, der nur die Mittel-Zweck Beziehung berücksichtigt, sondern mit einem Begriff, der auch alle Umstände der Beziehung des Täters zur Umwelt, zu den Normen und zu anderen Personen einschließt. 2. Um einen performativen Handlungsbegriff zu bilden, muss man die menschliche Tätigkeit als Kommunikationsverfahren begreifen, in dem die Objekte der äußerlichen Welt sich empirisch und normativ als Umstände der Verhaltensorientierung aufdrängen. Damit ist es erforderlich, sich nicht auf einen breiten, sondern auf einen kleinen Lebensweltbegriff zu beziehen, der die Gesamtheit der vorhandenen empirischen und normativen Umstände auf diejenigen reduziert, welche die konkrete Tätigkeit des Akteurs und das Risiko für das Rechtsgut direkt beeinflussen. 3. Bei den Konkurrenzen ist eine Handlungseinheit zu bejahen, wenn der Täter bei jedem Akt des Handlungsvollzugs die Umstände der kleinen Lebenswelt in seinen Orientierungsobjekten bzw. Risikoverfahren nicht zu aktualisieren braucht. Angesichts der konkreten kleinen Lebenswelt als Orientierungsobjekt für den Täter, die sie persönlich in einem Risikoverfahren für das Rechtsgut als eigenes Werk einschließt, darf seine Handlung auch als eine personale angesehen werden.

„Sonderwissen“ des Handelnden und objektives Gefahrurteil JOSÉ LUIS SERRANO GONZÁLEZ DE MURILLO

I. Die Notwendigkeit, die statistisch unwahrscheinlichen („unabsehbaren“) Erfolge aus dem Tatbestand auszuschließen Die moderne, weitgehend von Claus Roxin geprägte Lehre von der objektiven Zurechnung besteht immer noch auf ihrer Forderung, das sogenannte „Sonderwissen“ des Täters in das objektive Zurechnungsurteil einzubeziehen.1 Indem sie (nochmals) die Legitimität der Berücksichtigung von Informationen subjektiver Natur in einem vermeintlich objektiven Urteil beteuert, bemüht sich die Lehre von der objektiven Zurechnung, ihre Stellung vor einem der stärksten Gegenargumente zu behaupten: was subjektiv und objektiv sei, stehe nicht zur Verfügung der Dogmatik.2 Dies lässt sich nicht beseitigen, indem man argumentiert, dass der Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Merkmalen ein bloßer didaktischer Wert zukomme und nicht brauchbar sei, um spezifische Fragen zu klären, die einer normativen Abwägung bedürfen.3 Die Tatsache, dass es, nachdem die sogenannten ontologischen Ansätze durch die intersubjektivischen Urteile bei der Bestimmung des Tatbestandes als lange überwunden galten, immer noch für notwendig befunden wird, diese Ansicht mit neuen Argumenten zu bestärken, suggeriert vielmehr die Voreiligkeit dieser angeblichen Überwindung und deutet darauf hin, dass die Debatte tatsächlich noch nicht zu Ende ist. Bekanntermaßen lässt die Lehre von der objektiven Zurechnung in ihrem Bestreben, die Mängel bei der Bestimmung der Ursächlichkeit des Erfolges als Grundlage ihrer strafrechtlichen Relevanz zu überwinden, die Annahme des objektiven Tatbestandes der Erfolgsdelikte davon abhängig sein, dass

1

Greco ZStW 117 (2005), 519 ff. Hirsch FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, 1988, 407; Vgl. weitere Hinw. bei Rueda Martín La teoría de la imputación objetiva del resultado en el delito doloso de acción, 2001, S. 162 Fn. 181. 3 So aber Frisch FS Roxin, 2001, 231. 2

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die Verletzung des Rechtsgutsobjekts dem Täter zurechenbar ist.4 Für die Zwecke dieser objektiven Zurechenbarkeit ist es erforderlich, mittels einer normativen Betrachtung herauszustellen, dass der Handelnde ein strafrechtlich erhebliches (= missbilligtes) Risiko für das Rechtsgut geschaffen und sich genau dieses Risiko, und kein anderes, im Erfolg verwirklicht hat; und schließlich, dass dieser Erfolg gerade ein solcher ist, den die Norm zu verhindern bezweckt.5 Mit diesen drei Kriterien versucht man, den objektiven Tatbestand der Erfolgsdelikte nicht nur von der reinen Kausalität zwischen Handlung und Erfolg abhängig zu machen, die sich in unbegrenzter Weite durch die Äquivalenz aller kausalen Bedingungen definiert, sondern auch mittels seiner objektiv-sozialen Relevanz eine Filterung des Verhaltens vorzunehmen, ohne die Überprüfung des subjektiven Tatbestandes abwarten zu müssen. Es geht darum, über die reinen psycho-physischen Tatsachen hinauszugehen, um das Sinnverständnis aus der Sicht des durch den Gesetzgeber erstrebten Zweckes der rationalen Prävention des Delikts zu erreichen.6 Bei der Überprüfung des Vorhandenseins einer solchen Gefahr wird auf eine ex ante- intersubjektive Betrachtung zurückgegriffen, nach dem Maßstab eines objektiven Beobachters, ausgestattet mit dem ontologischen und nomologischen Wissen des Täters.7 Nach diesem Modell wird die tatbestandliche Relevanz des Risikos in den typischen Fällen minimal gefährlicher Verhaltensweisen geleugnet, wie in dem sehr bekannten Welzelschen Fall von dem Neffen, der seinen Onkel, den er vorzeitig beerben will, auffordert, eine Reise mit dem Flugzeug anzutreten, mit dem (erhofften) Erfolg, dass dieses abstürzt und der Onkel ums Leben kommt; oder dem des Täters, der seinen Feind während eines 4 An diesem Ziel hatte sich schon als Vorläufer die Adäquanztheorie orientiert, indem sie die Figur des objektiven Beobachters einführte, die es ermöglichte, die unvorhersehbaren Erfolge auszuschließen, wenngleich jetzt die Prüfung der Vorhersehbarkeit bei der Charakterisierung der Tatbestandsmäßigkeit erfolgt und nicht in der dafür unpassenden Kausalität. Genau infolge dieser wesentlichen Übereinstimmung von Zielen und Instrumenten der beiden Lehren, „erbt“ die objektive Zurechnung von ihrem Vorgänger, der Adäquanzlehre, u. a. eine noch zu begleichende Schuld: Wie kann man das höhere subjektive Sonderwissen in ein vermeintlich objektives Vorhersehbarkeitsurteil einbeziehen? 5 Dieser Beitrag wird sich auf das erste Kriterium beschränken. 6 Mir Puig Revista Electrónica de Ciencia Penal y Criminología (RECPC) 05/2003, 6. Wenn man aber diese Prüfung vom subjektiven Tatbestand lösen will, wird der objektive Tatbestand auf die bloße Kausalität zwischen Handlung und Erfolg beschränkt. Die Lehre von der objektiven Zurechnung selbst erzeugt mit ihren Voraussetzungen gerade das Problem (uferlose Weite des Kausalzusammenhangs), das zu lösen sie als ihr Ziel ansieht (die unvorhersehbaren Kausalvorgänge auszuschließen). 7 Jedenfalls wird die Ansicht verfochten, dass das Urteil dasjenige Wissen einbeziehen muss, das der Täter haben könnte, nicht aber dessen eventuelle Unzulänglichkeiten bzw. Irrtümer, so Mir Puig Derecho penal. Parte General, 8. Aufl. 2008, S. 251 f; Weitere Hinweise bei Cancio Meliá in: Libro homenaje al Günther Jakobs, 2005, 258 f.

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Sturms ermutigt, spazieren zu gehen, in der Hoffnung, dass dieser vom Blitz getroffen werde, was tatsächlich geschieht; oder dem der schlagartigen Mitteilung des Todes eines nahe stehenden Verwandten, was beim Adressaten den Tod durch Schock verursacht. In solchen Fällen wird der objektive Tatbestand (Frisch)8 bzw. die objektive Zurechnung negiert mit der Begründung, dass das geschaffene und im Erfolg verwirklichte Risiko wegen seiner engen Verbindung mit den alltäglichen Aktivitäten statistisch unbedeutend und daher als rechtlich nicht missbilligt eingeschätzt wird.9 Denn solche Verhaltensweisen zu verbieten, würde die Freiheit der Bürger übermäßig beschränken und schlichtweg das gesellschaftliche Leben lahm legen. Diesen Schluss würde man mit dem Maßstab des objektiven Beobachters erreichen. In der Tat darf das Strafrecht nicht solche Verhaltensweisen als verboten ansehen, die ein durchschnittlicher, sorgfältig handelnder Mensch nicht deswegen unterlassen würde, weil es eine entfernte Möglichkeit gibt, dass sich dieses Verhalten durch ubiquitäre Risiken als schädlich herausstellen könnte.10 Auf den Einwand, dass die durch unvorhersehbare kausale Vorgänge verursachten Erfolge auch noch im Bereich des subjektiven Tatbestandes ausgeschlossen werden könnten, da ja die Prognose auf der Kenntnis des handelnden Subjekts beruhen könnte, erwidern die Anhänger der objektiven Zurechnung, dass es nicht notwendig sei, eine solche Feststellung abzuwarten, und dass dies auch nicht möglich sei, denn sobald man den objektiven Tatbestand annähme, schließe dies das Fehlen des Vorsatzes aus. Gegen die Verneinung des Vorsatzes in diesen Fällen wegen der mangelnden Fähigkeit des Handelnden, den Erfolg zu beeinflussen, bringt Roxin vor, dass diese mangelnde Fähigkeit zu beeinflussen tatsächlich nichts anderes als eine Paraphrase der fehlenden objektiven Gefährlichkeit sei,11 und dass gemäß seiner Theorie der Planverwirklichung, wonach es für den Vorsatz ausreiche, dass der Erfolg vage vorhergesagt und bewirkt wird, ohne dass zumindest die wesentlichen Züge des wirklichen Kausalvorgangs vorgestellt werden müssten, hier der Vorsatz unbestreitbar sei. Man müsse daher Beschränkungskriterien im Bereich des Objektiven festsetzen. Demnach werde, wenn das Bezugsobjekt des Vorsatzes fehlt, auch dieser fehlen, denn es liege nur ein Wille vor, eine Gefährdung herbeizuführen, welche als tatbestandslos erachtet wird.12 Seitens des Finalismus ist darauf erwidert worden, dass das gleiche logische Ergebnis der Tatbestandslosigkeit auch erreicht 8

Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 23 ff. Roxin GS Armin Kaufmann, 1989, 238. 10 So Mir Puig RECPC (vgl. Fn. 6) 05/2003, 7. 11 So Roxin GS Armin Kaufmann, 1989, 238; dieser Gedanke macht auch Sinn, wenn man ihn umgekehrt ausdrückt. 12 Kritik an diesem Gedankengang bei Gracia Martín REDCP (vgl. Fn. 6) 06-07/2004, 15. 9

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werden könne, indem man den Vorsatz verneint. Und dies sei auf einen Mangel an Wissen, nicht an Willen, zurückzuführen. In der Tat, wie Struensee nahegelegt hat,13 sei der Wille im rechtlich-technischen Sinne auch nicht vorhanden, wenn der Täter nicht genügend Wissen über die wesentlichen Glieder des Kausalzusammenhangs hat, wie dies hier der Fall ist. Wer genug wusste und gehandelt hat, wollte, und wer ohne Genügendes zu wissen, gehandelt hat, wie hier, wollte nicht.14 Nach Auffassung Roxins erfülle den Totschlagstatbestand nicht, was derjenige, der einen anderen auffordert, eine Reise vorzunehmen, sich vorstellt, solange bei einem Flugzeugunglück der Todeserfolg der Handlung nicht objektiv zurechenbar sei, weil es sich dabei angesichts seiner statistisch gemessenen Geringfügigkeit um ein für den objektiven Beobachter unvorhersehbares und daher nicht missbilligtes Risiko handelt. Hier anders zu entscheiden würde dazu führen, eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit zu beseitigen. Was stattdessen nach dem Finalismus entfällt, ist eine für den Vorsatz ausreichende Vorstellung des Täters. Denn ein Täter, der nur weiß, dass er einen anderen veranlasst, eine Flugreise vorzunehmen, kennt nicht hinreichend präzise Risikofaktoren, die den Erfolg erklären können; kurz: er handelt im Tatbestandsirrtum, mag er auch den Erfolg wünschen, ihn vorhersagen und dieser zufälligerweise auch eintreten. Wie es sich herausstellt, stattet die Theorie der objektiven Zurechnung den subjektiven Tatbestand mit einem sehr geringen Inhalt aus, indem sie nicht ein hinreichendes Maß an Kenntnis hinsichtlich der spezifischen ursächlichen Faktoren verlangt, dessen Abwesenheit erklärt, warum in bestimmten Fällen die Schaffung einer objektiven Gefahr nicht tatbestandsmäßig ist. Gerade aus diesem Grund sieht sie sich gezwungen, dieses Wissen in das Urteil über den objektiven Tatbestand einzuschleusen.

II. Das Sonderwissen in außergewöhnlichen Lagen. Methodische Gründe für seine Einbeziehung in die Prüfung des objektiven Tatbestandes Das Problem für die Lehre von der objektiven Zurechnung liegt in bestimmten, statistisch gesehen sicherlich außergewöhnlichen Situationen, die aber zugleich als Prüfstein für ihren Anspruch dienen, ein allgemeingültiges Lösungsprinzip darzustellen, das es ermögliche, den objektiven Tatbestand zu begrenzen, indem man die Schaffung geringfügiger Risiken beiseite 13

Struensee in: Homenaje al Profesor David Baigún, 1995, 251 ff. So Kindhäuser GA 2007, 447 ff (Übersetzung ins Spanische durch Mañalich Raffo InDret 4/2008, 466). 14

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stelle. Freilich aber – da das einschlägige Kriterium für die Existenz des objektiven Tatbestands darin liegt, ob der Betrachter das Risiko als erheblich oder unerheblich einstufen würde – stellt sich die Frage: Was passiert, wenn das Wissen des Täters hinsichtlich des Risikos höher ist, als das des idealen objektiven Beobachters, und er mithin in der Lage ist vorherzusagen, dass die Gefahr nicht mehr unerheblich ist? Dies wäre der Fall, wenn, in einer Abwandlung der oben genannten Beispiele, der Neffe, der Polizist ist, weiß, dass in dem Schiff, dem Zug15 oder dem Flugzeug eine terroristische Bande eine Bombe detonieren wird; oder der Täter weiß, dass der Zug zu einer Station fährt, deren Weichensteller völlig betrunken eingeschlafen ist;16 oder dass an einem bestimmten Ort, an dem das Opfer anlangt, Umstände herrschen, die erheblich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass dort Blitze einschlagen;17 oder dass die Person, der er negative Nachrichten übermittelt, ein schweres Herzleiden hat. Diese Konstellationen werden von der Lehre unter der Rubrik „Sonderwissen“18 besprochen, und dessen Spezialität mit Bezug auf das definiert, was der durchschnittliche, an der jeweiligen Tätigkeit teilnehmende Bürger gewusst hätte, der angesichts der Unzulänglichkeit seiner Kenntnisse wegen des geringfügigen Risikos von der Durchführung der Handlung nicht absehen würde. Es handelt sich um einen phänomenologischen, wenn auch von einer empirischen Tatsache abhängigen Begriff: Es geht darum, was der postulierte objektive Beobachter gewusst haben würde. Und sein Charakter ist dabei auf das rein Kognitive reduziert unter Nichtberücksichtigung von Gefühlen, Absichten, Bewertungen usw. Kurz: Das Sonderwissen umfasst, was der Täter zufälligerweise kennt, nicht aber, was ein „objektiver“ Beobachter19 gekannt haben könnte. Doch in diesen Fällen sieht die Lehre von der imputatio obiectiva überraschenderweise kein Problem darin, das Wissen des postulierten objektiven Beobachters mit demjenigen des konkret handelnden Subjekts aufzubessern.20 Indem sie jedoch das Wissen des Handelnden in die Beurteilung der objektiven Gefahr mit einbezieht, ist sie der Kritik ausgesetzt, außerhalb je15

Kindhäuser GA 2007, 466. Armin Kaufmann FS Jescheck, 1985, 268. 17 Beispiel von Roxin selbst, zitiert bei Struensee in: Homenaje al Profesor David Baigún, 1995, 251 ff. 18 Vgl. hierzu Rueda Martín (Fn. 1) S. 154 ff. 19 Jakobs GS Armin Kaufmann, 1989, 284. 20 Was nicht in allen Fällen mit dem (zwar beschränkteren) Begriff des besonderen Wissens, den Jakobs verwendet, zusammenpassen wird. Jakobs GS Armin Kaufmann, 1989, 284 bezieht darin nur die Daten ein, über welche das Subjekt außerhalb der in jedem Fall einschlägigen Rolle zufällig verfügt (nur um im gleichen Atemzug, und gerade aus diesem Grund, ihre Unerheblichkeit für das Zurechnungsurteil zu behaupten). Dieser Gedanke soll hier nicht weiter erörtert werden, da sich dieser Beitrag auf die Hauptfassung der Lehre von der objektiven Zurechnung bezieht. Umfangreiche Kritik an Jakobs Lehre bei Greco ZStW 117 (2005), 538 ff. 16

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der Systematik vorzugehen, was im Prinzip die Berücksichtigung aller subjektiven Elemente im subjektiven Tatbestand erfordern würde. Jedoch sieht ein Teil der Anhänger der Theorie von der objektiven Zurechnung – angeführt von Roxin21, dem Frisch,22 Puppe23 und schließlich Greco24 folgen – in einem solchen Vorgehen keinen systematischen Widerspruch und diskutiert mit methodischen Überlegungen darüber, wie man ein Strafrechtssystem zu gestalten vermöge. Zu diesem Thema hat sich besonders weitläufig Greco geäußert, der sich Radbruchs Unterscheidung zwischen kategorialen, auf das Objekt der Ordnung bezogenen, und teleologischen, auf das Ziel der Ordnung bezogenen Systemen bedient,25 um zu behaupten, dass, während bei einem kategorialen System die Dogmatik nicht darüber verfügen könne, was objektiv und subjektiv ist, bei einem funktionalen System die Stellung eines bestimmten Elements im subjektiven oder im objektiven Tatbestand von seiner Funktion im System abhänge. Seiner Ansicht nach kann man nur aus einem teleologischen System präskriptive Sätze herleiten, was im Gegensatz zum rein „didaktischen“ Wert der klassifikatorischen Systeme stehe, welche z. B. zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Täterpsyche unterscheiden, aber davon nicht ableiten können, ob eine bestimmte Tatsache normativ erheblich für die Lösung wird oder nicht. Von diesem Standpunkt aus müssen diejenigen Handlungen als strafbar eingestuft werden, bei denen der Täter über besondere, höhere Kenntnisse als diejenigen des objektiven Modells verfügt, wenn ein Werturteil angemessen ist dahingehend, dass solche Verhaltensweisen unter Berücksichtigung der konkurrierenden Interessen unter Strafe gestellt sein müssen. Bei dieser Beweisführung wäre es legitim, dem objektiven Tatbestand auch subjektive Daten zuzuführen, soweit sie sich für die ihm zugeteilte kriminalpolitische Rolle als erheblich herausstellen. Wenn nun diese Rolle darin besteht, die verbotenen Verhaltensweisen vom Bereich der Handlungsfreiheit abzugrenzen, ist die tatbestandsmäßige Handlung immer eine in ihrer äußeren Dimension verbotene. Manchmal können subjektive Daten aber auch als Voraussetzung für diese Zurechnung berücksichtigt werden, soweit der Rückgriff auf das subjektive Wissen notwendig und legitim ist, um dazu beizutragen, die Grenze zwischen dem Verbotenen und dem Erlaubten aus einem äußeren Blickwinkel zu skizzie21

Roxin GS Armin Kaufmann, 1989, 251; ders. AT I §§ 24 f; ders. Chengchi Law Review 1994, 232 ff. 22 Frisch in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssytem, 1996, S. 183. 23 LK11-Puppe Vor § 13 Rn. 145. 24 Greco ZStW 117 (2005), 534 ff. 25 Kritisch zur Möglichkeit der Anwendung dieser Unterscheidung im Hinblick auf den Standort des Sonderwissens Schumann/Schumann FS Küper, 2007, 558 f.

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ren. Kurz gesagt ist alles, was gemeinsame Voraussetzung der Zurechnung ist, sowohl bei fahrlässigem, als auch bei vorsätzlichem Verhalten (die nicht erlaubte Schaffung eines Erfolgsrisikos), Voraussetzung des Tatbestandes.26 Zugegeben, die Bewertung nach dem Zweck der Norm ist erforderlich, um die Tatbestandsmäßigkeit oder die strafrechtliche Irrelevanz des Verhaltens zu erkennen. Die finale Handlungslehre hat nie das Gegenteil behauptet. Die Frage, die nicht überzeugend beantwortet bleibt, ist, warum diese Beurteilung sich auf den objektiven Tatbestand konzentrieren muss, in gleichem Atemzug aber anerkannt wird, dass sie, weil es „notwendig und legitim“ sei, subjektive Elemente aufzunehmen hat. Mit einem besseren Ansatz scheint es eher angebracht, von der Rolle und der Wirkung der Normen auf die Orientierung des Verhaltens ihrer Adressaten auszugehen. Wenn die Wirkung der Norm davon abhängt, ob sie das Verhalten ihrer Adressaten lenken kann, so dass diese schädliche Verhaltensweisen vermeiden, ist es bei einer Verletzung schwer zu bestimmen, ob das Handlungsverbot übertreten worden ist, wenn man den Bewusstseinsinhalt des Handelnden nicht kennt. Deshalb, wie unter IV. diskutiert werden wird, muss die Bewertung darauf zurückfallen, ab wann dieser Bewusstseinsinhalt als ausreichend angesehen wird, um zu behaupten, dass der Erfolg das Werk des Subjekts ist, das gegen die Norm verstoßen hat, oder wann dagegen bloßer Zufall das Ergebnis eines aus den bekannten Umständen nicht beherrschbaren Kausalvorgangs herbeiführt. Der Gedankengang einer gemeinsamen Grundlage für Vorsatz und Fahrlässigkeit vermag nicht zu beweisen, dass es möglich ist, das Sonderwissen beim objektiven Tatbestand zu berücksichtigen. Es gibt sicherlich Tatsachenkenntnisse, die aus einer subjektiven Perspektive der vorsätzlichen und fahrlässigen Zurechnung identisch sein können, während sich aus der ausschließlich objektiven Sicht das tatbestandsmäßige (vorsätzliche oder fahrlässige) von dem tatbestandslosen Verhalten nicht unterscheiden lässt. Der Unterschied zwischen den beiden Zurechnungsformen, der vorsätzlichen und der fahrlässigen, liegt in dem Wissen über mehr oder weniger zusätzliche Glieder der Kausalkette, die zum Erfolg führt. Die Kenntnis von manchen Gliedern gilt jedoch gleichsam für beide. Darüber hinaus soll es dem von der imputatio obiectiva vorgeschlagenen Unterscheidungsprinzip an Spezifität mangeln und soll es zur Willkür neigen, nachdem ihm eine so weite Formel zugrundeliegt wie diejenige, die die kriminalpolitischen Zwecke berücksichtigt, denn: Wie kann man entscheiden, wann es „notwendig und legitim“ ist, das Sonderwissen zu berücksich26 Greco ZStW 117 (2005), 538; Martínez Escamilla La imputación objetiva del resultado, 1992, S. 84 f, 89 f, weist auf die unbedachte Übertragung des bei dem fahrlässigen Delikt entstandenen Adäquanzurteils auf den vorsätzlichen objektiven Tatbestand hin.

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tigen, um zu erkennen, was erlaubt und was verboten ist in einem allgemeinen und „objektiven“ Sinne?27 Was der Durchschnittsbürger nicht wahrgenommen hätte, reicht nicht immer aus, um die Relevanz oder Irrelevanz der Gefahr zu beurteilen, mit deren Hilfe man die Basis der Beurteilung vervollständigen kann, und es bietet nicht einmal Anhaltspunkte, um auf weitere Quellen zurückgreifen zu können. Tatsächlich stellt sich diese Herangehensweise als ein höchst unwirksamer Filter dar, um über die Tatbestandsmäßigkeit zu entscheiden, denn sie vermag nicht anzugeben, wann es auf das Sonderwissen des Handelnden ankommt, um den objektiven Tatbestand anzunehmen. Wenn die Rechtsordnung Rechtsgutsverletzungen planmäßig vermeiden will, während gleichzeitig die größtmögliche Freiheit des Handelns gewährleistet werden soll, indem sie nur das Unabdingbare verbietet, kann sie, vor allem in Fällen scheinbar geringer Risiken, nur das tatsächliche Ausmaß des Risikos berücksichtigen, um über das objektive Verbotensein zu entscheiden, und muss für den subjektiven Tatbestand die Betrachtung anhand dessen vornehmen, wie weit das Wissen des Handelnden reicht. Dass der Handelnde (möglicherweise) mehr oder weniger Wissen über Risikofaktoren hat, kann nicht ein objektiv unerhebliches Risiko in ein relevantes umwandeln. Und wenn man von einer rein objektiven Perspektive aus die beiden Gefahrformen nicht unterscheiden kann, muss man zugeben, dass der Gefahrengrad (Grundkriterium der objektiven Zurechnung) allein, isoliert vom subjektiven Tatbestand, nicht zur Tatbestandseinschränkung geeignet ist.

III. Unstimmigkeiten, die sich aus der Einbeziehung der subjektiven Kenntnisse in die Prüfung des objektiven Tatbestandes ergeben Das wichtigste Argument gegen die Einbeziehung des Sonderwissens in die Urteilsbasis des durchschnittlichen Beobachters liegt jedoch in ihrer Widersprüchlichkeit zu der Prämisse, auf der man aufbaut. Per definitionem ist das Sonderwissen dasjenige, das der durchschnittliche Beobachter nicht erreichen könnte. Es also in die Urteilsbasis einzubeziehen setzt in der Tat 27

Nach den Worten von Armin Kaufmann (FS Jescheck, 1985, 259) richtet sich der Normativismus nach einem objektiven Beobachter, „dessen Eigenschaften wir der Retorte unserer Wissenschaft entnehmen“; und: „die Ingredienzen an ‚nomologischem‘ Wissen und an ‚ontologischer‘ Kenntnis oder Erkenntnisfähigkeit, die wir in diese Retorte hinein tun, bestimmen sich nach dem, was wir an ‚billigen‘ oder ‚vertretbaren‘ Ergebnissen für die Beurteilung erwarten“; gerade aus dieser Normativität, aus der Tatsache, dass wir den Inhalt entziehen, den wir kurz zuvor hinein gegeben haben, folgt, dass der „Begriff der Gefahr zu einer Gefahr für die Tatbestandsbestimmheit“ gemacht wird.

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die Aufgabe einer solchen Prämisse voraus. Wenn man nun, um das objektive Verbotensein der zum Erfolg führenden Gefahrschaffung zu bestimmen, das Täterwissen berücksichtigen muss, führt dann nicht die funktionalistische Systematisierung zu einer Inkongruenz im Bereich der Kategorien, die dasjenige, was als „objektiv“ begriffen werden kann, übersteigt? Wenn argumentiert wird, dass die kriminalpolitische Funktion des objektiven Tatbestandes darin liege, die äußeren Grenzen des Verbotenen zu bestimmen, und dabei das subjektive Sonderwissen, soweit es sich als erforderlich dafür erweist, schon im objektiven Tatbestand erheblich sei,28 wird der Mindestsinn vom Objektiven (= des allgemein Gültigen) aufgegeben. Wenn man also aus einer objektiven Sicht heraus bestimmen will, was verboten ist, dann kann eine solche Abgrenzung nicht abweichen von dem, was für jeden Handelnden vor jeder gegebenen Lage verboten ist. Das Argument, dass der objektive Tatbestand nicht strenger für das Individuum mit Sonderwissen zu bewerten sei, weil man ihm nicht mehr zumutet als jedem, der über solche Kenntnisse verfügt,29 verwendet schon einen Begriff des objektiven Tatbestandes, der es ermöglichte, den subjektiven Tatbestand gänzlich einzubeziehen, wodurch ein globaler Tatbestand geschaffen würde, in den alle relevanten, sowohl objektiven als auch subjektiven Merkmale hineinfallen würden, um das Verbotensein eines Verhaltens zu bestimmen. Grundsätzlich wird eine intuitu personae-Natur des strafrechtlichen Verbots bei den Erfolgsdelikten verteidigt.30 Das Widersinnige des kritisierten Ansatzes erweist sich vor allem bei gemeinsamen Handlungen mehrerer Personen, von denen nur eine besondere Kenntnisse zu spezifischen Aspekten der Verletzungsgefahr hatte. Diese würden individuell den objektiven Tatbestand erfüllen oder nicht erfüllen, je nachdem, ob sich die Kenntnisse des Einzelnen auf (maximal) das Niveau des durchschnittlichen Beobachters beschränken oder jenes in einem entscheidenden Faktor überschreiten. Um das Beispiel der Luftreise komplizierter zu machen: Wenn zwei Neffen voller Gier nach dem Erbe ihres Onkels ihn gemeinsam davon überzeugen, eine Urlaubsreise zu unternehmen, 28

So Greco ZStW 117 (2005), 553 f. So stillschweigend Greco ZStW 117 (2005), 550. 30 Denn die Einbeziehung der subjektiven Kenntnis in die objektive Beurteilung der Gefahr würde dazu führen, dass für den normalen Bürger ein bestimmtes Verhalten „äußerlich“ nicht verboten wäre, wenn der modellhafte Beobachter ein erhebliches Risiko der Rechtsgutsverletzung nicht gesehen hätte, während es „äußerlich“ für Personen mit besonderen Kenntnissen doch verboten wäre, Kenntnissen, die in diesem Fall in das Rüstzeug des durchschnittlichen Betrachters einbezogen werden. Die Kenntnis des durchschnittlichen Beobachters erinnere hier an das Paradoxon von Schrödingers Katze, weil er zugleich wissen und nicht wissen würde; hinsichtlich des gleichen äußeren Verhaltens würde er urteilen, dass einmal eine geringfügige und gleichzeitig eine unerträgliche Gefahr vorläge. 29

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und nur einer von ihnen über bestimmte Informationen in Bezug auf außergewöhnliche Risiken (etwa eine Bombe an Bord) verfügt, dann würde nur dieser den objektiven Tatbestand erfüllen, auch wenn die Handlung, die beide verwirklichen, äußerlich dieselbe ist, nämlich die Aufforderung eines anderen, sich auf ein außergewöhnliches Risiko einzulassen. Auch in vielen Fällen mittelbarer Täterschaft würde die kritisierte Lösung dazu führen, schon die Verwirklichung des objektiven Tatbestands durch das Werkzeug zu verneinen,31 und nicht nur einen Tatbestandsirrtum bei ihm anzunehmen. Das wäre der Fall, wenn z. B. der über ausreichende Informationen verfügende Neffe den anderen als Werkzeug manipuliert, um ihren Onkel davon zu überzeugen, die Reise anzutreten. Wenn die kritisierte Lehre sich als „Lehre von der objektiven Zurechnung“ bezeichnet, sollte sie dann nicht vielmehr in diesen außergewöhnlichen Fällen für die objektive Tatbestandsmäßigkeit darauf abstellen, dass das Gefahrniveau für das Opfer – intersubjektiv – immer höher ist, als wenn man es den Risiken des Alltags aussetzen würde? Zugegeben, einen Anderen ubiquitären Gefahren auszusetzen, erfüllt nicht die strafrechtlichen Tatbestände. Um jedoch darüber zu entscheiden, ob das fragliche Risiko die allgemeinen Risiken überschreitet, ist der durchschnittliche, mit der ihm innewohnenden kognitiven Begrenztheit ausgestattete Maßstab des objektiven Beobachters nicht angemessen. Das bedeutet jedoch wiederum nicht dass sich der Beobachter das Wissen, das das handelnde Subjekt hat, einverleiben soll (weil man nicht nachvollziehen könnte, warum die besonderen Kenntnisse, nicht aber die besondere Unkenntnis in Bezug auf diesen idealen Beobachter berücksichtigen werden sollte), sondern dass er alle tatsächlich vorliegenden Risikofaktoren kennen muss.32 Denn objektiv gesehen bringt eine Reise mit irgendeinem Flugzeug nicht das gleiche Maß an Risiko mit sich wie die Reise mit einem Flugzeug, das eine Zeitbombe an Bord hat, mag auch dem durchschnittlichen Beobachter der tatsächliche Unterschied nicht bewusst sein. Das Objektive ist begrifflich das tatsächlich in die Außenwelt Getretene, unabhängig also von dem, was im konkreten Fall der ideale Beobachter oder das handelnde Subjekt darüber weiß oder verkennt, vor allem bezüglich außergewöhnlicher Einzelheiten. Andererseits stellt sich die Frage, was für ein eigenartiger objektiver Beobachter es ist, der nur dann weiß, dass sich eine Bombe an Bord befindet, wenn auch der Täter dies erkannt hat, er es aber ebenfalls nicht weiß, wenn der Täter keine Kenntnis davon hat! Wenn es eine Bombe an 31

In diesem Sinne ausdrücklich Greco ZStW 117 (2005), 551 m. w. N. in Fn. 144. Mit Recht hebt Kindhäuser GA 2007, 468 hervor, dass es aus einer rein objektiven Sicht keine „inadäquaten“ Kausalvorgänge gebe, dass aber alle so, wie sie sich darstellen, ex post bei der Feststellung des Zurechnungsgegenstands berücksichtigt werden, und es dabei unerheblich sei, wie ein objektiver Beobachter sie beurteilt hätte. 32

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Bord gibt, dies aber sowohl der objektive Beobachter als auch der Täter nicht wissen, würde Letzterer noch den objektiven Tatbestand erfüllen; was fehlt, trotz der eventuellen Hoffnung des Täters, sein Opfer loszuwerden, ist der subjektive Aspekt, da er den einschlägigen Risikofaktor verkennt und folglich im Tatbestandsirrtum gehandelt hat. Darüber hinaus ist der Fall denkbar, dass das sogenannte Sonderwissen (nicht die subjektive Prognose!) einfach ungewiss ist. Sollten wir nun den objektiven Beobachter auch mit diesen Vermutungen ausstatten? Und dann, was für eine Prognose über ein „objektives“ Risiko würde er treffen auf der Grundlage reiner Vermutungen über seine Urteilsbasis? Angesichts der Ungereimtheiten solcher Ansätze sollte man sich damit abfinden, dass jeder Anhauch von Erkenntnis nur in der subjektiven Analyse Sinn macht, weil wir bei dieser immer einkalkulieren können, welche Kenntnisse des Handelnden dem Vermuten oder Mutmaßen zugrunde lagen, und so das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes annehmen, je nachdem, was tatsächlich erkannt wurde und nicht, was sich der Erkenntnismöglichkeit entzieht – die Ungewissheitslage – etwas, das jedoch in Bezug auf ein ideales Modell nicht durchführbar ist. Zugunsten der Objektivität des subjektiven Wissens könnte vorgebracht werden, dass dieses bei dem Urteil über die Missbilligung der Gefahr nur berücksichtigt wird, wenn es der Wirklichkeit entspricht, und nicht, wenn es unzutreffend (also per definitionem nicht objektiv) ist. Wenn die Information des Neffen bezüglich der Bombe in dem Flugzeug falsch war, hat er seinem Onkel den allgemeinen Risiken des Lebens ausgesetzt, nicht dem spezifischen Risiko, bei einer geplanten Explosion ums Leben zu kommen. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen nicht unangemessen ist aufgrund der Tatsache, dass so nicht immer das subjektive Wissen des Täters einbezogen wird? Denn wie „weiß“ der vernünftige Beobachter in welchen Fällen das Wissen des Handelnden nicht der Wirklichkeit entspricht? Sollte es daher nicht berücksichtigt werden? Dem umsichtigen Beobachter ist nicht bekannt, ob eine außergewöhnliche Gefahrenlage vorliegt oder nicht, bis er mit dem Wissen des Subjekts ausgestattet wird. Folglich weiß er nicht vorher, ob es sich um eine außergewöhnliche oder eine alltägliche Gefahrenlage handelt. Im Grunde genommen ist der Rechtsanwender derjenige, der, nachdem er zu dem Schluss gelangt, dass entweder eine alltägliche oder eine außergewöhnliche Lage vorliegt, auf diese Feststellung hin darüber entscheidet, ob zur Kenntnis, die der durchschnittliche Bürger hatte, diejenige des Täters (der wirklich zutreffendes Sonderwissen hatte) hinzugefügt werden muss oder nicht (wenn er nicht vorliegende Risikofaktoren irrtümlich annahm). Denn tatsächlich geht der Rechtsanwender bei der Analyse der Risikofaktoren selbst von einem wirklich objektiven ex post, der

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Wirklichkeit entsprechenden Begriff aus,33 und so kann er es sich leisten, unter Einbeziehung verschiedener Dosierungen des dem Subjekt Bekannten, die Kenntnis des durchschnittlichen Beobachters anhand der objektiv vorliegenden Faktoren zu korrigieren. Andererseits ist aus methodischer Sicht heraus nicht nachvollziehbar, warum die subjektive Kenntnis zweimal berücksichtigt werden soll: einmal beim objektiven Tatbestand durch ihre Einbeziehung in das Wissen, mit dem der sogenannte objektive Beobachter ausgestattet wird, und dann zusätzlich beim subjektiven Tatbestand im Rahmen der gewöhnlichen Prüfung des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit. Freilich kehrt, wie bereits von Armin Kaufmann hervorgehoben, die imputatio obiectiva die traditionelle Reihenfolge der Analyse um, indem sie die Prüfung des Tatvorsatzes – ohne offensichtlichen Gewinn – derjenigen des objektiven Tatbestandes voranstellt34; bzw., worauf Struensee mit seiner unvergleichlichen Ironie hingewiesen hat, gerät sie in einen Hypersubjektivismus, indem sie das Subjektive immerhin als begriffliches Merkmal des objektiven Tatbestandes annimmt, ein Mysterium, das der Finalismus niemals zu betreten sich zutraute.35

IV. Ein Versuch, die den Tatbestandsumfang begrenzende Wertung im Bereich des Subjektiven unterzubringen Gewiss bringt die Theorie der objektiven Zurechnung Vorteile bei der Lösung zahlreicher strafrechtlicher Problemkonstellationen mit sich, und mit Recht tritt sie dafür ein, bei der Abgrenzung tatbestandlicher von tatbestandslosen Verhaltensweisen normative, auf die Strafrechtsziele fokussierte Kriterien zu verwenden, die über rein psycho-physische Faktoren hinausgehen.36 Ihr hermeneutischer Nutzen leuchtet auch ein, wenn man die jüngsten Vorschläge zur Zusammenfügung der Ergebnisse der normativen, wertenden Lehren mit den unverzichtbaren Grundlagen der „Ontologizisten“ betrachtet. So formuliert Cuello Contreras37 und hebt dabei hervor, dass die Bewertungen nicht umhin können, die Wesensart des menschlichen 33

Wie Burkhardt (in: Wolter/Freund (Fn. 22) S. 99, 105 f, 132) ausführt, sollte, um festzustellen, ob eine Handlung gefährlich ist oder nicht, aus der ex-post Perspektive, nicht aus der ex-ante Perspektive eines modellhaften abstrakten Beobachters heraus geurteilt werden; so würde von selbst das Problem des Sonderwissens verschwinden. 34 Armin Kaufmann FS Jescheck, 1985, 265; ebenso Rueda Martín (Fn. 1) S. 170. 35 Struensee in: Homenaje al Profesor David Baigún, 1995, 251. 36 Gimbernat Ordeig Delitos calificados por el resultado y relación de causalidad, 1966, S. 111. 37 Cuello Contreras RECPC (vgl. Fn. 6) 08/2006, 16 ff; vgl. auch ders. in: Libro homenaje a Domingo García Rada, 2006, 67 ff.

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Handelns zu berücksichtigen, weil das Recht auf den Strukturen der Wirklichkeit beruhen muss, wenn es auf sie wirksam sein will.38 Allerdings verficht die Lehre von der objektiven Zurechnung in Fällen von scheinbar geringfügigen Risiken die Anwendung eines wertenden Ansatzes, um den Umfang der Tatbestandsmäßigkeit schon auf der objektiven Ebene einzuschränken, indem sie aus dem Tatbestand die objektiv unvorhersehbaren schädlichen Folgen ausschließt. Da es jedoch darauf ankommt, die strafrechtliche Zuordnung eines Verletzungserfolges zu einem Subjekt als deren Werk und keineswegs als ein Werk des Zufalls zu behaupten bzw. auszuschließen, verfehlt sie ihr Ziel, indem sie die Bewertung in den objektiven Bereich einfließen lässt, da sich in diesem Bericht keine Unterscheidung zwischen geringfügigen und unerträglichen Gefahren feststellen lässt, was der Tatsache geschuldet ist, dass jedem Erfolg immer ein relevantes, also nicht geringfügiges Risiko objektiv vorausgeht. 39 Denn nicht einmal von ihren Prämissen ausgehend, könnte der objektive Beobachter seine Funktion ausüben, geringfügige Risiken aus dem Tatbestand auszuschließen. Ein solcher Beobachter kann definitionsgemäß Sachlagen, bei denen die allgemeinen Risiken des Lebens überschritten werden (Bombe im Flugzeug), nicht erkennen, da er zu dem besonderen Sachverhalt, der das nicht tolerierte Risiko in sich birgt, nur Zugang hätte, wenn er zufälligerweise bereits über das subjektive Sonderwissen verfügte. Am besten gelingt es ihm, seinen eigenen Prämissen folgend und ohne sie zu verraten, die Wahrscheinlichkeit zu bestätigen, dass der objektive Tatbestand bei den Sachlagen entfiele, in denen normalerweise nur die allgemeinen Risiken des Lebens bestehen. Kann er aber nicht mit Sicherheit ausschließen, dass ausnahmsweise doch unerträgliche Risiken vorliegen, so erweist sich dieser Filter der Tatbestandsmäßigkeit als ungeeignet. Durch das Hinzufügen der subjektiven Kenntnisse zur Kenntnislage des vernünftigen Beobachters offenbart diese Lehre in der Tat ihre Unfähigkeit, jeden Wertungsunterschied nur aus dem Objektiven, dem nicht Psychischen, festzustellen, denn der durchschnittliche Beobachter würde in vielen Fällen die Umstände, die zur Folge haben, dass die Gefahr die erlaubten Grenzen überschreitet (Bombe im Flugzeug), nicht kennen. Die Lehre ist dazu gezwungen, den objektiven Beobachter in die Lage des Täters, der sich des Risikos bewusst ist, zu stellen, dies aber willkürlich nur für den Fall, dass dessen Kenntnisse höher waren. 38

Mir Puig RECPC (vgl. Fn. 6) 05/2003, 6. Dies würde sicherlich von dem allwissenden Beobachter wahrgenommen werden. Und wenn es auch das handelnde Subjekt (wenn auch nicht der durchschnittliche Beobachter) wahrgenommen hätte, könnte die Missbilligung des Risikos, die Zurechnung, nicht geleugnet werden, aber gerade weil es wüsste, weil der subjektive Tatbestand vorläge. 39

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Im Gegensatz dazu ist der einzige systematische Standort, an dem unter dem Aspekt des Sicherheitsgrades, den die Norm dem Rechtsgutsobjekt gewährleisten kann, eine Abstufung, vorgenommen werden kann, derjenige der subjektiven Vorhersehbarkeit, der konkreten Kenntnisse des Täters über die zum Erfolg führenden Risikofaktoren; und dies, da die menschliche Erkenntnis von Natur aus unvollständig und fehlbar ist, und nur aus dem tatsächlich durch das Subjekt während seines Handeln Erkannten bestimmt werden kann, ob es zu diesem Zeitpunkt die strafrechtlichen Verhaltensnormen übertreten hat oder nicht, das heißt, ob an seiner Stelle der vorbildliche Bürger die Handlung, die diese bekannten Risikofaktoren mit sich bringt, durchgeführt oder unterlassen hätte. In diesem Bereich ist es ja möglich, wertend zu urteilen, und zwar anhand eines Maßstabs, bei dem ein gewisses Maß an Kenntnis über die tatsächliche Grundlage der Gefahr für den Tatbestand ausreichend ist, auf seiner Basis die Tatbestandslosigkeit zu folgern. Aus dieser Perspektive können die objektiv durch das Subjekt verursachten Gefahren nur dann als geringfügig angesehen werden, wenn auf der Basis der ihm bekannten Risikofaktoren der Erfolgseintritt als nicht von ihm beherrschbar angesehen werden kann, 40 das heißt, wenn dieser Erfolg, ausgehend von dem vom Subjekt Erkannten, statistisch als nicht vorhersehbar eingeschätzt werden kann. Wenn das Subjekt hingegen einschlägige Kenntnisse von ursächlichen Faktoren („Sonderwissen“) hat, die über diejenigen hinausgehen, aus denen die Unvorhersehbarkeit gefolgert würde, so dass der Täter in irgendeiner Weise weiß, dass er den Erfolgseintritt beeinflusst, ist ohne Weiteres die tatbestandsmäßige Relevanz gegeben. In der Terminologie der objektiven Zurechnung ausgedrückt: Wenn das Ziel des Strafrechts in der planmäßigen Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen bei möglichst geringer Einschränkung der subjektiven Freiheit liegt,41 muss man, um den vollendeten Tatbestand verantworten zu können, berücksichtigen, was das Subjekt über die Tatsachengrundlage des Risikos, das zum Erfolg geführt hat, wusste, da gerade der spezifische Adressat der Norm der einzige ist, der sein Handeln dahingehend orientieren kann, dass er die Veranlassung des zum unerwünschten schädlichen Erfolg führenden kausalen Prozesses unterbindet. Im Bereich des subjektiven Wissens kann man doch im Hinblick auf das Ziel des Strafrechts einen der Grundsätze der objektiven Zurechnung wertend festsetzen: Dass nämlich die alleinige Kenntnis der allgemeinen Lebensrisiken, ohne zusätzliche Indizien, nicht den subjektiven Tatbestand erfüllen kann, während die subjektiven Erkennt40

Hirsch Revista Peruana de Ciencias Penales, 2000, 444 f besteht auf der geringfügigen Gefährlichkeit des Verhaltens als einschlägiges Moment der Tatbestandslosigkeit wider Roxin ZStW 116 (2004), 936. 41 So wird es von Roxin ZStW 116 (2004), 936 hervorgehoben.

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nisse über zusätzliche, nicht für andere (durchschnittliche) Täter zugängliche Faktoren, die eine Handlung unerträglich gefährlich machen, dagegen in der Lage dazu sind. Es soll auch vom Standpunkt der Gemeinschaft, die das Geschehen im Zeitpunkt der Handlung „über die Schulter des Subjekts hinweg beobachtet“ wertend festgestellt werden, ob das für den Vorsatz oder die Fahrlässigkeit erforderliche Wissen tatsächlich vorliegt. Vom Vorhandensein eines bestimmten Wissens beim Subjekt (Tatsache des Seins) im Zeitpunkt der Entscheidung zu handeln, lässt sich der Verstoß gegen die Norm, die ihm eine Unterlassung vorschreibt (Tatsache des Sollens), ableiten. Dabei richtet sich die Wertung danach, wann der Wissensgrad als ausreichend angesehen wird, um diesen Verstoß zu behaupten. So überwindet die vorgeschlagene These den Einwand, sie könne nicht aus der ontologischen in die präskriptive Welt hinübergehen. Ohne das Vorliegen eines Minimums der oben beschriebenen Kenntnisse (mindestens des subjektiven fahrlässigen Tatbestands), müssen wir die Tatbestandslosigkeit folgern. Andernfalls, wie u. a. von Roxin42 und Frisch43 befürwortet, kann kaum behauptet werden, dass der Tatbestand seine Appellfunktion erfüllt. Wenn die teleologische Auslegung der Tatbestände, wie von der normativistischen Lehre verfochten, von wesentlicher Bedeutung ist, um den Sprung vom Ontologischen zum Präskriptiven zu bewältigen, dann ist es mit diesem Grundsatz unvereinbar, sich im subjektiven Tatbestand damit zufrieden zu geben, dass der Täter die gefährlichen Umstände wahrgenommen hätte, dass er sich der Norm gemäß verhalten hätte. Denn die Vermeidbarkeit des Verstoßes (es sei denn, dass man zur reinen Erfolgshaftung zurückkehren will) setzt – wie sehr man diese Anforderungen auch lockern mag (die unzweifelhaft nicht die Durchführung eines Gefährlichkeitsurteils durch den Handelnden selbst 44 umfassen) – voraus, dass der Normadressat Anhaltspunkte in seinem Wissen vorfindet, von denen er ableiten könnte, dass er von dem geplanten Verhalten absehen muss, denn sonst könnte die Norm sein Handeln durch Präskription nicht beeinflussen.45 Dass in dieser Lage der objektive Beobachter, der doch gewusst hätte, was der Täter „wissen konnte“ (Roxin, Frisch), sich dazu motiviert fühlen würde, das objektiv gefährliche Verhalten zu unterlassen, ist unerheblich, denn derjenige, der sich tatsächlich motivieren muss, ist das konkrete Sub42

Roxin GS Armin Kaufmann, 1989, 249. Frisch (Fn. 8) S. 34 Fn. 140. 44 Dies ist genau die eigentliche Funktion, die dem objektiven Beobachter zukommt: Aus der Perspektive der Gemeinschaft heraus den Grad der Gefährdung zu beurteilen, der sich aus den dem Subjekt bekannten Tatmerkmalen herleitet, eine Beurteilung, die solches Wissen als Vorsatz, Fahrlässigkeit oder als weder das eine, noch das andere einzustufen ermöglicht. 45 Cuello Contreras Discurso con motivo de su investidura como Doctor ‘honoris causa’ en la Universidad Nacional de San Agustín, in: Cuatro discursos universitarios, 2005, S. 19. 43

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jekt, das im Begriff ist, eine Rechtsgutsverletzung durchzuführen;46 sonst würde die Norm unwirksam. Die Frage der Tatbestandsmäßigkeit sollte sich folglich nicht darauf stützen, was das Subjekt erkennen konnte, sondern darauf, was es tatsächlich erkannte, so geringfügig die gekannten Tatsachen auch sein mögen, sofern sie als ausreichend bewertet werden können. Die einschlägige Bewertung der Tatbestandsmäßigkeit soll danach ergehen, welches Wissen über welche Risikofaktoren47 als ausreichend angesehen wird, um mindestens Fahrlässigkeit (oder doch Vorsatz) anrechnen zu können, oder andernfalls einen Tatbestandsirrtum (also fehlende oder unzureichende Kenntnis über die kritischen Risikofaktoren) anzunehmen. Es sei jedoch bemerkt, dass mit der hier postulierten Umstellung der Wertung auf das Subjektive dem subjektiven Tatbestand kein zusätzliches Überprüfungsniveau beigefügt wird, wie es die kritisierte Lehre für den objektiven Tatbestand fordert, sondern einfach das Vorliegen des Tatbestandes in Bezug auf seine Daseinsberechtigung moduliert wird: Für die Bestimmung der strafrechtlichen Relevanz der Verhaltensweisen in Bezug darauf, ob die Normen, die die missbilligten Angriffe gegen Rechtsgüter verbieten, als verletzt oder nicht verletzt angesehen werden, ist es unentbehrlich, dass das Subjekt von bestimmten Faktoren ein solches Bewusstsein hat, das ihn motiviert, das gefährliche Verhalten zu unterlassen. Kurz gesagt muss sich das Werturteil nicht auf den Bereich des Objektiven beziehen, sondern darauf, welches Kenntnisniveau des Subjekts über Faktoren zwischen Verhalten und Erfolg erforderlich ist, um ihm eine Tat als eine vorsätzliche oder zumindest fahrlässige zuzurechnen. Um es in der Terminologie der Vorhersehbarkeit auszudrücken: Durch eine wertende Überprüfung der Tatbestandsmäßigkeit muss man die Zurechnung subjektiv unvorhersehbarer Erfolge ausschließen, wobei als solche diejenigen verstanden werden, bezüglich derer der Handelnde nur noch ein solches Niveau an Wissen (das aus der Sicht der strafrechtlichen Zielsetzung als ungenügend eingeschätzt wird) hinsichtlich der Risikofaktoren hatte, dass er nicht in der Lage war, sie vorherzusehen, so dass, von der Basis jener Informationen ausgehend, der mögliche schädliche Erfolg nur als ein allgemeines Lebensrisiko angesehen werden kann. Um jedoch die strafrechtliche Erheblichkeit in diesen Fällen auszuschließen, hat die strafrechtliche Dogmatik schon vor langer Zeit den Begriff des Tatbestandsirrtums entworfen. 46 Wie bereits Cuello Contreras (Libro homenaje a Domingo Garcia Rada, 2006, 84) ausführte, ist der Gesetzgeber, so er in Ausübung seiner Souveränität einmal beschlossen hat, bestimmte Verhaltensweisen zu verbieten, durch die Strukturen des Handelns und der Schuld gebunden: Nur dasjenige, was der Mensch „konkret, nicht abstrakt“ vermeiden konnte, kann zugerechnet werden; nicht das, was der durchschnittliche Beobachter, sondern er persönlich, abhänging davon, was er wusste, vermeiden konnte. 47 So Schumann/Schumann FS Küper, 2007, 556.

Ist die „objektive Zurechnung“ objektiv und zurechnend? PABLO SANCHEZ-OSTIZ

Der vorliegende Beitrag zu Ehren von Claus Roxin, dessen Arbeiten zur Frage der objektiven Zurechnung Pflichtlektüre sind,1 vergleicht bestimmte Ansätze der modernen Straftatlehre mit älteren Ansätzen, welche die klassische Zurechnungslehre herausgearbeitet hat, wie sie etwa in den Konzepten imputatio facti und applicatio legis ad factum (I.), zum Ausdruck kommen. Es ist üblich, die objektive Zurechnung als eine juristische Tätigkeit zu begreifen, die einen Erfolg auf ein Verhalten (das Objektive) bezieht, worauf dann die Analyse des Vorsatzes (des Subjektiven) folgt. Dieser Beitrag vertritt den Standpunkt, dass die sog. „objektive Zurechnung“ in Wirklichkeit einen Vergleich der Tat mit einer Regel vornimmt, es sich bei ihr also um die Anlegung eines Maßstabs und um ein Bewertungsurteil und nicht um eine Zurechnung im engeren Sinne handelt (II. – III.). Weiterhin vertritt der Beitrag die These, dass diese juristische Tätigkeit auch subjektive Merkmale einbezieht und somit nicht nur „objektiv“ ist (IV. – V.).

I. Von einem physikalischen Vorgang (oder von einer Untätigkeit), in den (in die) eine Person involviert ist, sagt man, dass eine Tat (bzw. eine Unterlassung) dieser Person vorliegt, wenn der Vorgang (oder die Untätigkeit) seinen (ihren) Ursprung in der Person hat und die Person die relevanten Umstände des Falles kennt.2 Die Bezeichnung eines Vorgangs als „Tat“ (factum) ist das Ergebnis eines Zurechnungsurteils, das in der Zurechnungs1 Von seiner Arbeit: Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, FS Honig, 1970, 133-150 (auch in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, S. 123-146), bis hin zu aktuelleren Beiträgen wie: Das strafrechtliche Unrecht im Spannungsfeld von Rechtsgüterschutz und individueller Freiheit, ZStW 116 (2004), 929-944; ohne dabei seinen AT I, 11992; 42006 § 11, zu vergessen. 2 Schon bei Aristoteles, zit. bei Hruschka FS Roxin, 2001, 443 f, zum Konzept des Vorsatzes und dessen Entwicklung innerhalb der Strafrechtslehre.

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lehre als imputatio facti bezeichnet wird.3 Das factum geht demnach aus der Feststellung hervor, dass der Vorgang in der Person seinen Ursprung hat, diese Person die relevanten Umstände kennt und Kontrolle über den Vorgang hat. Umgekehrt lässt sich ein Vorgang nicht als factum bezeichnen, wenn die Person die relevanten Umstände nicht kennt oder keine Kontrolle hat – in beiden Fällen kann die Tat nicht als solche zugerechnet werden. Hat die Person keine Kontrolle über den Vorgang, dann sind die Voraussetzungen einer necessitas physica seu absoluta erfüllt. Die durch das Urteil (die imputatio facti) als solche zugerechnete Tat wird in einem zweiten Gedankenschritt mit einer Regel konfrontiert, genauer gesagt, mit der Regel, die zum Handlungszeitpunkt für die Person maßgeblich war. Diese Gegenüberstellung von Handlung und Regel heißt in der Zurechnungslehre „applicatio legis ad factum“.4 Dabei werden die in der Prospektive für den Handelnden relevanten Normen (die Verbote, Gebote und Erlaubnisse) in der Retrospektive vom Urteilenden – vom Richter, vom Handelnden selbst oder von einem Dritten – als Maßstab angewandt. Den Verboten korrespondieren die Begehungstatbestände, den Geboten die Unterlassungstatbestände, den Erlaubnissen entsprechen die Tatbestände der Rechtfertigungsgründe. Die Bewertung der Tat (oder der Unterlassung) als tatbestandsmäßig gehört zur applicatio legis ad factum. Die applicatio legis ad factum ist ein Urteil, das sagt, dass die Tat mit dem Tatbestand T übereinstimmt, oder sagt, dass die Tat ein im Hinblick auf die Regel R gerechtfertigtes Verhalten ist. Sie ist nicht ein Urteil, das etwas zurechnet, sondern ein Urteil, das etwas misst oder bewertet, nämlich das, was zuvor als Tat (oder Unterlassung) zugeschrieben wurde.5

3 Gelegentlich nimmt die Strafrechtslehre Bezug auf die Zurechnungslehre, als handele es sich dabei um ein bloßes Entwicklungsstadium der modernen Straftatlehre. Die Zurechnungslehre wird so dargestellt, als sei sie eine Tatsache der Dogmengeschichte. Dabei besteht das Risiko, ihren Ursprung in der Moralphilosophie, der Handlungsphilosophie aus den Augen zu verlieren. Betrachtet man die Zurechnungslehre jedoch als Produkt der Handlungsphilosophie, kann sich dies sehr bereichernd auf die Diskussion auswirken. Zu den Ansätzen der Zurechnungslehre vgl. Hruschka Strukturen der Zurechnung, 1976; ders. ZStW 96 (1984), 661; ders. Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 21988; ders. Rechtstheorie 22 (1991), 449 ff; ZStW 110 (1998), 581. 4 Die Bezeichnung „applicatio legis ad factum“ und ihre Unterscheidung der beiden Zurechnungsurteile (facti und iuris) war in der Lehre des 18. Jahrhunderts geläufig, vgl. Hruschka Rechtstheorie 22 (1991), 452 ff. 5 Ähnlich auch bei Jakobs AT Abschn. 6 ff, für den die objektive Zurechnung jedoch etwas anderes bedeutet (vgl. Abschn. 7 Rn. 4a); ders. La imputación objetiva en Derecho penal (Übers. Cancio) 1996, S. 11: „averiguar y establecer lo que significa un determinado comportamiento desde el punto de vista social, constituyen el objeto de la teoría de la imputación objetiva“ (Hervorhebung im Original).

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Die Bewertung der Tat im Hinblick auf die (nun als Maßstab angewandte) Verhaltensregel sollte nicht mit dem Zuschreibungsurteil verwechselt werden, das einen Sachverhalt als Tat einstuft (welches Zurechnungsurteil der Bewertung vorausgeht), noch sollte sie mit dem Zuschreibungsurteil verwechselt werden, das eine Tat als negativ (als schuldhaft begangen) bzw. als positiv (als verdienstlich) einstuft (welches Zurechnungsurteil der Bewertung nachfolgt). Einen physikalischen Vorgang, einen Sachverhalt als Tat zuzuschreiben ist die Voraussetzung dafür, diese Tat im Nachhinein im Vergleich mit einer (nunmehr als Maßstab verwendeten) Verhaltensregel bewerten zu können (Entsprechendes gilt für die Unterlassung). Die Bewertung ihrerseits ist die Voraussetzung dafür, eine als falsch bewertete Tat dem Handelnden als schuldhaft begangen zuzuschreiben. Die in der Straftatlehre übliche Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld kann übersehen, dass zwischen diesen beiden Konzepten (Rechtswidrigkeit und Schuld) ein qualitativer Unterschied besteht: Die Bewertung einer Tat als rechtswidrig ist kein Zurechnungs-, sondern ein Bewertungsurteil, ein Urteil, das die Tat misst6 (applicatio legis ad factum). Die Zurechnung einer rechtswidrigen Tat zur Schuld (oder die Zurechnung einer über das Pflichtmaß hinausgehenden Tat zum Verdienst) ist hingegen ein Zurechnungsurteil (imputatio iuris) und kein bloßes Bewertungsurteil. Diesem Messvorgang wiederum, den wir bei der Wahrnehmung einer Tat als rechtswidrig (oder gegebenenfalls als gerechtfertigt) durchführen, geht ein Zurechnungsvorgang voraus – nämlich der, der es ermöglicht, von einer Tat zu sprechen (imputatio facti). Soweit die von der klassischen Zurechnungslehre vertretenen Konzepte.

II. Die sogenannte „objektive Zurechnung“ der modernen Straftatlehren stimmt nicht mit dem überein, was in der klassischen Zurechnungslehre über Jahrhunderte hinweg als „Zurechnung“ verstanden wurde. Der Name „objektive Zurechnung“ legt es nahe, diese „objektive Zurechnung“ als einen Vorgang, der einen Erfolg mit einem Verhalten in Verbindung bringt, also als ein Urteil mit zurechnendem Charakter aufzufassen. Tatsächlich hat die „objektive Zurechnung“ aber den Sinn, die Tat zu messen. Sie ist ein 6 Die Straftat, für die sich der Urheber verantworten muss, ist kein empirischer Sachverhalt, keine Verletzung eines Rechtsguts im heute gebräuchlichen Sinn, sondern eine Pflichtversäumnis (Pflichtverletzung), vgl. Lesch Der Verbrechensbegriff. Grundlinien einer funktionalen Revision, 1999, S. 26. Außerdem ist der Pflichtadressat und das Subjekt des Verstoßes der „Urheber“, jedoch lediglich als an sich vernünftige Person und nicht als empirisches Wesen, das Trieben unterliegt (vgl. S. 27).

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Bewertungsurteil über eine (zuvor längst zugerechnete) Tat im Hinblick auf eine (in der Retrospektive angewendete) Verhaltensnorm und führt zu dem Ergebnis, dass die fragliche Tat tatbestandsmäßig ist oder nicht.7 Sie ist eine Gesamtheit von Auslegungs- und Subsumtionsvorgängen. Diese Feststellung bestätigt sich, wenn man auf die Inhalte der „objektiven Zurechnung“ in den üblichen Straftatlehren8 blickt und sieht, dass es dabei häufig um eine Gesetzesanwendung geht und die Frage geklärt werden soll, ob die zugerechnete Tat tatbestandsmäßig ist oder nicht. Erstens dienen die im Rahmen der objektiven Zurechnung durchgeführten juristischen Tätigkeiten der Entscheidung über die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens. Bestätigt wird dies durch die Tatsache, dass für die objektive Zurechnung die Schaffung einer tatbestandsmäßig relevanten (und damit rechtlich nicht gebilligten)9 Gefahr erforderlich ist. Das heißt, dass 7 Roxin selbst (AT I § 11 Rn. 1) nimmt darauf folgendermaßen Bezug: „Bei reinen Tätigkeitsdelikten … erschöpft sich die Zurechnung zum objektiven Tatbestand in der Subsumtion unter die im Besonderen Teil zu behandelnden speziellen Merkmale des jeweiligen Tatbestandes“. Daher erscheint die objektive Zurechnung, wenngleich sie auch bei den Taten bloßer Aktivität (einschließlich derer mit abstrakter Gefahr, vgl. Rn. 146 und 153) erforderlich ist, so für sich allein genommen als ein Problem der Erfolgsstraftaten (vgl. Rn. 1 und 46). Allerdings tauchen bei der Analyse der einschlägigen Fallgruppen zahlreiche Auslegungs- und Subsumtionskriterien auf, vgl. hierzu auch Roxin FS Honig, 1970, 136 ff; in jüngerer Zeit fasst Roxin die objektive Zurechnung als Äquivalent des Rechtsguts auf – beide werden für die Aufgabe eines gesellschaftlichen Abwägens der gesellschaftlich verbotenen Gefahren in Anspruch genommen, vgl. ZStW 116 (2004) 929 ff. Vgl. Jescheck AT, 41988, § 28. I. 2 (mit Hinweis auf Beling): „…für das Strafrecht ist nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung wesentlich, sondern allein die Frage, ob der Erfolg dem Täter unter dem Gesichtspunkt gerechter Bestrafung objektiv zugerechnet werden darf. … Unter objektiver Zurechnung (Haftung) ist das Urteil über die Frage zu verstehen, ob ein Erfolg als die ‚Tat‘ eines bestimmten Menschen anzusehen ist“ (Hervorhebung durch den Verfasser; mit Hinweis auf Larenz Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung. Ein Beitrag zur Rechtsphilosophie des kritischen Idealismus und zur Lehre von der „juristischen Kausalität“, 1927 [1970], S. 60 ff). Vgl. außerdem Jescheck/Weigend AT § 28 I 2: „Die Frage der Zurechnung eines Erfolges zum Verhalten eines Individuums ist für das Strafrecht nach dessen spezifisch normativen Maßstäben auch zu entscheiden“ (Hervorhebung durch den Verfasser). Kritisch gegenüber der Auffassung Larenz Hegels Zurechnungslehre, S. 51 von imputatio facti und „objektiver Zurechnung“; Hübner Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, 2004, S. 69. Ich bezweifle hingegen, dass die Verwirrung zwischen imputatio facti und „objektiver Zurechnung“ derart ist, wie sie Hübner (S. 113 f), Kindhäuser (vgl. Kindhäuser GA 1994, 202; ders. Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte, 1989, S. 18) zuschreibt. 8 Angefangen bei der Bezeichnung „Zurechnung zum objektiven Tatbestand“ (vgl. in Roxin AT I § 11) selbst. Vgl. Honig FS von Frank I, 1930 (1969), 179 Fn. 2. 9 Es handelt sich um etwas, das in den Beiträgen von Frisch genau beschrieben wurde, vgl. Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 22, nach dessen Ansatz es wesentlich ist, die Fragen der Tatbestandsmäßigkeit (Schaffung einer nicht gebilligten Gefahr) von den Fragen einer Zurechnung des Erfolgs auf das Verhalten (Erfolgszurech-

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die geschaffene Gefahr zu den von der Norm vorgesehenen Gefahren gehört, was voraussetzt, dass die Norm interpretiert und die Tat darunter subsumiert worden ist10. Etwas Ähnliches ließe sich von Kriterien wie dem Schutzzweck der Norm11 oder der Sozialadäquanz12 behaupten. Die Anwendung von Kriterien dieser Art unterstreicht die Tatsache, dass im Rahmen der objektiven Zurechnung eine Vorschrift interpretiert und eine Tat unter die Vorschrift subsumiert wird.13 In der Tat wird durch die Lehre von der objektiven Zurechnung (bei den Erfolgstatbeständen) ein Urteil angestrebt, kraft dessen ein Erfolg einem Verhalten zugeschrieben wird.14 Daher geht es darum, den Erfolg als Ausdruck einer nicht erlaubten, im fraglichen Erfolgstatbestand beschriebenen Gefahr15 und das Verhalten, falls es aus bloßer Aktivität besteht, als eine Unterart der im fraglichen Tatbestand beschriebenen Verhaltensweisen16 zu begreifen. Es geht schlussendlich um die Bewertung dessen, ob die Tat zu den in einem Tatbestand beschriebenen Verhaltensweisen gehört. Das erfordert zum einen, das Objekt (die Tat) eingegrenzt zu haben, und zum anderen, über eine Norm zu verfügen, diese zu

nung) zu trennen, vgl. S. 59-62. In ähnlicher Weise Silva Sanchez Aproximación al Derecho penal contemporáneo, 1992, S. 415 f, der die Frage des Entstehens des Erfolgs und seine Zuschreibung im Hinblick auf die Gefahr als eine Frage der Schädlichkeit und nicht des Nichtbefolgens der primären Verhaltensnorm betrachtet. 10 Für Gimbernat Ordeig Estudios de Derecho penal, 31990, S. 212-213, findet sich die objektive Zurechnung nicht in den Gesetzestexten, sondern das systematisch-wissenschaftliche Denken („deduce [sc. los elementos de la imputación objetiva] del sentido y fin de las prohibiciones (tipificaciones) penales, y de los principios que deben informarlas”) leitet die Merkmale der objektiven Zurechnung vom Sinn und Zweck der strafrechtlichen Verbote (Einteilung nach Tatbestandsmäßigkeit) und von den Prinzipien, die diesen Form geben sollen, ab“ (S. 213). Gimbernat selbst unterscheidet Tatbestandsmäßigkeit und objektive Zurechnung (S. 214). 11 Vgl. Roxin FS Honig, 1970, 140-142; ders. AT I § 11 Rn. 84-87. 12 So schon bei Honig FS von Frank, 1930 (1969), 174 ff, 178 f. Bei Honig bezieht sich der Bereich der „objektiven Zurechnung (des Erfolgs)“ allerdings nur auf eine partielle Bedeutung des Zurechnungsbegriffs (vgl. Frisch FS Roxin, 2001, 215). Vgl. auch Gallas ZStW 67 (1955), 21 mit Bezug auf die materielle Tatbestandsmäßigkeit; Frisch FS Roxin, 2001, 227, nach einem Zitat von Roxin selbst in GS Armin Kaufmann, 1989, 245 f. 13 Aus ähnlichen Gründen bevorzugt unter anderem Kindhäuser GA 1982, 477 in seiner Studie zur menschlichen Handlung und Verantwortung die Verwendung des Begriffs „Zuschreibung“ (eher im Einklang mit den Entwicklungen der analytischen Philosophie). Die Zuschreibung von Verantwortung wird dabei von den Kategorieebenen („objektive Zurechnung“ …) gelöst, in denen sie üblicherweise formuliert wird. 14 Vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 1; Mir Puig Derecho penal. Parte general, 82008, 10/5. 15 Vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 44-46. 16 Mit anderen Worten: Dass in den aus bloßer Aktivität bestehenden Taten ebenfalls eine „objektive Zurechnung“ erforderlich ist (vgl. Mir Puig Derecho penal. Parte general, 82008, 10/62; ders. Modernas tendencias en la ciencia del Derecho penal y en la Criminología, 2001, S. 403 f. Dagegen Gómez Benítez Teoría jurídica del delito. Derecho penal. Parte general, 1987, S. 169).

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interpretieren und auf die Tat anzuwenden. Beide Vorgänge sind jeweils die Reflexion dessen, was die klassische Zurechnungslehre als imputatio facti und applicatio legis ad factum bezeichnete. Zweitens lässt sich, schenkt man den üblichen Konkretisierungen der „objektiven Zurechnung“ Beachtung, feststellen, dass es sich häufig um teleologische Reduktionen (Beispiel: Schutzzweck der Norm) oder um restriktive Auslegungen der anzuwendenden Vorschrift handelt, um Sozialadäquates oder wegen Insignifikanz als irrelevant Betrachtetes aus der Tatbestandsmäßigkeit auszuschließen. Diese Vorgehensweise zeigt, dass wir es hier mit dem zu tun haben, was in der juristischen Methodenlehre als Auslegung und Anwendung des Rechts gilt.

III. Genauer ausgedrückt: Die Lehre von der objektiven Zurechnung der üblichen Straftatlehren beschreibt eine juristische Tätigkeit, die keine eigentliche Zurechnung17 ist, sondern die stattdessen die Bewertung einer zuvor zugerechneten Tat enthält18. Die objektive Zurechnung (der herrschenden Meinung) schließt Tätigkeiten ein, die nicht Zurechnung,19 sondern Ausle-

17 Vgl. Frisch (Fn. 9) S. 33-44, 70 ff; ders. FS Roxin, 2001, 235 f; vgl. auch den Beitrag von Robles Planas zur Übersetzung der zitierten Arbeit von Frisch (Frisch/Robles Planas Desvalorar e imputar. Sobre la imputación objetiva en Derecho penal, 2004, S. 69-111, insb. S. 76, 7989, 101-102); vgl. ebenso Silva Sánchez Prólogo in: Frisch/Robles Planas ebd., S. 16. 18 Vgl. Frisch FS Roxin, 2001, 231-237, und vor allem in ders. (Fn. 9), zur Rolle der Tatbestandsmäßigkeit und zur Unterscheidung der Bereiche Verhaltenszurechnung und Erfolgszurechnung (vgl. dazu die Kritik von Roxin AT I § 11 Rn. 51; Schünemann GA 1999, 216; und Frisch FS Roxin, 2001, 236). Vgl. auch Vives Antón Fundamentos del sistema penal, 1996, S. 305-309, für den gilt: „todos los aspectos de la imputación objetiva son reconducibles a la conducta típica … la imputación objetiva se ‚disuelve‘, así, en las concretas interpretaciones de los distintos tipos de la Parte Especial“ (S. 309). Demnach lassen sich alle Aspekte der objektiven Zurechnung auf das tatbestandsmäßige Verhalten zurückführen, die objektive Zurechnung „löst“ sich so in den konkreten Auslegungen der verschiedenen Tatbestandsmäßigkeiten im Besonderen Teil auf. 19 Mit Sicherheit legte die „Entdeckung“ der Kategorie „objektive Zurechnung“ die Notwendigkeit offen, den Einsatz der ontologischen Kausalität zur Bestimmung der Tatbestandsmäßigkeit zu überwinden. Allerdings musste dadurch die Handlung als der Punkt, an dem sich die Tatbestandsmäßigkeit entscheidet, aufgegeben werden. Diese konnte sich nur noch von tatsächlich valorativen Kategorien ableiten (so Gimbernat Ordeig Delitos cualificados por el resultado y causalidad, 1966 [1990], S. 111; ders. (Fn. 10) S. 210-212, wenngleich dies anfangs unter der Verwendung des Begriffs „objektive Vorwerfbarkeit“ [Delitos, S. 105-110], später dann unter der des Begriffs „objektive Zurechnung“ erfolgte [Estudios de Derecho penal, 31990, S. 209-217]).

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gung und Subsumtion20 sind. In den letzten Jahren sind die Kriterien der objektiven Zurechnung genauer definiert worden. Dieser Prozess, der sich auch als eine progressive Normativierung der Zuschreibungskategorien21 einstufen ließe, hat nach meinem Verständnis gezeigt, dass die objektive Zurechnung in der Bewertung des Verhaltens als tatbestandsmäßig oder nicht tatbestandsmäßig besteht22. Die sog. „objektive Zurechnung“ ist damit eher das Produkt nicht eines Zurechnungs-, sondern eines Bewertungsurteils23, dessen Sinn die Überprüfung der Tatbestandsmäßigkeit ist.24 Dies erfordert eine Reihe von Auslegungs- und Subsumtionstätigkeiten, die in die Phase der Anwendung des Gesetzes auf die Tat (applicatio legis ad factum) gehören.25 Es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Phase der Anwendung des Gesetzes auf die Tat – unter nunmehr retrospektivischer Anwendung der für den Adressaten im Handlungsmoment prospektivisch relevanten Verhaltensregel als Maßstab – eine vorherige Bewertung des Verhaltens einschließt, die in dem Augenblick, in dem über die Tat geurteilt wird, eine Aktualisierung erfordert.26 Dabei sollten allerdings zwei Abstufungen vorgenommen werden. 20 Die schlussfolgernden Worte von Robles Planas (Fn. 17) S. 171-172, über den Ansatz von Frisch (insb. die Ausführungen über die zitierte Arbeit, die sich allerdings allgemeiner anwenden ließen) nehmen sich sehr plastisch aus: „en Desvalorar e imputar se trata de mostrar que el problema hasta ahora abordado bajo el eslogan de la ‚imputación objetiva‘ no es en realidad un auténtico problema de imputación, sino que afecta la propia definición de la conducta prohibida y, por consiguiente, precede a las consideraciones de imputación“. 21 Anschaulich in dieser speziellen Hinsicht Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 83-117. 22 Aus eben diesem Grund muss die Lehre von der „objektiven Zurechnung“ sich dessen bewusst sein, dass sie eine „reformulación general de la tipicidad“ (vgl. Molina Fernández Antijuridicidad penal y sistema del delito, 2001, S. 101), also eine allgemeine Neuformulierung der Tatbestandsmäßigkeit mit sich bringt, die über die Bezeichnung der verschiedenen Zurechnungsvorgänge hinausgehen muss. 23 Vgl. Robles Planas (Fn. 17) S. 76, 79-89, 101-102; Silva Sánchez (Fn. 17) S. 16. 24 Etwas, das Frisch FS Roxin, 2001, 225 als „unverzichtbar“ einstuft, vgl. auch Frisch (Fn. 9) S. 32. 25 Vgl. Cancio Meliá Conducta de la víctima e imputación objetiva en Derecho penal, 22001, S. 81: Die sog. „objektive Zurechnung“ hat ebenso wenig mit dem zu tun, was Larenz und Honig unter dieser Bezeichnung analysierten (wenngleich deutliche Verbindungspunkte existieren, vgl. S. 82-84, 92-94). 26 Tatsächlich ergeht durch den Gesetzgeber in einem historisch und gesellschaftlich konkreten Moment eine Bewertung hinsichtlich des ver- bzw. gebotenen Verhaltens (oder aber erlaubten Verhaltens, was jedoch eine andere Frage ist). Diese Bewertung erfolgt aus Gründen, die auf materiellen Prinzipien beruhen (ist allerdings auch offen für u. a. konsequentialistische Berechnungen). Der Beurteiler des Verhaltens muss in einem gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext, welcher unterschiedlicher Art sein kann, jenes Gesetz auf den Fall anwenden. In diesem Beitrag ist es nicht möglich, auf die Frage der Gründe einzugehen, die im Einzelfall zum einen die legislative, zum anderen die richterliche Entscheidung legitimieren, allerdings

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Erstens: Das bisher Gesagte kann nicht dazu führen, die unzweifelhaften Fortschritte, welche die Lehre von der objektiven Zurechnung mit den konkreten, zur Zurechnung eines Erfolgs zu einem Verhalten erarbeiteten Kriterien erzielt hat, zu übergehen.27 Diese Kriterien könnten einiges zur Bereicherung der Kategorien der klassischen Lehre beitragen; es geht nicht darum, die enormen in dieser Materie geleisteten Bemühungen und erzielten Fortschritte beiseite zu schieben, sondern darum, die Kriterien als das aufzufassen, was sie sind, nämlich als Auslegung der jeweils anzuwendenden Vorschrift und als Subsumtion der Tat unter diese Vorschrift. Und zweitens: Falls man diesen Ausführungen zustimmt, wäre die angemessene Bezeichnung für die Gesamtheit an Topoi, die einen Erfolg einem Verhalten zuordnen, nicht „objektive Zurechnung“, sondern möglicherweise „Anwendung des Gesetzes“ so, wie die klassische Zurechnungslehre diesen letzteren Ausdruck verstanden hat.28 Diese Bezeichnung, die in der philosophischen Hermeneutik Bedeutung erlangt hat,29 benennt den Weg vom Gesetz (den Verhaltensnormen in der Prospektive und den entsprechenden Maßstäben in der Retrospektive) zur (zugerechneten) Tat, der ein fester Bestandteil unseres Verständnisprozesses ist.30 Das zurechnende Subjekt (beispielsweise der Richter) ist das Subjekt, das die Tat gemäß der Verhaltensregel (vor allem der Gesamtheit der strafrechtlichen Normen) bewertet, und ist zudem Ausleger dieser Normen. Der Ausleger fungiert der Norm gegenüber nicht als bloßer neutraler Übermittler einer abstrakten Vorgabe (des Gesetzes), die auf einen konkreten Vorfall (die Handlung) ausgerichtet ist. Vielmehr berücksichtigt er bei der Auslegung das, was von ihm gerade als Tat zugerechnet wurde.31 Das Verständnis des Gesetzestextes erfordert bin ich der Auffassung, dass den Zurechnungsregeln rationaler Subjekte (siehe I.) eine Gesamtheit an Verhaltensregeln rationaler Subjekte entsprechen muss. 27 Einer der Kritikpunkte der Lehre an der objektiven Zurechnung basiert darauf, dass ihre normativen Inhalte der eigentlichen Analyse der Rechtswidrigkeit vorgreifen und Raum für nicht duldbare Unsicherheit eröffnen würden, vgl. dazu Frisch FS Roxin, 2001, 218 f, mit Bezugnahmen und mit seiner Entgegnung auf diese Kritikpunkte, S. 222-225. 28 Dieser Ansatz nähert sich eher an den etwa von Frisch formulierten Ansatz an, in dem er sich auf die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens bezieht. In der Tat ist die Kategorie, der in dieser Materie abweichend von derjenigen der objektiven Zurechnung wesentliche Bedeutung zugemessen wird, die der Tatbestandsmäßigkeit des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“, vgl. versch. Stellen seines Werks, zit. bei Frisch/Robles Planas (Fn. 17). 29 Vgl. Gadamer Wahrheit und Methode, 11960, S. 290-295. 30 Vgl. Gadamer (Fn. 29) S. 292 („Verstehen ist hier immer schon Anwenden“). 31 Daher muss nicht nur das Gesetz angewendet werden, sondern auch etwas vorhanden sein, auf das es anwendbar ist: die zugerechnete Tat. Dieser Ansatz ermöglicht es meiner Auffassung nach, die Kritik auszuräumen, die Carpintero Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 81 (2004), 25 ff, an der Zurechnungslehre der Moderne übt. In der Tat müssen zur möglichen Anwendung eines Gesetzes eine Tat und ein Subjekt, an das sich ein Vorwurf richtet, vorhanden sein. Weder die bloße Anwendung des Gesetzes durch Subsumtion noch die

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dessen Bezug auf den Fall, auf eben diese Tat, die im gegebenen Fall dann als tatbestandsmäßig eingestuft wird.32 So führt die Doktrin der Zurechnungslehre zur Gestaltung des Objekts, der Tat oder des factum durch die Norm33 und dieser – wie von der Hermeneutik hervorgehoben – durch jene. Wenn wir eine bestimmte Tat als tatbestandsmäßig bezeichnen, bewerten wir diese im Hinblick auf eine Verhaltensregel, die den Tatzurechnungsvorgang bedingt und die ihrerseits selbst durch das bedingt ist, was als Tat zugerechnet wird. So wird unsere Bewertung der Tat, die Lehre von der objektiven Zurechnung des Gesetzes auf die Tat, wiederum bedingt von der Tat selbst.34 Auf diese Weise wirkt sich die hermeneutische Zirkularität in vollem Umfang auf die Vorgänge aus, die unsere sozialen Beziehungen ausmachen und insbesondere auch auf jene Tätigkeit, mit der wir einer Person strafrechtliche Haftung zuschreiben. 35 In dem Maße, in dem bei der Einstufung von etwas als Tat eine Bewertungsantizipation durch das zurechnende Subjekt erfolgt, existiert eine gewisse Zirkularität in der applicatio.36 Dabei erfolgt nicht nur eine Antizipation der Bewertungen und des möglichen Tatbestands der zugerechneten Tat, sondern auch eine Überlagerung von Bewertung und Zurechnung, mehr noch: begreift das zurechnende Subjekt die Tat in einer eigentümlichen Art und Weise, in der es selbst gegenwärtig ist 37 und mit der ein Erkennen des Subjekts als eines Handelnden und somit als frei einher geht38. alleinige Zurechnung reichen aus. Die Fortschritte der Hermeneutik können die von der Moderne zwischen Tat und Gesetz geöffnete Kluft (so die Kritik S. 53-71) überbrücken, denn die unersetzbare Verflechtung des Faktischen und des Normativen im zurechnenden Subjekt wird dadurch hervorgehoben. 32 Vgl. Gadamer (Fn. 29) S. 293. 33 Vgl. Fn. 26. 34 Bis hin zu einer Bezeichnung als „Akkordeon-Effekt“ aufgrund der Ausdehnung oder Komprimierung des Beschriebenen. Der Begriff stammt von Feinberg Acción y responsabilidad, in: White (Hrsg.), The Philosophy of action, 1968 (span. Übers. 1976), S. 154, und wird übernommen u. a. von Davidson Agency in: Essays on Actions and Events, 1980, S. 53; v. Wright Explanation and Understanding, 1977, S. 127, legt dar, wie die Entdeckung neuer Faktoren in der Handlung innerhalb der Mindestgrenzen von „Basishandlungen“ zu deren veränderter Beschreibung führen können (vgl. S. 128). 35 Nicht umsonst hat die gegenüber dem Positivismus neue methodische Orientierung des Neukantianismus die Ausrichtung auf ein verständnisbestrebtes Wissen hervorgehoben. So präsentiert sich die Hermeneutik als Reaktion auf die Methode des Positivismus, v. Wright (Fn. 34) S. 4 f, 30. 36 Vgl. Hruschka Rechtstheorie 22 (1991), 453-454; ders. in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik, 2001, S. 203-214. Hruschka greift eine Passage von Kant aus den Vorlesungen über Ethik (Akademie-Ausgabe, XVII.2.1 [Metaphysik der Sitten Vigilantius], S. 563) auf, in der Kant feststellt, dass bei der Zurechnung von etwas als Tat die Norm, an der die Tat gemessen wird, schon immer präsent ist. 37 Vgl. Scholz Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, 1999, S. 236. Zitat von Davidson, der davon ausgeht, dass die

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IV. Nach den Voraussetzungen, welche die heutige Strafrechtslehre macht, leiten sich Begriff und Konzept der modernen Zurechnung von der klassischen Zurechnungslehre ab.39 Allerdings ging nach und nach der eigentliche Inhalt der klassischen Zurechnungslehre verloren, so dass die heutige Bedeutung von „Zurechnung“ eine ganz andere ist. Dieser progressive Bedeutungsverlust erfolgte in zwei Phasen: der Herausbildung der Schuld als Zurechnungsfähigkeit plus Vorsatz (oder Fahrlässigkeit) und der Herausbildung des Verbleibenden als objektive Zurechnung. In einer ersten Phase erfolgte die Trennung der subjektiven Elemente, die sich dann in der Schuld wiederfinden, gefolgt vom Auftreten der Zurechnungsfähigkeit, die sich als „Erbin“ der Zurechnung abzeichnete. Dies geht aus dem Lehrbuch v. Liszts hervor. In dessen erster Ausgabe (1881) geht v. Liszt noch auf das von früheren Autoren übernommene Konzept ein. 40 Allerdings erfolgt der Verweis als bloße Andeutung eines damals noch gebräuchlichen Begriffs, der jedoch eines konkreten Inhalts entbehrte. Zurechnung war damals ein Urteil über Schuld.41 Dies erforderte eine BerückExistenz eines rationalen Subjekts die notwendige Voraussetzung für die Zuschreibung intentionaler Bemühungen ist (zum Ansatz von Davidson vgl. Stoecker in: Sturma [Hrsg.] Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie, 2001, S. 268-272). Auf die Person als Mitsubjekt bezieht sich auch Hruschka (Fn. 3, 1976) S. 7. 38 Zwischen den interagierenden Subjekten muss eine „Präsumtion der Rationalität“ bestehen, vgl. Scholz (Fn. 37) S. 227-238. Im Hinblick auf diese Präsumtion der Rationalität auch bei psychisch Kranken spricht sich Scholz (S. 238), dafür aus, dass in diesen und anderen Fällen mit verringert geäußerter oder fehlender Kommunikation die Betrachtung des Kranken als Person, d. h. die Präsumtion der Rationalität basierend auf der bloßen Zugehörigkeit zur Menschheit aufrecht erhalten werden muss. Dem stimme ich zu. 39 Vgl. Jescheck/Weigend AT § 22. I. 40 „Zurechnen heißt einen Erfolg auf die Schuld eines Menschen zurückführen. Daraus folgt ein Doppeltes [Urteil]. Bei mangelndem Kausalzusammenhang ist Zurechnung ausgeschlossen. Ist dagegen der Kausalzusammenhang konstatiert, so muß überdies Schuld (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) vorliegen, damit der Erfolg zugerechnet warden kann. Die Kausalitätsfrage und die Schuldfrage sind strenge zu trennen“, v. Liszt Das deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichstrafgesetzbuchs, 1881 (Neudruck 1997), S. 79 (Hervorhebung im Original). Weiter heißt es: „Die Erklärung, daß die Handlung eines Zurechnungsfähigen auf dessen Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruhe, heißt Zurechnung oder Imputation. Die betreffende Handlung wird als zurechenbar bezeichnet. Es giebt also zurechenbare und nicht zurechenbare Handlungen eines Handlungsfähigen, während die Handlungen eines Zurechnungsunfähigen, soweit er überhaupt willkürlicher körperlicher Bewegungen fähig ist, nie zurechenbar sind“, S. 108 (Hervorhebung im Original). In v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21884, S. 135, werden beide Zitate umgearbeitet, aber die Definition von Zurechnung wird beibehalten. 41 Vgl. v. Liszt Das deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichstrafgesetzbuchs, 1881 (Neudruck 1997), S. 79; ders. Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21884, S. 135. Die Zurechnung hat sich zur Bestätigung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Erfolg einerseits und einer Handlung des zudem schuldigen Subjekts andererseits entwickelt. Diese Bestätigung der

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sichtigung äußerer Einwirkungen als Ursache („Bei mangelndem Kausalzusammenhang ist Zurechnung ausgeschlossen“42), die zudem vom Vorsatz erfasst sein mussten („Die Erklärung, dass die Handlung eines Zurechnungsfähigen auf dessen Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruhe, heißt Zurechnung oder Imputation“43). Auf diese Weise verwandelte sich die Zurechnung in der Form, wie sie von der früheren Lehre begriffen wurde, in einen Fremdkörper. Damit wird verständlich, dass der von v. Liszt in der ersten Ausgabe seines Lehrbuchs44 vorgenommene Verweis auf den Begriff „Zurechnung“ bald verschwinden sollte. Als „Relikt“ verbleibt als Stadium oder Voraussetzung für Schuld die „Zurechnungsfähigkeit“, die terminologisch gesehen die „Erbin“ der Zurechnungslehre ist,45 ihrem Inhalt nach allerdings wenig mit dieser zu tun hat46. Parallel dazu verzichtete man immer mehr auf die Freiheit als Voraussetzung für Schuld. 47 Kausalität ist nicht mehr die Betrachtung des Subjekts als „Urheber“ der Handlung, und die Zurechnung zur Schuld ist nicht mehr das Merkmal der imputatio iuris, sondern die Bestätigung eines psychischen Zusammenhangs zwischen Subjekt und Erfolg („Damit aber diese Beziehung des Erfolges auf die Schuld des Thäters möglich ist, müssen gewisse Voraussetzungen [sc. die Zurechnungsfähigkeit] in der Psyche des Thäters gegeben sein“, v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21884, S. 135). Die Dualität der Zurechnungsurteile in der ersten Ausgabe v. Liszts enthält noch eine gewisse Verbindung zur klassischen Zurechnungslehre. Ihr genauer Inhalt hat, wie aus seinen späteren Werken ersichtlich wird, allerdings wenig mit dieser zu tun. 42 v. Liszt Das deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichstrafgesetzbuchs, 1881 (Neudruck 1997), S. 79. 43 v. Liszt Das deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichstrafgesetzbuchs, 1881 (Neudruck 1997), S. 108 (Hervorhebung im Original). Sehr anschaulich bei v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21884, S. 147: Die Zurechnung führt dazu, dass etwas nicht nur als bloße Tat („That“, Äußeres, Kausalzusammenhang), sondern zudem als „Handlung“ (Schuld) zugerechnet wird. Ersteres stuft er als objektiv, letzteres als subjektiv ein. 44 In der Tat verschwindet spätestens in der 4. Auflage (1891) der Hinweis auf die Zurechnung. 45 Vgl. Holzhauer Willensfreiheit und Strafe. Das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für den Schulenstreit, 1970, S. 91; vgl. auch Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 21. 46 Die Zurechnungsfähigkeit erfasst zuerst die Voraussetzungen der Willensfreiheit für die Zurechnung. Besonders anschaulich v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts in der 4. Auflage (1891), S. 160, wo es heißt: „Voraussetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und mithin Inhalt der Zurechnungsfähigkeit ist nicht eine dem Kausalgesetz entrückte Willensfreiheit, sondern nur die der Regel gemäße Bestimmbarkeit des Willens durch Vorstellungen überhaupt“, die allerdings nichts mit der Freiheit zu tun hat (vgl. ebenda und Fn. 47). In der ersten Auflage (1881) § 25, 95, sub I: „Zurechnungsfähigkeit ist strafrechtliche Handlungsfähigkeit. Handlungsfähigkeit aber im juristischen Sinne ist die Fähigkeit, juristisch relevante Handlungen vorzunehmen“ (Hervorhebung im Original); ebenso 21884 § 36, 135-136, sub II. Vgl. auch M. E. Mayer Die schuldhafte Handlung und ihre Arten. Drei Begriffsbestimmungen, 1901, S. 68-70; A. Köhler AT, 1917, § 23 I, § 29 I, der Zurechnung mit Schuld gleichzusetzen

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In der zweiten Phase gehen, dieser „subjektiven“ Zurechnung gegenüberstehend, die nicht subjektiven Merkmale (alles außerhalb des Verhaltens) dazu über, als „objektive Zurechnung“ betrachtet zu werden. Das trifft etwa für M. E. Mayer zu. Tatsächlich ruft die Rückführung der Zurechnung (der subjektiven Zurechnung oder der Zurechnungsfähigkeit) auf die Schuld den Reflexeffekt hervor, alles andere als „objektive Zurechnung“ zu betrachten, die beginnt, sich als konzeptueller Topos für das aufzubauen, was auch als „Theorie des Kausalzusammenhangs“ bekannt ist.48

V. Wie bereits dargelegt ist die objektive Zurechnung eine Tätigkeit, deren wahre Natur sich als Urteil mit Messcharakter, als Anwendung des Gesetzes und eben gerade nicht als Zurechnung erweist. Vorsatz hingegen ist ein Produkt eines Zurechnungsurteils im eigentlichen Sinn (des in der imputatio facti getroffenen Urteils), da er (der Vorsatz) eine der Voraussetzungen dafür ist, dass man von einer Tat (nämlich von Kenntnis der Situation, in die das Subjekt involviert ist, und von einer Kontrolle über diese Situation) sprechen kann. So wäre die Annahme dieses subjektiven Elements, das wir als „Vorsatz“ bezeichnen, in der applicatio legis ad factum bereits eine unabdingbare Voraussetzung dafür, etwas als Tat zuzurechnen und diese Tat später einer Messung zu unterziehen. Daraus leiten sich einige Konsequenzen ab. Zum einen ist es nicht zweckmäßig, die Bezeichnung „Vorsatz“ durch die Bezeichnung „subjektive Zurechnung“ zu ersetzen, weil dadurch der Name „objektive Zurechnung“ als Bindeglied erforderlich zu werden scheint (dass die „objektive Zurechnung“ keine Zurechnung ist, habe ich oben [II.-III.] gezeigt.). Zweckmäßiger wäre es, den klassischen Begriff („Vorsatz“) beizubehalten, solange keine Bezeichnung zur Verfügung steht, die es ermöglicht, das Moment der Kenntnis (in diesem Sinne ist Vorsatz subjektiv) der scheint (vgl. S. 285 und die Zurechnungsfähigkeit als notwendiges Element für Schuld einstuft, bestehend in der Bekräftigung der Freiheit im Gegensatz zu psychischen Störungen, vgl. insbesondere S. 319); ähnlich A. Merkel Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1889 (Nachdruck 1996), S. 51 f, für den die Zurechnungsfähigkeit in den geistigen Fähigkeiten und dem rechtlichen Urteilsvermögen besteht, die sich letztendlich auf Freiheit zurückführen lassen (vgl. S. 52). All das erinnert immer vager an die Zurechnungslehre, von der die Bezeichnung „Zurechnungsfähigkeit“ übernommen wird, welche zur systematischen Kategorie der Schuld wird und sich bis heute hält. 47 Vgl. v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21884, S. 138. 48 So wahrgenommen in M. E. Mayer (Fn. 46) S. 24 f, der bereits den Ausdruck „objektive Zurechnung“ erwähnt, um sich auf die Voraussetzungen für die Entstehung des Zusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg zu beziehen.

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Zurechnung eines Sachverhalts als „Tat“ zu bezeichnen. Allerdings muss, falls wir genau sein wollen, das Konzept des Vorsatzes selbst bereinigt werden. Wenn für die Zurechnung eines Sachverhalts als Tat Kenntnis und Kontrolle der Faktoren der Situation, in die das handelnde Subjekt involviert ist, erforderlich sind, müssen wir genau zwischen diesen beiden Momenten (Kenntnis und Kontrolle) unterscheiden. In Ermangelung eines geeigneteren Begriffs ziehe ich es vor, die Bezeichnung „Vorsatz“ für das erste Moment, das der Kenntnis, vorzubehalten und spreche mich dafür aus, Vorsatz als Kenntnis der Situation zu begreifen. Das Moment der Kontrolle hingegen muss mit dem Moment der Willensfreiheit, das häufig in den Vorsatz eingeschlossen wird, in Zusammenhang gebracht werden. Zum anderen, und da sich der konstitutive Charakter der Realität „Tat“ vom Charakter des Urteils als Tatbewertung im Vergleich mit der Regel unterscheidet, spricht nichts dagegen, dass in der applicatio legis ad factum die objektiven und subjektiven Daten der Tat berücksichtigt werden. Auf diese Weise bezieht sich das, was bei diesem Zwischenbewertungsvorgang (applicatio legis) gemessen und bewertet wird, auf eine Tat (factum). So spricht nichts dagegen, dass der subjektive Aspekt der Tat nun im Licht der als Maßstab angewandten Regel betrachtet wird. Daher können und müssen die Kenntnisse des Handelnden zum Handlungszeitpunkt (z. B. die Vorstellung der Gefährlichkeit seines Verhaltens) oder seine spezifische Handlungsabsicht (z. B. Bereicherungsabsicht, falls der Tatbestand dies erfordert) bei der Bewertung der Tat berücksichtigt werden. Es handelt sich nicht um die unnötige Wiederholung einer Analyse, sondern um einen Bewertungsvorgang im eigentlichen Sinn, dem die Zurechnung von etwas (eines physikalischen Vorgangs) vorausgeht. Diese Vorstellung von der sog. „objektiven Zurechnung“ hebt den „zurechnenden“ Charakter der juristischen Tätigkeit, aufgrund deren wir etwas als Tat betrachten, hervor. Mehr noch hebt sie den Vorsatz radikal von der objektiven Zurechnung ab. Tatsächlich ist, wenn die objektive Zurechnung in eben einem Urteil des Messens der Tat an einer Norm besteht, der Vorsatz sehr wohl Zurechnung im eigentlichen Sinn.49 Damit scheint das Bestreben, hinsichtlich der hier angesprochenen Inhalte zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zu unterscheiden, an Relevanz zu verlieren. Denn die im Vorsatz enthaltenen Inhalte sind schließlich sowohl objektiv als auch subjektiv.50 Der Gegenstand der Kenntnis ist objektiv, und objektiv 49 … und die Fahrlässigkeit eine Form außerordentlicher Zurechnung (vgl. Hruschka ZStW 96 (1984), 668; ders. Rechtstheorie 22 (1991), 456 f. 50 Es ist zu berücksichtigen, dass das Wesen der „objektiven Vorwerfbarkeit“ darauf beruht, dass sie sich „tomando por base al ciudadano normal“, also auf der Grundlage des normalen Bürgers, bildet (Gimbernat Ordeig [Fn. 19] S. 108), was eine gewisse Polysemie hinsichtlich des Objektiven aufzeigt (und des Subjektiven, das hingegen ein Merkmal der Schuld und in-

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sind auch die Kenntnisstandards, kraft deren einem normalen Subjekt unter den bestimmten Umständen des (einen) Falles ein Handeln zugeschrieben wird. Ebenso muss betont werden, dass in der objektiven Zurechnung Merkmale auftreten, die nicht nur objektiv sind (in dem Sinne, dass sie sich von der Vorstellung oder sogar der Absicht unterscheiden, wie es unter anderem bei den sog. „subjektiven Unrechtsmerkmalen“ der Fall ist). Hinsichtlich der sog. „subjektiven Unrechtsmerkmale“ ließe sich behaupten, dass sie eine „Tat“-Facette in sich bergen und dies dahingehend, dass sie als Tatelemente betrachtet werden können oder, anders ausgedrückt, dass sie Gegenstand der Vorstellung ihres Ausführenden sind. Allerdings bergen sie auch eine „objektive“ Facette in sich, da sie Gegenstand eines Vergleichs oder Messvorgangs nach Maßgabe des sie definierenden Gesetzes sind. Das heißt, die subjektiven Unrechtsmerkmale werden zuerst berücksichtigt, um etwas (als Tat) zuzurechnen, und später wird das Zugerechnete bewertet (gemessen). So erfordert etwa das Handeln „mit Bereicherungsabsicht“ ein Handeln (also Vorsatz hinsichtlich der Möglichkeit, sich zu bereichern) und ein Handeln gemäß dem, was die Norm beschreibt (also dem speziellen Inhalt des Unwerts des im Gesetz beschriebenen Verhaltens). Kurzum, es gibt keinen Grund für die Aufstellung einer strengen Dichotomie zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven der Tat (oder zwischen der „objektiven Zurechnung“ und einer vermeintlichen „subjektiven Zurechnung“), wenn damit auf zwei verschiedene, aber sich überlagernde Aspekte des Verhaltens eingegangen werden soll. 51

VI. Schlussendlich und als Fazit lassen sich Zweifel sowohl am zurechnenden als auch am objektiven Charakter des von den gebräuchlichen Straftatlehren angewandten objektiven Zurechnungsurteils anmelden: Der in den heutigen Straftatlehren als „objektive Zurechnung“ bezeichnete Vorgang ist weder nur objektiv noch eine Zurechnung im echten Sinn. dividuell ist: vgl. S. 107 f). Besagte Bedeutung des „Objektiven“ der Zurechnung bei Larenz (Fn. 7) S. 51. 51 Obiges bedeutet nicht, die zweckbestimmte Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung zu übernehmen (vgl. Hinweise bei Frisch FS Roxin, 2001, 219 f, 226-231) und das Subjektive als Aufklärungskriterium problematischer Fälle zu betrachten. Hier sei vorgeschlagen, die Zurechnung der Tat basierend auf der Kenntnis des Handelnden und der Anwendung des Gesetzes auf diese zuvor zugerechnete Tat anzuerkennen. Veranschaulicht auch bei Frisch in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 186 f.

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An dieser Feststellung ließe sich kritisieren, dass sie nur unter den von der klassischen Zurechnungslehre hervorgehobenen Bedingungen gilt, jener klassischen Lehre, die von den modernen Straftatlehren als „überholt“ erklärt wird. Hinzu kommt, dass die modernen Straftatlehren vor allem eines aufzeigen – nämlich, dass die klassische Zurechnungslehre Mängel enthält, die schließlich überwunden wurden. Darauf lässt sich erwidern, dass erstens das Alter der Zurechnungslehre ihre Gültigkeit ebenso wenig in Frage stellt, wie etwa die Forderungen der Lehre von der Demokratie dadurch ungültig werden, dass sie schon in der antiken Philosophie erhoben wurden. Zweitens lässt sich erwidern, dass das Betrachten einer alten Einstellung als „überholt“ lediglich aufgrund der Tatsache, dass sie alt ist, die Annahme voraussetzt, dass die wissenschaftlich-technischen Fortschritte in der Folgezeit Mittel zur Beobachtung und Überwindung zweifelhafter Aspekte (der alten Lehre) hervorgebracht haben, die berücksichtigt werden müssen. Aber das gilt nur für die Naturwissenschaften, nicht für die Geisteswissenschaften, und eine Vermischung von Methoden hat zwangsläufig Verworrenheit zur Folge. Drittens lässt sich erwidern, dass der Einwand genau das voraussetzt, was er zu kritisieren sucht. Es ist nicht möglich, einen (physikalischen) Vorgang in dieser Welt zu kritisieren, ohne diesen Vorgang einem Urheber als Handlung zugerechnet zu haben. Erst dann lässt sich der Vorgang bewerten (kritisieren) und der Urheber gegebenenfalls dafür tadeln. Das gilt auch für die Kritiker der klassischen Zurechnungslehre. Ihre Kritik wird nur möglich, wenn und weil sie dabei die klassische Zurechnungslehre voraussetzen. Damit würde die klassische Zurechnungslehre aufzeigen, dass sie nicht nur ein bloßes, von der modernen Straftatlehre längst überholtes Entwicklungsstadium ist, sondern, als Teil der Philosophie des Handelns, den Gegenstand der Straftatlehre analysiert. Die Auffassung, dass Straftatlehren unabhängig von der Philosophie des Handelns erarbeitet werden können, stellt eine recht erhebliche Gefahr dar, über die man nicht hinwegsehen sollte.

Objektive Zurechnung bei „alternativer Kausalität“ THOMAS ROTSCH

I. Einleitung Claus Roxin hat die moderne Lehre von der objektiven Zurechnung maßgeblich geprägt. Sein Schüler Bernd Schünemann hat Roxins vor mittlerweile über 40 Jahren in der Festschrift für Richard Honig veröffentlichte „Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht“1 gar als ihre „Geburtsstunde“ bezeichnet.2 Mittlerweile hat die Lehre von der objektiven Zurechnung sich – mit Unterschieden im Einzelnen und trotz mancher Kritik3 – zur mit überwältigender Mehrheit vertretenen herrschenden Meinung entwickelt. 4 In der jüngeren Zeit sind gar vermehrt Tendenzen zu erkennen, das Erfordernis naturwissenschaftlicher Kausalität zugunsten eines (rein) normativen Zurechnungssystems zurückzudrängen. Vor diesem Hintergrund erscheint es reizvoll, aus Anlass des 80. Geburtstages von Claus Roxin das Verhältnis der traditionellen Zurechnungsebene der Kausalität zu derjenigen der modernen objektiven Zurechnung im engeren Sinne erneut zu beleuchten. Hierzu bietet sich als Ausgangspunkt der Erörterungen ein Urteil des BGH aus dem Jahr 1993 an (unter II.), in dem es um einen Fall der „alternativen 1

Roxin FS Honig, 1970, 133. Schünemann GA 1999, 212, der die Lehre von der objektiven Zurechnung schon damals für das „in den letzten 20 Jahren am meisten und am intensivsten diskutierte dogmatische Thema der deutschen Strafrechtswissenschaft und auch der europäischen Strafrechtswissenschaft“ hielt und ihr eine ähnliche fundamentale Bedeutung wie dem Finalismus oder dem Begriff der Kausalität zuspricht, a. a. O., 207. Krit. zur praktischen Relevanz dieser wissenschaftlichen Anstrengungen freilich Hirsch FS Lenckner, 1998, 130. 3 Armin Kaufmann FS Jescheck, 1985, 251; Hirsch FS Rechtswissenschaftliche Fakultät Köln, 1988, 399; Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 83, 115; Samson ZStW 99 (1987), 633; ders. FS Lüderssen, 2002, 587; Struensee GA 1987, 97. Differenzierend jetzt Hirsch FS Lenckner, 1998, 119. Krit. in jüngerer Zeit auch Haas Kausalität und Rechtsverletzung, 2002; Hilgendorf FS Weber, 2004, 33; Kahlo FS Küper, 2007, 249; Schumann/Schumann FS Küper, 2007, 551. 4 Vgl. nur die Nachweise bei Schünemann GA 1999, 212 Fn. 31. 2

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Kausalität“ geht. Dementsprechend ist das Problem der Entscheidung bislang nahezu ausschließlich auf der Ebene der Kausalität gesehen worden. Bei genauerem Hinsehen entpuppt es sich aber tatsächlich als ein solches der objektiven Zurechnung im engeren Sinne. Anknüpfend an das Urteil des BGH erfolgt daher die zunächst in Bezug auf die Entscheidung des BGH konkretisierte, im Folgenden dann abstrahierte Auseinandersetzung mit dem schillernden Phänomen der („alternativen“) Kausalität (unter III.), bevor der Versuch unternommen werden kann, die Voraussetzungen der objektiven Zurechnung grundsätzlich zu konkretisieren (unter IV.). In diesem Zusammenhang sollen die einschlägigen Fälle „alternativer Kausalität“ und verwandter Konstellationen auf dem Boden des hier vertretenen Zurechnungssystems einer Lösung zugeführt werden (unter IV. 1.-3.), bevor die Ergebnisse kurz zusammengefasst werden (V.).

II. Der Ausgangsfall: BGHSt 39, 1955 Der Angeklagte (A), damals Rechtsanwalt, saß vom Nachmittag bis zum späten Abend mit S im Obergeschoss seines Einfamilienhauses zusammen. Außer ihnen war niemand im Haus. Gegen 22.30 Uhr verabschiedete A den S; er nahm an, dass S das Haus verlassen habe. S blieb jedoch aus ungeklärten Gründen im Haus. Etwa zehn Minuten später vernahm A im Obergeschoss Geräusche aus dem Erdgeschoss und vermutete Einbrecher im Haus. Er nahm seinen geladenen Revolver, spannte den Hahn und trat, ohne Licht anzuschalten, an den oberen Treppenabsatz. Trotz der relativen Dunkelheit sah er auf dem unteren Treppenabsatz, gut drei Meter entfernt, eine Person. A erkannte nicht, dass dies S war. Er schoss mit bedingtem Tötungsvorsatz auf die Person und kehrte sogleich in das Zimmer im Obergeschoss zurück, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Der Schuss durchdrang Brustkorb und Rumpf des S von oben nach unten. Brustbein, Zwerchfell und Leber wurden durchsetzt. S wurde durch diesen Schuss, der nicht sogleich tödlich war und bei alsbaldiger ärztlicher Behandlung möglicherweise hätte überlebt werden können, nicht aktionsunfähig. Er tastete sich ins Wohnzimmer. Etwa fünf Minuten nach dem ersten Schuss hörte A im Obergeschoss Geräusche aus dem Wohnzimmerbereich. S war dort auf Grund der erlittenen Verletzung vermutlich in die Knie gegangen oder auch schon hingefallen. A lief mit dem wieder schussbereit gemachten Revolver in der Hand die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er riss die Wohnzimmertür auf und schoss in das Wohnzimmer ohne hineinzuschauen. Das Schwurgericht hat nicht feststellen können, dass A eine Person im Zimmer gesehen und bewusst auf 5

BGH, Urt. v. 30.3.1993 – 5 StR 720/92.

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diese geschossen hat. Er hätte in seiner Situation aber erkennen können, dass jemand im Zimmer war und der Schuss diesen – auch tödlich – treffen konnte. Dieser zweite Schuss drang durch Kinn und Hals des S, blieb im Rücken stecken und war nach seiner Art ebenfalls tödlich. S starb an den vielfachen, durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen. Das Schwurgericht hatte A wegen versuchten Totschlags und fahrlässiger Tötung in Tateinheit, §§ 212, 22, 222, 52 StGB, verurteilt. Auf die Revision der StA änderte der BGH den Schuldspruch dahin, dass A eines vollendeten Totschlags schuldig ist. Die mit der Abgabe des zweiten Schusses verwirklichte fahrlässige Tötung trete gegenüber der vorsätzlichen Tötung als subsidiär zurück. Während der BGH und einige prominente Stimmen in der Literatur die Frage der Kausalität mit einigem Begründungsaufwand untersuchen,6 hält Otto die Tatsache, dass der erste und der zweite Schuss kausal für den Tod des S waren, für eine „Selbstverständlichkeit“. 7 Erstaunlich ist bei alledem die Unterschiedlichkeit der vertretenen Ergebnisse im Hinblick auf die Strafbarkeit des A. Während das Schwurgericht von einer Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung ausging, meint der BGH, die richtige Lösung liege in der Annahme eines vollendeten Totschlags durch den ersten Schuss; durch den zweiten Schuss trete eine fahrlässige Tötung hinzu, die aber subsidiär sei. Der Auffassung des BGH hat sich lediglich Toepel für den nach seiner Ansicht allerdings nicht ganz eindeutigen Fall angeschlossen, dass kumulative Kausalität vorliege. 8 Murmann/Rath gehen von versuchtem Totschlag und fahrlässiger Tötung aus.9 Auch Otto will wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und einer realiter konkurrierenden fahrlässigen Tötung bestrafen.10 Zu diesem Ergebnis kommt auch Wolter, der allerdings einen klassischen Fall des dolus generalis annimmt.11 Rogall schließlich geht von einem vollendeten Totschlag und einer fahrlässigen Tötung als mitbestrafter Nachtat aus. 12 Dabei unterstellen sämtliche Autoren die vom BGH angenommene Fahrlässigkeit bei der Abgabe des zweiten Schusses, halten diese Annahme aber an sich für nicht vertretbar. 6

Vgl. etwa Toepel JuS 1994, 1009 f. nach dem es in der Entscheidung um das „allein relevante Problem der alternativen Kausalität“ geht. Mit der Frage der Kausalität beschäftigen sich primär auch die Entscheidungsanmerkungen von Rogall JZ 1993, 1066; Murmann/Rath NStZ 1994, 217. 7 Otto JK 1993, Vor § 13 Nr. 2. Im Anschluss hieran ebenso Wolter JR 1994, 468. 8 Toepel JuS 1994, 1014. 9 Murmann/Rath NStZ 1994, 218. 10 Otto JK 1993, Vor § 13 Nr. 2. 11 Wolter JR 1994, 469 f. 12 Rogall JZ 1993, 1968.

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Geht man von der bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes einzig überzeugenden Annahme mindestens bedingten Tötungsvorsatzes aus,13 so stellt sich das dogmatische Problem des Falles in noch größerer Deutlichkeit. Murmann/Rath haben es pointiert zusammengefasst: „Kann eine Person einen Erfolg … zweimal herbeiführen?“14

III. (Alternative?) Kausalität Die Erschütterung des Kausaldogmas durch die modernen Naturwissenschaften15 setzt sich in der modernen Strafrechtswissenschaft fort. Das über Jahrhunderte mühsam begründete Erfordernis einer kausalen Verursachungshandlung als Mindestvoraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit wird von weiten Teilen der Literatur im Rahmen auch der vorsätzlichen, von der bereits herrschenden Meinung insbesondere aber bei der fahrlässigen Mittäterschaft längst negiert.16 Über den Gedanken der Risikoerhöhung finden in der jüngeren Literatur noch grundsätzlicher weitreichende Erosionen des Kausalgedankens statt.17

1. Die Lösung des Rechtsanwaltsfalles durch BGH und Literatur Für den BGH sind die Feststellungen des Schwurgerichts eindeutig. Jeder der beiden Schüsse sei zunächst in dem Sinne tödlich gewesen, „dass er für sich allein – also ohne Hinzutreten weiterer Umstände – zum Tod des Opfers geführt hätte.“ Das Opfer sei jedoch an den „vielfachen, durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen“, also an einem „Zusammentreffen der Verletzungsfolgen beider Schüsse“ gestorben. 18 Bei der Erörterung der Ursächlichkeit des ersten Schusses für den Tod des S wendet der BGH die Bedingungstheorie an,19 schließt eine Unterbrechung des Kausalverlaufs durch die Abgabe des zweiten Schusses aus und kommt über eine 13 Die Tatsache, dass S den zweiten Schuss ohne näheres Hinsehen in das dunkle Wohnzimmer abgab, vermag den (mindestens bedingten) Tötungsvorsatz nicht auszuschließen. Denn die Abgabe dieses Schusses lässt sich überhaupt nur erklären, wenn A davon ausging, S befinde sich in dem Raum. Dann aber hat A die Möglichkeit, S tödlich zu treffen, erkannt und gebilligt. Die Annahme bloßer Fahrlässigkeit ist daher unzutreffend; vgl. auch – nur wenig zurückhaltender – Rogall JZ 1993, 1066; Toepel JuS 1994, 1013. 14 Murmann/Rath NStZ 1994, 217. 15 Vgl. Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vorbem. §§ 13 ff Rn. 72. 16 Siehe hierzu jüngst Rotsch FS Puppe, 2011, 887 (893). 17 Vgl. zunächst z. B. Hoyer FS Rudolphi, 2004, 95; SK-Hoyer Anhang zu § 16 Rn. 74 ff. Ein Plädoyer für den Abschied von der conditio-Formel hält bereits Otto NJW 1980, 417. 18 BGHSt 39, 195 (197). 19 Siehe schon BGHSt 1, 332 (333).

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in der Sache der alternativen Kausalität entsprechende Begründung zur (Mit-)Ursächlichkeit des ersten Schusses: „Insbesondere aber ist in den Fällen, in denen der Täter nach einer tötungstauglichen Handlung eine weitere, hinzutretende Bedingung für den Tod gesetzt hat, auch die erste Handlung für den Tod ursächlich …“.20 Um „alternative Kausalität“ handele es sich deshalb, weil „mehrere, unabhängig voneinander gesetzte Bedingungen zusammenwirken, die zwar auch für sich allein zur Erfolgsherbeiführung ausgereicht hätten, die tatsächlich aber alle in dem eingetretenen Erfolg wirksam geworden sind …“.21 Dementsprechend knapp und apodiktisch stellt der BGH die Kausalität des zweiten Schusses fest („eine weitere Ursache für den Tod des Opfers“) 22 und gelangt so zu der umstrittenen Feststellung, A habe durch „eine einzige Tat im Rechtssinne“ zwei vollendete Tötungsdelikte verwirklicht.23 Während Otto und Wolter in ihren Besprechungen der Entscheidung des BGH die Annahme von Kausalität für den ersten wie den zweiten Schuss für eine „Selbstverständlichkeit“ (Otto)24 bzw. „keiner aufwendigen Begründung wert“ (Wolter)25 halten, stellt die Frage für andere das Kardinalproblem des Falles dar.26 Auch in die Lehrbuchliteratur ist der Sachverhalt als jüngeres Schulbeispiel alternativer Kausalität eingegangen.27 Worin liegt nun der Grund dafür, dass das, was manche für nicht einmal erörterungswürdig halten, für andere zu größten Schwierigkeiten führt?

2. Die Differenzierung zwischen kumulativer und alternativer Kausalität In der Literatur werden in dem hier interessierenden Zusammenhang zwei klassische Schulbeispielsfälle diskutiert, die sich dadurch unterscheiden sollen, dass in dem einen zwei Ursachen nur gemeinsam den in Frage stehenden tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen geeignet sind, während in dem anderen bereits jede der gesetzten Ursachen für sich allein erfolgstauglich gewesen wäre. In dem ersten Fall spricht man bekanntlich von „kumulativer“, in dem zweiten von „alternativer“ Kausalität. Während man in dem Fall kumulativer Kausalität jedenfalls mit der Feststellung der Ursächlichkeit beider Bedingungen für den Erfolg keine Schwierigkeit hat, führt 20

BGHSt 39, 195 (197 f). BGHSt 39, 195 (198). 22 BGHSt 39, 195 (198). 23 BGHSt 39, 195 (199). 24 Siehe bereits oben bei und in Fn. 7. 25 Wolter JR 1994, 468. 26 Vgl. die Angaben in Fn. 6. 27 Siehe etwa Kühl AT § 4 Rn. 20a; Roxin AT I § 11 Rn. 25. 21

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die von vielen noch immer bemühte conditio-Formel28 in dem Fall alternativer Kausalität nicht weiter: Denn denkt man hier die erste zweier bereits für sich gesehen erfolgsgeeigneter Giftgaben hinweg, so scheint die Feststellung unausweichlich, dass der Erfolg – nämlich aufgrund der zweiten ja ebenfalls erfolgsgeeigneten Giftmenge – gleichwohl eingetreten wäre. Im Übrigen gerät auch die in der Literatur heute weithin vertretene Formel von der gesetzmäßigen Bedingung29 hier in Schwierigkeiten.30 Obwohl in der Literatur von einzelnen Stimmen bereits seit geraumer Zeit kritisiert, hat sich bis heute die Auffassung gehalten, es bedürfe einer Umformulierung der conditio-Formel, um zu dem von allen für zutreffend gehaltenen Ergebnis der Ursächlichkeit beider Bedingungen zu gelangen. Schon das ist aber nicht richtig.

3. Die Konkretisierung der Kausalitätsproblematik Rogall behauptet in seiner Anmerkung zu BGHSt 39, 195: „Freilich bleibt auch wahr, daß Fragen der Kausalität heute kaum noch Schwierigkeiten bereiten und sich auf der Basis der einen wie der anderen Theorie [gemeint sind die Anwendung der conditio sine qua non-Formel durch die Rechtsprechung und die mittlerweile wohl herrschende Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, T.R.] zutreffend entscheiden lassen.“31 Schon wer sich die Bemühungen um die Anpassung der conditio-Formel in den Fällen alternativer Kausalität oder etwa die Problematik der Mehrfachkausalität bei Kollegialentscheidungen32 ins Gedächtnis ruft, wird dem kaum zustimmen können. 33 Und damit ist zu der Leistungsfähigkeit einer jeden juristischen Theorie im Rahmen der originären Begründung von Kausalität noch gar nichts gesagt.34

a) Zur fehlenden Notwendigkeit der Sonderbehandlung von Fällen „alternativer Kausalität“ Der Standardfall zur Illustration der Besonderheiten alternativer Kausalität, der in einigen Varianten auftritt, liegt dann vor, wenn A und B, ohne

28

Krit. und unnachahmlich jüngst wieder Puppe GA 2010, 551. Grdl. Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 27 f. 30 Vgl. Kühl AT § 4 Rn. 24 ff, 26. 31 Rogall JZ 1993, 1066 f. 32 Vgl. im Überblick etwa Kühl AT § 4 Rn. 20b m. w. N. 33 Zu den Fällen nicht vollständig determinierter Verläufe sowie der psychischen Kausalität jüngst wieder Puppe GA 2010, 563 ff, 566 ff. Vgl. auch unten c) a. E. sowie IV. 3. a) a. E. 34 Vgl. hierzu unten c). 29

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voneinander zu wissen, dem Opfer O jeweils eine tödliche Menge Gift in sein Getränk schütten. A nimmt das Getränk zu sich und stirbt.35 Im Anschluss an Tarnowski hat Welzel die conditio-Formel umformuliert: „Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, ist jede für den Erfolg ursächlich.“36 Samson37 hat bereits vor Jahren zutreffend gezeigt, dass es in sämtlichen denkbaren Konstellationen einer Umformulierung der conditio-Formel tatsächlich nicht bedarf. Legt man eine tödliche Giftmenge von 1 g zugrunde, so sind folgende Fälle denkbar: O hat 1 g des von A gegebenen Giftes (1. Möglichkeit) oder 1 g des Giftes von B (2. Möglichkeit) oder den Bruchteil eines Gramms des Giftes von A und den Bruchteil eines Gramms des Giftes von B (3. Möglichkeit) resorbiert. Im 1. Fall ist nur A kausal geworden. Denkt man sich seine Giftgabe hinweg, hätte O diesen Giftanteil nicht resorbiert und wäre nicht gestorben. Dass er dann den von B gegebenen Giftanteil resorbiert hätte, darf als hypothetische Ersatzursache nicht hinzugedacht werden. Die gleiche Überlegung führt im 2. Fall zur Kausalität der Handlung des B. Auch im 3. Fall – der vermeintlichen „alternativen Kausalität“ – bedarf es allein der korrekten Anwendung der traditionellen conditio-Formel, um zum zutreffenden Ergebnis zu gelangen. Denkt man die Giftgabe des A hinweg, dann wäre O nicht (!) gestorben, da er dann tatsächlich nur den Bruchteil des tödlichen Giftquantums des B resorbiert hat. Dass er den für das Erreichen der tödlichen Dosis notwendigen weiteren Bruchteil des Giftes des B resorbiert hätte, darf nicht hinzugedacht werden. Die Handlung des A ist also kausal. Da diese Überlegung genauso auf B zutrifft, ist auch dieser kausal für den Tod des O. Eine Umformulierung der conditio-Formel ist also nicht notwendig.38 Diese Erkenntnis trifft nun aber auch auf den vorliegenden Fall zu. Dabei sei der Einfachheit halber folgender Sachverhalt unterstellt: S wird um 20.00 Uhr von dem ersten Schuss getroffen, der zu inneren Verletzungen führt, was erheblichen Blutverlust zur Folge hat. Weiter sei unterstellt, dass der Tod des S bei einem Blutverlust von 3 l eintreten wird. Ebenso sei weiter angenommen, dass S alle zehn Minuten 1 l Blut verliert. S wird also an den tödlichen Verletzungen, die ihm durch den ersten Schuss beigebracht worden sind, um 20.30 Uhr sterben. Nun wollen wir weiter davon ausgehen, dass der zweite Schuss um 20.15 abgegeben wird. Zu diesem Zeitpunkt hat S bereits 1,5 l Blut aufgrund der ersten Schussverletzung verloren. Nun 35

Vgl. Samson Strafrecht I S. 22. Welzel Das Deutsche Strafrecht, 1969, S. 45. 37 Hierzu und zum Folgenden Samson Strafrecht I S. 22 f. 38 Zweifelnd Kühl AT § 4 Rn. 20; a. A. Kuhlen NStZ 1990, 570 in Fn. 70. 36

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bestehen zwei Möglichkeiten. Zunächst lässt sich der – nicht besonders lebensnahe – Fall denken, dass der zweite Schuss dazu führt, dass die erste Wunde aufhört zu bluten. S stirbt dann zwar ebenfalls um 20.30 Uhr, allerdings addiert sich der Blutverlust des S erst aufgrund der durch den zweiten Schuss verlorenen Blutmenge von 1,5 l zum tödlichen Quantum. Für diese Konstellation gilt vollständig die oben dargelegte Argumentation von Samson. Beide Schüsse sind kausal. Nichts anderes gilt nun aber hinsichtlich der zweiten denkbaren – lebensnäheren – Möglichkeit: S blutet nach dem zweiten Schuss (der Einfachheit halber: gleichmäßig) aus beiden Wunden. Das führt dazu, dass die tödliche Menge von 3 l verlorenen Blutes bereits um 20.22 Uhr erreicht ist. Hier hat S aufgrund des ersten Schusses 2,25 l, aufgrund des zweiten Schusses 0,75 l Blut verloren. Die oben gemachten Ausführungen zur – fehlenden – Notwendigkeit, die traditionelle conditio-Formel umzuformulieren, gelten also auch hier.

b) Zur Bedeutung eines ex post kausalen Verursachungsbeitrages Werden in einem tatbestandsmäßigen Erfolg aber tatsächlich mehrere Bedingungen wirksam, stellt sich sogleich die Frage nach der Berechtigung der Unterscheidung zwischen kumulativer und alternativer Kausalität. So liest man denn auch bei Walter: „Ist … gewiss, dass Anteile beider Giftquanten wirksam geworden sind, handelt es sich um einen Fall gewöhnlicher Mitursächlichkeit. … Genau besehen steht der Schulfall alternativer Kausalität also gar nicht für etwas Besonderes und erfordert demnach auch keine Sonderregel.“39 Diese Feststellung scheint mir schlagend richtig zu sein. Auch sie erklärt aber noch nicht die mittlerweile jahrzehntelange Verwirrung um die alternative Kausalität. Denn weshalb bis heute die herrschende Meinung gleichwohl von der Notwendigkeit, die conditio-Formel umformulieren zu müssen, überzeugt ist, erläutert auch sie nicht. Der tiefere Grund für die herrschende Unsicherheit offenbart sich aber recht schnell, wenn man sich die unterschiedlichen Blickwinkel der angestellten Kausalitätsüberlegungen verdeutlicht. Wenn nämlich alternative Kausalität immer dann vorliegen soll, wenn mehrere Bedingungen sich in einem tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklichen, die jeweils schon für sich gesehen geeignet gewesen wären, den in Frage stehenden Erfolg herbeizuführen, so wird eine ex ante-Sichtweise zugrunde gelegt, die aber die tatsächlich wirksam gewordenen Kausalbeziehungen gerade nicht beschreibt. Das gilt auch bei der Beschreibung der in 39

LK-Walter Vor § 13 Rn. 77. Ebenso bereits Rotsch, in: Rotsch/Nolte/Peifer/Weitemeyer, Die Klausur im Ersten Staatsexamen, 2003, S. 271 ff.

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Abgrenzung zur alternativen Kausalität vorgenommenen Definition der Fälle kumulativer Kausalität. Wer kumulative Kausalität definiert als Konstellation, in der mehrere Bedingungen für sich gesehen jeweils nicht, sondern nur gemeinsam zur Erfolgsherbeiführung geeignet sind, stellt nicht auf die tatsächlich wirksam gewordenen Erfolgsbedingungen ab, sondern beurteilt die bloße Erfolgsgeeignetheit konkret in Betracht kommender Erfolgsbedingungen – und nimmt also ebenfalls eine Beurteilung ex ante vor. Das ist umso erstaunlicher, als man sich zu Recht vollständig darüber einig ist, dass Kausalität seine verantwortungsbegründende Funktion im Strafrecht nur dann entfalten kann, wenn sie im konkreten Einzelfall – ex post – tatsächlich nachgewiesen ist.40 Jedenfalls diejenigen, die an dem Erfordernis naturwissenschaftlicher Kausalität im engeren Sinne festhalten und diese nicht durch den Gedanken der Risikoerhöhung ersetzen wollen, 41 müssten einen überzeugenden Grund für die Notwendigkeit einer hypothetischen ex ante-Betrachtung trotz als entscheidend anerkannter realer ex postBeurteilung angeben können. Ein solcher Grund wird aber nicht genannt; stattdessen wird die intuitiv gekannte Kausalität über eine Modifizierung der Kausalformel abgesichert. Diese Modifizierung führt dann dazu, dass in den Fällen alternativer Kausalität die Ursächlichkeit der mehreren erfolgsgeeigneten Bedingungen ebenso bejaht wird wie in den Konstellationen kumulativer Kausalität. Damit wird dann aber die terminologische Differenzierung zwischen alternativer und kumulativer Kausalität ihres Sinns beraubt. Somit beschreiben die Fälle kumulativer und alternativer Kausalität lediglich hypothetische Fälle möglicher Kausalität, während sich von Mitursächlichkeit richtigerweise nur ex post und dann sprechen lässt, wenn von tatsächlich im tatbestandlichen Erfolg wirksam gewordenen Bedingungen die Rede ist. Dass es alternative Kausalität aber ex post gar nicht geben kann, illustriert auch der Fall des BGH anschaulich. Es ist schon logisch nicht denkbar, dass zwei per se erfolgsgeeignete Bedingungen tatsächlich vollumfänglich in einem tatbestandsmäßigen Erfolg wirksam werden. Denn wenn einerseits ex ante jede der Bedingungen bereits für sich erfolgsgeeignet ist, andererseits aber beide im Erfolg wirksam geworden sein sollen – sonst liegt keine Mehrfachkausalität vor –, kann jede tatsächlich nur zum Teil wirksam geworden sein. Dabei handelt es sich dann tatsächlich um den Normalfall der Mitursächlichkeit, oder genauer: um den (ex post) einzig denkbaren Fall von Kausalität! Es ist daher auch Zurückhaltung angeraten mit der Behauptung, bei kumulativer Kausalität handele es sich nicht um eine Sonderkonstellation, 40 41

Statt aller Otto AT § 6 Rn. 31. Vgl. jüngst auch Jäger FS Maiwald, 2010, 350. Zur Relevanz des Risikogedankens s. u. IV.

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sondern vielmehr den Grundfall der Kausalität.42 Wenn damit gemeint ist, dass nichts monokausal, alles vielmehr immer mehrfachkausal verursacht wird,43 so ist das eben nur bei einer ex post-Betrachtung richtig – die aber bei der Bezeichnung einer Konstellation als Fall der kumulativen Kausalität tatsächlich von niemandem vorgenommen wird.

c) Zur Bedeutung einer jeglichen juristischen Theorie zur Begründung von Kausalität Damit erhebt sich freilich sogleich die Frage nach der Leistungsfähigkeit einer juristischen Theorie zur Begründung von Kausalität. Die Antwort ist schnell gegeben: Sie leistet nichts. Hält man an dem grundsätzlichen Erfordernis eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und der Handlung des Täters fest, so kann auch nur eine naturwissenschaftliche, nicht aber eine juristische Antwort auf die Frage der kausalen Verknüpfung von Erfolg und Handlung gegeben werden. Hierin liegt der Grund für die in der Literatur auch längst erkannte Unbrauchbarkeit etwa der conditioFormel bei der Beurteilung der Kausalitätsfrage: Ohne vorherige Kenntnis der Kausalität lässt sich diese nämlich nicht beantworten. 44 Wer aber um die Verursachung eines Erfolges durch eine Handlung längst weiß, um sie sodann noch unter vermeintlichem Rückgriff auf eine juristische Formel zu begründen, bedient sich eines Taschenspielertricks. Sämtliche Bemühungen um die Modifizierungen der conditio-Formel, etwa in den Fällen der klassischen alternativen Kausalität oder aber in den Konstellationen der Mehrfachkausalität in den modernen Kollegialentscheidungen belegen dies. Sie alle sind der besseren Einsicht in die Untauglichkeit der conditio-Formel geschuldet, tatsächlich einen Beitrag zur originären Kausalitätsbegründung leisten zu können.45 Wenn eine juristische Theorie – und die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung leistet hier in Wahrheit kaum mehr als die conditio-Formel – aber tatsächlich nur dazu taugt, einen offenkundigen Zirkelschluss wortreich zu verschleiern, so sollte von ihr Abschied genommen werden. Soll es sich bei der ersten Stufe der Zurechnung im objektiven Tatbestand zunächst tatsächlich nur, aber immerhin, um einen naturwissenschaftlichen Zusammenhang handeln, so muss die Feststellung seines Vorliegens dem Juristen durch die Naturwissenschaften vorgegeben werden. Es liegt in der Natur der 42

LK-Walter Vor § 13 Rn. 75. In diesem Sinne LK-Walter Vor § 13 Rn. 75. 44 Vgl. jüngst nur wieder Puppe GA 2010, 551 m. w. N. in Fn. 2. 45 Vgl. etwa Roxin AT I § 11 Rn. 13 ff. 43

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Sache, dass er selbst diesen Zusammenhang nicht begründen kann. Der vom BGH entschiedene Rechtsanwaltsfall macht dies ganz deutlich. Hier ist es die – auf der Grundlage der entsprechenden naturwissenschaftlichen Gutachten – vom Schwurgericht festgestellte Ursächlichkeit beider Schüsse für den Tod des Opfers: „S starb an den vielfachen, durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen.“46 Mit dieser Feststellung ist die Kausalität beider Schüsse für den Tod des Opfers bejaht, mit juristischen Erwägungen lässt sich hieran nicht mehr deuteln. Und weshalb umgekehrt die naturwissenschaftlich festgestellte Kausalität noch mit juristischen Scheinerwägungen gestützt werden müssen soll, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Es ist diese Tatsache der Unbeeinflussbarkeit naturwissenschaftlicher Kausalität durch juristische Begriffsakrobatik, die Otto und Wolter in den Besprechungen des Ausgangsfalles dazu bringen, von der Kausalität beider Schüsse als „Selbstverständlichkeit“ und „keiner aufwendigen Begründung wert“ zu sprechen. Daraus folgt dann aber auch, dass in all denjenigen Fällen, in denen ein Verursachungsbeitrag naturwissenschaftlich nicht sicher nachgewiesen werden kann, Kausalität auch in strafrechtlicher Hinsicht an sich in dubio pro reo zu verneinen ist. Wenn wir damit in den Fällen der sog. Motivationskausalität47 bzw. nicht vollständig determinierter Kausalverläufe48 größte Schwierigkeiten haben,49 belegt auch dies nur, dass Kausalität entweder intuitiv gewusst oder naturwissenschaftlich belegt ist (oder eben nicht) und daher als tatbestandliche Konstante zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit nicht taugt. Es müssen daher andere Maßstäbe als diejenigen vermeintlicher empirischer Gewissheiten gefunden werden, um tatbestandsmäßigen Erfolg und Handlung so zu verknüpfen, dass dies das Urteil der Straftatbestandsmäßigkeit trägt.

d) Zur Bedeutung der ex ante-Sichtweise im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung Was hat es nun aber mit der ex ante-Beurteilung bei der Einteilung in Konstellationen von kumulativer und alternativer Kausalität auf sich? Wir haben bereits gesehen, dass die Bejahung der Kausalität, die Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortung im konkreten Fall ist, nur aufgrund einer ex post-Feststellung in concreto erfolgen kann. Damit ist aber noch nicht geklärt, welche Bedeutung die Redeweise von der ex ante zu beurteilenden 46

BGHSt 39, 195 (196). Frisch FS Gössel, 2002, 51, 67; Jäger FS Maiwald, 2010, 351 f. 48 Puppe GA 2010, 563 ff. 49 Vgl. aber etwa BGH GA 1988, 184. 47

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Eignung einer Bedingung zur Verursachung eines Erfolges zukommt. Hierbei ist zu unterscheiden. Zunächst haben uns der Contergan-Fall,50 der Lederspray-Fall51 und der Holzschutzmittel-Fall52 gezeigt, dass die moderne Risikogesellschaft Sachverhalte hervorbringt, in denen schon die generelle Eignung einer Handlung oder (in den virulenten Fällen) eines Produkts zur Herbeiführung des in einem Gesetzestatbestand normierten Erfolges problematisch ist. In diesen Fällen geht es mit der sog. generellen Kausalität um die der Feststellung der Kausalität im Einzelfall notwendig vorgeschaltete Kenntnis des zugrunde liegenden Naturgesetzes. Davon zu unterscheiden ist freilich die Frage der konkreten Eignung einer Handlung etc. für den Eintritt des konkret in Rede stehenden tatbestandsmäßigen Erfolges. Nur diese Frage wird bei der Beantwortung der Frage nach der Strafbarkeit in einem konkreten Fall, also bei der gutachterlichen Prüfung, unmittelbar relevant. Freilich setzt die Möglichkeit ihrer Beantwortung die Kenntnis des einschlägigen Naturgesetzes voraus.53 Sowohl der generellen wie auch der sog. konkreten Kausalität ist nun der oben dargestellte Eignungsgedanke immanent. Denn während die Beschreibung des Naturgesetzes im Hinblick auf den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges nicht mehr als die – freilich häufig gleichsam zu vermeintlich unerschütterlicher Gewissheit geronnene – Eignung zur Herbeiführung von Erfolgen der in Rede stehenden Art beschreibt, erschöpft sich auch der Gedanke der konkreten Kausalität nicht in einer ex post festzustellenden Verursachung des in concreto relevanten Tatbestandserfolges. Vielmehr setzt auch deren Feststellung die Kenntnis der – konkreten – Eignung der Bedingung zur Herbeiführung des konkreten Erfolges voraus. Relevant werden all diese Erwägungen aber tatsächlich nur als im Rahmen der Begründung der notwendigen Verknüpfung von tatbestandsmäßigem Erfolg und Handlung gleichsam inzidente Vorüberlegungen, die selbst nicht Gegenstand des objektiven Unrechtstatbestandes sind. Anders gewendet: Ohne die ex ante vorhandene Kenntnis der generellen und konkreten Eignung einer Bedingung zur Verursachung eines Erfolges macht die Prüfung des objektiven Tatbestandes schon gar keinen Sinn. Ebenso wie es sich bei der Überprüfung der Handlungsqualität aber richtigerweise um eine vortatbestandliche Frage handelt,54 geht es bei der generellen und konkreten Erfolgsgeeignetheit einer Handlung um der Prüfung der eigentlichen Tatbe50

LG Aachen JZ 1971, 507. BGHSt 37, 106. 52 BGHSt 41, 206. 53 Vgl. noch Puppe GA 2010, 565 f. 54 Siehe hierzu Roxin AT I § 8 Rn. 1 ff. 51

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standserfüllung vorgelagerte Fragen. Wenn aber die Feststellung der Kausalität im engeren Sinne allein den Naturwissenschaften vorbehalten bleiben muss, so gilt dies notwendig auch für die Frage der generellen und konkreten Geeignetheit. Damit drängt sich der Schluss auf, dass sowohl der ex post festzustellenden naturwissenschaftlichen Kausalität wie auch der ex ante naturwissenschaftlich zu beurteilenden Erfolgseignung strafjuristisch unmittelbar keinerlei Bedeutung zukommt. Während dies sich für die Kausalität aus der Erkenntnis ergibt, dass es sich bei ihr eben um eine naturwissenschaftliche und gerade nicht um eine juristische Frage handelt, ergibt sich diese Feststellung für die Eignung zur Herbeiführung eines tatbestandsmäßigen Erfolges genaugenommen aus einer zweifachen Erkenntnis. Zum einen ist die Frage akzessorisch zur Kausalitätsproblematik und damit ebenfalls eine rein naturwissenschaftliche Angelegenheit.55 Zum anderen ist sie für die Beurteilung der Kausalität nur insoweit von Bedeutung, als sie eine notwendige Vorüberlegung für die Strafbarkeitsprüfung darstellt, die aber für die eigentliche Frage der Tatbestandserfüllung irrelevant ist. Solche unmittelbar irrelevanten Vorüberlegungen finden aber auch sonst nicht Eingang in die Prüfung des tatbestandlichen Unrechts. So käme etwa auch niemand auf die Idee, die Frage, ob der Täter sich zur Tatzeit überhaupt am Tatort aufgehalten hat, im Rahmen der Prüfung des objektiven Tatbestandes aufzuwerfen, weil es sich dabei um eine unmittelbar unrechtsirrelevante, reine Beweisfrage handelt, die entweder als positiv beantwortet gilt oder nicht. Im zweiten Fall scheidet dann aber bereits die Möglichkeit einer Strafbarkeit aus. Ebenso ist es in dem Fall fehlender Erfolgsgeeignetheit.

IV. Objektive Zurechnung Nach alledem kann die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (auch) in den Fällen sog. „alternativer Kausalität“ nur noch auf der Ebene der objektiven Zurechnung im engeren Sinne entschieden werden. Während der Kausalzusammenhang als ontisch-empirische Gegebenheit dem juristischen Urteil entzogen ist, geht es bei der Begründung des normativen Zusammenhangs zwischen Erfolg und Handlung56 um eine originär juristische 55

Das hindert nicht, von der ontischen Frage der konkreten Erfolgseignung diejenige der normativen Risikosetzung zu unterscheiden, vgl. noch sogleich unter IV. 56 Häufig wird freilich nicht deutlich unterschieden zwischen dem Risiko der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs und dem Risiko der Herbeiführung der Rechtsgutsbeeinträchtigung (vgl. auch Roxin FS Honig, 1970, 135). Beim klassischen Verletzungsdelikt ist dies im Ergebnis unschädlich, da insoweit der tatbestandsmäßige Erfolg und die Rechtsgutsverletzung zusammenfallen. In denjenigen Fällen hingegen, in denen dies nicht so ist oder in denen trotz Erfolgsverwirklichungszusammenhangs die Beeinträchtigung des Rechtsgutes nicht zugerech-

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Wertungsfrage. Bekanntlich operiert die Literatur bei dieser objektiven Zurechnung mit der jedenfalls im Grundsätzlichen konsentierten Formel, dass der Täter zunächst ein rechtlich missbilligtes Risiko gesetzt, und sich gerade dieses Risiko im – konkreten – tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht haben muss.57 Vor diesem Hintergrund kann nunmehr zunächst der vom BGH entschiedene Rechtsanwaltsfall untersucht werden (unter 1.), bevor das dort erhaltene Ergebnis an den klassischen Giftfällen überprüft werden soll (unter 2.). Dabei wird sich für den Rechtsanwaltsfall zeigen, dass die Annahme zweier vollendeter Tötungen unzutreffend ist. Für den Fall der „alternativen Kausalität“ im Rahmen des Giftfalles kommt nach hier vertretener Auffassung – entgegen der ganz h. M. – eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat nicht in Betracht. Schließlich ist kurz auf einige verwandte Fälle einzugehen (unter 3.).

1. Die Lösung des Rechtsanwaltsfalles Während es im Rahmen naturwissenschaftlicher Kausalitätsfeststellungen nicht unproblematisch ist, den von der herrschenden Lehre propagierten „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“ zugrunde zu legen,58 scheint mir eine Konkretisierung im Rahmen der objektiven Zurechnung zulässig und geboten zu sein. Denn zum einen wird hier nicht der vom Gesetz eben nur abstrakt vorgegebene tatbestandsmäßige Erfolg, sondern das vom Täter in casu gesetzte Risiko konkretisiert. Und zum anderen steht mit der weiteren Voraussetzung, dass das gesetzte Risiko rechtlich missbilligt sein muss, ein haftungsbeschränkendes Korrektiv zur Verfügung, so dass – wie wir noch sehen werden – jedenfalls in den hier behandelten Fällen von einer Verantwortungserweiterung gerade keine Rede sein kann. Lässt man eine so verstandene Konkretisierung der Zurechnungsvoraussetzungen zu, so ergibt sich für den Rechtsanwaltsfall folgendes: Mit der Abgabe des ersten Schusses hat A das rechtlich missbilligte Risiko gesetzt, dass S um 20.30 Uhr an den tödlichen Verletzungen des ersten Schusses (genauer: dem durch den ersten Schuss bewirkten Verlust von 3 l net werden soll, wird deutlich, dass es um zwei unterschiedliche normative Zurechnungsstufen geht. Die h. L. hat hierfür der objektiven Zurechnung die Fallgruppe des „Schutzzwecks der Norm“ implementiert; m. E. sollte sauber zwischen zwei verschiedenen Stufen der normativen objektiven Zurechnung unterschieden werden: Auf der ersten Stufe erfolgt die Beantwortung der Frage nach der Zuständigkeit des Täters für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, auf der zweiten Stufe diejenige nach der Zuständigkeit für die Rechtsgutsbeeinträchtigung (vgl. hierzu grds. bereits Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 421 ff, 432 ff). Das kann hier nicht vertieft werden und muss einer eigenen Abhandlung überlassen bleiben. 57 Vgl. nur Roxin AT I § 11 Rn. 47; Kühl AT § 4 Rn. 43. 58 Vgl. NK-Puppe Vor §§ 13 ff Rn. 62 ff; dies. GA 2010, 558.

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Blut) stirbt.59 Tatsächlich ist S aber bereits um 20.22 Uhr am Zusammenwirken der durch den ersten und den zweiten Schuss herbeigeführten Verletzungen (genauer: dem durch den ersten Schuss bewirkten Verlust von 2,25 l und dem durch den zweiten Schuss bewirkten Verlust von 0,75 l Blut) gestorben. Damit hat sich nicht das vom Täter durch die Ersthandlung verwirklichte Risiko im tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht. Eine Strafbarkeit wegen vollendeten Totschlags aufgrund der Abgabe des ersten Schusses kommt somit nicht in Betracht; es verbleibt insoweit bei einer Strafbarkeit wegen Versuchs. Mit der Abgabe des zweiten Schusses hat A freilich gerade dasjenige Risiko gesetzt, das sich dann tatsächlich im Erfolg verwirklicht hat. Denn da A den zweiten Schuss in Kenntnis seines zuvor vorsätzlich abgefeuerten ersten Schusses abgegeben hat, hat er objektiv ex ante das rechtlich missbilligte Risiko gesetzt, dass S um 20.22 Uhr an dem durch die beiden Schüsse bewirkten Blutverlust stirbt. (Nur) Dieses Risiko hat sich auch ex post im tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht. Damit ist A aufgrund der Abgabe des zweiten Schusses wegen vollendeten Totschlags zu bestrafen.60

2. Die Lösung der klassischen Giftfallkonstellationen Bei der Lösung der sog. kumulativen Kausalität ergibt sich nach dem hier vertretenen Zurechnungsmodell im Ergebnis kein Unterschied zur herrschenden Meinung. Diese hat ja hier auch mit der Kausalität kein Problem, da die conditio-Formel ohne Weiteres zum für richtig gehalten Ergebnis der Kausalität jeder Giftgabe führt. Freilich wird dann auf der Ebene der Zurechnung meist ein atypischer Kausalverlauf angenommen, so dass für A wie für B nur eine Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags bleibt.61 Zu demselben Ergebnis gelangt die hier vertretene Auffassung, wenngleich mit anderer Begründung. Die Kausalität beider Giftgaben für den Tod des Opfers steht naturwissenschaftlich fest. Überträgt man nun die Grundsätze von der Risikokonkretisierung auf den Fall „kumulativer Kausalität“, so ergibt sich freilich genau besehen, dass A mit der Gabe einer per se nicht tödlichen 59

S. o. III. 3. a). Geht man mit dem Schwurgericht und dem BGH von Fahrlässigkeit bei der Abgabe des zweiten Schusses aus, ändert sich an der Strafbarkeit wegen Versuchs einerseits und wegen Vollendung andererseits grundsätzlich nichts. Es kommt dann eine Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags und fahrlässiger Tötung in Betracht (so im Ergebnis auch schon das Schwurgericht sowie Murmann/Rath NStZ 1994, 218; Otto JK 1993, Vor § 13 Nr. 2; Wolter JR 1994, 469 f). Über das Verhältnis dieser Taten zueinander lässt sich dann wieder streiten (vgl. bereits im Text oben II.). Aufgrund des Sachverhalts im Rechtsanwaltsfall spricht mehr für Tatmehrheit gem. § 53 StGB. 61 Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vorbem. §§ 13 ff Rn. 83. 60

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Menge Gift schon kein rechtlich missbilligtes Risiko gesetzt hat, denn ex ante konnte der Tod des Opfers aufgrund dieser Giftgabe gar nicht eintreten! Auf die Frage der Risikorealisierung kommt es daher richtigerweise gar nicht mehr an. In den Fällen sog. alternativer Kausalität, in denen die herrschende Meinung mittels Umformulierung der conditio-Formel für A und B jeweils zur Strafbarkeit wegen vollendeter Tat kommt,62 ergibt sich nun aber Überraschendes: Verabreicht bereits A eine an sich tödlich Menge Gift, so setzt er damit das rechtlich missbilligte Risiko, dass das Opfer an diesem von A gegebenen Gift stirbt. Dieses Risiko hat sich aber nicht im tatbestandlichen Erfolg verwirklicht, da O tatsächlich an derjenigen Giftmenge gestorben ist, die sich aus der Resorption eines Bruchteils des tödlichen Giftquantums des A und einem Bruchteil des tödlichen Giftquantums des B ergibt. Damit fehlt es an der Realisierung des von A gesetzten Risikos. Da dasselbe auch für B gilt, sind beide nur wegen Versuchs zu bestrafen! Dieses Ergebnis widerspricht der ganz herrschenden Meinung, scheint mir aber vor dem Hintergrund des hier vertretenen Modells zwingend und zutreffend zu sein. Denn zum einen ergibt es sich als Konsequenz aus den im Rahmen der Erörterung des Rechtsanwaltsfalls angestellten Überlegungen. Zum anderen erscheint auch die Gleichbehandlung von „kumulativer“ und „alternativer“ Kausalität folgerichtig. Sie bestätigt zunächst die mangelnde Notwendigkeit der terminologischen Differenzierung zwischen kumulativer und alternativer Kausalität.63 Sie lässt sich aber auch normentheoretisch begründen. Denn ein Unterschied im Hinblick auf den Erfolgsunwert bei „kumulativer“ und „alternativer“ Kausalität besteht nicht. Immer hat sich jede von mehreren gesetzten Bedingungen nur teilweise im Erfolg verwirklicht, oder beispielhaft am Giftfall konkretisiert: Sowohl im Fall der „kumulativen“ wie auch in demjenigen der „alternativen“ Kausalität hat O – im einfachsten Fall der unterstellt gleichmäßigen Giftresorption bei 1 g tödlicher Giftmenge – 0,5 g des Giftes des A und 0,5 g des Giftes von B resorbiert. Der einzige Unterschied zwischen beiden Konstellationen besteht im Handlungsunwert: Bei der „kumulativen Kausalität“ haben A und B eben jeweils eine für sich gesehen nicht tödliche Menge von 0,5 g verabreicht, während im Fall der „alternativen Kausalität“ bereits die jeweils verabreichten Giftmengen von 1 g tödlich gewesen wären. Das führt dann in der Konstellation der alternativen Kausalität – wie wir gesehen haben – dazu, dass eine Risikosetzung zu bejahen ist, während es bereits hieran im Fall der „kumulativen Kausalität“ fehlt. Dieser gesteigerte Handlungsunwert kann aber keinesfalls dazu führen, bei der alternativen Kausalität nun wegen 62 63

S. o. III. 3. a). S. o. III. 3. b).

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vollendeter Tat zu bestrafen. Hierzu bedürfte es eines gegenüber der kumulativen Kausalität erhöhten Erfolgsunwertes – der nicht gegeben ist.

3. Die Lösung verwandter Fälle Zum Abschluss sei noch ein kurzer Blick auf einige verwandte Fallkonstellationen geworfen. Wir haben bereits gesehen, dass die Tatsache, ob – wie in den klassischen Giftfällen – zwei Täter jeweils eine Bedingung setzen oder – wie im Rechtsanwaltsfall – ein Täter zwei Kausalverläufe anstößt, im Hinblick auf die Zurechnungsproblematik keinen Unterschied macht.64 Insbesondere zeigen Konstellationen wie der Rechtsanwaltsfall, dass es bei der objektiven Zurechnung nicht ausnahmslos um die Abgrenzung personaler Verantwortungsbereiche gehen muss, sondern grundsätzlich um die Klärung der Zuständigkeit für die Verursachung eines tatbestandsmäßigen Erfolges geht. Wie der Rechtsanwaltsfall deutlich macht, kann diese Frage der Zurechnung aber bei Ein-Personen-Konstellationen in demselben Maße relevant werden wie in den Fällen, in denen Mehrere involviert sind. Es drängt sich aber die Frage auf, wie diejenigen Sachverhalte zu behandeln sind, in denen – anders als in den klassischen Giftfällen – mehrere Beteiligte nicht unabhängig voneinander, sondern etwa als Mittäter handeln. Denken wir uns folgenden Fall: A und B sprechen sich ab, O dadurch zu töten, dass sie ihm jeweils eine Schachtel vergifteter Pralinen zusenden. Hierbei gehen sie zutreffend davon aus, dass O den Inhalt beider Schachteln verzehren muss, damit sie ihr Ziel erreichen. O macht sich heißhungrig über den Inhalt her und verstirbt am Zusammenwirken der beiden Giftmengen. Es liegt auf der Hand, dass hier die Resorption der jeweils anderen Giftmenge weder A noch B entlasten kann. Die hier angezeigte Strafbarkeit beider Beteiligten wegen vollendeten Totschlags lässt sich auf dem Boden des hier vertretenen Zurechnungsmodells aber auch zwanglos dogmatisch begründen. Denn wer in Absprache mit einem anderen mit diesem gemeinschaftlich dem Opfer eine insgesamt tödliche Menge Gift beibringt, der setzt bereits durch die Vornahme seiner Handlung gerade dasjenige Risiko, das sich dann auch tatsächlich im tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht hat. Insoweit entspricht die Konstellation denn auch der Situation der Abgabe des zweiten Schusses im Rechtsanwaltsfall. Dabei bedarf es noch nicht einmal des Rückgriffs auf die umstrittenen Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB. Dasselbe muss dementsprechend für B gelten, wenn A und B nicht als Mittäter handeln, B vielmehr – ohne Kenntnis des A – von der (erfolgsgeeigneten) Giftgabe des A erfährt und, um den Tod des O sicherzu64

Vgl. insoweit z. B. auch Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vorbem. §§ 13 ff Rn. 82 f.

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stellen, seinerseits ebenfalls eine hinreichende Giftmenge verabreicht. Stirbt das Opfer hier an dem Zusammenwirken beider Giftmengen, leuchtet es unmittelbar ein, B wegen vollendeten Totschlags, A aber nur wegen versuchter Tötung zu belangen. Denn nur das von B gesetzte Risiko hat sich im tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht. Ohne hierauf noch vertieft eingehen zu können, ist nach alledem aber auch die grundsätzliche Behandlung der Fälle nicht vollständig determinierter Kausalverläufe impliziert. Wenn der naturwissenschaftliche Zusammenhang, der ja selbst ohnehin nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage beinhaltet,65 nicht mit hinreichender Sicherheit besteht, so kann auch nach hier vertretener Ansicht eine Zurechnung nicht deshalb ohne Weiteres ausscheiden. Hat nach dem Gutachten des Sachverständigen die unterlassene Behandlung eines Patienten nur mit 90-95%iger Wahrscheinlichkeit, nicht aber mit 100%iger Sicherheit zum vorzeitigen Tod geführt, 66 so spricht alles dafür, dem Arzt den Tod des Patienten über die sog. kausalitätsersetzende Risikoerhöhungstheorie zuzurechnen.67

V. Ergebnisse Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die von der herrschenden Meinung vorgenommene Umformulierung der conditio-Formel in den Fällen „alternativer Kausalität“ ist überflüssig und kann sogar zu unrichtigen Ergebnissen führen, wenn sie den Blick dafür versperrt, dass beim Zusammenwirken zweier bereits für sich gesehen erfolgsgeeigneter Bedingungen tatsächlich jeweils nur Versuchsunrecht vorliegt. 2. Die terminologische Differenzierung zwischen alternativer und kumulativer Kausalität hat sachlich keine Berechtigung. Die Feststellung eines naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhangs kann nur ex post erfolgen, der begrifflichen Unterscheidung liegt aber eine im Hinblick auf die Kausalitätsbeurteilung funktionslose ex ante-Sichtweise zugrunde. Denn bezüglich der Kausalitätsfeststellung kommt die herrschende Meinung tatsächlich in beiden Konstellationen zum selben Ergebnis, indem sie Kausalität jeweils bejaht. Eine alternative Kausalität ex post kann es aber schon logisch nicht 65

Puppe GA 2010, 563 f; Rotsch wistra 1999, 322. BGH GA 1988, 184; vgl. Puppe GA 2010, 564. 67 Puppe FS Roxin, 2001, 287, 301 ff; NK-Puppe Vor §§ 13 ff Rn. 138; SK-Hoyer Anhang zu § 16 Rn. 77 f; ders. FS Rudolphi, 2004, 103; a. A. BGH GA 1988, 184. 66

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geben. Der Gesichtspunkt der ex ante konkreten Eignung einer Handlung zur Herbeiführung eines konkreten Erfolges kommt dann bei der objektiven Zurechnung im Rahmen der Risikosetzung zum Tragen. 3. Ob ein Kausalzusammenhang besteht, ist als naturwissenschaftliche Frage einer juristischen Beurteilung entzogen. Kausalität hat daher als tatbestandliche Konstante keinerlei Bedeutung. 4. Die bislang auf der Kausalitätsebene behandelten Fälle insbesondere der alternativen Kausalität sind richtigerweise auf der Ebene des normativen Zurechnungszusammenhangs zu lösen. Dabei ist in dem hier untersuchten Rechtsanwaltsfall mit der Abgabe des ersten Schusses eine nur versuchte, mit der Abgabe des zweiten Schusses hingegen eine vollendete Tötung verwirklicht. In den klassischen Giftkonstellationen ist in dem Fall der „alternativen Kausalität“ – wie bei der „kumulativen Kausalität“ – für beide Täter nur eine Strafbarkeit wegen Versuchs gegeben. 5. Die Frage der Zurechnung ist nicht notwendig durch eine Entweder/ Oder-Entscheidung zu beantworten. Dies ist – wie in BGHSt 39, 195 – nur dann der Fall, wenn ein oder mehrere Täter unterschiedliche rechtlich missbilligte Risiken für ein und denselben tatbestandsmäßigen Erfolg gesetzt haben. Dann kann sich nur entweder das eine oder das andere Risiko im Erfolg verwirklicht haben, was die Annahme zweier vollendeter Taten unmöglich macht. In den Fällen, in denen mehrere Beteiligte – etwa zwei Mittäter durch die Absprache der gemeinschaftlichen Vergiftung des Opfers – genau besehen hinsichtlich des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges ein und dasselbe Risiko setzen, kann sich auch dieses Risiko zwar nur einmal im Erfolg verwirklichen. Der eingetretene Erfolg kann dann aber beiden Mittätern im Rahmen jeweils einer vollendeten Tat zugerechnet werden. Mit diesem Claus Roxin mit den besten Wünschen gewidmeten Versuch, die strukturellen Voraussetzungen eines modernen objektiven Zurechnungssystems näher zu bestimmen, mag der Erkenntnisfortschritt der von ihm maßgeblich vorangebrachten Lehre von der objektiven Zurechnung gegenüber naturwissenschaftlichen Kausalitätserwägungen illustriert worden sein. Und, um die eingangs gestellte Frage vielleicht ein wenig plakativ zu beantworten: Man stirbt eben doch nur einmal.

Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“ KATHARINA BECKEMPER

Kaum ein Strafrechtswissenschaftler hat auf die Lehre der objektiven Zurechnung so Einfluss genommen wie der Jubilar. Insbesondere die Diskussion über die einverständliche Fremdgefährdung und die eigenverantwortliche Selbstgefährdung ist durch sein Werk maßgeblich geprägt. Ein Sonderfall der Selbstgefährdung ist die durch Rettungsversuche motivierte eigene Gefährdung des Opfers. Nach Roxin ist der Erfolg dem Erstverursacher zuzurechnen und zwar im Ergebnis unabhängig davon, ob der Retter in Folge einer Hilfspflicht gehandelt hat. Die h. M. rechnet den Tod des Retters dagegen grundsätzlich zu. Ein Zurechnungsausschluss erfolgt nur dann, wenn die Rettungshandlung als unvernünftig qualifiziert werden muss, allerdings ohne dies zu begründen. Der Jubilar selbst argumentiert beim Rücktritt vom Versuch mit dem Kriterium der Vernunft, indem er ein freiwilliges Abstandnehmen von der Tat annimmt, wenn der vernünftige Verbrecher weitergehandelt hätte. Die Anwendung dieses normativen Freiwilligkeitsbegriffs zeigt, dass nicht aus Billigkeitserwägungen bei unvernünftigen Rettungshandlungen der Zurechnungszusammenhang unterbrochen wird, sondern in diesen Fällen das spätere Opfer freiwillig handelt.

I. Einführung Die Beantwortung der Frage, ob der Tod eines Retters, der sich in Rettungsabsicht in ein brennendes Haus begeben hat, das Werk des Brandstifters, diesem also objektiv zuzurechnen ist, dürfte instinktiv vom Einzelfall abhängen. So macht es prima facie einen Unterschied, ob das Opfer zur Rettung eines Kindes oder einer Katze gehandelt hat, ob die Gefahrenlage ex ante überschaubar oder es leichtsinnig war, das Haus zu betreten. Außerdem lässt sich zwischen Rettern mit und ohne Handlungspflicht differenzieren. Das Ergebnis der einzelnen Fallgestaltungen ist oftmals vom gesunden Judiz vorgegeben und es wird mehr oder weniger offen damit argumentiert,

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welche Handlungsweisen als sozial erwünscht gelten.1 So erscheint es offensichtlich verfehlt, Berufsretter aus dem Schutzbereich der Norm herauszunehmen, da es ihre Aufgabe ist, Leben und andere Rechtsgüter zu retten. Bei einem Privaten wird dagegen danach differenziert, zur Rettung welcher Rechtsgüter er einschreitet. Der unvernünftig Handelnde soll aber nach ganz h.M. nicht geschützt sein.2 Begibt sich deshalb ein Retter in eine überobligatorische Gefahr – eventuell sogar, um geringwertige Rechtsgüter zu retten – und handelt damit nach objektiven Maßstäben unvernünftig, soll der spätere Tod dem Erstverursacher nicht mehr zuzurechnen sein. Selbstverständlich ist dieses Ergebnis nicht, weil das Strafrecht nicht per se dem Leichtsinnigen oder Gutgläubigen seinen Schutz versagt. Der Nachweis, dass die Unvernunft Einfluss auf die objektive Zurechnung hat, müsste folglich erst geführt werden.3 Ausgangspunkt der juristischen Diskussion ist das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit. Der Retter nimmt aufgrund eines eigenen Entschlusses die Gefahr auf sich. Die Rechtsordnung geht davon aus, dass der Rechtsgutsinhaber die Dispositionsbefugnis über den Bestand des Rechtsguts inne hat.4 Verzichtet er auf seine Rechtsgüter, muss auch ein Dritter die preisgegebenen Rechtsgüter nicht respektieren. Eine eigenverantwortliche Selbstschädigung kann folglich nicht strafbar sein. Dieses Ergebnis wird zumeist mit einem argumentum a fortiori aus der Straflosigkeit der vorsätzlichen Mitverursachung einer Selbstschädigung gefolgert.5 Da die vorsätzliche Teilnahme an einer Selbstschädigung mangels vorsätzlicher rechtswidriger Haupttat nicht strafbar sei, ergebe sich die Straflosigkeit der fahrlässigen Teilnahme beinahe zwangsläufig. So bestechend diese Argumentation wirkt, missachtet sie doch, dass sich aus dem Fehlen einer Voraussetzung der vorsätzlichen Teilnahmestrafbarkeit für die fahrlässige Täterschaft nichts folgern lässt.6 Beim Fahrlässigkeitsdelikt gibt es gerade keine Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme. Das Fehlen der Teilnahmestrafbarkeit bei vorsätzlicher Tatbe1 Strasser Die Zurechnung von Retter-, Flucht- und Verfolgerverhalten im Strafrecht, 2008, S. 216 ff. 2 BGHSt 22, 332 (325); OLG Stuttgart NJW 2008, 1974; Derksen NJW 1995, 241; Jakobs ZStW 89 (1977) 1, 34; Puppe Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 173; dies. Jura 1998, 30; Rudolphi JuS 1969, 557; Sowada JZ 1994, 665. 3 Krit. auch Amelung GA 1999, 197, nach dem die Unvernunft des Handelns allenfalls die Vorhersehbarkeit entfallen lassen kann. Siehe auch Furukawa GA 2010, 177 ff. 4 Neumann JA 1987, 248. 5 Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 778; Bindokat JZ 1986, 422; Bottke Suizid und Strafrecht, 1982, S. 236 ff; Schönke/Schröder-Eser Vor §§ 211 ff Rn. 35; Geppert Jura 2001, 491; Neumann JA 1987, 244; Schünemann JA 1975, 190; Welp JR 1972, 429. 6 Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1999, S. 159; Puppe ZIS 2007, 247; Welp JR 1972, 429.

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gehung mangels vorsätzlich rechtswidriger Haupttat besagt deshalb nichts für die täterschaftliche Verantwortung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts. Der Erst-Recht-Schluss ist nicht nur unzutreffend, sondern verdeckt auch das hinter der Straflosigkeit der fahrlässigen Verursachung stehende Prinzip.7 Schädigt sich das Opfer selbst, ist der tatbestandsmäßige Erfolg sein Werk, das dem Mitverursacher nicht zugerechnet werden kann. Die Eigenverantwortlichkeit ist ein eigenständiger Grundsatz im Strafrecht,8 der die Zurechnung trotz Schaffung der rechtlich missbilligten Gefahr ausschließt. Dieses Prinzip hat sowohl im Fahrlässigkeits- als auch im Vorsatzbereich generelle Gültigkeit, ohne dass es eines Rekurs auf die Teilnahmelehre bedürfte.9 Auch die Rechtsprechung erkennt seit dem Heroinspritzenfall10 den Ausschluss der Zurechnung bei der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung an. Eine eigenverantwortliche Gefährdungshandlung unterfiele dann nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich ein vom Opfer bewusst eingegangenes Risiko realisiert. Deshalb macht sich nicht strafbar, wer eine solche Selbstgefährdung veranlasst. Dieser Grundsatz wird aber sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur bei den Retterfällen eingeschränkt.

II. Zurechnung des Todes bei vernünftigen Verhalten 1. Retterfälle in der Rechtsprechung Die Entscheidung BGHSt 39, 322 stellt das Grundsatzurteil zu den Retterfällen dar. In casu entschloss sich ein 22jähriger, der sich zum Zeitpunkt der Brandlegung außerhalb des Hauses aufhielt, in das Obergeschoss zu gelangen. Die Feststellungen des Tatgerichtes sind nicht eindeutig, ob er wertvolle Gegenstände oder den 12jährigen Bruder retten wollte. Er verstarb später an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Der BGH bestätigte die Verurteilung des Brandstifters wegen fahrlässiger Tötung, weil der Ursachenzusammenhang zwischen der vorsätzlichen Begehung und dem späteren Tod durch die Freiwilligkeit des Handelns des Opfers nicht unterbrochen worden sei.11 Obwohl das Motiv des Opfers nicht eindeutig feststand, weist der Senat deutlich darauf hin, dass der Grundsatz der Straffreiheit wegen bewusster 7

Welp JR 1972, 429. Engländer Jura 2001, 537; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben § 15 Rn. 171; a. A. Walther Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 65 ff. 9 Geilen JZ 1974, 145. 10 BGHSt 32, 262. 11 BGHSt 39, 322 (324). 8

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Selbstschädigung eingeschränkt werden müsse, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die nahe liegende Möglichkeit einer Selbstgefährdung dadurch herbeiführe, dass er eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahe stehender Personen schaffe, die ein einsichtiges12 Motiv für die Rettungsmaßnahmen darstellten.13 Etwas anderes könne nur gelten, wenn der Rettungsversuch mit sinnlosen oder offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbunden sei. Diese Grundsätze greift das OLG Stuttgart14 in einem neueren Beschluss auf, um im konkreten Fall den Tatverdacht wegen fahrlässiger Tötung zu verneinen. Im Gegensatz zur vorgenannten Entscheidung kamen zwei Feuerwehrmänner ums Leben, die über eine Holztreppe ins Dachgeschoss vorgedrungen waren. Ein zweiter Trupp konnte schon kurze Zeit später nicht mehr in das Obergeschoss vordringen, weil das Feuer durchgezündet hatte und das Treppenhaus wegen der Hitzeeinwirkungen nicht mehr betreten werden konnte. Das OLG stimmte der Entscheidung des BGH insoweit zu, als dass die Gefahrschaffung durch den Täter kausal für den späteren Tod und die Zurechnung nicht wegen des eigenverantwortlichen Handelns der Rettungskräfte ausgeschlossen sei. Dies gelte sogar dann, wenn die gesetzlich oder beruflich pflichtige Rettungskraft nicht nur ihrer Handlungspflicht folge, sondern ein überobligatorisches Risiko eingehe. Die Grenze sei allerdings dann erreicht, wenn sich der Rettungsversuch von vornherein als sinnlos darstelle oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbunden und deshalb unvernünftig15 sei.

2. Kriterium der Unvernunft in der Literatur Die Rechtsprechung nimmt in diesen Entscheidungen keine Unterscheidung zwischen Rettern mit einer Handlungspflicht und solchen ohne vor. Die vorherrschende Literatur will die Frage nach der Zurechnung des Erfolges dagegen abhängig davon beantworten, ob es sich um nicht pflichtige oder pflichtige Retter handelt.

a) Zurechnung bei Rettern ohne Hilfspflicht Das Meinungsspektrum zur Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolges in den genannten Konstellationen ist inzwischen breit gefächert und kann 12

Hervorhebung der Verfasserin. BGHSt 22, 322 (325). 14 OLG Stuttgart NStZ 2009, 331 m. Anm. Furukawa GA 2010, 169; Puppe NStZ 2009, 333; Radtke/Hoffmann NStZ-RR 2009, 52. 15 Hervorhebung der Verfasserin. 13

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hier nur kursorisch dargestellt werden. Nur ein Teil der Literatur16 lehnt die Zurechnung grundsätzlich ab, weil Rettungshandlungen, die von keiner Hilfspflicht motiviert sind, als reines „Privatvergnügen“ zu klassifizieren seien. Der Erstverursacher könne für keinen Schaden verantwortlich gemacht werden, der auf einer Handlung beruhe, die dem Opfer von der Rechtsordnung nicht abverlangt werde. Die wohl h. M.17 hält die Zurechnung dagegen für möglich. Zwar sei das Einschreiten des späteren Opfers eigenverantwortlich. Das schließe die Zurechnung aber nicht aus, weil auch derjenige, der sich freiwillig in Gefahr begibt, grundsätzlich des Schutzes der Rechtsordnung würdig und bedürftig sei. Z. T. wird dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Schutzwürdigkeit daraus resultiere, dass der Täter vernünftig gehandelt habe. Niemand solle einen anderen in eine Situation bringen, in der es vernünftig ist, sich selbst zu gefährden18. Es soll deshalb eine Ausnahme in den Fällen gemacht werden, in denen das Opfer ein unverhältnismäßig großes Risiko eingeht. In der Sache liegen die vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien nahe an dem von der Rechtsprechung herangezogenen Kriterium der Unvernunft. Wenn z. B. eine Abwägung zwischen den einander gegenüberstehenden Rechtsgütern unter Berücksichtigung des Grades der Gefährdung gefordert wird,19 ähnelt das dem Maßstab der Rechtsprechung, nach dem willkürliche Rettungsmaßnahmen die Zurechnung ausschließen. Gleiches gilt für die Ansicht, die eine Zurechnung verneint, wenn sich das Handeln des Opfers als eine Obliegenheitsverletzung darstellt.20 Schon terminologisch mit der Rechtsprechung argumentiert die Sicht, willkürliche, mutwillige oder unvernünftige Rettungshandlungen schlössen die Zurechnung aus.21 Auch wenn die einzelnen divergierenden Meinungen bisweilen nicht explizit den Maßstab der Unvernunft heranziehen, lässt er sich als Extrakt gewinnen. Die Zurechnung des Erfolgs hängt demnach in erster Linie davon ab, ob die Rettungshandlung als ein schützenswerter Akt erscheint, weil sie vernünftig ist.

16

Günther StV 1995, 80; Schünemann JA 1975, 722. Geppert Jura 2001, 495; Puppe (Fn. 2) S. 173; dies. ZIS 2007, 251; dies. Jura 1998, 30; Rudolphi JuS 1969, 557; Sowada JZ 1994, 665 f. 18 Puppe (Fn. 2) S. 173; dies. Jura 1998, 30; dies. NStZ 2009, 338. 19 Sowada JZ 1994, 665. 20 Rudolphi JuS 1969, 557; LK-Schroeder § 16 Rn. 182; Wolter JuS 1981, 175. 21 Derksen NJW 1995, 241; Jakobs ZStW 89 (1977), 34; Puppe (Fn. 2) S. 265. 17

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b) Zurechnung bei Rettern mit Hilfspflicht Bei Rettern mit Handlungspflicht, die sich etwa aus § 323c StGB, einer Garantenstellung oder einer Berufspflicht ergeben kann, wird die Rechtsgutsverletzung nach h. M.22 prinzipiell dem Erstschädiger zugerechnet. Es fehle an einem eigenverantwortlichen Dazwischentreten des Opfers, weil dieses nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses, sondern wegen seiner Rechtspflicht handelt. Der Retter sei in seiner Entscheidung gerade nicht mehr frei, weil die Rechtsordnung ihm vorschreibt einzuschreiten. Wer sich in Erfüllung seiner Pflicht unfreiwillig in Gefahr bringe, sei des Schutzes des Rechts würdig und bedürftig.

3. Ansatz von Roxin Roxin hat schon Anfang der 1970er Jahre eine grundlegende Sichtweise entwickelt, die sich von der h. M. unterscheidet.23 Gemeinsam ist den Ansätzen, dass auch der Jubilar zwischen pflichtigen und nicht pflichtigen Rettern differenziert. Bei Letzteren verneint er die Zurechnung grundsätzlich, wenn der Retter sich freiwillig in die Gefahr begeben habe.24 Der Brandstifter habe die Gefahr zwar geschaffen, diese sei aber für sich genommen noch nicht unmittelbar gefährlich. Erst der eigenverantwortliche Entschluss des Retters, sich in diese Gefahrenquelle zu begeben, sei geeignet, den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen. Auf diesen Entschluss habe der Erstverursacher aber keinen Einfluss. Auch bei Rettern mit Handlungspflicht bejaht Roxin grundsätzlich den Ausschluss der objektiven Zurechnung. Er verneint zwar – wie die herrschende Lehre – die Eigenverantwortlichkeit des Einschreitens des Pflichtigen, wenn er in seiner Entscheidung nicht frei ist, weil eine Handlungspflicht ihn zum Rettungsversuch zwingt. Die Bestrafung müsse aber ausscheiden, weil der Gesetzgeber dem Opfer die Handlungspflicht auferlegt habe. Wenn der Gesetzgeber das Eingreifen vorschreibe, wäre es widersprüchlich, den Erfolg, der aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Rettungsversuch resultiert, dem Erstverursacher zuzurechnen.25 Es sei in diesen Fällen der Gesetzgeber selbst, der das Schadensrisiko setze. Roxin unter22

Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben § 15 Rn. 157; MüKo-Duttge § 15 Rn. 155; Kindhäuser AT § 11 Rn. 48; Köhler AT S. 197; Radtke/Hoffmann GA 2007, 217; dies. NStZRR 2009, 54; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 80; Strasser (Fn. 1) S. 228 ff; siehe auch Jäger Examens-Repetitorium AT Rn. 50, der dies bei Berufsrettern aus der geänderten Fassung des § 306c StGB folgert. 23 Roxin FS Gallas, 1973, 241 ff. 24 Roxin FS Gallas, 1973, 247. 25 Roxin FS Gallas, 1973, 247.

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mauert seine Ansicht mit der Überlegung, dass bei der Existenz einer Berufspflicht der Retter im weiteren Sinne freiwillig handele, weil er seinen Beruf auf Grund eines freien Willensentschlusses gewählt habe und deshalb sein selbst gewähltes Berufsrisiko trage.26

4. Zusammenfassung Die Argumente dürften ausgetauscht sein. Dennoch ist eine Positionierung kaum möglich. Der kursorische Überblick über den Meinungsstand zeigt vor allem eines, nämlich dass die h. M. auf den ersten Blick zu sachgerechten Ergebnissen führt, in sich aber wenig stringent ist. Im Ergebnis mag es zwar überzeugen, dass der Erstverursacher die Verantwortung für den Schaden des Retters tragen muss, wenn die Rettungshandlung positiv bewertet wird, etwa weil der Retter zur Rettung eines Kindes tätig wird – insbesondere seines eigenen – , nicht jedoch, wenn er sich für eine Katze in Gefahr bringt oder für ein Menschenleben ein übergebührliches Risiko eingeht. Eine Begründung, weshalb „unvernünftiges“ Verhalten die Zurechnung ausschließt, ist damit aber nicht gegeben. Es bleibt nämlich offen, inwieweit dieses Kriterium die Freiwilligkeit beeinflusst. Vordergründig macht die Unvernunft des Rettungsversuchs aus einer unfreiwilligen Selbstgefährdung keine freiwillige.27 Nicht einmal die Differenzierung zwischen Retter mit und ohne Handlungspflicht ist zwingend. Letztlich ist es nur eine Behauptung, dass ein pflichtiger Retter nicht mehr eigenverantwortlich handelt. Die Ansicht Roxins ist dagegen konsequenter, hat aber den Nachteil, dass sie Ergebnissen führt, die als unbillig empfunden werden. Rettungshandlungen mit überschaubaren Risiken oder zur Rettung hochrangiger Rechtsgüter sind von der Gesellschaft erwünscht. Es erscheint deshalb nicht sachgemäß, das Risiko der Gefährdung dem Retter aufzuerlegen.

III. Schutzbedürftigkeit des Retters Zentrales Motiv der h. M. für die Differenzierung ist die grundsätzlich soziale Erwünschtheit von Rettungshandlungen, die dann entfällt, wenn das Opfer ein übergebührliches Risiko eingeht.

26 27

Roxin AT I § 11 Rn. 139. Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 777.

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1. Zurechnung bei sozial erwünschten Rettungsverhalten Die soziale Erwünschtheit alleine kann aber kein Grund für die Zurechnung des Erfolges sein.28 Selbstverständlich erscheint es recht und billig, das Opfer, das zur Rettung von Rechtsgütern tätig wird, in den Schutzbereich einzubeziehen. Die Schutzbedürftigkeit des Opfers kann aber nicht mit moralischen Argumenten belegt werden. Das zeigt schon die Möglichkeit einer jeweils gegenteiligen Argumentation. Es ist jedenfalls kein zwingender Grund ersichtlich, nicht gerade den Unvernünftigen in den Schutzbereich einzubeziehen. Wenn schon ein vernünftig Handelnder geschützt ist, so könnte das doch erst recht für das Opfer gelten, das aus seiner Verzweifelung heraus – etwa, weil nahe stehende Personen in Gefahr sind – gar nicht mehr weiß, was es tut und sich deshalb willkürlich gefährdet.29 Auch ließe sich behaupten, der Berufsretter, von dem angenommen werden kann, dass er in der Lage ist, die Gefahren zuverlässiger abzuschätzen, sei weniger schutzwürdig, zumal er – so die Argumentation Roxins – den Beruf freiwillig gewählt hat und sich so des Schutzes entzogen habe.30 Auch die von Roxin angeführten kriminalpolitischen Argumente sprechen für die fehlende Schutzwürdigkeit des Retters: Zumindest der nicht pflichtige Retter bringt sich aus eigenen Motiven in Gefahr und führt damit erst die Möglichkeit einer (erhöhten) Strafbarkeit herbei. Der Schutz des Retters würde in der Konsequenz also bedeuten, ihm den Konflikt aufzuerlegen, durch sein Verhalten die Strafbarkeit des Verursachers zu eröffnen.31 Im Übrigen würde auch der Verursacher einer Gefahr davon abgehalten werden, die erforderliche Hilfe zu holen, wenn ihn dies unter Umständen strafrechtlich belastet.32 Gesicherte Ergebnisse lassen sich mit dem Kriterium der sozialen Erwünschtheit und der angeblich daraus resultierenden Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit also nicht herleiten.

2. Fehlende Schutzbedürftigkeit bei möglichem Selbstschutz Dabei ist der h. M. durchaus Recht zu geben, dass das entscheidende Merkmal die Schutzbedürftigkeit des Opfers ist. Diese ist aber nicht nach Billigkeitserwägungen wegen der sozialen Erwünschtheit des Retterverhaltens zu bestimmen, sondern mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit.33 28

Günther StV 1995, 81; Radtke/Hoffmann GA 2007, 217. So Günther StV 1995, 80. 30 Ähnlich Furukawa GA 2010, 174. 31 Roxin FS Honig, 1970, 143; ders. AT I § 11 Rn. 139. 32 Roxin AT I § 11 Rn. 139. 33 Hassemer Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, 1981, S. 35. 29

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Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit besagt, dass das Opfer nicht schutzbedürftig ist, wenn es sich selbst schützen kann. Des Strafrechts bedarf es nämlich nicht, wenn dem Opfer ein zumutbarer Selbstschutz zur Verfügung steht. Wenn sich schon das Opfer seiner Rechtsgüter begibt, darf das Strafrecht nicht eingreifen, weil ihm dann die Legitimation fehlt.34 Diese These fordert Widerspruch hinaus, weil sie scheinbar die Verantwortlichkeit über Gebühr vom Täter zum Opfer verschiebt. Das besagt der Zurechnungsausschluss der Eigenverantwortlichkeit aber keineswegs, weil dem Opfer keine Selbstschutzpflicht auferlegt, sondern von ihm nur erwartet wird, sich in zumutbarer Weise selbst zu schützen. Dieser Obliegenheit wird der Retter nicht gerecht, wenn er sich eigenverantwortlich in Gefahr bringt. Er selbst gibt deshalb seine Schutzbedürftigkeit auf, wenn er sehenden Auges Verletzungen in Kauf nimmt. Die Strafbedürftigkeit, die der Schutzbedürftigkeit korreliert, hängt damit nicht von der sozialen Erwünschtheit des Verhaltens, sondern nur vom eigenverantwortlichen Handeln des Retters ab.

IV. Freiwilligkeit der Gefährdung Die Eigenverantwortlichkeit entfällt grundsätzlich, wenn das Opfer nicht freiwillig aufgrund eines freien Willensentschlusses handelt. Eigenverantwortlichkeit setzt also Freiwilligkeit voraus. Wann diese vorliegt, wird unterschiedlich beurteilt. Während manche die Eigenverantwortlichkeit erst ablehnen, wenn das Opfer schuldunfähig oder in einer Notstandslage handelt,35 wollen andere die Regeln der Einwilligung36 anwenden. Mit diesen Maßstäben, die zu den allgemeinen Fällen der Selbstschädigungsdelikte entwickelt worden sind, lassen sich die Spezifika der Retterfälle allerdings nicht zufriedenstellend lösen. Ein freiwilliges Verhalten läge in fast allen Fällen des Retterverhaltens vor, ohne dass z.B. berücksichtigt werden könnte, ob dem Retter eine Hilfspflicht obliegt oder nicht. Auch der Versuch, unvernünftiges Verhalten aus dem Schutzbereich auszuklammern, wäre mit diesen Regeln gescheitert. Zur Bestimmung der Freiwilligkeit kann u. U. auf die Auslegung des Begriffs im Rahmen des Rücktritts vom Versuch zurück gegriffen werden. Die von der h. M. vorgenommene psychologisierende Auslegung führt 34

Kratzsch Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S. 364; ders. FS Oehler, 1985, 67; Schünemann ZStW 90 (1978), 32. 35 Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 778; Bottke (Fn. 5) S. 250 ff; ders. JuS 1983, 379; Hirsch JR 1979, 429; Roxin FS Dreher, 1977, 346. 36 Schönke/Schröder-Eser Vor §§ 211 ff Rn. 36 f; Frisch (Fn. 6) S. 166; LK-Jähnke Vor §§ 211 ff Rn. 26; Kühl AT § 20 Rn. 51; Lackner/Kühl Vor §§ 211 ff Rn. 13a.

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allerdings nicht zu begründeten Ergebnissen. Vielversprechend erscheint aber der Ansatz Roxins, der die Freiwilligkeit normativ bestimmt.

1. Psychologisierende Interpretation der Freiwilligkeit Die ganz h. M.37 stellt für die Konkretisierung der Freiwilligkeit i. S. des § 24 StGB nicht auf normative Gesichtspunkte ab, sondern argumentiert mit den Begriffen „Autonomie“ und Heteronomie“ oder „nicht zwingende“ und „zwingende“ Gründe. Danach ist der Rücktritt unfreiwillig, wenn heteronome, d. h. vom Willen des Täters unabhängige Motive ihn zum Aufgeben der Tat motivieren. Dagegen liegt ein freiwilliger Rücktritt vor, wenn autonome Gründe für die Entscheidung zum Rücktritt verantwortlich sind. Befriedigende Ergebnisse lassen sich mit dieser Differenzierung oftmals nicht erzielen, weil nur schwer zu begründen ist, dass der Täter aus zwingenden Gründen zurückgetreten ist. Handhabbar ist die psychologisierende Interpretation nur durch weitere Kategorisierungen, so dass die Diskussion wenig erstaunlich in eine unüberschaubare Kasuistik versandet ist. Ein abstrakter Maßstab lässt sich mit der psychologisierenden Betrachtungsweise schon beim Rücktritt vom Versuch deshalb schwer finden.38 Für unser Problem ist diese Beschreibung der Freiwilligkeit aber von keinem Nutzen. Es dürfte wohl aussichtslos sein, begründen zu wollen, in welchen Fällen der Retter aus autonomen Gründen handelt. Schon die Beantwortung der Frage, ob der Berufsretter im konkreten Fall autonom handelt oder nur aufgrund seiner Pflichtenstellung, liefe auf bloße Mutmaßungen hinaus.

2. Normative Interpretation der Freiwilligkeit Roxin beurteilt die Freiwilligkeit des Versuchs dagegen normativ, indem er darauf abstellt, welchen Grund das Erfordernis der Freiwilligkeit in der konkreten Norm hat.39 Die Frage nach der Freiwilligkeit des Verhaltens ist danach ein Wertungsproblem.40 Ziel der normativen Bestimmung ist es %GHSt 35, 184 (186); Fischer § 24 Rn. 19; MüKo-Herzberg § 24 Rn. 141; Satzger/Schmidt/Widmeier-Kudlich/Schuhr § 24 Rn. 63 f; LK-Lilie/Albrecht § 24 Rn. 244 f; NKZaczyk § 24 Rn. 63 ff. 38 Bockelmann NJW 1955, 1418; Jäger Der Rücktritt vom Versuch als zurechenbare Gefährdungsumkehr, 1996, S. 98 ff. 39 Roxin ZStW 77 (1965), 97 ff; ders. FS Heinitz, 1972, 255 ff. 40 Bockelmann NJW 1955, 1418; Bottke JR 1980, 442; ders. JA 1981, 63; Dohna ZStW 59 (1939), 544; Roxin ZStW 77 (1965), 92 ff; SK-Rudolphi § 24 Rn. 24 ff; Schünemann GA 1986, 322 f; Walter Rücktritt vom Versuch als Ausdruck des Bewährungsgedankens im zurechnenden Strafrecht, 1980, S. 70 ff. 37

Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“

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nicht, einen allgemeinen Freiwilligkeitsbegriff zu finden, sondern eine Konkretisierung in Abhängigkeit vom Zweck der Norm vorzunehmen. Im Rahmen des § 24 StGB ist entscheidend, ob der Täter den Konflikt zwischen Normbeachtung und Normverletzung zugunsten der Normtreue löst. Der Rücktritt ist die Rückkehr in die Legalität und eine Bestrafung nicht mehr notwendig. Roxin hält hierbei den Rücktritt für freiwillig, wenn er aus der Sicht eines das Risiko und die Chance abwägenden Verbrechers unvernünftig ist.41 Unfreiwillig ist der Rücktritt dagegen, wenn die Aufgabe der Tat oder die Verhinderung der Vollendung ein für den Verbrecher zweckdienliches Verhalten ist, etwa weil er sich entdeckt glaubt. Ein solcher Gehorsam gegenüber den Regeln der Verbrecherzunft stehe der Straffreiheit entgegen.42 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Verbrecher, der bereits unmittelbar zu einer Straftat angesetzt hat, sich in ein anderes Normgepräge begeben hat, nämlich das der Verbrecherzunft. Für ihn ist es deshalb vernünftig, sich nach diesen Normen zu richten und mit der Tat fortzufahren. Tut er dies nicht und kehrt sich damit gegen die Regeln seiner Zunft, handelt er freiwillig.

3. Übertragung des normativen Freiwilligkeitsbegriffs Da es gerade das Verdienst des normativen Ansatzes ist, die Freiwilligkeit in Abhängigkeit von der konkreten Norm zu interpretieren, kann der Maßstab des vernünftigen Verbrechers nicht weiterhelfen. Es soll lediglich der Ansatz zu Nutze gemacht werden, die Bestimmung losgelöst von wenig aussagekräftigen Topoi wie autark oder autonome Motive vorzunehmen. Die Freiwilligkeit der Entscheidung des Retters, die Gefahr auf sich zu nehmen, soll die Verantwortungsbereiche des Täters und des Opfers voneinander abgrenzen. Wenn das spätere Opfer sich freiwillig für die Gefahr entscheidet, bleibt der Erstverursacher straflos, auch wenn er die Gefahr sorgfaltswidrig geschaffen hat. Mit seinem freiwilligen Verhalten lässt der Retter damit den Strafgrund für den Erstverursacher entfallen. Die Freiwilligkeit hat in unserem Zusammenhang folglich die Funktion, die zur Schutzbedürftigkeit korrelierende Strafbedürftigkeit entfallen zu lassen.

a) Retter mit Handlungspflicht Das Menschenbild der Rechtswissenschaft ist fraglos reicher als die Annahme, dass Menschen Kosten-Nutzen-Maximierer sind, die ihr Verhalten 41 42

Roxin FS Heinitz, 1972, 251 ff; ders. ZStW 77 (1965), 97. Roxin FS Heinitz, 1972, 256.

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rational kalkulieren. Auch die Rechtswissenschaft geht aber davon aus, dass das Recht das Verhalten der Menschen steuert. Recht soll also auf das Handeln einwirken, was nur sinnvoll ist, wenn sich die meisten danach richten.43 Der Rechtswissenschaft liegt deshalb die Prämisse zu Grunde, dass das Recht eine Steuerungsfunktion hat und es rational, also vernünftig ist, sich nach diesen Regeln zu richten.44 Folglich ist es für den pflichtigen Retter vernünftig, seiner Handlungspflicht nachzukommen. Sowohl die Berufsregeln z. B. der Feuerwehr und der Polizei45 als auch die Handlungspflicht nach § 323c StGB verlangen von dem Retter nur Handlungen, die zuzumuten sind. Der Normbefehl schreibt Rettungsversuche deshalb nur vor, wenn das Risiko nicht übergebührlich ist. Der pflichtige Retter, der auch in solchen gesteigerten Gefahrenlagen mit übergebührlichem Risiko Rettungsversuche unternimmt, handelt deshalb unvernünftig, weil er nicht mehr dem Normbefehl folgt. Er bringt sich in eine größere Gefahr, als das Recht von ihm verlangt und handelt damit freiwillig. Er handelt demgegenüber vernünftig, wenn er dem Normbefehl folgt und sinnvolle Rettungsversuche unternimmt. Diese Vernunftsentscheidung lässt die Freiwilligkeit entfallen, weil das Opfer nicht aus eigenem Entschluss, sondern lediglich gemäß der Rechtsordnung handelt. So wie der Verbrecher freiwillig handelt, wenn er eine nach den Normen der Verbrecherzunft unvernünftige Entscheidung trifft, handelt auch der Retter, der eine Handlungspflicht hat, nur freiwillig, wenn er unvernünftig – also nicht nach dem für ihn geltenden Normbefehl – handelt. Mit dieser Konkretisierung der Freiwilligkeit sind gleich zwei Fragen beantwortet, nämlich zum einen, ob die Existenz einer Hilfspflicht zwingend die Zurechnung nach sich zieht und zum anderen, aus welchem Grunde die Zurechnung bei überobligatorischen Rettungsversuchen ausgeschlossen ist. Die erste Frage muss entgegen der Ansicht Roxins bejaht werden. Ein Retter, der sich nur in Gefahr begibt, weil die Rechtsordnung ihm dies auferlegt, handelt nicht frei, sondern unter dem Einfluss des Normbefehls. Es ist für ihn vernünftig, diesem Befehl zu folgen, weil er sich ansonsten selbst strafrechtlichen oder zumindest dienstrechtlichen Sanktionen ausgesetzt sieht. Die Vernünftigkeit seines Verhaltens lässt aber – in Umkehrung an den Rücktritt vom Versuch des unvernünftigen Verbrechers – die Freiwil-

43

Krawietz Das positive Recht und seine Funktion, 1967, S. 66; Pawlowski Methodenlehre für Juristen, § 4 Rn. 99. 44 Malloy Law in a Market Context, 2004, S. 145. 45 Dazu Strasser (Fn. 1) S. 216 ff.

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ligkeit entfallen. Ein seiner Hilfspflicht nachkommender Retter handelt nicht nach eigenem Entschluss, sondern gemäß seinen Pflichten. Gleichzeitig erfährt die h. M., die bei unvernünftigen Rettungshandlungen die Zurechnung ausschließt, eine Begründung. Die Rechtsordnung verlangt vom Retter nur Handlungen, bei denen das Risiko für ihn vertretbar und ihm damit zuzumuten ist. Unvertretbare Rettungshandlungen sind dagegen von ihm nicht gefordert. Diese nimmt das spätere Opfer nicht aus vernünftigen Gründen vor, weil es sich legal verhalten will, sondern es handelt unvernünftig und damit nach der normativen Interpretation der Freiwilligkeit freiwillig. Der Ausschluss der Zurechnung erfolgt deshalb nicht aus Billigkeitserwägungen, sondern weil die Eigenverantwortlichkeit des Handelns fehlt.

b) Retter ohne Handlungspflicht Die Heranziehung der Freiwilligkeit kann deshalb die als sachgerecht empfundenen Ergebnisse bei Rettern mit Handlungspflicht absichern. Schwieriger ist dies dagegen bei nicht pflichtigen Rettern. Da diese nicht in einem Zwiespalt zwischen eigener Gefährdung und ihrer Handlungspflicht sind, versagt die Definition der Freiwilligkeit hier auf den ersten Blick. Eine Vernunftsentscheidung zwischen Normbefehl und Normverweigerung ist schlicht nicht möglich. Deshalb ist aber auch unfreiwilliges Verhalten nicht denkbar. Es ist für den nicht pflichtigen Retter mangels Vorliegens eines Zwiespaltes immer unvernünftig, sich unnötig in Gefahr zu bringen. Der Retter ohne Handlungspflicht handelt folglich immer freiwillig, weil er immer unvernünftig handelt, wenn er sein Leben zugunsten anderer Rechtsgüter ohne rechtliche Verpflichtung riskiert. Eine unfreiwillige Gefährdung ist deshalb ohne Rechtspflicht nicht denkbar. Im Ergebnis wird damit die Ansicht bestätigt, dass Anknüpfungspunkt für die Zurechnung immer nur die Handlungspflicht sein kann.46 Rettungshandlungen ohne Rechtspflicht sind dagegen freiwillig und lassen wegen der Eigenverantwortlichkeit des Retters die Zurechnung entfallen. Diese Sicht ist im Übrigen weniger zynisch, als es auf den ersten Blick scheint. Eine Handlungspflicht haben nämlich nicht nur die Berufsretter, sondern auch Private, die nach § 323c StGB verpflichtet sind zu helfen, wenn es ihnen zuzumuten ist. Mit dem Kriterium der Zumutbarkeit legt das Gesetz selbst fest, dass unvernünftige Rettungsversuche nicht erwartet wer-

46

Radtke/Hoffmann GA 2007, 217; dies. NStZ-RR 2009, 54.

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den. Unternimmt ein Privater sie dennoch, tut er dies freiwillig und damit eigenverantwortlich.47

V. Schluss Die Anknüpfung an die von dem Jubilar vorgenommen Freiwilligkeit kann deshalb zu begründeten Ergebnissen führen. Die Beschränkung der Zurechnung des Erfolges bei dem Handeln eines Retters mit der Pflicht, zur Rettung von Rechtsgütern tätig zu werden, führt auch zur Rechtssicherheit, weil letztlich das Gesetz die Entscheidung trifft, ob der Erfolg dem Erstverursacher zugerechnet wird. Nur wenn eine Berufspflicht oder eine Situation des § 323c StGB vorliegt, ist der Verursacher der Gefahr für den späteren Eintritt des Erfolges verantwortlich, weil er eine Situation geschaffen hat, in der das spätere Opfer eine vernünftige Entscheidung getroffen und sich damit unfreiwillig in Gefahr gebracht hat.

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Weitergehend Radtke/Hoffmann GA 2007, 218, die zusätzlich eine Zurechnung in den Fällen des § 35 StGB annehmen, weil die Eigenverantwortlichkeit in den Fällen ausgeschlossen sei, wenn der Retter unter übermäßigem psychischen Druck steht. Dagegen Strasser (Fn. 1) S. 238.

„Risikoabnahme“ – Zur Begrenzung der Zurechnung in Retterfällen CARL-FRIEDRICH STUCKENBERG

I. Unter den zahlreichen markanten Positionen, mit denen Roxin die strafrechtliche Zurechnungslehre geprägt hat, findet sich auch eine, die ungewöhnlicherweise kaum Gefolgschaft gefunden hat, nämlich der von ihm 40 Jahre lang vertretene Ausschluss der Zurechnung von sog. Retterschäden zu demjenigen, der die Gefahr, die sodann Dritte zu selbstschädigenden Rettungshandlungen veranlasst, in strafbarer Weise verursacht hat. Obwohl die Diskussion über die Zurechnung selbstschädigenden Drittverhaltens seit den damaligen Anfängen mittlerweile einen beachtlichen Umfang erreicht und sich im Gefolge der Rechtsprechung eine jedenfalls im Ergebnis weithin einige herrschende Meinung herausgebildet hat, besteht immer noch erstaunliche Unsicherheit über die tragenden Begründungsprinzipien sowie zahlreiche Einzelfragen. Die radikale Gegenposition Roxins wurde dabei zwar oft diskutiert, doch bleiben Zweifel, ob ihre ganze Tragweite schon ausgeschöpft ist, abgesehen davon, dass zumindest mir ihre Ergebnisse immer noch plausibel erscheinen wollen – und das auch jetzt noch, nachdem Roxin sie aufgegeben hat, kurz bevor dieser Beitrag in Druck ging. Deshalb soll hier, nun trotz der Gefahr, gleichsam den jüngeren Roxin gegen den älteren verteidigen zu müssen, seiner vormaligen Position noch einmal nachgegangen werden, angesichts des begrenzten Raumes aber nur beschränkt auf einen besonders hervorstechenden Aspekt, nämlich die Idee einer Lehre von den Verantwortungsbereichen mit einer grundsätzlichen normativen Scheidung von Risikosphären, wonach ungeachtet sonstiger Mitursächlichkeit ganze Risikogruppen ausschließlich einem fremden Verantwortungsbereich wie staatlich organisierten Rettungsmaßnahmen zugewiesen werden. Im Folgenden geht es also nur um solche Schäden, die institutionelle Rettungskräfte wie Angehörige der Feuerwehr, Polizei, Bergwacht, der notärztlichen Dienste usw., die regelmäßig auch rechtlich zur Rettung verpflichtet sind, bei der Abwehr von Gefahren, deren Verursachung für sich schon strafrechtlich verboten ist, erleiden.

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II. Entwickelt hat Roxin die hier interessierende Position erstmals in dem Beitrag zur Festschrift für Honig bei der Bestimmung des Schutzbereichs der den Verletzungstatbeständen zugrunde liegenden Normen, wo die fraglichen Konstellationen mit dem Begriff der „Risikoabnahme“ umschrieben wurden.1 Bekräftigt wurde die Ansicht in dem Aufsatz zum Schutzzweck der Norm in der Festschrift für Gallas 2 und schließlich3 später im Lehrbuch4 ausgeführt unter dem Topos „Reichweite des Tatbestandes“. Erst in dem Beitrag zur Festschrift für Puppe hat Roxin seine Ansicht teilweise aufgegeben und die Zurechenbarkeit von Schäden hilfspflichtiger Retter bejaht.5 Die Begründung lautete anfangs, dass im Fall gesetzlich auferlegter Hilfspflichten – wie nach § 330c/323c StGB oder beruflich begründeten Pflichten – die Rechtsordnung das von ihr eben durch diese Inpflichtnahme begründete Risiko nicht auf den Erstverursacher abwälzen dürfe, worin sonst eine Art strafrechtliche Risikoschaffung zu Lasten Dritter liege. 6 Wenn der Erstverursacher den zum Handeln gesetzlich verpflichteten Retter in seinem Tun nicht hindern, dessen möglichem Schaden also nicht vorbeugen dürfe, auch wenn er dies könne, sollte man ihm die Folgen auch nicht anlasten. 7 Handle der Retter, ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein, trage er allein die Verantwortung für die Folgen seines Tuns. 8 Denkbar sei hingegen, dem Retter, der ein vernünftiges Risiko eingeht, einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Gefahrverursacher etwa über die Arztkosten zu gewähren, was zeige, dass zivil- und strafrechtliche Zurechnung nicht dieselben Wege gehen müssten.9 Zudem werde der Retter in einen ausweglosen Konflikt gestürzt, weil er durch seinen Rettungsversuch womöglich Dritte in Kriminalstrafe stürze.10 Auch der Erstverursacher werde zu einem „unwürdigen Kalkül“ gedrängt, wenn er sich fragen müsse, ob er überhaupt Hilfe holen solle, wenn er dadurch zugleich sein Haftungsrisiko steigert.11 1 Roxin FS Honig, 1970, 133, 142 ff; ders. Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 123, 134 ff; etwas anders noch ders. Täterschaft und Teilnahme, 2. Aufl. 1967, S. 546 f. 2 Roxin FS Gallas, 1973, 241, 246 ff. 3 Siehe auch Roxin/Schünemann/Haffke Klausurenlehre2 S. 131, 138 ff, 141 f. 4 Roxin AT I § 11 Rn. 137 ff. 5 Roxin FS Puppe, 2011, 912 ff. Zu den Gründen siehe unten bei Fn. 54, 57 und in Fn. 63. 6 Roxin FS Honig, 1970, 133, 142 f; ders. FS Gallas, 1973, 241, 247. 7 Roxin FS Gallas, 1973, 241, 247; a. A. ders. FS Puppe, 2011, 914. 8 Roxin FS Honig, 1970, 133, 143; ders. FS Gallas, 1973, 241, 246 f; ders. FS Puppe, 2011, 915 ff. 9 Roxin FS Honig, 1970, 133, 142; ders. FS Gallas, 1973, 241, 248. 10 Roxin FS Honig, 1970, 133, 143; ders. FS Gallas, 1973, 241, 248. 11 Roxin FS Honig, 1970, 133, 143.

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Das gelte auch im bekannten „Pockenfall“, 12 der lange Zeit einzigen Entscheidung in diesem Problemfeld: Suche der Klinikseelsorger von sich aus die an Pocken Erkrankten auf, die ein unachtsamer Arzt infiziert hatte, und stecke sich dort an, so scheide entgegen der Ansicht des BGH eine Verurteilung des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung aus.13 Im Lehrbuch wird die Zurechnungsausschließung damit begründet,14 dass bestimmte Berufsträger für die Beseitigung und Überwachung von Gefahrenquellen in einer Weise zuständig seien, dass Außenstehende ihnen nicht hineinzureden haben. Die kriminalpolitisch sinnvolle Konsequenz einer solchen Kompetenzzuweisung sei es dann, den Erstverursacher von solchen Folgen zu entlasten, die ein schädigendes Verhalten des Berufsträgers herbeigeführt hat. Dies betrifft ersichtlich sowohl selbst- als auch fremdschädigendes Verhalten, da Roxin neben den Retterfällen auch die Folgen ärztlicher Kunstfehler hierzu zählt.15 Hinzu treten noch ergänzende Erwägungen, so erstens, dass freiwillig eingegangene Risiken die Zurechnung zum Erstverursacher stets abbrechen sollen, sich aber überobligationsmäßige und insofern freiwillige Rettungshandlungen von pflichtigen kaum abgrenzen ließen.16 Zweitens seien aufgrund Berufspflicht eingegangene Risiken letztlich auch freiwillig, weil außer in Fällen einer Dienstpflicht wie der Wehrpflicht die Berufswahl und die Übernahme damit der verbundenen Risiken freiwillig erfolgte.17 Drittens spreche das Leichtfertigkeitserfordernis in § 306c StGB eher gegen die regelmäßige Zurechnung von Retterunfällen zum Erstverursacher, hier dem Brandstifter. Viertens – dies wiederholt das Argument des „unwürdigen Kalküls“ – sprächen kriminalpolitische Gründe gegen eine Zurechnung von Retterunfällen: Müsse ein fahrlässiger Brandstifter damit rechnen, auch noch wegen Tötung von Feuerwehrleuten zu haften, könne ihn dies von der Verständigung der Feuerwehr abhalten, ebenso den in Not geratenen Bergwanderer vom Herbeirufen der Bergwacht.18

12

BGHSt 17, 359 f m. Anm. Rutkowsky NJW 1963, 166; dazu auch Rudolphi JuS 1969, 556 f; Schünemann JA 1975, 721. 13 Roxin FS Honig, 1970, 133, 143 Fn. 26; ders. FS Gallas, 1973, 241, 248 Fn. 23; ders. Höchstrichterliche Rechtsprechung S. 173 f; Roxin/Schünemann/Haffke Klausurenlehre2 S. 141 f. 14 Roxin AT I § 11 Rn. 138. 15 Roxin AT I § 11 Rn. 138 a. E. 16 Roxin AT I § 11 Rn. 115, 139. 17 Roxin AT I § 11 Rn. 139. 18 Roxin AT I § 11 Rn. 139; a. A. ders. FS Puppe, 2011, 914.

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III. 1. Dieser Ansicht Roxins sind nur wenige beigetreten,19 viele20 haben sie kritisiert (dazu unten 2.). Die heute überwiegende Meinung rechnet Retterunfälle bekanntlich zu. Nach der jüngeren21 Rechtsprechung genügt zur Einschränkung des Grundsatzes der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung des Opfers, dass der Erstverursacher die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung durch ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen seitens des Opfers schafft und es sich nicht um einen vorneherein sinnlosen oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbundenen Rettungsversuch handelt.22 Teils wird zur Grenzziehung eine Abwägung der gefährdeten und zu rettenden Rechtsgüter vor-

19

Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 113 ff; Kretschmer SpuRt 2002, 7; Lewisch ZVR 1995, 100 f; Otto BT § 9 Rn. 11; ders. NJW 1980, 422; ders. JK 94 StGB Vor § 13/3; ders. FS E. A. Wolff, 1998, 399, 411; Schünemann JA 1975, 721 f; ders. GA 1999, 223; teilweise auch Diel Das Regreßverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1996, S. 242 ff, 279 ff, insb. S. 243 f, 245 f; im Ergebnis auch NK-Neumann § 222 Rn. 10. 20 Insbesondere Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 475 ff; Jakobs ZStW 89 (1977) 15 ff (m. Fn. 56), 31; LK11-Schroeder § 16 Rn. 182; LKWalter Vor § 13 Rn. 116 ff; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 186 f, 253 f; Puppe AT I § 13 Rn. 24 ff; dies. Jura 1998, 30; Radtke/Hoffmann GA 2007, 205 ff, 209 f, 211 f; Schönke/SchröderCramer/Sternberg-Lieben § 15 Rn. 168; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 80 f; Strasser Zurechnung von Retter-, Flucht- und Verfolgerverhalten, 2008, S. 189 ff; auch Degener „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 365 f; Sowada JZ 1994, 665. 21 Zuvor wurden die Folgen ohne Problematisierung der Zurechnungsfrage zugerechnet, BGHSt 17, 359 f; auch öOGH JBl. 1959, 164; 1962, 337, dazu Burgstaller (Fn. 19) S. 112 ff. 22 BGHSt 39, 322 (325 f) m. Anm. Alwart NStZ 1994, 84; Amelung NStZ 1994, 338; Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 775; Derksen NJW 1995, 240; Günther StV 1995, 78; Radtke/Hoffmann NStZ-RR 2009, 52; Sowada JZ 1994, 663; OLG Stuttgart NJW 2008, 1781 m. Anm. Puppe NStZ 2009, 333; zum Ganzen auch Radtke/Hoffmann GA 2007, 201 ff; Furukawa GA 2010, 169 ff; zustimmend Wessels/Beulke AT Rn. 188, 192a; Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben § 15 Rn. 168; MüKo-Duttge § 15 Rn. 153 ff; Fiedler Zur Strafbarkeit der einverständlichen Selbstgefährdung, 1990, S. 187 f; Fischer § 222 Rn. 21; MüKo-Freund Vor § 13 Rn. 386 ff; Frisch (Fn. 20) S. 473 ff; ders. NStZ 1992, 65; ders. FS Nishihara, 1998, 66, 80 ff; Frister AT § 10 Rn. 18 f, 28; MüKo-Hardtung § 222 Rn. 23; Jescheck/Weigend AT § 28 IV 4; LPK-Kindhäuser Vor § 13 Rn. 152 ff, 156; Kindhäuser AT § 11 Rn. 58 f; Köhler AT 2.6.3.2, S. 196 f; Kühl AT § 4 Rn. 96; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 186 f, 253 f; dies. AT I § 6 Rn. 34 ff, § 13 Rn. 24 ff; dies. Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 171 ff; dies. ZIS 2007, 251, 253; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 80 f; LK11-Schroeder § 16 Rn. 182; Sutschet Die Erfolgszurechnung im Falle mittelbarer Rechtsgutsverletzung, 2010, S. 290 ff, 299; LK-Walter Vor § 13 Rn. 116 ff; Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 344 ff; Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 57; diff. Furukawa GA 2010, 177 ff.

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genommen,23 teils wird die Grenze bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung,24 teils erst bei mutwilligem Verhalten des Opfers gezogen. 25 Die Nichtanwendung des weithin akzeptierten Grundsatzes der Zurechnungsunterbrechung wegen bewusster Selbstgefährdung wird teils damit begründet, dass der Retter nicht freiwillig bzw. freiverantwortlich handele, weil er durch die Notsituation genötigt werde,26 teils ergänzt durch den Hinweis, dass die Rettung auch da sozial erwünscht sei, wo eine Rettungspflicht fehle, so dass der Retter schutzbedürftig und schutzwürdig sei, 27 teils wird darauf abgestellt, dass der Retter eine eigentlich dem Täter obliegende Pflicht erfülle28. Andere sehen eine Ausnahme vom Grundsatz der bewussten Selbstgefährdung nur dann begründet, wenn den Retter nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Rettungspflicht als Garant, Berufsträger oder nach § 323c StGB treffe,29 weil er dann von Rechts wegen nicht mehr in seiner Entscheidung frei sei, wobei zum Teil verlangt wird, dass diese Pflicht sich auch in der Tatsituation zu einer Selbstgefährdungspflicht konkretisiert haben müsse30. Dagegen wird eingewandt, dass eine Rechtspflicht als solche nicht genüge, wenn man die Retterfälle als Erscheinungsformen fahrlässiger mittelbarer Täterschaft ansieht, vielmehr sei ein innerer Handlungszwang nötig, der sich zwar oft, aber nicht notwendigerweise aus der Rechtspflicht oder Güterabwägung allein ergebe.31 Daher wird auch der Gedanke notstandsähnlichen Motivationsdrucks im Sinne des § 35 StGB herangezogen.32 Puppe bringt schließlich ein argumentum a maiore ad minus vor: Die Rechtsordnung würde sich zu sich selbst in Widerspruch setzen, wenn sie demjenigen, der unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden oder ent23 Rudolphi JuS 1969, 557; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 81; auch LK11-Schroeder § 16 Rn. 182; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 186 f; Puppe AT I § 13 Rn. 32; Sowada JZ 1994, 665 f. 24 Sowada JZ 1994, 666. 25 Jakobs ZStW 89 (1977) 1, 16, 32 ff; ähnl. Puppe AT I § 13 Rn. 33, 35. 26 Amelung NStZ 1994, 338; ders. GA 1999, 182, 197; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 186; Puppe AT I § 6 Rn. 36; auch Sutschet (Fn. 22) S. 292 ff. 27 SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 81; Puppe AT I § 6 Rn. 36, § 13 Rn. 28; dies. ZIS 2007, 253; diff. Frisch (Fn. 20) S. 484, 487. 28 Kindhäuser AT § 11 Rn. 58. 29 Derksen Handeln auf eigene Gefahr, 1992, S. 223; ders. NJW 1995, 240, 241; Fiedler (Fn. 22) S. 187 f; Günther StV 1995, 78, 80 f.; Maurach/Gössel/Zipf AT 2 § 43 Rn. 73; mit anderer Begründung im Ergebnis auch Strasser (Fn. 20) S. 228 ff, 237 f; ähnl. Biewald Regelgemäßes Verhalten und Verantwortlichkeit, 2003, S. 210 f. 30 Radtke/Hoffmann GA 2007, 201, 209 ff; dies. NStZ-RR 2009, 52, 54 f; so jetzt auch Roxin FS Puppe, 2011, 914, 921 f. 31 Degener (Fn. 20) S. 362 ff; vgl. auch M. Otto Strafrechtliche Zurechnungsprobleme bei den sogenannten Verfolgerfällen, 2007, S. 139 ff, 168 f. 32 Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 775, 778 f; Radtke Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 297 ff; Radtke/Hoffmann NStZ-RR 2009, 53 f.

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schuldigenden Notstands fremde Rechte verletzt, nicht zur Verantwortung zöge, aber demjenigen, der unter gleichen Voraussetzungen seine eigenen Güter gefährdet, dafür die alleinige Verantwortung anlastete.33 2. Roxins früheres34 Argument, der nicht verpflichtete Retter handele freiverantwortlich, wird zumeist durch die verschiedenartig begründete Annahme von Unfreiheit oder Unfreiwilligkeit usw. für widerlegt gehalten.35 Wer rechtlich zur Rettung verpflichtet sei, sei erst recht unfrei. Dass der berufsmäßige Retter zumeist diesen Beruf einst freiwillig wählte, ändere daran nichts, denn daraus folge nur, dass er bestimmte Risiken zu tragen hätte, aber nicht, dass der Gefahrverursacher von Folgeschäden freizustellen sei.36 Das Berufsrisiko und die gesetzliche Verpflichtung bestünden zur Vermeidung größerer Nachteile, so dass durch diese Zurechnung nur so viel erledigt werde wie bei einer Verletzung durch rechtfertigenden Notstand, nämlich nur, bei wem sich das Dilemma letztlich auswirke; seine Entstehung bliebe aber ohne Zurechnung zum Erstverursacher unerledigt.37 Die Institutionen sozialer Krisenbewältigung seien für die Verwaltung von Schadensprozessen zuständig, der Täter hingegen für deren Gründe.38 Weiterhin wird den Thesen Roxins kritisch entgegengehalten, dass die Statuierung einer Rettungspflicht durch den Staat gerechtfertigt sei, 39 so dass dessen „Beteiligung“ kein Problem darstelle. Zudem seien die Rettungspflichten ex ante statuiert, so dass der Erstverursacher erkennen könne, welche Folgen er auslöst.40 Dass der Erstverursacher die Rettungshandlungen jedenfalls von Berufsrettern nicht hindern dürfe, stelle keine Besonderheit dar, denn oftmals habe der Täter keinen faktischen Einfluss mehr auf den Ablauf des von ihm angestoßenen Geschehens – dem stehe es gleich, wenn er von Rechts wegen keinen Einfluss mehr ausüben dürfe, zumal er das selbst zu verantworten habe.41 Rudolphi hat zudem darauf hingewiesen, dass auch der mittelbare

33

Puppe AT I § 13 Rn. 31. Zum Meinungswandel siehe unten Fn. 63. 35 Exemplarisch Puppe AT I § 13 Rn. 28. 36 Frisch (Fn. 20) S. 475 f; ders. FS Nishihara, 1998, 66, 81; Murmann Jura 2001, 260; Strasser (Fn. 20) S. 191. 37 Jakobs ZStW 89 (1977), 17. 38 Derksen (Fn. 29) S. 208 f. 39 Jakobs ZStW 89 (1977), 15 Fn. 56; siehe auch Radtke/Hoffmann GA 2007, 211; Wehrle Fahrlässige Beteiligung am Vorsatzdelikt – Regressverbot?, 1986, S. 92 Fn. 28. 40 LK11-Schroeder § 16 Rn. 182. 41 SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 80; Puppe AT I § 13 Rn. 26; Radtke/Hoffmann GA 2007, 212; Strasser (Fn. 20) S. 190. 34

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Täter die Notwehrhandlung des gerechtfertigten Werkzeugs nicht hindern dürfe und ihm natürlich deren Folgen dennoch zugerechnet würden.42 Das befürchtete „unwürdige Kalkül“ des Erstverursachers wird von manchen für ein „lebensfernes Gedankenspiel“ gehalten, allenfalls hielte noch die mögliche Kostenpflicht vom Notruf ab.43 Puppe meint, es treffe nur selten zu, sei aber selbst dann nicht geeignet, Ausnahmen von der Zurechnung zu begründen, weil es eine kurzschlüssige Nützlichkeitsüberlegung sei, auf die sich das Recht generell nicht einlassen dürfe; umgekehrt ließe sich ja auch denken, dass der Täter weniger Skrupel haben könnte, eine Gemeingefahr auszulösen, wenn er darauf vertrauen dürfte, für Retterschäden nicht verantwortlich gemacht zu werden. 44 Freilich lässt sich in der Straffreiheit des Rücktritts vom Versuch durchaus eine gesetzliche Ausprägung eines solches Kalküls erblicken45 (siehe unten IV.3.). Dem von Roxin prognostizierten Konflikt des Retters wird ebenfalls entgegnet, dass dieser psychologisch unwahrscheinlich sei, weil ex ante die Reduzierung des Gesamtschadens immer wahrscheinlicher scheine als seine Vergrößerung.46 Manche halten Roxins Annahme für unrichtig, weil Retter gegen den Gefahrverursacher keine freundlichen Gefühle zu hegen pflegten,47 oder gar für „lebensfremd“48. Puppe erwägt, das Argument nicht als psychologisches, sondern als normatives zu verstehen, hält aber eine solche Norm dann nur „für einen Heiligen, nicht für einen Brandmeister“ für angemessen.49 Jakobs weist darauf hin, dass der Konflikt entschärft werden könne durch eine Strafzumessung, die denjenigen, der keine Hilfe holt, jedenfalls nicht milder bestraft als den, der Hilfe besorgt und dadurch weiteren Schaden auslöst.50 Was Erstverursacher oder Retter für gewöhnlich wirklich denken, darüber können Strafrechtswissenschaftler nur spekulieren; empirische Erkenntnisse deuten darauf hin, dass dem Strafrecht in Rettungssituationen kein nennenswerter Steuerungseffekt zukommt.51 Fruchtbarer erscheint daher in der Tat das von Puppe vorgeschlagene normative Verständnis der Roxinschen Erwägungen mit Blick auf eine mögliche axiologische Ungereimtheit, die

42

SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 80. LK-Walter Vor § 13 Rn. 118. 44 Puppe AT I § 13 Rn. 25; zust. Strasser (Fn. 20) S. 190 f. 45 Puppe AT I § 13 Rn. 25. 46 Jakobs ZStW 89 (1977), 15 Fn. 56 (auf S. 16). 47 Puppe AT I § 13 Rn. 24. 48 LK-Walter Vor § 13 Rn. 117. 49 Puppe AT I § 13 Rn. 24. 50 Jakobs ZStW 89 (1977), 15 Fn. 56 (auf S. 16). 51 Dazu Strasser (Fn. 20) S. 213 ff m. w. N. 43

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darin läge, dass Hilfe zu holen und Hilfe zu leisten das Haftungsrisiko vergrößerte (dazu unten IV.3.).

IV. 1. Trotz des inzwischen erreichten Umfangs der Diskussion über die „Retterfälle“ erscheinen die herkömmlich vorgebrachten Kriterien und Annahmen noch zu undifferenziert und nicht konsequent durchgeführt. Offenkundig unzureichend ist die Begründung der Zurechnung von Retterschäden mit dem Argument, das riskante Rettungsverhalten sei „sozial erwünscht“, denn daraus folgt auch sonst nicht, dass ein anderer für die dabei erlittenen Schäden strafrechtlich einzustehen hat.52 Gleiches gilt für die Umstände, dass die Motivation eines Retters nachvollziehbar oder seine Rettungshandlung vernünftig bzw. nicht mutwillig war. Unzureichend ist ferner das beliebte Argument, die Retter, gleichgültig ob pflichtig oder freiwillig, verdienten den Schutz der Rechtsordnung. Zweifellos verdienen sie ihn, jedenfalls in versicherungsrechtlicher und womöglich auch in deliktsrechtlicher Hinsicht, wie Roxin stets bekräftigt hat53. Mit dem Aspekt des Güterschutzes ist aber das spezifisch Strafrechtliche der Zurechnung noch nicht begründet.54 Zudem sind die Erfordernisse des Güterschutzes prinzipiell grenzenlos, was konsequenterweise eine Zurechnungshypertrophie zur Folge haben müsste, die alle vermeidbaren Unrechtsfolgen ergriffe.55 Doch selbst wenn man den Ansatz akzeptierte, fragt sich, welcher strafrechtliche Schutz den Rettungskräften eigentlich versagt würde, wenn man ihre Schäden dem Erstverursacher nicht zurechnete, da die Gefahrschaffung selbst in aller Regel, etwa nach §§ 306 ff StGB, ohnehin schon bei Strafe verboten ist.56 Roxin hält es jüngst für generalpräventiv sinnvoll, die Fahrlässigkeitshaftung von Brandstiftern auf hilfspflichtige Retter zu erstrecken.57 Die Strafdrohung der §§ 222, 229 StGB, die beide nicht für massive Gefahren, sondern nur für culpa levis ohne animus laedendi ge-

52

Derksen (Fn. 29) S. 210; Radtke/Hoffmann GA 2007, 216; Roxin FS Puppe, 2011, 918. Oben bei Fn. 9 und ders. FS Puppe, 2011, 921. 54 Jakobs ZStW 89 (1977), 2; nicht überzeugend daher Roxin FS Puppe, 2011, 914. 55 Vgl. Jakobs ZStW 89 (1977), 2. Abl. auch Frisch (Fn. 20) S. 488 ff; LK11-Schroeder § 16 Rn. 182; ähnl. Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 777 Fn. 19; Jung Zurechnungsbegründung bei Zusammenwirken mehrerer, in: Eser/Huber/Cornils (Hrsg.): Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 1998, S. 175, 191. 56 Zutr. Schünemann GA 1999, 223; anders jetzt Roxin FS Puppe, 2011, 914. 57 Roxin FS Puppe, 2011, 914. 53

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dacht waren,58 fällt indes gegenüber §§ 306 ff. StGB kaum ins Gewicht, so dass auch in der Theorie ein generalpräventiver Effekt zweifelhaft scheint. In mehrfacher Hinsicht bedenklich sind Argumente, die sich auf die Annahme fehlender Freiheit oder Freiwilligkeit des Retters stützen. Inhalt und rechtliche Relevanz des jeweils verwendeten Freiheitsbegriffs sind hierbei fast immer in fataler Weise unterbestimmt,59 zumal mit der Verneinung einer freiwilligen Selbstgefährdung des Retters die Strafbarkeit des Erstverursachers allein noch nicht begründet ist.60 Sofern nicht nach mittelbarer Täterschaft gefragt wird,61 lässt sich in der Tat nur konstatieren, dass lediglich „verschiedenste Parallelen zu anderen Rechtsinstituten, bei denen es auch im gewissen Sinne um Freiwilligkeit geht“,62 bemüht werden mit der Folge der Begriffsverwirrung. „Freiheit“ ist sowohl rechtlich als auch philosophisch ein so vieldeutiger und mit oft komplizierten Inhalten und Dogmentraditionen verknüpfter Begriff, dass sein unbefangener Gebrauch stets riskant, wenn nicht leichtsinnig ist. Geradezu widersinnig ist die verbreitete Annahme, pflichtgemäßes Handeln sei unfreiwillig oder gar unfrei, zumal pflichtwidriges Handeln bis auf Ausnahmen (§§ 20, 35 StGB usw.) für gewöhnlich als frei angesehen wird.63 Frei wäre dann nur, wer keine Pflichten hat oder diese verletzt, während der pflichtgemäß Handelnde von der Pflicht genötigt und darum unfrei wäre, mithin nicht einmal gelobt werden dürfte. Dies führt zu fundamentalen Widersprüchen, erst recht, wenn man Rechtpflichten mit Kant als juridische „Gesetze der Freiheit“64 versteht. Angesichts dieser Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass der Freiheitsbegriff mitunter gänzlich entleert und als bloßes Gefäß einer anderweitig begründeten Wertentscheidung verwendet wird, so zum Beispiel, wenn Puppe ausführt, es gehe nicht um psychologische oder moralische Freiwil58

Vgl. Stuckenberg FS Jakobs, 2007, 699 Fn. 28 m.w.Nachw. Eingehend zum Freiheitsbegriff Biewald (Fn. 29) S. 174 ff; Strasser (Fn. 20) S. 208 ff. 60 Frisch FS Nishihara, 1998, 66, 72, 78. 61 So Degener (Fn. 20) S. 362 ff; dagegen Strasser (Fn. 20) S. 206 ff. 62 Puppe AT I § 13 Rn. 29 f. 63 Lesenswerte Analyse bei Biewald (Fn. 29) S. 174 ff, 181 ff; vgl. auch Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 779; Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 440 Fn. 487; Strasser (Fn. 20) S. 213, 226. Problematisch ist allerdings Biewalds Annahme (S. 189 ff, 194), das pflichtgemäße Verhalten des Retters stehe einem durch Naturgesetze determinierten Vorgang gleich, so dass der Erstverursacher für die Retterschäden unmittelbar verantwortlich sei. Ebenso wenig überzeugt Roxins neue Auffassung (FS Puppe, 2011, 913), der pflichtige Retter handele zwar frei, aber nicht eigenverantwortlich, weil damit der Begriff der Eigenverantwortlichkeit prekär wird, indem nur noch nicht normkonformes, also rechtlich freigestelltes oder verbotenes Verhalten „eigenverantwortlich“ genannt werden dürfte. Überdies ist damit die Frage nicht beantwortet, wer anstelle des Retters selbst für den Retterschaden Zurechnungsendpunkt sein soll: der Erstschädiger oder die Rechtsordnung (die Allgemeinheit). 64 Kant Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Band VI, S. 214. 59

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ligkeit, sondern darum, ob der Retter den Schutz der Rechtsordnung vor der Möglichkeit verdiene, durch Verursachung einer unerlaubten Gefahr in einen Konflikt gebracht zu werden, in dem er sich für die Gefährdung eigener Rechtsgüter entscheide. Diesen Schutz verdiene er, sofern sein Verhalten im moralischen Sinne freiwillig [sic!], verdienstvoll und vernünftig sei,65 mit anderen Worten, „[die Retter] handeln aber nicht in dem Sinne frei, dass sie die Verantwortung für die Verwirklichung der Gefahr treffen sollte, in die sie sich begeben.“66 Anzumerken ist weiterhin, dass die vermeintliche Unfreiwilligkeit der Berufsretter oft viel zu pauschal aus einer statusbedingten beruflichen Rettungspflicht hergeleitet wird, denn auch Berufspflichten zwingen regelmäßig nicht zur Aufopferung eigener Rechtsgüter wie Gesundheit oder gar Leben, sondern meist nur zu einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung, ob und wie Rettungsmaßnahmen durchzuführen sind, 67 bei denen bekanntlich der Eigenschutz der Rettungskräfte an erster Stelle steht. Auch bei § 323c StGB wird eine akute Gefährdung regelmäßig nicht zumutbar sein.68 Mit den in anderen Situationen geläufigen Instrumentarien der objektiven Zurechnung ist in den Retterfällen eine fundierte Lösung nicht zu erreichen, vielmehr geht es um eine spezifische normative Entscheidung über die Distribution von Haftungsrisiken für riskante Rettungsmaßnahmen.69 2. Einigkeit besteht, soweit ersichtlich, heute darin, dass nicht alles, was als kausale Folge des eigenen Handelns vorhersehbar ist, auch vermieden werden muss,70 zumal, je nach den angelegten Maßstäben, „alles oder nichts“71 vorhersehbar ist. Bloße Gefahrschaffung allein kann ebenso wenig genügen,72 es muss schon eine verbotene Gefahr sein, für deren Folgen Verantwortung zugewiesen wird.

65

Puppe AT I § 13 Rn. 33. Puppe AT I § 6 Rn. 36. 67 Eingehend Strasser (Fn. 20) S. 216 ff m. w. N.; auch Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 779; Radtke/Hoffmann GA 2007, 213 ff; dies. NStZ-RR 2009, 54 f.; Roxin FS Puppe 2011, 921 f. 68 Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 779; Strasser (Fn. 20) S. 220; etwas weiter Roxin FS Puppe 2011, 922. 69 Insoweit zutr. Günther StV 1995, 81. 70 Statt aller Frisch FS Nishihara, 1998, 66, 71. 71 Puppe AT I § 4 Rn. 9; auf die subjektive Vorhersehbarkeit in den Retterfällen hebt jetzt Furukawa GA 2010, 177 ff ab. 72 So aber NK-Puppe Vor § 13 Rn. 186; dies. ZIS 2007, 251, 253; dagegen Strasser (Fn. 20) S. 222 f m. w. N. 66

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Es geht in den „Retterfällen“ sodann, wie Roxin früher annahm, um ein Problem der Begrenzung der Erfolgszurechnung,73 das nicht schon durch eine präzisere Bestimmung des Umfangs der Sorgfaltspflichten, die bei der verbotenen Schaffung der Primärgefahr verletzt werden, oder, soweit synonym gebraucht, des Schutzzwecks der Norm gelöst werden kann. Wenn man unter „Schutzzweck der Norm“ die generelle Eignung einer Norm versteht, Schadensabläufe einer bestimmten Art zu verhindern, also deren Inzidenz signifikant zu verringern,74 so ist ein Verbot der Verursachung des Primärerfolgs auch immer generell geeignet, Schäden derjenigen, die typischerweise die Schadensbehebung übernehmen und dabei typischerweise Risiken ausgesetzt sind, zu verhindern, vor allem bei Gemeingefahren, wie etwa das Verbot der Brandstiftung generell geeignet ist, Verletzungen der Feuerwehrleute bei Löscharbeiten zu verhindern. Ob diese Folgeschäden auch zugerechnet werden sollen, ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Denn ersichtlich findet sowohl in der rechtlichen als auch sonstigen sozialen Praxis keine unbegrenzte Zurechnung von Folgeschäden aller Art, kein infinites versari in re illicita statt. Kausalketten sind endlos, Zurechnung kann es aber nicht sein: Wenn eine Gesellschaft in Frieden leben will, müssen Konflikte in geordneter Weise erledigt werden. Dies erfordert insbesondere, Konflikte nicht unkontrolliert anwachsen und auf Dauer schwären zu lassen, sondern sie einzuhegen, wozu gehört, entferntere Unrechtsfolgen zu neutralisieren, also dem allgemeinen Unglück soweit zuzuweisen, dass ein Bedürfnis für zurechnende Erledigung entfällt. Je länger eine Kausalkette ist, desto deutlicher tritt im Übrigen auch im sozialen Bewusstsein die Zufallskomponente der Erfolgshaftung75 hervor, so dass die Erklärung der Folge als Unglück ihre Deutung als Unrecht ablösen kann. Folglich gibt es Abbruchkriterien für die Zurechnung, die freilich zumeist stillschweigend und selten76 reflektiert angewendet werden. Jede tatbestandliche Schadensfolge zieht einen Prozess der Schadensverarbeitung (Schadensbehebung, Heilung usw.) nach sich; manche dieser Prozesse führen vorhersehbar oder gar typischerweise zu weiteren Schäden Dritter. Wenn es aber kein Grundsatz unserer Sozialordnung ist, den Erstverursacher grenzenlos für alles Unheil, das aus seiner Tat folgt, verantwortlich zu machen, dann muss gefragt werden, warum an welcher Stelle die Verantwortungszuschreibung an ihn endet. 73 Wobei entgegen Frisch FS Nishihara, 1998, 66 ff kein sachlicher Unterschied zwischen der Zurechnung einer verursachten Folge und der Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens erblickt wird, vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 51; Jakobs AT 7/4 Fn. 2a. 74 So etwa Puppe AT I § 4 Rn. 33 ff. 75 Vgl. Frisch (Fn. 20) S. 489 Fn. 469. 76 Siehe aber Frisch (Fn. 20) S. 487 ff; auch ders. FS Nishihara, 1998, 66, 86 f; Puppe AT I § 13 Rn. 49; Strasser (Fn. 20) S. 224 ff.

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Wird etwa das bettlägerige Opfer einer Körperverletzung von Familienangehörigen aufopfernd gepflegt, die infolge der aufreibenden Fürsorge selbst ihre Gesundheit einbüßen oder aus Übermüdung stürzen und sich verletzen, so dürften solche Gesundheitsschäden dem Erstverursacher heute kaum zugerechnet werden, obschon sie vorhersehbare Folgen sozial erwünschten Verhaltens Dritter sind, die dazu auch vernünftigerweise motiviert werden, sich vielleicht sogar verpflichtet und „unfrei“ fühlen. Gleiches kann für das ärztliche und pflegerische Krankenhauspersonal gelten. Bei näherer Betrachtung sind eine ganze Reihe von Berufen Sekundärgefährdungen durch Straftaten ausgesetzt, wobei die Gefahrfolgen überhaupt erst durch die Existenz dieser Berufe entstehen. Ein Polizist mag zwecks eiliger Strafverfolgung zum Dienstwagen rennen und dabei stürzen, einem Staatsanwalt mag eine umfangreiche Akte auf den Fuß fallen, ein Jugendrichter mag ebenso wie ein engagierter Jugendamtsmitarbeiter angesichts der neuerlichen Straffälligkeit eines Intensivtäters einen Nervenzusammenbruch erleiden, ein Strafvollzugsbeamter nach Auslösen des Entweichungsalarms auf seinen Posten eilen und ausgleiten usw. – all dies sind vorhersehbare und vermeidbare Folgen einer Straftat. Solche Risiken dem Erstverursacher zuzurechnen dürfte unmäßig erscheinen. Vermutlich würde hier der Topos des allgemeinen Lebensrisikos als Abbruchkriterium herangezogen, sofern es sich um ubiquitäre Risiken (Krankenfürsorge, Eile) handelt, die im Alltag aus nichtdeliktischen Kontexten vertraut sind und diesen, auch wenn sie im Einzelfall deliktischer Herkunft sind, assimiliert werden können. Gleiches mag bei berufstypischen Risiken praktiziert und das Berufsrisiko als Unterfall des allgemeinen Lebensrisikos oder weiterer Fall des Alltagsrisikos angesehen werden.77 Eine Begründung ist damit aber noch nicht gegeben. Auch die Nichtzurechnung berufstypischer Risiken rein deliktischer Herkunft wie im Berufsumfeld der Strafjustiz bedarf gesonderter Erklärung. Bei handlungsnäheren Folgen herrscht überdies schon in simplen Fallgestaltungen Uneinigkeit über die Risikozuweisung. Ob der Unfall mit Eigenund vielleicht sogar Fremdschäden, den ein Notarzt- oder Feuerwehreinsatzfahrzeug bei einer Blaulichtfahrt auf dem Weg zum Unglücksort wegen der erhöhten Risiken bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten im Verkehr verursacht, dem Erstverursacher zuzurechnen ist, wird unterschiedlich beurteilt: Teils wird darin eine zurechenbare Folge der unerlaubten Primärgefahr gesehen,78 teils hingegen die Verwirklichung eines strafrechtlich

77 So die zivilgerichtliche Judikatur, vgl. BGHZ 63, 189 (194 f) mit dem Beispiel von Deutsch JZ 1967, 642; dazu Stuckenberg FS Puppe, 2011, 1040 ff. 78 Puppe AT I § 13 Rn. 49; Frister AT § 10 Rn. 23.

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nicht missbilligten allgemeinen Lebensrisikos,79 teils ein Berufsrisiko, das räumlich-zeitlich außerhalb des vom Erstverursacher geschaffenen Gefahrenfeldes liege80. Solche sich in diffusen Näheüberlegungen oder pauschalen Risikozuordnungen erschöpfenden Grenzziehungen können sich auf kaum mehr als individuelle Intuition und erhoffte Evidenz stützen. 3. Nach allem erscheint mir der Roxinsche Gedanke der Trennung von Verantwortungsbereichen, hier in Form einer „Risikoabnahme“, die treffendste Begründung für die nötige Begrenzung der grundsätzlich endlosen Zurechnungskette zu liefern. Jedenfalls bei staatlich organisierten Rettungskräften ist im Grundsatz eine Neutralisierung des ursprünglich deliktisch geschaffenen Risikos anzunehmen, sobald diese Rettungskräfte die – regelmäßig ausschließliche – Verwaltung des Risikos übernehmen. Durch sie verwaltet die Gesellschaft dieses Risiko dann wie und als ein ubiquitäres – Brände werden stets gelöscht, gleichgültig, ob sie durch Blitzschlag oder Brandstiftung entfacht wurden.81 Der Grund für die mit der Sozialisation des Risikos gleichzeitig anzunehmende Zurechnungsunterbrechung für Retterschäden liegt aber weder in der Eigenverantwortlichkeit der Retter82 noch darin, dass nun auch der reumütige und löschwillige Brandstifter sich den Anweisungen der Feuerwehr zu fügen hätte, sondern darin, dass die Rettungsaktivität völlig ohne Rücksicht auf etwa vorher begründete strafrechtliche Verantwortlichkeiten entfaltet wird und werden muss. Die strafrechtliche Zurechnung von Retterschäden unterbleibt auch, weil sie die Rettungsaktivität stören könnte, wie Roxin bereits ausgeführt hatte. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich wirklich ein Erstverursacher oder Retter Gedanken darüber macht, wer für etwaige Schäden strafrechtlich haftet, sondern maßgebend ist, dass sich niemand solche Gedanken machen soll. Denn es ist ja nicht nur die riskante Rettungsaktivität selbst erwünscht, wie die herrschende Meinung zu Recht annimmt, sondern ebenso, dass institutionelle Rettungskräfte in Anspruch genommen werden, auch durch die Gefahrverursacher selbst, wie die Privilegierung des Rücktritts nach § 24 StGB bei Tötungs- oder Körverletzungsversuchen bzw. der tätigen Reue bei Brandstiftung nach § 306e StGB zeigt. Wenn die Rechtsordnung aber den Brandstifter prämiert, der die Feuerwehr ruft, dann wäre es widersprüchlich, wenn sie ihn zugleich für die Retterschäden bestraft.

79

Frisch (Fn. 20) S. 488. Strasser (Fn. 20) S. 225; so schon öOGH JBl. 1959, 1654, dazu Burgstaller (Fn. 19) S. 113; zustimmend jetzt Roxin FS Puppe, 2011, 922. 81 So zutr. Derksen (Fn. 29) S. 205 anlässlich des Pockenarztfalles zum Ansteckungsrisiko bei infektiösen Krankheiten, anders aber zu den sonstigen Retterfällen, S. 207 ff. 82 Worauf Roxin FS Puppe, 2011, 913 f, jetzt abstellt, vgl. oben Fn. 63. 80

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Differenziert eine Gesellschaft Subsysteme zur Behebung bestimmter Störungen aus wie ein Rettungswesen zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgungsorgane nebst Strafjustiz, so ist mit der Existenz dieser Einrichtungen zugleich der Grund für die im Rahmen eigener Zuständigkeit typischerweise auftretenden Schäden („Berufsrisiko“) geliefert. Eine normative Garantie vor vermeidbaren Gefahren besteht in den strafbewehrten Verboten eben dieser Gefahren wie §§ 306 ff StGB usw. Einer zusätzlichen Garantie nach §§ 222, 229 StGB bedarf es regelmäßig nicht, zumal sie wie gezeigt zu Widersprüchen führte. Das Abbruchkriterium der „Risikoabnahme“ qua Sozialisation des Risikos durch institutionelle Rettungskräfte ist freilich wie alle Zurechnungsregeln eine Regel des sozialen Lebens83 und folglich wie dieses veränderlich. Dem Gesetzgeber steht es mithin frei, eine generelle Zurechnung der Retterschäden zum Gefahrenverursacher anzuordnen, was er etwa in § 306c StGB bisher nicht getan hat.84 Plausibel wäre dies nach hiesiger Auffassung aber allenfalls bei besonders die Rettungskräfte betreffenden massiven Gefahren, welche über das Maß der ubiquitären Schadensfälle hinausragen und in die Nähe gezielter Schädigung der Retter kommen, was sich mit dem vorsatznahen Leichtfertigkeitskriterium des § 306c StGB verträgt.85

83

Ähnl. Jung (Fn. 55) S. 175, 191. Roxin AT I § 11 Rn. 139; ders. FS Puppe, 2011, 924 f; a. A. wohl Sutschet (Fn. 22) S. 292, jedoch ohne Stütze in der Gesetzesgenese, vgl. BT-Drucks. 13/8587, S. 49. 85 Vgl. Frisch FS Nishihara, 1998, 66, 86 f, der eine generelle Begrenzung der Zurechnung von Retterschäden auf Fälle vorsätzlicher Gefahrschaffung erwägt; dagegen Sutschet (Fn. 22) S. 298. Maßgebend kann hingegen nur die objektive Qualität der Gefahr für die Rettungskräfte sein, nicht deren subjektive Vermeidbarkeit. 84

Pflichtdelikte und objektive Zurechnung Zum Verhältnis der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen zu den Merkmalen des § 25 StGB HOLM PUTZKE

I. Einleitung Heute dominiert die Tatherrschaft, der Pflichtgedanke wird wenig beachtet und in seiner Besonderheit selten richtig erfaßt. Eines ist aber jetzt so wenig wie damals endgültig geklärt: die Beziehung beider Kriterien zueinander. – Allenfalls der Gebrauch der alten Rechtschreibung liefert ein Indiz, dass die beiden Einleitungssätze weder neu sind noch vom Verfasser dieses Beitrags stammen. Es handelt sich vielmehr um ein wörtliches Zitat von Claus Roxin, schon zu finden in der im Jahr 1963 erschienenen ersten Auflage seines Werks „Täterschaft und Tatherrschaft“1, das wie kein zweites die Tatherrschaftslehre geprägt hat. Darin entwickelt Roxin aus dem Pflichtgedanken eine besondere Deliktskategorie: die Pflichtdelikte. Entscheidendes Element sei „die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht“2. Dabei stehe „im Zentrum der Tatbestandsverwirklichung nur derjenige […], der eine besondere, nicht jedermann treffende Pflicht verletzt hat.“3 Herzberg hat den Pflichtdelikten einst attestiert, dass es sich „wohl [um] die bedeutendste Entdeckung neuerer Forschung auf dem Gebiet der Täterlehre“ handele.4 Hingegen klassifiziert Roxin Tatbestände ohne eine „besondere Pflichtenstellung“ (abgesehen von den eigenhändigen Delikten)5 als sog. Herrschaftsdelikte. Darunter fallen „Allgemeindelikte wie Tötungen, Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Diebstahl usw.“6

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Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963, S. 381. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 354. 3 Roxin AT II § 25 Rn. 14. 4 Herzberg JuS 1974, 377. 5 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 15. 6 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 13. 2

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Doch selbst bei Befürwortern einer faktizistisch verstandenen Tatherrschaftslehre ist die von Roxin begründete Kategorisierung nicht ohne Kritik geblieben. So sehen manche Vertreter in der Lehre die Besonderheit der Pflichtdelikte darin, dass zur Tatherrschaft die besondere Pflichtenstellung hinzutreten müsse.7 Andere stellen die Einteilung gänzlich infrage.8 Angesichts dieses Diskussionsstandes9 hat sich seit der ursprünglichen Formulierung der beiden hier zitierten und von Roxin formulierten Einleitungssätze seit dem Jahr 1963 nichts geändert – so alt sie sind, so gültig ist ihr Inhalt. Es gibt mithin gute Gründe, das Verhältnis von Pflichtdelikten und Täterschaft einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

II. Pflichtdelikte und Tatherrschaftsprinzip Die Differenzierung zwischen Pflicht- und Herrschaftsdelikten ist für Roxins Täterschaftslehre elementar und unverzichtbar. Denn ohne sie würde die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nicht funktionieren, soweit man – wie Roxin – das entscheidende Kriterium in der Beherrschung des Geschehens sieht, das zu einer Deliktsverwirklichung führt (Täter als „Schlüsselfigur“ oder „Zentralgestalt“10). Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen:11 P ist Prokurist in der Firma des E. Dessen Tochter T bittet P um die Zahlenkombination für den Firmentresor, den P, weil er eine Affäre mit T hat, ihr verrät. T entnimmt – was P weiß – 10.000 Euro. Unter Anwendung der gängigen Tatherrschaftskriterien ist bei T die Diebstahlstäterschaft zu bejahen, denn sie hat die Tat eigenverantwortlich ausgeführt. P hat T nach § 27 StGB zu ihrer vorsätzlichen und rechtswidrigen Tat lediglich Hilfe geleistet. Mit Blick auf § 266 StGB ist T indes ein qualifikationslos-doloses Werkzeug (ein sog. Extraneus) – sie trifft keine Vermögensbetreuungspflicht. Nach einer faktizistisch verstandenen Tatherrschaftslehre bleibt aber auch P (als sog. Intraneus) straflos.12 Denn als „Zentralgestalt“ würde P nicht gelten. Konsequent wäre es also, eine Untreuestrafbarkeit sowohl bei T als auch bei P zu verneinen. Denn dem 7 Siehe etwa SK-Hoyer § 25 Rn. 25; MüKo-Joecks § 25 Rn. 163; Krey AT II § 26 Rn. 93 m. w. N.; ähnlich LK-Schünemann § 14 Rn. 17. 8 Siehe etwa MüKo-Freund Vor §§ 13 ff, Rn. 437 und § 13 Rn. 76 ff; Maurach/Gössel/Zipf § 47 Rn. 91; Murmann Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993, S. 181 f. 9 Siehe dazu auch Lackner/Kühl Vor § 25 Rn. 4; zusammenfassend Roxin AT II § 25 Rn. 267 ff. 10 Roxin AT II § 25 Rn. 27. 11 Nach Herzberg NStZ 2004, 4. 12 So etwa Bottke Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 112, 117.

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Extraneus fehlt trotz vorhandener Tatherrschaft die Täterqualifikation und dem Intraneus trotz Täterqualifikation die Tatherrschaft. Gäbe es keine Diebstahlsstrafbarkeit, führte das Verhalten von T und P zu keinerlei Strafbarkeit. So läge es etwa in folgendem Fallbeispiel:13 A befindet sich im Urlaub, als er von einer ihm drohenden und unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung erfährt. Telefonisch bittet er den Nachbarn N, bei dem er seinen Wohnungsschlüssel hinterlegt hat und der über alles Bescheid weiß, die wertvolle Münzsammlung zu holen und bei sich zu verstecken. N entspricht der Bitte. Obwohl A und N ohne Zweifel eine Strafe verdienen, bleiben bei konsequenter Anwendung der Tatherrschaftslehre beide straflos: Eine Strafbarkeit des N nach § 288 Abs. 1 StGB ist nicht gegeben, weil nicht ihm die Zwangsvollstreckung droht, sondern dem A. Als Täter kommt allein der Vollstreckungsschuldner in Betracht.14 Mit Blick auf ihn, im Beispielsfall den A, lässt sich indes nicht sagen, dass er den N, der sich ja frei entschieden hat, als sein Werkzeug „beherrscht“ und so eine (mittelbare) „Tatherrschaft“ ausgeübt habe. Mangels einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat scheidet bei A auch eine Strafbarkeit nach §§ 288 Abs. 1, 26 StGB aus. Wie schon im zuerst genannten Beispiel wäre das Ergebnis auch im zweiten kriminalpolitisch allemal unakzeptabel. Warum sollte der das Rechtsgut Angreifende das Glück haben, auf eine Strafbarkeitslücke zu stoßen? Roxin erklärt dies richtigerweise für „untragbar“15. Freilich wäre diese Konsequenz hinzunehmen, wenn es jenseits einer strafbegründenden Analogie, d. h. der Verletzung des Nullum-crimen-Satzes (Art. 103 Abs. 2 GG) keine Möglichkeit gäbe, eine solche Strafbarkeitslücke zu schließen.16 Da die strikte Anwendung des Tatherrschaftskriteriums eine Strafbarkeit verhindert, ist es nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, auf dieses Kriterium einfach zu verzichten. Diesen Weg wählt Roxin, indem er auf die Kategorie der Pflichtdelikte ausweicht. Dort sei „der Tatherrschaftsgedanke […] völlig auszuschalten.“17 Seiner Meinung nach soll Täter einer Untreue selbst der „in Amerika weilende Vermögensverwalter“ sein, der „einen unbeteiligten Dritten“ bittet, „Geld ins Ausland zu schaffen, wo beide die Beute teilen wollen“. Der Mann in Amerika soll also Täter sein, obwohl er doch „sicher nicht die Tatherrschaft“18 hat! 13

Nach Herzberg JuS 1974, 376. Siehe Anwaltkommentar-StGB-Putzke § 288 Rn. 2 u. 6. 15 Roxin AT II § 25 Rn. 279. 16 In diesem Sinne Krey AT II § 26 Rn. 93. 17 Roxin (Fn. 2) S. 355. 18 Roxin (Fn. 2) S. 360. 14

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Aber ergibt sich damit für Konstellationen im Zusammenhang mit einem qualifikationslos-dolosen Werkzeug „ganz zwanglos eine glatte und befriedigende Lösung“19? Wenn ein und dieselbe Frage zu klären ist, nämlich die der Täterschaft, ist der Wechsel des Kriteriums eher ein Indiz für seine Schwäche als ein Zeichen für seine dogmatische Belastbarkeit. Roxin zahlt für das richtige Ergebnis einen hohen Preis: Die Außerkraftsetzung des Tatherrschaftskriteriums geht zulasten der Einheitlichkeit. Dieses Ergebnis ist alles andere als befriedigend. Zu suchen ist die Lösung in der Etablierung eines allgemeinen Kriteriums für die Täterschaft.

III. Allgemeines Täterschaftskriterium 1. Die Schwäche(n) der Tatherrschaftslehre Dass eine faktisch orientierte Tatherrschaft – auch jenseits der Pflichtdelikte – zweifelhaft ist, verdeutlicht folgender Fall:20 T bemüht sich seit langem, seinen friedliebenden Bernhardiner zu einem Kampfhund zu erziehen. Der Dressurerfolg ist mäßig: Kampfeslust und Gehorsam des Bernhardiners sind schwach und unberechenbar. Als T eines Tages mit seinem Hund im Vorgarten spielt, lärmen in einiger Entfernung auf der Straße zwei Kinder. T will, dass sein Hund ein Kind beißt. Deshalb öffnet T dem Hund das Gartentor und ruft: „Fass!“ Es geschieht, was ebenso gut hätte ausbleiben können: Lustlos, aber in Maßen gehorsam, trottet der Hund auf das Kind K zu und beißt es in den Arm. K schreit vor Schmerzen. T hat unbestritten eine einfache Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB begangen. Nähme man das naturalistische Kriterium der Tatherrschaftslehre allerdings ernst, müsste man die Täterschaft verneinen. Denn es kann keine Rede davon sein, dass T das Tatgeschehen „in den Händen hielt“ oder die Tat „nach seinem Willen hemmen oder ablaufen lassen“ konnte und damit als „Zentralgestalt“ gelten kann: Es war reiner Zufall, ob der Hund gehorchen und beißen würde. Der Fall zeigt, dass die faktische Tatherrschaft nicht das allgemeine Kriterium für alle Täterschaftsformen sein kann, denn es führt selbst in Fällen zur Verneinung von Täterschaft, in denen sich alle über deren Bejahung einig sind. Die traditionellen Täterlehren eignen sich nicht, eine konsistente Deutung der Täterschaftsvoraussetzungen zu liefern.21 Der Grund liegt schon darin, 19

Roxin (Fn. 2) S. 361. Nach Hardtung/Putzke Lehrskript Allgemeiner Teil, 7. Kap Rn. 58 (Fall 7). 21 Deutlich Schlehofer Täterschaftliches Begehen einer vorsätzlichen Straftat (§ 25 StGB), 1. Kapitel (Veröffentlichung geplant für 2011); in diesem Sinne nachdrücklich auch Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009; zustimmend Meyer ZIS 2010, 453. 20

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dass der Begriff der „Tatherrschaft“ gesetzesfremd ist. Zwar meint etwa Krey: „Begehung einer Tat bedeutet Erfüllung des Straftatbestandes in Tatherrschaft“22. Es ergibt sich aber schon aus dem Gesetz selber, dass eine solche Sicht nicht richtig ist.23 Dem Gesetz lässt sich weder das Kriterium der Tatherrschaft noch eine abgeschwächte Form entnehmen.24

2. Der Ansatz von Schlehofer Gleichwohl ist es nicht unmöglich, dem positiven Recht Anhaltspunkte für einen gesetzlichen Täterbegriff zu entnehmen. Wie ein Kriterium beschaffen sein muss, das den gesetzlichen Vorgaben der §§ 25, 26 und 27 StGB entspricht und zugleich allgemeingültig ist, hat Horst Schlehofer in seiner zwar immer noch unveröffentlichten, aber schon mehrfach berücksichtigten25 Monografie „Täterschaftliches Begehen einer vorsätzlichen Straftat (§ 25 StGB)“ dargelegt. Was er in monografischer Form vollzogen hat, kann hier nicht auf wenigen Seiten geleistet werden. Dafür ist der Gedankengang zu komplex. Schon jetzt ist sicher, dass seine Ausführungen – ihre Beachtung und wissenschaftliche Würdigung unterstellt – auch Anhänger der Tatherrschaftslehre davon überzeugen wird, diesen Ansatz aufzugeben. Verbunden wäre damit eine gänzliche Abkehr von einer faktischen Tatherrschaft und gewonnen ein einheitliches, d. h. allgemeines Kriterium für alle Täterschaftsformen. Wie aber muss ein solches allgemeingültiges Kriterium beschaffen sein? Nach Schlehofer ist jedenfalls Täter eines Vorsatzdelikts26, „wer strafrechtlich missbilligt die unmittelbare Gefahr schafft, dass die tatbestandlichen Folgen ohne Zwischenschaltung des vorsätzlichen rechtswidrigen und schuldhaften Begehens eines anderen verwirklicht werden“27. Wird ein Tatbestand also volldeliktisch durch einen anderen Menschen verwirklicht, kommt allenfalls eine Beteiligungsstrafbarkeit in Betracht. Bringt man dieses Kriterium zur Anwendung, kommt es auf das „arteigene Wesen der Pflichtdelikte in der Täterlehre“ mitnichten an, und es ist ungeachtet der von 22

Krey AT II § 26 Rn. 93. Ebenso Roxin AT II § 25 Rn. 279 (dort Fn. 368). 24 Vgl. Herzberg NStZ 2004, 4, Fn. 21. 25 Siehe etwa Herzberg NStZ 2004, 3 ff; Scheinfeld GA 2009, 706 ff; ders. Der KannibalenFall, 2009, Fn. 51; Urban Mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft, 2004, S. 68 f; auch Hardtung/Putzke Lehrskript Allgemeiner Teil, 7. Kap Rn. 65 (dort Fn. 11). 26 Zur täterschaftlichen Fahrlässigkeit ausführlich und instruktiv Schlehofer FS Herzberg, 2008, 355 ff; siehe auch Herzberg JuS 1975, 174 f. 27 Schlehofer (Fn. 22) 2. Kap. C.; ebenso Herzberg NStZ 2004, 4. f; siehe ferner Hardtung/ Putzke Lehrskript Allgemeiner Teil, 7. Kap Rn. 49 ff. 23

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Roxin vorgenommenen Deliktseinteilung sehr wohl möglich, „die mittelbare Täterschaft des außenstehenden Qualifizierten […] [zu] begründen“28. Erproben wir das Kriterium anhand der oben erwähnten Beispielsfälle: Mit Blick auf eine Strafbarkeit nach § 242 StGB bleibt es für den Prokuristen bei einer Strafbarkeit wegen Anstiftung zum Diebstahl. Denn T hat das Delikt vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht; sie blockiert damit mit Blick auf P die Täterschaft. Hingegen ist sie keine Täterin einer Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB, weil sie ein Tatbestandsmerkmal (die bestehende Sonderpflicht) nicht erfüllt. Damit ist der Weg offen für die Täterschaft des P. Nichts anderes gilt für den in Amerika weilenden Vermögensverwalter und den Vollstreckungsschuldner, der um seine Münzsammlung fürchtet: Sie verwirklichen § 266 Abs. 1 bzw. § 288 Abs. 1 StGB ohne Zwischenschaltung des vorsätzlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Begehens eines anderen.

IV. Täterschaft und Tatbestandserfüllung Das gefundene Kriterium hat aber – scheinbar – eine Schwäche, nämlich in den Fällen, in denen ein eigenverantwortlich vollzogener Suizid vorliegt. Folgender Beispielsfall soll dies verdeutlichen:29 Die lebensmüde L schluckt wissend und eigenverantwortlich tödliches Gift, das ihr zu diesem Zweck die Freundin F verschafft hat. Mangels Tatbestandserfüllung ist der Suizident gerade keine Person, die sich volldeliktisch zwischen F und die Tatbestandsverwirklichung schiebt. Damit ist der Weg zur Täterschaft der F nicht versperrt. Aber niemand würde F als Täterin bestrafen. Die angebotenen Begründungen würden sinngemäß lauten, dass die bloße Teilnahme an einer Selbsttötung nicht strafbar oder F mangels Tatherrschaft keine Täterin sei.30 Aber diese Begründungen ordnen das Problem falsch ein, sie sind allesamt ungenau. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich um gar keine Frage der Täterschaftsvoraussetzungen des § 25 StGB, sondern um eine der allgemeinen Voraussetzungen des Tatbestandes, genauer der objektiven Zu-

28 Anders Roxin (Fn. 2) S. 361, der davon ausgeht, dass sich die mittelbare Täterschaft in solchen Konstellationen ohne die Berücksichtigung der Pflichtdelikte „in keiner Weise“ begründen lasse. 29 Nach Herzberg NStZ 2004, 3. 30 Siehe zu diesen Begründungsansätzen nur Kusch NJW 2006, 261; NK-Neumann Vor § 211 Rn. 44; Otto FS Tröndle, 1989, 157, 159; Schönke/Schröder-Eser Vor §§ 211 ff Rn. 35; dazu Herzberg NStZ 2004, 3.

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rechnung.31 Das werden auch all jene sofort anerkennen, die zur Begründung der Straflosigkeit auf eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung verweisen. Es kann also Fälle geben, in denen das Täterschaftskriterium erfüllt, der Erfolg dem Hintermann gleichwohl nicht zurechenbar ist.

1. Objektive Zurechnung bei der Preisgabe eigener Rechtsgüter So liegt es im vorigen Fall: L hat sich eigenverantwortlich selber getötet. Aus diesem Grund ist die Todesverursachung durch F mangels objektiver Zurechenbarkeit keine Tatbestandsverwirklichung durch F. Es geht bei solchen Fallkonstellationen also nicht um Fragen der Täterschaftsvoraussetzungen des § 25 StGB – vielmehr ist die objektive Zurechnung die eigentliche sedes materiae. Noch deutlicher wird dies beim folgenden Beispielsfall: Die 40-jährige O wird von V vergewaltigt. Anschließend nimmt sie sich eigenverantwortlich das Leben. Mit Blick auf eine mögliche Strafbarkeit nach § 178 StGB führt die Prüfung ganz automatisch zu dem Merkmal, aus dem sich ergibt, dass V der Tod der O zurechenbar sein muss: „wenigstens leichtfertig“. Dass der Todeseintritt „leichtfertig“ verursacht wurde, lässt sich nur bejahen, wenn der bei Fahrlässigkeitsdelikten übliche „Gefahrzusammenhang“ zwischen Handlung und Erfolg gegeben ist. Der von der h. M. darüber hinaus geforderte besondere Zusammenhang (was auch immer darunter zu verstehen sein mag)32 setzt die „normale“ objektive Zurechnung des Erfolges voraus.33 Bei einem frei verantwortlichen Suizid eines erwachsenen Opfers sind in der Regel die Erfolgszurechnung und also die Leichtfertigkeit zu verneinen.34 31

Dahingehend Engländer JZ 2003, 747 f; Ingelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 228 ff; Kutzer NStZ 1994, 112; HKGS-Heinrich Vor § 13 Rn. 143; Hoyer FS Herzberg, 2008, 379, 384; Roxin FS Otto, 2007, 441, 443; siehe auch Herzberg NStZ 2004, 3; ders. in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 44; anders ders. (NStZ 2004, 1 Fn. 16: „so irrig ich selbst in“) JuS 1988, 772. 32 Dazu MüKo-Hardtung § 18 Rn. 25 ff. 33 Vgl. HKGS-Duttge § 251 Rn. 7: „Es bedarf verglichen mit dem Anforderungsniveau der allg. objektiven Zurechnung eines höheren Grades an erfolgsspezifischer Gefährlichkeit des Grunddelikts […]“; ebenso Rengier AT § 55 Rn. 4. – Unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs ist es übrigens nicht optimal, in einem Prüfungsschema zunächst den „spezifischen Gefahrzusammenhang“ und erst danach die „Fahrlässigkeit“ (oder „Leichtfertigkeit“) aufzuführen (so aber Wessels/Beulke AT Rn. 879; anders Rengier BT II § 16 Rn. 3). Das suggeriert, es könne der spezifische Gefahrzusammenhang vorliegen und gleichzeitig die Fahrlässigkeit fehlen. 34 Siehe HKGS-Laue § 178 Rn. 2.

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Die Nichtzurechnung eines Erfolges beschränkt sich aber nicht auf die Fälle der eigenverantwortlichen Preisgabe des Rechtsguts Leben. Beispiel: Von B dazu aufgefordert, tötet A seinen Hund. Der einzige Grund ist, dass den B das gelegentliche Bellen gestört hat. Mit Blick auf § 303 Abs. 1 StGB hat A sich nicht strafbar gemacht, weil der Hund nicht im Eigentum eines anderen steht, für A also nicht fremd ist. Nach unserem Kriterium ist damit der Weg zur Täterschaft nicht versperrt. Eine täterschaftliche Strafbarkeit des B scheitert aber daran, dass A über ein Rechtsgut verfügt hat – das Eigentum an der Sache „Hund“ – über das er allein verfügen darf. Der Sachbeschädigungserfolg ist dem B folglich nicht zurechenbar, B hat mit anderen Worten keine Gefahr geschaffen, die strafrechtlich missbilligt ist. Mangels vorsätzlicher und rechtswidriger Haupttat kommt auch keine Strafbarkeit nach §§ 303 Abs. 1, 26 StGB in Betracht. Mit Blick auf § 17 Nr. 1 Tierschutzgesetz stellt sich die Rechtslage indes wie folgt dar: A hat ohne vernünftigen Grund ein Wirbeltier getötet, weshalb die Täterschaft des B nicht an der objektiven Zurechnung scheitert, sondern – bei Zugrundelegung unseres Kriteriums – daran, dass die strafrechtliche Folge (Wirbeltiertötung) vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft, also volldeliktisch durch einen anderen verwirklicht wurde. B hat sich nur nach §§ 17 Nr. 1, 26 StGB (i.V.m. Art. 1 Abs. 1 EGStGB) strafbar gemacht. Die Beispielsfälle deuten an, dass die objektive Zurechnung bei dem Dazwischentreten einer volldeliktischen Handlung immer dann zu verneinen ist, wenn es um die Preisgabe eigener Rechtsgüter geht, also zum Beispiel bei Tötung, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Die Nichtzurechnung betrifft zunächst einmal also Fälle, in denen es der Rechtsgutsinhaber selber ist, der eigenverantwortlich über die Preisgabe seines Rechtsguts entscheidet.

2. Objektive Zurechnung bei (Sonder-)Pflichtdelikten Anders könnte die Sache zu beurteilen sein bei Delikten, die als Pflichtdelikte eingestuft werden. Wie bereits erwähnt, soll das entscheidende Element „die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht“35 sein. Meist handelt es sich dabei um ein „den Täter betreffendes Sonderunrecht (wie die Amtsträgereigenschaft bei den §§ 331 ff. StGB, die berufliche Schweigepflicht bei § 203 StGB, die Vermögensbetreuungspflicht in § 266 StGB oder das Anvertrautsein in § 246 I, 2. Alt. StGB)“36. Zu den Pflichtdelikten im Roxin’schen Sinne werden außerdem beispielsweise gezählt § 288 StGB,37 § 326 Abs. 1 und 2 StGB,38 § 339 StGB,39 Delikte, die Verstöße 35

Roxin (Fn. 2) S. 354. Roxin AT II § 25 Rn. 273. 37 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 273 u. 284; anders Herzberg JuS 1974, 377. 36

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gegen familienrechtliche Unterhalts-, Fürsorge- und Obhutspflichten beinhalten (z. B. §§ 170, 171, 221 Abs. 1 Nr. 2, 225 StGB),40 zudem alle über § 14 StGB auf Organ- oder Vertreterhandeln transformierbaren Straftatbestände41 sowie (unechte) Unterlassungsdelikte42. Die Aufzählung ist mitnichten abschließend. Bei der Etikettierung als „Pflichtdelikt“ kann in der Tat leicht der Eindruck entstehen, „dass […] je nach Bedarf nur die Leerformel der Tatherrschaft durch die ‚Zauberformel‘ der Verletzung einer außerstrafrechtlichen Sonderpflicht ausgetauscht wird“43 – salopp formuliert: Was nicht passt, wird passend gemacht! Freund hat das richtige Gespür, wenn er sagt: „Eine selbstständige Kategorie der Pflichtdelikte erübrigt sich bei einem angemessenen Verständnis der Delikte“44. Richtig verstanden werden die Delikte, wenn die Besonderheit der Pflichtdelikte im Rahmen der objektiven Zurechnung relevant wird. Denn es handelt sich – wie bereits dargelegt und anders als Roxin meint – nicht um ein Täterschaftskriterium des § 25 StGB. Wer die Pflichtdelikte unter dem Blickwinkel der objektiven Zurechnung betrachtet, wird leicht feststellen, dass sie gewissermaßen nach der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs „schreien“. Die Erklärung liegt auf der Hand: Bei Pflichtdelikten steht eine besondere Verantwortung im Mittelpunkt des jeweiligen Delikts.45 Damit wird die bei der objektiven Zurechnung übliche Wertung, ob pflichtwidrig eine Gefahr geschaffen wurde, dem Rechtsanwender bei Pflichtdelikten erleichtert – die Zurechnung ist bei Pflichtdelikten besonders unzweifelhaft. Fraglich ist, wie weit diese Art widerlegbarer Vermutung reicht, also welche Delikte davon genau erfasst werden. Roxin sagt, dass „im Zentrum der Tatbestandsverwirklichung nur derjenige [stehe], der eine besondere, nicht jedermann treffende Pflicht verletzt hat.“46 Darunter ließ er einst auch Fahrlässigkeitsdelikte fallen: „Die Erkenntnis, daß die Fahrlässigkeitstatbestände […] Pflichtdelikte sind, ergibt sich aus den Grundlagen unserer Täterlehre mit fast selbstverständlicher Folgerichtigkeit“47. – Es dauerte nicht lange, da erkannte Roxin, wie gefährlich die Erstreckung des Pflichtwidrigkeitsgedankens auf Fahrlässigkeitsdelikte für sein Verständnis der Herrschaftsde38

So etwa Schönke/Schröder-Heine Vor §§ 25 ff Rn. 84a und § 326 Rn. 21. Siehe BeckOK-Witteck/Bange § 339 Rn. 26. 40 Siehe R. Schmidt AT Rn. 934. 41 Vgl. MüKo-Radtke § 14 Rn. 25. 42 Dazu MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 436. 43 MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 436. 44 MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 437. 45 Siehe nur Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht 2004, S. 163 ff. 46 Roxin AT II § 25 Rn. 14. 47 Roxin (Fn. 1) S. 527. 39

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likte und damit für die von ihm maßgeblich weiterentwickelte Tatherrschaftslehre insgesamt war. Denn die beim Vorsatzdelikt notwendige Schaffung eines unerlaubten Risikos entspricht dem Handlungsunwert des jeweiligen Fahrlässigkeitsdelikts. Jedes Vorsatzdelikt (also auch jedes Herrschaftsdelikt) beinhaltet also genau diejenige Pflichtwidrigkeit, die zugleich die objektive Sorgfaltspflichtverletzung beim jeweiligen Fahrlässigkeitsdelikt ausmacht. Bei Zugrundelegung dieses allgemein anerkannten Verständnisses wären sämtliche Herrschaftsdelikte automatisch Pflichtdelikte.48 Roxin blieb gar nichts anderes übrig, als seine ursprüngliche Auffassung zu revidieren, um nicht den gesamten theoretischen Unterbau für seine Tatherrschaftslehre zu verlieren. So überrascht es nicht, dass ab der 3. Auflage seines Werks „Täterschaft und Tatherrschaft“ das komplette elfte Kapitel „Täterschaft und Teilnahme bei fahrlässigen Delikten“ (S. 527 bis 577) fehlt. Zur Begründung ist nicht viel zu finden, außer ein kurzer Hinweis im Vorwort zur 3. Auflage (S. VI): „Die Neuauflage ist um das bisherige elfte Kapitel […] gekürzt“. Im persönlichen Austausch mit dem Verfasser hat Roxin kürzlich eine Begründung gegeben: Die Kürzung sei notwendig gewesen, weil Pflichtdelikte eine Sorgfaltspflicht voraussetzen (als Garant, Beamter, Arzt, Vermögensbetreuer usw.), fahrlässige Taten hingegen Jedermann-Delikte seien, weil sie von allen Menschen verwirklicht werden können. Aber selbst wenn man die Fahrlässigkeitsdelikte nicht in o. g. Sinne den Pflichtdelikten zuschlägt, sind sämtliche Delikte gleichwohl Pflichtdelikte, nicht nur weil auch die Herrschaftsdelikte ein rechtlich missbilligtes (pflichtwidriges) Verhalten voraussetzen. Vielmehr wiegt jede straftatbestandliche Pflichtwidrigkeit nicht weniger als die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht (in Form von Zivil- oder Verwaltungsunrecht, zu sehen etwa in der Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht bzw. der Pflicht zur ordnungsgemäßen Abfallentsorgung).49 Aber diesen Einwand würde Roxin wohl mit dem Hinweis zu entkräften suchen, dass es genau genommen nicht um allgemeine Pflichten gehe, die wie die straftatbestandliche Pflichtwidrigkeit jedermann betreffen, sondern allein um Sonderpflichten. Insoweit dürfte es sich allerdings lediglich um eine Frage der Begriffsbestimmung handeln. Jedenfalls terminologisch wäre für Klarheit gesorgt, wenn statt von Pflichtdelikten die Rede wäre von Sonderpflichtdelikten. Bei dieser begrifflichen Differenzierung würde sich der Widerspruch als scheinbarer erweisen, weil klar wäre, dass zwar sämtliche Delikte Pflichtdelikte sind, davon aber nur einige Sonderpflichtdelikte. Für die hiesige Sicht ändert sich nichts: Auch bei Sonderpflichtdelikten ist die 48 49

Dazu Schlehofer FS Herzberg, 2008, 355, 359. Deutlich Schlehofer FS Herzberg, 2008, 360.

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(besondere) Pflicht nicht das Täterschaftskriterium, doch bedeutet ihre Verletzung ausnahmslos, dass dem Verpflichteten der Erfolg objektiv zuzurechnen ist.

3. Objektive Zurechnung bei „mittleren“ Fällen Freilich muss man ein Delikt nicht als Pflichtdelikt einstufen, um dem Hintermann einen Erfolg objektiv zurechnen zu können. Sähe man etwa § 288 StGB nicht als Pflichtdelikt an,50 fände im oben angeführten Beispielsfall trotzdem eine Zurechnung statt, weil es keinen Sachgrund gäbe, sie zu verneinen. Zur weiteren Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen:51 S hat G ein Darlehen von 1000 Euro pünktlich zurückgezahlt. G hat aber noch den Schuldschein und sieht in der Geschäftsreise des S die günstige Gelegenheit, sich zu bereichern. Er fordert seine Frau F auf, den Schuldschein der Frau des S vorzulegen und um Überweisung zu bitten. F missbilligt Gs Vorhaben und sagt offen, dass sie auf sein Fehlschlagen hoffe. Um des ehelichen Friedens willen tut sie aber trotzdem, was G von ihr verlangt. Zu ihrer Enttäuschung geht das Geld tatsächlich auf Gs Konto ein. Es handelt sich um eine Fallkonstellation, die unter der Bezeichnung „absichtslos-doloses Werkzeug“ bekannt ist und diskutiert wird. Hier tritt die Schwäche der Tatherrschaftslehre offen zutage: Der Tatherrschaftsgedanke lässt sich (wie bei den Pflichtdelikten) nicht einfach „ausschalten“ – § 263 StGB begründet gerade keine (außerstrafrechtliche) Sonderpflicht. Das Ergebnis vermag nicht zu befriedigen: F wäre wegen fehlender Bereicherungsabsicht keine Täterin, G mangels Tatherrschaft kein Täter und mangels tatbestanderfüllender Haupttat auch kein Anstifter. Roxin versucht sich Beruhigung zu verschaffen, indem er erklärt, „daß diese Konstellation eine wohl eher theoretische Bedeutung hat.“52 Aber das ist unbefriedigend. Ein Kriterium muss sich auch und gerade für Ausnahmefälle bewähren. Mit dem hier vorgeschlagenen Lösungsansatz lässt sich die Konstellation eines „absichtslos-dolosen Werkzeugs“ ohne argumentative Verrenkungen („normative Tatherrschaft“53) und nicht zuletzt kriminalpolitisch befriedi50

So etwa Herzberg JuS 1974, 377. Nach Herzberg NStZ 2004, 4. 52 Roxin AT II § 25 Rn. 156. Dieser Einschätzung widerspricht Jäger (Examens-Repetitorium AT Rn. 251): „Im Rahmen von § 252 StGB bleibt sie [die Rechtsfigur des absichtslosdolosen Werkzeugs, Anm. d. Verf.] jedoch von besonderer Relevanz“. 53 Siehe zu diesem Ansatz Cramer FS Bockelmann, 1979, 389, 398; Jescheck/Weigend AT S. 669; Schlüchter AT S. 94; im Ergebnis mittelbare Täterschaft bejahend: Wessels/Beulke AT Rn. 537; ablehnend etwa Frister AT 27. Kapitel Rn. 42; zum Streitstand B. Heinrich AT II Rn. 1250 (dort Fn. 19). 51

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gend bewältigen: Weil F sich mangels Bereicherungsabsicht nicht volldeliktisch zwischen G und die Vermögensschädigung schiebt, ist der Weg für die Bejahung der Täterschaft bei G frei. Zu fragen ist aber, ob ihm die Erfolgsverursachung objektiv zuzurechnen ist, er mit anderen Worten strafrechtlich missbilligt eine unmittelbare Gefahr dafür geschaffen hat. Im vorliegenden Fall lässt sich in der Tat darüber streiten. So klar wie bei den (Sonder-) Pflichtdelikten ist die Entscheidung keineswegs. Im Hinblick auf das Vermögen des S trägt G keine größere Verantwortung als F. Darum drängt es uns auch nicht so stark wie etwa bei der Untreue, für G die Tatbestandsverwirklichung durch objektive Zurechnung komplett zu machen. Aber andererseits gibt es keine positiven Sachgründe, ihm die Zurechnung zu ersparen und dadurch die Strafbarkeitslücke, durch welche der ohne Bereicherungsabsicht Schädigende schlüpft,54 auch für ihn zu öffnen. Wer die Täterschaft unter Rückgriff auf die oben genannte „normative Tatherrschaft“ bejaht, liefert – mit schiefen Worten und an der falschen Stelle – genau genommen die Begründung dafür, warum dem Täter der Erfolg zugerechnet werden muss.

V. Fazit Die von Roxin etablierten Pflichtdelikte haben dogmatisch ihre Berechtigung – wenn auch nicht in der vom Jubilar vorgestellten Art und Weise. Denn die Einteilung eines Delikts als Pflichtdelikt wirkt sich auf die Frage, ob jemand Täter ist, nicht im Geringsten aus. Es handelt sich bei der besonderen Pflichtigkeit nicht um ein Täterschaftskriterium. Bedingung für diese Annahme ist der Abschied von der bisher dominierenden Tatherrschaftslehre und ihren Kriterien, deren konsequente Anwendung auf (Sonder-)Pflichtdelikte und auch bei anderen Zweifelsfällen (mittelbare Täterschaft bei einem absichtslos-dolosen Werkzeug) dazu führt, dass das Kriterium der Tatherrschaft nicht erst genommen und also nicht einheitlich angewendet werden kann. Nimmt man Täterschaft hingegen immer dann an, wenn die tatbestandlichen Folgen ohne die Zwischenschaltung einer vorsätzlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Tatbestandsverwirklichung, mit anderen Worten ohne das volldeliktische Verhalten eines anderen Menschen verwirklicht werden, dann ist ein Kriterium gefunden, das, anders als die Tatherrschaft, dem Gesetz entspricht und das nicht ständig außer Kraft gesetzt werden muss. Dieser Ansatz macht es überflüssig, zwischen Herrschafts- und Pflichtdelikten zu unterscheiden, und zeigt, dass 54

Mit der Täterschaft des G ergibt sich immerhin eine Beihilfestrafbarkeit der F, was die Strafbarkeitslücke verkleinert.

Pflichtdelikte und objektive Zurechnung

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es weder richtig noch nötig ist, bei Pflichtdelikten einen anderen Täterbegriff zugrundezulegen. Freilich erledigen sich die Sach- und Streitfragen damit nicht; sie werden aber an eine Stelle verschoben, wo sie dogmatisch hingehören – nämlich in die objektive Zurechnung. Dort bestätigt sich auch die Richtigkeit, dem Gedanken der Pflichtdelikte eine besondere Bedeutung zuzumessen. Denn bei allen Delikten, die Roxin als Pflichtdelikte einstuft, ist die objektive Zurechnung zulasten des Verpflichteten ohne weiteres zu bejahen, wenn die jeweilige tatbestandliche Sonderpflicht verletzt wird. Weil es sich genau genommen bei allen Delikten um Pflichtdelikte handelt (denn jeder hat – abgesehen vom Rechtsgutsinhaber und von Tatbeständen mit Sonderpflichten – die Pflicht, sich sorgfaltsgemäß gegenüber einem Rechtsgut zu verhalten), ist bei den so genannten Pflichtdelikten besser von Sonderpflichtdelikten zu sprechen. Wer das Problem derart loziert, erkennt auch, dass eine „normativ“ verstandene Tatherrschaft zwar an der falschen Stelle ansetzt und den unpassenden Begriff wählt („Tatherrschaft“), in der Sache aber in die richtige Richtung geht. Mit dem hier favorisierten Ansatz lassen sich auch zweifelhafte Fälle problemlos lösen. Etwa bei der Fallgruppe eines absichtslos-dolosen Werkzeugs ist der Hintermann Täter, weil der Tatmittler sich – nach unserem Kriterium – gerade nicht volldeliktisch zwischen den Veranlasser und den tatbestandlichen Erfolg schiebt. Die objektive Zurechnung ist ebenfalls zu bejahen, weil es keine Sachgründe gibt, sie zu verneinen. Solche Sachgründe gibt es nur, wenn der Rechtsgutsinhaber eigenverantwortlich über die Preisgabe seines Rechtsguts entscheidet, etwa bei der Veranlassung eines eigenverantwortlichen Suizids. Es hat sich damit gezeigt, dass der Gedanke des (Sonder-)Pflichtdelikts und damit auch der von Roxin gewählte Ansatz in dem gleichem Maße richtig ist, wie er dazu beiträgt, die traditionelle Sicht zur Täterschaft zu überwinden. Es ist an der Zeit, dem Unterschied zwischen dem allgemeinen Tatbestandsmerkmal der objektiven Zurechnung und den Täterschaftsmerkmalen des § 25 StGB Rechnung zu tragen.

Der Zitronensaft-Fall Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung GUNTER WIDMAIER

Mit Befriedigung und Stolz kann der Jubilar darauf zurückblicken, dass die von ihm als jungem Wissenschaftler vor fast fünfzig Jahren – in der Abhandlung „Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten“1 – begründete Lehre vom Schutzzweck der Sorgfaltsnorm (oder des fehlenden Risikozusammenhanges) und die hierdurch sinnvoll bewirkte Begrenzung der Fahrlässigkeitshaftung heute fast allgemein anerkannt sind.2 Fruchtbar wirkt sich seine Lehre auch bei der Begrenzung der strafrechtlichen Haftung von Ärzten wegen vorsätzlicher Körperverletzung oder Körperverletzung mit Todesfolge bei mangelhafter Aufklärung aus. Das neue Grundsatzurteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 22. Dezember 2010 3 im (vom Senat selbst so bezeichneten4) „Zitronensaft-Fall“ könnte deshalb das Interesse des Jubilars finden. Mit meinen herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag widme ich ihm diesen bescheidenen Beitrag.

I. Die Bedeutung des neuen Urteils liegt zunächst in der klaren Herausarbeitung dessen, dass die Aufklärung des Patienten vor einem operativen Eingriff nicht von vornherein auch den Hinweis auf Komplikationen zu umfassen braucht, die sich erst bei einer – nur möglicherweise notwendig werdenden – Nachoperation ergeben können5. Hierüber aufzuklären obliegt dem Arzt erst dann, wenn nach durchgeführter Operation tatsächlich eine Nach1

ZStW 74 (1962), 432, 437 ff. Vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 68 ff. 3 BGH NJW 2011, 1088 (3 StR 239/10, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen) mit Besprechung Schiemann NJW 2011, 1046. 4 In der Presseerklärung vom 22. Dezember 2010. 5 Hier aus einem unorthodoxen Vorgehen des Arztes bei der Nachoperation. 2

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Gunter Widmaier

operation notwendig wird. Das Landgericht hatte demgegenüber einen Hinweis auf die bei einer erforderlich werdenden Nachoperation möglicherweise praktizierte Außenseitermethode schon vor der eigentlichen Operation für nötig gehalten, deshalb die diesem Erfordernis nicht genügende (wenn auch ansonsten umfassende) Aufklärung der Patientin als mangelhaft und die Einwilligung der Patientin in die Operation als unwirksam erachtet: mit der Konsequenz, dass der Arzt wegen des unglücklichen Ausgangs der Operation – die Patientin war trotz einwandfreien Vorgehens an einem typischen Operationsrisiko (über das sie aufgeklärt worden war) gestorben – wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB schuldig gesprochen wurde. Diesen Schuldspruch hob der Bundesgerichtshof auf. 1. Hier der ungewöhnlich gelagerte Sachverhalt: Anlässlich einer Darmspiegelung wurden bei der 80-jährigen Patientin Darmpolypen festgestellt, die nur durch einen operativen Eingriff wirksam und vollständig entfernt werden konnten; andernfalls drohte ein Darmverschluss. Die behandelnden Ärzte rieten zur Operation (die allerdings nicht akut erforderlich war, sondern noch etwa ein halbes Jahr hätte aufgeschoben werden können). Die Patientin war zunächst abgeneigt, stimmte der Operation aber nach ordnungsgemäßer Aufklärung über ihren Anlass und Sinn und über die mit der geplanten Entfernung eines Teils des Dickdarms verbundenen Risiken „nach gut zweitägiger Überlegungszeit“ zu. Nicht aufgeklärt wurde die Patientin über die Übung des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses (in dessen Händen die Operation lag), schwerwiegende Wundheilungsstörungen zusätzlich zum Einsatz von Antibiotika und anderen konventionellen Mitteln durch Verwendung von (unsteril in der Krankenhausküche gewonnenem) Zitronensaft zu behandeln. Die Operation wurde fachgerecht durchgeführt. Einige Tage später traten Wundheilungsstörungen auf, die eine Nachoperation erforderlich machten. Auch bei der (im Übrigen nicht zu beanstandenden) Aufklärung der Patientin vor der Nachoperation wurde die – mögliche – Verwendung von Zitronensaft nicht erwähnt. Im Verlauf der sonst fachgerecht durchgeführten Nachoperation legte der Chirurg in die Wunde „einen mit Zitronensaft getränkten Streifen ein und vernähte die Wunde“. Auch bei Verbandswechseln in den nächsten Tagen wurde Zitronensaft eingesetzt. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich; sie starb an einem septischen Herz-KreislaufVersagen. Die Einbringung des nicht steril gewonnenen Zitronensaftes wirkte sich nicht aus und war nicht ursächlich für den Tod der Patientin. Das Landgericht ließ bei der Bestimmung des Inhalts der erforderlichen Aufklärung die spätere Wundbehandlung mit Zitronensaft vor allem deshalb auf den Zeitpunkt vor der (Erst-)Operation zurückwirken, weil die Anwendung nicht sterilen Zitronensafts „derart ungewöhnlich sei, dass allein der

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Umstand ihres Einsatzes durch den Angeklagten dazu geeignet war, das Vertrauen der Patientin in eine sachgerechte Behandlung durch ihn zu erschüttern“. Nach Überzeugung des Landgerichts hätte die Patientin, wäre sie über den möglichen Einsatz von Zitronensaft bei der Nachoperation aufgeklärt worden, ihre Zustimmung schon zur (Erst-)Operation durch den angeklagten Chirurgen nicht erteilt. Dessen sei er sich bewusst gewesen; er habe sich deshalb, auch wenn die Operation lege artis durchgeführt wurde und nachteilige Folgen der Anwendung des nicht sterilen Zitronensaftes nicht festzustellen waren, durch die Vornahme der Operation wegen (gefährlicher) Körperverletzung und, da die Operation vorhersehbar zum Tod der Patientin geführt habe, wegen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht.6 2. Der 3. Strafsenat des BGH stellt seiner Entscheidung die in der Rechtsprechung der Zivil- und Strafsenate des Bundesgerichtshofs inzwischen gefestigten Grundsätze zur ärztlichen Aufklärungspflicht voran. Danach erfüllt jede in die körperliche Unversehrtheit eingreifende ärztliche Behandlungsmaßnahme den objektiven Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung unabhängig davon, ob sie lege artis durchgeführt wird und erfolgreich ist. Sie bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung, in der Regel durch eine vor Durchführung der Behandlung ausdrücklich erteilte Einwilligung des Patienten. Diese setzt voraus, dass der Patient jedenfalls im „Großen und Ganzen“ über die Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt und ihm ein zutreffender Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt wird, die für seine körperliche Integrität und seine Lebensführung auf ihn zukommen können. Regelmäßig hat eine solche „Grundaufklärung“ einen Hinweis auf das schwerste, möglicherweise in Betracht kommende Risiko zu beinhalten. Zum Kern der Patientenaufklärung über einen operativen Eingriff zählt auch die Erläuterung des zu erwartenden postoperativen Zustands, in diesem Zusammenhang – ausnahmsweise – auch über schwerwiegende Risiken einer trotz kunstgerechter Operation eventuell erforderlich werdenden Folgebehandlung. Nach diesen Grundsätzen brauchte nach Auffassung des Senats die Patientin allerdings nicht schon vor der eigentlichen Operation über die bei einer möglicherweise erforderlich werdenden Nachoperation – wiederum möglicherweise – zur Anwendung kommende Außenseitermethode der Verwendung von nicht sterilem Zitronensaft aufgeklärt zu werden. Zwar sei dem Arzt im Rahmen der ihm überlassenen Therapiewahl auch die Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Heilmethode erlaubt. Hierüber (und 6

Das Landgericht verhängte gegen den Arzt eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

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über die Abweichung vom medizinischen Standard) müsse der Patient aber ausdrücklich informiert werden.7 Seine Auffassung, dass eine solche Aufklärung hier nicht schon vor dem Ersteingriff erforderlich war, stützt der Senat auf das – ohne weiteres einleuchtende – Argument, dass die der Erstoperation spezifisch anhaftende Gefahr allein im Eintritt einer Wundinfektion lag, deren Behandlung „nicht notwendig mit einem schweren Risiko verbunden war“; vielmehr hätten zur Behandlung der Wundinfektion bewährte und standardisierte Behandlungsmethoden (etwa der Einsatz von Antibiotika) zur Verfügung gestanden. Eine Aufklärung der Patientin über die eingesetzten Behandlungsmethoden – und insoweit auch über die Außenseitermethode der Verwendung von Zitronensaft – hätte unproblematisch jetzt erfolgen können. Die Vorverlegung dieses Aufklärungsgesprächs vor die Erstoperation sei auch nicht unter dem Aspekt erforderlich gewesen, dass die Patientin „in Kenntnis der vom Angeklagten praktizierten Anwendung dieser Außenseitermethode bei einer Nachbehandlung bereits in den ersten Eingriff nicht eingewilligt hätte“. Diese erfrischende Entdramatisierung des Geschehens setzt sich fort bei der Feststellung, dass im Hinblick auf die – vom Senat als selbstverständlich erachtete – weitere Gabe von Antibiotika das mit dem Einbringen unsterilen Zitronensaftes verbundene Risiko gering gewesen sei, oder einfacher ausgedrückt: Einige zusätzliche Keime aus dem Zitronensaft hätten die eiternde, also ohnehin bakteriell entzündete Wunde nicht zusätzlich verschlimmert. Der Senat hob deshalb den Schuldspruch wegen Körperverletzung mit Todesfolge auf. Allerdings stelle sich die Nachoperation der Patientin, weil diese jetzt nicht auf die (möglicherweise) zur Anwendung kommende Außenseitermethode hingewiesen worden war, als rechtswidrige Körperverletzung in der Form der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 StGB dar. Nicht gesagt wird, welches Qualifikationsmerkmal des § 224 StGB eingreift. Nachdem negative Auswirkungen der Verwendung von Zitronensaft nicht festgestellt wurden, kann – wie auch die Betrachtungen des Senats zur offenbaren Ungefährlichkeit des Auftragens von Zitronensaft auf eine ohnehin bakteriell infizierte und eiternde Wunde belegen – weder auf § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Beibringung von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen) noch auf § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (lebensgefährdende Behandlung) abgestellt worden sein; die Qualifikation des § 224 StGB ergibt sich für den Senat vielmehr ersichtlich allein aus der Verwendung des Skalpells bei der Nachoperation und damit der Verwendung „eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ im Sinne 7 Das ist auch im Arzthaftungsrecht unumstritten. Dem Patienten muss klar sein, dass er sich auf eine Behandlungsmethode einlässt, die nicht der herrschenden Schulmedizin entspricht, BGHZ 102, 17 (22); BGH NJW 1978, 587, 588.

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von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Das ist mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht vereinbar. Im Zahnextraktions-Fall8, in dem der Zahnarzt dem erkennbar unsinnigen Verlangen seiner Patientin nach Extraktion aller Zähne entsprochen und ihr sämtliche Zähne gezogen hatte, billigte der Bundesgerichtshof den Schuldspruch wegen Körperverletzung nach § 223 StGB, nicht jedoch die Einordnung der zahnärztlichen Zange als „anderes gefährliches Werkzeug“ im Sinne des § 223a StGB a. F. Hierfür sei eine Verwendung des betreffenden Gegenstands „bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken“ erforderlich; daran fehle es, wobei auch der Umstand, dass jener Zahnarzt die Zange „nicht zu einem Heileingriff benutzt hat“, aus ihrem Einsatz noch keine Verwendung zu Angriffs- oder Kampfzwecken macht. Das ist ebenso zutreffend wie der im (unveröffentlichten) Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24. Mai 19609 zum Begriff des „anderen gefährlichen Werkzeugs“ enthaltene Satz, dass „der ärztliche Eingriff kein Angriff oder Kampf“ ist und deshalb das vom Chirurgen benutzte Skalpell kein anderes gefährliches Werkzeug im Sinne des Tatbestandes der gefährlichen Körperverletzung darstellt. Der 3. Strafsenat mag beim Zitronensaft-Urteil vom 22. Dezember 2010 diese Entscheidungen übersehen haben.

II. Mit dem eingangs betonten Aspekt des fehlenden Risikozusammenhangs hat das Zitronensaft-Urteil des 3. Strafsenats des BGH zunächst allerdings wenig zu tun. Diese Problematik tritt erst hervor, wenn der vom Senat gewählte Weg der Trennung der Aufklärungspflichten einerseits bezüglich der Erstoperation und andererseits der Nachoperation verlassen und beides gedanklich zusammengelegt wird. Dafür genügt eine geringe Sachverhaltsänderung in dem Sinne, dass der operierende Arzt Zitronensaft schon bei der Schließung der (primären) Operationswunde – je nach deren Zustand – zur Vorbeugung gegen Wundheilungsstörungen einzusetzen pflegt. In diesem Fall versteht sich von selbst, dass eine entsprechende Aufklärungspflicht schon vor der (Erst-)Operation besteht. Im Übrigen soll der veränderte Sachverhalt – wie der Originalfall – so beschaffen sein, – dass die Operation, obwohl ansonsten lege artis ausgeführt, zum Tod der Patientin geführt hat, weil sich ein typisches Operationsrisiko realisiert hat (über das ordnungsgemäß aufgeklärt wurde), 8 9

BGH NJW 1978, 1206. 5 StR 521/59.

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– dass bei der konkreten Operation zwar Zitronensaft eingesetzt wurde, eine nachteilige Auswirkung aber nicht festzustellen ist (damit vor allem auch keine Ursächlichkeit der Verwendung von Zitronensaft für den Tod der Patientin) – oder dass es – dies als alternative Fallgestaltung – überhaupt nicht zum Einsatz von Zitronensaft gekommen ist (weil der Arzt dies nach dem Zustand der Operationswunde nicht für erforderlich hielt). In all diesen Fällen steht die Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht fest. Dementsprechend war jeweils die Einwilligung der Patientin in die Operation mangelbehaftet. Das würde nach der grundsätzlichen Auffassung des Landgerichts folgerichtig zur Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung mit Todesfolge führen, weil die rechtswidrige Operation in unmittelbarer Kausalität den Tod der Patientin verursacht hat (obwohl der eingesetzte Zitronensaft sich nicht ausgewirkt hat oder sogar: obwohl Zitronensaft überhaupt nicht eingesetzt wurde). Das ist nicht überzeugend. Das Rechtsgefühl würde dieses Ergebnis nur billigen, wenn die Anwendung von Zitronensaft (etwa wegen einer dadurch erfolgten bakteriellen Kontamination) tatsächlich die Ursache oder Mitursache des Todeseintritts war. Freilich tut man sich mit der richtigen Begründung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur ärztlichen Aufklärungspflicht nicht leicht. 1. Nach BGHZ 106, 391, 39910 haftet der Arzt bei mangelhafter Grundaufklärung11 „für alle Schäden aus dem Eingriff“, dies selbst dann, wenn sich ein „äußerst seltenes, nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht hat“. Diese extrem weitgehende zivilrechtliche Haftung läuft auf die dem kanonischen Recht entstammende Rechtsfigur des versari in re illicita hinaus, nach der der Täter auch ohne sein Verschulden für sämtliche Folgen haftet, die aus seiner verbotenen Handlung entstehen. 12 Auf das heutige Strafrecht lässt sie sich schon wegen des Verstoßes gegen das Schuldprinzip nicht übertragen. Zwar setzten auch die erfolgsqualifizierten Delikte des Strafgesetzbuches ursprünglich nur voraus, dass das verbotene Grunddelikt für den Erfolg ur-

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Zum Sachverhalt dieser Entscheidung vgl. unten Fn. 16. Sie wird (a. a. O.) als „eine Aufklärung über Verlauf, Chancen und Risiken der Behandlung ‚im großen und ganzen‘“ beschrieben, durch die „der Patient einen zutreffenden Eindruck erhält von der Schwere des Eingriffs und … erfährt, welche Art von Belastungen für seine Integrität und Lebensführung auf ihn zukommen kann“. Davon geht – in wörtlichem Zitat – auch das Urteil des 3. Strafsenats aus (vgl. oben I. 2.). 12 Vgl. Roxin AT I § 10 Rn. 121. 11

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sächlich war; verschuldet zu sein brauchte dieser nicht.13 Dem steht aber heute nicht nur das Verschuldenserfordernis des § 18 StGB (mindestens Fahrlässigkeit) entgegen14; vielmehr muss beim (hier in Frage stehenden) Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon in objektiver Hinsicht in dem Sinne eine engere Beziehung zwischen der Körperverletzung und dem tödlichen Erfolg bestehen, dass sich im tödlichen Ausgang gerade eine der Körperverletzung anhaftende spezifische Todesgefahr niedergeschlagen hat15. Die Auffassung von BGHZ 106, 391, 399 ist mit diesen strafrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar. Eine Anfrage- und Vorlagepflicht nach § 132 GVG würde hierdurch für einen der Strafsenate des BGH allerdings nicht ausgelöst werden. Vielmehr dürfen – so ausdrücklich BGHSt 37, 106, 115 (Lederspray) – gerade im hier interessierenden Bereich der Haftung für mittelbare Handlungsfolgen „die schadenersatzorientierten Haftungsprinzipien des Zivilrechts nicht unbesehen zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit benützt werden“. 2. Ohnehin entspricht der (abgewandelte) Zitronensaft-Fall nicht der Fallgestaltung, die der Entscheidung BGHZ 106, 391, 399 zugrunde liegt.16 Zwar stellt die Verwendung von Zitronensaft zur Vorbeugung gegen Wundheilungsstörungen eine hinweispflichtige Außenseitermethode dar, über die die Patientin pflichtwidrig nicht aufgeklärt worden war; verwirklicht hat sich aber nicht das „Zitronensaft-Risiko“, sondern ein mit dem Eingriff als solchem typischerweise verbundenes Risiko, über das die Patientin zutreffend aufgeklärt worden war. Unter diesen Umständen besteht selbst nach zivilrechtlichen Kategorien keine Haftung; vielmehr gilt insoweit der erste Leitsatz der im Jahr 2000 getroffenen Entscheidung BGHZ 144, 1: „Hat sich gerade das Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden musste und tatsächlich aufgeklärt worden ist, so spielt es regelmäßig keine Rolle, ob bei der Aufklärung auch andere Risiken der Erwähnung bedurften. Vielmehr 13

Vgl. Frank StGB, 18. Aufl. 1931, § 59 IV und § 226 I. Eine dem § 18 StGB entsprechende Vorschrift war erstmals mit § 56 StGB i. d. F. des Art. 2 Nr. 9 b des 3. StÄG vom 4. August 1953 (BGBl. I 735) in das StGB eingefügt worden. 15 Vgl. etwa BGHSt 31, 96 (98) – Hochsitzfall; 48, 34 (38) – Gubener Hetzjagd. 16 In jener Sache behandelte der Angeklagte, ein Orthopäde, die akute Schultersteife des Patienten mittels einer Cortisoninjektion in das Schultergelenk. Über das damit verbundene Infektionsrisiko (mit der möglichen Folge einer Gelenkversteifung) war der Patient pflichtwidrig nicht aufgeklärt worden. Im konkreten Fall kam es zur Infektion, die im weiteren Verlauf aber nicht zu einer Gelenkversteifung führte, sondern zur Sepsis und zum Tod des Patienten. Obwohl auf diese extrem seltene Folge einer Infektion des Schultergelenks nicht hingewiesen werden musste, war der Arzt auch insoweit schadenersatzpflichtig, weil er bei fehlender Aufklärung „für alle Schäden aus dem Eingriff haften (musste), auch wenn sich dabei ein äußerst seltenes, nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht hat“. 14

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kann aus dem Eingriff keine Haftung hergeleitet werden, wenn der Patient in Kenntnis des verwirklichten Risikos seine Einwilligung erteilt hat.“17 3. Bestimmendes Gewicht hat die der Entscheidung im Kern zugrunde liegende Schutzbereichserwägung.18 Für den Bereich des Arztstrafrechts hat dies der 4. Strafsenat in der Entscheidung BGH NStZ 1996, 34, 35 aufgegriffen. In jener Sache musste der gegen einen Neurochirurgen getroffene Schuldspruch der vorsätzlichen Körperverletzung in sechs Fällen wegen rechtlicher Mängel im Bereich der subjektiven Tatseite aufgehoben werden.19 Für die neue Hauptverhandlung wies der 4. Strafsenat auf folgendes hin: Aus dem Grundsatz der Rechtsprechung, wonach operative Eingriffe nur mit Einwilligung des Patienten rechtmäßig sind, folge „nicht, dass der Arzt sich mit jedem nach einer mangelhaften Aufklärung (und folglich aufgrund unwirksamer Einwilligung) vorgenommenen Eingriff wegen Körperverletzung strafbar macht oder für alle sich aus dem Eingriff ergebenden Risiken strafrechtlich einzustehen hätte. Eine Beschränkung der Strafbarkeit kann sich insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Schutzzweckgedankens ergeben“.20 Kuhlen21, zu dessen wissenschaftlichen Schwerpunkten die

17 Die Sache BGHZ 144, 1 betraf einen Impfschaden. Das geimpfte Kind war nach der Impfung wegen Kinderlähmung an eben diesem Leiden erkrankt. In dem der Mutter vor der Impfung ausgehändigten und erklärten Merkblatt war unter anderem aufgeführt: „Selten treten fieberhafte Reaktionen auf, extrem selten Lähmungen (1 Fall auf 5 Millionen Impfungen)“. Der Bundesgerichtshof sah dies hinsichtlich der eingetretenen Lähmungserscheinungen als ausreichende Aufklärung an. Dem klägerischen Hinweis auf zusätzliche (konkret genannte) Risiken, über die nicht aufgeklärt worden sei, brauchte nach Auffassung des Bundesgerichtshofs (ebenda S. 7) aus den im oben zitierten Leitsatz genannten Gründen nicht nachgegangen zu werden. Ausdrücklich im selben Sinne BGH NJW 2006, 2477, 2479 (Robodoc). 18 Zutr. hierzu Soergel-Spickhoff BGB § 823 Anh I Rn. 160: „Auch im Bereich der Haftung wegen unzureichender Aufklärung gilt prinzipiell, dass sich der Schaden im Schutzbereich der Norm zu befinden hat; früher hat man insoweit von Rechtswidrigkeitszusammenhang … gesprochen. Bezogen auf die Aufklärungspflichtverletzung folgt daraus: Wird der Patient über ein aufklärungspflichtiges Risiko nicht aufgeklärt, das sich nicht verwirklicht, verwirklicht sich demgegenüber aber ein nicht aufklärungsbedürftiges oder offen gelegtes Risiko, so liegt der Schaden nicht im Schutzbereich der Norm.“ 19 Der angeklagte Neurochirurg hatte bei mehreren Bandscheibenoperationen im Halsbereich einen neu entwickelten Abstandhalter aus aufbereitetem Rinderknochen (sog. „surgibone“) eingesetzt, der noch nicht amtlich zugelassen war; als Folge der Operation ergaben sich „Spankomplikationen“, die möglicherweise auf das verwendete Implantat zurückzuführen waren. Über die fehlende Zulassung waren die Patienten nicht unterrichtet worden. Der Schuldspruch musste schon deshalb aufgehoben werden, weil dem Arzt nach den Feststellungen das Fehlen der Zulassung nicht bekannt war. 20 Im selben Sinne führt Deutsch FS Weißauer, 1986, 19 aus: „Wird der Patient nicht oder nicht vollständig aufgeklärt, so geht das Risiko des schlechten Ausgangs auf den Arzt oder die Klinik über. Jedoch gilt hier nicht das ‚versari in re illicita‘; vielmehr muss sich ein Risiko verwirklicht haben, das aufklärungsbedürftig war und über das nicht aufgeklärt wurde. Irgend-

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Problematik der strafrechtlichen Produkthaftung gehört, kommt nach Erörterung dieser Zurechnungsfragen zum zutreffenden Ergebnis, dass „ein Verletzungserfolg auf dem Aufklärungsmangel objektiv zurechenbar nur dann (beruht), wenn sich in der Verletzung gerade das Risiko verwirklichte, über das pflichtwidrig nicht aufgeklärt wurde“. All dies gilt auch im (abgewandelten) Zitronensaft-Fall. Verwirklicht hat sich nicht das nicht in die Aufklärung einbezogene Risiko der möglichen Verwendung von Zitronensaft bei Wundheilungsstörungen, sondern – um aus dem landgerichtlichen Urteil zu zitieren – allein das „mit einer großen Bauchoperation … regelmäßig verbundene Risiko einer Entzündung der Operationswunde“. Über dieses Risiko war die Patientin aber ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Insgesamt macht der (abgewandelte) Zitronensaft-Fall deutlich, dass der ärztliche Heileingriff im Rahmen des § 227 StGB denselben Rechtsgrundsätzen unterworfen sein muss, wie sie sonst für diesen Tatbestand gelten. Unerlässlich ist auch hier, dass sich im tödlichen Ausgang des Geschehens die der vorsätzlichen Körperverletzung in spezifischer Weise anhaftende Gefahr realisiert hat. Bei einer Operation, bezüglich derer die ärztliche Aufklärung mangelhaft war (wie dem Arzt bewusst ist), ist das nicht allein schon deshalb der Fall, weil eine Operation dieser Art grundsätzlich die Gefahr des tödlichen Ausgangs in sich trägt. Bei all dem darf nicht außer Acht bleiben, dass es sich beim ärztlichen Heileingriff, auch wenn er – mit der festgefügten Rechtsprechung und gegen die herrschende Meinung in der Literatur – als tatbestandliche Körperverletzung angesehen wird, die nur durch eine wirksame Einwilligung gerechtfertigt sein kann, doch um eine Körperverletzung sui generis handelt, bei der sich eine spezifische Gefährlichkeit unter dem Aspekt des § 227 StGB nicht schon aus der „Grundgefährlichkeit“ des betreffenden Eingriffs ergeben kann. Vielmehr muss sich – insoweit unterliegt auch der Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB den Anforderungen des Schutzzweckzusammenhangs – gerade die spezifische Gefährlichkeit im tödlichen Ausgang niedergeschlagen haben, auf die sich das Aufklärungs- und damit das Einwilligungsdefizit bezieht. Daran fehlt es im (abgewandelten) Zitronensaft-Fall. Dessen Lösung ist ein weiteres Beispiel für die Fruchtbarkeit der vom Jubilar begründeten Lehre vom Schutzzweck der Sorgfaltsnorm.

ein Fehler in der Aufklärung wälzt nicht das gesamte Risiko für aufgeklärte oder nicht aufklärungsbedürftige Risiken auf den Arzt oder die Klinik ab.“ 21 FS Müller-Dietz, 2001, 431, 437 f.

Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale BERND HEINRICH

I. Historische Entwicklung der Irrtumslehre Die Irrtumslehre hat im Strafrecht nicht nur eine lange Tradition, sondern sie hat auch eine durchaus wechselhafte Geschichte erlebt. Dabei ging es vorwiegend um die Frage, welche Irrtümer den Vorsatz des Täters ausschließen und welche nicht. Bei letzteren war und ist es zudem weiter fraglich, ob sie im Hinblick auf andere Elemente der Strafbarkeit (z. B. das Unrechtsbewusstsein) eine gewisse Relevanz besitzen oder ob sie gänzlich unbeachtlich sind. Auch der Jubilar hat sich schon mehrfach mit dieser Thematik auseinandergesetzt,1 sodass zu hoffen ist, dass die nachfolgenden Ausführungen auf sein Interesse stoßen werden. Bekanntlich standen sich früher insbesondere die Vorsatztheorie2 und die Schuldtheorie3 unversöhnlich gegenüber. Während nach der Vorsatztheorie nicht nur das Wissen und Wollen der Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, sondern auch die Kenntnis der Norm (und insoweit das Unrechtsbewusstsein) als Bestandteile des Vorsatzes anzusehen sind (mit der Folge, dass jeder relevante Irrtum, d. h. auch derjenige, der lediglich das Unrechtsbewusstsein betrifft, den Vorsatz ausschließt), betrachtet die Schuldtheorie das Unrechtsbewusstsein als selbstständiges Schuldelement (mit der Folge, dass ein Irrtum, der lediglich das Unrechtsbewusstsein betrifft, den Vorsatz des Täters unberührt lässt). Nachdem sich der BGH in 1 Vgl. u. a. Roxin AT I § 12 Rn. 95 ff (zum Tatbestandsirrtum), § 21 Rn. 20 ff (zum Unrechtsbewusstsein); ders. Die Irrtumsregelung des Entwurfs 1960 und die strenge Schuldtheorie, MSchrKrim 1961, 211; ders. Die Behandlung des Irrtums im Entwurf 1962, ZStW 76 (1964), 582; ders. Ungelöste Probleme beim Verbotsirrtum, in: Hirsch (Hrsg.), DeutschSpanisches Strafrechtskolloquium 1986, 1987, S. 81; ders. Die Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt, JZ 1996, 981; ders. Über Tatbestands- und Verbotsirrtum, FS Tiedemann, 2008, 375. 2 Diese wurde u. a. vertreten von Binding Die Normen und ihre Übertretung, Bd. II/2, 2. Aufl. 1916, §§ 125 ff; Mezger Strafrecht: Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1949, § 42 I, § 43 III (in seinem Studienbuch Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1954, § 69 III, IV, setzt sich Mezger dann zwar mit BGHSt 2,194 auseinander, hält aber weiter an der Vorsatztheorie fest). 3 Diese wurde u. a. vertreten von Warda ZStW 71 (1959), 252; Welzel Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 22 III; ders. JZ 1952, 596 (598).

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seinem bahnbrechenden Urteil im Jahre 1952 der Schuldtheorie angeschlossen hat4 und auch der Gesetzgeber im Jahre 19755 dieser Theorie durch deren ausdrückliche Normierung in § 17 StGB folgte,6 flammt die Diskussion heutzutage nur noch sporadisch auf7 und spielt lediglich in Randbereichen (so z. B. bei der rechtlichen Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums8 oder im Nebenstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht9) eine gewisse Rolle. Unabhängig von der Frage, ob nun der Vorsatz- oder der Schuldtheorie zu folgen ist, war man sich allerdings stets einig, dass nicht jeder Irrtum zum Ausschluss der Strafbarkeit führen sollte. So wurde schon früh anerkannt, dass es Irrtümer geben sollte, die weder den Vorsatz noch das Unrechtsbewusstsein beseitigen mit der Folge, dass es auf den Streit über die systematische Stellung des Unrechtsbewusstseins in diesen Bereichen gar nicht mehr ankam. Betrachtet man die deutsche (Straf-)Rechtsgeschichte, so ist diesbezüglich die Trennung zwischen dem Tatsachenirrtum, der stets die Strafbarkeit ausschloss („error facti non nocet“), und dem Rechtsirrtum, der den Vorsatz bzw. das Unrechtsbewusstsein unberührt ließ und durchweg zur Strafbarkeit des Betreffenden führte („error iuris nocet“), seit langem tief verwurzelt.10 So war diese Unterscheidung auch bereits unter Geltung des § 59 StGB a. F.

4

BGHSt 2, 194 (204 ff). 5 Durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) v. 4.7.1969, BGBl I S. 717, in Kraft getreten am 1.7.1975. 6 So jedenfalls die ganz herrschende Ansicht; vgl. nur Roxin AT I § 21 Rn. 7 ff; abweichend lediglich Langer GA 1976, 206 ff; Schmidhäuser Strafrecht AT 10/28; ders. Studienbuch Strafrecht AT 7/89 f; ders. JZ 1979, 365 ff; für eine „modifizierte Vorsatztheorie“, nach der wenigstens das Bewusstsein der Sozialschädlichkeit des eigenen Verhaltens Bestandteil des Vorsatzes sein soll, Otto AT § 7 Rn. 61 ff; § 15 Rn. 11; ders. JURA 1990, 647; ders. FS Roxin, 2001, 483, 491 ff; von einigen Verfechtern der Vorsatztheorie wurde ferner die Ansicht vertreten, der Gesetzgeber habe zwar in § 17 StGB die Schuldtheorie normiert, diese Theorie verstoße aber gegen die Verfassung, weshalb die entsprechenden Normen nichtig seien bzw. verfassungskonform ausgelegt werden müssten; vgl. hierzu Schmidhäuser Strafrecht AT 10/64; dagegen wurde in BVerfGE 41, 121 die Verfassungsmäßigkeit der Regelung ausdrücklich bejaht. 7 Kritisch im Hinblick auf die Schuldtheorie z. B. Fakhouri Gómez GA 2010, 270 ff; Freund AT § 4 Rn. 75 ff; vgl. ferner Koriath JURA 1996, 124 und Naucke FS Roxin, 2001, 503, 514, die sich in diesem Zusammenhang insbesondere kritisch im Hinblick auf die Regelung des § 17 StGB äußern. 8 Vgl. zu dieser Problematik ausführlich B. Heinrich AT II Rn. 1128 ff. 9 Vgl. hierzu jüngst Roxin FS Tiedemann, 2008, 375; ferner bereits Tiedemann Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 282 ff; ebenso ders. ZStW 81 (1969), 869; ders. FS Geerds, 1995, 95, 106; vgl. hierzu auch T. Walter Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 427 f. 10 LK-Vogel § 16 Rn. 2; vgl. allerdings auch Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, S. 65 ff, 80 ff.

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in der frühen Reichsgerichtsrechtsprechung11 anerkannt, wobei § 59 StGB a. F. vom Wortlaut her dem heutigen § 16 StGB ähnelte.12 Das Reichsgericht nahm in den späteren Jahren dann allerdings im Bereich des (im Gegensatz zum heutigen § 17 StGB damals noch nicht eigenständig geregelten) Rechtsirrtums weitere Differenzierungen vor: So sollte zwar der „strafrechtliche“ Rechtsirrtum13 (d. h. die Unkenntnis der strafrechtlichen Norm bzw. der Irrtum über deren Reichweite) den Täter nicht entlasten, der „außerstrafrechtliche“ Rechtsirrtum sollte hingegen – ebenso wie der Tatsachenirrtum – strafbefreiend wirken.14 Dies entsprach durchaus einer damals weit verbreiteten Auffassung und hatte sogar Eingang in manche Strafgesetzbücher der deutschen Staaten, wie etwa in Art. 95 des Sächsischen StGB, gefunden. Ein solcher außerstrafrechtlicher Irrtum sollte immer dann vorliegen, wenn ein Strafgesetz Tatbestandsmerkmale enthielt, deren Verständnis man sich nur durch zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Vorschriften erschließen konnte (man also zur Auslegung Vorschriften heranziehen musste, die außerhalb des Strafgesetzbuches zu finden waren). Handelte es sich bei der strafrechtlichen Norm um ein Blankettgesetz, so führte dies dazu, dass ein Irrtum über eine das Blankett ausfüllende und in einem anderen Rechtsgebiet verankerte Vorschrift regelmäßig als außerstrafrechtlicher Irrtum angesehen wurde.15 Diese Konstellation kam insbesondere dann recht häufig vor, wenn der Irrtum Vorschriften des Neben11 RGSt 1, 368; RGSt 2, 268; insoweit wird teilweise auch davon ausgegangen, dass bereits das Reichsgericht „auf dem Boden der Schuldtheorie“ stand; vgl. nur Schroth Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 15 unter Berufung auf RGSt 55, 96: Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit sei keine Voraussetzung für den Vorsatz; RGSt 58, 247 (249): Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit sei (nur) dann vorsatzrelevant, wenn die Rechtswidrigkeit als Tatbestandsmerkmal in die Vorschrift aufgenommen wurde; RGSt 62, 289 (296): Irrtum über „Pflichtwidrigkeit“. 12 § 59 StGB a. F. lautete: „(1) Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. (2) Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist.“ 13 Beispiele für rein strafrechtliche Rechtsirrtümer finden sich in RGSt 8, 172 (173); RGSt 16, 83 (86 f); RGSt 19, 253 (254); RGSt 40, 326; RGSt 42, 26 (27 f); RGSt 57, 235 (236); RGSt 62, 155 (157); RGSt 62, 163 (168); RGSt 68, 240. 14 RGSt 4, 233 (239); RGSt 10, 233 (235); RGSt 19, 87 (89 f); RGSt 19, 209 (211); RGSt 23, 374 (375); RGSt 42, 26 (27); RGSt 54, 152 (162); RGSt 60, 69 (75); RGSt 61, 429 (431); RGSt 62, 155 (157); RGSt 72, 305 (309); ausführlich zur Irrtumslehre des Reichsgerichts Schlüchter (Fn. 10) S. 38 ff; Schroth Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 15 ff; Tischler Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1984, S. 40 ff; im Ergebnis hält Kuhlen Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 359 auch heute noch die Reichsgerichtsrechtsprechung für vorzugswürdig. 15 RGSt 19, 209 (211); RGSt 45, 382; RGSt 52, 99 (100); RGSt 57, 15 (17); RGSt 60, 425; vgl. auch RGSt 20, 236 (239); RGSt 36, 359 (362); RGSt 56, 337 (339); RGSt 67, 115.

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strafrechts16 betraf. Nach den Grundsätzen der damaligen Rechtsprechung gab es für die Beurteilung am Ende aber lediglich zwei Alternativen: Jeder „relevante“ Irrtum führte zum Ausschluss der Vorsatzstrafbarkeit (gleichgültig, ob er die Unkenntnis von Tatsachen oder die Unkenntnis außer- oder nebenstrafrechtlicher Normen zum Gegenstand hatte) und jeder „irrelevante“ Irrtum (also insbesondere der „strafrechtliche“ Rechtsirrtum) führte hingegen zur Strafbarkeit. Eine „Vermeidbarkeitsprüfung“, wie sie der heutige § 17 StGB vorsieht, fand ebenso wenig statt wie eine fakultative Strafmilderung.

II. Grundzüge der heutigen Rechtslage Das Gesetz bestimmt nunmehr – im Anschluss an die genannte Rechtsprechung des BGH – in § 16 Abs. 1 StGB, dass derjenige ohne Vorsatz handelt, der „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Dagegen handelt nach § 17 StGB derjenige, dem „bei der Begehung der Tat die Einsicht [fehlt], Unrecht zu tun“, lediglich ohne Schuld – und das auch nur dann, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte. Dabei ist man sich im Wesentlichen darüber einig, dass unter einem „Umstand“, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, an sich nur ein tatsächlicher Umstand zu verstehen ist, den der Täter verkannt haben muss. Das rechtliche Verbotensein einer Handlung ist hingegen (auf der Grundlage der Schuldtheorie) kein solcher Umstand, der im Rahmen des § 16 StGB Berücksichtigung finden darf. Irrt sich der Täter also über die Existenz einer Strafnorm oder deren Reichweite, so ist dies gerade kein solcher „Umstand […], der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Dem Täter fehlt – wenn er die Sachlage ansonsten zutreffend erfasst – lediglich „die Einsicht, Unrecht zu tun“ im Sinne des § 17 StGB. Damit lässt sich vom Grundsatz her zusammenfassen: Irrt sich der Täter über das Vorliegen eines tatsächlichen Umstandes, so liegt ein nach § 16 StGB zu beurteilender Tatbestandsirrtum vor, der den Vorsatz entfallen lässt. Irrt er sich hingegen über die rechtliche Bewertung eines vom Tatsächlichen her zutreffend erkannten Sachverhaltes, kommt lediglich ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB in Frage, der das Unrecht der Tat bestehen lässt und nur auf Schuldebene berücksichtigt werden kann. In diesem Fall nimmt der Täter also irrtümlich an, ein tatsächlich strafbares Verhalten sei nicht unter Strafe gestellt, sondern rechtmäßig, weil er – trotz zutreffend erkannten Sachverhalts – über die rechtliche Bewertung eines bestimmten Geschehens irrt.

16

RGSt 42, 26 (27); RGSt 50, 332 (335); RGSt 54, 4 (5); RGSt 62, 35 (41).

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Von dieser – an sich eindeutigen – Unterscheidung zwischen einem „Tatsachenirrtum“ und einem „Irrtum über die rechtliche Bewertung“ (die der ursprünglichen Unterscheidung des Reichsgerichts in Tatsachenirrtum und Rechtsirrtum entspricht) will die im Strafrecht ganz überwiegende Ansicht allerdings bei den sog. „normativen“ Tatbestandsmerkmalen eine Ausnahme machen.17 Hierbei soll es sich um Tatbestandsmerkmale handeln, die nur unter Zuhilfenahme einer rechtlichen Bewertung ermittelt werden können, so z. B. die Merkmale „fremd“, „Urkunde“, „Beleidigung“ oder „Amtsträger“.18 Den Gegensatz hierzu sollen die sog. „deskriptiven“ Tatbestandsmerkmale darstellen,19 worunter man Merkmale versteht, die eher beschreibend sind und in aller Regel Begriffe aus der täglichen Umgangssprache verwenden, die gerade keine Rechtskenntnis voraussetzen und mit den Sinnen wahrgenommen werden können, wie z. B. die Merkmale „Sache“, „zerstören“ oder „Mensch“. In der Praxis führt dies dazu, dass bei einem festgestellten Irrtum stets geprüft werden muss, ob das entsprechende Tatbestandsmerkmal sinnlich (dann deskriptives Merkmal) oder nur geistig (dann normatives Merkmal) wahrgenommen werden kann.20 Liegt ein „normatives Tatbestandsmerkmal“ vor, soll der Täter nun auch bei einem Irrtum über die rechtliche Bewertung ausnahmsweise einem (den Vorsatz ausschließenden) Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB unterliegen können. Die Begründungsansätze, warum dies so sein müsse, sowie die Differenzierungskriterien, wann dies der Fall ist, sind hier allerdings vielschichtig. So wird insbesondere ausgeführt, dass es Bereiche gebe, in denen vom Täter nicht verlangt werden könne, sämtliche rechtlichen Zusammenhänge stets richtig zu erfassen. Das Bewusstsein darüber, ob z. B. eine Sache im Sinne des § 242 StGB „fremd“ ist, setze eben nicht nur voraus, dass 17 Vgl. hierzu BGHSt 2, 194 (197); BGHSt 3, 110 (123); BGHSt 3, 248 (255); BGHSt 3, 400 (402 f); BGHSt 4, 80 (85 f); BGHSt 5, 284 (288); BGHSt 7, 261 (263 f); BGHSt 8, 321 (323); BGHSt 15, 382 (338); BGHSt 48, 322 (328 f); Baumann/Weber/Mitsch AT § 21 Rn. 4; Herzberg/Hardtung JuS 1999, 1074; Kühl AT § 13 Rn. 11; Roxin AT I § 12 Rn. 10 ff, 100 ff; als „Entdecker“ dieser normativen Tatbestandsmerkmale gilt gemeinhin Max Ernst Mayer; vgl. ders. Strafrecht Allgemeiner Teil, 1915, S. 182 ff; zur Entwicklung dieses Begriffs Engisch FS Mezger, 1954, 127 ff; Schlüchter (Fn. 10) S. 7 ff. 18 Nach Roxin AT I § 10 Rn. 57, 100 erfordern diese Merkmale ein „geistiges Verstehen“, während die deskriptiven Merkmale lediglich eine „sinnliche Wahrnehmung“ verlangen; so auch Schlüchter (Fn. 10) S. 19. 19 Zur Fragwürdigkeit bzw. Undurchführbarkeit einer solchen Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen vgl. B. Heinrich AT I Rn. 125 ff, 271; ferner ders. AT II Rn. 1087 sowie unten III. 20 Vgl. auch Schlüchter (Fn. 10) S. 16: Hat bereits der Gesetzgeber „gewertet“ und muss der Richter diese Wertung nur noch nachvollziehen, liege ein deskriptives Merkmal vor. Ein normatives Merkmal soll hingegen dann gegeben sein, wenn der Gesetzgeber die Wertung dem Richter überlasse.

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der Täter den Gegenstand „sinnlich wahrnimmt“, sondern auch und gerade, dass er über die von der Rechtsordnung vorgegebene rechtliche Bewertung von Vorgängen Bescheid weiß, die eine Sache zu einer „eigenen“ oder einer „fremden“ machen. Wer über die Eigentumslage irre, wisse eben nicht, dass die Sache „fremd“ sei. Somit sei bei normativen Tatbestandsmerkmalen stets eine „volle Bedeutungskenntnis“21 erforderlich, ansonsten könne die Tat nicht als vorsätzlich begangen angesehen werden. Denn man käme letztlich zu unbilligen Ergebnissen, wenn man einen Irrtum des Täters über die (rechtliche) Bewertung eines normativen Tatbestandsmerkmals erst auf der Ebene der Schuld als Verbotsirrtum behandeln würde, zumal an dessen Vermeidbarkeit durch die Rechtsprechung hohe Anforderungen gestellt werden.22 Zudem habe der Gesetzgeber durch die Verwendung normativer Tatbestandsmerkmale gerade zum Ausdruck gebracht, dass der Täter eine Vorstellung von dem geschützten Rechtsgut haben muss.23 Plastisch formuliert Roxin: „Den Vorwurf, ein vorsätzlicher Krimineller zu sein, verdient nur der, dessen Werthaltung von derjenigen des Gesetzgebers abweicht, bei dem wir […] eine vorwerfbar-unzulängliche rechtsethische Gewissensbildung feststellen können, nicht schon der, der bei rechtstreuer Persönlichkeitsartung nur im Bereich der äußeren Wahrnehmung oder der intellektuellen Kenntnis irrt“.24 Was die Frage angeht, wann denn nun bei den normativen Tatbestandsmerkmalen auch bei einem bloßen Irrtum über die rechtliche Bewertung ein Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB gegeben sein soll, wird von vielen auf eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“25 abgestellt: Nur dann, wenn der Täter – nach Laienart – den rechtlich-sozialen Bedeutungsinhalt des jeweili21

Vgl. nur Jescheck/Weigend AT § 29 II 3a; Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 384. Vgl. BGHSt 4, 1 (5). 23 Müller-Magdeburg Die Abgrenzung von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bei Blankettnormen, 1999, S. 198. 24 Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 376. 25 Zu diesem Begriff BGHSt 3, 248 (255); BGHSt 4, 347 (352); Baumann/Weber/Mitsch AT § 21 Rn. 5; Jakobs AT 8/49; Jescheck/Weigend AT § 29 II 3 a; Arthur Kaufmann Die Parallelwertung in der Laiensphäre, 1982, S. 1 ff; Kühl AT § 5 Rn. 93; MüKo-Joecks, § 16 Rn. 41; Otto AT § 7 Rn. 14; Roxin AT I § 12 Rn. 101; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben § 15 Rn. 43a; Warda JURA 1979, 80; Wessels/Beulke AT Rn. 243; kritisch hierzu Herzberg/Hardtung JuS 1999, 1075; Kindhäuser AT § 27 Rn. 28; ders. Lehr- und Praxiskommentar, § 16 Rn. 9 f; ders. GA 1990, 417 ff; Kuhlen (Fn. 14) S. 204 ff; LK-Vogel § 16 Rn. 30; NK-Puppe, § 16 Rn. 45 ff; Puppe AT 1 § 15 Rn. 11 ff, 32; Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 380, 384; Schlüchter (Fn. 10), S. 67 ff; Schulz FS Bemmann, 1997, 246; Stratenwerth/Kuhlen AT § 8 Rn. 72; der Begriff geht zurück auf Mezger JW 1927, 2007 f; ders JZ 1951, 180; ders. Studienbuch Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1954, § 68 I 1a, § 69 II 2; auch bei Binding Die Normen und ihre Übertretung, Dritter Band 1918, § 165 III findet sich die Wendung „Subsumtion […] nach Laienart“; dagegen spricht Welzel Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 13 I 4; ders. JZ 1954, 279 von der „Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein“. 22

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gen Tatbestandsmerkmals (und seiner entsprechenden Handlung) erkannt habe, sei das Wissenselement des Vorsatzes erfüllt. Habe er hingegen einen Gegenstand zwar sinnlich wahrgenommen und insoweit die volle Tatsachenkenntnis gehabt, aber im betreffenden Fall eine schwierige juristische Subsumtion nicht nachvollzogen und daher den Bedeutungsgehalt seines Tuns verkannt, so müsse ein solcher Rechtsirrtum ausnahmsweise dann zum Vorsatzausschluss führen, wenn er nach „Laienart“ nachvollziehbar war. Denn in diesem Fall sei es dem Täter nicht möglich zu erfassen, dass er ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Man könne, so wird argumentiert, von einem juristischen „Laien“ nämlich nicht verlangen, dass er eine (mit einem solchen normativen Tatbestandsmerkmal zumeist verbundene) höchst komplexe Rechtsfrage zutreffend erfasse. Vorsatz läge insoweit nur dann vor, wenn er den wesentlichen Bedeutungskern des in Frage kommenden Tatbestandsmerkmals richtig nachvollziehe. Eine zutreffende Subsumtion unter ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal sei in diesen Fällen dann nicht erforderlich (insofern sei also ein bloßer Subsumtionsirrtum bei vollständiger Bedeutungskenntnis unbeachtlich). Weiß der Täter also z. B., dass den Strichen auf dem Bierdeckel ein bestimmter Beweiswert innewohnt, und radiert er deswegen einen von ihnen aus, dann handelt er vorsätzlich, auch wenn er den Bierdeckel selbst nicht unter das Tatbestandsmerkmal „Urkunde“ subsumiert. Denn es reiche eben aus, dass er „nach Laienart“ weiß, dass er einen im Rechtsverkehr relevanten Beweis vernichtet.26 Andererseits wird aber argumentiert, dass in denjenigen Fällen, in denen der Täter den Begriffskern eines bestimmten Merkmals an sich erfasst hat (er also z. B. vom Grundsatz her weiß, was die Rechtsordnung unter dem Begriff „Eigentum“ versteht), er aber in Randbereichen einem normativen Irrtum unterliegt, der nach Laienart nachvollziehbar ist (der Täter also etwa nach Aufkommen des Rechtsinstituts des „Leasing“ davon ausging, er sei als Leasingnehmer Eigentümer eines Fahrzeugs geworden), ihm dies nicht angelastet werden könne. Auch hier müsse daher der Vorsatz auf Tatbestandsebene (und nicht erst das Unrechtsbewusstsein auf Schuldebene) entfallen. Roxin27 hat diese Lehre um das Merkmal der notwendigen Kenntnis des „sozialen Sinns“ angereichert: Nur dann, wenn der Täter neben der vollen Tatsachenkenntnis auch den „sozialen Sinn seines Handelns“ verstehe, könne man davon ausgehen, dass er vorsätzlich eine Strafnorm verletze. Oder anders herum: Verschleiert eine falsche rechtliche Wertung dem Täter den sozialen Sinn seines Tuns, obwohl er die zu Grunde liegenden Tatsachen vollständig erfasst, schließe ein solcher Irrtum den Vorsatz hinsichtlich

26 27

Vgl. hierzu auch Traub JuS 1967, 116. Roxin AT I § 12 Rn. 100 ff.

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des betreffenden normativen Tatumstandes aus.28 Bei gemischt deskriptivnormativen Tatbestandsmerkmalen müsse der Täter die deskriptiven Elemente sinnlich wahrgenommen und den normativen Gehalt geistig verstanden haben, ansonsten scheide auch hier ein vorsätzliches Verhalten aus.29

III. Kritik an dieser Lehre Im Folgenden soll diese „Lehre“ von den normativen Tatbestandsmerkmalen einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Denn geht man – auf der Grundlage der ursprünglichen Rechtsprechung des Reichsgerichts – davon aus, dass die Unterscheidung eines Irrtums über das Vorliegen eines tatsächlichen Umstandes von einem solchen über die rechtliche Bewertung an sich recht unproblematisch durchzuführen ist30 und auch zu gerechten Ergebnissen führt, bedarf es guter Gründe, sich von dieser an sich klaren Differenzierung zu lösen. Wie sich zeigen wird, „lohnen“ die wenigen Fälle, in denen in der Praxis ausnahmsweise bei einem Irrtum über ein normatives Tatbestandsmerkmal auch bei einer falschen rechtlichen Bewertung ein Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB angenommen wird, nicht die „Verwässerung“ der gesamten Irrtumslehre, zumal diese Fälle über eine großzügigere Anwendung der (Un-)Vermeidbarkeit im Rahmen des Verbotsirrtums nach § 17 StGB auf Schuldebene besser aufzufangen sind. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil, wie gleich noch zu zeigen sein wird, es bisher nicht gelungen ist, griffige Abgrenzungskriterien zu finden, in welchen Fällen „ausnahmsweise“ ein Rechtsirrtum zum Vorsatzausschluss führen soll. Die derzeitige Praxis führt insoweit vielmehr zu einer vermehrten Rechtsunsicherheit, die durch eindeutigere Abgrenzungskriterien vermieden werden kann. Als erstes fällt auf, dass die von der überwiegenden Ansicht vorgenommene Differenzierung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen schon für sich genommen kaum durchführbar ist. Eine eindeutige Grenzziehung ist in diesem Bereich nicht möglich.31 Denn jedes deskriptive Tatbestandsmerkmal enthält in Grenzbereichen auch eine juristische

28

Roxin AT I § 12 Rn. 104. Roxin AT I § 12 Rn. 100. 30 Den Vorteil einer „klaren Abgrenzung“ betont auch Schlüchter (Fn. 10) S. 58, verwirft diese Lösung aber am Ende dennoch; vgl. auch Traub JuS 1967, 116 f. 31 So auch Baumann/Weber/Mitsch AT § 8 Rn. 17 f; Dopslaff GA 1984, 1; B. Heinrich AT I Rn. 127; Kindhäuser JURA 1984, 465; MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 15 f; NK-Puppe § 16 Rn. 41; Schmitz JURA 2003, 594; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rn 69 ff; Wessels/Beulke AT Rn. 132. 29

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Bewertung.32 Ob z. B. eine Langlaufloipe33 oder ein Tier34 Sachen im Sinne der §§ 242, 303 StGB sind, ist letztlich ebenso eine Rechtsfrage wie die Einordnung, ab welchem Zeitpunkt der Geburt ein „Mensch“ zu existieren beginnt. Dennoch werden die Tatbestandsmerkmale „Sache“ und „Mensch“ als klassische Beispiele deskriptiver Merkmale angesehen.35 Andererseits enthalten auch die sog. normativen Tatbestandsmerkmale vielfach beschreibende Elemente. So muss eine „Urkunde“ – üblicherweise ein „klassisches“ normatives Merkmal – jedenfalls optisch-visuell verständlich sein, was voraussetzt, dass sie sinnlich wahrnehmbar ist.36 Auch das Merkmal „fremd“ setzt – bevor eine rechtliche Bewertung überhaupt ansetzen kann – erst einmal voraus, dass der Täter weiß, infolge welcher tatsächlichen Vorgänge eine Sache in den Besitz einer bestimmten Person gelangt ist. Zwar kann man im Einzelfall sicherlich von einem „mehr normativ“ oder „mehr deskriptiv“ geprägten Merkmal sprechen, einen wirklichen Gewinn verspricht diese Unterscheidung dann allerdings nicht mehr. Insofern ist auch zu bezweifeln, ob der Vorschlag von Roxin37, als normativ lediglich solche Merkmale zu bezeichnen, „die überhaupt nur unter logischer Voraussetzung einer Norm vorgestellt und gedacht werden können“, dazu geeignet sein kann, die Existenz dieser Begriffskategorie zu rechtfertigen. Denn warum sollte z. B. gerade das Tatbestandsmerkmal der „Urkunde“ ein „juristisches oder soziales Normensystem“ voraussetzen38, der Begriff der Sache hingegen nicht. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Normen, die z. B. bei einer Definition des Begriffs der „Urkunde“ weiterhelfen können, gar nicht existieren (das Gleiche gilt z. B. auch für den als normativ anerkannten Begriff der „Beleidigung“ i. S. des § 185 StGB).39 Dagegen wird der Sachbegriff in § 242 StGB – wie erwähnt: an sich ein „klassisches“ deskrip-

32

So deutlich Gössel GA 2006, 281: „Rein deskriptive Merkmale gibt es nicht“; T. Walter (Fn. 9) S. 221: „Es gibt […] keine ‚rein deskriptiven’ Merkmale“; ferner Ambos JA 2007, 2 f; Puppe AT 1 § 15 Rn. 31; Roxin AT I § 10 Rn. 11, 59; so bereits Eric Wolf Die Typen der Tatbestandsmäßigkeit, 1931, S. 56 ff. 33 Die Sacheigenschaft wurde hier abgelehnt von BayObLG NJW 1980, 132. 34 Dies bedarf insbesondere nach Einfügung des § 90a BGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht“ v. 20.8.1990, BGBl I S. 1762, jedenfalls einer näheren Begründung; vgl. zu dieser Frage insbesondere Küper JZ 1993, 435. 35 B. Heinrich AT I Rn. 127; Roxin AT I § 10 Rn. 11; Eric Wolf (Fn. 32) S. 56 ff. 36 Roxin AT I § 10 Rn. 59. 37 Roxin AT I § 10 Rn. 60 unter Berufung auf Engisch FS Mezger, 1954, 127, 147; so auch Schlüchter (Fn. 10) S. 21. 38 So geht Roxin in FS Tiedemann, 2008, 375, 384 selbst davon aus, dass der Begriff der „Urkunde“ als „straftatbestandlicher Rechtsbegriff“ nur die „soziale Bedeutungskenntnis“ voraussetze. 39 Vgl. hierzu T. Walter (Fn. 9) S. 220 f.

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tives Merkmal – üblicherweise unter Heranziehung des § 90 BGB, d. h. einer Norm aus einem anderen Rechtsgebiet, definiert. Doch selbst wenn man – wie Roxin – die Unterscheidung mit der Maßgabe anerkennt, dass es gleichsam gemischt deskriptiv-normative Tatbestandsmerkmale gibt (was dann wohl bei der Mehrzahl der Tatbestandsmerkmale der Fall sein dürfte) und man, um vorsätzlich zu handeln, die deskriptiven Elemente sinnlich wahrgenommen, die normativen Gehalte jedoch geistig verstanden haben muss,40 ist es völlig unklar, wann das geforderte geistige Verstehen (nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre) bzw. die Kenntnis des „sozialen Sinns“ angenommen werden kann. Warum soll z. B. derjenige, der aus einem Autoreifen die Luft herauslässt und dabei glaubt, nur eine Substanzverletzung unterfalle dem Merkmal des „Beschädigens“ in § 303 StGB, einem unbeachtlichen Subsumtionsirrtum unterliegen,41 während derjenige, der „auf Grund noch so verfehlter rechtlicher Überlegungen sich selbst für den Eigentümer der (in Wahrheit fremden) Sache hält“, nicht wegen Sachbeschädigung (oder Diebstahls) bestraft werden kann, wenn er die Sache vorsätzlich zerstört (oder wegnimmt).42 Müsste dies nicht auch dann gelten, wenn der Täter – nach Laienart wohl kaum mehr nachvollziehbar – der Ansicht ist, dass eine ihm geliehene Sache „bis zu ihrer Rückgabe“ in seinem Eigentum steht und daher für ihn nicht fremd ist oder glaubt, dass er allein durch den Abschluss einen Kaufvertrages (auch ohne Einigung und Übergabe, § 929 BGB) Eigentümer einer Sache wird? Oder wie ist eine Einordnung der (Un-)Kenntnis der Fremdheit vorzunehmen, wenn der Täter einen Postboten, der bei seinem Nachbarn ein Paket abliefern will, durch die Täuschung, er selbst sei der Nachbar, zur Übergabe des Pakets veranlasst?43 Hat der Täter nun den „sozialen Sinn“ seines Handelns verstanden, wenn er davon ausgeht, dass er zwar den Postboten „übers Ohr gehauen“ hat (und insoweit durchaus „bösgläubig“ ist), aber dennoch glaubt, dieser habe ihm das Paket zivilrechtlich wirksam (wenn auch anfechtbar) übereignet?44 Wirft er das Paket später weg, weil es einen für ihn unbrauchbaren Inhalt hat, glaubt aber, dadurch keine fremde Sache zu zer40

Roxin AT I § 12 Rn. 100. Beispiel nach Roxin AT I § 12 Rn. 101. 42 Beispiel ebenfalls nach Roxin AT I § 12 Rn. 103; vgl. auch ders. FS Tiedemann, 2008, 375, 380. 43 Vgl. hierzu die Falllösung bei B. Heinrich JURA 1999, 585. 44 Was nicht der Fall ist, denn für eine Übereignung ist nach § 929 BGB eine Einigung und eine Übergabe erforderlich. Vorliegend fehlt es jedoch an einer solchen Einigung, denn der Postbote handelte nicht als Stellvertreter, sondern nur als Bote für den Absender des Pakets. Dieser Absender wollte aber nur ein Einigungsangebot gegenüber dem Nachbar und nicht gegenüber dem Täter abgeben. Daher liegt keine wirksame Einigung vor; vgl. hierzu B. Heinrich JURA 1999, 589. 41

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stören, da diese ihm ja wirksam übereignet wurde, müsste die überwiegende Ansicht hier (wohl) zu einem Ausschluss des Vorsatzes gelangen, obwohl der Täter genau wusste, dass er sich schäbig verhalten hat. Die Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen führt darüber hinaus aber auch bei Blanketttatbeständen zu deutlichen Ungereimtheiten. Bei diesen Tatbeständen, die eine Strafbarkeit nicht selbst umfänglich regeln, sondern auf andere Normen verweisen (sei es auf Normen an anderer Stelle desselben Gesetzes, sei es auf Normen in anderen Gesetzen), ist nämlich unklar, auf welche Elemente sich der Vorsatz des Täters beziehen muss. Die wohl noch h. M. geht davon aus, dass nur derjenige einem vorsatzausschließenden Irrtum unterliegt, der bei den Blanketttatbeständen über die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausfüllungsnorm irrt (während ein Irrtum über die Existenz der ausfüllenden Norm lediglich als Verbotsirrtum anzusehen ist).45 Dagegen meint die Gegenansicht, der sich inzwischen auch Roxin46 angeschlossen hat, dass auch ein Irrtum über die bloße Existenz der blankettausfüllenden Norm als solcher relevant ist, sodass eine entsprechende Unkenntnis dieser Norm zu einem Tatbestandsirrtum führt.47 Die letztere Ansicht ist dabei insbesondere dann problematisch, wenn man es mit der insoweit herrschenden Schuldtheorie ernst meint.48 Auffallend ist allerdings, dass diejenigen, die diese Ansicht vertreten, teilweise ausdrücklich darauf hinweisen, dass im Nebenstrafrecht sowie im Ordnungswidrigkeitenrecht eben gerade nicht die Schuldtheorie, sondern die Vorsatztheorie angewandt werden müsse49 bzw. jedenfalls die Ergebnisse hier denjenigen der Vorsatztheorie entsprächen.50 Damit aber würde sich auch hier der Kreis schließen und man wäre (wohl) im Ergebnis wieder bei der Rechtsprechung des 45 So die h. M.; vgl. nur BGHSt 3, 400 (403 – Das Merkmal des „pflichtwidrigen Dienens“ in § 356 StGB verweise auf die landesrechtlichen Rechtsanwaltsordnungen; ein Irrtum über ein dort enthaltenes Tatbestandsmerkmal führe zum Tatbestandsirrtum; ein Irrtum über das Merkmal der „Pflichtwidrigkeit“ als solches hingegen zum Verbotsirrtum); Jescheck/Weigend AT § 29 V 3; Kindhäuser AT § 27 Rn. 33; Maurach/Zipf AT I § 23 Rn. 9, § 37 Rn. 12; MüKoJoecks § 16 Rn. 44; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben § 15 Rn. 100 f; Warda Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955, S. 36 ff; nur im Hinblick auf die „unechten“ Blankettgesetze zustimmend LK-Vogel § 16 Rn. 40. 46 Roxin FS Tiedemann, 2008, 275, 381; anders noch Roxin AT I § 12 Rn. 111. 47 Fakhouri Gómez GA 2010, 264; Herzberg GA 1993, 457; Lange JZ 1956, 73; ders. JZ 1957, 234; Müller-Magdeburg (Fn. 23) S. 125 f, 128; NK-Puppe § 16 Rn. 64; Puppe GA 1990, 166, 168 ff; Schröder MDR 1951, 389; Schroth (Fn. 11) S. 36 f, 60 f; Tiedemann (Fn. 9) S. 387 f; ders. ZStW 81 (1969) 876; ders. Geerds-FS, 1995, 95, 108; T. Walter (Fn. 9) S. 361 ff; vgl. hierzu auch Dietmeier Blankettstrafrecht – Ein Beitrag zur Lehre vom Tatbestand, 2002, S. 239; Kuhlen (Fn. 14) S. 385 ff, 421 ff, 429 f, 543 (jedenfalls hinsichtlich sog. „dynamischer Verweisungen“). 48 So auch MüKo-Joecks § 16 Rn. 44. 49 Tiedemann FS Geerds, 1995, 95, 106. 50 Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 382.

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Reichsgerichtes angelangt, welches einen Irrtum über außer-51 oder nebenstrafrechtliche Normen in der Regel als beachtlich angesehen hat.52 Problematisch erscheint dieses Ergebnis – zumindest was die Blankettvorschriften angeht – allerdings deswegen, weil die Strafbarkeit im Bereich der Verbotsunkenntnis dann oft von gesetzgeberischen Zufälligkeiten abhinge. So verzichtete z. B. der Gesetzgeber im Rahmen des Straftatbestandes des § 108b Abs. 1 UrhG auf eine (an sich mögliche) Verweisung auf die zu Grunde liegenden Verbotsnormen der §§ 95a, 95c UrhG und nahm das materielle Verbot ausdrücklich in den Text des § 108b Abs. 1 UrhG auf, um diesen „lesbarer“ zu machen.53 Bei § 108b Abs. 2 UrhG erschien dem Gesetzgeber dieses Vorgehen nicht erforderlich und er begnügte sich mit einem Verweis auf den Verbotstatbestand des § 95a Abs. 3 UrhG. Motiviert war dieses unterschiedliche Vorgehen, wie erwähnt, ausschließlich dadurch, eine bessere Lesbarkeit des Textes zu erreichen. Dies kann – bzw. sollte – nun aber nicht dazu führen, die Unkenntnis des Verbots des § 95a Abs. 3 UrhG infolge des Blankettcharakters des § 108b Abs. 1 UrhG als Tatbestandsirrtum, diejenige der §§ 95a, 95c I UrhG hingegen als Verbotsirrtum anzusehen. Nur zur Ergänzung ist auf weitere offene Fragen in diesem Bereich hinzuweisen: Gesteht man den Blankettgesetzen neben Tatbeständen, die (lediglich) „normative Tatbestandsmerkmale“ verwenden, eine eigenständige Funktion zu, ist es problematisch, wie diese beiden Rechtsfiguren voneinander abzugrenzen sind54 und ob und inwieweit dann beide Gruppen einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ unterliegen. So ist es z. B. schon fraglich, ob es sich bei der „Fremdheit“ der Sache in § 242 StGB nun „lediglich“ um ein normatives Tatbestandsmerkmal handelt oder ob § 242 StGB bereits ein Blankettgesetz darstellt, welches erst durch außerstrafrechtliche Normen (nämlich diejenigen des BGB) ausgefüllt werden muss. Folgt man hingegen der (noch) h. M., wäre zu fragen, ob sämtliche Merkmale der ein Blankett ausfüllenden Norm allein dadurch als „normative Merkmale“ anzusehen sind, weil es zum Verständnis des Straftatbestandes eben dieser weiteren Norm bedarf55 oder ob die jeweilige andere Norm stets zuerst in den Text der Strafvorschrift „hineinzulesen“ ist, um anschließend im Einzelfall zu prüfen, ob das „hineingelesene“ Merkmal als deskrip51 Wobei Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 380 vorschlägt, nicht von außerstrafrechtlichen, sondern von außertatbestandlichen Irrtümern zu sprechen. 52 Vgl. oben I. 53 BT-Drucks. 15/837, S. 35; vgl. hierzu MüKo-Heinrich § 108b UrhG Rn. 2. 54 Zur dieser Problematik vgl. nur LK-Vogel § 16 Rn. 38; Schönke/Schröder-SternbergLieben § 15 Rn. 103. 55 So Hildebrandt Die Strafvorschriften des Urheberrechts, 2001, S. 270; Lauer Der Irrtum über Blankettstrafgesetze am Beispiel des § 106 UrhG, 1997, S. 86; Wandtke/Bullinger-Hildebrandt § 106 UrhG Rn. 35; vgl. auch Roxin FS Tiedemann, 2008, 375, 381.

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tives oder normatives erscheint.56 Wenn es z. B. nach § 106 UrhG strafbar ist, wenn jemand „in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen“ ein urheberrechtlich geschütztes Werk ohne die Einwilligung des Urhebers vervielfältigt, so muss man diese gesetzlich zugelassenen Fälle (in erster Linie normiert in den §§ 44a ff UrhG) bei der Auslegung des Tatbestands des § 106 UrhG berücksichtigen. Werden nun aber alle in den §§ 44a ff UrhG aufgenommenen Merkmale allein durch diesen Verweis zu normativen Merkmalen57 oder muss – nach dem „Hineinlesen“ in den § 106 UrhG – jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob das „hineingelesene“ Merkmal als deskriptives oder normatives anzusehen ist?58 Schon diese Unklarheiten zeigen, wie unsicher eine Abgrenzung im Irrtumsbereich wird, sobald man die Möglichkeit zulässt, Rechtsirrtümern – und sei es auch nur im Ausnahmefall – die Qualität eines Tatbestandsirrtums zukommen zu lassen, der den Vorsatz des Täters ausschließt, obwohl dieser alle seinem Verhalten zu Grunde liegenden Fakten kennt. Der Rechtssicherheit dienlich ist dies nicht und es müssten besondere Gründe vorliegen, die der Annahme einer vorsätzlich begangenen und letztlich „nur“ entschuldigten Tat in den genannten Fällen zwingend entgegenstehen. Diese zwingenden Gründe lassen sich aber kaum finden. Im Gegenteil können gegen die Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen (und der dadurch bedingten teilweisen Anerkennung eines rechtlichen Irrtums als Tatbestandsirrtum) gerade auch materielle Einwände erhoben werden. Denn eine solche Anerkennung hätte zur Folge, dass die Rechtsordnung in diesen Fällen auch bei einem Irrtum über die rechtliche Bewertung (bzw. bei bloßer Unkenntnis einer neben- oder außerstrafrechtlichen Norm) das gesamte Verhalten des Handelnden materiell gerade nicht als (vorsätzlich begangenes) „Unrecht“ einstuft. Existiert in diesem Bereich, wie z. B. bei den Vermögensdelikten oder in vielen Fällen gerade des Nebenstrafrechts, keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, läge daher überhaupt kein strafrechtlich relevantes Unrecht mehr vor, obwohl der Handelnde gegen Regeln verstößt, die der Gesetzgeber eben als solches ansieht. Eine Berücksichtung des den Vorsatz ausschließenden Irrtums bereits auf (subjektiver) Tatbestandsebene hat – daran anknüpfend – weitere Konsequenzen, die im Falle eines bloßen Rechtsirrtums durchaus problematisch 56

So Reinbacher Die Strafbarkeit der Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke zum privaten Gebrauch nach dem Urheberrechtsgesetz, 2007, S. 266. 57 So Hildebrandt (Fn. 55) S. 270; Lauer (Fn. 55) S. 86; Wandtke/Bullinger-Hildebrandt § 106 UrhG Rn. 35. 58 So Reinbacher (Fn. 56) S. 266; vgl. auch Weber Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts, 1976, S. 291, der zwar die einzelnen Merkmale in den § 106 UrhG hineinlesen will, aber andererseits keine Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Merkmalen trifft.

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sein können: So könnten z. B. die übrigen (möglicherweise bösgläubigen) Teilnehmer an der Tat nicht wegen einer Teilnahme an derselben bestraft werden, da es an einer vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Haupttat fehlt. In Betracht käme nur eine mittelbare Täterschaft, die aber gerade bei Sonderdelikten, in denen die „normativen Tatbestandsmerkmale“ häufig anzutreffen sind, nicht möglich ist (dasselbe Problem stellt sich freilich auch dann, wenn die bösgläubigen Hinterleute den Handelnden in einen Irrtum über tatsächliche Umstände versetzen). Als weiterer Kritikpunkt ist ferner anzuführen, dass man dem durch die Tat Verletzten unter Umständen die Möglichkeit nehmen würde, sich gegen das Verhalten des Täters mittels Notwehr zur Wehr zu setzen. Dies ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn man, wie dies teilweise vertreten wird,59 als rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB nur ein vorsätzlich-finales Verhalten anerkennt. Doch auch darüber hinaus macht es im Hinblick auf die Notwehr einen Unterschied, ob der Angreifer sich strafrechtswidrig (da vorsätzlich, wenn auch möglicherweise ohne Schuld handelnd) verhält oder nicht. Schließlich muss noch auf eine weitere Ungereimtheit hingewiesen werden, die aus der herrschenden Lehre folgt. Billigen nämlich die Vertreter der Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen bei einem Irrtum über die rechtliche Bewertung unter gewissen Voraussetzungen dem Täter einen Tatbestandsirrtum zu oder soll dies grundsätzlich dann der Fall sein, wenn der Täter bei Blanketttatbeständen oder im Nebenstrafrecht die zu Grunde liegende Verbotsnorm nicht kennt, so stellt sich die Frage, ob sich diese „Korrektur“ zu Gunsten des Täters in den umgedrehten Fällen (an sich strafloses Wahndelikt) zu seinen Lasten auswirkt und hier möglicherweise dazu führen könnte, dass ausnahmsweise doch ein strafbarer untauglicher Versuch vorliegt.60 Wenn der Täter also beispielsweise annimmt, eine Sachbeschädigung zu begehen, weil er eine ihm übergebene und übereignete Sache wegwirft und dabei glaubt, diese sei für ihn so lange „fremd“, bis er den Kaufpreis vollständig gezahlt hat, was noch nicht der Fall ist, dann müsste man hier konsequenterweise nicht nur ein Wahndelikt, sondern einen untauglichen Versuch annehmen. Denn der Täter irrt sich hier über ein „normatives Tatbestandsmerkmal“ (Fremdheit), was im umgedrehten Fall zum Vorsatzausschluss führen soll. Auch müsste man denjenigen wegen eines untauglichen Versuchs einer Urkundenfälschung, §§ 267, 22 StGB, bestrafen, der Änderungen an einer als solche erkennbaren Kopie 59

Vgl. hierzu Schmidhäuser Studienbuch Strafrecht AT 6/65; vgl. auch Frister GA 1988, 305; Freund AT § 3 Rn. 98; Otto AT § 8 Rn. 20, die neben dem Vorsatz allerdings auch die bewusste Fahrlässigkeit ausreichen lassen. 60 Vgl. hierzu NK-Puppe § 16 Rn. 144 ff.

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vornimmt und dabei davon ausgeht, dass die Rechtsordnung auch Kopien in vollem Umfang Urkundscharakter zugesteht.61 Schließlich müsste man auch stets dann, wenn der Täter bei Blankettnormen oder im Bereich des Nebenstrafrechts irrtümlich glaubt, es würde eine bestimmte Verbotsnorm existieren, anstatt eines Wahndeliktes einen untauglichen Versuch annehmen.62 Diese Konsequenz wurde zwar von der Rechtsprechung mitunter gezogen,63 wird in der Literatur aber überwiegend mit dem Argument abgelehnt, die Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen diene gerade dem Zweck, den Täter im Rahmen komplizierter rechtlicher Wertungen zu entlasten und würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sie nunmehr dazu verwendet würde, eine Strafbarkeit des Täters wegen eines untauglichen Versuchs zu begründen.64 Dogmatisch konsequent ist dies freilich nicht. Insofern müsste man dann auch die Gleichung, dass jeder umgekehrte Verbotsirrtum zu einem Wahndelikt und jeder umgekehrte Tatbestandsirrtum zu einem untauglichen Versuch führt, ohne Not auflösen. Für den Täter würde sich das hier vorgeschlagene Ergebnis, strikt nach Tatsachenirrtum und Rechtsirrtum zu trennen, im Übrigen kaum nachteilig auswirken. Kann man ihm die Tat persönlich nicht zum Vorwurf machen, weil er die entsprechende Verbotsnorm nicht kennt und auch nicht kennen konnte, dann ist dies auf der Ebene zu berücksichtigen, auf der auch sonst die „persönliche Vorwerfbarkeit“ zu einer Straflosigkeit des Täters führt, nämlich auf der Ebene der Schuld. Hier hält der Gesetzgeber inzwischen (im Gegensatz zur Rechtslage vor 1975) mit dem Merkmal der „Vermeidbarkeit“ einen flexiblen Maßstab bereit, mit dem auf die Unkenntnis des Täters von der rechtlichen Norm reagiert werden kann.

61

Was nicht der Fall ist; vgl. nur BGHSt 24, 140; hierzu auch Heinrich CR 1997, 624 f; insoweit konsequent wurde vom OLG Düsseldorf in NStZ 2001, 482 ein untauglicher Versuch angenommen; hiergegen NK-Puppe § 16 Rn. 158 m. w. N. 62 Vgl. hierzu NK-Puppe § 16 Rn. 148 f. 63 Vgl. BGHSt 3, 249 (255): Hier nahm der Täter irrtümlich die Zuständigkeit eines Richters zur Eidesabnahme an; ebenso BGHSt 5, 111 (117); BGHSt 10, 272 (275 f); BGHSt 12, 56 (58); ferner BGHSt 15, 210 (213): Hier nahm der Täter an, eine Strafvereitelung zu begehen, da er irrtümlich davon ausging, ein lediglich ordnungswidriges Verhalten stelle eine Straftat dar; vgl. auch BGHSt 7, 53 (58): Hier irrte sich der Täter über die Urkundeneigenschaft von Lebensmittelmarken (dagegen aber ausdrücklich BGHSt 13, 235 [240 f]); ferner OLG Stuttgart NJW 1962, 65 (66). 64 Bindokat NJW 1963, 747; Hildebrandt (Fn. 55) S. 291; Reinbacher (Fn. 56) S. 276 f; Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 89; differenzierend Schlüchter (Fn. 10) S. 145 ff; Roxin AT II § 29 Rn. 409 ff; ders. JZ 1996, 986 f.

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IV. Ergebnis Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass eine klare Abgrenzung zwischen einem Tatbestandsirrtum und einem Verbotsirrtum eher verwässert wird, wenn man über die Rechtsfigur der „normativen Tatbestandsmerkmale“, die es in ihrer Reinform ohnehin nicht gibt, in Grenzbereichen auch eine falsche rechtliche Bewertung bzw. die Unkenntnis der Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals als vorsatzausschließend ansehen würde. Eine klare Grenzziehung ist hingegen dann möglich, wenn man die an sich klar zu treffende Unterscheidung zwischen einem tatsächlichen Irrtum (Irrtum über einen tatsächlichen Umstand) und einem Irrtum über die rechtliche Einordnung auf sämtliche Tatbestandsmerkmale bezieht, gleichgültig ob diese eher deskriptiv oder eher normativ geprägt sind. Der Jubilar hat dies selbst dereinst plastisch mit einer Privilegierung der „intellektuellen“ Fehlleistung im Vergleich zur „ethisch-moralischen“ Fehlleistung bezeichnet.65 Wer einem Tatbestandsirrtum zum Opfer falle, sei seinen Intentionen nach sozial völlig integriert und mit dem Gesetzgeber über Recht und Unrecht einig. Wer dagegen im Verbotsirrtum handle, habe über Recht und Unrecht andere Vorstellungen als die Rechtsgemeinschaft.66 Dem ist an sich nichts hinzuzufügen und es ergeben sich dabei saubere Lösungen, gleichgültig ob ein Tatbestandsmerkmal nun mehr deskriptiv oder mehr normativ geprägt ist. Wenn die „Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen“ nun aber in Ausnahmefällen eine andere Grenzziehung vornimmt und einen Irrtum über eine Rechtsfrage als Tatbestandsirrtum einordnet, gleichzeitig aber durchaus Unklarheit darüber herrscht, welches Tatbestandsmerkmal denn nun als deskriptiv und welches als normativ anzusehen ist, fördert dies weder die Rechtssicherheit noch gibt diese Unterscheidung dem Richter klare Kriterien an die Hand, wie ein entsprechender Irrtum des Täters einzuordnen ist. Insoweit verlagert sich der Streit, ob der Täter denn nun über eine tatsächliche Frage oder eine rechtliche Wertung geirrt hat, darauf, welchen „Begriffskern“ der Täter nach Laienart richtig erkannt bzw. inwieweit er den „sozialen Sinn“ verkannt hat oder in welchen Randbereichen er sich eine unzutreffende Subsumtion „leisten“ kann, ohne dass dies einen Tatbestandsirrtum ausschließt. Viel gewonnen ist dabei allerdings nicht. Vielmehr steht zu befürchten, dass die „Parallelwertung in der Laiensphäre“ sowie die „Kenntnis des Begriffskerns“ bzw. des „sozialen Sinns“ einer willkürlichen Handhabung Tür und Tor öffnen. Zudem kann bezweifelt werden, ob die wenigen Fälle, in denen ein solcher Irrtum über eine rechtliche Bewertung in der Praxis zu einem Tatbestandsirrtum führt, eine Durchbrechung des 65 66

Roxin ZStW 76 (1964), 604. Roxin ZStW 76 (1964), 604.

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allgemeinen Grundsatzes, dass nur Irrtümer im Bereich des tatsächlichen Erkennens (und nicht im Bereich der rechtlichen Wertung) zu einem Tatbestandsirrtum führen können, rechtfertigen. Eine solche Durchbrechung ist aber auch sachlich nicht angebracht. Wer einem Rechtsirrtum unterliegt oder die Verbotsnorm nicht kennt, irrt sich darüber, dass der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten als rechtswidrig und strafbar ansieht. In diesem Fall muss aber materielles Unrecht vorliegen, welches lediglich dann ausgeschlossen ist, wenn der Täter bereits auf tatsächlicher Ebene Umstände verkennt, die zu einer Strafbarkeit führen. Irrt er sich über die rechtliche Bewertung eines bestimmten Verhaltens, so fehlt ihm lediglich das Unrechtsbewusstsein. Vollzieht der Täter also eine höchst komplizierte bzw. umstrittene juristische Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter ein bestimmtes Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes nicht nach, weil ihm die Bedeutungskenntnis dieses Merkmals fehlt, muss es auch ausreichen, ihm auf Schuldebene einen (dann in der Regel unvermeidbaren) Verbotsirrtum zuzubilligen. Insofern ist die Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen abzulehnen. Für den Täter ist dies im Ergebnis auch keinesfalls ungünstiger, sofern man sich dazu durchringen kann, bei der Vermeidbarkeitsprüfung im Rahmen des § 17 StGB keine überzogenen Anforderungen an die „Anspannung des Gewissens“ zu stellen. Wenn der Täter „nach Laienart“ nachvollziehbar davon ausgehen konnte, dass sein Verhalten der Verbotsnorm nicht unterfällt, oder er den „sozialen Sinn“ seines Handelns nicht versteht, so sollte dies dazu führen, ihm diesen Umstand als unvermeidbaren Verbotsirrtum anzuerkennen. Hier können dann durchaus diejenigen Kriterien angewandt werden, die im Rahmen der „Beachtlichkeit“ eines Irrtums über normative Tatbestandsmerkmale entwickelt wurden. Ein vorsätzliches Verhalten liegt aber in diesen Fällen vor, da der Täter schließlich genau weiß, was er tut. Diesem Ergebnis scheint auch unser Jubilar nicht abgeneigt zu sein, wenn er jedenfalls für diejenigen Fälle, in denen ein Vorsatzausschluss mit dem Gesetz nicht vereinbar wäre, auf der Grundlage einer „weichen Schuldtheorie“ für eine vermehrte Anwendung des unvermeidbaren Verbotsirrtums plädiert.67

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Roxin AT I § 21 Rn. 38 ff; vgl. auch ders. FS Tiedemann, 2008, 375, 388 ff.

Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters Vorschlag eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur Parallelwertung in der Laiensphäre KONSTANTINA PAPATHANASIOU

I. Im Verlauf der jüngeren Geschichte der Irrtumslehre hat sich im Grunde genommen wenig Grundlegendes geändert: Das Gegensatzpaar von Vorsatz- und Schuldtheorie, das Kriterium der Parallelwertung in der Laiensphäre sowie der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale stehen immer noch im Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses und bereiten der Rechtsprechung wie auch dem Schrifttum nach wie vor gewichtige Probleme. Dies liegt darin begründet, dass der Gesetzgeber Begriffe, die mehr oder weniger konturlos sind, verwendet, und damit den Rechtsanwender zwingt, sich darum zu bemühen, die facta unter das wenig bestimmte ius zu subsumieren. Auf dem stürmischen Meer des Strafrechts findet man jedoch immer wieder seinen Weg dank eines Kompasses, und als solchen betrachte ich das Gesamtwerk des verehrten Jubilars, und zwar insbesondere sein auch für die hier diskutierte Problemstellung entscheidendes Schrifttum: Von seiner Dissertation über sein Lehrbuch bis hin zu seinen aktuellen Aufsätzen hat Claus Roxin die Strafrechtsdogmatik geprägt und ihr seinen Stempel aufgedrückt. Der vorliegende Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, das Erfordernis der Parallelwertung in der Laiensphäre bei normativen Tatbestandsmerkmalen erneut zu hinterfragen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, ausgehend von den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Schuldgrund

Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei dem hoch verehrten Jubilar – dem ich zu seinem Geburtstag alles Gute wünsche und dem ich herzlichst gratuliere – für die Chance und das Vertrauen, das er mir entgegengebracht hat, als mir angeboten wurde, einen Beitrag für ihn zu verfassen.

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satzes und des Art. 103 Abs. 2 GG darzulegen, welche Anforderungen an den Vorsatz bei normativen Tatbestandsmerkmalen zu stellen sind, um anschließend zu fragen, ob sich die gesetzgeberischen Regelungen der §§ 16 und 17 StGB im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben bewegen und wie de lege lata der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale 1 zu behandeln ist. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass Schuld im Strafrecht stets Rechtsschuld ist, die auf einen konkreten Straftatbestand bezogen ist. Strafrechtlich vorwerfbare Schuld setzt die gesetzgeberische Entscheidung sowohl darüber, dass ein Verhalten strafbar ist, als auch über die Schwere des Unrechts, die sich in der Strafandrohung widerspiegelt, voraus.2 Der Schuldgrundsatz, der dieser Abhängigkeit der Strafe von der Vorwerfbarkeit zugrunde liegt, ist dabei in der Verfassung verankert.3 Weiterhin garantiert die Verfassung mit Art. 103 Abs. 2 GG, dass der Gesetzgeber selbst die Wertentscheidung über das Unrecht treffen muss und der Bürger die Strafbarkeit vorhersehen kann. Dabei geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass an die Vorhersehbarkeit erhöhte Anforderungen zu stellen sind, soweit die Normadressaten über spezielles, etwa berufsbedingtes Fachwissen verfügen.4 Damit wird aber nicht mehr auf den Bürger als Laien abgestellt. Diesen Vorgaben der verfassungsrechtlichen Judikatur soll bei der Diskussion über die Anforderungen an den Vorsatz bei normativen Tatbestandsmerkmalen Rechnung getragen werden.

II. Wer § 264a Abs. 1 StGB liest, wird darüber informiert, dass einen Kapitalanlagebetrug begeht, „wer im Zusammenhang mit (1) dem Vertrieb von Wertpapieren, Bezugsrechten oder von Anteilen, die eine Beteiligung an dem Ergebnis eines Unternehmens gewähren sollen, oder (2) dem Angebot, die Einlage auf solche Anteile zu erhöhen, in Prospekten oder in Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand hinsichtlich der für die Entscheidung über den Erwerb oder die Erhöhung erheblichen Umstände gegen-

1 Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Formel wird der Begriff „normativ geprägte Tatbestandsmerkmale“ als umfassender und realitätsnäher präferiert. 2 Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 96. 3 BVerfGE 20, 323 (331). 4 BVerfGE 48, 48 (57); BVerfG NJW 1992, 2624; dazu auch LK-Dannecker § 1 Rn. 211; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 189; MüKo-Schmitz § 1 Rn. 49.

Gesetzgeberische Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters 469

über einem größeren Kreis von Personen unrichtige vorteilhafte Angaben macht oder nachteilige Tatsachen verschweigt“. Hierzu wird im Schrifttum zutreffend angemerkt, dass dieser Tatbestand, abgesehen von Unklarheiten hinsichtlich der erfassten Anlagemöglichkeiten und Vertriebsarten, auch ansonsten kein Musterbeispiel an Gesetzesbestimmtheit sei.5 Diesem Verdikt liegt folgendes zugrunde: In Kommentaren, Lehrbüchern und Aufsätzen über den Vorsatz sowie bei Betrachtung der Reichweite der §§ 1, 16 und 17 StGB wird darauf hingewiesen, dass oft Vereinbarkeitsprobleme mit dem in Art. 103 Abs. 2 GG garantierten Nullum-CrimenGrundsatz entstehen können6, und im Anschluss daran wird als Kernfrage fast automatisch die folgende gestellt: Unter welchen Voraussetzungen sind normative Tatbestandsmerkmale im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz zulässig? Hier soll aber eher die Frage gestellt werden, ob das herkömmliche Verständnis von der sozialen Bedeutung der Norm, auf die sich die Parallelwertung in der Laiensphäre beziehen muss, in einem verfassungsrechtlichen System des Strafrechts sinnvoll und ausreichend sein kann. Es geht darum, den materiell-verfassungsrechtlichen Gehalt des Bestimmtheitsgrundsatzes in Bezug auf normative Tatbestandsmerkmale fruchtbar zu machen. Da sich das Wesen einer Strafvorschrift nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung bestimmt, muss diese Gegenstand der Erkenntnis des Täters sein, damit ihm seine Handlung als Unrecht vorgeworfen werden kann, zumal Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit für den Normadressaten der Strafvorschrift garantiert. Es kann auf diese Weise zu einer Verbindung des Bestimmtheitsgrundsatzes mit dem gleichermaßen im Verfassungsrecht verankerten Schuldgrundsatz kommen. Als Lösung soll hier die Formel der „Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters“ vorgeschlagen werden. Drei Beispiele aus der Rechtsprechung der letzten 100 Jahre sollen in die einschlägige Fragestellung einführen: 1. In dem altbekannten „Bierdeckel-Fall“7 sitzt der Gast G in einem Lokal und trinkt Bier. Der Kellner vermerkt jedes dem G servierte Getränk mit 5

Arzt/Weber BT § 21 Rn. 85. Siehe dazu Dierlamm FS Krey, 2010, 27-38 zur Verfassungsmäßigkeit des § 393 Abs. 2 S. 2 AO; Enderle Blankettstrafgesetze: Verfassungs- und strafrechtliche Probleme von Wirtschaftsstraftatbeständen, 2000, S. 113 ff; Lenckner JuS 1968, 249 ff, 304 ff; Naucke Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973, S. 18 ff; Seel Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz nullum crimen sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG), 1965; Wex Die Grenzen normativer Tatbestandsmerkmale im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz „Nullum crimen sine lege“, 1969. 7 RG DStR 1916, 77. 6

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einem Strich auf dem Bierdeckel. Der Anblick der vielen Striche stimmt G traurig, so dass er „zur Schonung seines Geldbeutels einzelne dieser Striche wegradiert“.8 Wegen Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1 StGB) angeklagt, macht G zu seiner Verteidigung geltend, nicht gewusst zu haben, dass Striche auf Bierdeckeln strafrechtlich als Urkunden behandelt werden; Urkunden, so habe er gedacht, seien nur Schriftstücke. 2. Ungefähr 40 Jahre später entscheidet der BGH den „KreditinstituteFall“.9 Hier bot der Angeklagte durch Anzeigen in Tageszeitungen Motorräder gegen wöchentliche Ratenzahlungen an und schickte auf Anfrage auch einen Bilderkatalog zu. Er holte Auskünfte über die Kreditwürdigkeit der an einem Motorrad interessierten Kunden ein, nachdem sie in wöchentlichen Raten 20% des Kaufpreises gezahlt hatten. Dann konnten die Kunden sich nach einer Maschine der gewünschten Art selbst umsehen, ihm die Anschrift des Händlers mitteilen und weitere 13,33% des Kaufpreises an ihn (den Angeklagten) bezahlen. Anschließend schickte der Händler dem Angeklagten die Rechnung zu, erhielt den Kaufpreis abzüglich eines Verdienstanteils des Angeklagten und händigte das Kraftrad dem Käufer aus, von dem der Angeklagte einen Teilzahlungsaufschlag von 5% bis 20% je nach der Dauer der Abzahlung und eine Auskunfts- und Bearbeitungsgebühr von 2% des Kaufpreises erhob.10 Der BGH hatte hier die Frage zu beantworten, ob der Angeklagte hätte erkennen müssen, dass es sich bei seinen Geschäften um die eines „Kreditinstitutes“ handelte, deren Betreiben einer ausdrücklichen Erlaubnis bedurfte. 3. Weitere 50 Jahre später ereignete sich der „Pilze-Fall“:11 Der Angeklagte erwarb als Betreiber des Ladengeschäfts „S.“ von einem oder mehreren unbekannten Lieferanten zwischen 8,0 und 22,7 kg psilocybin- und psilocinhaltige Pilze mit einem Wirkstoffgehalt von 0,08% Psilocin. Er veräußerte die Pilze anschließend gewinnbringend an gewerbliche und nichtgewerbliche Abnehmer, nachdem er sie in „Duftdosen“ und „Duftkissen“ gefüllt hatte, um ihre Bestimmung für den Konsum als Betäubungsmittel zu verschleiern. Zu seiner Verteidigung führte der Angeklagte aus, bei den 8 Roxin AT I § 12 Rn. 102; siehe auch Jescheck/Weigend AT § 29 V 7a; Krey AT I Rn. 377; Kühl AT § 5 Rn. 94; Herzberg/Hardtung JuS 1999, 1073 f. Vgl. Kindhäuser GA 1990, 417 f und Schulz FS Bemmann, 1997, 246, 253. 9 BGHSt 4, 347; Roxin Offene Tatbestände, 1970, S. 76; Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1983, S. 55 f. Diese Entscheidung war ferner Anlass zu dem damaligen Streit zwischen R. Lange JZ 1956, 73 ff, 259 ff und Welzel JZ 1956, 238 ff über die Richtigkeit entsprechend der Vorsatz- bzw. Schuldtheorie; vgl. dazu Dannecker ZLR 2000, 58, 63. 10 BGHSt 4, 347 (348). 11 BGH 1 StR 384/06, Beschluss vom 25.10.2006 = HRRS 2006 Nr. 954; dazu auch Montiel/Ludeña ZIS 2010, 618 ff.

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Pilzen habe es sich nicht um Pflanzen oder Pflanzenteile im Sinne der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG und somit nicht um ein Betäubungsmittel im Sinne des BtMG gehandelt. Trotz ihres zeitlichen Abstands befassen sich alle drei Entscheidungen mit derselben Frage: Wie lässt sich der Vorsatz in Bezug auf normative Tatbestandsmerkmale bestimmen? Im ersten Fall handelt es sich bei den Strichen des Wirtes auf dem Bierdeckel um Beweiszeichen, also um eine Urkunde. Jeder Strich enthält die verkörperte Gedankenerklärung des Wirtes: „Ich habe dir, Gast, ein Bier gebracht“; die Striche sind zum Beweis geeignet und bestimmt und lassen für die Beteiligten den Aussteller (den Wirt) erkennen.12 Bei dem zweiten Fall ist angenommen worden, es reiche „für die Kenntnis der Tatumstände aus, wenn der Angeklagte sich nicht nur der äußeren Tatsachen, sondern auch dessen bewußt war, daß sein Unternehmen auf dem Vertrauen zahlreicher kleiner Geldgeber beruhte, daß er mit diesen Geldern, wirtschaftlich gesehen, die Anschaffung von Motorrädern finanzierte und seinen Gewinn nicht nach Art eines Einzelhändlers aus dem vorteilhaften Einkauf und günstigen Verkauf von Waren nach kaufmännischen Gesichtspunkten, sondern aus der Annahme und Anlage fremder Gelder zog“. 13 Bei dem dritten Fall war nach Auffassung des BGH „der Wortlaut der den Anwendungsbereich des BtMG bestimmenden Regelungen geeignet, dem Normadressaten den gesetzgeberischen Willen, auch den Umgang mit psilocybin- und psilocinhaltigen Pilzen unter Strafe zu stellen, zu vermitteln“, und „die Bedeutung des Pflanzenbegriffs … nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen und nicht anhand der spezifisch wissenschaftlichen Terminologie in der Biologie“.14 Während der erste Fall einen Bürger betraf, der im Rahmen des alltäglichen Lebens den Bedeutungsgehalt einer „Urkunde“ falsch wahrgenommen hatte, waren Täter des zweiten und dritten Falles Bürger, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit spezielle Normadressaten waren, an die, wenn man der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BVerfG folgt, erhöhte Anforderungen im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit zu stellen sind.

12

So Krey/M. Heinrich BT 1 Rn. 685. BGHSt 4, 347 (352). 14 BGH NJW 2007, 524, 525. 13

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III. Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale entfaltet das Terzett der Irrtumslehre, indem er bald einen Tatbestands-, bald einen Verbots-, bald einen unbeachtlichen Subsumtionsirrtum darstellt, und wirft damit „die intrikatesten Fragen der Jurisprudenz“15 auf. Dieser Irrtum wird zutreffend von Schünemann als ein „dogmatisches Labyrinth“16, von Jakobs als eine „konfuse Lage“17 und von Zipf als das „derzeit am wenigsten gelöste Problem der gesamten Irrtumslehre“18 charakterisiert, während für Hardwig19 die Dogmengeschichte des Irrtums „eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen seit alters her“ ist. Die normativen Tatbestandsmerkmale wurden bekanntlich von Max Ernst Mayer20 „entdeckt“, als Gegensatz zu den deskriptiven, sinnlich wahrnehmbaren Elementen.21 Die Trennung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen bezeichnet der verehrte Jubilar als „eine alle Tatbestände betreffende, deshalb in den Allgemeinen Teil gehörende und vor allem für den objektiven Tatbestand wichtige Unterscheidung“22. Und er erklärt ergänzend kurz und bündig, diese Trennung habe „für die Abgrenzung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit und für die Entwicklung der heute herrschenden Auffassung vom Tatbestand als Unrechtstyp große Bedeutung gehabt. Auch für die Lehre vom Vorsatz ist die Unterscheidung wichtig … Darüber hinaus spielen die normativen Tatbestandsmerkmale wegen der in ihnen meist vorausgesetzten rechtlichen Wertung eine Rolle bei der Frage, ob die vom StGB verlangte Unterscheidung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum in allen Fällen rein durchführbar ist.“23 Der Vorsatz bezüglich deskriptiver (beschreibender) Tatbestandsmerkmale lässt sich nach h. M. durch das bloße Erkennen der Tatsachen begründen, nämlich durch die einfache sinnliche Wahrnehmung von Tatumständen.24 15

Schröder MDR 1950, 650. LK11-Schünemann § 292 Rn. 65. 17 Jakobs AT 8/52. 18 Maurach/Zipf AT I § 37 Rn. 48. 19 Hardwig ZStW 78 (1966), 28. 20 Mayer AT, 1915, S. 182. 21 Zutreffend merkt dabei Schlüchter (Fn. 9) S. 21 an: „Das Attribut des Normativen ist nämlich nicht etwa einigen Tatbestandsmerkmalen kraft Gesetzes verliehen worden, sondern die Dogmatik hat die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Elementen entwickelt.“ 22 Roxin AT I § 10 Rn. 57. 23 Roxin AT I § 10 Rn. 57. 24 Jescheck/Weigend AT § 26 IV 1, § 29 II 3; Roxin AT I § 10 Rn. 58; § 12 Rn. 89; SKRudolphi § 16 Rn. 21; Schroth Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 17 ff; Herberger Die deskriptiven und die normativen Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, in: Herberger/H. J. Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 124 ff. 16

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Bei normativen Tatbestandsmerkmalen kommt zu dieser reinen Tatsachenkenntnis eine Bedeutungskenntnis hinzu, im Sinne eines ergänzenden Werturteils25, das sich aufgrund der sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre“26 vollzieht.27 Häufig erscheint es jedoch äußerst fragwürdig, an die Parallelwertung in der Laiensphäre anzuknüpfen, da die rein rechtlich-normativen Tatbestandsmerkmale ausschließlich juristisch und keinesfalls laienhaft zu begreifen sind28, was umso deutlicher wird, je weiter man sich von den delicta per se entfernt und den mala prohibita nähert. Interessante Überlegungen stellt in diesem Zusammenhang Maiwald an, der anhand des Tatbestands der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO29 ein Zwei-Stufen-Mo-

25

BGHSt 3, 248 (255). Mezger JW 1927, 2006 ff; ders. Strafrecht, 1931, S. 328. Welzel JZ 1954, 279 sprach hingegen von einer „Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein“, die, so Roxin FS Tiedemann, 2008, 384, den Sachverhalt besser bezeichnet. Aus der Literatur vgl. Baumann/Weber/Mitsch AT 21/5; Fischer § 16 Rn. 14; Jakobs AT 8/49; Jescheck/Weigend AT § 29 II 3a; MK-Joecks § 16 Rn. 41 f; Arthur Kaufmann Die Parallelwertung in der Laiensphäre, 1982, S. 20; Otto Meyer GS, 1990, 587; NK-Puppe § 16 Rn. 41; Roxin AT I § 12 Rn. 101; SK-Rudolphi § 16 Rn. 23; LK-Vogel § 16 Rn. 25 ff. Ebenso die ganz h. M. in Griechenland, siehe Androulakis AT I S. 289 (auf Griechisch); Chorafas AT, Bd. 1, S. 259 (auf Griechisch); Mangakis Das Unrechtsbewußtsein in der strafrechtlichen Schuldlehre nach deutschem und griechischem Recht, 1954; Mylonopoulos AT I S. 283 (auf Griechisch). 27 Eine präzise und klar umrissene Grenzziehung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen ist jedoch nicht möglich. Deshalb wird im Schrifttum oft dargelegt, dass alle Merkmale mehr oder weniger deskriptiv oder normativ seien (so Backmann JuS 1972, 328 Fn. 28; Baumann JZ 1960, 10; Kohlmann Der Begriff des Staatsgeheimnisses [§ 93 StGB und § 99 Abs. 1 StGB a. F.] und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften [Art. 103 Abs. 2 GG], 1969, S. 236, 256; Mlosch Der Irrtum über die normativen Merkmale von Rechtfertigungsgründen, 1980, S. 80, 85 ff, 90; Stratenwerth/Kuhlen AT § 8 Rn. 69), oder dass es nur deskriptive Merkmale (so Kunert Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände, 1958, S. 84 ff, 93) oder nur normative Merkmale gebe (so Goldschmidt FG Frank, Bd. I, 1930, 448; Wolf RG-Festgabe V, 1929, S. 55 f). Dopslaff (GA 1987, 1) schlägt vor, auf diese Trennung überhaupt zu verzichten. 28 Roxin FS Tiedemann, 2008, 378 ff. 29 Nach Maiwald Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 1984, S. 16 ff ist die Steuerverkürzung ein normatives Tatbestandsmerkmal; zu den „steuerlich erheblichen Angaben“ ebenso Bachmann Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, 1993, S. 172 f; Backes Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, 1981, S. 158; Bülte BB 2010, 1766; LK-Dannecker § 1 Rn. 149; Enderle (Fn. 6) S. 243 f; von der Heide Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, 1986, S. 194 ff; Ransiek HRRS 2009, 424; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht BT, 2008, § 4 Rn. 113; Walter FS Tiedemann, 2008, 977 ff. Nach h. M. aber geht es bei der Steuerhinterziehung um ein Blankettstrafgesetz (BVerfGE 37, 201 [208]; BGH NStZ 1982, 206; BGHSt 20, 177 [180]; MüKo-Schmitz/Wulf § 370 AO Rn. 323; Warda Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955, S. 13 f; kritisch dazu Dannecker FS Samson, 2010, 257, 262 ff). 26

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dell30 vorschlägt und dabei zutreffend bemerkt: „Hat der Laie eine solche Vorstellung, so ist dies aber nichts anderes, als daß er die wesentlichen Zweckzusammenhänge der betreffenden rechtlichen Regelung und damit die Grundzüge des jeweiligen Rechtsinstituts kennt. Das ist weniger eine Parallelwertung als vielmehr eine wenigstens rudimentäre Kenntnis der Rechtslage.“31 Der verehrte Jubilar zählt zu den Tatbestandsmerkmalen neben den normativen auch die sog. gesamttatbewertenden Merkmale 32, die im Grunde genommen die von Welzel entwickelte Lehre von den Rechtspflichtmerkmalen ersetzt haben. Im Einzelnen handelt es sich um jene Merkmale, in denen sich beschreibende und unrechtsbestimmende Elemente verschlingen33 und die den Täter unmittelbar seine Rechtspflicht erkennen lassen.34 Das Wesen der gesamttatbewertenden Merkmale liegt nach der Formulierung Roxins darin, dass die Kenntnis eines solchen Merkmals im Regelfall notwendig mit der Verbotskenntnis zusammenfällt35, und von daher sei der Irrtum darüber bald Tatbestands-, bald Verbotsirrtum.36 Für die Irrtumslehre erscheint allerdings die Trennung zwischen Tatbeständen mit normativen Tatbestandsmerkmalen und Blankettstrafgesetzen von entscheidender Bedeutung zu sein37. Nach der h. M. im Schrifttum und der ständigen Rechtsprechung des BGH heißt es insbesondere, dass bei den normativen Tatbestandsmerkmalen eine Parallelwertung in der Laiensphäre 30 „Auf der ersten Stufe geht es um die Kenntnis der sozialen Bedeutung des Täterhandelns in der vorgefundenen Situation, auf der zweiten Stufe um die Möglichkeit zu erkennen, daß das so erfaßte Geschehen Unrecht darstellt“ (S. 19). Dieses Modell lässt sich nach Maiwald bei der Steuerhinterziehung nicht durchführen, anzuwenden ist deshalb bei fehlender Kenntnis des Steueranspruches Art. 17 StGB (S. 15, 21-24). 31 Maiwald (Fn. 29) S. 19-20. 32 Vgl. Herdegen Der Verbotsirrtum in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, 195 ff; Jescheck/Weigend AT § 25 II 2, § 41 II 1a; Krümpelmann GA 1968, 120 ff; Puppe GA 1990, 145 ff, 177 (sie behandelt die „strafbarkeitsbegründenden Wertprädikate“ in gleicher Weise); Schaffstein FS OLG Celle, 1961, 175 ff; LK-Vogel § 16 Rn. 50. 33 Roxin (Fn. 9) S. 135. 34 Roxin (Fn. 9) S. 81. Zu diesen „rechtswidrigkeitsumschließenden Merkmalen“ gehört beispielsweise die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung in §§ 113, 117 StGB, die Zuständigkeit der Behörde oder einer Stelle in §§ 153 ff StGB, die Verletzung fremden Jagdrechts in § 292 StGB, die Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung bzw. des erstrebten Vermögensvorteils in §§ 242, 253, 263 StGB, der Steueranspruch des damaligen § 396 RAbgO – heute § 370 AO (S. 76 ff, 80 ff, 132 ff). 35 Roxin (Fn. 9) S. 86. 36 Roxin (Fn. 9) S. 132 ff. Anders Puppe (NK § 16 Rn. 52 ff), die über „sachverhaltsbewertende Merkmale“ spricht und dabei § 17 StGB anwenden will. 37 Siehe dazu nur Bachmann (Fn. 29) S. 22 in fine, 23 ff; Backes (Fn. 29) S. 111 ff; Hildebrandt Der Irrtum im Bußgeldrecht der Europäischen Gemeinschaften, 1990, S. 103 ff; Warda (Fn. 29) S. 6 ff.

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notwendig ist, während bei den Blankettstrafgesetzen der Täter nur die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der außerstrafrechtlichen Norm kennen und wollen, nicht hingegen Kenntnis des sozialen Bedeutungsgehalts haben muss.38 Eine solche Unterscheidung lässt jedoch außer Acht, dass das normative Element der Verweisung auf außerstrafrechtliche Normen Teil des Tatbestandes und damit auch Bezugspunkt des Vorsatzes ist.39 Das bedeutet, dass genau wie bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen der Täter bei Blankettstrafgesetzen die Ausfüllung der Verweisung mit vollzogen haben muss, mit anderen Worten, die Normen oder zumindest die Wertungsergebnisse kennen muss.40 Oder es ist, wie Jakobs hierbei differenzieren will, nachzuprüfen, ob es nur um Ungehorsam gegenüber der ausfüllenden Norm geht oder ob der Regelungseffekt der ausfüllenden Norm in seinem Bestand gesichert werden soll; im zweiten Fall sei dieser Effekt normatives Tatbestandsmerkmal und müsse daher Gegenstand des Vorsatzes sein.41 Ist es dennoch sachgerecht, Blankett- und normative Tatbestandsmerkmale trotz ihrer ähnlichen Struktur nur betreffs und wegen der Annahme oder Nicht-Annahme einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ unterschiedlich zu behandeln? Bei der Parallelwertung geht es eigentlich um ein zur Konkretisierung des Tatbestandsvorsatzes und dementsprechend zur Behandlung des Irrtums über normative Tatbestandsmerkmale vielversprechendes Kriterium, dem aber stets Bedenken, Einwände und Vorwürfe entgegengehalten werden.42 Ist es also letztendlich geboten, sich von der Parallelwertung gänzlich zu verabschieden? Die Wahrheit liegt, so denke ich, in der Mitte. Ausgangpunkt der Neubewertung der Parallelwertung in der Laiensphäre sollte dabei ein verfassungsrechtlicher Ansatz sein.

Backes (Fn. 29) S. 112-113; Staub-Dannecker HGB4 Vor §§ 331 ff Rn. 96; Jescheck/ Weigend AT § 29 V 3; LK-Vogel § 16 Rn. 36 ff; Warda (Fn. 29) S. 36 ff; Maiwald (Fn. 29) S. 16; NK-Puppe § 16 Rn. 60-67. 39 Staub-Dannecker HGB4 Vor §§ 331 ff Rn. 96. 40 Dannecker ZLR 2000, 64; Tiedemann FS Geerds, 1995, 108. 41 Jakobs AT 8/47. 42 Puppe GA 1990, 145 ff, 176 („Lippenbekenntnisse“); Herzberg JuS 2008, 385 ff; Safferling Vorsatz und Schuld 2008, 138 f („impliziert irreführende Assoziationen“); Kindhäuser GA 1990, 407 ff; Schlücher (Fn. 9) S. 115 f. Resignierend wird von Wessels/Beulke AT Rn. 243 angemerkt: „Diese Position hat sich allerdings ebenfalls noch nicht durchgesetzt. Mangels einer vorzugswürdigeren Konzeption ist es daher trotz aller Bedenken ratsam, sich der herrschenden Lehre anzuschließen.“ 38

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IV. Prinzipiell soll als gegeben angenommen werden, dass eine gewisse Unbestimmtheit der Strafvorschriften notwendig ist: Insbesondere im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts (zu dem auch das Umweltstrafrecht gezählt werden kann) werden bekanntlich häufig Generalklauseln verwendet, die als extreme Form normativ unbestimmter Tatbestandsmerkmale verstanden werden können.43 Die bewusste Weite solcher Elemente dient nach dem Bundesverfassungsgericht dem Zweck, dass die Gesetze dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls gerecht werden und bleiben können44, zumal ohne die Verwendung solcher Begriffe der Gesetzgeber nicht in der Lage wäre, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden.45 Wie eingangs betont, ist daher nicht als Ausgangspunkt zu wählen, unter welchen Voraussetzungen ein normatives Tatbestandsmerkmal verfassungsmäßig ist bzw. sein kann, sondern wie das Wissenselement des Vorsatzes bei normativ geprägten Tatbestandsmerkmalen mit dem Bestimmtheits- und Schuldgrundsatz überhaupt in Verbindung gebracht werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Straf- und Bußgeldvorschriften mit offenen Begriffen oder um Verweisungen auf EURecht bzw. auf Rechtsverordnungen handelt. Das Grundgesetz enthält in Art. 103 Abs. 2 GG Vorgaben, denen das materielle Strafrecht entsprechen muss: Mit der Einführung einer Strafnorm muss der Gesetzgeber die Wertentscheidung über das Unrecht treffen. Diese Entscheidung muss hinreichend bestimmt sein, damit der Bürger sie erkennen kann und die Strafbarkeit für ihn vorhersehbar ist. Obwohl sich Art. 103 Abs. 2 GG ganz allgemein an den Bürger richtet, geht das BVerfG in seiner Rechtsprechung davon aus, dass der jeweilige Adressatenkreis berücksichtigt werden kann: Wenn sich Strafvorschriften an spezielle Normadressaten wenden, die aufgrund ihres Fachwissens im Stande sind, den Regelungsinhalt spezieller Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen, werden Erkundigungspflichten statuiert, während an den normalen Bürger geringere Anforderungen an die Vorhersehbarkeit gestellt werden.46 Mit der Differenzierung je nach Täterkreis ist der Bereich der Laiensphäre bereits faktisch verlassen. 43 Tiedemann Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, 95 f; LK-Dannecker § 1 Rn. 208 f. 44 BVerfG BeckRS 2010, 51332. Vgl. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 111. 45 BVerfGE 73, 206 (253); 75, 329 (341); LK-Dannecker § 1 Rn. 199. Vgl. auch BGH NJW 1992, 445 zum Merkmal „unbefugt“ des Art. 263a StGB. Siehe ergänzend BVerfG NJW 2002, 1779 zu der Strafandrohung. 46 BVerfGE 48, 48 (57); BVerfG NJW 1992, 2624; BVerfG BeckRS 2010, 51332; LKDannecker § 1 Rn. 211; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 189; MüKoSchmitz § 1 Rn. 49.

Gesetzgeberische Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters 477

Wenn man sich von der Parallelwertung in der Laiensphäre entfernt, wird die gesetzgeberische Grundentscheidung, die sich im Verständnishorizont des (konkreten) Täters widerspiegelt, zum Anknüpfungspunkt des Vorsatzgegenstandes: Schon vor 20 Jahren hat Tiedemann betont, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber selbst zumindest eine Grundentscheidung über den Rahmen der Strafbarkeit treffen müsse, darüber, was strafbar sein soll47, eine Entscheidung, die er nicht an die Verwaltung oder eine andere Stelle delegieren darf.48 Diese Verpflichtung dient nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG unter anderem dem Zweck sicherzustellen, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet49; er soll mit anderen Worten in seinen Gesetzen einen Regelungsrahmen vorgeben.50 Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen. 51 Im Regelfall muss mithin der Normadressat anhand der gesetzlichen Vorschrift selbst voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist 52, während es unvermeidlich ist, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten schon bzw. noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt53. Im Hinblick darauf muss für den Normadressaten aber zumindest das Risiko einer Bestrafung erkennbar sein54. Gleich dem, wie sich die Sachlage bei den Strafvorschriften darstellt, sind auch im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts die Hauptaussagen des BVerfG gelagert: Das etwa einstündige Klavierspiel von Präludien und Französischen Suiten von Bach sonntags bis gegen 19 Uhr in der eigenen Wohnung zu Übungszwecken war als eine „erhebliche Ruhestörung“ be-

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Tiedemann (Fn. 2) S. 46. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 103. 49 BVerfGE 78, 374 (382); 87, 399 (411); 95, 96 (131). 50 So LK-Dannecker § 1 Rn. 205. 51 BVerfGE 75, 329 (341) m. w. N.; BVerfG HRRS 2010, 364, 365. 52 BVerfGE 48, 48 (56); 92, 1 (12). Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627, 3628 zu der Frage, ob der Einsatz eines Kraftfahrzeuges als Waffe angesehen werden kann. Die Antwort war negativ, denn „der allgemeine Sprachgebrauch bezeichnet danach Gegenstände als Waffen, wenn ihre primäre Zweckbestimmung darin liegt, im Wege des Angriffs oder der Verteidigung zur Bekämpfung anderer eingesetzt zu werden, oder wenn eine solche Verwendung zumindest typisch ist … Die bloße Möglichkeit, einen Gegenstand auch in zweckentfremdender Benutzung zur Bekämpfung von Zielen zu verwenden, genügt zur Begründung der Waffeneigenschaft danach jedenfalls nicht“. 53 BVerfGE 87, 209 (223 f). 54 BVerfGE 71, 108 (115); 87, 209; BVerfG NJW 2001, 1848, 1849; kritisch dazu LKDannecker § 1 Rn. 197 ff; vgl. auch Küper JuS 1996, 783 ff; Müller-Dietz FS Lenckner, 1998, 179. 48

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wertet worden55, und zwar ausschließlich unter Berufung auf die Zeugenaussage (des Nachbarn und) des herbeigerufenen Polizeibeamten. Auf diese Weise, so das BVerfG, bestimme nicht der „in der Norm zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers“56 abstrakt-generell über die Sanktionswürdigkeit, vielmehr sei der vollziehenden Gewalt ein Entscheidungsspielraum hierüber eingeräumt. Damit sei es aber für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar, welches Verhalten durch den Gesetzgeber sanktionsbewehrt ist; somit sei das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verletzt.57 Ähnlich verhält es sich ferner bei Verweisungsketten mit – nach dem Vertrag von Lissabon – unionsrechtlichen Bezügen.58 Als Beispiel hierfür soll die Frage dienen: Erfüllt die Hinterziehung der Zusatzabgabe auf Milch, die Milcherzeuger bei Überschreiten der für sie festgelegten Produktionsquote zahlen müssen, den Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO?59 Das BVerfG hat entschieden, dass, wer das Quotensystem nach Marktordnungsgesetz, Verordnung Nr. 3950/92 und Milch-Garantiemengen-Verordnung nicht wenigstens der Sache nach kannte, von vornherein nicht in Gefahr stand, sich wegen unlauterer Beteiligung daran strafbar zu machen.60 Es wurde ferner die ständige Auffassung der Rechtsprechung wiederholt, der zufolge Art. 103 Abs. 2 GG die Verpflichtung des Gesetzgebers enthält, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen”.61 Hinsichtlich der Verweisungen des parlamentarischen Gesetzgebers auf Rechtsverordnungen soll gleichermaßen den Formulierungen des Bundes-

55 „Der Nachbar R, fühlte sich hierdurch gestört und rief nach einer halben bis einer dreiviertel Stunde die Polizei zum Ort. Er will das Klavierspiel zwar wochentags, nicht aber an Sonntagen hinnehmen“ (aus dem Sachverhalt der Entscheidung BVerfG NJW 2010, 754). Zum gesetzlichen Hintergrund: Gemäß § 4 LImSchG Berlin ist es an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen verboten, Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Berlin handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 4 LImSchG Berlin ohne eine zugelassene Ausnahme nach § 10 LImSchG Berlin oder eine Genehmigung nach § 11 LImSchG Berlin Lärm verursacht, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird. 56 BVerfG NJW 2010, 754, 755; ähnlich etwa die Entscheidungen BVerfGE 71, 108 (114 f); 73, 206 (234 ff); 78, 374 (381 f); 92, 1 (12); 105, 135 (157). 57 BVerfG NJW 2010, 754 (755 f). 58 Vgl. dazu BVerfG LMRR 1978, 9; aus dem Schrifttum siehe Böse FS Krey, 2010, 7-25. 59 BVerfG BeckRS 2010, 51332; dazu Landau ZStW 121 (2009), 969. 60 BVerfG BeckRS 2010, 51332. 61 BVerfGE 71, 108 (114); 73, 206 (234); 75, 329 (340); 78, 374 (381); 92, 1 (11 ff); BVerfG NJW 2001, 1848, 1849; 2002, 3163; 2005, 2140, 2141; 2008, 3627; BGH NJW 1996, 1482.

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verfassungsgerichts Rechnung getragen werden:62 Der Gesetzgeber darf hierbei nur materiell wertwidrige Verhaltensweisen als strafbar erfassen und „muß die Ermächtigung zur Strafandrohung unzweideutig aussprechen und dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißen, daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aus der Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung voraussehbar sind.“63 Es gilt also allgemein für jede strafrechtliche Vorschrift, welcher Beschaffenheit auch immer: Ob der Tatbestand einer Strafnorm im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gesetzlich bestimmt ist, muss nach Auffassung des BVerfG auch danach bestimmt werden, an welchen Kreis von Adressaten sich die Vorschrift wendet.64 Richtet sie sich ausschließlich an Personen, bei denen aufgrund ihrer Ausbildung oder praktischen Erfahrung bestimmte Fachkenntnisse regelmäßig vorauszusetzen sind, und regelt sie Tatbestände, auf die sich solche Kenntnisse zu beziehen pflegen, so soll die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG keinen Bedenken begegnen65, solange überhaupt davon ausgegangen werden kann, dass „der Adressat aufgrund seines Fachwissens imstande ist, den Regelungsinhalt solcher Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen“,66 und es sich um einen feststehenden Kreis spezieller Normadressaten handelt.67 Nach diesen Überlegungen soll der Verständnishorizont des Täters bestimmt werden. In diesem Beitrag soll allerdings das Bestimmtheitsgebot nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Schuldprinzip zur Unterstützung der hier vorgeschlagenen Formel herangezogen werden. 68 Auch das Schuldprinzip, das aus dem Rechtsstaatsprinzip erwächst, hat Verfassungsrang.69 Anerkanntermaßen „können Bedenken gegen die ... Regelung des § 17 StGB nicht hergeleitet werden. Nach diesem Grundsatz setzt jede Strafe Schuld voraus

62

Siehe nur BVerfGE 14, 174 (185 f) m. w. N. sowie BVerfGE 32, 346 (362). BVerfGE 8, 274 (307); 10, 251 (258); 14, 174 (185). 64 So BVerfGE 48, 48 (56). 65 Vgl. BVerfGE 48, 48 (57), st. Rspr. 66 BVerfG BeckRS 2010, 51332; vgl. auch BVerfGE 48, 48 (57), st. Rspr. 67 Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 189; LK-Dannecker § 1 Rn. 211. 68 Das Gesetzlichkeitsprinzip kann nicht aus dem Schuldprinzip hergeleitet werden, weil der Schuldvorwurf sich nicht auf die Kenntnis des Strafgesetzes, sondern auf die des Verbots der einschlägigen Handlung bezieht (so LK-Dannecker § 1 Rn. 61; a. A. Roxin AT I § 5 Rn. 25.). Doch kreuzen sich die Wege beider Prinzipien in dem hier neuralgischen Punkt der Grundentscheidung des Gesetzgebers. 69 BVerfGE 20, 323 (331); 80, 244 (255) m. w. N. Vgl. auch Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 170. 63

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(nulla poena sine culpa)”.70 Entsprechend hat BGHSt 2, 194 (200) erklärt, Strafe setze Schuld voraus und Schuld sei Vorwerfbarkeit.71 Ein Verhalten kann also nur bestraft werden, wenn der Täter dafür verantwortlich ist, andererseits aber „schließt nicht jeder Verbotsirrtum den Vorwurf der Schuld aus. Mängel im Wissen sind bis zu einem gewissen Grad behebbar“.72 Im diesem Zusammenhang sagt auch Roxin, dass Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums anzunehmen ist, „wenn man dem Täter aus seiner Fehlvorstellung keinen eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat erfordernden Vorwurf machen kann“.73 Das Maß der Anspannung des Gewissens, so weiter der BGH, „richtet sich nach den Umständen des Falles und nach dem Lebens- und Berufskreis des Einzelnen“.74

V. Die gesetzgeberische Grundentscheidung über die materiellen wertwidrigen Verhaltensweisen kann als ein allen Straftatbeständen immanentes Merkmal betrachtet werden, welches daher Gegenstand des Vorsatzes sein muss. Sie betrifft nicht nur die im StGB stehenden Vorschriften, sondern gleichermaßen alle Nebenstrafgesetze sowie alle Ordnungswidrigkeiten. 75 Hinzu kommen alle Blankettstrafgesetze. Damit entfällt die schwierige Frage nach der Abgrenzung zwischen Blankettstrafgesetzen und normativen Tatbestandsmerkmalen. Denn nun kehrt man zum Ausgangspunkt zurück, um alles unter einem anderen – und zwar dem umgekehrten – Aspekt zu betrachten: Weder ist davon auszugehen, dass es zwei Kategorien von Merkmalen gibt, die unbedingt voneinander zu unterscheiden sind, um den Vorsatzgegenstand konkret zu bestimmen, noch davon, dass bei normativen Tatbestandsmerkmalen eine Parallelwertung erforderlich ist, während bei Blankettstrafgesetzen die Normkenntnis ausreicht. Das würde ohnehin eine

70 BVerfGE 41, 121 zur Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Rechtsfolgeregelungen für Tatbestands- und Verbotsirrtum. 71 Für den Begründer der finalistischen Handlungslehre Welzel Das Deutsche Strafrecht11, 1969, S. 138 ist Schuld die Vorwerfbarkeit der Willensbildung: “Das Verhalten des Täters ist nicht so, wie das Recht es von ihm verlangt, obwohl er den Sollensforderungen des Rechts hätte nachkommen können: Er hätte sich normgemäß motivieren können. In diesem ‚Dafür-Können‘ des Täters für seine rechtswidrige Willensbildung liegt das Wesen der Schuld; in ihm liegt der persönliche Vorwurf begründet, der im Schuldurteil gegen den Täter wegen seines rechtswidrigen Verhaltens erhoben wird.“ 72 BGHSt 2, 194 (201); vgl. dazu Neumann BGH-Festgabe IV, 2000, 83 ff. 73 Roxin FS Tiedemann, 2008, 389. 74 BGHSt 2, 194 (201); siehe auch LK-Dannecker § 1 Rn. 211. 75 Beispielhaft BVerfG NJW 2010, 754 ff.

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Verlagerung des Irrtums vom Tatbestands- zum Verbotsirrtum bedeuten76, was zweifellos ungerecht für den Angeklagten ist. Man sollte vielmehr die Existenz zweier verschiedener (aber trotzdem strukturell gleicher77) Merkmalsgruppen als solche annehmen und dann einheitlich die Prüfung des Vorliegens des Vorsatzes unter der Lupe der gesetzgeberischen Grundentscheidung und ihrer Widerspiegelung im Verständnishorizont des Täters betrachten. Von daher reicht es für den Vorsatz bei normativ geprägten Tatbestandsmerkmalen aus, wenn sich – über die Tatsachenkenntnis hinaus – die gesetzgeberische Grundentscheidung über die materiell wertwidrigen Verhaltensweisen78 im Verständnishorizont des Täters widerspiegelt.79 Dabei wird aktuelle Kenntnis gefordert, während potentielle Kenntnis nicht ausreichen soll.80 Jedoch ist für die aktuelle Kenntnis nicht nötig, dass der Täter über die Merkmale des objektiven Tatbestandes „bewusste Reflexionen an76 Dieser Satz kommt in dem interessanten Urteil des LG Ravensburg vom 26.9.2006 (StV 2007, 412 ff) vor, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt: A betrieb als verantwortlicher Geschäftsführer ein internationales Speditionsunternehmen, die W GmbH, das mit vier Lkws im Güterkraftverkehr von Italien bis England und Schweden tätig war. A vermietete an den Frachtführer F einen dieser Lkws, den der bei F angestellte B fuhr. Als F den Lkw nicht mehr benötigte und das Mietverhältnis kündigte, verlor B seine Arbeitsstelle. W und B schlossen deshalb einen Mietvertrag über den von B angemieteten vorgenannten Lastzug und gleichzeitig einen Zusatzvertrag über den Mietzins sowie einen Vertrag über die Befrachtung und den Kartenservice. Während der gesamten Tätigkeit des B mit dem von der W angemieteten Lastzug versicherte sich B freiwillig bei der AOK. A war der Überzeugung, dass B selbstständiger Frachtführer war, und sah sich deshalb nicht verpflichtet, Sozialversicherungsbeiträge für B abzuführen. 77 Sowohl die normativen Tatbestandsmerkmale als auch die Blankettstrafgesetze verweisen zur Vervollständigung des Tatbestandes auf etwas anderes. 78 Unter dem Schutz des Strafrechts stehen also nicht bestimmte Rechtsgüter als solche und schlechthin, sondern nur genau umschriebene Verhaltensweisen; so Heidingsfelder Der umgekehrte Subsumtionsirrtum, 1991, 24. 79 A. A. Safferling (Fn. 42) S. 146, der „eine Loslösung des Unrechtsbegriffs von individuellen Wertungen“ vertritt und hinzufügt, „die Verlagerung sämtlicher Wertungsirrtümer in die Schuldstation hätte aber gewiss auch den Vorteil, dass über die Vermeidbarkeit individuelle Fähigkeiten des Täters besser eingeführt werden können“. Ähnlich auch Rinck Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000, S. 331 f, der der Lehre von der Parallelwertung vorwirft, dass dabei individuelle Fähigkeiten des Täters außer Acht gelassen würden. Genau diese Klippen will aber das hier vorgeschlagene Kriterium umschiffen, und zwar mit dem Begriff vom „Verständnishorizont des Täters“. Gegen die Auffassung von Safferling, alle Wertungen würden in der Schuld behandelt, spricht ferner, dass der Täter beispielsweise des § 258 StGB, der das Verhalten eines anderen irrtümlich für nicht strafbar hält, direkt auf der Schuldebene beurteilt werden müsste und als Folge davon zur Duldung von Notwehrmaßnahmen gezwungen wäre. Das Strafrecht gilt aber als die ultima ratio des Gesetzgebers und soll den Menschen zu seinem Maßstab gesetzt haben; vgl. hierzu den durch Platon Theaitetos, 152a wiedergegebenen Spruch des Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. 80 Vgl. Kühl AT § 5 Rn. 98; Krey AT I Rn. 368; Roxin AT I § 12 Rn. 111.

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stellt“.81 Vielmehr ist das sogenannte Mitbewusstsein ausreichend, und zwar in der Form eines „wahrnehmungsbedingten“82 bzw. „sachgedanklichen“83 Mitbewusstseins. Wenn der Täter die gesetzgeberische Grundentscheidung wahrnehmen konnte, aber trotz Tatsachenkenntnis den Normverstoß begangen hat, ist dies nur für die Unvermeidbarkeit seines Irrtums, also nur beim Verbotsirrtum, relevant. Aus dem Ausgeführten wird deutlich, dass nicht von einem Laien die Rede ist, im Sinne eines Nicht-Juristen,84 sondern von dem jeweils betroffenen Normadressaten, im Sinne des in seinem eigenen Verkehrskreis handelnden und nach dessen Maßstäben zu beurteilenden Bürgers. Ein Laie kann somit ein Spezialist oder Fachmann sein.85 Daher sollte vom Verständnishorizont des Täters und nicht von der Laiensphäre gesprochen werden.86 Der Wortsinn der Strafnorm ist aus der Sicht des (konkreten) Normadressaten zu bestimmen.87 Und da die Grundentscheidung des Gesetzgebers immer und bei allen Strafvorschriften vorhanden und erkennbar ist bzw. sein soll, besteht kein Grund, das Kernstrafrecht anders als das Nebenstrafrecht und die Ordnungswidrigkeiten zu betrachten. Ferner geht es der Sache nach nicht eigentlich um eine Parallelität zwischen Umgangssprache und Fachsprache, sondern um den Verständnishorizont des Täters, in dem sich die gesetzgeberische Grundentscheidung widerspiegeln muss. Hier ist anzumerken, dass in Anbetracht der freiheitsgewährenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG eine „Verlagerung des Verstehbarkeitsproblems vom Verständnishorizont des Normadressaten auf die Ebene der juristischen Fachsprache“ nicht anzunehmen ist.88 Zu diesem Punkt sei an die schon anfangs erwähnte höchstrichterliche Entscheidung zu psilocybin- und psilocinhaltigen Pilzen als Pflanzen i. S. d. 81

Roxin AT I § 12 Rn. 122. Roxin AT I § 12 Rn. 123. 83 Schmidhäuser FS H. Mayer, 1966, 317 ff. 84 Dahingehend erscheint die Frage Maiwalds (Fn. 29) S. 19: „Was stellt sich ein Nichtjurist unter einem Wechsel oder einem Pfandgläubiger vor?“ nur teilweise erfolgversprechend. 85 Gehaltvoll und lehrreich ist die schon mehrfach zitierte Entscheidung BVerfGE BeckRS 2010, 51332 (siehe vor allem Fn. 59), nach der auch zu berücksichtigen ist, „dass die Untreuestrafbarkeit im Zusammenhang mit Kreditbewilligungen einen Personenkreis betrifft, bei dem nach Ausbildung und Erfahrung die für die fallbezogene Anwendung der rechtlichen Standards nötigen Fachkenntnisse vorausgesetzt werden können.“ 86 Insoweit merkt Puppe (NK § 16 Rn. 15) zu Recht an: „Offenbar trauen die Juristen den Laien das richtige Verständnis dieser Merkmale nicht zu, weil sie unter normativen Tatbestandsmerkmalen vor allen Dingen solche verstehen, die Rechtsverhältnisse oder rechtlich begründete Institutionen beschreiben.“ 87 So Schmidhäuser GS Martens, 1987, 231 ff, 241. 88 Lackner Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, 1986, 39 ff, 58 f. 82

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§ 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG und der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG erinnert: Der Wortlaut der Regelungen war nach Auffassung des BGH geeignet, dem Normadressaten den gesetzgeberischen Willen zu vermitteln, und auch die Wortlautgrenze war nicht überschritten, „da eine derartige Interpretation im Tatzeitraum vom aus der Sicht des Normadressaten erkennbaren Wortsinn des Terminus ‚Pflanze‘ gedeckt ist, für ihn also jedenfalls das Risiko einer Strafbarkeit erkennbar war“.89 Anschließend beruft sich der BGH auf den „möglichen Wortsinn nach dem allgemeinen Sprachverständnis“90 und weist ergänzend darauf hin, man kaufe „Pilze auch gemeinhin beim Obstund Gemüsehändler. Bestätigt wird die Zuordnung durch eine Recherche im Internet, das jedermann zur Veröffentlichung eigener Texte zugänglich ist und das deshalb umfassende Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs geben kann“. 91 Dieser Satz dürfte kaum zufällig sein, ist er doch symptomatisch dafür, dass heutzutage das Bedürfnis besteht, die geltenden Maßstäbe an die aktuellen Erfordernisse anzupassen und dabei auf allgemein zugängliche Informationsmöglichkeiten zu verweisen. Ein Tatbestandsirrtum ist allerdings verständlicherweise ausgeschlossen; die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums könnte nur schwerlich angenommen werden.

VI. Das vorgeschlagene Kriterium von der „Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters“, das den Vorgaben des Verfassungsrechts Rechnung tragen will, muss im Rahmen der gesetzgeberischen Entscheidung zur Behandlung des Irrtums in den §§ 16 und 17 StGB zum Tragen kommen. In diesen Vorschriften hat der Gesetzgeber festgelegt, dass der Verbotsirrtum die Schuld ausschließen kann. Damit hat er der Vorsatztheorie eine Absage erteilt und eine klare Entscheidung für die Schuldtheorie getroffen. 92 Auf der Grundlage der gesetzlichen Normierung wird hier der Schuldtheorie gefolgt, die den Vorsatz als Tatvorsatz und das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit als ein vom Vorsatz getrenntes selbständiges Schuldelement begreift. Nach den immer noch aktuellen und daher nicht zu übersehenden Feststellungen der historischen Entscheidung des Großen Senats ermöglicht es die Schuldtheorie, „vorsätzliche Taten als das zu bestrafen, was 89

BGH NJW 2007, 524, 525. BGH NJW 2007, 524, 526. 91 BGH NJW 2007, 524, 526. 92 So Neumann JuS 1993, 793. 90

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sie sind, nämlich als vorsätzliche Taten, ohne den Richter zu nötigen, den Schuldspruch auf die Unterstellung des Bewusstseins der Rechtswidrigkeit zu gründen. Der Schuldspruch bleibt daher im Einklang mit dem Schuldvorwurf. Denn der Gegenstand des Vorwurfes ist bei den im verschuldeten Verbotsirrtum begangenen vorsätzlichen Verbrechen auch und zunächst der bewußt auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete und deshalb rechtswidrige Handlungswille“.93 Die Schuldtheorie kann zwar nicht unmittelbar aus der Verfassung hergeleitet werden, sie geht aber mit einem verfassungskonformen Gesetzesrecht einher.94 Letztendlich ist es jedoch nicht nur geboten, der Schuldtheorie zu folgen, weil der Gesetzgeber sie in § 17 StGB normiert hat.95 Vielmehr ist es auch sachgerecht, zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum zu unterscheiden, da der, der nicht weiß, dass er etwas Verbotenes tut, geringeren Anlass hat, seine Tat zu unterlassen, als der, der in Tatsachenunkenntnis handelt.96 In der Vorsatztheorie97 dagegen lässt sich das Kuriosum feststellen, dass ein Fahrlässigkeitsdelikt in Betracht kommt, selbst wenn der Täter den Eintritt des Erfolges gewollt oder beabsichtigt hat und sein Handeln darauf abzielte. Das erscheint aber dogmatisch inakzeptabel. Deshalb muss in jeder Hinsicht auf die Vorsatztheorie verzichtet werden, zumal diese unlösbare dogmatische Probleme in sich birgt. Insbesondere wird hier im Grunde genommen eine „weichere Schuldtheorie“ vertreten, für die sich auch Roxin ausgesprochen hat: Schon im Lehrbuch des Jubilars und dann in seinem Beitrag in der Festschrift für Tiedemann findet man ein Plädoyer für eine „weichere Schuldtheorie“, nach der ein Verbotsirrtum vorliegt, wenn der Täter für die Annahme der Erlaubtheit seines Tuns verständige Gründe hatte, so dass die Einstellung zum Recht,

93 BGHSt 2, 194 (208). Ferner wird verdeutlicht, dass es nach der Schuldtheorie möglich ist, die Strafe dem jeweiligen Grad der Schuld anzupassen, während die Fälle der berühmten Rechtsblindheit eine Spielart des verschuldeten Verbotsirrtums darstellen können. 94 Maurach/Zipf AT I § 37 Rn. 33; Neumann JuS 1993, 794; Jakobs AT 19/17. 95 So schon BGHSt 2, 194 (209): „Somit führt nur die Schuldtheorie ohne Schwierigkeiten und Widersprüche zur allseitigen sachgemäßen Anwendung der aus dem Wesen der Schuld sich zwingend – vor aller gesetzlichen Normierung – ergebenden Rechtssätze, daß die wissentliche und willentliche Verwirklichung der tatbestandsmäßigen rechtswidrigen Tat dem Täter zur Schuld zuzurechnen ist, wenn er das Unrecht dieser Tatbestandsverwirklichung kannte oder bei der ihm zuzumutenden Anspannung des Gewissens hätte kennen können und sich trotzdem in Freiheit zu ihr entschloß“; vgl. dazu Neumann BGH-Festgabe IV, 2000, 85 f m. w. N. 96 So Neumann JuS 1993, 793. 97 Vertreter der Vorsatztheorie der jüngeren Zeit sind Enderle (Fn. 6) S. 288 f, 293 ff; Geerds Jura 1990, 421; Gómez GA 2010, 259; Hardwig Grundprobleme der Allgemeinen Strafrechtslehre, 1984, S. 38 f; Koriath Jura 1996, 113; Otto AT § 15 Rn. 5 ff; Schmidhäuser AT 4/19, 10/56; ders. JZ 1980, 396; Walter Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 389 ff.

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die sich in seinem Irrtum offenbart, keiner Sanktion bedarf98, während „der Vorsatz zwar auch nach der Schuldtheorie das Bewusstsein vieler normativer Elemente in sich schließen kann …, dass dies aber nur möglich ist, soweit die Tatbeschreibung durch die Verwendung normativer Merkmale dafür hinreichende Anknüpfungspunkte bietet“.99 Anlässlich der von den Vertretern der Vorsatztheorie erhobenen Einwände ist allerdings zu wiederholen, dass in der heutigen von der Technologie stark geprägten Gesellschaft, die durch eine extreme fachliche Spezialisierung charakterisiert ist, wie die aktuelle Entscheidung BVerfG vom 23.4.2010 indirekt bestätigt100, ein intensiveres Bedürfnis als je zuvor besteht, das Kriterium zur Feststellung des Vorsatzes bei den normativ geprägten Tatbestandsmerkmalen zu aktualisieren, und zwar vor allem, weil es heute eine geschriebene Verfassung gibt, die, als Mezger im Jahr 1927 die Parallelwertung in der Laiensphäre entwickelt hat101, noch nicht existierte und die der Strafrechtsdogmatik einen Rahmen vorgibt.

VII. Selbst die schwierigsten Probleme bedürfen einer einfachen und übersichtlichen Behandlung, im Sinne einer auf die Grundlage der Sache reduzierenden Betrachtung. Die Formel von der Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters stützt sich zwar auf den Grundgedanken der Parallelwertung bzw. -beurteilung in der Laiensphäre. Es wurde jedoch versucht, diesen Gedanken unter Einbeziehung der verfassungsrechtlichen Grundlagen – Bestimmtheits- und Schuldgrundsatz – weiter zu entwickeln, um seine Schwächen auszugleichen. Die hier entwickelte Formel könnte auf dem Boden einer „weicheren Schuldtheorie“ einheitlich und konsequent für alle Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände eingesetzt werden. Der Täter muss nicht die jeweilige Straf- oder Bußgeldvorschrift selbst kennen, es reicht aus, wenn sich die Grundentscheidung des Gesetzgebers in seinem eigenen Verständnishorizont widerspiegelt. Die Bewertung des Unrechts zeigt sich von daher als 98

Roxin AT I § 21 Rn. 40; ders. FS Tiedemann, 2008, 389. Roxin FS Tiedemann, 2008, 388. 100 BVerfG 2 BvR 2559/08 vom 23.4.2010 über die Verfassungsmäßigkeit des Untreuetatbestandes des § 266 Abs. 1 StGB (insbes. Rn. 134). 101 Mezger JW 1927, 2006 ff der schon ein Jahr früher in FS Träger, 1926, 229 die Unvereinbarkeit der normativen Tatbestandsmerkmale mit dem Bestimmtheitsgebot herausgestellt hat: „Über seinen gesetzgeberischen Wert gehen die Meinungen erheblich auseinander; das um so mehr, als es bei der Verwendung solcher Elemente letzthin um nichts weniger als um den Grundsatz des § 2 Abs. 1 StGB geht“. 99

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Grundentscheidung des Gesetzgebers, die allen Straftatbeständen immanent ist. Aber „alle Thesen sind Hypothesen“, wie schon Wilhelm Busch festgestellt hat. Deshalb muss auch die Formel von der Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters in der Diskussion stehen und bedarf sie des kritischen Diskurses.

Zur Lehre vom bedingten Einverständnis THOMAS RÖNNAU

I. Einleitung Es gibt kaum einen Bereich im Allgemeinen Teil des StGB, der nicht maßgeblich durch das wissenschaftliche Werk von Claus Roxin geprägt wurde. Die Einwilligungsdogmatik ist hier nur eines von vielen Beispielen.1 Der verehrte Jubilar geht dabei wie eine im Schrifttum weit verbreitete Ansicht davon aus, dass die von einer wirksamen Zustimmung des Rechtsgutsinhabers getragene Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung schon nicht den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt.2 Demgegenüber unterscheidet bekanntlich die herrschende Meinung bis heute zwischen dem tatbestandsausschließenden Einverständnis und der nur rechtfertigend wirkenden Einwilligung.3 Diese magna quaestio der Einwilligungslehre4 soll wie auch andere bis heute intensiv diskutierte Fragen der Einwilligung5 jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Stattdessen möchte der Verfasser die Aufmerksamkeit des Jubilars auf eine Fallgruppe lenken, die – angesichts der gebräuchlichen Nomenklatur durchaus überraschend – selten im Kontext der allgemeinen Einwilligungsdogmatik diskutiert wird: die sog. Lehre vom bedingten Einverständnis. Eine kritische Analyse des in erster Linie den Diebstahlstatbestand betreffenden Diskussionsstandes wird zeigen, dass die allgemeine Einwilligungs- bzw. Einverständnisdogmatik bei zutreffender Würdigung für die einschlägigen Fallkonstellationen allenfalls eine 1 Ausführliche Behandlung der Einwilligungslehre durch Roxin AT I § 13 Rn. 1 ff unter Verweis auf zahlreiche eigene Vorarbeiten. 2 Siehe nur Roxin AT I § 13 Rn. 12 ff m. w. N. 3 Die Unterscheidung geht zurück auf F. Geerds Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, 1953; Nachw. zur h. M. bei LK-Rönnau Vor §§ 32 ff Rn. 147. 4 Überzeugende Verteidigung der eigenen Ansicht jüngst noch einmal durch Roxin FS Amelung, 2009, 269 ff. 5 Erwähnt sei hier nur die Legitimationsproblematik bezüglich der in den §§ 216, 228 StGB kodifizierten objektiven Einwilligungsschranken (ausführlich zu § 216 StGB F.C. Schroeder ZStW 106 (1994), 566 ff und Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 103 ff; zu § 228 StGB NK-StGB/Paeffgen § 228 Rn. 33 ff) sowie die Unklarheiten in Sachen Einwilligungskompetenz der Gesellschafter bei der Untreue zu Lasten juristischer Personen (näher Rönnau FS Amelung, 2009, 247 ff).

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untergeordnete Rolle spielt. Die Lösung ist vielmehr deliktsspezifisch anhand des Wegnahme- bzw. Gewahrsamsbegriffs zu entwickeln.

II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Eine Durchmusterung des in Verbindung mit der Lehre vom bedingten Einverständnis behandelten Fallmaterials vermittelt den Eindruck, es handele sich um eine Art „Automatensonderrecht“. Die hier auf dem Prüfstand stehende Rechtsfigur kommt praktisch ausschließlich in unterschiedlichen Situationen des Ge- bzw. Missbrauchs von Automaten zur Anwendung,6 konkret bei Waren-, Glücksspiel- und Geldautomaten sowie beim Selbstbedienungstanken (Zapfsäule als „Automat“). Das bedingte Einverständnis wird für die Beantwortung der Frage herangezogen, ob die im Wege missbräuchlicher Benutzung solcher Automaten erlangten Sachen (Zigaretten, Geld, Benzin usw.) i. S. d. § 242 StGB „weggenommen“ werden. Wegnahme scheidet bekanntlich aus, wenn der bisherige Gewahrsamsinhaber mit dem Gewahrsamswechsel einverstanden ist.7 Das Problem in den Automatenfällen liegt nun darin, dass beim Automatenaufsteller8 im Zeitpunkt der Tathandlung praktisch nie ein zustimmender aktueller Wille hinsichtlich des Gewahrsamswechsels an den vom Kunden begehrten Sachen vorliegt. Außer Frage steht aber, dass die ordnungsgemäße Entnahme von Waren oder Geld gegen Zahlung des vorgesehenen Geldbetrages kein Diebstahl ist, während bei „gewaltsamem“ Aufbrechen des Automaten und anschließen-

6 Etwa Rengier BT I § 2 Rn. 34: Beschränkung des Anwendungsbereichs hauptsächlich auf Fälle der automatisierten Waren- und Geldausgabe. Soweit ersichtlich erstmals begegnet der Gedanke eines bedingten Einverständnisses in der Rspr. jedoch in einem anderen Kontext. Das KG (DStR 1937, 57) hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem der Täter in einer Schlachterei zunächst wie ein gewöhnlicher Käufer Rinderzunge bestellte, diese dann aber ohne zu bezahlen an sich nahm, nachdem der Verkäufer sie auf den Tresen gelegt hatte. Der Senat bejahte hier (neben dem Betrug) den Diebstahl und führte aus, der Verkäufer habe die Ware „nur unter der Bedingung vorheriger Barzahlung übereignen und nur unter dieser Voraussetzung den Gewahrsam daran aufgeben“ wollen. Jenseits des Automatenmissbrauchsbereichs greift auch das OLG Köln (NJW 1986, 392) auf diese Rechtsfigur in einem Fall zurück, in dem der zahlungsunfähige Täter in einem Supermarkt eine Schnapsflasche aus dem Regal nahm, öffnete und teilweise leerte. Das Gericht bejahte Diebstahl, da ein mögliches Einverständnis mit dem Verzehr von Lebensmitteln vor Passieren der Kasse jedenfalls an die Bedingung der Zahlungswilligkeit bzw. -fähigkeit geknüpft sei. 7 Pars pro toto Lackner/Kühl § 242 Rn. 14. 8 Ggf. auch beim Gastwirt (wenn er Verwahrer des verschlossenen Behältnisses ist), s. Seier JR 1982, 510; stets für Gewahrsam des Rauminhabers anstelle des Automatenaufstellers Bittner Der Gewahrsamsbegriff und seine Bedeutung für die Systematik der Vermögensdelikte, 1972, S. 275.

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der Entnahme von Waren sicher Gewahrsam gebrochen wird.9 Zwischen diesen beiden in der rechtlichen Behandlung konsensfähigen Polen gibt es eine Reihe von weniger eindeutig bewertbaren Sachverhaltskonstellationen. Die Frage der Anwendbarkeit des Diebstahlstatbestandes ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Gestohlene Sachen können gem. § 935 BGB grundsätzlich (Ausnahme: insbes. Geld) nicht abhanden kommen, weshalb ein gutgläubiger Eigentumserwerb ausscheidet. Zudem ist das Risiko „Diebstahl“ nach marktüblichen Versicherungspolicen versichert, nicht aber etwa das aus „(Computer-)Betrug“.10 Liegt kein Diebstahl vor – und greifen auch die §§ 265a, 263a StGB nicht ein –, bleibt lediglich eine Unterschlagung.11 In solchen Fällen kommt auch eine Strafbarkeit wegen Raubes oder räuberischen Diebstahls (im Falle einer gewaltsamen Verteidigung der Beute) nebst Qualifikationen (§§ 250, 251 StGB) nicht in Betracht.

III. „Automatenfälle“ im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur Die im Anwendungsbereich der Lehre vom bedingten Einverständnis unter dem Oberbegriff „Automatenmissbrauch“ auszuwertenden Fälle lassen sich nun verschiedenen Sachverhaltskonstellationen zuordnen, deren rechtliche Behandlung in Rechtsprechung und Schrifttum durchaus facettenreich ist.

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Vgl. nur Neumann JuS 1990, 538: „unproblematisch“. Die Einbruchsdiebstahl- und Raubversicherung ist auf dem deutschen Markt ein Standardprodukt, bei dem jedoch nur der Verlust durch Wegnahme i. S. d. §§ 242 ff StGB versichert ist, vgl. Prölss/Martin-Armbrüster VVG, § 1 Rn. 6. Eine vergleichbar übliche Versicherung gegen das Verlustrisiko durch (Sach-)Betrug existiert nicht; näher zur praktischen Relevanz der Abgrenzung von Diebstahl und Betrug Hillenkamp JuS 1997, 218 ff. 11 Selbst § 246 StGB scheidet aus, wenn der Automateninhalt dem Benutzer zivilrechtlich wirksam übereignet wird; so für die Tankstellenfälle vor allem Herzberg JA 1980, 386 ff; a. A. NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 17 m. w. N. zur insb. in den 1980er Jahren kontrovers geführten Diskussion. (Auch) für § 242 StGB ist diese Streitfrage jedoch ohne Bedeutung. Denn nach überzeugender Ansicht ist maßgeblich für die Strafbarkeit allein der Zeitpunkt der Fremdheit des Tatobjekts zu Beginn der Wegnahmehandlung, nicht dagegen, ob sich der Täter das Eigentum durch die Wegnahme verschafft hat, s. nur LK-Vogel § 242 Rn. 46; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 35 f; Kudlich/Noltensmeier JA 2007, 865 f; Streng JuS 2002, 454 f m. N. auch zur Gegenmeinung. 10

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1. Rechtsprechung a) Waren- und Geld-/ Glücksspielautomaten Eine typische Fallgestaltung ist die Bedienung von Waren- oder Geldspielautomaten unter Verwendung von „Falschgeld“ (etwa Messingplättchen12, nachgemachte 50-Pfennig-Stücke13 oder ausländische [präparierte] Münzen).14 Ein solcher Sachverhalt lag im Jahre 1900 auch dem – soweit ersichtlich – ersten obergerichtlich entschiedenen Fall zugrunde, in dem das RG einen Diebstahl von Schokoladentafeln nach Einwurf von Metallplättchen statt Geldmünzen ohne Auseinandersetzung mit der Frage eines möglichen Einverständnisses bejahte.15 Das Gericht spricht vielmehr – im Leitsatz – wie selbstverständlich vom „Automatendiebstahl“. Auch der BGH stellte in einem Urteil aus dem Jahre 1952 unter Bezugnahme auf das RG nur fest: „Die Entnahme von Waren aus einem Automaten durch Falschgeld erfüllt [...] den Tatbestand des Diebstahls“.16 Den Gedanken eines bedingten Einverständnisses erörtert erst näher – und kritisch – Dreher. In einer Anmerkung zu dieser BGH-Entscheidung lehnt er entgegen einer „von jeher [...] fast unbestrittenen Auffassung in Rspr. und Schrifttum“ einen Diebstahl an den vom Automaten nach Einwurf von Falschgeld ausgegebenen Waren ab.17 Der Automat sei als „mechanisierter Verkäufer“ anzusehen, als „verlängerter Arm des Warenbesitzers“, der die Ware nach Auslösung des Mechanismus i.S. des § 929 BGB an den Käufer übergebe. Diese als Realakt einzustufende Übergabe sei, anders als etwa die Einigung über den Eigentumsübergang, grundsätzlich bedingungsfeindlich. Die Ablehnung des Diebstahls wird anhand der Parallele zum menschlichen Verkäufer bekräftigt, bei dem „niemand [...] auf den Gedanken verfallen [würde], dass die Übergabe nur unter der Voraussetzung der Zahlung mit echtem Geld erfolge und dass es sich daher rechtlich um eine Wegnahme handle, wenn mit falschem Geld gezahlt werde.“18 Strukturell dränge sich vielmehr eine Nähe zum Betrug auf, bei dem es mangels menschlichen Verkäufers lediglich am Merkmal des Irrtums fehle. 12

OLG Zweibrücken OLGSt § 265a StGB S. 1. BGH MDR 1952, 563 m. abl. Anm. Dreher. 14 OLG Celle NJW 1997, 1518 (schwedische 5-Kronen-Münzen [im Wert von etwa 1 DM] entsprechen nach Behandlung mit Klarsichtfolie dem Durchmesser einer 5-DM-Münze); ferner OLG Stuttgart JR 1982, 508 (Verwendung „eingekerbter“ 2-DM-Stücke) m. Anm. Seier und Bspr. Albrecht JuS 1983, 101 ff. 15 RGSt 34, 45 ff. Andeutungen zu einem Einverständnis unter Bedingungen aber in RG DJZ 1909, 771 (Biermarkendiebstahl aus Spielautomaten). 16 BGH MDR 1952, 563. 17 Dreher MDR 1952, 563. 18 Dreher MDR 1952, 564. 13

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In Reaktion auf die Kritik von Dreher hat die Rechtsprechung die zuvor eher apodiktische Annahme eines „Automatendiebstahls“ näher begründet. So bejahte das BayObLG 1955 Diebstahl an Geldstücken in einem Fall, in dem der Täter durch Einführen eines Drahtes in den Münzeinwurfschlitz eines Geldspielautomaten den Spielmechanismus auslöste. In ausdrücklichem Widerspruch zur Meinung Drehers stützte sich das Gericht dabei der Sache nach bereits auf die Überlegungen, die heute unter dem Schlagwort der „Lehre vom bedingten Einverständnis“ vorgetragen werden, ohne aber diesen Begriff zu verwenden. In der maßgeblichen Passage der Urteilsbegründung heißt es: „Stellt der Unternehmer den Automaten mit der dazugehörigen Bedienungsanweisung zum Betrieb bereit, so bekundet er damit dem Einwerfer des verlangten Geldbetrages gegenüber nach Maßgabe der Bedienungsanweisung sein Einverständnis mit der Übernahme der Sache [...]. Wird jedoch der Verschlussmechanismus des Automaten entgegen der Bedienungsanweisung ausgelöst und die Sache dadurch freigegeben, so liegt Wegnahme vor, da der Täter die Sache ohne den Willen des Unternehmers erlangt“.19 Mit dieser Prämisse einer unter dem Vorbehalt ordnungsgemäßer Benutzung stehenden Einverständniserklärung des Automatenaufstellers war der gedankliche „Grundstein“ für die Lehre vom bedingten Einverständnis gelegt. Diese Rechtsfigur setzte sich in der Rechtsprechung schnell durch, so dass in der Folgezeit unterschiedliche Fälle des Missbrauchs von Geldspielautomaten als Diebstahl bestraft wurden.20 Anwendung fand sie auch auf eine Anfang der 80er Jahre offenbar verbreitete Manipulationsvariante, in der die Täter einen bei bestimmten Geräten vorhandenen Defekt ausnutzten, der es ermöglichte, durch Drücken des Geldrückgabeknopfs vor Spielbeginn eine größere Menge Wechselgeld zu erhalten als zuvor eingeworfen wurde.21 Das OLG Koblenz begründete den Diebstahl damit, dass derjenige, der unter Umgehung der Spielfunktion lediglich den Geldrückgabemechanismus eines Automaten nutze, nicht diejenigen Bedingungen erfülle, unter 19

BayObLGSt 1955, 120, 121. Vgl. BGH MDR 1957, 141 (regelwidriger Eingriff in Gangwerk mittels Drahtes); OLG Köln OLGSt § 242 S. 51 ff (Auslösen eines Kurzschlusses durch Verwendung eines Drahtes); OLG Zweibrücken OLGSt § 265a S. 1 (Verwendung von Metallplättchen anstelle von Münzen); BayObLG JR 1982, 291 f m. Anm. Meurer (Beeinflussung der Walzenstellung durch Benutzung eines Drahtes); OLG Stuttgart JR 1982, 508 f m. zust. Anm. von Seier und Bespr. Albrecht JuS 1983, 101 ff (Verwendung präparierter Münzen, Verursachen eines Kurzschlusses und Benutzung eines Drahtes); OLG Celle NJW 1997, 1519 m. Anm. Hilgendorf JR 1997, 347 ff und Bspr. Mitsch JuS 1998, 309 ff (Verwendung präparierter Münzen). 21 OLG Koblenz NJW 1984, 2424 f; a. A. – noch unter Berufung auf Dreher – das AG Lichtenfels NJW 1980, 2206 f m. abl. Bspr. Seier JA 1980, 681 f und J. Schulz NJW 1981, 1351 f; diff. LK-Vogel § 242 Rn. 115. 20

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denen der Aufsteller zur freiwilligen Gewahrsamsübergabe bereit sei. Diebstahl nahm ferner das OLG Düsseldorf in einem Fall an, in dem der Täter einen mit Tesafilm präparierten Geldschein in einen Geldwechselautomaten einführte, um diesen nach Auswurf des Wechselgelds wieder heraus zu ziehen. Der Automatenaufsteller sei mit der „Übereignung und Übergabe [des Wechselgeldes] nur einverstanden, wenn dieser den Automaten ordnungsgemäß betätigt“. Hierzu gehöre „selbstverständlich, dass der einzuwechselnde Geldschein nach Einführung in den Automaten auf Dauer in ihm verbleibt und der Benutzer ihn nicht wiedererlangt, nachdem er den Auszahlungsmechanismus in Gang gesetzt hat“.22 Verneint wurde Diebstahl hingegen in einer vorwiegend mit Blick auf § 263a StGB unter dem Schlagwort „Leerspielen von Geldautomaten“ diskutierten Fallgruppe.23 Die Täter nutzen hier i. d. R. zuvor illegal erlangte Programmkenntnisse aus, um unter Ausschaltung des Glücks- bzw. Zufallmoments hohe Gewinne einzustreichen. Das OLG Celle nahm für § 242 StGB insofern ein „Einverständnis des Berechtigten in den Gewahrsams- und Eigentumsübergang“ an, da die Geldspielautomaten „formal ordnungsgemäß“ bedient wurden.24

b) Geldautomaten Anders als grundsätzlich beim Missbrauch von Waren- oder Geldspielautomaten verneint der überwiegende Teil der Rechtsprechung einen Gewahrsamsbruch in Fällen der Abhebung am Geldautomaten durch einen Nichtberechtigten (sog. Bank[aut]omatenmissbrauch).25 Hier soll eine Wegnahme des abgehobenen Geldes unabhängig davon ausscheiden, ob der Täter eine echte, ihm nicht gehörende Codekarte mit der zutreffenden PINNummer oder aber ein Falsifikat verwendet.26 Dabei stellt der BGH in einer

22 OLG Düsseldorf NJW 2000, 159 m. (bezügl. § 242 StGB) zust. Anm. Biletzki NStZ 2000, 424 f; abl. Otto JR 2000, 215 (da funktionsgerechte Bedienung des Automaten); diff. Kudlich JuS 2001, 20 ff (Diebstahl am präparierten Geldschein). 23 Hier § 263a Abs. 1 Var. 4 StGB unter Berufung auf eine subjektivierende Auslegung des Merkmals „unbefugt“ bejahend BGHSt 40, 331 (333 ff) (m. Bspr. Ranft JuS 1997, 19 ff) m. w. N. zur vorhergehenden OLG-Rspr.; a. A. insb. OLG Celle NStZ 1989, 367 m. insofern zust. Bspr. Neumann JuS 1990, 535 ff; weitere Nachw. zur Rspr. der Tatgerichte bei Schönke/Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a; näher zu allen in Betracht kommenden Delikten Schlüchter NStZ 1988, 53 ff und Achenbach Jura 1991, 225 ff; zum technischen Hintergrund Bühler Die strafrechtliche Erfassung des Mißbrauchs von Geldspielautomaten, 1995, S. 46 ff. 24 OLG Celle wistra 1989, 356 (insoweit in NStZ nicht abgedr.). 25 Zu § 263a StGB in solchen Fällen zusf. Rengier BT I § 14 Rn. 15 ff. 26 So für die Verwendung einer echten Codekarte BGHSt 35, 152 (158 ff) (bejahend aber § 246 StGB) m. zust. Anm. Ranft JR 1989, 165 f; für den Einsatz eines Falsifikats BGHSt 38, 120 (122 ff) m. zust. Anm. Cramer JZ 1992, 1032 und Zielinski CR 1992, 223 ff; a. A. etwa

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zur Rechtslage vor Inkrafttreten des § 263a StGB (am 1.8.1986) ergangenen Entscheidung zwar noch auf das äußere Erscheinungsbild als (problematisches)27 Kriterium zur Abgrenzung des Übergebens durch die Bank vom Gewahrsamsbruch durch den unberechtigten Benutzer ab, begründet in der Sache die Ablehnung der Wegnahme aber bereits damit, dass die auf einer „funktionsgerechten Bedienung“ beruhende Freigabe der Geldscheine „entsprechend dem [...] vom Aufsteller eingegebenen Programm“ eine diesem zurechenbare Gewahrsamsübertragung darstelle.28 Der Gedanke der funktionsgerechten (nicht der ordnungsgemäßen) Bedienung des Automaten rückte dann in einer wenige Jahre später ergangenen (Grundlagen-)Entscheidung ins Zentrum der Argumentation.29 Dort heißt es, „nicht nur das äußere Erscheinungsbild“ spreche gegen die Annahme eines Gewahrsamsbruchs, sondern auch, dass der Gewahrsamswechsel „aufgrund einer im Programm enthaltenen und im Zeitpunkt der Geldausgabe lediglich zu aktualisierenden Entscheidung des Gewahrsamsinhabers“ erfolge. Eine die Wegnahme ausschließende funktionsgerechte Bedienung bejahte der BGH trotz der Verwendung gefälschter Codekarten, da die Prüfroutine des Automaten ausschließlich die „Echtheit“ der auf dem Magnetstreifen vorhandenen Daten untersuche. Hier deutet sich eine für die weiteren Erörterungen zentrale Position an: Die „erfolgreiche Überlistung“ eines Automaten mit anschließender funktionsgerechter Ausgabe seines Inhaltes erfüllt nicht den Tatbestand des Diebstahls.30

c) Selbstbedienungstanken In den Einzugsbereich der Lehre vom bedingten Einverständnis fallen schließlich noch die Fälle des Selbstbedienungstankens ohne anschließende Bezahlung. Der BGH gelangt hier zur Annahme eines Betruges, sofern der von Anfang an zahlungsunwillige Täter vom Tankstellenpersonal beobach-

noch BayObLG NJW 1987, 664 (§ 242 StGB); umf. Nachw. aus Rspr. und Lit. bei Schönke/Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a. 27 Zur „Willkürlichkeit“ der Abgrenzung nach dem äußeren Erscheinungsbild s. nur Otto JZ 1993, 562. 28 BGHSt 35, 152 (159). Weiterhin Otto JZ 1993, 562, wonach der BGH von der Abgrenzung anhand des äußeren Erscheinungsbildes offenbar „selbst nicht viel halte“; für ein Abstellen auf das äußere Erscheinungsbild jedoch Ehrlicher Der Bankomatenmissbrauch – seine Erscheinungsformen und seine Bekämpfung, 1989, S. 64 ff. 29 BGHSt 38, 120 (122 ff). 30 Dass diese Rechtsprechung nicht ohne Folgen für die dogmatische Behandlung der Warenautomatenfälle bleiben kann, hat Otto (JR 2000, 215; ders. BT § 40 Rn. 39) richtig gesehen. So liegt – bei ihrer konsequenten Umsetzung – etwa beim Einsatz von Falschgeld nur noch Automatenmissbrauch gem. § 263a bzw. § 265a StGB, nicht aber § 242 StGB, vor.

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tet wird und sich beim Tankvorgang äußerlich unauffällig verhält.31 Die Gestattung des Tankvorganges sei als maßgebliches Einverständnis bzw. als Vermögensverfügung i. S. d. § 263 StGB zu betrachten. Ergänzend zieht der BGH das äußere Erscheinungsbild heran, aus dem „bei natürlicher Betrachtungsweise [folgt], dass es sich [...] um ein durch Täuschung bewirktes Geben (§ 263 StGB) und nicht um ein Nehmen im Sinne eines Gewahrsamsbruchs (§ 242 StGB) handelt“. Wird der Täter nicht beobachtet, so soll nach einer Entscheidung des OLG Köln regelmäßig ein Betrugsversuch vorliegen, weil „unter den heutigen Verhältnissen stets mit der Möglichkeit der unmittelbaren oder durch Überwachungsanlagen vermittelten Wahrnehmung zu rechnen“ sei, so dass „abgesehen von Ausnahmefällen“ zumindest ein bedingter Täuschungsvorsatz vorliege.32

2. Literatur Auch im Schrifttum hat der Gedanke eines bedingten Einverständnisses in den Automatenfällen im Grundsatz großen Anklang gefunden. Die prinzipielle Möglichkeit des Automatenaufstellers, das Einverständnis in den Gewahrsamsübergang an Bedingungen zu knüpfen, ist nahezu allgemein anerkannt, wenngleich auf eine ausführliche Begründung oft verzichtet wird.33 Um den Notwendigkeiten des – durch Automaten geprägten – Wirtschaftslebens gerecht zu werden, ist akzeptiert, dass ein Einverständnis vom Berechtigten nicht nur ausdrücklich gegenüber bestimmten Personen, sondern auch stillschweigend, antizipiert und generell erteilt werden kann.34 Ein öffentlich kenntlich gemachtes generelles Einverständnis soll solange gelten, wie es nicht ausdrücklich widerrufen ist.35 Sodann finden sich in der Literatur zahlreiche Bemühungen, die Art der zulässigen Bedingungen einzugrenzen. Teilweise wird auf das äußere Erscheinungsbild des Automatennutzungsvorgangs abgestellt und eine Wegnahme bejaht, wenn der Be31

BGH NJW 1983, 2827; NJW 1984, 501; zuletzt etwa OLG Köln NJW 2002, 1059 f; s. auch OLG Düsseldorf NStZ 1985, 270 (Betrug, da der Täter nach abgeschlossenem Tankvorgang weitere Täuschungshandlungen vornahm); OLG Hamm NStZ 1983, 266 (Verurteilung wegen Unterschlagung); Lit.-Nachw. bei LK-Vogel § 242 Rn. 118 und MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 92. 32 OLG Köln NJW 2002, 1060. Ob in einem solchen „Ausnahmefall“, in dem der Täter nicht beobachtet wird und dies weiß, Diebstahl in Betracht kommt, ließ das Gericht offen. 33 Vgl. etwa Schönke/Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a; Satzger/Schmitt/WidmaierKudlich § 242 Rn. 29; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 83 („im Grundsatz unstreitig“). 34 So im Wesentlichen übereinstimmend Mitsch JuS 1986, 769; ders. BT 2/1 § 1 Rn. 76; SK-StGB/Hoyer § 242 Rn. 53; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 82 ff; LK-Vogel § 242 Rn. 113, 115. 35 SK-StGB/Hoyer § 242 Rn. 53 a. E.; ebenso MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 82; LK-Vogel § 242 Rn. 113.

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rechtigte – als gedachter Beobachter des Vorgangs – die Warenübergabe verweigert hätte.36 Die heute herrschende – allerdings wenig einheitliche – Auffassung hält demgegenüber die technische bzw. äußerliche Ausgestaltung des Automaten selbst für entscheidend und nur solche Bedingungen für relevant, die in den technischen Vorrichtungen des Automaten (etwa in Form eines Münzprüfers) objektiviert bzw. anhand dieser äußerlich erkennbar sind.37 Rein subjektive Vorbehalte des Aufstellers sollen – auch aus Gründen der Tatbestandsbestimmtheit – unbeachtlich bleiben.38 Weitgehende Einigkeit besteht innerhalb der h. M. nur hinsichtlich der Verneinung einer Wegnahme beim äußerlich unauffälligen Selbstbedienungstanken ohne Zahlungsbereitschaft39 und beim – heute herrschend unter § 263a StGB subsumierten – Bankomatenmissbrauch40. Demgegenüber wird bei der Verwendung von Falschgeld durch den Täter teilweise ein Einverständnis bejaht, da dieses lediglich an die Bedingung geknüpft sei, dass die Ware über den vorgesehenen Ausgabemechanismus erlangt werde.41 Andere Autoren nehmen demgegenüber in diesen Fällen eine Wegnahme an, da der Automat mit dem Einwurf von Falschgeld äußerlich nicht ordnungsgemäß bedient wurde und der Täter deshalb die vom Berechtigten aufgestellte Bedingung nicht erfülle.42

36

Seier JA 1980, 682; Herzberg JA 1980, 391; wohl auch Hilgendorf JR 1997, 347; zum ähnlichen, der Sache nach aber weitergehenden Ansatz von Mitsch s. unten. 37 In diesem Sinne – mit z. T. unterschiedlichen Formulierungen und Akzentuierungen – s. nur NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 45 ff; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 83; SchönkeSchröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a; Ranft JA 1984, 7 f; ders. wistra 1987, 83; Steinhilper GA 1985, 123 ff; Neumann JuS 1990, 537; Otto, JR 1987, 222; abw. ders. JZ 1993, 563 und JR 2000, 215, wo stärker auf das Kriterium der funktionsgemäßen Nutzung abgestellt wird. 38 Vgl. MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 83 und LK-Vogel § 242 Rn. 113. 39 Siehe nur Fischer § 242 Rn. 24; NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 47; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 92; Borchert/Hellmann, NJW 1983, 2799; Otto JZ 1985, 22; a. A. für Fälle des unbeobachteten Tankens Gauf NStZ 1983, 507; F.C. Schroeder JuS 1984, 847. 40 NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 51 f; MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 88; Otto JURA 1989, 142; Eisele/Fad Jura 2002, 306; Thaeter wistra 1988, 341; Schultz/Tscherwinka JA 1991, 121; vgl. auch Schönke/Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a (§ 263a StGB verdrängt als lex specialis § 242 StGB); für Exklusivität des § 263a StGB gegenüber dem Diebstahl Weber JZ 1987, 216; für Diebstahl Jungwirth MDR 1987, 540, der die Manifestierung des entgegenstehenden Willens „überdeutlich“ in der technischen Ausgestaltung i. V. m. den Geschäftsbedingungen zu erblicken glaubt. 41 MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 86; LK-Vogel § 242 Rn. 115 m. w. N.; Otto JR 2000, 215; zweifelnd mit Blick auf die Rspr. des BGH zum Bankomatenmissbrauch auch Schmitt/Ehrlicher JZ 1988, 364, die mit Recht das Vorliegen einer funktionswidrigen Bedienung in den Falschgeldfällen in Frage stellen. 42 So statt Vieler NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 49 und Schönke-Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 36a.

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Kritisiert wird die vorherrschende Interpretation der Lehre vom bedingten Einverständnis insbesondere von Hoyer.43 Er vergleicht – im Ansatz ähnlich wie Dreher – die mechanisch korrekte Freigabe der Ware mit der Übergabe durch einen Menschen, der zuvor die Gegenleistung geprüft hat. Hierdurch wird nach Hoyer ein durch die Automatenaufstellung zunächst bedingt erklärtes Einverständnis mit der Gewahrsamsübertragung zu einem unbedingten Einverständnis verabsolutiert.44 Daher komme eine Wegnahme praktisch nur bei gewaltsamem Aufbrechen oder funktionswidrigem Einwirken auf den Ausgabemechanismus des Automaten in Betracht. Dieser Ansatz stimmt in den Ergebnissen weitgehend mit der Auffassung von Heinrich (in Fortführung der Ansicht Webers) überein, der die Lehre vom bedingten Einverständnis explizit ablehnt, da sie zur Umdeutung betrugstypischer Verhaltensweisen in Akte der Wegnahme führe.45 Mit entgegengesetzter Stoßrichtung kritisiert demgegenüber Mitsch die auf technisch objektivierte Bedingungen beschränkende herrschende Ansicht. Er will jegliche Art von Bedingungen akzeptieren, sofern deren Einhaltung im Falle der Beobachtung durch den (gedachten) Berechtigten irgendwie – und sei es bei genauestem Hinsehen – überprüft werden könne.46 Das Erfordernis einer technischen Objektivierung der (Einverständnis-)Bedingungen lehnt Mitsch ab, da allein der wirkliche – ggf. antizipiert und generell erklärte – Wille des Gewahrsamsinhabers unmittelbar über die Reichweite der Zustimmung entscheide.47 Insbesondere in den Fällen des Bankomatenmissbrauchs will Mitsch daher entgegen der h. M. einen Diebstahl annehmen, wenn ein Nichtberechtigter unter Verwendung der richtigen PIN Geld mit der Codekarte abhebt bzw. ein Falsifikat verwendet.48 Insgesamt bieten Rechtsprechung und Literatur zum „bedingten Einverständnis“ nur vordergründig ein einigermaßen klares Meinungsbild. Die Lehre erscheint eher wie ein Instrument zur Erzielung kriminalpolitisch für sinnvoll gehaltener Ergebnisse. Ziel der folgenden kritischen Würdigung ist daher nicht zuletzt die Beantwortung der Frage, ob sich den vorstehenden fallgruppenspezifischen Erwägungen ein Destillat entnehmen lässt, das als 43

SK-StGB/Hoyer § 242 Rn. 54 ff. SK-StGB/Hoyer § 242 Rn. 55; ähnlich für den Bankomatenmissbrauch Bandekow Strafbarer Missbrauch des elektronischen Zahlungsverkehrs, 1989, S. 142 ff. 45 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf-Heinrich BT § 13 Rn. 55 f. 46 Mitsch JuS 1986, 770 f; ders. JuS 1998, 310 f; aber auch ders. BT 2/1 § 2 Rn. 13, der beim Selbstbedienungstanken ohne Zahlungsbereitschaft Diebstahl annimmt, obwohl der mangelnde Zahlungswille äußerlich nicht erkennbar ist; ähnlich wohl Füllkrug/Schnell wistra 1988, 178. 47 Mitsch JuS 1986, 770; auch Gössel BT 2 § 7 Rn. 58 f. 48 Mitsch JZ 1994, 879; ders. BT 2/1 § 1 Rn. 77 (m. w. N. auch zur Gegenmeinung); im Ergebnis ebenso bereits Gropp JZ 1983, 490 f. 44

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eine echte „Lehre vom bedingten Einverständnis“ verallgemeinert werden kann.

IV. Kritische Würdigung 1. Vorüberlegungen Die bisher ganz h. M. betont, der zutreffende und maßgebliche Ausgangspunkt für eine sachgerechte Lösung sei die Einwilligungslehre, die durch bestimmte Modifikationen (insbes. Generalisierung und Antizipation des zustimmenden Willens) lediglich den Besonderheiten der automatisierten Vertriebsmethode angepasst werden müsse. Da unter Bedingungen erteilte Einwilligungen zudem nicht nur zulässig, sondern sogar den Regelfall darstellen,49 streitet man sich in den Automatenfällen dann über die Qualität der Bedingungen, die angemessene Ergebnisse sicherstellen sollen. Von nicht minderer – nach hier vertretener Auffassung sogar überragender – Bedeutung für eine stimmige Lösung der besprochenen Problematik ist die Berücksichtigung der Funktion des Merkmals „Gewahrsamsbruch“. Bekanntlich leistet dieses (Unter-)Merkmal der dreigliedrigen Wegnahmedefinition50 die Abgrenzung des Diebstahls (als Eigentumsdelikt) zu den Vermögensdelikten. Wird der Gewahrsam „gegen oder ohne den Willen des Berechtigten“ aufgehoben, liegt eine Störung der Friedens- und Tabuzone vor, die den Diebstahl als Deliktstypus kennzeichnet.51 Stimmt der Berechtigte dagegen dem Gewahrsamswechsel zu, fehlt es an dieser Form sozial auffälligen (Wegnahme-)Verhaltens. Sofern der zustimmende Wille auf Täuschung oder Zwang beruht, kann das Täterverhalten aber immer noch als (Computer-)Betrug oder Erpressung strafbar sein. In solchen Fällen wird 49

Pars pro toto Mitsch Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004 (Habilitationsschrift 1991), S. 540, 625. Diese Erkenntnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die bedingte Einwilligung in Darstellungen zur allgemeinen Einwilligungslehre häufig keine gesonderte Erwähnung findet. Denn praktisch jede Rechtsgutspreisgabe erfolgt aufgrund bestimmter Motive des Einwilligenden, die sich konstruktiv ebenso als konkludent gesetzte Bedingungen der Einwilligungserteilung formulieren lassen (Bsp.: Die Einwilligung in eine ärztliche Heilbehandlung steht unter der [konkludenten] Bedingung der Richtigkeit einer vorhergehenden ärztlichen Aufklärung). So verstanden sind die Fälle nicht erfüllter Bedingungen unter Einwilligungsgesichtspunkten Fragen der Willensmängeldogmatik; näher zu Motiven und Bedingungen bei der Einwilligung Rönnau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 418 ff und S. 199; ferner Sternberg-Lieben (Fn. 5) S. 535 ff. 50 Prüfungspunkte: Aufhebung fremden Gewahrsams, Begründung neuen Gewahrsams und Gewahrsamsbruch; dazu Rengier BT I § 2 Rn. 10; instruktiv Samson JA 1980, 286 ff. 51 Ausf. und grdl. dazu Welzel GA 1960, 264 ff; weiter Samson JA 1980, 287; Bittner (Fn. 8) S. 93; näher zum vom Diebstahlsverbot bezweckten Friedensschutz LK-Vogel Vor §§ 242 ff Rn. 29.

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überwiegend das Einverständnis mit der Vermögensverfügung gleichgesetzt, sodass überall dort, wo ein – trotz Täuschung und Zwang – wirksames Einverständnis die Wegnahme ausschließt, von einer Verfügung auszugehen ist.52 Dieses (Abgrenzung-)System ist für Konstellationen ersonnen worden, in denen sich Täter und Opfer gleichsam Auge in Auge gegenüberstehen. Es gerät dort in große Schwierigkeiten, wo der Gewahrsamsinhaber die Sache nicht übergibt, sondern sich dazu eines Automaten bedient. Im Folgenden wird sich zeigen, dass keine der bislang vertretenen Auffassungen mit der Einwilligungsdogmatik und der Systematik der Vermögensdelikte (i. w. S.) gleichermaßen vereinbar ist.

2. Generelle / antizipierte Einwilligung und technisch objektivierte Bedingungen in den Automatenfällen So lässt sich kaum übersehen, dass die Lehre vom bedingten Einverständnis das Rechtsinstitut „Einwilligung“ als Instrument der selbstbestimmten Freiheitsbetätigung im Umgang mit eigenen Gütern53 in den Automatenfällen fast bis zur Unkenntlichkeit zurechtstutzt. Auf einen aktuellen Willen, gerichtet auf die konkrete Freigabe von Waren oder Geld, wird vollständig verzichtet; stattdessen soll ein konkludentes, antizipiertes und generelles Einverständnis mit dem Gewahrsamswechsel ausreichen, um in Situationen, in denen der Automatenaufsteller im Zeitpunkt der Warenfreigabe schläft, bewusstlos oder gar tot ist, das Vorliegen eines Diebstahls zu verhindern – an die Stelle des Willens schiebt sich ersichtlich eine bloße Fiktion.54 Nach der dargestellten h. L. kann auch ein derart modifiziertes Einverständnis, jedenfalls in den Automatenfällen, an Bedingungen geknüpft werden. Beachtlich – und im Falle ihres Nichteintritts zur Wegnahme und damit zur Diebstahlsstrafbarkeit führend – sollen aber nur die Bedingungen sein, die in technischen Vorrichtungen (des Automaten) objektiviert sind.55 Dass diesen Einschränkungsbemühungen in der Sache ein berechtigter Kern zugrunde liegt, zeigt das folgende Beispiel: Der Aufsteller eines Süßigkeitenautomaten möchte nicht, dass Diabetespatienten Waren aus seinem Automaten entnehmen, da er eine Zusatzbelastung der Krankenkassen zum Nachteil der Allgemeinheit befürchtet, bringt aber am Automaten keinen 52

Zur Abgrenzung näher Lackner/Kühl § 263 Rn. 22 ff m. w. N. Statt Vieler Roxin AT I § 13 Rn. 12 ff und Rönnau (Fn. 49) S. 9 ff – jew. m. w. N. 54 Diese Fiktionalisierung des Willens vollzieht die h. M. auch beim den Gewahrsam mitbegründenden Herrschaftswillen, da sie einen potentiellen oder generellen Sachherrschaftswillen ausreichen lässt, s. nur LK-Vogel § 242 Rn. 53, 67 m. w. N. 55 Siehe die Nachw. oben Fn. 37. 53

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entsprechenden Hinweis an. Hier eine Wegnahme i. S. d. Diebstahlstatbestandes anzunehmen, wenn ein Diabetiker nach ordnungsgemäßer Bedienung einen Schokoriegel entnimmt, wäre schwer verständlich zu machen und ruft förmlich nach einer objektivierten Gewahrsamsschranke.56 Dennoch fehlt es im Beispiel an einem Einverständnis des Berechtigten mit der Warenentnahme durch D. Dass der entsprechende Wille technisch nicht objektiviert ist, vermag an seinem Inhalt ersichtlich nichts zu ändern – und allein dieser bestimmt die Reichweite der konsentierten Eingriffe. Nach h. M. bedarf dieser Wille beim Einverständnis nicht einmal der Kundgabe nach außen.57 Das Erfordernis seiner technischen Objektivierung scheint insofern nicht begründbar.58 Die herrschende Lehre führt auch in diesem Punkt in Wahrheit zur Annahme kontrafaktischer, rein fiktiver Einverständnisse. Wieso sollte auch der Berechtigte damit einverstanden sein, dass aus seinem Automaten Waren entnommen werden, nachdem dessen Ausgabemechanismus zuvor mit wertlosen Metallplättchen „überlistet“ wurde oder damit, dass sein Geldspielautomat unter Verwendung illegal erlangter Daten „leergespielt“ wird? Ein diesbezüglicher zustimmender Wille ist nie gebildet worden. Zu diesen grundsätzlichen Bedenken gegen die herrschende Lehre kommt hinzu, dass der Begriff der „technischen Objektivierung“ einer Bedingung unterschiedlich weit ausgelegt wird. Dies sei am Beispiel der Falschgeldbenutzung verdeutlicht: Technisch objektiviert sind streng genommen allein diejenigen Bedingungen, deren Vorliegen vom Prüfmechanismus des Automaten vor der Freigabe etwa der Ware überprüft wird. Dies ist aber nicht die Bedingung „gültige Euro-Münzen“, sondern allenfalls „Gegenstände von der Abmessung bzw. dem Gewicht gültiger Euro-Münzen“.59 Bei einem solchen Verständnis scheidet eine Wegnahme immer dann aus, wenn es dem Täter gelingt, den Ausgabemechanismus des Automaten unter „Über56 Die Objektivierung stellt den Versuch dar, die hier im Ausgangspunkt zugrunde gelegte Einwilligungslehre mit der systematischen Funktion des Wegnahmemerkmals „Bruch“ zu versöhnen, da beim Abstellen auf den wirklichen Willen die Abgrenzung zum Betrug nicht gelingt (dazu sogleich). 57 Pars pro toto Wessels/Beulke AT Rn. 368. 58 Die für das Objektivierungserfordernis ursprünglich vorgebrachte Begründung von Otto (JR 1987, 222; vgl. später aber ders. JZ 1993, 563 und JR 2000, 215), wonach der Diebstahl ein „formelles Willensbruchdelikt“ sei, das die Überwindung eines real entgegenstehenden Willens des Geschützten voraussetze, überzeugt nicht. Denn zum einen wäre hiernach nicht mehr das Einverständnis ein negatives Tatbestandsmerkmal der Wegnahme, sondern der entgegenstehende Wille würde erst die Wegnahme begründen; zum anderen verlangt auch in sonstigen Diebstahlsfällen niemand eine Objektivierung des entgegenstehenden Willens. 59 Dass bei heute gängigen Münzprüfgeräten neben Gewicht und Abmessung auch die Legierung der Münzen geprüft wird (Bühler [Fn. 23] S. 69 f, näher S. 28 ff), berührt die folgenden Gedanken im Kern nicht und wird daher aus Vereinfachungsgründen vernachlässigt.

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listung“ des Prüfmechanismus in Gang zu setzen; denn er hat offensichtlich diejenigen technischen Bedingungen erfüllt, unter denen die mechanische Warenfreigabe erfolgt. Dieser Ansatz führt dazu, dass jede technisch mögliche Auslösung der mechanisch korrekten Warenausgabe die Wegnahme ausschließt. Als Diebstahl zu qualifizieren wären danach nur Fälle einer Umgehung bzw. Beschädigung der Ausgabemechanik. Wer dagegen wie Teile des Schrifttums bei der Verwendung von Falschgeld davon spricht, es sei eine technisch objektivierte Bedingung nicht erfüllt, der knüpft bei der Formulierung der Einverständnisvoraussetzungen in Wahrheit nicht an technische Vorrichtungen an. Vielmehr wird – in recht freier Interpretation – aus dem Vorhandensein irgendeiner Prüfeinrichtung (im Beispiel: Prüfung von Abmessung und Gewicht des Geldes) auf den Willen des Berechtigten (Bedingung: „gültige Euro-Münzen“) geschlossen. Auch diese Unsicherheiten bei der Konkretisierung der „technisch objektivierten Bedingung“ sprechen gegen diesen Lösungsversuch.

3. Wirklicher Wille, Übergabe durch den Automaten und äußeres Erscheinungsbild Ist die herrschende Lehre somit aus vorstehenden Gründen abzulehnen, stellt sich die Frage, ob eine andere der bislang vertretenen Meinungen eine überzeugendere Lösung verspricht. Die Auffassung von Mitsch etwa trägt jedenfalls dem Grundgedanken der Einwilligung durch Rückgriff auf den wirklichen Willen angemessen Rechnung, muss sich also nicht schon im Ausgangspunkt in Fiktionen flüchten. Wenn aber für alle – oder zumindest die meisten – Fälle der Nichterfüllung von Bedingungen mangels Einverständnisses ein Diebstahl angenommen wird,60 kollidiert diese Ansicht mit der Systematik der Vermögensdelikte i. w. S.61 Dies wird schnell deutlich, sobald man den (allgemeingültig formulierten) Ansatz über die Automatenfälle hinaus ausdehnt.62 Wer vom Käufer für die veräußerte und übergebene Sache Falschgeld bekommt, wird – nach herkömmlicher Auffassung – Op60

Ursprünglich forderte Mitsch, dass die Bedingungen für ein (generelles) Einverständnis für Beobachter erkennbar sein müssen (JuS 1986, 771); damit unvereinbar ist aber die Annahme von Diebstahl in Fällen des Selbstbedienungstankens bei für Dritte nicht erkennbar fehlender Zahlungsbereitschaft (BT 2/1 § 2 Rn. 13). 61 Dass es zu Friktionen im Verhältnis zu § 263 StGB führt, wenn man uneingeschränkt auf den wirklichen Willen abstellt, erkennen zutr. etwa Neumann CR 1989, 718 f; ders. JuS 1990, 538 und MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 83; § 263 StGB würde dann den Sachbetrug nicht mehr erfassen. 62 Für eine Beschränkung der Lehre vom bedingten Einverständnis auf Automatenfälle Seier JR 1982, 510 f (jedoch ohne Begründung). Ein solches „Automatensonderrecht“ bedürfte indes eingehender dogmatischer Rechtfertigung, da allgemeine Rechtsfiguren – wie hier das Einverständnis – nicht einfach für bestimmte Fälle umfunktioniert werden können.

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fer eines Betruges, nicht eines Diebstahls. Fragt man den Verkäufer nach seinem wirklichen Willen, wird er ausführen, die Durchführung des Geschäfts stehe unter der (konkludenten) Bedingung der Zahlung mit echtem Geld (d. h. einer werthaltigen Gegenleistung). Das Fehlen dieser Voraussetzung – also tatsächlich eine Gewahrsamsverschaffung im Motivirrtum – ändert aber nichts am Vorliegen eines Betruges. Als Diebstahl wird das Täterverhalten nach h. M. erst dann eingestuft, wenn sich das Opfer darüber irrt, überhaupt den Gewahrsam aufzugeben.63 Mag Mitsch also die hier behandelte Problematik unter Einwilligungsgesichtspunkten auch am überzeugendsten gelöst haben, hält seine Auffassung doch der notwendigen Überprüfung auf systematische Stimmigkeit nicht stand. Der soeben angedeutete Gedanke der Parallelität zwischen den Automatenfällen und typischen Betrugskonstellationen wurde bereits von Dreher herausgearbeitet und wird heute insbesondere von Heinrich betont. Doch genügt eine bloße „Betrugsähnlichkeit“ nicht, um dogmatisch schlüssig eine Wegnahme zu verneinen. Denn auch wenn sich eine gewisse strukturelle Vergleichbarkeit nicht von der Hand weisen lässt,64 fehlt es in den Automatenfällen an einer willentlichen Gewahrsamsübertragung durch den Berechtigten. Allein diese schließt aber in Abgrenzung zum Sachbetrug das Vorliegen eines Gewahrsamsbruchs aus. Den Vertretern dieser Auffassung bleibt somit nichts anderes übrig, als dem Berechtigten die Warenausgabe durch den Automaten zuzurechnen, obwohl diese gegen bzw. jedenfalls ohne seinen Willen erfolgt. Eine überzeugende Begründung für eine solche Zurechnung fehlt jedoch.65 Sie kann insbesondere nicht darauf gestützt werden, dass die Warenfreigabe eine bedingungsfeindliche Übergabe i. S. d. § 929 BGB darstelle.66 Denn eine wirksame Übergabe i. S. d. § 929 BGB 63 Zur insofern praktisch bedeutsamsten Fallgruppe des vom Kassierer unbemerkten „Hinausschleusens“ von Waren aus Selbstbedienungsläden BGHSt 41, 198 (201 ff); Rengier BT I § 13 Rn. 38 – jew. m. w. N. 64 Zu den Grenzen der Vergleichbarkeit von Automat und menschlichem Verkäufer etwa in Fällen, in denen der Automat gewaltsam geöffnet wird, Seier JR 1982, 510; krit. auch J. Schulz NJW 1981, 1352. 65 So heißt es etwa bei Hoyer (SK-StGB § 242 Rn. 55) apodiktisch, die mechanisch korrekte Warenfreigabe „muss“ als Erklärung der Bereitschaft des Automatenaufstellers zur unbedingten Gewahrsamsübertragung verstanden werden. Warum der rein technische Vorgang der Warenfreigabe zu einer „Objektivierung“ (Rn. 56) des Willens führen soll bzw. warum der kontrafaktisch objektivierte Wille einer tatsächlich freiwilligen Gewahrsamsaufgabe gleichgestellt sein soll, bleibt indes unbeantwortet. 66 Vgl. insofern auch die Kritik bei Ranft JA 1984, 6 sowie Lenckner/Winkelbauer wistra 1984, 86 f, wonach es sich nicht um eine Übergabe, sondern um eine „Gestattung der Wegnahme“ handele; zur von diesen Autoren in Bezug genommenen zivilrechtlichen Konstruktion der Übergabe nach § 854 Abs. 2 BGB, bei der § 158 BGB grundsätzlich anwendbar ist, Palandt/Bassenge § 854 Rn. 6 ff.

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bedarf eines subjektiven Elements in Gestalt eines Übergabe- bzw. Besitzübertragungswillens.67 Dieser müsste bei einer bestimmungswidrigen Automatenbenutzung ebenso fingiert werden wie nach dem Konzept der herrschenden Ansicht das Einverständnis in die Gewahrsamsübertragung.68 Eine plausible Begründung für die Unbeachtlichkeit des fehlenden bzw. entgegenstehenden Willens bietet daher auch die auf Dreher zurückgehende Auffassung nicht. Schließlich überzeugt es nicht, das Vorliegen eines Diebstahls davon abhängig zu machen, ob dem äußeren Erscheinungsbild nach ein „Geben“ oder ein „Nehmen“ vorliegt. Ein solches Verständnis ermöglicht keine klare Abgrenzung. Dies zeigt sich gerade in den Automatenfällen: Übergibt der Geldautomat die Scheine, indem er diese in das Ausgabefach expediert, oder nimmt der Täter sie weg, da er sie aus dem Ausgabefach herausnimmt? Im Übrigen würde niemand bestreiten, dass es sich trotz des äußeren Erscheinungsbildes um einen Betrug handelt, wenn etwa der gerade mit Reinigungsarbeiten beschäftigte Inhaber eines Ladenlokals seinem wahrheitswidrig eine spätere Bezahlung in Aussicht stellenden Stammkunden gestattet, sich die Waren selbst aus dem Regal zu nehmen und das Geschäft zu verlassen. Bei einem solchen täuschungsbedingten Einverständnis mit einem „äußerlichen Nehmen“ durch den Täter ist stets der Betrugstatbestand einschlägig.69 Das äußerliche Erscheinungsbild kann insofern nicht das maßgebliche Abgrenzungskriterium sein. Mit der These, den Gewahrsamsbruch vom zustimmenden Willen zu lösen, beschreitet aber dieser Ansatz wie auch der der technisch objektivierten Bedingung den richtigen Weg. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Lehre vom bedingten Einverständnis führt bei der Lösung der Fälle missbräuchlicher Automatenbenutzung zu erheblichen Friktionen mit der herkömmlichen Dogmatik. Dass derjenige, der einen allgemein zugänglichen Automaten aufstellt, sein Einverständnis mit dessen Nutzung nicht beliebig mit Bedingungen verknüpfen kann, ist – soll die Zustimmung wirksam sein – schon unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium einsichtig. Die von einem Großteil des Schrifttums vorgenommene Normativierung des Willens bedarf einer schlüssigen Begründung, die angesichts der prinzipiellen Maßgeblichkeit des wirklichen Willens für das Einverständnis nicht leicht zu finden ist. Andere Lösungsansätze können – wie gezeigt – ebenfalls nicht 67 Siehe BGHZ 67, 207 (208 f) (dort zu einem Fall des § 933 BGB); Palandt/Bassenge § 929 Rn. 13; Baur/Stürner SachenR § 51 Rn. 18; ausf. und m. w. N. MK-BGB/Oechsler § 929 Rn. 59 ff, der einen „Konsens zwischen Veräußerer und Erwerber über den Wechsel im Eigenbesitz“ fordert und auf diesen die §§ 158 ff. BGB anwenden will (Rn. 61 m. w. N.). 68 Zutr. erkannt von Albrecht JuS 1983, 102. 69 Die Vermögensverfügung ist hier in der täuschungsbedingten Duldung der eigenständigen Gewahrsamsbegründung zu sehen.

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überzeugen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu stellen, ob die auf Objektivierung bzw. Normativierung drängenden Überlegungen der herrschenden Lehre nicht an anderer Stelle dogmatisch besser verarbeitet werden können. Anstatt eine Lösung über das subjektive Kriterium des Einverständnisses mit dem Gewahrsamswechsel anzustreben, soll daher im abschließenden Teil dieses Beitrags gezeigt werden, dass der Gewahrsamsbegriff selbst einen sachnahen Anknüpfungspunkt für eine normativ fundierte, in sich stimmige Konstruktion bietet.

V. Die partielle Öffnung der Gewahrsamssphäre Der Begriff des Gewahrsams steht im Zentrum der Wegnahmedefinition. Er war stets Gegenstand intensiver Diskussionen.70 Die h. M. versteht unter Gewahrsam primär die faktische, vom Herrschaftswillen getragene Sachherrschaft, während eine Gegenauffassung für eine Bestimmung des Begriffs anhand von sozial-normativen Elementen plädiert.71 Diese Diskrepanzen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Feststellung von Gewahrsamsbeziehungen de facto stets anhand einer wertenden Einzelfallbetrachtung erfolgt, weshalb sich die unterschiedlichen Ansätze in ihren Ergebnissen kaum unterscheiden.72 Dabei bilden für den sich selbst als „faktisch-sozial“ bezeichnenden herrschenden Gewahrsamsbegriff die „Anschauungen des täglichen Lebens“, anhand derer die Gewahrsamsverhältnisse beurteilt werden sollen, das Einfallstor für wertende Erwägungen. Gewahrsam beschreibt also letztlich nichts anderes als die sozial anerkannte Zuordnung einer Sache zu einer Person, die nur sie als zum Umgang mit der Sache befugt erscheinen lässt.73 Innerhalb der dem Berechtigten insoweit zugewiesenen Gewahrsamssphäre bewirkt der Zugriff von Dritten die für das Diebstahlsunrecht im Verhältnis zur Unterschlagung typische sozial inadäquate Friedensstörung.74 An einer solchen fehlt es allerdings, wenn eine Gewahrsamsverschiebung mit dem Einverständnis des Berechtigten stattfindet. Auch der Täter eines Betruges oder einer Erpres70

Eingehend und m. umf. Nachw. NK-StGB/Kindhäuser § 242 Rn. 28 ff; zusf. zuletzt Rönnau JuS 2009, 1088 ff. Ob der Gewahrsam ein eigenes Schutzgut des § 242 StGB darstellt, ist umstritten; dazu nur Schönke/Schröder-Eser/Bosch S. 242 Rn. 1/2 m. w. N. 71 Zum Streitstand statt Vieler Fischer § 242 Rn. 11 m. w. N. aus Rspr. und Lit. 72 In diesem Sinne etwa Schönke/Schröder-Eser/Bosch § 242 Rn. 24; LK-Vogel § 242 Rn. 55; auch MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 55 – jew. m. w. N. 73 Eindringlich Bittner (Fn. 8) S. 153 ff; weiterhin Samson JA 1980, 287; vgl. auch NKStGB/Kindhäuser § 242 StGB Rn. 28, der bestehenden Gewahrsam treffend durch die „soziale Unauffälligkeit des Zugriffs“ charakterisiert. 74 Siehe die Nachw. oben Fn. 51.

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sung bewirkt eine Gewahrsamsverschiebung, nimmt aber gerade nicht i. S. d. § 242 StGB weg.75 Das Einverständnis ist mithin ein negatives Tatbestandsmerkmal. Die Aufhebung einer sozial anerkannten Herrschaftsbeziehung ist nach diesem Grundverständnis immer dann, aber auch nur dann sozial unauffällig, wenn sie im Einvernehmen mit dem Subjekt jener Herrschaftsbeziehung erfolgt. Dieser Ausgangspunkt ist plausibel, sofern der Gewahrsamsinhaber an der Gewahrsamsverschiebung unmittelbar beteiligt ist. In den hier behandelten Automatenfällen liegt es strukturell aber anders. Denn der Automatenaufsteller richtet an jedermann die Aufforderung, durch die Bedienung des Automaten seinen Gewahrsam am Automateninhalt aufzuheben.76 Er öffnet also auf dem von ihm durch die Mechanik des Ausgabemechanismus freigegebenen Weg partiell (sektoral) seine Gewahrsamssphäre, ohne aber ansonsten den Gewahrsam am Automateninhalt zu verlieren. Hält sich der Nutzer an diese vorgegebene „Marschroute“, fehlt es an einer Störung der durch den Gewahrsam ausgedrückten Tabu- und Friedenszone und damit an einer Wegnahme.77 Auf ein Einverständnis des Automatenaufstellers, sei es konkludent, generell, antizipiert oder in welcher Form auch immer ausgedrückt bzw. gebildet, kommt es dann nicht (mehr) an. Dieser Grundsatz trifft die soziale Wirklichkeit und harmoniert zudem mit der Dogmatik zum Gewahrsamsverlust, die auch bei unbewusster Auflösung der räumlichsozialen Beziehung zur Sache (etwa das am Bahnhof abgestellte und vergessene Fahrrad) den Gewahrsam untergehen lässt.78 Damit fehlt es bei einer ordnungsgemäßen Automatennutzung an einer Wegnahme nicht etwa deshalb, weil diese von einem Einverständnis des Berechtigten gedeckt ist. Eine diebstahlstypische Friedensstörung scheitert vielmehr daran, dass der Eingriff in einen gleichsam „für Eingriffe geöffneten“ Herrschaftsbereich aus objektiven Gründen nicht als sozial inadäquat anzusehen ist. Ebenso bereitet die Feststellung einer Wegnahme dann keine Schwierigkeiten, wenn der Automat gewaltsam aufgebrochen oder der Ausgabemechanismus anderweitig umgangen bzw. außer Funktion gesetzt wird. Hier liegt eine Friedensstörung vor. Bei diesem vom subjektiven Willen des Automatenaufstellers gelösten objektiven Verständnis des Gewahrsamsbruchs bereitet auch die Behand75

MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 74. Hierdurch unterscheidet sich diese Konstellation vom Hauseigentümer, der den Schlüssel im Schloss stecken lässt und damit anderen faktisch ebenfalls die Möglichkeit gibt, sich in seine Gewahrsamssphäre zu begeben. 77 In Anknüpfung an einen Gedanken von Samson in WuW-StrafR BT, Bd. 2 (unveröffentlicht), S. 362 ff. 78 Statt Vieler Samson JA 1980, 288; SK-StGB/Samson 27. Lfg. (Juli 1990) § 242 Rn. 28 f; LK-Vogel § 242 Rn. 66 – jew. m. w. N. 76

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lung der zwischen diesen Polen liegenden – umstrittenen – Fallgruppen keine größeren Schwierigkeiten mehr. Anknüpfungspunkt kann hier stets nur der Ausgabemechanismus als vom Berechtigten vorgegebener Weg der Gewahrsamsfreigabe sein.79 Wird dieser vom Täter ausgelöst, sei es auch durch Einsatz von Falschgeld oder unter Verwendung von Drähten, liegt keine Wegnahme vor.80 Ebenso wenig kommt Diebstahl beim „Leerspielen“ von Geldautomaten in Betracht, wenn bei diesen die Stellung der Walzen manipuliert oder wenn ein Geldwechselautomat mit einem präparierten Geldschein bedient wird, den der Nutzer nach Auswurf des Wechselgeldes wieder herauszieht. Ob der Ausgabemechanismus noch funktioniert, wenn der Täter durch einen Draht oder auf andere Weise einen Kurzschluss auslöst, ist Tatfrage. Beim Bankomatenmissbrauch entfällt Diebstahl unabhängig davon, ob der Automatenbediener berechtigt oder nicht berechtigt ist und ob er eine echte oder eine gefälschte Codekarte verwendet. Eine Wegnahme kommt auch hier allein in Betracht, wenn der Automat aufgebrochen oder seine Mechanik außer Funktion gesetzt wird. In den Fällen des Selbstbedienungstankens scheidet ein Diebstahl aus, sofern das Benzin durch mechanisch ordnungsgemäße Benutzung der Zapfsäule abgepumpt wird.

VI. Fazit Die Untersuchung hat ergeben, dass die Lehre vom bedingten Einverständnis ihr berechtigtes Anliegen – die sachgerechte strafrechtliche Erfassung des Automatenmissbrauchs – mit dogmatisch teilweise problematischen Mitteln verfolgt. Der hier befürwortete Ansatz zielt durch die Fokussierung auf objektive Elemente des Wegnahmebegriffs darauf ab, die notwendige Zurückdrängung des Willensmoments dogmatisch stimmig zu entwickeln und Willensfiktionen zu vermeiden. Zugleich bleibt die systemgerechte Erfassung strafwürdiger Verhaltensweisen durch einschlägige 79 In der Sache ebenso MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 84 ff, der jedoch die funktionsgerechte Benutzung des Ausgabemechanismus als Bedingung des Einverständnisses versteht, was hier aus den dargestellten Gründen abgelehnt wird. 80 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Manipulation von Automaten mit Drähten oder Falschgeld ist sicher kein sozialadäquates Verhalten. Dies ist aber auch die Täuschung i.S.d. § 263 StGB nicht. Dennoch fehlt der täuschungsbedingten Gewahrsamsübertragung das diebstahlstypische Merkmal der Friedensstörung. Insofern ist die mechanisch korrekte Warenfreigabe also tatsächlich das normative Äquivalent zur freiwilligen Gewahrsamsaufgabe, deren Vorliegen unabhängig von der Art ihrer Herbeiführung einen Diebstahl ausschließt. Anders als bei Dreher und Hoyer wird dieser Gedanke hier jedoch nicht dadurch umgesetzt, dass diese Freigabe dem Berechtigten kontrafaktisch als „von ihm gewollte“, durch den Automaten vollzogene Übergabe zugerechnet wird. Vielmehr ist ein etwaig entgegenstehender Wille wegen der objektiv sozialadäquaten Gewahrsamsfreigabe unbeachtlich.

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Spezialvorschriften (§§ 263a, 265a StGB) sowie ggf. subsidiär durch die Unterschlagung möglich; kriminalpolitisch inakzeptable Strafbarkeitslücken entstehen daher nicht. Vielleicht findet der Lösungsversuch auch Gefallen vor den strengen Augen des Jubilars, der sich wie kein anderer um die deutsche Strafrechtsdogmatik verdient gemacht hat.

Autonomie und Einwilligung bei ärztlicher Heilbehandlung Eine Skizze aus spanischer Perspektive* MANUEL CANCIO MELIÁ

Claus Roxin hat in seinem kolossalen Werk eine ungeheure Bandbreite von Themen aus Allgemeinem Teil und Besonderem Teil, aus Dogmatik und Kriminalpolitik bearbeitet. Eine besondere Stellung nimmt in seinem Denken die strafrechtliche Transposition des Autonomiegedankens ein: Wie bekannt gab er vor nun 40 Jahren die entscheidenden Impulse, die die heute gängige Würdigung von Selbstverantwortung (Teilnahme an einer Selbstgefährdung) im Rahmen der objektiven Zurechnung auf den Weg brachten. Auch der deutlichsten Form von Opferzuständigkeit, d. h., derjenigen, die aus Einwilligung erwächst, hat der verehrte Jubilar Untersuchungen gewidmet. Andererseits hat sein Werk, wie ebenfalls bekannt ist, im ganzen spanischen Sprachraum und insbesondere in Spanien eine derart intensive Ausstrahlung, dass seine Gedanken in jeder strafrechtlichen Publikation, in jeder Vorlesung zum Strafrecht unabdingbar sind. Vielleicht mag deshalb ein Beitrag, in dem einerseits die spanische Regelung zur Einwilligung des Patienten reflektiert und andererseits einige Überlegungen zu seiner Autonomie dargelegt werden, in ein Buch passen, das zu Ehren Claus Roxins veröffentlicht wird.

I. Einführung 1. Aus der Perspektive des Rechts wird der ganze Medizinbetrieb in unserer Zeit von keinem anderen Gedanken so intensiv dominiert wie von demjenigen der Autonomie des Patienten. Im spanischen Fall wird dies dadurch *

Die in diesem Beitrag auszuführenden Thesen wurden in einem Referat im Rahmen eines von Urs Kindhäuser an der Universität Bonn (4.12.2009) organisierten Seminars formuliert. Den dortigen Kollegen und Teilnehmern an der Diskussion gebührt herzlicher Dank für ihre Anregungen.

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verdeutlicht, dass das Gesetz, das die Grundelemente der Beziehung zwischen Arzt und Patienten bestimmt, die Bezeichnung „Patientenautonomiegesetz”1 trägt. Soweit ich sehe, legt die spanische Rechtsordnung auch insgesamt besonderen Wert auf die Betonung des Autonomiegedankens.2 In diesem Bereich – wie auf anderen Gebieten der Strafgesetzgebung – ist festzustellen, dass die besonderen Züge der jüngsten politischen Entwicklung in Spanien, d. h., das lange Fortbestehen der nationalkatholischen Diktatur bis 1977, zu einer Kondensierung der kriminalpolitischen Entwicklung geführt hat. Während noch Mitte der achtziger Jahre mehrere Fälle Aufsehen erregten, bei denen Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas – mit richterlicher Ermächtigung aus Notstand – gezwungen wurden, medizinisch indizierte Bluttransfusionen zu dulden, die sie aus religiöser Überzeugung ablehnten,3 forderte zwanzig Jahre später, im Jahre 2007, eine an einer progressiven Muskeldystrophie leidende Frau – die Krankheit hatte sie vom Hals abwärts gelähmt, stellte aber keine unmittelbare Bedrohung ihres Lebens dar – unter Berufung auf ihr Recht auf Ablehnung einer medizinischen Behandlung (Art. 2.4 LAP) ein Ende der künstlichen Beatmung, und ihr Begehren wurde ohne weitere rechtliche Diskussion – allerdings unter lautstarken Protesten einiger Kirchenfürsten – angenommen, auch wenn dies natürlich den Tod der Antragstellerin bedeutete.4 In der heutigen spanischen Rechtsordnung ist also das in Art. 43.1 CE verbriefte Recht auf Gesundheitsschutz auf das Engste mit dem grundlegenden, in Art. 10 CE statuierten Prinzip der freien Persönlichkeitsentwicklung als Fundament der „politischen Ordnung und des gesellschaftlichen Friedens” verbunden. 1 Ley 41/2002 v. 14.11., básica reguladora de la autonomía del paciente y de derechos y obligaciones en materia de información y documentación clínica (im folgenden LAP; „Grundlagengesetz zur Regelung der Patientenautonomie und zu Rechten und Pflichten auf dem Gebiet der klinischen Information und Patientendokumentation“; es handelt sich um ein Grundlagengesetz („ley básica“), das – ähnlich dem deutschen Rahmengesetz – nach Art. 149.1.1. und 16 der spanischen Verfassung (Constitución española, CE) dem Zentralstaat gegenüber den Autonomen Gemeinschaften (= Länder) – in deren Zuständigkeitsbereich das Gesundheitswesen im Prinzip fällt (Art. 148.1.21 CE) – die Regelung der Grundelemente eines bestimmten Bereichs vorbehält. Neben diesem gesamtspanischen Gesetz bestehen die entsprechenden Landesgesetze). 2 So wird die Einwilligung nach Aufklärung des Patienten in STS [= sentencia del Tribunal Supremo, Urteil des Obersten Gerichtshofes] v. 12.1.2001 (Zivilsenat) als „Grundmenschenrecht“ bezeichnet. 3 Nachweise bei Cancio Meliá Conducta de la víctima e imputación objetiva, 2. Aufl. 2001, S. 51 f; zur heutigen Lage vgl. nur Pérez Triviño InDret 2/2010. 4 Vgl. zum Fall nur http://www.elpais.com/articulo/sociedad/Chaves/decision/trasladarla/hospital/publico/fue/Vaticano/elpepusoc/20070315elpepusoc_1/Tes; zur Ablehnung von lebensnotwendigen Dauerbehandlungen nach heutigem spanischen Recht nur Arruego Rodríguez InDret 2/2009.

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So scheint es also, dass die Autonomie endgültig über den Paternalismus triumphiert hat, wir nun an der Endhaltestelle angelangt sind. Dieser Paradigmenwechsel muss sich natürlich auch auf die strafrechtliche Haftung auswirken. Schon hier kann die Hypothese formuliert werden, dass die Haftung des medizinischen Personals notwendigerweise in einem vom Wert Autonomie geleiteten System weiter reichen wird als in einem paternalistischen Betrieb: Wird der Patient vom Objekt – wie das Wort es schon sagt: dem Erleidenden – zum Subjekt, zum aktiven Mitspieler der Behandlung, kann die mutwillige Streichung seines Parts – vor allem: der Einwilligung – durch den Arzt dazu führen, dass der Zuständige strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. 2. Die juristische Apotheose dieses Primats der Autonomie ist also in diesem Bereich in der Anerkennung der Einwilligung5 des Patienten als Herzstück der Beziehung zwischen Arzt und Patient zu sehen. Hierbei ist es offensichtlich, dass auf dem Gebiet der Medizin – mit seinem hyperspezialisierten Kenntnisstand – die Einwilligung stets – wie der spanische Volksmund formuliert – nur nasses Papier sein wird, wenn sie nicht auf einer annehmbaren Kenntnis der Lage und der Behandlungsalternativen beruht. Deshalb scheint es unerlässlich – auch unter Berücksichtigung seiner spezifischen geistigen Fähigkeiten –, dass der Patient die notwendige Information erhält, damit die Einwilligung diesen Namen und die rechtliche Bewertung als solche verdient. Diese Verbindung ist so wesentlich, dass sich in der spanischen Rechtsterminologie – wie auch in anderen Ländern – die eigentlich redundante Bezeichnung „consentimiento informado”, d. h. „aufgeklärte Einwilligung” spezifisch für den Medizinbereich eingebürgert hat. Hier liegt die Achse der ganzen gesetzlichen Regelung: Auf der Grundlage der Konvention von Oviedo6 ruft das LAP förmlich die Autonomie als Schlüsselelement des ganzen normativen Systems aus: Die Achtung des „autonomen Willens” des Patienten wird zum grundlegenden Prinzip.7 Auf 5

Zur Stellung der Einwilligung im dogmatischen Gesamtsystem der Opferzuständigkeit vgl. Cancio Meliá (Fn 3) S. 147 ff, 172 ff; zusammengefasst ders. ZStW 111 (1999), 357 ff, 363 ff. 6 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4.4.1997; dieser auch als „BioethikKonvention des Europarats“ bekannten – und in Deutschland heiß umstrittenen – europäischen Konvention misst der spanische Gesetzgeber entscheidende Bedeutung bei der Begründung des spanischen LAP zu; vgl. insbesondere Art. 5, in dem das allgemeine Erfordernis der Einwilligung des Patienten und seiner entsprechenden Aufklärung statuiert wird, und Art. 10, in dem das Recht des Patienten auf Information (und auch darauf, keine Information zu erhalten) festgeschrieben wird. 7 „Art. 2. Grundlegende Prinzipien. 1. Die Würde des Menschen, die Achtung seines autonomen Willens und seiner Privatsphäre leiten jede Tätigkeit, die auf die Aufnahme, Nutzung, Archivierung, Gewahrsam und Übertragung klinischer Information und Dokumentation ausgerichtet ist.

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der operativen Ebene der Institution der Einwilligung beginnt das LAP nach angelsächsischer Art mit einer Begriffsbestimmung in Art. 3: „Aufgeklärte Einwilligung: das freie, willensgeleitete und bewusste Einverständnis des Patienten bezüglich einer seine Gesundheit betreffenden Handlung, das in voller Verfügung seiner Geisteskräfte und nach angemessener Aufklärung geäußert wird.” Die konkrete Regelung wird auf Art. 4 (Aufklärung/Information8) und Art. 8 („aufgeklärte” Einwilligung9) verteilt.

2. Jede Handlung im Bereich der Medizin bedarf im Allgemeinen einer vorherigen Einwilligung von Patienten oder Nutzern. Die Einwilligung, die nach angemessener Aufklärung des Patienten einzuholen ist, wird in den gesetzlich vorgesehenen Fällen schriftlich festgehalten. 3. Der Patient oder Nutzer hat das Recht, sich nach angemessener Aufklärung frei für eine unter den verfügbaren klinischen Optionen zu entscheiden. 4. Jeder Patient oder Nutzer hat das Recht, außer in den gesetzlich bestimmten Fällen die Behandlung abzulehnen. Seine Ablehnung der Behandlung wird schriftlich festgehalten.” (Ohne Kursivschrift im Original). 8 „Art. 4 Recht auf behandlungsrelevante Information 1. Bei jeder Handlung, die ihre Gesundheit betrifft, haben die Patienten das Recht, alle verfügbaren Informationen unbeschadet gesetzlicher Ausnahmen zu kennen. Zudem hat jede Person das Recht, dass sein Wille, nicht informiert zu werden, beachtet wird. Die Information wird regelmäßig mündlich übermittelt und in der Krankengeschichte festgehalten und umfasst zumindest den Zweck und Art eines jeden Eingriffs nebst seiner Risiken und Folgen. 2. Die klinische Information ist Teil einer jeden betreuerischen Maßnahme, entspricht der Wahrheit, wird dem Patienten in verständlicher und seinen Bedürfnissen entsprechender Weise übermittelt und unterstützt diesen bei der Entscheidungsfindung nach seinem eigenen freien Willen. 3. Der für den Patienten verantwortliche Arzt gewährleistet jenem die Ausübung seines Rechtes auf Information. Das medizinische Personal, das ihn während des Behandlungsprozesses betreut oder eine bestimmte Technik oder ein bestimmtes Verfahren an ihm anwendet, ist ebenfalls verpflichtet, ihn zu informieren.“ 9 „Art. 8. Aufgeklärte Einwilligung 1. Jede Maßnahme bezüglich der Gesundheit eines Patienten bedarf der freien und willentlichen Einwilligung des Betroffenen, nachdem dieser die in Art. 4 vorgesehene Information erhalten und die im Falle vorliegenden Optionen abgewogen hat. 2. Die Einwilligung erfolgt im Regelfall mündlich. Sie ist aber in folgenden Fällen schriftlich festzuhalten: chirurgischer Eingriff, invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen, und im allgemeinen Anwendung von Verfahren, die für die Gesundheit des Patienten voraussichtlich erhebliche Risiken oder Unannehmlichkeiten mit sich bringen. 3. Die schriftliche Einwilligung des Patienten ist unbeschadet der Möglichkeit, einen Anhang oder allgemeine Daten gesondert festzuhalten, für jede der in Abs. 2 genannten Maßnahmen erforderlich und enthält eine hinreichende Information zu dem anzuwendenden Verfahren und seinen Risiken. 4. Jeder Patient oder Nutzer hat das Recht, darüber informiert zu werden, dass die bei ihm angewandten Prognose-, Diagnose- oder Therapieverfahren im Rahmen eines Lehr- oder Forschungsprojektes erfolgen, die keinesfalls zusätzliche Risiken für seine Gesundheit bedeuten dürfen. 5. Der Patient kann seine Einwilligung jederzeit schriftlich widerrufen.”

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3. Fehlt die Einwilligung, oder ist diese nicht gültig, kann der Arzt durch seine Behandlung eine Straftat begangen haben. Die Institution der Einwilligung – die Übertragung der Autonomie in operative rechtliche Regeln – wird so zu einer zentralen Frage der strafrechtlichen Haftung medizinischen Personals, und hat deshalb ein großes Interesse der rechtswissenschaftlichen Lehre und spezifisch der Strafrechtsdogmatik hervorgerufen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, eine kritische Skizze der Einwilligung in eine Heilbehandlung im Lichte des Grundsatzes der Patientenautonomie und aus der Perspektive der spanischen gesetzlichen Regelung vorzustellen. Zu diesem Zweck werden zunächst einige kurze, dilettantische Thesen zum Stand der Arzt-Patientenbeziehung umrissen (unten II.). Danach wird die Frage des Grundes möglicher ärztlicher Haftung durch Aufzwingen einer Heilbehandlung ebenfalls in aller Kürze anzugehen sein (unten III.). Drittens (unten IV.) kann dann eine schematische Darstellung der spanischen Regelung zur Patienteneinwilligung erfolgen. Schließlich werden einige Thesen (unten V.) formuliert, nach denen der wirkliche Gehalt der Regelung nicht der dominanten Autonomierhetorik entspricht.

II. Prolegomena: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Arzt-Patienten-Beziehung 1. Das Ausmaß und die Charakteristika einer möglichen strafrechtlichen Haftung des Arztes aufgrund seiner Behandlungstätigkeit sind, wie vorhin ausgeführt, ein besonders genauer Spiegel der gesamten Struktur der ArztPatienten-Beziehung. Die übliche Darstellung des gegenwärtigen Standes dieser Beziehung besteht in der juristischen Literatur – eine Vereinfachung sei erlaubt – im Wesentlichen darin, die Überwindung der alten paternalistischen, hippokratischen Medizin durch die Autonomie zu feiern.10 Entsprechend findet aus dieser Perspektive gegenwärtig ein Übergang von einer asymmetrischen, vom Heilungsziel dominierten Beziehung zwischen Arzt und Patient zu einer Beziehung unter Gleichen statt, bei der Autonomie zum dominanten Prinzip wird und vom ärztlichen Personal eine Umorientierung seiner ganzen Position und insbesondere die Erfüllung umfangreicher Aufklärungspflichten verlangt. Es gehört auch zu diesem Bild, dass die Entwicklung sich von einem medicus legibus solutus – auch im strafrechtlichen Bereich – zu einer Lage hinbewegt, in der auch Ärzte wie alle anderen Bürger für 10 Vgl. statt vieler Galán Cortés Responsabilidad médica y consentimiento informado, 2001, S. 43 ff.

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ihre Handlungen zu haften haben. Wie bekannt, ist gegenwärtig in diesem Bereich eine wachsende Sorge ob einer (auch strafrechtlichen) Hyperjuridifizierung mit der Folge einer gefürchteten Defensivmedizin festzustellen. Es ist aber fraglich, ob mit dieser Darstellung die tatsächlich stattgefundene Entwicklung zutreffend und vollständig wiedergegeben wird. Möglicherweise wies das, was herkömmlicherweise als „hippokratische Medizin” bezeichnet wird – soweit ersichtlich, ist damit üblicherweise schlicht die vorwissenschaftliche Medizin gemeint – nicht nur paternalistische Züge auf, sondern bezog auch Elemente von traditionellen Behandlungssystemen ein, bei denen die Beziehungen zwischen dem Behandelnden und dem Behandelten nicht notwendigerweise solche der Über- und Unterordnung sind, sondern in eine religiös geprägte, stratifizierte Gesellschaftsstruktur gehören, deren Gesundheitsbegriff ein ganz anderer ist. Andererseits war die Medizin des Jahrhunderts der Durchsetzung des Liberalismus, die wissenschaftliche Medizin des 19. Jahrhunderts, weit davon entfernt, nur einfach autonomiefreundlich, nicht-paternalistisch zu sein: Die wissenschaftliche Durchdringung des Heilvorgangs, das Primat einer biologistischmechanizistischen Sicht, ihre weißen Kittel, die kasernenhafte Isolierung des modernen Krankenhauses,11 waren und sind dem Kranken gegenüber paternalistisch. Zumindest ist ein paternalistisches Moment in einer so verstandenen Medizin unauslöschlich, da sie die Definition eines objektiv bestimmten, patientenexternen Gesundheitsbegriffs impliziert; Patientenautonomie ist an diesen Begriff von außen heranzutragen. Es scheint offensichtlich, dass das gegenwärtig vorherrschende Verständnis von Gesundheit weiterhin auf dieser objektiv-wissenschaftlichen Perspektive beruht: Medizin ist eine (natur-) wissenschaftlich geleitete Veranstaltung, die die Wiederherstellung körperlicher Normalität zum Zweck hat. Diese Grunddefinition ist zudem im Begriff, sich zu ändern – in einer nicht notwendig mit der unbeschränkten Herrschaft der Selbstverantwortung auf Linie liegenden Richtung. Die beeindruckenden Fortschritte der Biowissenschaften haben begonnen, auf den Gesundheits- und Heilbegriff und die Arzt-Patienten-Beziehung einzuwirken. Insbesondere die immer größere Schere zwischen den immer weiter ausgebauten Diagnosemitteln und der damit nicht Schritt haltenden Weiterentwicklung der Therapieinstrumente – mit der Folge einer immer größeren Anzahl von chronisch Kranken – stellt eine Inversion des ursprünglichen Werkstattsmodells für die Heileinrichtungen dar: Der Patient wird nicht mehr für eine Zeit aus der Gesellschaft entfernt, um danach geheilt wiedereingegliedert zu werden, sondern das Gesundheitssystem belässt den unheilbar Kranken als Pflegefall in ihr. In immer mehr Fällen muss also gerade das hyperentwickelte westliche Medi11

Vgl. nur Foucault Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1976, S. 181 ff.

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zinsystem der Gegenwart auf die Heilung als Ziel verzichten, und der Patient und sein gesellschaftliches Umfeld bleiben nach der Einschätzung als „nicht wieder herstellbar” sich selbst überlassen.12 2. Erinnern wir uns jetzt an die Inthronisierung der Autonomie in den vorhin angeführten Vorschriften des LAP – vor allem in der Institution der Einwilligung des Patienten –, so scheint es, dass die Lage nicht so linear sein kann, dass sie schlicht mit der Überwindung des Paternalismus durch die Autonomie zu beschreiben wäre. Einerseits ruft das primär wissenschaftliche, behandlungsorientierte westliche Medizinmodell eine strukturelle Spannung zwischen einer medizinisch und objektiv definierten Gesundheit und der Autonomie mit ihren vielen Optionen auf den Plan. Genau an der Bruchlinie dieser Spannung liegt die Rolle des Arztes, der dazu berufen ist, nicht nur den Patienten zu heilen, sondern auch bei der Aufklärung die Verwirklichung seiner Autonomie durch Übermittlung medizinischer Fakten zu ermöglichen. Andererseits bedeuten eine rasante Erweiterung der Diagnostik – man denke nur an die Genforschung – bei vergleichsweise stagnierenden Heilungsmöglichkeiten sowie die Multiplikation therapeutischer Techniken, insbesondere in der Intensivmedizin, dass sich ganz neue Konflikte zwischen Autonomie und objektiver lex artis ergeben können, bei denen der Aufklärungspflicht des Arztes ein entscheidendes Gewicht zukommt. Sind nun vielleicht – so steht zu hoffen – einige Zweifel durch diese Flecken auf dem Bild der triumphierenden Autonomie gesät, kann nun zur rechtlichen Betrachtung übergangen werden. Bevor aber die Regelung der Einwilligung angegangen werden kann, muss noch kurz beleuchtet werden, wie die strafrechtlichen Folgen ihres Fehlens zu gestalten sind.

III. Strafrechtliche Folgen fehlender Einwilligung 1. Ist die Einwilligung das Herz der neuen, autonomiegeleiteten Beziehung zwischen Patient und Arzt, muss nun erörtert werden, welche strafrechtlichen Folgen ihr Fehlen bzw. ihre Ungültigkeit zeitigt.13 Die Diskus12 Vgl. für alle Beck Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 329 ff. 13 Unabhängig von der Frage, wie die Wirkung der Einwilligung straftatsystematisch (Tatbestandsausschluss oder Rechtfertigung) einzuordnen ist; vgl. hierzu nur Roxin FS Amelung, 2009, 269 ff; de Vicente Remesal in: Luzón Peña (Hrsg.), Cuestiones actuales de la teoría del delito, 1999, S. 113 ff; da Costa Andrade Consentimento e acordo em direito penal, 1991. Zur Lage in Spanien bei den Körperverletzungsstraftaten, wo Art. 155 CP seit 1995 für (zumindest einige) Körperverletzungen mit Willen des Rechtsgutsträgers lediglich eine Strafmilderung anordnet, und den sich daraus ergebenden Auslegungsschwierigkeiten, vgl. nur Peñaranda

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sion in Deutschland und Spanien verläuft weitgehend parallel, so dass auch hier die Darstellung auf eine kurze Skizze beschränkt bleiben kann. Keine besonderen Schwierigkeiten bereitet der Sachverhalt, bei dem eine ohne Patienteneinwilligung vorgenommene Heilbehandlung fehlschlägt oder die Maßnahme gar nicht indiziert ist: Es handelt sich um ein Tötungsoder Körperverletzungsdelikt, wenn die entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind. Der Wert der Autonomie kommt vielmehr in jenen Fällen auf den Prüfstein, bei denen ohne Einwilligung die Behandlung nach dem Standard der ärztlichen lex artis erfolgreich verläuft. Denken wir an folgenden Fall:14 Ein Arzt diagnostiziert bei seinem Patienten bei einer Untersuchung aus anderem Grund Nierensteine. Die medizinische Standardbehandlung ist in diesem Fall ein chirurgischer Eingriff, um die Steine zu entfernen; der Arzt rät dem Patienten, bei der schon zu einem anderen Zweck anstehenden Operation den Eingriff vornehmen zu lassen. Der Patient wünscht dies aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht. Der Arzt – nehmen wir an, er ist mit dem Patienten befreundet und fühlt sich auch aus diesem Grund zu seinem Handeln berechtigt – beachtet die ihm unvernünftig erscheinende Ablehnung nicht und führt den Eingriff erfolgreich durch. Wie ist dieses Verhalten zu bewerten? Es handelt sich um eine indizierte, technisch korrekt durchgeführte und erfolgreiche medizinische Maßnahme. Es bleiben scheinbar nur die nicht erheblichen postoperativen Beschwerden und eine kleine Narbe. Für die in Deutschland und Spanien herrschende Lehre kann der Sachverhalt nicht als Körperverletzung bezeichnet werden, da doch der Patient objektiv geheilt, d. h., in seiner Gesundheit wiederhergestellt ist.15 Zwar sei zweifellos ein Unrechtsgehalt festzustellen – die Missachtung des Patientenwillens –, doch eben keine Gesundheitsbeeinträchtigung; deshalb wird allenfalls eine Haftung qua Nötigung oder eben de lege ferenda die Einführung, nach österreichischem oder portugiesischem Vorbild, einer spezifischen Straftat der eigenmächtigen Heilbehandlung postuliert. Auch Autoren, die bei der heutigen Gesetzeslage für eine Anwendung der Körperverletzungstatbestände eintreten, tun dies mitunter

Ramos in: Bajo Fernández, Compendio de Derecho Penal (Parte Especial) I, 2003, S. 368 ff, 374 ff. 14 Beispiel nach Peñaranda Ramos (Fn. 13) S. 359. 15 Vgl. nur, mit teilweise unterschiedlichen Begründungswegen, Romeo Casabona El médico y el Derecho penal, 1981, S. 273 f; Jorge Barreiro CPC 16 (1982), S. 5 ff, 12, 16 ff; Díez Ripollés in ders./Gracia Martín, Comentarios al Código penal. Parte Especial I, 1997, S. 568; Morillas Cueva GS Ruiz Antón, 2004, 787 f; Rueda Martín InDret 4/2009, 7 ff; Mir Puig Derecho Penal. Parte General, 8. Aufl. 2008, 18/49 f, 53; Muñoz Conde Derecho Penal. Parte Especial, 18. Aufl. 2010, S. 126 f; für Deutschland vgl. für alle Roxin AT I § 13 Rn. 26 ff.

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nur, weil eben keine spezifische Erfassung gesetzlich vorgesehen ist.16 Diese Position wird aber weder von der deutschen Rechtsprechung – soweit ersichtlich, seit den ersten Stellungnahmen des RG17 – noch von einem Teil der Lehre in Deutschland und Spanien geteilt. In diesem Sinne wird argumentiert, dass das Rechtsgut Gesundheit eine so intime Verbindung mit der Autonomie des Betroffenen aufweist, dass eine oktroyierte Behandlung – sofern sie einen (sonst) tatbestandsmäßigen Eingriff in die Körpersphäre mit sich bringt18 – auch dann eine Körperverletzung darstellt, wenn sie global und patientenextern (medizinisch-„objektiv“) eine Wiederherstellung der Gesundheit bedeutet.19 2. Aus der hier eingenommenen Perspektive vermag nur diese zweite Auffassung dem Primat der Autonomie gerecht zu werden. Nimmt man die Selbstbestimmung des Patienten ernst, so muss die Interessenbestimmung, die die Grundlage einer Einwilligung darstellt, als eine interne Angelegenheit,20 als eine black box für den externen Beobachter verstanden werden. Der Gesundheitsbegriff wird autonom vom zurechenbaren Rechtsgutsträger und nicht vom Arzt oder von einer anderen externen Instanz nach „Rationalitätskriterien” festgelegt.21 In der spanischen strafrechtlichen Rechtsprechung ist die Problematik in nur ganz wenigen Fällen offen angegangen worden. Die meistzitierte Entscheidung in diesem Zusammenhang betrifft einen Fall, bei dem ein Gynäkologe wegen schwerer vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt wurde, weil er ohne Einwilligung eine medizinisch indizierte Sterilisierung an

16 Frisch in: ders. (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, 2006, S. 34, spricht von einer „Notlösung“. 17 Vgl. nur Frisch (Fn. 16) S. 33 m. w. N. 18 Denn auch nach der hier vertretenen Auffassung reicht „eine Missachtung des Patientenwillens allein“ (Roxin FS Amelung, 2009, 285) nicht für die Annahme einer Körperverletzung aus; vielmehr muss natürlich eine tatbestandsmäßige Beeinträchtigung des durch den Körperverletzungstatbestand geschützten Gutes durch das Verhalten des Arztes hervorgerufen worden sein. 19 In diese Richtung Asúa Batarrita Jano 48 (1995), 48; Corcoy Bidasolo FS Torío López, 1999, 268 ff; Peñaranda Ramos (Fn. 13) S. 357 ff; Laurenzo Copello GS Díaz Pita, 2008, 439 ff. 20 Z. B. Jakobs AT 14/4 f mit Fn. 9; Roxin AT I § 13 Rn. 86 ff, 88; Paeffgen FS Rudolphi, 2004, 209. 21 Dies ist begrifflich von der Tatsache abzuschichten, dass der Gesetzgeber sektoriell und mit Ausnahmecharakter in bestimmten Bereichen – aus paternalistischen oder symbolischen Gründen – die Autonomie suspendiert (so bei der Tötung auf Verlangen bzw. der Beihilfe zum Suizid [respektive § 216 StGB und Art. 143 CP] oder bei bestimmten Körperverletzungen [§ 228 StGB oder Art. 155 CP]; vgl. hierzu nur Jakobs FS Kaufmann, 1993, S. 452 ff; Roxin AT I § 13 Rn. 29; Cancio Meliá (Fn. 3) S. 44 ff.

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seiner Patientin vorgenommen hatte.22 Bei der Kassation vor dem TS brachte die Verteidigung vor, es sei offensichtlich, dass einerseits die entsprechende Einwilligung während der Operation nicht eingeholt werden konnte, während andererseits außer Streit stehe, dass der Eingriff indiziert war und technisch korrekt durchgeführt wurde, so dass keine tatbestandsmäßige Körperverletzung vorliege. Demgegenüber argumentierte der TS, dass der Patient „…in seiner Entscheidung frei ist, unabhängig davon, was aus strikt ärztlicher Perspektive als angezeigt oder ratsam erscheinen mag”. Der TS bricht damit endgültig mit der alten – und in Spanien lange vorherrschenden – Auffassung, nach der eine Art Berufsrecht bestehe, das jeden (technisch korrekten) ärztlichen Eingriff rechtfertigt,23 oder, anders formuliert, er stellt nun fest, dass es keine medizinisch-fachlich korrekte Behandlung24 ohne Einwilligung des Patienten geben könne. Aber auch hier ist keine wirkliche Durchsetzung des Autonomiegedankens zu verzeichnen. Die angeführte Entscheidung steht relativ isoliert in der strafrechtlichen Rechtsprechung und betrifft auch einen besonders schweren Fall, bei dem – durch Annahme eines Verbotsirrtums – eine bemerkenswert milde Strafe ausgeworfen wurde.

IV. Einwilligung Vor dem bislang gezeichneten Hintergrund können nun die wichtigsten Inhalte der Patienteneinwilligung nach spanischem Recht beleuchtet werden. Auch hier kann die Darstellung auf eine kurze Skizze beschränkt bleiben; wie gleich zu sehen sein wird, stimmen die Grundelemente der gesetzlichen Regelung mit den in der deutschen Lehre und Rechtsprechung erarbeiteten Kriterien überein.25 Wiederum durch das Prisma der Autonomie betrachtet, sind jene Merkmale zu unterstreichen, bei denen dem Arzt Pflichten auferlegt werden, die eine selbstbestimmte Entscheidung des Patienten ermöglichen sollen.

22 STS v. 26.10.1995; die ausgesprochene Strafe wurde aufgrund der Annahme eines vermeidbaren Verbotsirrtums ganz erheblich vermindert. 23 Im Rahmen des sehr allgemein gehaltenen Strafausschließungsgrundes des Art. 20.7 CP, nach dem derjenige Täter straflos bleibt, der im Rahmen „der rechtmäßigen Ausübung eines Rechts, eines Gewerbes oder eines Amtes“ handelt. 24 Die Aufklärung des Patienten ist also Teil der ärztlichen lex artis; vgl. z. B. Laurenzo GS Díaz Pita, 2008, 417 f; für das Zivilrecht Domínguez Luelmo Derecho sanitario y responsabilidad médica. Comentarios a la Ley 41/2002, 2. Aufl. 2007, S. 313. 25 Zu anderen westlichen Rechtsordnungen vgl. Fischer/Lilie Ärztliche Verantwortung im europäischen Rechtsvergleich, 1999, S. 33 ff, 42 ff.

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1. Einwilligungsmängel Wie bekannt sind Grundvoraussetzungen einer gültigen Einwilligung ihre Erteilung vor dem Eingriff in das Rechtsgut, die Dispositionsmacht des Gutsträgers und seine Einwilligungsfähigkeit. Hier sind natürlich jene Sachverhalte von Belang, bei denen die Einwilligung als ungültig, rechtlich inexistent bewertet wird und deshalb außerstande ist, das Unrecht des heteronomen Eingriffes aufzuheben. Hierbei können Nötigung und Drohung als Mängel außer Betracht bleiben; relevant sind jene Fälle, in denen die Einwilligung aufgrund fehlender hinreichender Aufklärung oder Einwilligungsfähigkeit ungültig ist. Was Ersteres, also die Aufklärung des Patienten angeht, ist – wie Art. 4.3 LAP festschreibt – der Arzt Garant dafür, dass der Patient die relevante Information erhält. Nach h. M. ist das Fehlen von Information nur dann relevant, wenn diese einerseits direkt auf das tangierte Rechtsgut oder andererseits auf die Indikation – also auf den globalen Sinn – der Heilbehandlung bezogen ist. Leistet der Arzt die Aufklärung nicht, kann dadurch das Tor zu seiner strafrechtlichen Haftung aufgestoßen werden: Der Patient ist für die Informationsbeschaffung nicht zuständig und darf darauf vertrauen, dass der Garant, der ihn behandelnde Arzt, ihm diese liefert. Obwohl in der strafrechtlichen Rechtsprechung in Spanien soweit ersichtlich keine Verurteilungen wegen Körperverletzung (nur) aufgrund fehlender Aufklärung zu verzeichnen sind, ist in der Zivilgerichtsbarkeit festzustellen, dass sich die Beanstandung der Aufklärung durch den Arzt quasi zu einem letzten Mittel in denjenigen Fällen entwickelt, in denen ein Nachweis einer falschen Behandlung nicht gelingt.26 Bezüglich der zweiten Frage scheint es offensichtlich, dass sie besonders auf dem Gebiet der ärztlichen Behandlung relevant werden kann: Der Patient – man denke nur an die stets wachsende Gruppe von chronisch kranken Greisen – ist sehr oft in einer Lage, in der seine Einwilligungsfähigkeit in Frage zu stellen ist.

2. Aufklärung Wie sich aus Art. 4.3 LAP erschließt, trifft die allgemeine Aufklärungspflicht den „verantwortlichen Arzt”27, auch wenn jedes Mitglied des behan26 Vgl. Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 310 ff; für Deutschland s. nur Frisch (Fn. 16) S. 41; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2003, Rn. 53, 55, spricht von einer „Auffangfunktion“; krit. (überzogene Anforderungen an den Arzt) gegenüber der dt. Rechtsprechung z. B. Knauer in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht. Im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Strafrecht, S. 19 f. 27 Obwohl sich Art. 5.3 LAP auf den „behandelnden Arzt“ bezieht, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei ebenfalls um den in Art. 3 LAP als für die Koordination der Betreuung Zuständigen und Hauptansprechperson definierten „verantwortlichen Arzt“ handelt; Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 210.

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delnden medizinischen Personals den Patienten sektoriell zu informieren hat. In der Praxis kann es aber viele Fälle geben, in denen es keinen wirklichen „verantwortlichen Arzt” gibt, da die Behandlung von einem Team übernommen wird; in der spanischen zivilrechtlichen Rechtsprechung hat dies zuweilen dazu geführt, dass die Institution als solche, das Krankenhaus, haftet, sofern die Identifizierung eines einzelnen ärztlich Verantwortlichen unmöglich ist. Was die Inhalte der Aufklärung angeht, können diese dahingehend definiert werden, dass der Hauptzweck der gesamten Informationsübermittlung darin besteht, dem Patienten bei der Entscheidungsfindung nach Maßgabe seiner Wertordnung beizustehen (vgl. Art. 4.2 LAP in fine). Der Mindestinhalt der Aufklärung umfasst nach Art. 4.1 LAP Zweck, Art, Risiken und mögliche Folgen der geplanten therapeutischen Maßnahme und ihrer Unterlassung.28 Es ist zu unterstreichen, dass der Arzt durch Art. 4.2 LAP dazu angehalten wird, die Information anzupassen, so dass sie in für den Patienten „verständlicher und seinen Bedürfnissen entsprechender Weise übermittelt“ wird. Nach Art. 5.3 LAP hat ebenfalls der Arzt zu entscheiden, ob der Patient „aufgrund seiner körperlichen oder psychischen Lage unfähig ist, die Information zu begreifen“, so dass diese nicht an ihn, sondern an seine Angehörigen oder sonstige ihm nahe stehende Personen zu übermitteln ist. Die Dichte29 der übermittelten Informationen muss im Bedarfsfall an Gefahr im Verzug und an den Grad der Notwendigkeit des Eingriffs (je verzichtbarer dieser erscheint, desto intensiver muss die Aufklärung sein) angepasst werden, und hängt auch von den Eigenheiten des Patienten, seinem Lebensstil usw. ab; es geht darum, dem Patienten bei der Ausübung seiner Autonomie beizustehen. Was die Form angeht, ist die Einwilligung nach Art. 8.2 und 3 LAP im Regelfall mündlich, für die „Anwendung von Verfahren, die für die Gesundheit des Patienten voraussichtlich erhebliche Risiken oder Unannehmlichkeiten mit sich bringen“ aber in Schriftform einzuholen; diese muss auch „hinreichende“ Information zur betreffenden Maßnahme enthalten.30 Die Regelung im LAP kennt auch eine besondere Behandlung jener Sachverhalte, bei denen es aus therapeutischen Gründen gerade nicht angebracht ist, den Patienten aufzuklären. In diesen Fällen hat der Arzt nach

28 Vgl. genauer z. B. Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 210 ff; Ulsenheimer (Fn. 26) Rn. 61 ff; Knauer (Fn. 26), S. 21 ff. 29 Ulsenheimer (Fn. 26) Rn. 65 und Frisch (Fn. 16) S. 43, 45 ff sprechen hier von „Intensität“. 30 Entgegen gewissen Formen der Praxis darf aber ein nur als etwaiges Beweismittel konzipiertes Schriftstück die mündliche Kommunikation natürlich nicht ersetzen; vgl. Galán Cortés (Fn. 10) S. 137 ff; Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 220 ff, 309 f.

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Art. 5.4 LAP die Befugnis,31 ohne Aufklärung zu handeln.32 Diese manchmal – in angelsächsischer Terminologie – „therapeutisches Privileg“ genannte Konstellation wird in dieser Vorschrift als „therapeutischer Notstand“ definiert und liegt vor, wenn „...aufgrund objektiver Gründe die Kenntnis seiner eigenen Lage [durch den Patienten] seine Gesundheit schwerwiegend zu beeinträchtigen geeignet ist.“33 Schließlich führt die dominante Stellung der Autonomie – und auch das vorhin angesprochene Auseinanderklaffen von Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten – in bestimmten Fällen zur Ablehnung der Informationsübermittlung durch den Patienten: Nach Art. 4.1 LAP hat „jede Person das Recht, dass sein Wille, nicht informiert zu werden, beachtet wird”. In Art. 9.1 LAP wird das Recht des Patienten auf Nichtwissen durch die „Gesundheit des Patienten … und die therapeutischen Notwendigkeiten des Falles” beschränkt – auch hier obliegt die Entscheidung bezüglich der konkreten Ausgestaltung des Informationsflusses dem Arzt.34

3. Einwilligungsfähigkeit Getreu seiner autonomieorientierten Linie entscheidet sich das LAP auch bei der Einwilligungsfähigkeit für einen pro libertate ausgerichteten Maßstab: Volle Eigenverantwortlichkeit wird iuris et de iure mit sechzehn Jahren erreicht; Kinder ab zwölf Jahren müssen gehört werden (Art. 9.3 c). Die Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit des Patienten nimmt der verantwortliche Arzt vor, der zu beurteilen hat, ob ein erwachsener Patient „dazu fähig ist, Entscheidungen zu treffen” (Art. 9.3 a) LAP), oder ob der Minderjährige die intellektuelle und emotionelle Fähigkeit aufweist, die „Tragweite des Eingriffes” zu begreifen (Art. 9.3 c) LAP). Auch wenn es nicht ausdrücklich im Gesetzestext festgehalten wird, scheint es offensichtlich – und entsprechende Probleme tauchen auch in der Praxis auf –, dass die Garantenstellung des Arztes in Sachen Aufklärung/Autonomie auch in jenen Konstellationen weiter besteht, in denen kraft Einwilligungsunfähigkeit des Patienten die „Einwilligung durch Vertreter”, d. h., durch die „mit ihm faktisch oder familiär verbundenen Personen” zu erfolgen hat. Nach Art. 9.5 LAP muss diese „den Umständen angemessen … und stets im Interesse des 31 Vgl. z. B. Laurenzo Copello GS Díaz Pita, 2008, 424 f; Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 229 ff beide m. w. N.; für Deutschland nur Ulsenheimer (Fn. 26) Rn 89. 32 Laurenzo Copello GS Díaz Pita, 2008, 429 f, weist darauf hin, dass auch eine Haftung aus einer „Überinformation“ des Patienten in dieser Lage erwachsen kann. 33 Das LAP hat klargestellt, dass es keinesfalls um Pietät (z. B. bei fataler Diagnose), sondern um Therapie gehen muss; siehe nur Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 253 ff; vgl. für Deutschland nur Frisch (Fn. 16) S. 48 f m. w. N. 34 Vgl. Domínguez Luelmo (Fn. 24) S. 338 ff.

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Patienten” erfolgen, der „soweit wie möglich an der Entscheidungsfindung während seiner Behandlung” beteiligt werden soll. Die Aufgabe, seine Autonomie zu wahren, z. B. unter verschiedenen Meinungsäußerungen im Umfeld des Patienten diejenigen zu identifizieren, die dem Willen des Patienten am nächsten kommen, kann wiederum nur der Arzt übernehmen.35

V. Einige Schlussfolgerungen In der spanischen Rechtsordnung – wie in westlichen Rechtsordnungen allgemein – wird die Autonomie des Patienten als Leitgrundsatz für die gesamte rechtliche Regelung der Beziehung zwischen Arzt und Patient etabliert. Die Verletzung dieser Autonomie durch das Verhalten des ärztlichen Personals kann zu strafrechtlicher Haftung führen, sei es aus einem Körperverletzungs- oder aus einem spezifischen Freiheitsdelikt. Diese lineare Darstellung erscheint aber bei näherer Betrachtung zu simpel; insbesondere legen verschiedene Umstände nahe, dass es sich teilweise – in Worten Paeffgens36 – eher um ein hypokritisches statt hippokratisches Bild handelt, wenn nur der Triumph der Autonomie verzeichnet wird. Ein erstes Indiz in diesem Sinne liefert im spanischen Fall die sehr geringe Anzahl von Strafprozessen in diesem Zusammenhang;37 über die Polemik zur Defensivmedizin hinaus müsste ein wirkliches Ernstnehmen der Belange der Autonomie dazu führen, dass zumindest ein Teil der reichhaltigen Zivilrechtsprechung auch aus strafrechtlicher Perspektive behandelt würde. Zweitens ist nicht zu verkennen, dass die Grundlagen des westlichen Medizinmodells weiterhin in einer objektiv-wissenschaftlich orientierten Konzeption liegen und somit eine strukturelle Spannung zwischen einem objektiv-medizinischen Gesundheitsbegriff und den multiplen Optionen der Patientenautonomie besteht. Drittens ist im Modell des spanischen LAP die Ausrufung der neuen Autonomieära viel intensiver ausgeprägt als deren effektive Umsetzung; die konkrete Regelung der Position des Arztes bei Aufklärung und Einwilligung bringt ihn des Öfteren in eine strukturell schizophrene Lage. Einerseits nimmt das ärztliche Personal eine Garantenstellung bei der Übermittlung der zur freien Entscheidung des Patienten not35

Vgl. z. B. Laurenzo Copello GS Díaz Pita, 2008, 424 f m. w. N. Anlässlich eines Seminars zu diesem Thema an der Universität Bonn (4.12.2009). 37 In der deutschen Rechtsprechung und Lehre hat sich in den letzten Jahren die sog. „hypothetische Einwilligung“, d. h., eine dem bekannten rechtmäßigen Alternativverhalten entsprechende ex-post-Betrachtung bei nicht erfolgter gültiger Aufklärung als wichtige Haftungsbeschränkung etabliert; vgl. nur Roxin AT I § 13 Rn. 119 ff, 124 f; Frisch (Fn. 16) S. 49 f; Paeffgen FS Rudolphi, 2004, 208 f (der hier, entgegen der allgemeinen Wertung der deutschen Rechtsprechung eine „staunenswerte Nachsicht“ feststellt), alle m. w. N. 36

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wendigen Information ein. Andererseits ist es aber gleichzeitig dafür zuständig, die Aufklärung an die Charakteristika des Patienten anzupassen, seine Fähigkeit, die Informationen zu begreifen, zu beurteilen, und darüber hinaus – im Rahmen des „therapeutischen Notstandes” – dazu berufen, einen etwaigen Konflikt zwischen Autonomie und (objektiv-medizinischer) Gesundheit zu erfassen und auch für letztere zu entscheiden. Schließlich wird der Arzt auch angehalten, die Einwilligungsfähigkeit des Patienten zu beurteilen sowie sein Recht auf Nichtwissen zu gestalten und zu begrenzen. Es ist also festzustellen, dass die Rechtsordnung den Arzt, der dem Patienten bei seiner Entscheidung zur Behandlung unterstützen sollte, zu oft diesem überordnet, da er de facto seine Garantenstellung zu einer Art globalem „letzten Wort” ausbaut. Dies bedeutet nicht nur eine ungerechtfertigte Schmälerung der Patientenautonomie, sondern eröffnet auch eine große Unsicherheit gemessen an den Erwartungen des Arztes. Trifft dieser in der täglichen Praxis Entscheidungen, die mit der Autonomie des Patienten im Konflikt stehen können, muss hier eine selektive Strafverfolgung zu einer absoluten Verunsicherung des medizinischen Personals führen.38 Angesichts dieser Lage kann also eine verfrühte Feier des Triumphes der Autonomie die Wahrnehmung der Wirklichkeit trüben. Hier sollen natürlich keine Zauberformeln zur Lösung dieser Probleme mitgeteilt werden. Doch die Richtung ist abzusehen: Zunächst müssten jene Bereiche ausdrücklich identifiziert werden, in denen der Arzt in Wirklichkeit kein Erfüllungsgehilfe von Patientenautonomie, sondern ein paternalistischer Garant der Patienteninteressen ist. Weiterhin wird es in anderen Fällen unumgänglich sein, den Arzt von einer Doppelfunktion als der Patientenautonomie verpflichteter Akteur einerseits und Beurteiler der Autonomiefähigkeit des Patienten 38 Ein Paradebeispiel hierfür ist der so genannte Fall „Leganés“: Die (rechtskonservative) Landesregierung Madrid strengte 2005 in einem höchst politisierten Fall (zu dem auch begleitende, leidenschaftliche Wortmeldungen verschiedener ranghoher Vertreter der katholischen Kirche im Rahmen ihrer Dauerkampagne gegen die „Relativierung des Lebens“ (scil.: Ansätze zu nicht flächendeckender Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie) zu verzeichnen waren) ein Strafverfahren gegen verschiedene Ärzte der Notaufnahme des öffentlichen Krankenhauses der Stadt Leganés (im Süden des Landes Madrid) unter der Behauptung an, dort sei massiv (die Rede war von 400 Fällen!) „Euthanasie“ (ohne Einwilligung!) an sterbenden Patienten angewandt worden. Einer der Hauptpunkte bei der Erörterung der Frage, ob es um erlaubte Sedierung (Stichwort: indirekte Euthanasie) oder aber um direkte Tötung und dementsprechend um Tötungsdelikte ging, war das Verhalten der Ärzte bei der Einholung der Einwilligung von den Patienten nahe stehenden Personen. Nach Suspendierung vom Dienst der angeklagten Ärzte wurde das Ermittlungsverfahren 2008 vom zuständigen Untersuchungsgericht mangels jeden Fehlverhaltens in allen Sachverhalten eingestellt. Folge des Verfahrens war eine sehr große Verunsicherung über die Reichweite erlaubter Palliativmaßnahmen bei moribunden Patienten und eine entsprechende Zurückhaltung des ärztlichen Personals. Vgl. nur Seuba Torreblanca InDret 2/2005 und Montes El caso Leganés, 2008.

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andererseits zu entbinden. Dies sollte in einem westlichen, hauptsächlich öffentlichen Gesundheitssystem – auch wenn sicher der Vorwurf erhoben werden wird, einer Bürokratisierung Vorschub zu leisten – nicht allzu schwierig sein; in den entsprechenden Organisationsstrukturen wären Aufgaben im Bereich der Behandlung und der Beurteilung der tatsächlichen Autonomiefähigkeit des Patienten personell getrennt zu besetzen.

Zur Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen einwilligungsunfähiger Erwachsener MARTIN BÖSE

I. Einführung In seinem monumentalen Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts begründet der Jubilar die Einordnung der Einwilligung als Tatbestandsausschließungsgrund maßgeblich mit dem Grund für den Ausschluss der Strafbarkeit: Eine Handlung, die auf einer freiverantwortlichen Verfügung über das geschützte Rechtsgut beruht, könne nicht als dessen Verletzung angesehen werden.1 Dieser verfassungsrechtliche Ableitungszusammenhang zwischen Einwilligung und freier Entfaltung der Persönlichkeit wird auf eine harte Probe gestellt, wenn die Befugnis zur Einwilligung auf einen gesetzlichen Vertreter übertragen wird,2 weil der Rechtsgutsträger nicht mehr in der Lage ist, in freier Verantwortung über seine Rechtsgüter zu disponieren (§§ 1896, 1901, 1902 BGB), und damit die Möglichkeit besteht, dass eine Einwilligung erteilt wird, obwohl sie dem (natürlichen) Willen des Rechtsgutsinhabers widerspricht. So stellt sich insbesondere bei der medizinischen Behandlung einwilligungsunfähiger Personen die Frage, ob der ärztliche Eingriff auf der Grundlage einer vom Betreuer erteilten Einwilligung auch gegen den Willen des Betreuten durchgeführt und dieser erforderlichenfalls auch zur Duldung des Eingriffs gezwungen werden darf. Während der Gesetzgeber bei der Reform des Betreuungsrechts davon ausging, dass eine Heilbehandlung unter bestimmten Voraussetzungen auch gegen den Willen des Betreuten zulässig ist,3 ist es nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung unzulässig, die betreute Person zur Duldung einer ambulanten Heilbehandlung zu zwingen.4 Dementsprechend wird in den folgenden Ausführungen zwischen der Rechtfertigung des ärztlichen Heileingriffs (§ 223 StGB) einerseits (II.) und der Rechtfertigung der Anwen1

Roxin AT I § 13 Rn. 12; s. auch ders. FS Amelung, 2009, 269, 271 ff. Zur stellvertretenden Einwilligung: Roxin AT I § 13 Rn. 92 ff. 3 S. den Entwurf des Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz – BtG), BT-Drucks. 11/4528, S. 72, 141. 4 BGHZ 145, 297 (308); JR 2007, 247; MedR 2008, 739 f. 2

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dung von Zwang gegenüber der betreuten Person (§§ 239, 240 StGB) andererseits (III.) unterschieden. Der Beitrag beschränkt sich auf erwachsene Einwilligungsunfähige, die sich in Freiheit befinden; auf die Sondersituation und die besonderen Regelungen der privat-rechtlichen oder öffentlichrechtlichen Unterbringung (§ 1906 BGB und die landesrechtlichen Unterbringungsgesetze5) und der Zwangsbehandlung im Straf- oder Maßregelvollzug (§ 101 StVollzG6) sowie die Besonderheiten des elterlichen Sorgerechts (§§ 1626, 1631 BGB; vgl. auch Art. 6 GG) wird nicht eingegangen.

II. Der Heileingriff gegen den Willen des einwilligungsunfähigen Patienten 1. Selbstbestimmung und Einwilligungsunfähigkeit Grundlage für eine mögliche Rechtfertigung der Zwangsbehandlung ist die Einwilligung des Betreuers. Diese ist aber nur unter der Voraussetzung maßgeblich, dass der Patient selbst nicht mehr in die Behandlung einwilligen kann, weil er nicht einwilligungsfähig ist. Mit der Einwilligung wägt der Rechtsgutsinhaber die Vorteile und Nachteile, die sich aus dem Eingriff ergeben, nach Maßgabe seiner Wertordnung gegeneinander ab und entscheidet dann auf der Grundlage dieser Abwägung, ob er die Einwilligung erteilt.7 Dementsprechend erfordert die Einwilligungsfähigkeit zunächst ein kognitives Element: Der Rechtsgutsinhaber muss erfassen können, welchen Wert oder Rang die von der Einwilligungsentscheidung berührten Güter und Interessen für ihn haben, um welche Tatsachen es bei der Entscheidung geht, welche Folgen und Risiken sich daraus ergeben und welche Alternativen es gibt, um das angestrebte Ziel zu erreichen.8 Die Einwilligungsfähigkeit erfordert daneben ein voluntatives Element, d. h. der Patient muss in der Lage sein, sich auf der Grundlage der über den geplanten Eingriff gewonnenen Einsicht zu bestimmen.9 Die genannten Kriterien zeigen, dass die Einwilligungsfähigkeit bzw. unfähigkeit in Abhängigkeit von dem jeweils vorzunehmenden Eingriff zu bestimmen ist. Ärztliche Eingriffe stellen je nach Schwere und Kompli5

S. für Nordrhein-Westfalen § 18 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) vom 17.12.1999 (GV. NRW S. 662). 6 S. auch Art. 108 des bayrischen StVollzG vom 10.12.2007 (GVBl 2007, S. 866); § 80 des baden-württembergischen JVollzGB (Buch 3) vom 10.11.2009 (GBl. 2009, 545). 7 Amelung ZStW 104 (1992), 544 ff. 8 Amelung ZStW 104 (1992), 551 ff, 558; ders. Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention; 1995, S. 10 f. 9 Amelung ZStW 104 (1992), 555 f, 558; ders. Vetorechte (Fn. 8) S. 11.

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ziertheit unterschiedliche Anforderungen an die Einsichtsfähigkeit des Patienten: Dieser kann also in Bezug auf den einen Eingriff einwilligungsfähig, in Bezug auf einen anderen Eingriff einwilligungsunfähig sein (Relativität der Einwilligungsfähigkeit).10 Mit der Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit entsteht die Notwendigkeit, dass eine andere Person an seiner Stelle diese Entscheidung trifft. Die Autonomie des Patienten wird insoweit überlagert von der Fürsorge für seine Person, an die Stelle der Selbstbestimmung tritt die Fremdbestimmung durch den Betreuer. Das Autonomieprinzip beansprucht jedoch auch in diesem Fall weiterhin Geltung, denn die Fähigkeit des Patienten zur Selbstbestimmung lässt sich nicht in dem binären Code "kompetent"/"inkompetent" abbilden, sondern ist – als Folge der Relativität der Einwilligungs(un)fähigkeit – graduell abzustufen: Der Patient ist in Bezug auf den jeweiligen Eingriff je nach seiner Einsichtsfähigkeit mehr oder weniger in der Lage, an der Entscheidung über dessen Vornahme mitzuwirken oder nicht.11 Diesen - begrenzten - Fähigkeiten ist bei der Frage nach der Zulässigkeit der ärztlichen Behandlung Rechnung zu tragen.12 Dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten mit der Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit rechtlich bedeutungslos würde, widerspräche auch verfassungsrechtlichen Vorgaben: Es wäre mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar, wenn der Betreute ohne Rücksicht auf seinen Willen der Fürsorge des Arztes und seines Betreuers unterworfen und damit zum "Objekt" gemacht würde. Die Menschenwürde garantiert mit dem Status als Rechts-Subjekt ein "Recht auf Rechte".13 So ist anerkannt, dass auch der einwilligungsunfähige Patient ein Recht auf Aufklärung über den vorzunehmenden Eingriff hat (vgl. auch § 1901 Abs. 3 S. 3 BGB).14 Dementsprechend hat der einwilligungsunfähige Patient ein Recht, den eigenen Willen im Entscheidungsprozess über die Zustimmung zu dem ärztlichen Eingriff zur Geltung zu bringen.15 Die Autonomie des Patienten gilt im Grundsatz unabhängig davon, in welchem Ausmaß dieser zur Selbstbestimmung über seinen Körper fähig ist; lediglich der Umfang der aus dem Selbstbestimmungsrecht folgenden Verfügungsrechte bestimmt 10

Amelung ZStW 104 (1992), 557 und 831 f; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen-Paeffgen § 228 Rn. 14; Prinz von Sachsen Gessaphe Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter für eingeschränkt Selbstbestimmungsfähige, 1999, S. 347; s. auch zur Ausübung von Grundrechten: Gärditz ZfL 2010, 40. 11 Rehbock Ethik in der Medizin 2002, 131, 136, 138. 12 Amelung Vetorechte (Fn. 8) S. 24 f (Anknüpfung an Teilfähigkeiten). 13 Enders Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 502 f. 14 Deutsch/Spickhoff Medizinrecht, Rn. 317, 855; Taupitz Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 63. DJT (2000), A 59 f; s. dazu eingehend Hoffmann R & P 2001, 52 ff. 15 Vgl. Taupitz Gutachten (Fn. 14) A 72.

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sich nach diesen Fähigkeiten. Ist der Patient einwilligungsunfähig, d.h. nicht fähig, in vollem Umfang allein über die Einwilligung in die Heilbehandlung zu entscheiden, so wird aus dem Recht auf Selbstbestimmung ein Recht auf Mitbestimmung, d.h. ein Recht, nach Maßgabe der eigenen Fähigkeiten an der Entscheidung über den Eingriff mitzuwirken.

2. Der Wunsch des Einwilligungsunfähigen als Veto Diese grundsätzlichen Erwägungen finden sich auch auf einfachgesetzlicher Ebene wieder. Einer der Grundsätze des Betreuungsrechts besteht darin, die Autonomie der betreuten Person in weitestmöglichem Umfang zu erhalten.16 So wird ein Betreuer nur für die Aufgabenkreise bestellt, in denen die Betreuung erforderlich ist (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB), d. h. das Ausmaß der Fürsorge wird individuell „dosiert“.17 Dies entspricht der am Einzelfall ausgerichteten Prüfung der Einwilligungsfähigkeit (s.o. 1.). Aber auch soweit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht gegeben ist und dementsprechend ein Betreuer für die Sorge in Gesundheitsangelegenheiten bestellt wird, hat der Wille des Betreuten weiterhin rechtliche Bedeutung: Nach § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB hat der Betreuer den Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist. Der Wunsch des Betreuten erhält damit als geäußerter Wille maßgebliche Bedeutung für die Entscheidung des Betreuers. Äußert er den Wunsch, nicht ärztlich behandelt zu werden, so hat der Betreuer diesem Wunsch grundsätzlich zu entsprechen.18 Nun steht aber die Pflicht des Betreuers, den Wünschen des Betreuten zu entsprechen, unter dem Vorbehalt, dass dies dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderläuft (§ 1901 Abs. 3 S. 1 BGB). In dieser Einschränkung spiegelt sich der Umstand wieder, dass der Betreute nicht in vollem Umfang zur Selbstbestimmung fähig ist, sondern der Fürsorge durch den Betreuer bedarf. Das Wohl des Betreuten ist indessen nicht allein anhand objektiver Kriterien (Gesundheit und Leben) zu bestimmen. Nach § 1901 Abs. 2 S. 2 BGB gehört zum Wohl des Betreuten auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Neben das objektive Interesse an der Bewah16

S. den Entwurf des Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz – BtG), BT-Drucks. 11/4528, S. 52; Lipp Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson (2000), S. 17; Prinz von Sachsen Gessaphe (Fn. 10) S. 23. 17 S. zum Erforderlichkeitsgrundsatz die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 11/4528, S. 58 ff; eingehend Prinz von Sachsen Gessaphe (Fn. 10) S. 214 ff. 18 S. zum grundsätzlichen Vorrang des natürlichen Willens die Gesetzesbegründung, BTDrucks. 11/4528, S. 67; Palandt-Diederichsen § 1904 Rn. 3.

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rung von Gütern tritt also das subjektive Interesse an der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.19 Im Vordergrund steht nicht allein die Erhaltung von Rechtsgütern, sondern dem Betreuten sollen durch die Betreuung die Freiheiten eröffnet werden, die nicht betreuten Personen zustehen.20 Die Betreuung dient der Herstellung von Rechtsgleichheit.21 Bezogen auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bedeutet dies Folgendes: Der einwilligungsfähige Patient ist frei, eine medizinische Behandlung abzulehnen. Seine Entscheidung wird von der Rechtsordnung respektiert. Diese Entscheidungsfreiheit betreuten Personen kategorisch abzusprechen, liefe dem Ziel, Rechtsgleichheit mit mündigen Personen herzustellen, zuwider.22 Dementsprechend hat das BVerfG die "Freiheit zur Krankheit" ausdrücklich auch nicht einwilligungsfähigen Patienten zuerkannt.23 Die fehlende Krankheitseinsicht darf nicht zum Anlass genommen werden, psychisch Kranken die Gleichbehandlung mit (einwilligungsfähigen) somatisch Kranken von vornherein zu versagen.24 In der Orientierung an den Vorstellungen und Wünschen des Betreuten werden Parallelen zur mutmaßlichen Einwilligung erkennbar.25 Wie die im Zusammenhang mit der Regelung der Patientenverfügung eingeführten Vorschriften (§§ 1901a Abs. 2, 1904 Abs. 3 BGB) zeigen, kommt es selbst bei Entscheidungen über Leben und Tod maßgeblich auf den (mutmaßlichen) Willen des Betreuten und nicht auf dessen objektives Wohl an.26 Eine Rechtfertigung scheidet dementsprechend aus, wenn eine nach objektiven Kriterien „vernünftige“ Entscheidung dem Willen des Rechtsgutsträgers erkennbar entgegensteht. Eine ähnliche Funktion haben die Wünsche und Vorstellungen des Betreuten bei der Bestimmung seines Wohls: Äußert die betreute Person den ernsthaften Wunsch, nicht ärztlich behandelt zu werden, oder widersetzt sie sich sogar vehement einer solchen Behandlung, so kann diese grundsätzlich nicht unter Berufung auf das – objektiv verstandene – Wohl der einwilligungsunfähigen Person gerechtfertigt werden, d. h. es besteht insoweit ein Vetorecht.27 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Wille des einwilligungsunfähigen Betreuten normativ nicht die gleiche Verbindlichkeit beanspruchen kann wie der Wille eines Einwilligungsfähigen; insoweit besteht ein we19

S. die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 11/4528, S. 133. Honds Die Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht, 2008, S. 89 21 Lipp (Fn. 16) S. 154 f. 22 Lipp (Fn. 16) S. 156. 23 BVerfGE 58, 208 (226); NJW 1998, 1775. 24 Marschner Psychische Krankheit und Freiheitsentziehung, 1985, S. 130 f. 25 Vgl. Lipp (Fn. 16) S. 49; Taupitz Gutachten (Fn. 14) A 71. 26 S. insoweit die Entwurfsbegründung zum 3. BtÄndG, BT-Drucks. 16/8442, S. 15 f, 18. 27 Golbs Das Vetorecht eines einwilligunsunfähigen Patienten, 2006, S. 194. 20

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sentlicher Unterschied im Vergleich zur mutmaßlichen Einwilligung, die einen körperlichen Eingriff aus sich heraus zu rechtfertigen vermag. Das bedeutet, dass der Wille des Betreuten zurücktreten muss, wenn auf seiner Seite Rechtsgüter in einem Ausmaß gefährdet sind, dass sein Wohl objektiv eine ärztliche Behandlung gebietet. Auf der Grundlage eines Verständnisses, welches das Wohl des Betreuten primär nach subjektiven Kriterien bestimmt, lässt sich diese Einschränkung des Vetorechts als „Notstandsgrenze“ (vgl. § 34 StGB) bezeichnen.28 Eine solche Begrenzung liegt bei einer dem Betreuten drohenden Lebensgefahr auf der Hand, wird in Anlehnung an die in § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zum Ausdruck kommende Wertung jedoch auch bei gravierenden Gefahren für die Gesundheit anzunehmen sein.29 In Bezug auf Letzteres ist jedoch Zurückhaltung geboten, denn der Gesetzgeber hat vor wenigen Jahren bewusst davon abgesehen, eine gesetzliche Grundlage für die Durchführung von Zwangsbehandlungen einzuführen.30 Eine Behandlung der Anlasserkrankung wird daher nur im Ausnahmefall in Betracht kommen, da bei der Bestimmung des Wohls und der damit einhergehenden Abwägung auch die negativen Folgen bzw. geringeren Erfolgsaussichten einer Behandlung gegen den Willen des Betreuten zu berücksichtigen sind31.32 Gerade angesichts der zum Teil erheblichen Nebenwirkungen der verwendeten Medikamente (insbesondere von Neuroleptika)33 kommt es für eine am (subjektiven) Wohl des Betreuten orientierte Entscheidung maßgeblich darauf an, wie belastend die Medikation von diesem empfunden wird. So darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass eine zunehmende Zahl von Patienten nach entsprechenden Erfahrungen von der Möglichkeit Gebrauch macht, in einer psychiatrischen Vorausverfügung die Grenzen einer ärztlichen Behandlung (und Medikation) festzulegen.34

28 Amelung Vetorechte (Fn. 8) S. 23 f; Golbs (Fn. 27), S. 205; Wagner R & P 1990, 169. Dabei geht es nicht um eine Rechtfertigung des ärztlichen Eingriffs, sondern um eine sinngemäße Heranziehung des § 34 StGB bei der Abwägung von Selbstbestimmungsrecht und Gesundheit bzw. Leben des Betreuten, s. insoweit Wagner R & P 1990, 169. 29 Golbs (Fn. 27) S. 194, 205; Lipp (Fn. 16) S. 166; für eine Begrenzung auf lebensnotwendige Behandlungen: Marschner R & P 2005, 51; vgl. zur Zahn- und Kieferbehandlung zur Abwendung einer (möglicherweise tödlich verlaufenden) Meningitis: OLG Hamm NJW 2003, 2394. 30 S. den entsprechenden Vorschlag des Bundesrates und die ablehnende Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/2494, S. 7, 30, 47. 31 S. zu § 1906 BGB: OLG Celle FamRZ 2007, 2107. 32 S. zu den therapeutischen Gründen gegen eine Zwangsbehandlung: Aderholt/Bock/Greve Betrifft: Betreuung, Bd. 7 (2004), S. 96 ff. 33 S. insoweit LG Berlin FamRZ 1993, 598 f. 34 S. DIE ZEIT Nr. 37 vom 9.9.2010, S. 38; s. dazu näher Brosey BtPrax 2010, 161 ff.

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„Manche Patienten leiden lieber an ihrer Krankheit als an ihren Medikamenten.“35

3. Vetofähigkeit und Einwilligungsfähigkeit Gegen die Annahme eines solchen Vetorechts könnte man einwenden, es sei ein Widerspruch, zunächst die Einwilligungsunfähigkeit des Patienten festzustellen und ihm damit die Kompetenz für die Entscheidung über die Vornahme des ärztlichen Eingriffs abzusprechen, ihm aber im gleichen Atemzug eine solche Entscheidungsmacht in Gestalt eines Vetorechts zuzugestehen.36 Die Anforderungen an die Fähigkeiten des Patienten könnten nicht in Abhängigkeit vom Ergebnis der Entscheidung variieren, indem für eine Zustimmung zu einem Heileingriff Einwilligungsfähigkeit verlangt werde, für dessen Ablehnung hingegen nicht.37 Die unterschiedlichen Anforderungen lassen sich indessen folgendermaßen erklären: Es ist die Vornahme der Heilbehandlung, nicht deren Unterlassung, die als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten einer Legitimation durch Einwilligung bedarf.38 Einer solchen Rechtfertigung bedarf es bei dem Unterlassen eines Heileingriffs grundsätzlich nicht; aus diesem Grund können die Anforderungen an die Fähigkeiten des Betroffenen reduziert werden, da dem Veto nicht das gleiche Gewicht zukommt wie der Einwilligung. Diese Sichtweise wird bestätigt durch gesetzliche Spezialregelungen, die ein Vetorecht einräumen, ohne dass sie dem Betroffenen zugleich die Entscheidungsmacht einräumen, den medizinischen Eingriff allein durch ihre Zustimmung zu ermöglichen, wie z.B. bei der Sterilisation (§ 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB).39 Zum Teil werden in diesen Gesetzen auch die Anforderungen an die "Vetofähigkeit" definiert und von der Einwilligungsfähigkeit abgegrenzt, wie z.B. in § 3 Abs. 3 Nr. 1 Kastrationsgesetz40 (Fähigkeit, die unmittelbaren Folgen einer Kastration zu verstehen). Eine ähnliche Regelung findet sich in § 2 Abs. 2 S. 3 Transplantationsgesetz (TPG): Danach kann ein Jugendlicher erst ab dem vollendeten 16. Lebens-

35

Walther BtPrax 2001, 101. Vgl. Heide Medizinische Zwangsbehandlung, 2001, S. 172. 37 Schweitzer FamRZ 1996, 1319. 38 Hufen NJW 2001, 853; Taupitz Gutachten (Fn. 14) A 73; Verrel Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C zum 66. Deutschen Juristentag (2006), C 70 f. 39 S. zu diesen Vetorechten im Einzelnen: Amelung Vetorechte (Fn. 8) S. 12 ff; Golbs (Fn. 27) S. 148 ff. 40 Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1143), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586). 36

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jahr in eine Organentnahme einwilligen, einer solchen aber bereits ab der Vollendung des 14. Lebensjahr widersprechen. Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten, dass die Vetofähigkeit nicht die gleiche Einsichts- und Urteilsfähigkeit voraussetzt wie die Einwilligungsfähigkeit.41 Da § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB den natürlichen Willen ausreichen lässt, der in einem Wunsch zum Ausdruck gebracht wird, sind an die Vetofähigkeit der betreuten Person grundsätzlich keine besonderen Anforderungen zu stellen.42 Davon zu trennen sind die Anforderungen an das Veto selbst; insoweit gebietet die Orientierung am Wohl des Patienten, dass es sich um eine ernsthafte und auf der Grundlage der Vorstellungen der betreuten Person nachvollziehbare Entscheidung gegen die Behandlungsmaßnahme handelt und sich die Ablehnung nicht in einer instinktiven oder reflexartigen Abwehrreaktion erschöpft.43

4. Die Außenwirkung des Vetos Nach dem bisherigen Ergebnis ist der Betreuer nach Maßgabe des § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB an das Veto des Betreuten gebunden. Es stellt sich dann die Frage, wie eine Behandlung zu beurteilen ist, in deren Vornahme der Betreuer entgegen dem Wunsch des Betreuten – d.h. pflichtwidrig – eingewilligt hat, genauer: ob das Veto auch im Außenverhältnis gegenüber dem Arzt verbindlich ist, mit der Folge, dass eine Rechtfertigung aufgrund der vom Betreuer erklärten Einwilligung ausscheidet, oder ob das Veto lediglich für das Innenverhältnis zwischen Betreuer und Betreutem von Bedeutung ist, so dass zwar eine pflichtwidrige, aber gegenüber dem Arzt wirksame Einwilligung vorliegt. Die Stellung des Betreuers als Vertreter des Betreuten (§ 1902 BGB) legt es nahe, die herkömmliche Trennung zwischen Innenverhältnis und Außenverhältnis im Recht der Stellvertretung auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Die Einwilligung des Betreuers wäre in diesem Fall gegenüber dem Arzt wirksam.44 Dagegen spricht jedoch, dass die Regeln 41 Dass dem natürlichen Willen des Einwilligungsunfähigen eine solchermaßen eingeschränkte (und asymmetrische) rechtliche Bedeutung zukommen muss, zeigt sich umgekehrt auch in der Situation eines dementen Patienten, der in einer Patientenverfügung lebenserhaltende Maßnahmen abgelehnt hat, nunmehr aber danach verlangt, s. dazu Gärditz ZfL 2010, 47 f; s. auch die Entwurfsbegründung zum 3. BtÄndG, BT-Drucks. 16/8442, S. 14 f. 42 S. dazu und zu den erhöhten Anforderungen an die Vetofähigkeit in spezialgesetzlichen Regelungen, die auf andere Weise für einen Schutz des Betroffenen Sorge tragen (z.B. § 4 Abs. 2 KastrG): Golbs (Fn. 27) S. 148 ff, 166 ff. 43 Golbs (Fn. 27) S. 117 ff, 198; s. auch Rehbock Ethik in der Medizin 2002, 148. 44 So die wohl herrschende Sicht im zivilrechtlichen Schrifttum: Frost Arztrechtliche Probleme des neuen Betreuungsrechts (1994), S. 68; Honds (Fn. 20) S. 104; Jürgens Betreuungs-

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über die Stellvertretung für Willenserklärungen geschaffen worden sind, also Erklärungen, die darauf gerichtet sind, rechtliche Bindungen zu erzeugen.45 Die Regeln über Willenserklärungen sind konstitutive Normen. Mit der Abgabe einer Willenserklärung wird bei dem Erklärungsempfänger ein Vertrauenstatbestand gesetzt. Dies rechtfertigt es, auch Handlungen, die im Innenverhältnis pflichtwidrig sind, im Außenverhältnis Wirksamkeit zuzuerkennen. Die Einwilligung zielt hingegen darauf ab, ein an den Adressaten gerichtetes Handlungsverbot außer Kraft zu setzen. Sie bezieht sich auf regulative Normen, also auf Ge- und Verbote. Eine rechtliche Bindung des Einwilligenden tritt nicht ein, dementsprechend entfällt auch das Bedürfnis für den Schutz von Vertrauen in den Bestand der Einwilligung. Das bedeutet nicht, dass sich der Arzt, der einen einwilligungsunfähigen Patienten im Vertrauen auf eine Einwilligung des Betreuers behandelt, wegen Körperverletzung strafbar macht, wenn der Betreuer gegen § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB verstoßen hat46, denn eine Strafbarkeit des Arztes kommt nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass er von dem Veto des Patienten positiv wusste oder dessen Vorliegen hätte erkennen müssen.47 Die Trennung von Innen- und Außenverhältnis verliert damit ihre Berechtigung; die Pflichtwidrigkeit schlägt also auf das Außenverhältnis durch.48

III. Die Anwendung von Zwang gegen den einwilligungsunfähigen Patienten Die Zwangsbehandlung bedeutet für den Patienten in der Regel nicht nur, dass er einem körperlichen Eingriff unterzogen wird, sondern auch, dass er mit Gewalt (oder deren Androhung) gezwungen wird, die Behandlung zu dulden. Der einwilligungsunfähige Patient wird in diesen Fällen also über die Körperverletzung hinaus Opfer einer Nötigung (§ 240 StGB), unter Umständen auch einer Freiheitsberaubung (§ 239 StGB). Es stellt sich die Frage, ob die darin liegende Verletzung individueller Freiheit gerechtfertigt werden kann.

recht § 1901 Rn. 14; Lipp (Fn. 16) S. 184 f; Erman-Roth § 1901 Rn. 25; MüKo/BGB-Schwab § 1901 Rn. 20; Taupitz Gutachten (Fn. 14) A 71. 45 S. zum Folgenden Amelung ZStW 104 (1992), 527 f. 46 S. die entsprechenden Bedenken bei Honds (Fn. 20) S. 101 ff. 47 K.G. Mayer Medizinische Maßnahmen an Betreuten, 1995, S. 105. 48 K.G. Mayer (Fn. 47) S. 105. Im Fall einer Zwangsbehandlung wird man allerdings auch bei einer Anwendung der Vertretungsregeln annehmen können, dass eine Einwilligung, die unter offensichtlicher Verletzung der Pflichten des Betreuers erteilt worden ist, auch auf das Außenverhältnis durchschlägt, vgl. Honds (Fn. 20) S. 105 f; Lipp (Fn. 16) S. 187 f.

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1. Das Problem des Gesetzesvorbehaltes Im Unterschied zu der vom Arzt ausgeführten und von der Einwilligung des Betreuers gedeckten Behandlungsmaßnahme sieht die Rechtsprechung es als unzulässig an, die betreute Person zur Duldung der Behandlung zu zwingen, da eine gesetzliche Grundlage für die Anwendung von Zwang durch den Betreuer (Festhalten u. ä.) fehle.49 Der Bundesgerichtshof hat es insbesondere abgelehnt, eine medizinische Behandlung der betreuten Person über eine kurzzeitige Unterbringung (und der damit einhergehenden Anwendung von Zwang) zu ermöglichen (vgl. § 1906 BGB).50 Die Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass eine ambulante Zwangsbehandlung gegen den Widerstand der betreuten Person rechtlich unzulässig ist.51 Die dieser Auffassung zu Grunde liegende Differenzierung zwischen Einwilligung in die Heilbehandlung und Ausübung von Zwang zu deren Duldung erscheint jedoch widersprüchlich: So stellt sich etwa die Frage, ob nicht auch die vom Betreuer veranlasste Heilbehandlung ein von diesem zu verantwortender Grundrechtseingriff ist, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf.52 Die Regelung des § 1904 BGB ist insoweit nicht ausreichend. Erstens umfasst diese Norm nur bestimmte, d.h. besonders gefährliche Maßnahmen (bzw. ein entsprechendes Unterlassen, s. § 1904 Abs. 2 BGB). Zweitens dient sie ausschließlich der Begrenzung einer bereits vorausgesetzten Einwilligungsbefugnis des Betreuers, indem die genannten Eingriffe unter den Vorbehalt einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung gestellt werden. Konsequenterweise wäre daher für die Heilbehandlung des Betreuten gegen seinen Willen – insbesondere soweit diese nicht in den Anwendungsbereich des § 1904 BGB fallen53 – eine ausreichende gesetzliche Grundlage zu verneinen.54 Der Bundesgerichtshof begnügt sich insoweit jedoch mit einem Rückgriff auf die allgemeinen Bestimmungen (§§ 1901, 1902 BGB).55 Um die Frage zu beantworten, ob auf der Grundlage dieser Vorschriften eine Behandlung gegen den Willen der betreuten Person durchgeführt werden kann, muss man sich zunächst vergewärtigen, dass die Einwilligung nicht nur einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund darstellt, sondern auch in der Grundrechtslehre von Bedeutung ist, indem sie die Annahme 49

BGHZ 145, 297 (308); JR 2007, 247; MedR 2008, 739 f. BGH MedR 2008, 739; s. dagegen noch Schweitzer FamRZ 1996, 1322 ff. 51 BGHZ 145, 297 (309 f); MedR 2008, 740. 52 S. insoweit Lipp (Fn. 16) S. 129. 53 S. etwa zur Zahnbehandlung gegen den Willen des Betreuten: OLG Hamm NJW 2003, 2393. 54 S. zu § 1906 BGB: Lipp JZ 2006, 663; s. auch Marschner R & P 2005, 50. 55 BGH JR 2007, 247. 50

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eines Grundrechtseingriffs ausschließt und damit die Notwendigkeit einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung entfallen lässt.56 Die Einwilligung wird damit zum Äquivalent für die gesetzliche Grundlage.57 Dies muss grundsätzlich auch dann gelten, wenn eine betreute Person mit Einwilligung ihres Betreuers einem ärztlichen Heileingriff unterzogen wird, selbst wenn dieser gegen den Willen der betreuten Person durchgeführt wird (und deren Veto ausnahmsweise unbeachtlich ist, s.o. II. 2.). Die von der Rechtsprechung58 vorgenommene Differenzierung zwischen Außenverhältnis (Einwilligung in die Behandlung) und Innenverhältnis (Durchsetzung der Behandlung) geht insoweit fehl, als in beiden Konstellationen Grundrechtspositionen des Betreuten berührt werden: Grundrechtsdogmatisch macht es keinen Unterschied, ob der Betreuer selbst einen entsprechenden Eingriff vornimmt oder diesen durch den Arzt vornehmen lässt.59 Das Problem des Gesetzesvorbehalts ist damit keineswegs gelöst, denn mit der Behandlung setzen sich Arzt und Betreuer über den natürlichen Willen der betreuten Person hinweg. Es ist allerdings nicht mehr der körperliche Eingriff, für den eine gesetzliche Grundlage zu schaffen ist, sondern die Übertragung der entsprechenden Entscheidungs- bzw. Einwilligungskompetenz auf den Betreuer (s. § 1902 BGB).60 Dabei gelten in Bezug auf die Bestimmtheit der Ermächtigung geringere Anforderungen61, denn im Unterschied zu herkömmlichen öffentlichrechtlichen Befugnissen ermächtigt sie nicht zu Eingriffen im öffentlichen Interesse, deren Zweck und Grenzen nach objektiven Maßstäben festgelegt werden, sondern dient ausschließlich dem subjektiven Wohl der betreuten Person, das maßgeblich von deren individuellen Wünschen bestimmt wird 56

S. dazu eingehend Amelung Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 63 ff. 57 Hillgruber Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135 f. 58 BGHZ 145, 297 (308); MedR 2008, 739. 59 S. zur entsprechenden Problematik beim Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG): Abram FamRZ 2004, 14. 60 BVerfG NJW 2002, 206 f: Dort wird nur ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), nicht jedoch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) angenommen; allerdings führt die Kammer (hilfsweise) ergänzend aus, dass die Bestellung des Betreuers, sofern man diese aufgrund der von diesem genehmigten Behandlungsmaßnahme als mittelbaren Eingriff in das letztgenannte Grundrecht ansehen wollte, jedenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist; zum Eingriffscharakter der Bestellung eines Betreuers: Amelung ZStW 104 (1992), 825; Prinz von Sachsen Gessaphe (Fn. 10) S. 181 ff; s. dagegen Lipp (Fn. 16) S. 129 ff. 61 Dies wird im Ergebnis vom BGH anerkannt, der auch ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Anwendung von Zwang zur Durchführung der Behandlung eine entsprechende Ermächtigung in § 1906 BGB hineinliest, s. BGH JR 2007, 245 (248); kritisch dazu Olzen/von der Sanden JR 2007, 249 f.

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(§ 1901 Abs. 2 BGB, s.o. II.2.).62 Die Betreuung hat nicht nur Eingriffs-, sondern auch Hilfscharakter: Soweit die betreute Person rechtlich nicht handlungsfähig ist, kann der Betreuer aufgrund der ihm übertragenen Befugnisse diese Defizite kompensieren.63 Diese Ausrichtung auf das (subjektive) Wohl des Betreuten macht es schwierig, in Bezug auf die Wahrung einzelner Grundrechte (objektiv) erhöhte Eingriffsschwellen festzulegen,64 insbesondere bei Entscheidungen, in denen unterschiedliche Interessen des Betreuten gegeneinander abgewogen werden müssen, lassen sich Ausmaß und Grenzen der Entscheidungsbefugnis in materieller Hinsicht kaum präziser festlegen, als dies in § 1901 Abs. 2, Abs. 3 BGB geschehen ist. Die Regelungen für besonders gravierende Eingriffe bzw. Freiheitsbeschränkungen (§§ 1905, 1906 BGB) stellen insoweit eine Ausnahme dar. Angesichts der Unsicherheiten, die sich aus dem subjektiven Maßstab ergeben, bedürfen die allgemeinen Regelungen allerdings einer Ergänzung durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die jeweilige Maßnahme dem Wohl der betreuten Person entspricht, wie insbesondere die Pflicht, wichtige Angelegenheiten mit der betreuten Person zu besprechen (§ 1901 Abs. 3 S. 3 BGB),65 und das Erfordernis der betreuungsgerichtlichen Genehmigung (s. §§ 1904 ff. BGB).66 Zum Schutz des Betreuten könnte auch bei der Anwendung von Zwang ein solcher Genehmigungsvorbehalt geboten sein.67 Da jedoch eine Zwangsbehandlung nur in seltenen Ausnahmefällen und insoweit vorwiegend zur Behandlung von Begleiterkrankungen in Betracht kommt (s.o. II. 2.), wird ein solcher Schutz in der Regel über § 1904 BGB gewährleistet sein. Eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Einwilligungsbefugnis des Betreuers liegt damit vor.68

2. Die Einwilligung in den Zwang zur Duldung der Heilbehandlung Wenden der Arzt selbst oder eine Hilfsperson gegenüber dem einwilligungsunfähigen Patienten Zwang an, um diesen zur Duldung einer Heilbehandlung zu zwingen, so erfüllt dieses Verhalten in der Regel den Tatbe62

S. auch Erman-Roth § 1901 Rn. 16; vgl. ferner zur verfassungsrechtlichen Begründung über das Sozialstaatsprinzip: BVerfGE 40, 121 (133); 44, 353 (375); 58, 209 (225) 63 Prinz von Sachsen Gessaphe (Fn. 10) S. 170 ff, 181; s. auch Lipp (Fn. 16) S. 130 ff und oben II. 2. zur Herstellung von Rechtsgleichheit. 64 Etwas Anderes gilt für Maßnahmen, die zumindest auch fremdnützig sind, s. etwa die Beschränkung der Forschung mit einwilligungsunfähigen Erwachsenen (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 lit. a, § 41 Abs. 3 AMG). 65 S. zur Besprechungspflicht bei ärztlichen Eingriffen: Palandt-Diederichsen § 1901 Rn. 8. 66 Gärditz ZfL 2010, 44 ff; Taupitz Gutachten (Fn. 14) A 84. 67 Vgl. insoweit den Gesetzesvorschlag des Bundesrates, BT-Drucks. 15/2494, S. 7, 30 (§ 1906a BGB-E), und den Vorschlag von Honds (Fn. 20) S. 185 (§ 1904 Abs. 3 BGB-E). 68 K.G. Mayer (Fn. 47) S. 100.

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stand der Nötigung (§ 240 StGB), gegebenenfalls auch der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB). Soweit der Betreuer im Rahmen seiner Befugnisse in die Anwendung von Zwang gegen die betreute Person eingewilligt hat, kommt die Einwilligung auch insoweit als Grundlage einer Rechtfertigung in Betracht. Gegen die Annahme einer rechtfertigenden Einwilligung spricht auf den ersten Blick, dass nach h. M. bei der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) und der Nötigung (§ 240 StGB) die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers als tatbestandsausschließendes Einverständnis wirkt und insoweit auf den natürlichen Willen des Rechtsgutsinhabers – also des Betreuten – abzustellen ist.69 Ein solches Einverständnis liegt in der vorliegenden Konstellation indessen nicht vor, da der Täter gegen den natürlichen Willen des Opfers handelt, also das tatbestandlich vertypte Unrecht verwirklicht. Gleichwohl handelt es sich bei der Willens- und Fortbewegungsfreiheit um disponible Rechtsgüter, so dass eine Einwilligung die Strafbarkeit grundsätzlich ausschließt. Da die Verfügungsbefugnis insoweit auf den Betreuer übergegangen ist, kann dieser somit in die Verletzung dieser Rechtsgüter wirksam einwilligen. Die Einwilligung ist hingegen unwirksam, wenn der Betreuer bei ihrer Erteilung ein Veto des Patienten missachtet hat. In diesem Fall scheidet nicht nur eine Rechtfertigung der Heilbehandlung selbst, sondern auch eine Rechtfertigung der Zwangsanwendung aus. Die vom Betreuer erteilte Einwilligung ist dagegen wirksam, soweit der Wunsch des Betreuten, nicht behandelt zu werden, seinem Wohl zuwiderläuft, sein Veto also nach § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB unbeachtlich ist. Eine Nötigung des Patienten zur Duldung der Behandlung und erforderlichenfalls auch eine Freiheitsberaubung können in diesem Fall durch die Einwilligung des Betreuers gerechtfertigt werden.70 Anderenfalls wäre der Schutz des Einwilligungsunfähigen vor sich selbst nicht durchsetzbar – ein Ergebnis, das weder rechtspolitisch befriedigen könnte noch mit dem erklärten Willen des Gesetzgebers vereinbar wäre, denn dieser ging bei der Neuregelung des Betreuungsrechts davon aus, dass eine Zwangsbehandlung zur Abwendung einer Lebensgefahr zulässig sein muss.71 Ein ähnlicher Widerspruch ergäbe sich auf der Grundlage der herrschenden Ansicht bei der Anwendung des § 1904 Abs. 2 BGB: Soweit das Betreuungsgericht die Genehmigung der Ablehnung einer lebensrettenden Behandlung verweigert, könnte diese Behandlung gegen den Widerstand 69

Schönke/Schröder-Eser § 239 Rn. 3, 8; § 240 Rn. 33; Roxin AT I § 13 Rn. 2, 24; MüKoWieck-Noodt § 239 Rn. 34, 46. 70 Bienwald Betreuungsrecht § 1904 Rn. 24; MüKo/BGB-Schwab § 1904 Rn. 19; s. auch Deutsch/Spickhoff (Fn. 14) Rn. 855 f; s. aber nunmehr wie die Rechtsprechung: Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht§ 1904 Rn. 94. 71 S. o. Fn. 3.

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des Betreuten gleichwohl nicht durchgeführt werden. Der mögliche Einwand, die Regelung betreffe in erster Linie Konstellationen, in denen die betreute Person nicht mehr in der Lage sei, sich einer Behandlung zu widersetzen, erweist sich dabei als vordergründig, denn er erhebt die Fähigkeit zum Widerstand anstelle des in Form eines Wunsches geäußerten Willens zum maßgeblichen Kriterium und provoziert die (rhetorische) Frage, ob denn nur der Betreute, der noch zu aktivem Widerstand fähig ist, vor einer ärztlichen Behandlung gegen seinen Willen geschützt werden soll. Will man diese Widersprüche vermeiden, so muss die Frage nach der Rechtfertigung der Heilbehandlung einerseits und des zu deren Durchführung angewandten Zwangs andererseits einheitlich beantwortet werden.

IV. Fazit Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass eine Zwangsbehandlung eines einwilligungsunfähigen Patienten grundsätzlich unzulässig ist. Die Pflicht des Betreuers, den Wünschen des Betreuten zu entsprechen (§ 1901 Abs. 3 S. 1 BGB), begründet ein Vetorecht des Betreuten, das der behandelnde Arzt auch dann zu beachten hat, wenn der Betreuer pflichtwidrig eine Einwilligung erteilt. Dieses Vetorecht des Einwilligungsunfähigen stößt an seine Grenzen, wenn durch die Behandlung die Gefahr des Todes oder einer gravierenden Gesundheitsschädigung abgewendet werden soll; die geringere normative Verbindlichkeit des Willens entspricht insoweit der eingeschränkten Fähigkeit zur Selbstbestimmung. In diesem Fall rechtfertigt die vom Betreuer erteilte Einwilligung nicht nur die Heilbehandlung selbst, sondern auch die Anwendung von Zwang, um die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen zu ermöglichen. Die hiergegen in der Rechtsprechung und im Schrifttum vorgebrachten Einwände sind im Ergebnis nicht begründet. Soweit sie auf der gut nachvollziehbaren Sorge beruhen, mit der Anwendung von Zwang über die bei der betreuten Person verbliebene Fähigkeit zur Selbstbestimmung hinwegzugehen, ist diesem Anliegen bereits durch Einräumung eines Vetorechts gegen die beabsichtigte Heilbehandlung selbst Rechnung zu tragen.

Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung: offene Fragen im Strafrecht, insbesondere bei Verstoß gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB DETLEV STERNBERG-LIEBEN „Sterben ist ja nicht das Ärgste, sondern wenn man jemand sich zu sterben wünscht und dann auch dieses nicht erlangen kann!“ (Sokrates, Elektra, 3. Auftritt, Chrysothemes1; 413 vor Christus). – „Der Arzt soll und darf nichts anderes tun, als ein Leben zu erhalten; ob es ein Glück oder ein Unglück sei, ob es einen Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an; und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft mit aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staat.“ (Hufeland, ab 1800 Professor an der Charité; königlicher Leibarzt). – „Die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologie ist, wenn sie dem wirklichen oder anzunehmenden Patientenwillen widerspricht, rechtswidrig.“ (Bundesgerichtshof in Strafsachen 1991 ). Mit diesen Zitaten ist das Spannungsfeld umrissen, in dem die Thematik meines nachfolgenden Beitrags angesiedelt ist.

I. Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts Der Jubilar hat sich in seinem vielfältigen strafrechtswissenschaftlichen Schaffen mehrfach mit Problemen der Sterbehilfe befasst, wobei er zu dem Zitiert nach der Übersetzung von B. Schadewaldt (Reclams Universalbibliothek, Nr. 711, 2008), S. 44. BGHSt 37, 376, 378. Hier seien nur seine Beiträge in der Engisch-FS (1977) zur Abgrenzung von Tun und Unterlassung gerade auch im ärztlichen Bereich (S. 395 ff), seine Beiträge zur Suizidmitwirkung und aktiver Sterbehilfe (NStZ 1987, 345 ff; FS Pötz, 1993, 177 ff; FS Jakobs, 2007, 571 ff) sowie seine Stellungnahme zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe in dem, von ihm zusammen mit Schroth herausgegebenen, Handbuch des Medizinstrafrechts (4. Aufl. 2010) angeführt (S. 75 ff).

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Fazit kam, die Beurteilung der Sterbehilfe gehöre zu den schwierigsten Problemen des Strafrechts. In diese vielschichtige existentielle Problematik, in deren Diskussion sich die Juristen verschiedener Fachrichtungen das Terrain mit Medizinern, Philosophen und Theologen zu teilen haben, ist auch die Patientenverfügung eingebettet, also eine vom prospektiven Patienten vor Eintritt der konkreten Behandlungssituation getroffene Entscheidung, bestimmte ärztliche (sowie ggf. pflegerische) Maßnahmen nicht zu gestatten. Mit Einstellung von § 1901a BGB durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 wurde das Ende eines langen Weges hin zur Anerkennung der Patientenverfügung als interdisziplinärer Regelungsgegenstand erreicht. Es ist hier nicht der Ort, den dieser Regelung zugrunde liegenden Diskussionsstand oder auch nur die wichtigsten Beiträge nachzuzeichnen. Ab dem 1. September 2009 gelten für dieses spezielle Feld ärztlicher Tätigkeit jedenfalls die Vorgaben der §§ 1901a ff BGB. Es ist hier leider auch nicht der Raum, einen Seitenblick auf das dem Gesetzgeber und den Rechtsanwendern den Rahmen setzende Verfassungsrecht9 zu werfen. Unter speziell strafrechtlichem Blickwinkel ist daran zu erinnern, dass die Frage nach Zulässigkeit und Grenzen eines Abbruchs ärztlicher Behandlung10 bereits vom Ansatz her den angemessenen Problemzugang verfehlt: Nicht der – möglicherweise zur Lebensbeendigung

Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.) Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 83. BGBl I, S. 2286. Begründet durch die Interdisziplinärität der aufgeworfenen Probleme sowie das Ineinandergreifen mehrerer Rechtsgebiete und Teildisziplinen: Verfassungsrecht, Privatrecht (Vertrags- und Haftungsrecht), Betreuungsrecht, ärztliches Berufs- und Standesrecht sowie Strafrecht mit je eigenen dogmatischen und methodischen Kontext müssen in ein stimmiges Zusammenspiel gebracht werden, können doch die Konsequenzen, die aus einer Lösung in einem Teilrechtsgebiet für andere Rechtsgebiete entstehen, in der jeweiligen Teildisziplin nicht geklärt werden (Albers in: dies. [Hrsg.] Patientenverfügungen, 2008, S. 9, 13). Vgl. Höfling NJW 2009, 2849 f; Olzen JR 2009, 355 ff. Überblick bei Höfling NJW 2009, 2850 ff; Olzen JR 2009, 357 ff. Zur „Vorstrukturierungsleistung“ des maßstabsetzenden Verfassungsrechts: Albers in: dies. (Fn. 6) S. 17 f, sowie Schuler-Harms in: Albers (Fn. 6) S. 69, 70 ff; speziell im Hinblick auf die Patientenverfügung Verf. FS Amelung, 2009, 339 ff; zur Sterbehilfe vertiefend Kämpfer Die Selbstbestimmung Sterbewilliger, 2005, S. 159 ff, 324 ff, sowie Antoine Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 82 ff. Wenig glücklich BGHSt 40, 257, 261 („Einwilligung zum Behandlungsabbruch“) sowie NJW 2010, 2963 („Sterbehilfe durch … Behandlungsabbruch ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht … und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.“ [1. Leitsatz]); anders BGHSt 37, 376, 378 sowie BGH[Z] NJW 2003, 1588, 1589.

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führende – Abbruch11 einer ärztlichen Behandlung, sondern der Beginn sowie ihre Fortführung bedarf der Legitimation durch den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Konsens des Patienten.12

II. Offene Fragen bei ärztlichen Maßnahmen unter dem Dirigat einer wirksamen Patientenverfügung Wenn auch die Novellierung im BGB wesentliche Grundsatzfragen geklärt hat, so hat dieser gesetzgeberische Klärungsversuch erwartungsgemäß nicht alle Zweifelsfragen regeln können; im Gegenteil: Er hat zusätzlich eine Vielzahl klärungsbedürftiger, mittelbar auch strafrechtlich relevanter Fragen mit sich gebracht: 1. Bereits vor Inkrafttreten der §§ 1901a ff BGB waren insbesondere folgende Problembereiche umstritten, die auch durch die Novellierung keine Klärung erfahren haben:  Entfaltet eine Patientenverfügung auch dann Bindungswirkung, wenn ihr Verfasser anschließend dement wird und somit mangels Einwilligungsfähigkeit nicht zum Widerruf seiner ursprünglichen Verfügung in der Lage ist? Wird von der gesetzlichen Neuregelung auch das Abfassen einer sog. psychiatrischen Verfügung erfasst? Präziser gesagt: eine Behandlungsbegrenzung durch Änderung des Therapiezieles vom kurativen Einsatz hin zu einer palliativen Ausrichtung ärztlicher und pflegerischer Mittel. Verf. JRE 15 (2007), S. 311 m. w. N. in Fn. 25. So ist die Patientenverfügung verbindlich (vgl. BT-Drucks. 16/8442, S. 11) und in ihrer Reichweite nicht auf Todesnähe oder irreversible Krankheitszustände beschränkt. Vgl. den Titel des zivilrechtlichen Aufsatzes von G. Müller DNotZ 2010, 169 ff: Die Patientenverfügung nach dem 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz: alles geregelt und vieles ungeklärt. Sicherlich handelt es sich beim dementiven Abbau um einen stufenweisen Prozess, in dem sich die gesamte Persönlichkeit verändert (Wunder in: Albers [Fn. 6] S. 39, 48 f, mit Fallbeispiel). Dennoch sollten die Festlegungen in einer vor Eintritt dieses Prozesses getroffenen, ausdrücklich auf diese Konstellation bezogenen (so auch der Nationale Ethikrat Patientenverfügung – Ein Instrument der Selbstbestimmung, S. 23, der zusätzlich eine ärztliche Vorab-Beratung fordert) Patientenverfügung Gültigkeit behalten, da andernfalls autonome, menschenwürdegestützte Selbstbestimmung durch heteronome Fremdbestimmung (durch Interpretation der Äußerungen des Dementen seitens Dritter) ersetzt würde; siehe auch Dreier JZ 2007, 324; für Bindungswirkung z. B. Verf. JRE 15 (2007), S. 321; Verrel in: Albers (Fn. 6) S. 185, 207 (hingegen offengelassen Verrel in: Verrel/Simon (Hrsg.) Patientenverfügungen, 2010, S. 13, 35); anders etwa Merkel JZ 1999, 506 ff; Spickhoff FamRZ 2009, 1951, sowie die BT-EnqueteKommission, BT-Drucks. 15/3700, S. 12 (unter Hinweis auf eine Versklavung des Dementen durch eine „frühere“ Person; hierzu zu Recht krit. Simon in: Verrel/Simon (Hrsg.) Patientenverfügungen, 2010, S. 59, 87, mit seiner Frage, welche „Versklavung“ das größere Übel darstelle: die durch die frühere Person, zu der zumindest eine biographische Kontinuität bestünde,

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oder diejenige durch Dritte, deren Entscheidungen stets auch durch eigene Interessen beeinflusst seien. Wenngleich Reus JZ 2010, 83 zutreffend darauf hinweist, dass das vielfach beschworene Bild eines glücklich-lebensfrohen Demenzkranken ohnehin nicht repräsentativ sein dürfte – zumeist dürfte es sich in derartigen Fällen um beschränkt Einwilligungsfähige handeln, die zum Widerruf ihrer Patientenverfügung durchaus noch rechtlich in der Lage sind – so bedürfen doch die verbleibenden Fälle einer Entscheidung. Einen rechtlich relevanten Unterschied zwischen einer derartigen Vorausverfügung, in der für den Fall einer psychiatrischen Behandlung bestimmte Zwangsmaßnahmen abgelehnt werden, und einer Patientenverfügung im Allgemeinen wurde etwa von Hartmann NStZ 2000, 118 f angenommen. Albrecht/Albrecht Die Patientenverfügung, 2009, Rn. 78 (unter Bezug auf BT-Drucks. 16/8442, S. 13): als ärztlicher Eingriff sonstigen Therapieformen gleichgestellt. Zu Recht bejaht von Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 77 u. 79; Verrel in: Verrel/Simon (Fn. 15) S. 26. Hierzu Schönke/Schröder-Eser Vor § 211 Rn. 25 f; Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.) Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 86 ff. Krit. zur Nichtregelung: Lange ZEV 2009, 540, der darauf hinweist, dass ärztliche Furcht, sich insoweit bei der Befolgung von Patientenverfügungen strafbar zu machen, in der Vergangenheit häufig dazu geführt hat, dass Ärzte Patientenverfügungen nicht beachteten. Hierzu Schönke/Schröder-Eser Vor § 211 Rn. 41 ff; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Hecker § 323c Rn. 7. M. E. besteht – eine im noch freiverantwortlichen Zustand errichtete Patientenverfügung vorausgesetzt – keine Veranlassung, derartige Vorab-Verfügungen aus dem Anwendungsbereich wirksam bindender Patientenverfügung auszuklammern (zur Straflosigkeit nicht eingreifender Familienangehöriger im Falle einer an Alzheimer erkrankten Ärztin, die sich vorab freiverantwortlich spätere Rettungsbemühungen verbeten hatte, vgl. die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 30.7.2010, Az. 125 Js 11736/09; abgerufen am 17.9.2010 unter http://www.wernerschell.de/Rechtsalmanach/Heilkunde/Dokument20.pdf). Möglicherweise sind bspw. nach Errichten der Verfügung entwickelte, patientenschonende Behandlungsmethoden bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die Festlegungen der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB): Spickhoff FamRZ 2009, 1951.

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Bejaht von BGHZ NJW 2005, 2385, 2386; so auch Verf. FS Eser, 2005, 1185, 1203, sowie Verf. in: Binet (Hrsg.) Droit et vieillissement de la personne, 2008, S. 181, 205 ff. Spickhoff FamRZ 2009, 1955, lässt für den Widerruf „deutliche Anzeichen“ genügen, wobei es sogar genügen soll, dass ein Widerruf nur wahrscheinlich erfolgt sei; dann besteht allerdings die auch von ihm erkannte Gefahr, die Patientenverfügung hierdurch ohne zureichenden Anlass zu relativieren oder gar zu entwerten. Diese Frage dürfte sich insbesondere im Falle von Demenzerkrankungen stellen (vgl. BT-Drucks. 16/8442, S. 11): krit. Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 258; zu dem – den Hintergrund dieses Problems bildenden – Verhältnis von Autonomie und Fürsorge: May in: Körtner/Kopetzki/Kletecka-Pulker (Hrsg.) Das österreichische Patientenverfügungsgesetz, 2007, S. 1 ff; Simon in: Verrel/Simon (Fn. 15) S. 88 ff; sowie (unter medizinrechtlichem Blickwinkel) Damm MedR 2010, 451 ff. Vgl. Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 179, 264 f, mit dem berechtigten Hinweis, dass angesichts der Schwierigkeit des Nachweises negativer Tatsachen der Vertreter nicht überfordert werden dürfe; mithin könne er auf den Fortbestand der Verfügung vertrauen, solange keine offensichtlichen Anhaltspunkte für eine Meinungsänderung vorlägen, wobei bei älteren Verfügungen allerdings eine intensivere Prüfungspflicht anzunehmen sei. Auch in Bezug auf den behandelnden Arzt stellt sich die Frage, ob ihm Ermittlungen hinsichtlich eines gegenüber der Patientenverfügung abweichenden Patientenwillens obliegen oder (vorzugswürdig) ob er lediglich evidente Hinweise auf einen abweichenden Willen nur nicht unbeachtet lassen darf. Ist insoweit eine pauschale Befugnis-Einräumung ohne nähere, zumindest beispielhaft wirkende, Vorgaben überhaupt möglich? Dies wird bspw. bejaht v. Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 129 m.w.N. pro und contra; abl. hingegen Duttge Preis der Freiheit, 2. Aufl. 2006, S. 71 ff; Verf. FS Lenckner, 1998, 349, 368; vgl. auch Roxin AT I § 13 Rn. 95: bei inhaltsloser Ermächg „Vertreter“ nur als Ratgeber bei der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens. tigung Hierzu Spickhoff FamRZ 2009, 1953, der i. E. zu Recht lediglich eine Fahrlässigkeitshaftungg für möglich hält. Vgl. Meyer-Götz FPR 2010, 271 (der auch darauf hinweist, dass eine derartige aufgedrängte Behandlung von dem Patienten bzw. seiner Krankenversicherung möglicherweise nicht

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2. Aber auch die neu eingestellten §§ 1901a ff BGB selbst haben eine Reihe ungeklärter Fragen im Gefolge:  Da die Patienteneinwilligung (bzw. deren Verweigerung) in eine „unmittelbar bevorstehende“ ärztliche Maßnahme nicht den BGB-Regelungen über die Patientenverfügung unterliegt (vgl. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB), stellt sich die Frage, wann von einer derartigen „zeitnahen“ Einwilligungsverweigerung gesprochen werden kann.  Wie konkret muss die Patientenverfügung abgefasst sein? Ist die (genaue?) Angabe einer Erkrankung erforderlich oder genügt die Aufzählung untersagter ärztlicher Interventionen?  Ist eine Patientenverfügung auch in Bezug auf Erkrankungen möglich, die zur Zeit der Niederschrift noch nicht diagnostiziert oder auch noch nicht zu erwarten waren? zu vergüten ist). Dass eine derartige ärztliche Eigenmacht in Form aufgedrängter Lebenserhaltung durchaus zivilrechtliche Haftungsfolgen (!) nach sich ziehen kann, belegt die Untersug von Baltz Lebenserhaltung als Haftungsgrund, 2010, S. 127 ff, 169 ff, 189 ff. chung Kann dann in Anbetracht der weder vom Gesetzgeber noch in Rechtspraxis und Literatur bewältigten – wahrscheinlich letztlich auch gar nicht befriedigend lösbaren – Konstellation einseitig passiver Sterbehilfe (hierzu Schönke/Schröder-Eser Vor § 211 Rn. 29 ff) etwa auf eine – gemeinsam von Arzt und Patientenvertreter zu erarbeitende (!) – Indikation, genauer: deren Fehlen, abgestellt werden (so Kutzer MedR 2010, 532)? Vgl. Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 73 f; Spickhoff FamRZ 2009, 1951: „Unmittelbarkeit“ als wertendes, der Rechtssicherheit entgegenstehendes Element. So dürfte bspw. eine terminale Sedierung unabhängig von den Regelungen der §§ 1901a ff BGB durch eine fortwirkende Einwilligung gedeckt sein, die ein noch einwilligungsfähiger Patient erteilt hat (Albrecht/Albrecht [Fn.17] Rn 216). Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 163 ff; Höfling NJW 2009, 2850; G. Müller DNotZ 2010, 178 ff; Beispiele für fehlende Bestimmtheit in BT-Drucks. 16/8442, S. 13. Da nach dem Willen des Gesetzgebers eine ärztliche Beratung nicht zwingend erforderlich ist, dürfte es genügen, wenn sich aus der Verfügung – ggf. auch erst im Wege ihrer Auslegung (siehe Verrel (Fn. 15) S. 28; vertiefend: W. Lange Inhalt und Auslegung von Patientenverfügungen, 2009, S. 62 ff, 161 ff) – ergibt, in welcher Behandlungssituation welche ärztliche Maßnahme zu unterbleiben hat (G. Müller DNotZ 2010, 181; Palandt-Diederichsen, § 1901a BGB Rn. 18); anderenfalls würde das Ziel des Gesetzgebers, das Selbstbestimmungsrecht eines entscheidungsfähigen Patienten nicht nur bei aktueller Ausübung, sondern auch dann zu schützen, wenn es durch eine in die Zukunft wirkende vorausschauende Verfügung ausgeübt wird (BTDrucks. 16/8442, S. 12), nur in Fällen erreicht werden können, in denen die Krankheit schon g eingetreten ist und eine sog. situationsangepasste Patientenverfügung verfasst werden kann. Bejaht von G. Müller DNotZ 2010, 180 f; Spickhoff FamRZ 2009, 1951; anders Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 168 (Rn. 201: nur Behandlungswunsch i. S. v. § 1901a Abs. 2), einschr. aber in Rn. 182 ff.

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 Welche Rechtsfolgen hat ein Verstoß gegen das Koppelungsverbot in § 1901a Abs. 4 BGB? Wird von dem dort statuierten Verbot der Verpflichtung zur Errichtung einer Patientenverfügung etwa auch eine entsprechend den Vorgaben seiner Religionsgemeinschaft verfasste Patientenverfügung eines Mitglieds der Glaubensgemeinschaft Zeugen Jehovas erfasst?  Vermag ein formlos erfolgender teilweiser Widerruf der Verfügung einen ursprünglich nicht vorgesehenen Behandlungsausschluss herbeizuführen?  Welche Möglichkeiten bestehen für einen einwilligungs(verweigerungs)fähigen Minderjährigen, sein verfassungsverbürgtes Selbstbestimmungsrecht ungeachtet der sich nur auf Volljährige beziehenden Regelung des § 1901a Abs. 1 BGB durchzusetzen?  Welche Rolle kommt der medizinischen Indikation i. S. v. § 1901b Abs. 2 BGB zu, deren Bejahung Voraussetzung dafür ist, dass sich für behandelnden Arzt und Patientenvertreter überhaupt die Frage einer (Nicht)Weiterbehandlung nach Maßgabe des Patientenwillens stellt?  Kann vom gesetzlichen Gebot, Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 1901b Abs. 2 BGB), nur im Falle von Eilbedürftigkeit abgewichen werden? Kann ein Patient auf

Vgl. Spickhoff FamRZ 2009, 1955. Angesichts der Ausstrahlungswirkung von Art. 4 Abs. 1 GG sowie der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zu dieser Glaubensgemeinschaft dürften ungeachtet sozialen Gruppendrucks zur Errichtung derartiger Patientenverfügungen entsprechende Festlegungen wirksam sein, siehe Spickhoff FamRZ 2009, 1954; vgl. auch Hillenkamp FS Küper, 2007, 123, 134 f, sowie eingehend Bleiler Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungsveto, 2010, S. 49 ff, 84 f: Ungeachtet der einem etwa Konsentierenden seitens der Glaubensgemeinschaft drohenden Sanktion des – ggf. einem sozialen Tod gleichkommenden – Gemeinschaftsentzuges (S. 36 ff) hat der Arzt jedenfalls bei Volljährigen grundsätzlich von der Freiwilligkeit der Einwilligungsverweigerung auszugehen, ohne dass er sich die Kompetenz anmaßen dürfte, diese Entscheidung als „objektiv unvernünftig“ beiseite zu schieben. Ablehn. Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 180, nach denen bspw. ein an amyotropher Lateralsklerose leidender Patient nicht formfrei mit Wirkung i. S. v. § 1901a Abs. 1 BGB bestimmen könnte, dass zusätzlich zum ursprünglich verfügten Verbot künstlicher invasiver Beatmung nun auch die anfänglich in der Verfügung akzeptierte unterstützende Maskenbeatmung nicht mehr zulässig sein soll; anders Ihrig notar 2009, 383 (Redaktionsversehen); einer derartigen Weiterbehandlung stünde jedenfalls der eindeutig erkennbare mutmaßliche Wille des Patienten entgegen. Zu denken wäre an das Errichten einer zum Behandlungsabbruch berechtigenden Vollmacht nach § 1904 Abs. 5 BGB (so etwa Albrecht/Albrecht [Fn. 17] Rn. 154), da diese Vorschrift nach wie vor nicht auf volljährige Vollmachtsgeber beschränkt ist. Zur Problematik der medizinischen Indikation Verf. FS Seebode, 2008, 401, 412 ff. Oder auch bei einem Spannungsverhältnis zwischen Patient und Angehörigen (so Albrecht/Albrecht [Fn. 17] Rn. 249)? – Dass insoweit eine Abwägung zwischen Aufwand und zu

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diese Anhörung im Sinne von § 1901b Abs. 2 BGB vorab wirksam verzichten?  Sofern bei der Krankenbehandlung arbeitsteilig mehrere medizinische Disziplinen gleichberechtigt beteiligt sind: Kann das für die Nichtbefassung des Betreuungsgerichtes erforderliche Einvernehmen zwischen Patientenvertreter und Arzt (§ 1904 Abs. 4 BGB) nur durch Zustimmung aller an der Behandlung beteiligten Ärzte herbeigeführt werden?  Wie wirkt sich das Fehlen von Übergangsvorschriften auf Patientenverfügungen und Bevollmächtigungen aus, die vor dem 1.9.2009 verfasst worden sind? Zusätzlich zu diesen sicherlich nicht abschließend benannten Fragestellungen ist die Frage aufgeworfen, ob der behandelnde Arzt eine konkret einschlägige Patientenverfügung als unmittelbare Legitimationsgrundlage für sein Verhalten heranziehen darf, ohne wegen Verstoßes gegen die in §§ 1901a ff BGB vorgesehenen prozeduralen Vorschriften strafrechtliche Sanktionierung gewärtigen zu müssen. Diesem Thema widmen sich die folgenden Ausführungen.

III. Strafrechtliche Sanktionierung eines Verstoßes gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB 1. Möglicherweise macht sich ein die Weiterbehandlung einstellender Arzt , der sich unmittelbar auf eine wirksame Patientenverfügung i. S. v. § 1901a Abs. 1 BGB stützt, wegen eines durch Unterlassen verübten Töerwartendem Nutzen vorzunehmen ist (Spickhoff FamRZ 2009, 1952), dürfte den Beteiligten auch keine sonderliche Handlungssicherheit verleihen. Ablehnend Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 250. Widerspricht aber die Heranziehung bestimmter Personen dem erkennbaren Willen des Betroffenen (wie z. B. die des getrennt lebenden Ehegatten oder eines Kindes oder Pflegeperson, mit denen sich der Patient zerstritten hat), so sind diese nicht am Anhörungsverfahren zu beteiligen (Palandt-Diederichsen § 1901a BGB Rn. 18; BeckOK-G. Müller [Stand 1.9.2009] § 1901b BGB Rn. 7). Bejaht von Baltz (Fn. 29) S. 114; Spickhoff FamRZ 2009, 1957. Diese Frage stellt sich namentlich im Hinblick auf das Ausdrücklichkeitsgebot von § 1904 Abs. 5 S. 2 BGB n. F., nach dem sich die Vollmacht nunmehr explizit auf die Fälle lebensverkürzenden Behandlungsverzichts beziehen muss. Mangels Übergangsregelung entfaltet die Neuregelung gem. Art. 170 EGBGB aber keine Rückwirkung: Diehn/Rebhahn NJW 2010, 330;; G. Müller DNotZ 2010, 187 f; anders Lange ZEV 2009, 542. Genauer gesagt geht es hierbei um eine Behandlungsbegrenzung durch Änderung des Therapiezieles, nämlich vom kurativen Einsatz hin zu einer palliativen Ausrichtung ärztlicher und ppflegerischer Mittel. Entsprechendes wird dann für Dritte, etwa Familienangehörige, zu gelten haben (vgl. BGH NJW 2010, 2963, 2967 f, der allerdings Dritte nur dann von Strafe freistellen will, wenn sie als vom Arzt oder Patientenvertreter hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden).

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tungsdeliktes bereits deshalb strafbar, weil er das in §§ 1901b, 1904 BGB vorgesehene Verfahren nicht eingehalten hat. Immerhin wurde durch die Neufassung der §§ 1901a ff. BGB ein System von checks and balances zum Schutze des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, aber auch seines Lebens, geschaffen, das gewährleisten soll, dass der Patientenwille sorgfältig ermittelt und damit eine höherer Richtigkeitsgewähr für die getroffene Entscheidung erlangt wird. Eine betreuungsrechtliche Vorfrage soll hier von vornherein ausgeklammert bleiben: Da der Patient in seiner einschlägigen Verfügung bereits vorab die Entscheidung zur Nichtbehandlung getroffen hat, dürfte eine Betreuerbestellung insoweit entbehrlich sein. Zwar ist für weitere Entscheidungen (etwa zur Klärung, wo und von wem der Patient behandelt bzw. versorgt werden soll) eine Betreuerbestellung dann doch notwendig. Was aber den Behandlungsabbruch angeht, so ist eine stellvertretende Erklärung durch Dritte nicht erforderlich i. S. v. § 1896 Abs. 2 BGB, da diese bereits von Patient vorab abgegeben worden ist. Ein dennoch Nicht nachgegangen werden kann hier der umgekehrten Problematik, welche strafrechtlichen Konsequenzen einer unter Verfehlung des Patientenwillens vom Betreuungsgericht erteilten Genehmigung der vom Patientenvertreter erteilten Abbruchszustimmung zukommt. Derartige Genehmigungen werden von der ganz h. M. als „Außengenehmigung“ mit rechtfertigender Wirkung für Arzt und Betreuer angesehen (BeckOK-G. Müller [Stand 1.9.2009] § 1904 BGB Rn. 40; MüKo-BGB5-Schwab § 1904 Rn. 34; Palandt-Diederichsen § 1904 BGB Rn. 25; allerdings hat BGHZ 154, 205 (216) im Zusammenhang mit Vorgaben, innerhalb derer das Recht Sterbehilfe gestattet, erklärt, dass bei deren Überschreiten die Verweigerung der Betreuereinwilligung ebenso irrelevant sei wie eine etwaige Billigung dieser Verweigerung durch das [damals] Vormundschaftsgericht; vgl. auch Verrel Gutachten C zum 66. DJT Stuttgart 2006, S. C 34). Zumindest wird dem Arzt i. d. R. ein Vorsatzausschluss infolge eines Erlaubnistatbestandsirrtums (über das Vorliegen einer dank richterlicher Genehmigung wirksamen Zustimmung des Patientenvertreters) zuzubilligen sein; eine entsprechende Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zöge dieser Irrtum nur dann nach sich, wenn dem Arzt hinreichende Anhaltspunkte bekannt waren, die gegen einen (fortdauernden) Nichtbehandlungswillen des Patienten sprachen. Also: Erörterung einer medizinisch angezeigten Maßnahme mit dem Patientenvertreter unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage der nach der gesetzgeberischen Konzeption vom Betreuer/Bevollmächtigen des Patienten zu treffenden Nichtbehandlungsentscheidung (§ 1901b Abs. 1 BGB) / Gelegenheit für Vertrauenspersonen des Patienten, sich zum etwa vorgesehenen Behandlungsabbruch zu äußern (§ 1901b Abs. 2 BGB) / Einschalten des Betreuungsgerichts bei Dissens zwischen Arzt und Patientenvertreter (§ 1904 BGB). Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 271; dies. MittBayNot 2009, 433, die überdies die Erörterung zwischen Arzt und Patientenvertreter als Kompensation für den Wegfall der Reichweitenbegrenzung (Gültigkeit einer Patientenverfügung nicht nur in Todesnähe) und den Verzicht auf eine obligatorische ärztliche Beratung vor Errichten der Verfügung begreifen. Diederichsen FS Schreiber, 2003, 635, 649; Hartmann NStZ 2000, 117; Ingelfinger Grundlagen und Grenzen des Tötungsverbots, 2004, S. 316; Saliger in: Albers (Fn. 6) S. 157, 163,, 166; anders Albers in: dies. (Fn. 6) S. 31. Lipp FamRZ 2004, 321; ders. in: Meier/Borasio/Kutzer (Hrsg.), Patientenverfügung, 2005, S. 56, 73; ders. in: Kettler/Simon/Anselm/Lipp/Duttge (Hrsg.) Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 89, 103 ff.

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bestellter Betreuer ist - ebenso wie ein Bevollmächtigter - zur Verwirklichung des Patientenwillens (bei uneingeschränkter Bindung an die Erklärung) aufgerufen. 2. Zur Frage, ob nun der behandelnde Arzt die Patientenverfügung als unmittelbare Legitimationsgrundlage für sein Verhalten heranziehen darf, ist ein Konsens nicht annähernd in Sicht. Lipp Patientenautonomie und Lebensschutz, 2005, S. 32 f; ders. (Fn. 49 – Selbstbestimmung) S. 74; ders. FamRZ 2004, 323; siehe auch die Begründung zum – der Neuregelung im wesentlichen zugrunde liegenden – sog. Stünker-Entwurf (BT-Drucks. 16/8442, S. 15) mit ihrem unmittelbaren Aufgreifen von BGHZ 154, 205 (211): „…hat der Betreuer die Aufgabe, dem Willen des Betroffenen gegenüber Arzt und Pflegepersonal in eigener rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe des § 1901 BGB Ausdruck und Geltung zu verschaffen.“ Eine unmittelbare Legitimation des Arztes durch die Patientenverfügung ablehn.: BGHZ 154, 205 (211) im Anschluss an Taupitz Gutachten A für den 63. DJT Leipzig 2000, S. A 70 f; Albers in: dies. (Fn. 6) S. 32; Albrecht/Albrecht (Fn. 17) Rn. 39, insb. 112 ff, 124 ff (Dritter als Vertreter und nicht Bote des Patienten); dies. MittBayNot 2009, 433; Diehn/Rebhahn, NJW 2010, 329; Ingelfinger (Fn. 48) S. 325 (aber keine Strafbarkeit aus §§ 212, 13 StGB; demgegenüber kommt Geth Passive Sterbehilfe S. 127 ff, für die Rechtsordnung der Schweiz im Grundsatz zur Strafbarkeit des „eigenmächtigen“ Arztes, um die Patientenautonomie zu schützen); Lipp in: Duttge (Hrsg.) Perspektiven des Medizinrechts im 21. Jahrhundert, 2007, S. 79, 88. Eine unmittelbare Legitimation des Arztes nehmen hingegen an: Anderheiden ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 149, 162 f (im Zusammenhang mit einer analogen Anwendung von § 1904 BGB a. F.); Kreß ZRP 2009, 70 f (inzident im Zusammenhang mit notfallmedizinischen Maßnahmen, die in der Tat andernfalls ausnahmslos durchgeführt werden müssten; vgl. demgegenüber die differenzierende Regelung in § 12 österrPVerfG: „Dieses Bundesgesetz lässt medizinische Notfallversorgung unberührt, sofern der mit der Suche nach einer Patientenverfügung verbundene Zeitaufwand das Leben oder die Gesundheit des Patienten ernstlich gefährdet.“ (bei Kreß ZRP 2009, 70); G. Müller DNotZ 2010, 175 ff, BeckOK-G. Müller [Stand 1.9.2009] § 1901a BGB Rn. 22, 24 (vgl. aber auch BeckOK-G. Müller § 1904 BGB Rn. 40: Einwilligung des Vertreters erlangt nur im Falle der Zustimmung des Gerichts Rechtswirksamkeit); PalandtDiederichsen § 1901a BGB Rn. 7 (sowie Rn. 15, 22); Reus JZ 2010, 82 f; Spickhoff FamRZ 2009, 1953 (vorsichtig einschr.); Verrel (Fn. 45), S. C 98; ders. (Fn. 10) S. 211; (einschr. auf anfängliches Unterlassen noch in MedR 1999, 550); ders. in: Verrel/Simon (Fn. 15) S. 39 f; Wagenitz in: Duttge (Hrsg.) Perspektiven des Medizinrechts im 21. Jahrhundert, 2007, S. 21, 31 (solange Patient nicht durch Betreuer bzw. Bevollmächtigten handlungsfähig ist); entsprechend aus verfassungsrechtlicher Sicht Hufen Geltung und Reichweite von Patientenverfügungen, 2009, S. 48. Wohl auch Klöppenpieper FÜR 2010, 266; Olzen JR 2009, 358; diff. (unter dem Blickwinkel des § 1904 BGB a. F.) Popp ZStW 118 (2006), 678 f: Rechtfertigung des sich am Patientenwillen orientierenden Betreuers (S. 678, 680), hingegen kein vom vorgegebenen Prozedere losgelöster Rückgriff durch Ärzte, Pflegepersonal und sonstige Dritte (S. 679). Nach dem österreichischen Patientenverfügungsgesetz v. 1.6.2006 (öBGBl. I, Nr. 55/ 2206) ist bei Vorliegen einer verbindlichen Verfügung keine Vertreter-(„Sachwalter“)Bestellung erforderlich: Ärzte und Pflegepersonal werden allein durch die Verfügung gebunden; allerdings stellt dieses Gesetz erheblich höhere formale Anforderungen an die Verbindlichkeit der Patientenverfügung (umfassende ärztliche Aufklärung sowie rechtliche Beratung vorab; Aktualisierungszwang in 5 Jahren), so dass hieraus keine Rückschlüsse auf offene Fragen in Deutschland möglich sind (Olzen JR 2009, 361).

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a) Einer Lösung dieses Problems kann nicht durch einen Rückgriff auf Erkenntnisse näher gekommen werden, die in der Diskussion um ein Handeln ohne Genehmigung, aber bei Vorliegen eines genehmigungsfähigen Sachverhalts gewonnen wurden. Dies ergibt sich daraus, dass ungeachtet einer gewissen Ähnlichkeit von Einwilligung und (behördlicher) Genehmigung sich eine vom Betreuungsgericht nach § 1904 BGB genehmigte Patientenvertreter-Entscheidung grundlegend von der behördlichen Genehmigung unterscheidet, geht es hierbei doch nicht – wie etwa bei einer Genehmigung i. S. d. §§ 324 ff StGB – um eine besondere Rechtsmacht staatlicher Stellen zur (treuhänderischen) Bewirtschaftung eines überindividuellen Rechtsguts; im Bereich der Sterbehilfe stehen vielmehr höchstpersönliche Güter des betroffenen Patienten auf dem Spiel, wobei sich das Betreuungsgericht bei seiner Genehmigungsentscheidung am Willen des betroffenen Patienten auszurichten hat (§ 1904 Abs. 3 BGB n. F.). b) Auch das Konstrukt einer hypothetischen „Einwilligung“ des Patientenvertreters oder ein Abstellen auf eine hypothetischen Genehmigung des Betreuungsgerichts – in Fortsetzung der strafrechtswissenschaftlichen Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung – bietet aus meiner Sicht insoweit keinen Ertrag: Nach diesem Ansatz könnte eine objektive Zurechnung des Unrechts entfallen, weil bei einer eindeutigen Patientenverfügung ein Umstand vorläge, der zur Folge hätte, dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung, die ja gemäß § 1904 Abs. 3 BGB an eben dieser VorabVerfügung auszurichten wäre, hätte erteilt werden müssen; damit hätte ein

Hierzu siehe Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 62. So Hundt Die Wirkungsweise der öffentlich-rechtlichen Genehmigung im Strafrecht, 1994, S. 98 ff, 129; m. w. N. zur strukturellen Ähnlichkeit von Einwilligung und Genehmigung: Mitsch Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 420 in Fn. 43; ablehn. Verf. Die j objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 268 ff. Ob behördliche Genehmigungen dem Feld prozeduraler Rechtfertigung zugehören (so Saliger FS Hassemer, 2010, 599, 608 im Anschluss an die Andeutung von Amelung/Brauer JR 1985, 474; krit. aber Stratenwerth FS Hassemer, 2010, 639, 642), soll hier nicht weiter verfolgt werden. Dort schließt sich das Strafrecht einer im Verwaltungsrecht getroffenen Regelung – unter Verzicht auf eine eigenständige Reglementierung des Regelungsgegenstandes im Lichte eigener strafrechtlicher Wertungskriterien – an: Baumann/Weber/Mitsch AT § 17 Rn. 125. Verf. FS Lenckner, 1998, 317. So aber Geth (Fn. 51) S. 129 ff Hierfür im Zusammenhang mit rechtfertigenden behördlichen Genehmigungen: M. Dreher Objektive Erfolgszurechnung bei Rechtfertigungsgründen, 2003, S. 132 ff, 155 f: Ausschluss der Rechtswidrigkeit, sofern nicht auszuschließen, dass die zuständige Behörde das Verhalten genehmigt hätte (S. 153 f); sympathisierend Roxin AT I § 14 Rn. 114 f. Hierzu bejahend Roxin AT I § 13 Rn. 119 ff; ablehn. Schönke/Schröder-Eser/SternbergLieben § 223 Rn. 40e m. w. N.

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wirksames Behandlungsveto des Patientenvertreters vorgelegen. – Im Bereich des Arztstrafrechts ist das Konstrukt einer hypothetischen Einwilligung des Patienten in ärztliche Eingriffe aber ohnehin abzulehnen, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hinreichend zu schützen. In der vorliegenden, umgekehrten Situation verlangt eine weitere, ohnehin gegen eine hypothetische Rechtfertigung anzuführende Überlegung Beachtung: Die hypothetische Rechtfertigung als Unterfall der Berücksichtigung eines rechtmäßigen Alternativerhaltens krankt an dem Mangel, dass hierbei nicht lediglich das pflichtwidrige Verhalten des Täters durch sein (fiktives) sorgfaltsgemäßes ersetzt würde: Dann wäre nämlich nur die Nichteinschaltung des Patientenvertreters bzw. die Nichtanrufung des Betreuungsgerichtes durch ein Einbeziehen des Vertreters bzw. des Gerichts zu ersetzen, ein Umstand, der als solcher noch nicht zur Rechtfertigung des Arztes führte. Der Ansatz einer hypothetischen Einwilligung bzw. Genehmigung könnte nur dadurch die Straflosigkeit des Arztes begründen, wenn zusätzlich durch die Annahme einer zustimmenden Entscheidung des Patientenvertreters bzw. der Erteilung der gerichtlichen Genehmigung der zur Entscheidung stehende Sachverhalt dergestalt verändert würde, dass ein außerhalb des konkreten Tatgeschehens liegender Verlauf (Mitwirkung Dritter) unzulässiger Weise hinzugedacht würde. Überdies wäre eine derartige nachträgliche Hypothesenbildung als Rückwirkungsfiktion nur schwer mit den Grundsätzen des Strafrechts zu vereinbaren, wonach der den Täter leitende Appell der Strafrechtsnorm zur Zeit der Tat vorliegen muss. c) Das Übergehen der in §§ 1901a ff BGB niedergelegten Verfahrensabläufe wird nicht als strafbarkeitsrelevanter Verstoß gegen Prozeduralisierungsregeln der Sterbehilfe anzusehen sein, eine vom Gesetzgeber Verf. StV 2008, 192: Während die hypothetische Einwilligung im Zivilrecht in ein austariertes Geflecht von Darlegungs- und Beweislastregeln eingebettet ist, würde sie im Strafrecht unter dem Dirigat des in dubio-Grundsatzes zumeist zum Freispruch führen. Immerhin soll ja dem tatsächlich erklärten, auf Nichtbehandlung gerichteten Willen des Patienten Rechnung getragen werden. Bzw. die fehlende Notwendigkeit gerichtlicher Entscheidung, da Betreuer/Vertreter im Konsens die Weiterbehandlung abgelehnt hätten. Eisele FS Strätz, 2009, 163, 181; Gropp FS Schroeder, 2006, 197, 202; Jäger FS Jung, 2007, 345, 350 f; weitere grundsätzliche Bedenken bei Duttge FS Schroeder, 2006, 179, 186 f; Eisele FS Strätz, 2009, 174; Gropp FS Schroeder, 2006, 206; Jäger FS Jung, 2007, 355 f. Jäger FS Jung, 2007, 354. Abgelehnt von Ingelfinger (Fn. 48) S. 325 (kein materielles Unrecht, sondern nur Verfahrenswidrigkeit); Saliger KritV 1998, 142 f; sowie ders. FS Hassemer, 2010, 612 f; MüKoStGB-Schneider Vor § 211 Rn. 129; Stratenwerth FS Hassemer, 2010, 640; Verf. FS Lenckner, 1998, 372 f in Fn. 107; Verrel Gutachten C zum 66. DJT Stuttgart 2006, S. C 99; ders. NStZ 2003, 453; sowie i. E. auch BGHSt 40, 257 (263): Straffreiheit auch bei Nichteinhalten des betreuungsrechtlichen Prozedere möglich; and. Tag Der Körperverletzungstatbestand im Span-

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offen gelassene und damit der Rechtsprechung zur Klärung überantwortete Frage. aa) Hierfür müssten zunächst einmal die Verfahrensvorschriften der §§ 1901a ff BGB als Regelung einer prozeduralen Rechtfertigung zu begreifen und des Weiteren die Konsequenz zu ziehen sein, dass bei ihrer Verletzung eine Rechtfertigung ärztlichen Handelns entfällt. Es ist hier nicht der Raum, näher auf Begründung und Grenzen dieser gerade (aber nicht nur) im Zusammenhang mit Verfahrensregularien auf dem Gebiet der Sterbehilfe bemühten Rechtsfigur einzugehen, die mitunter geradezu als strafrechtlicher Paradigmenwechsel angesehen wird. Allgemein gesprochen kann man Prozeduralisierung auf der Rechtfertigungsebene als die von der Einhaltung spezifischer Verfahrensnormen abhängende Straflosigkeit rechtsgutstangierender Handlungen bezeichnen. Sie bildet dann eine Ausnahme zu dem den Rechtfertigungsgründen zumeist zugrunde liegenden Prinzip der Wahrung eines höherwertigen Interesses durch den Eingreifenden; auch erfolgt bei prozeduraler Rechtfertigung die Entscheidung über das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen ex ante durch die handelnde

nungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex Artis, 2000, S. 331 f (für fehlende vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 BGB a. F.), wobei sie allerdings nicht von einer strikten Verbindlichkeit einer Patientenverfügung ausging (S. 323). Albrecht/Albecht (Fn. 17) Rn. 299. Grundlegend zur Prozeduralisierung der Sterbehilfe: Saliger KritV 1998, 145 ff; siehe auch dens. JuS 1999, 20 f; ARSP-Beiheft 75 (2000), 101, 133 ff, 143 ff; KritV 2001, 436 f; MedR 2004, 243; ferner: Duttge Preis der Freiheit2, S. 57 ff; MüKo-StGB-Schneider Vor § 211 Rn. 127 ff; NK-Neumann Vor § 211 Rn. 130 ff; Kneis Grundrecht und Sterbehilfe, 1997, S. 122 ff; Popp ZStW 118 (2006), 660 ff; sowie unter dem Blickwinkel der (ursprünglich analogen) Anwendung des § 1904 BGB: Czerner Das Euthanasie-Tabu, 2004, S. 65 ff; Heyers Passive Sterbehilfe bei entscheidungsunfähigen Patienten, 2001, S. 284 ff; Ingelfinger (Fn. 48) S. 319 ff; Thias Möglichkeiten und Grenzen eines selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung, 2004, S. 242 ff. Einen die verschiedenen Rechtsgebiete verzahnenden Gesetzesvorschlag findet sich in der Dresdener Dissertation von Jörn Lorenz Sterbehilfe - Ein Gesetzentwurf, 2008, S. 93 ff; zum zugrunde gelegten prozeduralen Entscheidungskonzept: S. 79 ff. Anderheiden ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 149, 172, sieht umgekehrt gerade eine Patientenverfügung als privatautonome Alternative zum juristischen Prozedere an. Hierzu grundlegend Hassemer FS Mahrenholz, 1994, 731, 749 ff; ders. in: Pieth/ Seelmann (Hrsg.) Krauß-Kolloquium, 2006, S. 9 ff, 24 ff; zust. NK-Paeffgen Vor § 32 Rn. 45; eher ablehn. SK-Günther [Stand 1998] Vor § 32 Rn. 78. So Eicker Die Prozeduralisierung des Strafrechts, 2010, passim, in seiner hier nicht mehr g ausgewerteten Monographie. Saliger FS Hassemer, 2010, 601 f (mit weiterer Unterscheidung S. 602 f). Roxin AT I § 14 Rn. 40 ff; Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 6 f.

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Person selbst und nicht durch einen Dritten ex post. Dieses Zugeständnis von Bewertungsmacht an die unmittelbar am Geschehen Beteiligten wird zum Ausgleich aber verknüpft mit dem Einhalten bestimmter, formaler Kautelen. bb) Hier soll nicht abschließend über diese, die herkömmlichen Rechtfertigungsgründe möglicherweise schon de lege lata ergänzende Konzeption befunden werden. Sie wirkt im Strafrecht allerdings doch eher wie ein Fremdkörper, fordert rechtfertigende Prozeduralität doch ein Verfahren, das an die Stelle materialer Regelungen tritt mit der Folge, dass eine Entscheidung anerkannt wird, weil eine bestimmte Prozedur sie hervorgebracht hat.75 Dies wäre dann – so die Mahnung von Albin Eser76 – mit der Folge verbunden, dass das Strafrecht nicht mehr zu den eigentlich zu schützenden Rechtsgütern (Leib, Leben, körperliche Integrität) des Patienten vordringt und nur noch präventiv das Vorfeld (Prozeduralien) absichert. Infolge dieses dann nur noch mittelbar erfolgenden Rechtsgüterschutzes mit seiner Mediatisierung von Rechtsgütern verlöre auch das Strafrecht an Wertgehalt und damit letztlich auch an Gewicht. cc) Nun ist es durchaus vorstellbar, dem Gedanken prozeduraler Rechtfertigung für Fallgestaltungen näherzutreten, in denen das für die Entscheidung über das strafrechtliche Unrecht konstitutive Wissen um die Wahrung höherwertiger Interessen nicht gewonnen werden kann. Zu denken ist hierbei zum einen an das Gebiet des – wenig glücklich so bezeichneten – „rechtsentlassenen Raumes, in dem eine Wertung im Sinne von Höhergewichtigkeit des bewahrten Interesses nicht möglich ist (etwa im Falle des Schwan-

Zum normentheoretischen Hintergrund G.-P. Calliess Prozedurales Recht, 1998, S. 91 ff; pp ZStW 118 (2006), 672 ff. Popp Siehe Popp ZStW 118 (2006), 665: Jede Entscheidung wird akzeptiert, solange und soweit sie auf einem korrekten Verfahren beruht; dem Recht gemäß handelt derjenige, der sein Verhalten am Ausgang eines solchen Verfahrens orientiert. So das skeptische Resümee von Stratenwerth FS Hassemer, 2010, 646; auch Kayßer Abtreibung und die Grenzen des Strafrechts, 1997, S. 159 f, betont für den Bereich der §§ 218 ff StGB den Vorrang substanzieller Bestimmung des Rangverhältnisses der betroffenen Güter. In: Frisch (Hrsg.) Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, 2006, S. 1, 27. Siehe auch Arzt FS Schreiber, 2003, 583, 591: De lege ferenda müssten für Verstöße gegen Reglementierungen der Sterbehilfe Sanktionsvorschriften (als abstrakte Lebensgefährg dungstatbestände zur Erfassung von Bagatellunrecht) geschaffen werden. Einen (auch) prozedural abgesicherten „rechtswertungsfreien Raum“ im Zusammenhang mit aktiver Sterbehilfe stellt im Anschluss an Arthur Kaufmann de lege lata Lindner JZ 2006, 380 ff u. 903 zur Diskussion; ablehn. Duttge JZ 2006, 901, sowie grds. Baumann/Weber/Mitsch AT § 16 Rn. 1; Dreier JZ 2007, 267 in Fn. 75; LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 33; Roxin AT I § 14 Rn. 29 f; Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 8.

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gerschaftsabbruches ). Vorliegend kann aber angesichts der die Selbstbestimmung des Patienten schützenden verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 u. 2 sowie Art. 1 Abs. 1 GG von einer entsprechenden Unentscheidbarkeit keineswegs gesprochen werden. dd) Prozedurale Rechtfertigung könnte aber auch dann in Betracht kommen, wenn ex ante nur zu mutmaßende (grundsätzlich aber ex post feststellbare) Umstände, von deren Vorhandensein die Zulässigkeit eines Verhaltens abhängt, es geradezu gebieten, den unmittelbar Agierenden Bewertungs- und Entscheidungsmacht zuzusprechen, um eine interessengerechte Lösung nicht durch Zwang zum Nichtstun zu verstellen; so stellt sich ja auch die Konstellation bei der mutmaßlichen Einwilligung dar, die auch dann rechtfertigend wirkt, wenn sich die Ausrichtung am gemutmaßten Willen des Rechtsgutsträgers nachträglich als fehlsam herausstellt . Diese §§ 218a Abs. 1 Nr. 1, 219 i. V. m. Schwangerschaftskonfliktgesetz erheben die Einhaltung des Beratungsverfahrens zur zentralen Bedingung für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen (NK-Neumann Vor § 211 Rn. 132; Saliger KritV 1998, 145 ff; Wolter GA 1996, 227: verfassungsrechtlicher [prozeduraler]) Unrechtsausschließungsgrund, da gleich hochwertige Positionen betroffen seien; vgl. auch Esers „notlagenorientiertes Diskursmodell“ zum beratenen Schwangerschafstabbruch (ZRP 1991, 297 f). Insbesondere kann das – gegen ungewünschte Eingriffe seitens Dritter staatliche Schutzpflichten begründende – Grundrecht auf Leben nicht gegen den Grundrechtsträger selbst gekehrt werden, vgl. nur Verf. FS Amelung, 2009, 325, 340 ff. Siehe Popp ZStW 118 (2006), 662, nach dem es nicht um die Feststellung, sondern nur um die Mutmaßung des jeweiligen Patientenwillens gehe. Handlungszwänge können eben auch in Situationen bestehen, die sich in tatsächlicher Hinsicht nicht ex ante abschließend aufklären lassen: Popp ZStW 118 (2006), 672, der auf S. 674, auch darauf hinweist, dass das Strafrecht durch Prozeduralisierung seiner Aufgabe gerecht werde, die Grenzen des Unerlaubten bereits vorab handlungsleitend festzulegen. Roxin AT I § 18 Rn. 20. Es handelt sich bei der mutmaßlichen Einwilligung ja um eine Rechtfertigung aus erlaubtem Risiko, bei der nach allerdings strittiger Auffassung die hinreichende Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen das Legitimationsdefizit für den Fall ausgleicht, in dem die Mutmaßung des Täters sich ex post als falsch herausstellt (Schönke/SchröderLenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 19; a. A. Roxin AT I § 14 Rn. 81 ff [vgl. aber auch dens. FS Welzel, 1974, 447, 453 ff]). Letztlich geht es materiell darum, wann man von der für eine Rechtfertigung aus mutmaßlicher Einwilligung erforderlichen vertretbaren ex-anteEinschätzung sprechen kann (Baumann/Weber/Mitsch AT § 17 Rn. 124; ders. [Fn. 53] S. 450 f: objektive Gegebenheiten, die die Annahme zulassen, dass der Rechtsgutsinhaber mit der Tat einverstanden ist; Popp ZStW 118 [2006], 680). Ob man nun die objektiven Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der durch eine Patientenverfügung dirigierten Sterbehilfe auf das Ergebnis eines in bestimmter Form abgelaufenen Mutmaßungsverfahrens beschränken sollte (aber: auch bei der mutmaßlichen Einwilligung ist die Verletzung der Prüfungs„pflicht“ ohne Bedeutung, wenn die Tat dem wahren Willen des Betroffenen entspricht: Schönke/SchröderLenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 58), ist zweifelhaft (siehe Popp ZStW 118 [2006], 679), braucht aber hier nicht entschieden zu werden: Eine auf eine wirksame Patientenverfügung gestützte Abbruchsentscheidung ist eben nicht mit einer mutmaßlichen, sondern mit einer ausdrücklich erteilten Einwilligung als ihrem Gegenstück zu parallelisieren.

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gerade auch im Interesse bedrohter Rechtsgüter eingeräumte Rechtsmacht ist dann ausgleichend mit einer Bindung an bestimmte formale Verfahrensvoraussetzungen zu verknüpfen. ee) Somit könnten die Verfahrensregelungen der §§ 1901a ff BGB eventuell als Normen prozeduraler Rechtfertigung begriffen werden, aber nur in Fällen, in denen eine Patientenverfügung entweder von vornherein fehlt, widerrufen oder im konkreten Fall mit ihren Vorgaben nicht einschlägig ist. Da dann auf den mutmaßlichen Willen des Patienten abzustellen ist (§ 1901a Abs. 2 BGB), um wenigstens näherungsweise zu einer Entscheidung zu gelangen, die mit dem Willen des Betroffenen konform geht, könnte ein Einhalten der einschlägigen Verfahrensregelungen des BGB geboten sein, um bei dieser Form unabwendbarer Fremdbestimmung sicherzustellen, dass der Wille des Betroffenen möglichst gründlich eruiert wird. Liegt hingegen eine einschlägige Patientenverfügung vor, so besteht für eine prozedurale Rechtfertigung kein Anlass, da der Arzt ja auf Basis der originären, unmittelbar gültigen Willensbekundung des Patienten handelt. ff) Aber auch in Fallgestaltungen, in denen nicht auf das Dirigat einer Patientenverfügung zurückgegriffen werden kann (und erst recht im vorliegend untersuchten Fall des Vorliegens einer Vorab-Verfügung), besteht keine Veranlassung, verfahrensverletzendes Verhalten des Arztes als strafwürdiges Tötungsverbrechen anzusehen: Die Durchführung der in §§ 1901a ff BGB vorgesehenen Verfahrensschritte soll nicht nur dem Schutz der Rechtsgüter des Patienten dienen; es sollen – insbesondere gilt dies natürlich für die betreuungsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 Abs. 3 BGB – die Beteiligten dadurch Entlastung erfahren, dass ihnen Handlungsbefugnisse auch dann zugebilligt werden, wenn der hieraus resultierende Erfolg sich später als „eigentlich“ missbilligenswert – da dem Willen des Rechtsgutsinhabers widersprechend – darstellt (Konstellation der mutmaßlichen Einwilligung bzw. vorliegend: ihres Fehlens in Bezug auf eine körperverletzende Heil- oder Pflegebehandlung). Fehlt es hingegen an einem derart missbilligenswerten Erfolg, so bedarf es dieser Erweiterung der Handlungsbefugnisse nicht: Das Handeln des Arztes findet seine Legitimation dann nicht im verfahrensgerechten Bemühen um Übereinstimmung mit

Auch BGHZ 154, 205 (227), spricht insoweit von einem „justizförmigen Rahmen, innerhalb dessen … der wirkliche oder mutmaßliche Wille des Betroffenen – im Rahmen des Möglichen umfassend – ermittelt werden kann.“ Offenbar bejaht von Kuhlmann Einwilligung in die Heilbehandlung alter Menschen, 1993, S. 193; Weißauer/Opderbecke MedR 1995, 459 f; Nachw. ablehnender Stimmen oben in Fn. 65. Popp ZStW 118 (2006), 678.

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dem Patientenwillen, sondern im vorab bekundeten Patientenwillen selbst. Die prozeduralen Vorschriften im Bereich der Sterbehilfe (§§ 1901a ff BGB) ergänzen die Regelungen des materiellen Rechts und sichern ihre Durchsetzung; sie ersetzen sie aber nicht. So würde ja auch im umgekehrten Fall, also bei Einhalten der Verfahrensvorschriften, aber bewusster Verfehlung des Patientenwillens, der bloße äußere Einklang mit dem nach §§ 1901a ff BGB vorgesehenen Verfahrensablauf nicht rechtfertigend wirken. Eine weitere Überlegung verstärkt die Bedenken, in derartigen Konstellationen ein strafwürdiges Tötungsverbrechen (§§ 212, 13 StGB) anzunehmen: In ähnlichen Fallgestaltungen ärztlicher Tätigkeit werden Verstöße gegen Verfahrensregeln ansonsten eigenständig (und milder) sanktioniert; im hier untersuchten Bereich fehlt eine derartige Regelung völlig. d) Eine Strafbarkeit des Arztes wegen Verstoßes gegen die Verfahrensvorgaben der §§ 1901a ff BGB kann schließlich auch nicht unter dem Blickwinkel der Einheit der Rechtsordnung eingefordert werden. SicherWollte man anders entscheiden, so bliebe zu klären, ob bei einer Bestrafung des Arztes, der den niedergelegten Patientenwillen befolgt, aus §§ 212, 13 StGB eine Rechtsgutsvertauschung (hierzu zuletzt im Zusammenhang mit Doping im Sport: Verf. FS Dias, Bd. 2, 2009, 1039 ff) vorläge, da sich das vom Arzt verübte Unrecht auf einen Verstoß gegen Verfahrensregularien beschränkt (vgl. insoweit auch die Gesetzesbegründung zu Verstößen gegen das KastrG: „[Unrecht infolge prozedural fehlerhaften Handeln des Arztes] nicht von der in den §§ 223 ff StGB vorausgesetzten Art“: BT-Drucks. V/3702, S. 22). Stratenwerth FS Hassemer, 2010, 640, unter ausdrücklichem Bezug auf das Fehlen richterlicher Genehmigung nach § 1904 BGB in Konstellation, in der die materiellen Voraussetzungen der Rechtfertigung gegeben waren; ferner weist er ebd. darauf hin, dass auch ein Verstoß gegen § 7 KastrG sowie § 19 TPG bei wirksamer Einwilligung des Betroffenen in den Eingriff keine Strafbarkeit nach § 223 StGB nach sich zieht (so auch Saliger FS Hassemer, 2010,, 612; entspr. zur Kastration: Schönke/Schröder-Eser/Sternberg-Lieben § 223 Rn. 56). Beispielsweise bei Nichtbehandlung eines Patienten infolge einer von Arzt und Betreuer gemeinsam (§ 1901b Abs. 1 BGB) und nach Anhörung von Vertrauenspersonen (§ 1901b Abs. 2 BGB) getroffenen Abbruchsentscheidung, bei der sie sich bewusst über Vorgaben der Patientenverfügung hinwegsetzen. §§ 218b Abs. 1, 218c Abs. 1 StGB / § 7 KastrG / § 20 Abs. 1 TransplantG (Ordnungswidrigkeit) / § 96 Nr. 10, 11 AMG, § 97 Abs. 2 Nr. 9 AMG (Ordnungswidrigkeit); Leitlinien zur verhältnismäßigen Sanktionierung derartiger Verfahrensverletzungen bei Saliger FS Hassemer, 2010,, 613 f. Ingelfinger (Fn. 48) S. 325 in Fn. 430 (im Anschluss an Saliger KritV 1998, 143) weist darauf hin, dass insoweit auch gar kein generalpräventives Bedürfnis besteht: Neben etwaigen zivil- und standesrechtlichen Folgen wirkt die Möglichkeit einer strafrechtlichen ex post-Überprüfung hinreichend abschreckend. Eine Zivilrechtsakzessorietät verneint auch der 2. Strafsenat (NJW 2010, 2963, 2966): „…strafrechts-spezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist.“ Auf dieser Basis sprach der Senat einen vom Betreuer eingeschalteten Dritten trotz konkret nicht befolgter Verfahrenskautelen der §§ 1901a ff BGB

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lich kann das Strafrecht (als ultima ratio) kein Verhalten inkriminieren, das nach Vorgaben anderer Rechtsgebiete zulässig ist. Umgekehrt muss aber das (gesteigerte!) Strafunrecht nicht schon dann bejaht werden, wenn eine (dann eben nur) Teilrechtswidrigkeit in einem nichtstrafrechtlichen Teil der Rechtsordnung festzustellen ist. Insoweit führt folgende Überlegung weiter: Das Strafrecht verhält sich dann zu außerstrafrechtlichen Regelungen akzessorisch (und schließt damit an die Vorordnung dieses Sachgebietes und die dortigen Verhaltensgebote an), wenn einem außerhalb des Strafrechts strukturierten Rechtsgut Schutz gewährt werden soll; insoweit ist etwa an den Eigentums- oder Vermögensschutz der §§ 242, 263 StGB zu denken: Für die strafrechtliche Schutzordnung sind Eigentum und Vermögen in der Form schutzwürdig, in der sie durch das Zivilrecht vorgeprägt sind. Mitunter werden die Sanktionsvorschriften des Strafrechts auch mehr oder weniger direkt an die öffentlich-rechtliche Vorordnung eines Sachgebietes akzessorisch angeknüpft, um den Regelungszweck der Referenzgesetze zu verstärken; als Beispiel seien hier die Umweltdelikte der §§ 324 ff StGB oder die straf- und bußgeldrechtlichen Regelungen des sog. Arbeits-

frei (obgleich er andererseits ausführte [S. 2967], dass die Verfahrensregeln der §§ 1901a ff BGB die Beachtung und Einhaltung der beweismäßig strengen Maßstäbe für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens sichern); die Vorinstanz (LG Fulda BeckRS 2010, 06420) erkannte i. Ü. bei ihrem – verurteilenden – Judikat keinen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften des BGB, da Betreuerin und behandelnder Arzt in ihrer Entscheidung zur Nichtweiterbehandlung übereinstimmten, so dass mangels Dissenses die Kontrollfunktion des Vormundschaftsgerichts entfiel (nach BGH[Z] NJW 2005, 2385). Ablehn. auch Saliger KritV 1998, 142 f; ders. FS Hassemer, 2010, 612: Gleichsetzung von formellem Zivilunrecht und materiellem Strafunrecht weder verhältnismäßig noch zwingend; anders nunmehr wohl der 2. Strafsenat in einer weiteren Sterbehilfeentscheidung: NJW 2011, 161, 162 f. Insoweit sind auch im Medizinstrafrecht die zivilrechtlichen Regeln, die den Kontakt Arzt/Patient strukturieren, für das Strafrecht vorgreiflich (Höfling/Rixen JZ 2003, 891 f), denkt man nur an die Haftung für Behandlungsfehler oder an Mängel bei der ärztlichen Behandlungsaufklärung. Vgl. Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 27; siehe auch Roxin AT I § 14 Rn. 32 ff. Hierzu im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Beurteilung (§ 246 StGB) der eigenmächtigen Verwertung von Körpersubstanzen durch den Arzt: Verf. in: Götting/SternbergLieben (Hrsg.) Der Mensch als Ware, 2010, S. 11, 23. Bei § 266 StGB werden die Schwierigkeiten derartigen Anschließens an nichtstrafrechtliche Vorgaben deutlich, wenn im Zusammenhang mit der Pflichtverletzung des Vermögensfürsorgepflichtigen ggf. von den Zivilrechtswertungen abgewichen werden soll, konkret: bestimmte zivilrechtliche Vorfragen im Strafrecht eine strengere Antwort erführen als im Zivilrecht (hierzu Rönnau ZStW 119 [2007], 906 ff); zu erinnern ist an die rege Diskussion im Umfeld der sog. Mannesmann-Entscheidung von BGHSt 50, 331 (für alle: Schönke/SchröderPerron § 266 Rn. 19b). Siehe Schönke/Schröder-Heine Vor §§ 324 ff Rn. 4, 11 ff.

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strafrechts angeführt. Als sekundäre Normenordnung ist das Strafrecht für die Beurteilung strafbaren Verhaltens in diesen Fällen an die auf der Verhaltensnormebene relevanten Bewertungen gebunden. Bei §§ 212, 13 StGB in ihrem Verhältnis zu §§ 1901a ff BGB kann jedoch von einem derartigen absichernden Anknüpfen des Strafrechts an eine primär maßgebliche Normenordnung nicht gesprochen werden, da sowohl die §§ 212, 223 StGB als auch die §§ 1901a ff BGB, die im Vorfeld einer (Nicht-)Behandlungsentscheidung eine dem Patientenwillen entsprechende Entscheidung sichern sollen, den Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter des Betroffenen bezwecken. Wann nun eine strafbare Tötung durch Unterlassen bzw. umgekehrt eine strafbare Körperverletzung durch Weiterbehandlung vorliegt, dies vermag das Strafrecht nach seinen eigenen Kriterien und mit seinen spezifischen dogmatischen Instituten zu bewältigen. Auch der 2. Strafsenat lehnte im Zusammenhang mit der hier erörterten Problematik ursprünglich eine Zivilrechtsakzessorietät der strafrechtlichen Tötungstatbestände ab, da es sich um eine strafrechtsspezifische Frage handele, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden sei. Dem ist nichts hinzuzufügen. 3. Als Fazit ist festzuhalten, dass bei Befolgen einer einschlägigen Patientenverfügung sich weder Arzt noch Patientenvertreter – entsprechendes dürfte für das Eingreifen eines Dritten gelten, der dem Patientenwillen zur Realisierung verhilft – trotz eines Verstoßes gegen die Verfahrensvorgaben der §§ 1901a ff BGB nach §§ 212, 13, 323c StGB strafbar machen. Hierzu Ignor/Rixen Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 1 Rn. 32. So im Zusammenhang mit Fragen der Sterbehilfe: Albers in: dies. (Fn. 6) S. 37; Höfg ling/Rixen JZ 2003, 891 f; Reus JZ 2010, 83. BGH NJW 2010, 2963, 2966; anders aber derselbe Strafsenat in NJW 2011, 161, 162 f. So die Konstellationen in der von Roxin zustimmend besprochenen (NStZ 1987, 348 ff) Entscheidung des LG Ravensburg (NStZ 1987, 229) sowie im Falle von BGH NJW 2010, 2963: Rechtsanwalt als ratschlaggebender Mittäter des Betreuers; allerdings will der Senat Dritte nur dann von Strafe freistellen, wenn sie als vom Arzt oder Patientenvertreter hinzugeg zogene Hilfspersonen tätig werden. Konstruktiv wäre Straflosigkeit weder über eine Einwilligung in die Sterbehilfe (so aber z. B. BGH NJW 2010, 2963, 2965 u. 2967; Kühl Jura 2009, 886 m. w. N.) noch über die Nothilferegelung des § 32 StGB (da es nicht um eine Beeinträchtigung von Rechtsgütern des behandelnden Arztes als Angreifer geht – so auch BGH NJW 2010, 2963, 2965), sondern durch Fortfall der „vereinbarungsabhängigen“ (MüKo-StGB-Schneider vor § 211 Rn. 75) ärztlichen Garantenstellung bzw. (§ 323c StGB) fehlender Zumutbarkeit der Weiterbehandlung zu erreichen. Sollte ärztliches Verhalten als aktives Tun zu begreifen sein, so griffe § 34 StGB ein: Ermöglichen selbstbestimmten, „natürlichen“ Sterbens höherwertig als Aufrechterhalten des Lebens, an dessen Erhaltung der Betroffene ausweislich seiner Verfügung selbst kein Interesse mehr hat (MüKo-StGB-Schneider Vor § 211 Rn. 111 f; ablehn. BGH NJW 2010, 2963, 2965).

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Umgekehrt – und dies sei zum Abschluss erwähnt – würde derjenige wegen Körperverletzung zu bestrafen sein, der für die eine im Widerspruch zur Patientenverfügung stehende Weiterbehandlung verantwortlich ist.

IV. Ergebnis Die gesetzgeberische Klarstellung, dass Vorab-Entscheidungen des Patienten in Form der Patientenverfügung für seine spätere Behandlung verbindlich sind, sollte nicht als im Grunde nur deklaratorische und damit eher überflüssige (da nur weitere Probleme aufwerfende) Regelung abgewertet werden. Ihre Notwendigkeit belegt die erst kürzlich im Deutschen Ärzteblatt zustimmend (!) veröffentlichte Schilderung eines Falles, in dem Ärzte sich bewusst über die Vorgaben hinwegsetzten, die ein Arzt und späterer Patient ausdrücklich verfügt hatte.105 Die freilich aufgeworfenen Fragen werden wegen der bei ihrer Lösung untrennbar miteinander verzahnten Rechtsdisziplinen nur von einem umfassend ansetzenden, disziplinenübergreifenden integrativen Medizinrecht befriedigend zu bewältigen sein. Dies entlässt aber die vom Jubilar auf das Beste repräsentierte „Strafrechtszunft“ nicht aus ihrer spezifischen Verantwortung, an menschengerechten Lösungen mitzuwirken. Dies dürfte allerdings nicht für Fälle gelten, in denen der Arzt sich an das betreuungsrechtliche Prozedere des BGB hält und die körperverletzende Behandlung fortsetzt, bis entweder eine Übereinstimmung mit dem Patientenvertreter erzielt ist oder die – erst nach zwei Wochen wirksame (§ 287 Abs. 3 FamFG) – betreuungsgerichtliche Genehmigung vorliegt: Die betreuungsrechtlichen Vorschriften des BGB dürften insoweit solange rechtfertigend wirken, als es zum Schutze des Patienten um die Feststellung seines Willens geht (also etwa um die Frage eines Widerrufs der Verfügung oder um die Einschlägigkeit der Vorab-Entscheidung in der konkreten Situation). Diese Rechtfertigung tritt auch dann ein, wenn sich am Ende des Verfahrens herausstellen sollte, dass der Patientenwille von Anfang an einer Behandlung entgegenstand. Da die Verfahrensvorschriften der §§ 1901a ff BGB dem Schutze des Patienten durch Verfahren dienen, ist dieser vorübergehende Eingriff in seine Grundrechtsgut Körperintegrität auch verfassungsrechtlich legitim (so Lipp [Fn. 49 - Kettler u. a.] S. 110 f; ders. [Fn. 51 – Duttge] S. 94 f) und damit auch vom Strafrecht zu beachten. Ob dies auch dann zu gelten hat, wenn dem Arzt von Anfang an deutlich ist, dass der Vertreter bewusst den Willen des Patienten negiert, sei hier zumindest mit einem Fragezeichen versehen (aus verfassungsrechtlicher Sicht verneinend Hufen ZRP 2003, 251 f). So bereits Verf. NJW 1985, 2734 ff; ferner – im Zusammenhang mit einem religiös motivierten Behandlungsveto – Bleiler (Fn. 35) S. 192, 218 ff; Hillenkamp FS Küper, 2007, 123 ff,, 147; aus der Rechtspraxis beachte GStA Nürnberg, NStZ 2008, 343 f. Gaul/Helm DÄ 2009, S. A 84 ff (Fall Debakey im Jahre 2006); hierzu zu Recht krit. der Palliativmediziner Borasio DÄ 2009, S. A 510 f. Hierzu grundsätzlich Eser in: Frisch (Fn. 76) S. 14 ff; sowie die Beiträge von Eser, Koch, Kopetzki, Helmchen und Taupitz in: Eser/Just/Koch (Hrsg.), Perspektiven des Medizinrechts, 2004, S. 247 ff.

Direkte Sterbehilfe Anmerkung zur Privatisierung des Lebensschutzes1 THOMAS FISCHER

Der große Strafrechtslehrer Claus Roxin hat in den vergangenen Jahrzehnten zur Diskussion über die strafrechtliche Behandlung so genannter Sterbehilfe Grundlegendes beigetragen.2 Den von ihm verwendeten Begriff des „Behandlungsabbruchs“ in Fällen der bislang als „passive Sterbehilfe“ bezeichneten Lebensbeendigung hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/093 – aufgegriffen. Ob diese Entscheidung4 nur Selbstverständliches klargestellt, Rechtssicherheit geschaffen, eine zutreffende oder unzutreffende Verschiebung von Grenzen vorgenommen oder die Schwelle zur Sterbehilfe wesentlich gesenkt hat, ist, wie beinahe alles auf diesem Gebiet, umstritten.5 Im Rahmen dieses kurzen Beitrags können die von dem Urteil berührten Fragen nur angesprochen und

1 Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser im Dezember 2010 an der Bucerius Law School Hamburg und im Februar 2011 an der Universität Passau gehalten hat. 2 Vgl. nur Roxin FS Engisch, 1969, 380; ders. in: Blaha/Gutjahr-Löser/Niebler (Hrsg.), Schutz des Lebens – Recht auf Tod, 1978, S. 85; Roxin u. a., Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE Sterbehilfe), 1986; Schöch/Verrel GA 2005, 553 ff; Roxin NStZ 1987, 345; ders. GA-FS, 1993, 177; ders. Strafrecht AT II § 18 Rn. 25 f.; ders. FS Jakobs, 2007, 571; ders. in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 2010, S. 75 ff. 3 Der Verfasser ist Mitglied des 2. Strafsenats und hat an der besprochenen Entscheidung mitgewirkt. 4 NJW 2010, 2963 = NStZ 2010, 630. Weitere Präzisierung und Abgrenzung in der Senatsentscheidung vom 10.11.2010 – 2 StR 320/10. 5 Besprechungen: Albrecht DNotZ 2011, 40; Doering-Striening FamFR 2010, 341; Duttge MedR 2011, 36; Kubiciel ZJS 2010, 656; Kutzer FS Rissing-van Saan, 2011, 337; Lipp FamRZ 2010, 1555; Mandla NStZ 2010, 698; Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 547. Vertreter von so genannten „Lebensschutz“-Vereinen haben die Entscheidung scharf kritisiert. Auch die Deutsche Hospiz-Stiftung hat das Urteil als „schwarzen Tag für die Schwerstkranken in Deutschland“ bezeichnet, weil der Senat – angeblich – „nicht erkannt“ habe, dass es für die Zulässigkeit der Sterbehilfe allein auf den Willen des betroffenen Patienten ankomme (Pressemitteilung vom 25.06.2010).

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der Diskussionsstand in der Literatur6 keinesfalls erschöpft werden. Ich hoffe, das Interesse des Jubilars mit einer kurzen Anmerkung zur Verschiebung von Begrifflichkeiten und Argumentationen zu treffen, die nach meiner – persönlichen7 – Ansicht auch in der genannten Senatsentscheidung angelegt sein könnten.

I. Lebensschutz im Strafrecht Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, jeder habe „das Recht auf Leben“; Satz 3 fügt hinzu, in dieses Recht dürfe auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Was mit „Leben“ gemeint ist, ist, entgegen verbreiteter Ansicht, keineswegs evident; der assoziative Kosmos, den der Begriff eröffnet, ist in Randbereichen – vielleicht überraschenderweise – nicht präzise bestimmt. Eine gesetzliche Definition findet sich nicht unmittelbar: Aus der Regelung der Rechtsfähigkeit natürlicher Personen in § 1, § 1922 Abs. 1 BGB ergibt sich ein Anhaltspunkt für den Kernbereich. Für die Phase vor der Geburt bestimmt § 8 Abs. 1 ESchG, Embryo („im Sinne dieses Gesetzes“) sei schon eine befruchtete entwicklungsfähige Eizelle, ebenso eine entwicklungsfähige totipotente Zelle. Die Rechtsprechung des BVerfG geht davon aus, dass es sich bei Embryonen bis zum Beginn der Geburt nicht um Menschen, wohl aber um menschliches Leben handelt, das jedenfalls in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG einbezogen ist.8 Das Gericht hat aber auch als Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens bis zum Eintritt des Todes“ beschrieben9; dies lässt den Anfangszeitpunkt bemerkenswert offen. Die fachgerichtliche Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen Abtreibungs- und Tötungsdelikten stellt auf den Zeitpunkt des Beginns der Geburt ab.10 Im Einzelnen können sich im Hinblick auf Entwicklungen der Medizin unsichere Übergangsbereiche ergeben, insbesondere aufgrund der Techniken der Präfertilisations-Diagnostik, der In-vitro-Fertilisation und der Präimplantations-Diagnostik.

6 Umfassende Dokumentationen unter anderem in Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 21 ff; Fischer Vor § 211 Rn. 32 ff; Lackner/Kühl vor § 211 Rn. 6 ff; NK-Neumann vor § 211 Rn. 86 ff; MüKo/StGB-Schneider vor § 211 Rn. 88 ff. 7 Selbstverständlich habe ich hier weder eine Erläuterung der Entscheidung vorzunehmen, an der ich selbst mitgewirkt habe, noch könnte ich für den Senat oder einzelne seiner Mitglieder sprechen. Die Entscheidung des Gerichts steht für sich. 8 BVerfGE 88, 203 (Leitsatz 1) (251). 9 BVerfGE 115, 118 (139) (Hervorhebung durch den Verf.). 10 BGHSt 10, 5; 31, 348 (355 f); 32, 194; BGH NStZ 2008, 394; vgl. schon RGSt 1, 146.

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Das gilt entsprechend auch im Hinblick auf das Lebens-Ende. Der Tod ist in zahlreichen Vorschriften des Strafrechts als Tatbestandsvoraussetzung genannt, seinerseits aber nicht definiert. Nahe liegend dürfte sein, die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 i. V. mit Abs. 2 Nr. 2 TPG heranzuziehen: Für das Recht ist der Mensch mit dem Hirntod 11als tot anzusehen.12 Es kann sich dabei auf eine ganz herrschende, gut begründete Ansicht in der medizinischen Wissenschaft stützen. Dieses Maß an Sicherheit ist für die Zwecke des Rechts ausreichend und begründet die Legitimität seiner Entscheidungen. Für das Strafrecht folgt hieraus: Mit der Feststellung des Hirntods ist der Tatbestand des § 212 StGB vollendet. Rechte der toten Person kommen danach nur noch als postmortaler Persönlichkeitsschutz in Betracht (§§ 168, 189 StGB).13 Es besteht keine Verpflichtung von Garanten (§ 13 StGB), von jedermann (§ 323c StGB) oder des Staates (Art. 2 Abs. 1 GG), lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen. Verbreitet ist die Ansicht, der Schutz des menschlichen Lebens als des „höchstwertigen Rechtsguts“ unserer Rechtsordnung14 sei (auch) vom (Straf)Recht „absolut“ garantiert oder zu garantieren.15 Dieses Dogma ist schon im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 S. 2 GG zweifelhaft, der das „höchstwertige“ Gut ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt stellt.16 Es gibt auch die Rechtswirklichkeit nicht zutreffend wieder; jedenfalls ist es in hohem Maße erläuterungs-, ergänzungs- und relativierungsbedürftig.17 Das gilt unbeschadet einer gelegentlich ausufernden Ausdehnung von (strafrechtlichem) Schutz sogar auf nur potentielles Leben und wird hierdurch eher noch besonders deutlich. So ist die Legitimierung des § 173 Abs. 2 StGB durch das BVerfG18 durch die Erwägung, die Vorschrift diene dem Schutz potentiell 11

Endgültiger, nicht mehr behebbarer Ausfall der Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG); vgl. dazu Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 19; Fischer vor § 211 Rn. 15 ff; Schroth in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 2010, S. 448 f; jew. m. zahlr. N. auch zu Gegenansichten. Es handelt sich insoweit um eine Mindest-Voraussetzung der Todes-Feststellung. Zur Diskussion des Hirntodes Ingelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 146 ff; zur abundanten Literatur vgl. auch Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 19. 12 Die Kritik am Hirntod-Kriterium wirft dem Recht vor, einen naturwissenschaftlichmedizinischen Begriff definieren zu wollen, ohne hierzu kompetent oder legitimiert zu sein. Sie übersieht, dass das Recht die Pflicht hat zu entscheiden, wann ein Mensch von Rechts wegen, also im Hinblick auf Rechtsfolgen, als tot oder lebendig anzusehen ist. 13 Die „hirntote Schwangere“ (vgl. schon Fall des „Erlanger Babys“, 1992) ist eine Tote, nicht eine künstlich am Leben gehaltene Person. 14 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 (53). 15 BGHSt 41, 317 (325). 16 Vgl. BVerfGE 115, 118 (139). 17 Zutr. kritisch Duttge ZfL 2004, 32. 18 BVerfG 120, 224 = NJW 2008, 1137, m. abw. M. Hassemer.

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zu zeugender Kinder vor Erbschäden oder vor sozialer Ausgrenzung19, mit der vollständigen Straflosigkeit auch schwerster Schädigung oder des Todes bereits gezeugter Föten etwa durch Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum rational nicht vereinbar. Im Strafrecht ist das menschliche Leben namentlich in den §§ 211 ff, §§ 218 ff StGB geschützt, daneben in zahlreichen Qualifikationen, Erfolgsqualifikationen und Fahrlässigkeits-Tatbeständen. Im Nebenstrafrecht finden sich Regelungen etwa im ESchG20 und im TPG21. Der Zusammenhang dieser Regelungen, namentlich auch in Verbindung mit allgemeinen Regeln und – sogar ungeschriebenen – Grundsätzen ergibt, dass von einem „absoluten“ Lebensschutz nicht die Rede sein kann22: § 32 StGB erlaubt die Vernichtung menschlichen Lebens durch Notwehr und Nothilfe bis zur Grenze rechtmissbräuchlicher Verteidigung von Bagatell-Rechtsgütern. Die in Rechtsprechung23 und Literatur ganz überwiegend vertretene Quantifizierungsfreiheit des Rechtsguts Leben gilt nach allgemeiner Ansicht auch im Kriegsfall nicht; vielmehr ist hier die Inkaufnahme der Tötung selbst von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung auf der Grundlage von Verhältnismäßigkeits-Erwägungen unvermeidlich und daher erlaubt; rechtmäßig ist auch die Inpflichtnahme von Bürgern (insb. als Soldaten) zur höchsten Gefährdung ihres Lebens.24 Sogar staatlich angeordnete gezielte Tötungen können im Einzelfall rechtmäßig sein (polizeilicher Todesschuss). Diese und weitere Differenzierungen des Lebensschutzes ergeben sich letztlich aus der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.25 Das BVerfG hat in seinen Entscheidungen zur Regelung der Strafbarkeit von Abtreibungen vielfach darauf hingewiesen, eine Wert-Abstufung zwischen ungeborenem und geborenem menschlichen Leben sei mit Art. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar; vielmehr sei menschliches Leben vom Zeitpunkt der Entstehung eines Embryos an als höchstrangiger Wert zu schützen.26 Dieses Postulat ist weder mit der Rechtslage noch mit der Rechtswirklichkeit vereinbar: Schon der Vergleich der Strafdrohungen in §§ 211, 212 StGB einerseits, § 218 StGB andererseits zeigt einen – worauf 19

Dies ist ein zirkelschlüssiges Argument, das die Strafverfolgung jedes beliebigen Verhaltens begründen könnte. 20 Embryonenschutzgesetz vom 13.12.1990 (BGBl I 2746). 21 Transplantationsgesetz i. d. F. vom 4.9.2007 (BGBl I 2206). 22 Vgl. dazu auch Arthur Kaufmann FS Roxin, 2001, 841 ff; Dreier JZ 2007, 262 ff. 23 Vgl. insb. die Entscheidung des BVerfG vom 15.2.2006 zu § 14 des LuftsicherheitsG vom 11.1.2005 (BGBl I 78); BVerfGE 115, 118 (139 ff) = NJW 2006, 751. 24 Dazu Eser FS Schöch, 2010, 461; Dreier-Schulze-Fielitz Art. 2 II GG Rn. 46. 25 Dreier-Schulze-Fielitz Art. 2 II GG Rn. Rn. 61 f m. w. N. 26 Vgl. nur BVerfGE 39, 1 ff; 88, 203 ff.

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auch immer gegründeten – Wertungsunterschied. Erst Recht ergibt sich dieser aus der Regelung „tatbestandsloser“ (§ 218a Abs. 1 StGB) oder durch Vorliegen von Indikationen gerechtfertigter (§ 218a Abs. 2, 3 StGB) Abtreibungen. Es ist offenkundig, dass ähnliche Indikationen unter keinen Umständen die Tötung eines geborenen Menschen rechtfertigen könnten.27 Daher ist die Behauptung, für das Recht sei jedes menschliche Leben von der Entstehung des Embryos bis zum Hirntod (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) gleichermaßen wertvoll, ein tabuisierender Euphemismus.28 Geradezu auf den Kopf gestellt wird der Schutz individuellen menschlichen Lebens in § 6 Abs. 2 (i. V. mit Abs. 1) ESchG: Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer einen verwaltungsrechts-widrig hergestellten Embryo „auf eine Frau überträgt“, ihm also zum Geborenwerden verhilft.29 Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich somit weder ein Anspruch gegen den Staat, zum Leben gebracht, noch ein „abwägungsfreier“ Anspruch, am Leben gehalten zu werden. Andererseits weisen die Zusammenhänge und Widersprüche darauf hin, dass sich gerade auch beim Lebensschutz individuelle und überindividuelle Begründungen und Legitimationen vielfach berühren, überschneiden oder gar widersprechen. Besonders deutlich wird dies, wo die Verpflichtung zum Schutz individuellen Lebens auf einen überindividuell-abstrakten Rechtsgüterschutz trifft.

II. Menschenwürde-Topos: Schutz oder Pflicht? Es ist auffällig, dass in der Diskussion um Definition, Zulässigkeit und Grenzen so genannter Sterbehilfe der Grundsatz des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) besonders oft zitiert wird – gleichermaßen auch für ganz unterschiedliche und entgegen gesetzte Ergebnisse. Aus der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), soll sich, nach populärem Verständnis, für den einzelnen Menschen „ein Anspruch auf einen würdigen

27 So auch Dreier JZ 2007, 269 f. Besonders deutlich wird dies bei Gegenüberstellung der Abwägungen bei Spätabtreibung kurz vor und Tötung unmittelbar nach der Geburt aus denselben Gründen, aber mit entgegen gesetztem Ergebnis. 28 Dreier JZ 2007, 268. 29 Eine Strafbarkeit der Frau, die einen solchen Embryo empfängt und austrägt, wegen rechtswidrigen Gebärens eines Menschen ist nicht vorgesehen; sie könnte sich aber aus einer täterschaftlichen Zurechnung des „Übertragens“ oder aus Teilnahmegrundsätzen ergeben.

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Tod“ ergeben.30 Was dies für die Lebens- und Rechtswirklichkeit bedeuten soll, ist weithin unklar.31 Unstreitig dürfte jedenfalls sein, dass sich aus dem MenschenwürdeGrundsatz ein Verbot ergibt, von Staats wegen – das heißt: von Rechts wegen – Bereiche „lebensunwerten“, grundsätzlich geringer- oder höherwertigen geborenen Lebens zu definieren und auf der Grundlage einer solchen Differenzierung unterschiedlichen Regelungen, Schutz- oder Förderungsbereichen zuzuordnen.32 Damit ist freilich nichts darüber gesagt, welches subjektive Recht der einzelne Mensch darauf haben sollte, den eigenen Tod als Verwirklichung von „Würde“ zu erleiden (oder: zu gestalten). Soweit damit nicht mehr gemeint sein sollte als die Anerkennung personaler Selbstbestimmungs-Freiheit33, hätte das Postulat keinen über Art. 2 Abs. 1 GG hinausgehenden substanziellen Gehalt.34 Viel spricht aber dafür, dass jedenfalls in dem populären Gebrauch des Menschenwürde-Topos35 auch ein gewichtiges überindividuelles Moment mitschwingt, also eine Vorstellung von Menschenwürde nicht als Verwirklichung von Selbstbestimmung, sondern als Ausdruck einer „Gattungs“-Würde. Dass dieses generalpräventive, symbolische Element auch (vielleicht gar: gerade) im Strafrecht Ausdruck findet, dürfte kaum zu bestreiten sein; in der „Kannibalen“Entscheidung des BGH36 (im Hinblick auf § 168 und § 216 StGB) ist dies in spektakulärer Weise deutlich geworden.37 30 Synonym gebrauchte Formulierungen: „Recht auf einen menschenwürdigen Tod“; „Recht auf (menschen)würdiges Sterben“. 31 Zur Reichweite und Bedeutung des Menschenwürde-Grundsatzes für den Lebensschutz vgl. – nur beispielhaft – aus der umfangreichen Literatur: Benda NJW 2001, 2147; Böckenförde JZ 2003, 809; Denninger KritV 86 (2003), 191; Dreier in: Dreier/Huber (Hrsg.), Bioethik und Menschenwürde, 2002, S. 9; ders. Festgabe 50 Jahre BVerwG, 2003, 201; ders. JZ 2007, 261; JZ 2007, 317; Hilgendorf Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), 137; Hörnle ARSP 89 (2003), 319; Kloepfer FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. II, 77; Neumann ARSP 84 (1998), 153; Schreiber MedR 2003, 367. Zu verweisen ist auch auf die zahlreichen Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 LuftsicherheitsG a. F. (BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – 1 BvR 357/05 = BGBl I 466 = NJW 2006, 751; Nachweise bei Fischer § 34 Rn 11c) sowie zur Diskussion um das Folterverbot (Nachw. bei Fischer § 32 Rn. 13a). 32 Vgl. dazu etwa Dreier Art. 1 GG Rn. 58 ff, 124 ff m. zahlr. w. N. 33 Vgl. Dreier-Schulze-Fielitz Art. 2 II GG Rn. 63: „Der Staat darf (das) Recht auf passive Sterbehilfe … nicht beeinträchtigen.“ 34 So versteht es wohl auch Dreier JZ 2007, 317, 324. 35 Also namentlich in der von Massenmedien getragenen, auch von rechts- oder verbandspolitischen „statements“ bestimmten Diskussion – ohne dass dieser Charakterisierung irgendein pejorativer Gehalt beigemessen sein soll. 36 BGHSt 50, 80 = NJW 2005, 1876. 37 Zur Kritik vgl. aber u. a. Kreuzer MSchrKrim 2005, 412 ff; Mitsch ZIS 2007, 197 ff; Scheinfeld GA 2007, 695 ff; ders., Der Kannibalen-Fall, 2009.

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Hieraus kann freilich leicht die Gefahr einer sich gegen das Individuum richtenden Verkehrung entstehen. Ein alltagspsychologisches Postulat, vom Schicksal einen „angenehmen“ Tod zu fordern, wäre banal. Es wird, psychologisch verständlich, aber gleichwohl verzerrend, vor allem in der in Massenmedien inszenierten bildhaften Darstellung des (angeblich) „würdigen“ Todes verbreitet. Diese zeigen durchweg Bilder des Friedens, des Vertrauens, des Geborgenseins, der Schmerzfreiheit. Dabei handelt es sich freilich nicht, wie konkludent behauptet wird, um bildhafte Erläuterungen von Menschenwürde oder Selbstbestimmung, sondern bestenfalls um Fälle glücklichen Zusammentreffens. Die Forderung nach „würdigem Tod“ bleibt inhaltsleer, wenn nicht angegeben werden kann, was als „würdig“ zu gelten hat. In Betracht kommen etwa: Schmerzfreier Tod; angstfreier Sterbeprozess; selbst bestimmter Todeszeitpunkt; Sterbeprozess ohne nach außen unangenehme oder peinliche Erscheinungen.38 Als nicht „würdig“ gelten gemeinhin: Brachiale Todesarten39; schmerzvolle Sterbeprozesse oder solche, in denen die betroffene Person längerfristig in einen Übergangsbereich zwischen selbstbestimmungsfähigem (aktiven) Leben und einem Zustand passiver Objekt-Qualität gerät: Zwangsernährung; Wachkoma; apallisches Syndrom.40 Die materiellen Kriterien, anhand derer solche am Alltagsverständnis orientierten Einordnungen vorgenommen werden, bleiben meist vage und wirken daher gelegentlich beliebig, jedenfalls in erheblichem Umfang von intendierten Wertungs-Ergebnissen bestimmt: Brachiale Tode in Folge eines Kampfgeschehens gelten keineswegs stets als „unwürdig“; und selbst in der öffentlichen Darstellung kann sich nicht selten ein Zustand angeblicher „Unwürdigkeit“ der Beatmung und Medikamentierung auf einer Intensivstation auf rational schwer erklärliche, intuitive Weise in einen solchen der „Würde“ bei von Morphium bewusstseinsgetrübtem Dämmerzustand in einem Hospiz wandeln. Der BGH hat zur Zulässigkeit so genannter indirekter Sterbehilfe im Urteil vom 15. November 1996 ausgeführt: „Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben 38

Z. B. Schreien, Weinen, Krämpfe, Luftnot; Blutungen, Blasen- und Darmentleerung, Wahn. 39 Z. B. Zu-Tode-Stürzen; Überfahren-Werden. Ausnahmen gelten aus historisch-sozialen Gründen für Todesarten, die im weiteren Zusammenhang mit einem „Kampf“-Geschehen stehen. Diese können sogar als Ausdruck besonderer „Ehre“ und damit auch individueller Würde gelten: Erschießen (etwa als Suizid-Akt von „Offiziersehre“); Harakiri. 40 Die Nähe zur Grenze des Lebens wird deutlich an Fällen hirntoter Schwangerer (vgl. „Erlanger Baby“,1992).

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zu müssen.“41 Die sprachlich sperrige, nur im Ergebnis plausible Begründung für die Anwendung des § 34 StGB auf die unbeabsichtigte42 Tötung von Menschen ist dogmatisch schwer verständlich: Die „Ermöglichung des Todes“ kann kaum als Rechtsgut bezeichnet werden, und dass der Tod in Würde ein „höherwertiges Rechtsgut“ sei als die „Aussicht, leben zu müssen“, ist eine jedenfalls überraschende Aussage, die sich mit sonstigen Grundsätzen der Rechtsprechung zum Lebensschutz kaum vereinbaren lässt. Verständlich und akzeptabel wird sie nicht als Verwirklichung eines Abwägungsprozesses nach § 34 StGB (Tod: höherwertig – Leben: geringerwertig), sondern allein als Verwirklichung des „erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillens“, also des Selbstbestimmungsrechts. Damit stehen aber die Legitimations-Gesichtspunkte einer individuellen Entscheidung und einer überindividuellen „Würde“-Beurteilung unverbunden nebeneinander. Sollte „Tod in Würde“ nicht mehr bedeuten als Selbstbestimmung über den Tod, wäre die Formel überflüssig. Soll sie mehr sein, stellt sich die Frage, welche Freiheits-limitierenden Elemente ein solcher Würde-Begriff enthalten sollte. In der Behauptung, jede Person habe das Recht auf einen „würdigen Tod“, liegt somit die Gefahr einer Verkehrung der Freiheitsgarantie in eine Pflicht zu einem Sterbeprozess, dessen Zeitpunkt, Motiv, Kausalität und Form Dritte als „würdig“ ansehen. Die sanktionierende Kehrseite einer solchen Pflicht wäre die – jedenfalls grundsätzliche – Strafbarkeit der Unterstützung oder Herbeiführung „unwürdiger“ Todeserfolge.43

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BGHSt 42, 301 (305). In vielen Darstellungen wird die Form des Vorsatzes bei der sog. indirekten Sterbehilfe nur recht undeutlich beschrieben (vgl. etwa Lackner/Kühl vor § 211 Rn. 7: „als unvermeidliche Folge in Kauf nehmen“; Der BGH beschreibt die indirekte Sterbehilfe als Medikation mit der „unbeabsichtigten, aber unvermeidlichen Nebenfolge“ des (früheren) Todeseintritts (BGHSt 46, 279 [285]). Das ist nichts anderes als ein direkter Tötungs-Vorsatz. Hierauf käme es freilich nicht an, wenn „indirekte“ Sterbehilfe, wie teilweise vorgeschlagen, schon tatbestandlich aus dem Anwendungsbereich der §§ 211 ff StGB auszunehmen wäre (vgl. etwa LK-Jähnke vor § 211 Rn. 17; Ingelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 268 ff; Herzberg NJW 1996, 3048 f). Rechtsprechung (BGHSt 42, 305) und h. M., die indirekte Sterbehilfe als Fall der Rechtfertigung (zumeist: durch § 34 StGB; zu anderen Lösungsvorschlägen vgl. NK-Neumann vor § 211 Rn. 97 ff) ansehen, lassen mit der Betonung der „unbeabsichtigten“ Nebenfolge die Grenze zum (nur) bedingten Vorsatz terminologisch bemerkenswert offen, als sei eine Todesverursachung als „sichere Nebenfolge“ kein direkt vorsätzlicher Totschlag (anders Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 26 a. E.: indirekte Sterbehilfe nur bei bedingtem Vorsatz). Auch hier dürften tabuisierende Euphemismen eine Rolle spielen. 43 Zur überindividuellen Pflichten-Begründung im Zusammenhang mit SelbsttötungsVerbot und Sterbehilfe Kubiciel JA 2011, 86 ff. 42

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III. „Sterbe-Hilfe“ Am Lebensende lässt sich, nach ganz h. M., ein „absoluter“ Lebensschutz nicht durchhalten oder auch nur postulieren, wenn man nicht zugleich Garantien aufgeben will, welche als grundlegend für die Legitimation des Rechts angesehen werden. Das Strafrecht weicht daher hier sukzessive – aus Gründen medizinischer Machbarkeit, vor allem aber aus Gründen ethischer Verantwortbarkeit – zurück und erlaubt, in welcher Form auch immer, lebensbeendende Maßnahmen, die an sich dem Tatbestand des § 212 StGB unterfallen. Hoffnungen, Grenzen ließen sich hier dauerhaft zuverlässig ziehen44, sind zweifelhaft; auch scheinbar klare Grenzen verschwimmen bei näherem Hinsehen. So ist etwa die Abgrenzung zwischen (strafbarer) täterschaftlicher Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und (strafloser) Beihilfe zur Selbsttötung nur formal dogmatisch stringent, in der Rechtwirklichkeit wie in ihrer Legitimationsgrundlage aber zweifelhaft45:

1. Begriff Ein im Anschluss an die gesetzliche Regelung der sog. Patientenverfügung aktuell lebhaft diskutiertes Beispiel für die rechtlich schwer erfassbaren Übergangs-Probleme ist der Bereich so genannter Sterbehilfe. Dieser Begriff selbst ist umstritten und vielfach differenziert. Gemeint ist hier zunächst die „Hilfe beim Sterben“, deren Abgrenzung von einer „Hilfe zum Sterben“ postuliert, in der Lebenswirklichkeit aber oft nur schwer erkennbar ist.46 Die Entwicklung der rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Diskussion und namentlich auch der Rechtsprechung zur Sterbehilfe47 ist hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen.48 Es sollen vielmehr nur einige Gesichtspunkte hervorgehoben werden, die im Zusammenhang mit dem Urteil des 2. Strafsenats des BGH vom 25. Juni 201049 stehen und mögliche Konsequenzen dieser Entscheidung andeuten. In Rechtsprechung und Literatur wird bisher ganz überwiegend unterschieden zwischen „aktiver“, „indirekter“ und „passiver“ Sterbehilfe. Aktive Sterbehilfe ist danach eine gezielte50 (absichtliche oder direkt vorsätzliche) Tötung („Lebensverkürzung“) durch aktives Tun; indirekte Sterbehilfe 44

Namentlich auch im Hinblick auf ein „Dammbruch“-Argument. Vgl. auch Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 28. 46 Zum Begriff auch NK-Neumann vor § 211 Rn. 89. 47 Vgl. – als Leitentscheidungen – namentlich BGHSt 32, 379; 37, 378; 40, 257; 42, 305; 46, 279. 48 Vgl. die Nachweise oben Fn. 6. 49 Urt. v. 25.6.2010 – 2 StR 454/09 = NJW 2010, 2963. Zur Abgrenzung vgl. auch Beschluss vom 10.11.2010 – 2 StR 320/10. 50 Schönke/Schröder-Eser vor § 21 Rn. 24. 45

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die (direkt oder bedingt51 vorsätzliche) Tötung als unbeabsichtigte Nebenfolge palliativer Maßnahmen52; „passive Sterbehilfe“ ein für den vorzeitigen Tod einer (unheilbar53) kranken Person ursächliches Unterlassen garantenpflichtiger Personen. Nur die beiden letztgenannten Formen der Sterbehilfe sollen – unter weiteren Bedingungen – straffrei sein können, die erstgenannte nicht. Die Begriffsbildung ist verwirrend, irreführend und tabuisierend54: Die (strafbare) „aktive“ Sterbehilfe kann auch garantenpflichtwidriges Unterlassen umfassen, wenn es gezielt geschieht; die „indirekte“ Sterbehilfe ist zum einen – selbstverständlich – auch aktiv, zum anderen aber auch direkt55; für die „passive“ Sterbehilfe wurde ein behandlungsabbruchs-spezifischer Unterlassungs-Begriff kreiert, um sie von der „aktiven“ Tötungshandlung abzugrenzen. Zudem wird die strafrechtlich-dogmatische Begriffsbildung noch mit verwaltungsrechtlichen und standesrechtlichen Begriffen und Abgrenzungen des „Verbotenseins“ vermischt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Berichterstattung über die am 21. Januar 2011 veröffentlichten neuen „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“.56 Anknüpfend an die Formulierungen der Präambel: „Die Tötung des Patienten … ist strafbar, auch wenn sie auf Verlangen des Patienten erfolgt. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe“, vermischt sie ethische, strafrechtliche, standesrechtliche und alltagstheoretische Begriffe und Argumente in einem solchen Maß, dass die beabsichtigte „klare Orientierung“ unmöglich erreicht werden kann.57 Schließlich ist zu 51 Vgl. aber Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 26 a. E., der die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Sterbehilfe anhand der Feststellung direkten oder bedingten Vorsatzes vornehmen will. 52 Vgl. schon oben Fn. 42. Der 66. DJT 2006 hat eine (klarstellende) gesetzliche Regelung der Zulässigkeit gefordert. 53 Vielfältige Differenzierungen zu den (tatsächlichen, terminologischen, dogmatischen) Anforderungen an das Stadium der vorliegenden Erkrankung und die Wahrscheinlichkeit ihres tödlichen Verlaufs sollen hier außer Betracht bleiben. 54 Zur Kritik vgl. auch Merkel, Früheuthanasie, 2004, S. 134 ff, 174 ff; ders. FS Schroeder, 2006, 297; Saliger KritV 2001, 382 ff. Anders Ingelfinger (Fn. 42) S. 270: Nicht die Handlung sei „indirekt“, sondern die Entscheidung. Anders wohl auch Duttge MedR 2011, 36 f. 55 Man käme nicht auf die Idee, die aktive Tötung z. B. einer Geisel, die vom Täter zwar nicht beabsichtigt, aber als notwendige Folge oder Voraussetzung des beabsichtigten Erpressungs-Erfolgs in Kauf genommen wird, als „indirekt“ zu bezeichnen. 56 Deutsches Ärzteblatt 2011, 108 (7): A-346 / B-278 / C-278. 57 Die unmittelbar aufeinander folgenden Aussagen der Grundsätze: „Das Sterben (darf) durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung ermöglicht werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht (…). Die Tötung des Patienten hingegen ist strafbar, auch wenn sie auf Verlangen des Patienten erfolgt“ (Grundsätze, Präambel), sind, unter strafrechtlichem Blickwinkel, widersprüchlich und unverständlich. Dass sie bei (rechtlichen) Laien für klare Orientierung sorgen werden, ist nicht nahe liegend.

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berücksichtigen, dass die begriffliche Diskussion von einer teilweise hoch emotionalisiert geführten Debatte um die grundsätzliche Legitimation von Sterbehilfe, insbesondere in Abgrenzung zu einer rein palliativen, „begleitenden“ Teilnahme überlagert wird; zum anderen von einer nicht minder schwierigen Diskussion über die Feststellung, Auslegung, Anerkennung und Umsetzung von Willenserklärungen der betroffenen Person, namentlich in Form sog. Patientenverfügungen oder nur mündlich geäußerter Behandlungswünsche für den Fall der Äußerungsunfähigkeit oder Willensunfähigkeit zum Zeitpunkt späterer Erkrankung, über die Feststellung eines nur mutmaßlichen oder die Bedeutung schon eines nur hypothetischen58 Willens. Selbst Grundsätze, die als einigermaßen gesichertes Fundament der Diskussion gelten, erweisen sich jedenfalls in ihren Randbereichen und Verknüpfungen als auslegungsbedürftig und wenig präzise. Das gilt etwa für folgende Thesen: Es gibt keine „Sterbehilfe“ gegen den Willen der betroffenen Person (vgl. dazu insbesondere auch den Sachverhalt der Entscheidung vom 10. November 2010 – 2 StR 320/10). Heimliche (heimtückische) Mitleidstötungen können daher nicht gem. § 34 StGB gerechtfertigt werden. Es gibt keine ärztliche Pflicht, „verlöschendes Leben um jeden Preis59 zu erhalten“ oder zu verlängern.60 Sinnlose – d. h. weder lebensverlängernde noch leidensmindernde – diagnostische oder therapeutische Maßnahmen müssen nicht vorgenommen werden, auch wenn die betroffene Person sie verlangt. Wo aber verläuft die Grenze zwischen einer Verursachung des Todes gegen und einer solchen ohne den Willen des Betroffenen? Welche Bedeutung hat insoweit die vom BGH im „Kemptener Fall“ als Legitimation für Sterbehilfe angesehene „hypothetische“ Einwilligung auf der Grundlage von „Kriterien, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen“61? Was bedeutet „um jeden Preis“, und aus wessen Sicht ist dieser „Preis“ zu bestimmen? Welche Rolle spielen Verfügbarkeits- und Kosten-Gesichtspunkte?62 Was 58

Vgl. BGHSt 40, 257 (263). Meist offen gelassen: Für wen? 60 BGHSt 32, 379. Vgl. auch Grundsätze der BÄK (oben Fn. 56), Präambel Abs. 2 sowie Ziffer II. 61 BGHSt 40, 257 (263). 62 Zutr. der Hinweis in Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 30 auf die „höchst delikate“ Frage einer Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und potentiellem Erfolg, also von Sterbehilfe durch Nicht-Weiter-Behandlung oder eingeschränkte Behandlung auf der Grundlage der 59

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ist die praktische Folge der Rechtssätze, die eine Pflicht des Arztes zur (Weiter-)Behandlung entfallen lassen: Darf der Arzt seine Tätigkeit zu einem beliebigen Zeitpunkt einstellen, weil seine Garantenpflicht entfällt? Ist er zur Information, Dokumentation, Rückfrage verpflichtet? Folgt aus dem Entfallen der Behandlungspflicht eine Veränderung der Beurteilung der ärztlichen Mitwirkung am Suizid? Dies sind nur einige der Fragen, die sich auch in dem vielfach als „geklärt“ angesehenen Grundsatz-Bereich der Sterbehilfe stellen lassen.

2. Abgrenzungen a) Über aller Unsicherheit in manchen Bereichen, die gelegentlich auch überbetont wird63, lassen sich aber durchaus auch unstreitige Regeln angeben: Eine medizinische Behandlung (insb. wenn sie mit körperlichen Eingriffen verbunden ist) ist rechtswidrig, wenn sie dem (fehlerfrei gebildeten) Willen der betroffenen Person widerspricht. Sie kann mit Mitteln der Notwehr oder der Nothilfe (§ 32 StGB) abgewehrt werden; ein Unterlassungsanspruch ist auch zivilrechtlich ohne weiteres durchsetzbar. Dies ist eine Konsequenz aus dem (annähernd unstreitigen64) Grundsatz der Selbstbestimmungsfreiheit der Person (vgl. auch Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG).65 Wenn der Patient in der konkreten Behandlungssituation in der Lage ist, einen fehlerfreien, verantwortlichen Willen zu bilden, sind Dritte, insbesondere auch Ärzte, hieran gebunden, auch wenn sie die Entscheidung für konkret unvernünftig oder schädlich halten. Der Patient kann daher grundsätzlich jederzeit die Einleitung von medizinischen (diagnostischen oder therapeutischen) Maßnahmen untersagen oder verweigern sowie den Abbruch bereits begonnener Maßnahmen verlangen, und zwar unabhängig von

Überlegung, dass sich Kosten und Aufwand „nicht mehr lohnen“. Diese „externe“ Abwägung ist seit jeher Teil einer rationalen, verantwortlichen ärztlichen Behandlungs- und Auswahlentscheidung, kann aber nur sehr schwer in konkretisierende Handlungs-Regeln formuliert werden. 63 So wird man kaum noch davon sprechen können, das Verhältnis der mutmaßlichen Einwilligung zum Betreuungsrecht sei „ungeklärt“ (so aber Lackner/Kühl vor § 211 Rn. 8). Auch Mitteilungen von Verbänden (z. B. Deutsche Hospiz-Stiftung; auch Ärzteverbände) betonen oft eher die nicht geklärten als die geklärten Teile der Diskussion und erwecken so immer wieder den Eindruck, als seien Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige von Patienten in einem Dickicht unüberschaubarer Regelungen und Risiken verstrickt – angesichts dessen nur ein resignatives Vertrauen auf die ärztlich „richtige“ Entscheidung verbleibe. 64 Anders z. B. Laufs, Arztrecht, Rn. 292; dagegen Kutzer NStZ 1994, 114. 65 BVerfGE 114, 1 (34) (Privatautonomie als Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG). Zur Nothilfe-Argumentation des 2. Strafsenats daher kritisch Duttge MedR 2011, 36, 37.

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Art, Gefährlichkeit und Stadium einer Erkrankung.66 Gegen den Willen des Patienten durchgeführte Eingriffe sind rechtswidrige Körperverletzungen; weisungsgemäßes Unterlassen oder Beenden von Maßnahmen ist, wenn es zu Gesundheitsschädigung oder Tod führt, gerechtfertigt (nach a. A. tatbestandslos). Die Behandlung von Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Behandlungsbedürftigkeit war früher sehr streitig; namentlich gab es viele Unklarheiten über die Reichweite und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, über die Notwendigkeit der Bestellung sowie den Umfang der Aufgaben und Befugnisse von Betreuern sowie über die Notwendigkeit (und Zulässigkeit) betreuungsgerichtlicher Entscheidungen.67 Soweit Unsicherheiten hierüber auch nach dem Inkrafttreten des Dritten BetreuungsrechtsänderungsG vom 29.7.2009 (BGBl I 2286) am 1.September 2009 weiter behauptet werden, ist dies überwiegend nicht mehr gerechtfertigt, da die Regelung der §§ 1901a ff BGB eine im Grundsatz klare und eindeutige Entscheidung für die Anerkennung und den Vorrang des Willens der betroffenen Person getroffen und diese mit den vom 2. Strafsenat dargelegten – und in der Entscheidung 2 StR 320/10 nochmals präzisierten – Verfahrensregeln abgesichert hat. b) Zulässig und straffrei ist danach jedenfalls eine „indirekte“ Sterbehilfe als aktive Tötung, die eine unbeabsichtigte, aber als unvermeidlich erkannte oder für möglich gehaltene und in Kauf genommene Nebenfolge schmerzlindernder oder bewusstseinsdämpfender Medikation oder Behandlung den Todeseintritt bei einer tödlich erkrankten oder sterbenden Person beschleunigt.68 Zulässig ist, schon nach bisher ganz herrschender Ansicht, auch die so genannte „passive“ Sterbehilfe. Da dieses Ergebnis dogmatisch meist an eine Definition als Unterlassen von (weiterer) Behandlung anknüpfte, war lange umstritten, welche konkreten Handlungen des Behandlungsabbruchs als ein solches Unterlassen anzusehen seien69; diskutiert wurde (seit BGHSt 66

MüKo/StGB-Schneider vor § 211 Fn. 105. Vgl. namentlich die Diskussion über die Abweichung zwischen Entscheidungen von Strafsenaten (z. B. BGHSt 40, 257) und Zivilsenaten (z. B. BGHZ 154, 205) des BGH; dazu auch NK-Neumann vor § 211 Rn. 108 ff, 133 ff; Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 28d; jeweils m. w. N. 68 Zum Streit um die Grundlage der Straffreiheit im Verhältnis zu § 216 StGB ausführlich Merkel FS Schroeder, 2006, 297, 299 ff; dazu auch Herzberg NJW 1996, 3043; Merkel JZ 1996, 1149; Verrel JZ 1996, 226. 69 Vgl. aber schon Schönke/Schröder-Eser vor § 211 Rn. 31 f: Es sei „im Grundsatz gleichgültig“, ob das Sterbenlassen durch Nichtaufnahme oder durch Abbruch einer Behandlung erfolgt (…). Entsprechendes gilt für den technischen Behandlungsabbruch“; (ähnlich NKNeumann vor § 211 Rn. 123 [„…kann im Ergebnis darauf ankommen“]). 67

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40, 257) insbesondere der Fall des Abschaltens eines Beatmungsgeräts.70 Die Rede war hier vielfach von einem „normativen Begriff des Unterlassens“, der sich von einer „naturalistischen“ Betrachtungsweise lösen müsse.71 Die Entscheidung des 2. Strafsenats vom 25.6.2010 hat die Unterscheidung aufgegeben. Der Senat hat den angeklagten Rechtsanwalt72 vom Vorwurf des (täterschaftlichen73) versuchten Totschlags freigesprochen, weil ein der Behandlungs-Fortführung entgegenstehender Wille der betroffenen Patientin festgestellt war, die Fortführung bzw. Wiederaufnahme der Behandlung mittels eines körperlichen Eingriffs (Ernährung durch Magensonde) deshalb eine rechtswidrige Körperverletzung gewesen wäre und der Abbruch der Behandlung von der Einwilligung der Patientin getragen war. Zwar wäre eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs durch Einwilligung nach früherer Rechtsprechung in der Literatur teilweise vertretener Ansicht gleichwohl nicht in Betracht gekommen, wenn die Handlung (Durchschneiden des Schlauchs der Magensonde) als aktives Tun anzusehen war. Insoweit hat sich der Senat aber von der bisherigen Rechtsprechung

70 Der BGHSt 40, 257 (265) hat dies als Unterlassen angesehen; ebenso z. B. Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 2010, S. 75, 94 f; Lackner/Kühl vor § 211 Rn. 8; MüKo/StGB-Schneider vor § 211 Rn. 108 ff; NK-Neumann vor § 211 Rn. 122; Oduncu MedR 2005, 440; dagegen etwa Fischer vor § 211 Rn. 60 ff; SK/StGB-Rudolphi vor § 13 Rn. 47. 71 Roxin FS Engisch, 1969, 380 ff; NK-Neumann vor § 211 Rn. 122. Dagegen nachdrücklich Duttge MedR 2011, 36, 37 („ein Ammenmärchen“). 72 Zum Sachverhalt: Die als Betreuerin der seit fünf Jahren im Wachkoma liegenden 76jährigen Patientin hatte, unter Hinweis auf deren früher ausdrücklich geäußerten Willen, für diesen Fall nicht künstlich am Leben gehalten werden zu wollen, und im Einverständnis mit dem behandelnden Arzt von der Heimleitung des Pflegeheims die Einstellung der mittels Magensonde durchgeführten Ernährung verlangt und schließlich auch durchgesetzt. Der Heimträger war hiermit nicht einverstanden und kündigte an, die künstliche Ernährung alsbald wieder aufnehmen und der Betreuerin ein Hausverbot erteilen zu wollen. Diese rief den angeklagten Rechtsanwalt an und fragte ihn, wie sie sich verhalten solle. Auf seinen Rat schnitt sie sodann den Schlauch der Magensonde kurz über der Körperoberfläche durch. Das wurde alsbald entdeckt; der Patientin wurde operativ eine neue Magensonde gelegt. Sie verstarb einige Wochen später an den Folgen ihrer Grunderkrankung. Das Landgericht hat die Betreuerin wegen Vorliegens eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 StGB) freigesprochen, den Rechtsanwalt wegen versuchten Totschlags zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt. 73 Eine nicht ganz unzweifelhafte Würdigung des Tatgerichts, da sich die Handlung des Angeklagten auf die Erteilung eines telefonischen Rats an die Betreuerin beschränkte, welche die Tathandlung sodann unmittelbar ausführte. Im Hinblick auf den bei der Betreuerin selbst festgestellten (unvermeidbaren) Verbotsirrtum war aber die Wertung des Tatgerichts, der Angeklagte sei Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB) gewesen, nicht rechtsfehlerhaft und daher vom Revisionsgericht hinzunehmen.

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gelöst.74 Die Umdeutung aktiven Tuns75 in ein „normativ-soziales“ Unterlassen hat der Senat abgelehnt, die bisherige Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln in Fällen des (sog.: technischen) Behandlungsabbruchs aufgegeben und in diesem Begriff beides zusammen geführt. Voraussetzung einer durch Einwilligung gerechtfertigten Sterbehilfe ist danach, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist, dass die unterlassene oder aktiv beendete Maßnahme zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist und dass ein rechtsfehlerfrei festgestellter Wille der betroffenen Person vorliegt, die Behandlung zu unterlassen oder abzubrechen. c) Es mag dahin stehen, ob die Entscheidung vom 25.6.2010 eine wesentliche substanzielle Fortentwicklung in der rechtlichen Beurteilung von („passiver“) Sterbehilfe enthält oder insoweit nur für die Rechtsprechung ausdrücklich nachvollzogen hat, was in der Literatur schon lange als jedenfalls im Ergebnis evident angesehen wurde.76 Jedenfalls wird man aus der Entscheidung drei Schlussfolgerungen – auf unterschiedlicher Ebene – ziehen können: (1) Zum einen bestätigt sie, dass die Abgrenzungsfragen im Zusammenhang mit der Sterbehilfe nicht in einem engen dogmatischen Kontext gelöst werden können. Eine Anknüpfung an die – für Rechtskundige schwierigen, für Laien fast unverständlichen – Ausdifferenzierungen des strafrechtlichen Handlungsbegriffs wird den substanziellen Fragen der Lebenswirklichkeit nicht gerecht und führt zu ungerecht oder willkürlich erscheinenden Ergebnissen. (2) Zum anderen zeigt sie, dass die Verschiebung von materiellen Grundsatz-Problemen in vage, tabuisierende, teilweise geradezu irreführende Begriffe nicht geeignet ist, zur Problem-Lösung beizutragen, sondern nur eine rechtspolitische Schein-Sicherheit schafft, weil wichtige Abgrenzungsund Legitimitätsfragen nicht beantwortet werden (müssen). Die bisherige Unterscheidung in „aktive“, „passive“ und „indirekte“ Sterbehilfe ist überholt und irreführend77: Wenn „passive“ Sterbehilfe auch aktive Handlungen umfasst78, verliert diese Terminologie ihren Sinn; dasselbe gilt, wenn als „aktive“ Sterbehilfe Handlungen beschrieben werden, die nach allgemeiner Ansicht in Wahrheit nicht Sterbehilfe sind, sondern im besten Fall Tötungen auf Verlangen, im schlechtesten Fall Mord. Wenn man – trotz Bedenken79 – an dem merkwürdigen Begriff der „indirekten“ Sterbehilfe festhalten will, 74

2 StR 454/09, Rn. 31 f. Dagegen aber, mit gewichtigen Argumenten Frister FS Samson, 2010, 19 ff. 76 Vgl. oben Fn. 69. 77 Vgl. dazu auch Fischer vor § 211 Rn. 54 ff. 78 2 StR 454/09, Leitsatz 2. 79 Oben Fn. 54. 75

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um vorsätzlich-unabsichtliche von absichtlichen Todesverursachungen zu unterscheiden, bleiben jedenfalls nicht drei, sondern nur zwei Kategorien: Direkte und indirekte Sterbehilfe. „Direkt“ (nämlich auf absichtliche Tötung gerichtet) sind (auch) die bisher als „passiv“ bezeichneten Handlungen; „indirekt“ solche Handlungen, welche den Tod des Opfers als unvermeidlich „in Kauf nehmen“. Einer dritten Kategorie bedarf es nicht, da sie keinen für das Problem „Sterbehilfe“ relevanten sachlichen Gehalt hat. (3) Zum dritten ist die Entscheidung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Regelung der Patientenverfügung in §§ 1901a ff BGB zu sehen. Sie stellt die erforderliche Konkordanz zwischen zivilrechtlichen Regelungen und strafrechtlichen Wertungen her. Vor allem bestätigt sie nachdrücklich den Willen des Gesetzgebers, umstrittene Fragen der Sterbehilfe im Grenzbereich zwischen individuellem und öffentlichem Interesse auf der Grundlage der Anerkennung individuell autonomer Selbstbestimmung zu lösen.80 Hierin dürfte der substanzielle Schwerpunkt der Entscheidung liegen.

IV. Tötung auf Verlangen Ausgeschlossen ist nach der Entscheidung des 2. Strafsenats eine auf Lebensbeendigung abzielende Handlung, die nicht als Behandlungsabbruch bei lebensbedrohender Erkrankung angesehen werden kann81: Tötungen auf Verlangen sollen, auch nach dem Willen des Gesetzgebers82, strafbar bleiben, auch wenn sie im Zusammenhang mit einer Erkrankung stehen und durch sie motiviert sind. Die Abgrenzung ist freilich sehr schwierig. Kutzer hat in einer Besprechung des Urteils vom 25.6.2010 ausgeführt83: „Aktive Sterbehilfe bedeutet (…) den von außen kommenden gezielten tödlichen Eingriff durch die Tat eines Dritten. Da aktive Sterbehilfe eine Straftat ist, kann sie von einem Patienten (…) nicht verlangt werden. Insoweit scheitert das Selbstbestimmungsrecht des Kranken an § 216 StGB.“ Diese Beschreibung, welche die Grenze des § 216 StGB in problematischer Weise aus sich selbst heraus erklärt, gibt eine geläufige Begründung der h. M. vor der besprochenen Senatsentscheidung wieder; mit deren Ergebnissen ist sie aber nicht ohne weiteres vereinbar. Denn es ist schwer erkennbar, welche materiellen Gesichtspunkte die zitierte Beschreibung (gezielte, „von außen“ kommende, aktive Handlung eines Dritten, die „eine Tat“ ist) 80

Vgl. auch Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 2005, S. 9 ff; dazu auch BGH, Beschl. vom 10.11.2010 – 2 StR 320/10. 81 2 StR 454/09, Rn. 37 und Leitsatz 3, wonach „die tatbestandlichen Grenzen des § 216 StGB unberührt“ bleiben. 82 Vgl. BT-Drucks. 16/8442, S. 3, 7 f. 83 Kutzer FS Rissing-van Saan, 2011, 337, 339.

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von der Handlung des angeklagten und vom 2. Strafsenat freigesprochenen Rechtsanwalts unterscheiden soll. Die Differenzierung lässt sich auch nicht auf die Erwägung stützen, bei Zulassung „aktiver“ Sterbehilfe (also der Tötung auf Verlangen als Sterbehilfe) „müsste zwischen lebenswertem Leben, das durch § 216 StGB geschützt ist, und schutzunwürdigem Leben am Lebensende unterschieden werden“.84 Denn dieselbe Frage muss selbstverständlich auch für Bereiche der Sterbehilfe gestellt werden, die als zulässig angesehen werden, insb. für die sog. „indirekte“ Sterbehilfe. Und § 1901a Abs. 3 BGB schreibt vor, dass die autonome Entscheidung des Patienten, ggf. durch aktive, „von außen kommende“ Behandlungsabbruchshandlung eines Dritten gezielt getötet zu werden, „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung“ verbindlich, zu beachten und vom Betreuer zu verwirklichen ist. Im Übrigen wird die eigentliche Schwierigkeit der Abgrenzung durch eine polemische Differenzierung zwischen „lebenswertem“ und „schutzunwürdigem“ Leben nur verdeckt: Leben wird dadurch, dass ein Rechtfertigungsgrund für („indirekte“ oder „passive“) Sterbehilfe anerkannt wird, nicht „schutzunwürdig“. Die Diskussion um die Zulässigkeit so genannter „aktiver“ Sterbehilfe und die legitimen Grenzen des § 216 StGB lässt sich daher auf der Basis der Senatsentscheidung vom 25.6.2010 auch für die Rechtsprechung nicht (mehr) ohne weiteres in einen Randbereich des Selbstverständlichen schieben, auch wenn die Entscheidung selbst die für die Lösung des Einzelfalls nicht erhebliche Frage nur eher beiläufig angesprochen hat.85 Entwicklung und Stand dieser Diskussion sind im Rahmen dieses Beitrags nicht nachzuzeichnen; Claus Roxin hat sich dazu umfassend und profund geäußert.86 Hinzuweisen ist insoweit aber auf Folgendes: Die Grenzen zwischen „ärztlich assistiertem Suizid“87 und Tötung auf Verlangen sind in der Praxis häufig sehr schwierig zu ziehen, bisweilen zufällig und im Einzelfall geeignet, das ethische Anliegen ärztlichen Handelns geradezu zu vereiteln.88 Die Grenze des § 216 StGB gerät, folgt man 84

Kutzer FS Rissing-van Saan, 2011, 340. Insoweit zutreffend krit. Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 547, 558; Duttge MedR 2011, 36, 37 f. 86 Roxin FS Jakobs, 2007, 571 ff; ders. in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 2010, S. 75, 104 ff, jeweils m. zahlr. N. zur Diskussion. 87 Vgl. dazu vor allem den Vorschlag § 4 des AE-StB (SterbebegleitungsG), GA 2005, 553; aber auch die Gesetzesinitiativen gegen „gewerbsmäßige Suizidbeihilfe“ (z. B. BR-Drucks. 230/06). Die Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung vom 21. Januar 2011 enthalten in der Präambel (weiterhin) den Grundsatz: Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe“, verzichten aber auf den (irreführenden) Hinweis auf eine mögliche Strafbarkeit (so noch Grundsätze 1998). 88 Etwa in Fällen eindeutiger, verantwortlicher Patienten-Entscheidungen bei faktischer Unmöglichkeit eigenhändiger Ausführung. 85

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den bisher vorherrschenden Begründungen, zum einen aufgrund der offensichtlichen Schwächen der Begründung „indirekter“ Sterbehilfe, zum anderen aufgrund der Aufgabe der Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen bei der bisher sog. „passiven“ Sterbehilfe dogmatisch, legitimatorisch und praktisch zunehmend unter Druck. Mit Hinweisen auf Merkmale des „von außen“ kommenden Eingriffs, der „Gezieltheit“ der Tötungshandlung oder auf Zurechnungsdetails der Beteiligungslehre wird sich diese Grenze auf Dauer kaum halten lassen. Das muss vor allem auch vor dem Hintergrund von Entwicklungen der Lebenswirklichkeit gesehen werden. Im Hinblick auf die bevorstehende starke Zunahme der Zahl alter und auch lange kranker Menschen bei gleichzeitig sinkender Einbindung von Krankheits-, Alterungs- und Sterbeprozessen in soziale Gemeinschaften und der Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) der Gesellschaft, alten und kranken Personen Bereiche lebenswerter sozialer Teilhabe zu gewähren, wird die praktische Bedeutung des Problems mit Sicherheit weiter zunehmen. Zugleich sinkt, nicht zuletzt auch gerade wegen dieser Entwicklung, die Bereitschaft, das eigene Sterben unter dem Blickwinkel überindividueller Notwendigkeiten, Pflichtenstellungen und Schicksalsgemeinschaften zu sehen; zeitlebens zu größtmöglicher Individualisierung erzogene, gebildete und selbstbewusste Menschen werden es vermutlich viel weniger als frühere Generationen akzeptieren, dass ihnen am Lebensende ein Recht auf autonome Entscheidungen unter Hinweis auf „übergeordnete“, symbolische Notwendigkeiten vorenthalten wird.

V. Selbstbestimmung und Rechtsgutsschutz Es wird sich daher auch aus diesen Gründen die Frage nach der Legitimation des (scheinbar einschränkungslosen) Tötungsverbots des § 216 StGB weiter und drängender stellen. Diese Erkenntnis ist auch bei Ärzten heute weit verbreitet; die Schlussfolgerungen sind hoch streitig.89 Wenn man bedenkt, dass einerseits die dogmatisch-konstruktiven Grenzen, zuletzt auch durch die Entscheidung vom 25.6.2010, sehr durchlässig und in ihrer Abgrenzungsfunktion fragwürdig geworden sind90, dass andererseits eine Aus89

Vgl. die Ergebnisse der Repräsentativbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach: „Ärztlich begleiteter Suizid und aktive Sterbehilfe aus Sicht der deutschen Ärzteschaft“, Juli 2010. Danach sind 34 % (!) der Ärzte schon um Hilfe beim Suizid gebeten worden; 30 % befürworten eine gesetzliche Regelung, die dies ausdrücklich erlaubt; 17 % befürworten eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe (Gesamtbevölkerung: 58 %). Zur Einschätzung in der Schweiz vgl. Schwarzenegger Was die Schweizer Bevölkerung von Strebehilfe und Suizidbeihilfe hält (Manuskript abrufbar unter www.rewi.uhz.ch/schwarzenegger). 90 Vgl. auch – kritisch – Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 547, 556 ff.

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richtung an überindividuellen Rechtsgütern, welche die Person gerade in ihrer existenziellsten Entscheidung zum Objekt generalpräventivfunktionaler Vorsorge macht, auf Dauer nicht (länger) akzeptiert wird, so bleiben als legitimierende Gesichtspunkte nur noch die Argumente der Missbrauchsmöglichkeit, der Abwehr von „Dammbrüchen“ und der Beweisbarkeit der Verantwortlichkeit von „Verlangens“-Entscheidungen.91 Es ist freilich rational nicht ohne weiteres verständlich, warum bei der Sterbehilfe die Gefahr von „Missbräuchen“ oder fehlerhaften Feststellungen existenziell wichtiger Willensentscheidungen höher sein sollte als in zahlreichen anderen Rechtsbereichen, in denen solche – in Einzelfällen unvermeidliche – Gefahren akzeptiert werden.92 Diese müssen vor allem auch vor dem Hintergrund einer sehr hohen Anzahl von (oft überaus „unwürdigen“) Suiziden93 gesehen werden. Ein vermutlich erheblicher Anteil der Betroffenen könnte einer ärztlichen Behandlung (etwa: zugrunde liegender depressiver Erkrankungen) zugänglich sein. Die gelegentlich behauptete Gefahr, es könnte sich eine nennenswerte Anzahl von Personen zum („assistierten“) Suizid oder zur „aktiven“ Sterbehilfe gedrängt sehen, weil sie dem Gesundheitssystem, der Allgemeinheit oder Angehörigen nicht zur Last fallen wollen, erscheint nicht sehr nahe liegend; im Übrigen richtet sich das Argument im Wesentlichen gegen die Strukturen, die solche Gefahren hervorbringen, und damit gegen das bestehende Betreuungssystem. Es könnte deshalb sinnvoll und weiterführend sein, die Grenzbestimmung zwischen Selbstbestimmung über das eigene Lebensende und Totschlag unter dem Gesichtspunkt der Sterbehilfe weiter zu diskutieren, den auch der 2. Strafsenat in der Entscheidung vom 25.6.2010 als zentrale Abgrenzungslinie bezeichnet hat.94 Wenn dies gelänge, wäre eine Öffnung für Abwägungen im Sinne von § 34 StGB hier nicht ferner liegend als bei der „indirekten“ oder der (durch aktives Tun ausgeführten) bisher so genannten

91 „Dammbruch“-Argument ausdrücklich auch wieder bei Duttge MedR 2011, 36, 37. Auch gegen die Entscheidung vom 25.6.2010 wird in der öffentlichen Berichterstattung zunächst allein die Befürchtung vorgebracht, die Einwilligung der Patientin sei tatsächlich gar nicht gegeben oder nicht hinreichend festgestellt worden (vgl. z. B. auch Pressemitteilung der Deutschen Hospiz-Stiftung vom 25.6.2010). 92 Zu den Anforderungen an die Feststellung des Patientenwillens ausführlich auch BGH, Beschluss vom 10.11.2010 – 2 StR 320/10. Zutr. kritisch gegen das „Dammbruch“-Argument Merkel FS Schroeder, 2006, 297, 321. Zur schweizerischen Diskussion vgl. auch Schwarzenegger Selbstsüchtige Beweggründe bei der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115 StGB), in: Petermann (Hrsg.), Sicherheitsfragen der Sterbehilfe, 2008, 81, 96 ff. 93 Jährlich knapp 10.000 erfolgreiche Suizide in Deutschland (1980 noch 18.000); sinkende Tendenz; hohe Dunkelziffer (vorgetäuschte Unfälle). 94 2 StR 454/09, Rn. 33 f.

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„passiven“ Sterbehilfe.95 Hiergegen kann nicht eingewandt werden, es ließen sich keine hinreichend objektivierbaren Kriterien für die Feststellung einer Lage finden, welche als solche der Sterbehilfe zu identifizieren ist.96 Denn dieses Bedenken trifft notwendig jede Form der (zulässigen) Sterbehilfe. Eine weitere „Privatisierung“ des Lebensschutzes im Sinne einer Individualisierung der existenziellen Entscheidungen und der rechtlichen Anerkennung dieser personalen Autonomie wird sich weder mit überindividuellen „Menschenwürde“-Argumenten noch mit generalpräventiven Erwägungen aufhalten lassen. Von einem klaren, an der Lebenswirklichkeit orientierten Blick auf die rechtlichen Probleme und der Überwindung tabuisierender begrifflicher Verdrehungen kann die Diskussion nur profitieren. Claus Roxin hat uns dies beispielhaft vorgelebt. Ich wünsche ihm alles Gute zum 80. Geburtstag – und uns noch viele seiner Anregungen!

95 Für eine Öffnung der aktiven Sterbehilfe für Rechtfertigungen nach § 34 StGB z. B. Merkel FS Schroeder, 2006, 297, 320 f; vgl. auch Herzberg NJW 1986, 1639 ff; NK-Neumann vor § 211 Rn. 127 ff; ders. FS Herzberg, 2008, 575 ff. 96 Vgl. auch Roxin FS Jakobs, 2007, 571, 576 f (zu Kriterien der Vernünftigkeit von SterbeEntscheidungen).

Aktive Sterbehilfe1 HENNING ROSENAU

Aktive Sterbehilfe wird weitgehend tabuisiert.2 Sie soll nicht stattfinden. Es wird in sehr geraffter Form zu zeigen sein, dass bereits heute Formen aktiver Sterbehilfe rechtlich anerkannt sind und es darüber hinaus sinnvoll erscheint, den erlaubten Bereich der aktiven Sterbehilfe auszuweiten.

I. Aktive Sterbehilfe im Kontext anerkannter Sterbehilfeformen Klassischerweise werden die drei Formen der indirekten, passiven sowie der aktiven Sterbehilfe unterschieden. Daneben spielt die Kategorie der Suizidbeihilfe eine Rolle. Es zeigt sich, dass die Rechtslage von Abgrenzungsproblemen und Wertungswidersprüchen gekennzeichnet ist und einer Revision bedarf.

1. Indirekte Sterbehilfe Die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe ist in Deutschland schon seit längerem unbestritten.3 Von indirekter Sterbehilfe wird gesprochen, wenn die Linderung von Schmerzen so im Vordergrund steht, dass eine unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf. Der Arzt muss folglich nicht mit Bestrafung rechnen, wenn er einem im Sterben liegenden Patienten, der von Schmerzen und Unruhezuständen gequält ist, hoch dosierte Schmerzmittel verabreicht und dabei in Kauf nimmt oder sicher voraussieht, dass als Nebenfolge ein früherer Tod eintritt.4 Hingegen wird 1 Aktualisierte, dem begrenzten Rahmen eines Festschriftenbeitrages angepasste Fassung meiner Antrittsvorlesung vor der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg vom 1.6.2007. 2 Vgl. für die Sterbehilfe insgesamt Kubiciel JZ 2009, 601; Kusch NJW 2006, 261. 3 Als „letzter Mohikaner“ (vgl. Der letzte Mohikaner, leider nicht von Karl May, sondern von James Fenimore Cooper, 1826) hat nun auch Gössel seine abweichende Ansicht aufgegeben, Gössel/Dölling BT I S. 32. 4 BGHSt 42, 301 (305); 46, 279 (285). Neuerdings wird von ärztlicher Seite die Relevanz der indirekten Sterbehilfe bestritten (vgl. Oduncu MedR 2005, 518; Beckmann DRiZ 2005, 253 f). Wissenschaftliche Daten der palliativmedizinischen Forschung zeigten, dass Opioide

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nach § 216 StGB wegen Tötung auf Verlangen bestraft, wer einem Todkranken, der im Sterben liegt, auf dessen „ausdrückliches und ernstliches“ Verlangen gezielt eine tödliche Dosis an Schmerz- oder Beruhigungsmitteln injiziert, also mit Absicht den Tod herbeiführt. Das wird als Fall der aktiven (direkten) Sterbehilfe eingeordnet. Die Differenzierung will nicht ganz einleuchten, geht es doch in beiden Fällen darum, dass der Arzt den Tod eines Patienten aktiv und vorsätzlich beschleunigt, also sehenden Auges herbeiführt. Für die h. M. entscheidet sich die Abgrenzung auf der Ebene des Vorsatzes. Steht die Schmerzlinderung im Fokus und ist die Beschleunigung des Todeseintrittes unbeabsichtigte Nebenfolge, die entweder in Kauf genommen wird – dann handelt der Arzt mit dolus eventualis – oder von der er sicher ausgeht – dann handelt er mit dolus directus 2. Grades –, soll bloß eine indirekte Sterbehilfe vorliegen. Beabsichtigt der Arzt dagegen den Tod, handelt er mit dolus directus 1. Grades. Der Tod wird zur Hauptfolge. Dann liegt eine aktive Sterbehilfe vor.5 Dieses Postulat der h. M. überzeugt schon aus schlicht strafrechtsdogmatischen Gründen wenig. Denn es gilt der Grundsatz, dass alle drei Vorsatzformen gleich zu behandeln sind.6 Die Tötungstatbestände der §§ 212 ff. StGB enthalten insoweit auch keinerlei Sonderregelungen zur subjektiven Tatseite. Damit erweist sich die indirekte Sterbehilfe als ein bestimmter Unterfall aktiver Sterbehilfe.7

2. Passive Sterbehilfe Die passive Sterbehilfe ist in Deutschland als rechtlich zulässige Begrenzung der medizinischen Behandlung anerkannt, unter bestimmten Umständen sogar geboten. Sie kommt zum einen in der letzten Lebensphase beim Sterben zum Tragen, wenn das Grundleiden des Patienten nicht mehr kurativ behandelt werden kann und unumkehrbar einen tödlichen Verlauf angenommen hat, so dass in kurzer Zeit der Tod eintreten wird. Man spricht von der Hilfe beim Sterben. In diesem Fall ist eine ärztliche Behandlung nicht

und andere Schmerzmittel die Sterbephase nicht verkürzen, sondern sogar leicht verlängern. Indes heißt es, dass es die indirekte Sterbehilfe bei korrekter Medikamentenanwendung so gut wie gar nicht gebe. Es gibt sie folglich. In der Tat herrscht unter den Palliativmedizinern selbst keine Einigkeit. Nicht in allen Fällen, etwa bei Lungenkrebs, sei eine wirksame Schmerztherapie gegen die Vernichtungsschmerzen möglich, vgl. Schöch/Verrel GA 2005, 574; Wolfslast FS Schreiber, 2003, 918. 5 Duttge GA 2005, 578 f. 6 Merkel FS Schroeder, 2006, 314. 7 MüKo-Schneider Vor § 211 Rn. 91; Birnbacher Tun und Unterlassen, 1995, S. 345.

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mehr indiziert, der Sterbende hat damit auch keinen Anspruch mehr auf den Einsatz aller technisch möglichen Maßnahmen zur Lebensverlängerung. Passive Sterbehilfe ist darüber hinaus von der Rechtsprechung auch als Hilfe zum Sterben anerkannt, wenn die Krankheit einen unheilbaren Verlauf genommen hat, und zwar auch schon dann, wenn etwa der komatöse Patient noch längere Zeit mit Hilfe der Apparaturen am Leben gehalten werden könnte. In diesen Fällen können lebensverlängernde, insbesondere intensivmedizinische Maßnahmen unterbleiben. Was bereits eingeleitet wurde, wie die künstliche Beatmung, kann abgebrochen werden. Der Begriff der Passivität ist problematisch. Er ist es in zweierlei Hinsicht. Zum einen darf dem sterbenden Patienten nicht jegliche Behandlung vorenthalten bleiben. Dieser darf im Sterben nicht allein gelassen werden. Die unverzichtbare Basisversorgung ist zu gewährleisten.8 Es geht, so formulieren es die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung, um die Änderung des Behandlungszieles. An die Stelle von lebenserhaltenden Maßnahmen treten dann palliativ-medizinische Versorgung einschließlich Maßnahmen der Pflege.9 Zum zweiten ist höchst fraglich, ob die passive Sterbehilfe derart passiv ist, wie sie vorgibt. Das juristische Problem zeigt sich, wenn das laufende Beatmungsgerät per Knopfdruck abgeschaltet wird. Vielen in der Medizin Tätigen ist kaum vermittelbar, dass das Abschalten des Beatmungsgerätes keine gezielte Tötung sein soll. Verbreitet herrscht die Vorstellung, dass passive Sterbehilfe auf bloßes Unterlassen einer Behandlung, nicht aber auf deren aktive Beendigung gerichtet sein kann. Das hat in der Praxis zu einer nicht gebotenen Zurückhaltung bei der Gewährung passiver Sterbehilfe geführt.10 Die h. M. folgt hier Roxin11 und qualifiziert diese Situation als ein Unterlassen durch Tun;12 denn nur so lässt sich die Tat als Tötung durch Unterlassen begreifen. Da das Unterlassen aber nur bei einer Garantenpflicht strafbar ist, welche den Arzt bei entgegenstehendem Willen des Patienten oder auch in ausweglosen Situationen gerade nicht mehr trifft,13 bleibt die8

Schreiber NStZ 2006, 474; Hahne FamRZ 2003, 1621. DÄBl. 2011, A 346 (347). 10 Wolfslast FS Schreiber, 2003, 914. 11 Roxin FS Engisch, 1969, 396; ders. in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 95. Für den zuständigen Arzt, nicht aber auch für Dritte ebenso Frister FS Samson, 2010, 27 f. 12 BGHSt 6, 46 (59); Heinrich AT II Rn. 871 f; Wessels/Beulke AT Rn. 703 f; Schneider Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1998, S. 176 f; Schork Ärztliche Sterbehilfe und die Bedeutung des Patientenwillens 2008, S. 71; Streng ZStW 122 (2010), 14. 13 BGHSt 32, 367 (377); Trück Mutmaßliche Einwilligung und passive Sterbehilfe durch den Arzt, 2000, S. 69; andere verneinen die Garantenstellung, Duttge Der Preis der Freiheit, 2. 9

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ser straflos, und zwar ohne dass der Begriff der aktiven Sterbehilfe fallen muss. Diese Lösung stellt einen Griff in die dogmatische Trickkiste dar.14 Der Begriff der passiven Sterbehilfe ist ein reiner Euphemismus. Das Abschalten einer Herz-Lungen-Maschine verlangt nicht weniger Aktivität als das Injizieren eines Giftes.15 Versteht man dagegen das Abschalten des Respirators phänomenologisch als das, was es ist, nämlich positives Tun,16 kommt man nicht darum herum, vorliegend eine aktive Sterbehilfe anzunehmen. Die Umdeutungen der h.M. stehen mit den Realien des Lebens in unauflösbarem Widerspruch. Auch der BGH sieht darin nun einen unzulässigen „Kunstgriff“.17 Die Strafrechtsdogmatik kann nicht aus einer Handlung eine Nicht-Handlung machen.18 Zugleich besteht Einigkeit, dass diese Fälle unter keinen Umständen zu bestrafen sind. Denn es kann keinen rechtlichen Unterschied machen, auf welche Art und Weise eine zulässige Behandlungseinstellung vorgenommen wird: indem man diese erst gar nicht aufnimmt oder indem man diese abbricht. Das zeigt auch der neu gefasste § 1904 Abs. 2 BGB, der die anfängliche Nichteinwilligung in eine Behandlung dem Widerruf gleichstellt, was mit der Nichtvornahme der Behandlung und deren Abbruch korrespondiert. Der Begriff der passiven Sterbehilfe ist daher ad acta zu legen.19 Es geht um einen Behandlungsabbruch, der passiv, aber auch aktiv sein kann. Im grundlegenden Fall Putz war es die Betreuerin, die den Ernährungsschlauch durchtrennt und damit in einen fremden rettenden Kausalverlauf eingegriffen hatte, somit nach ganz überwiegender Ansicht aktiv handelte,20 infolgedessen aktive Sterbehilfe geleistet hatte, aber trotzdem und völlig zu Recht freigesprochen wurde.21 Für den BGH ist der Behandlungsabbruch dann straflos, wenn aufgrund des Patientenwillens ein medizinisches Handeln beendet bzw. reduziert wird. Aus der normativ-wertenden Qualifikation als Behandlungsabbruch ergebe sich ein strafrechtlich legitimierender Sinn.22

Aufl. 2006, S. 93 f; Rieger Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch, 1998, S. 53. 14 Wie hier Gropp GS Schlüchter, 182; Verrel Gutachten C zum 66. DJT, 2006, S. C 26; Fischer Vor § 211 Rn. 20; kritisch auch Hirsch FS Lackner, 1987, 605. 15 Jakobs Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 27. 16 Was Roxin einräumt, NStZ 1987, 349. 17 BGH NJW 2010, 2967. 18 Mitsch in: Baumann/Weber/Mitsch AT § 15 Rn. 33. 19 Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 562; Verrel NStZ 2010, 673. 20 Vgl. SSW-StGB/Kudlich § 13 Rn. 7; Schönke/Schröder-Stree/Bosch Vor §§ 13 ff Rn. 159. 21 Und zwar ohne, dass es auf einen Erlaubnisirrtum in ihrer Person ankäme. 22 BGH NJW 2010, 2967.

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3. Beihilfe zum Suizid Die dritte Ungereimtheit findet sich, wenn die Straflosigkeit der Suizidbeihilfe der Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe gegenübergestellt wird. In Deutschland gilt der Grundsatz: keine Teilnahme ohne Haupttat. Da der Suizid straflos ist, hat das auch die Straflosigkeit einer Beihilfe zum Suizid zur Folge. Wird die Selbsttötung von einer verantwortlichen Person vollzogen, so wird nicht bestraft, wer dem Lebensmüden ein Gift besorgt und ihm reicht, das dieser dann selbst injiziert. Auf den Grund für die Selbsttötung kommt es nicht an, es geht der dümmste Grund durch, wie ein einigermaßen durchschnittlicher Liebeskummer.23 Dagegen ist Täter einer Tötung auf Verlangen, wer auf den dringenden Wunsch aufgrund sehr plausibler und jedem Vernünftigen einleuchtender Motive des (vielleicht nicht handlungsfähigen) Lebensmüden für diesen die Injektion vornimmt. Nicht zu Unrecht fragt Jakobs, weshalb das Strafrecht auf eine derart minimale und dazu prima facie äußerlich anmutende Differenz abstellt.24 Die Verwirrung wird noch größer, weil die Rechtsprechung auch beim freiverantwortlichen Suizid eine Rettungspflicht konstruiert und damit die Straffreistellung der Teilnahme am Suizid konterkariert. Hat der Lebensmüde das Bewusstsein verloren und kann er das Geschehen nicht mehr steuern, wechselt die Tatherrschaft zum noch anwesenden Arzt. Dieser sei als Garant sodann verpflichtet, alles Mögliche zu unternehmen, um den Patienten nunmehr zu retten. Die Rechtsprechung führt zur Groteske, dass es dem Gehilfen zunächst gestattet ist, dem Selbsttötungswilligen das tödliche Mittel zu besorgen, um nach Eintritt der Bewusstlosigkeit sogleich zur Rettung des Lebensmüden verpflichtet zu sein.25 Dann kann das Ganze wieder von vorne losgehen. Um nicht wegen strafbarer Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) belangt zu werden, haben die Ärzte den Lebensmüden tunlichst allein im Sterben zu lassen. Oder sie verwenden Zyankali, das zwar zu einem schrecklichen Tod führt, Rettungsmöglichkeiten aber abschneidet.26 Diese Judikatur ist dringend revisionsbedürftig.27 Warum ist die Suizidbeihilfe straflos, nicht aber die Tötung auf Verlangen? Es ließe sich argumentieren, dass es einen Unterschied mache, ob man das eigene oder ein fremdes Leben auslösche. Indes wird bei der Beihilfe zum Suizid der Lebensmüde gerade nicht allein tätig. Es handelt sich um einen Akt, an dem zwei Personen beteiligt sind – wie bei der Tötung auf 23

Treffend Jakobs (Fn. 15) S. 14. Jakobs (Fn. 15) S. 4. 25 BGHSt 32, 367 (376). 26 Vgl. den Fall Hackethal, OLG München NJW 1987, 2942 f. 27 Zutreffend Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 108; v. Heintschel-Heinegg-Eschelbach § 216 Rn. 5; Dölling FS Maiwald, 2010, 123. 24

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Verlangen. Und es findet sich eine weitere Übereinstimmung: auch bei der Tötung auf Verlangen wird der Zweck vom Lebensmüden vorgegeben. Es bleibt nur die Unterscheidung von eigenhändiger und arbeitsteiliger Zweckverfolgung. Das ist aber sonst kein Kriterium, mit dem die Strafbarkeit steht und fällt, auch nicht bei höchstpersönlichen Rechtsgütern. Niemand käme auf die Idee, bei der Operation zu verlangen, dass diese eigenhändig vom Patienten vorgenommen wird. Die Arbeitsteilung macht entsprechend eine Selbstverletzung nicht zum Unrecht. Aktive Sterbehilfe stellt sich der Sache nach als eigenhändige Selbsttötung dar – mit Hilfe eines anderen.28 Zwar wird einzuwenden sein, dass der Patient mit Sterbewunsch die letzte Kontrolle über das Geschehen aus der Hand gibt und das Bild dem einer Fremdtötung gleicht. Das erscheint aber zweifelhaft. Derjenige Sterbenskranke, der wegen unerträglicher Schmerzen sich in erlaubter indirekter Sterbehilfe ein hochdosiertes und potentiell tödlich wirkendes Schmerzmittel verabreichen lässt, hat eher geringere Kontrolle als der einsichtsfähige Sterbewillige, der seinen Tod organisiert und sich im Wege aktiver Sterbehilfe das tödliche Mittel einflößen lässt.

II. Straflosigkeit von Sterbehilfe 1. Tatbestandslösungen Es finden sich verschiedene Ansätze, um die Straflosigkeit der anerkannten Sterbehilfeformen zu rechtfertigen. Diskutiert wird dies insbesondere im Rahmen der indirekten Sterbehilfe. Manche behaupten, schon der Tatbestand des § 216 sei nicht einschlägig.29 Es liege ein Fall des erlaubten Risikos vor,30 was deswegen nicht zu überzeugen vermag, weil die Behandlung über bloße Risiken hinausreicht. Da der beschleunigte Todeseintritt annähernd sicher ist, ist das ärztliche Handeln als Verletzung des Lebens einzuordnen und kann nicht mit Risikoerwägungen legitimiert werden. Andere berufen sich auf die ärztliche lex artis.31 Die auch lebensverkürzende Schmerzbehandlung gehöre unbestritten zum ärztlichen Standard, wenn dies zur Linderung quälender Schmerzen erforderlich sei. Der Arzt tue nichts anderes, als eine lege artis gebotene medikamentöse Behandlung durchzuführen, für die eine Einwilligung des Patienten vorliege 28

Jakobs (Fn. 15) S. 16 ff. passim; skeptisch auch Krack KJ 1995, 60; Saliger ARSP Beiheft 75 (2000), 134 f. 29 Krey BT 1 Rn. 14. 30 LK-Jähnke Vor § 211 Rn. 16; Schönke/Schröder-Eser Vor § 211 Rn. 26, als Rechtfertigungsgrund. 31 Beckmann DRiZ 2005, 254.

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oder anzunehmen sei. Indes ist es etwas anderes, ob man in ein Oberarmhämatom nach einer Zeckenschutzimpfung einwilligt oder in seinen Tod. Vor letzterem steht gerade § 216 StGB. Vor allem aber verkennt der Ansatz, dass ein Berufsstand nur solche Regeln legitimieren kann, die auch vor den staatlichen Gesetzen Bestand haben.32 Es ist gerade der Vorzug des Rechts gegenüber medizinischer Ethik, jedenfalls das vorläufig wirklich Maßgebende zu bestimmen.33 Eine Selbstrechtfertigung der Ärzteschaft wäre nicht zulässig. Ein dritter Ansatz arbeitet mit einer Gesamtbetrachtung. Eine Handlung zum Zweck gebotener Schmerzlinderung sei ihrem sozialen Gesamtsinne nach etwas ganz anderes als eine Tötungshandlung.34 Das ist sicher richtig. Nicht zu bestreiten ist aber auch, dass eine Handlung, welche kausal und voraussehbar den Tod herbeiführt, eine Tötungshandlung darstellt.35 Es ist also nach anderen Wegen zu suchen, um zur Straflosigkeit zu gelangen. Die Überlegungen zum Handlungssinn weisen dabei in eine richtige Richtung. Es geht um eine Wertung des ärztlichen Handelns mit dem Ergebnis, dass die Sterbehilfe kein Unrecht darstellen kann. Damit verbunden ist aber „eine Wertaussage über das Stück Leben, welches dem Kranken um der Schmerzlinderung willen ... erspart bleibt“.36 Damit geht es ganz offensichtlich um eine Abwägung: Beseitigung der Qual und des Leidens bei Verkürzung des Lebens gegen Verlängerung des Lebens bei Fortdauer von Qual und Leiden.

2. Einwilligungslösung Andere argumentieren mit einer Einwilligung des Todkranken. Das grundsätzliche Problem der Einwilligungslösung ist schnell gesagt: § 216 StGB ist insofern eindeutig. Jeder Weg, der allein auf die Einwilligung des Patienten abstellt und darin einen Rechtfertigungsgrund sieht, ist rechtlich versperrt.37 Das ist angesichts des klaren Wortlauts nicht zu bezweifeln.

32

Merkel FS Schroeder, 2006, 301. Ryffel Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 321 f u. 344 ff. 34 Wessels BT I, 21. Aufl. 1997, Rn. 25. 35 MüKo-Schneider Vor § 211 Rn. 98; Merkel FS Schroeder, 2006, 302. 36 Herzberg NJW 1996, 3045. 37 Schönke/Schröder-Eser Vor §§ 211 ff, Rn. 21; Ingelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 218; LK-Hirsch 11. Aufl. 2003, Vor § 32 Rn. 115. Daher überzeugt die Lösung des BGH im Fall Putz nicht (NJW 2010, 2964), der die Sterbehilfe im Rahmen eines Behandlungsabbruchs auch bei aktivem Tun erlaubt, dies aber durch die Einwilligung gerechtfertigt sehen will; Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 558. 33

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3. Notstandslösung Mit der Überlegung, dass zwischen zwei Übeln abzuwägen ist – pointiert: Leidvermeidung gegen Lebensverlängerung – ist der dogmatisch zutreffende Weg gewiesen. Auch der BGH scheint auf § 34 StGB abzustellen: „Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“.38 Allerdings ergeben sich auch hier gewichtige Einwände. § 34 StGB hat Rechtsgutskonflikte zwischen zwei Personen im Blick.39 Es geht aber um ein- und denselben Patienten. Bei der Abwägung gegenläufiger Interessen eines Rechtsgutsinhabers ist als Spezialfall das Institut der Einwilligung heranzuziehen. Diese trägt hier aufgrund der besagten Einwilligungssperre des § 216 StGB gerade nicht. Gleichwohl lässt sich § 34 StGB in analoger Anwendung heranziehen.40 Das erweist auch das argumentum a maiore ad minus: wenn aufgrund der Regelung des § 34 StGB in das Leben zugunsten fremder Interessen eingegriffen werden kann, dann muss dies erst recht zugunsten eigener Interessen richtig sein.41 Weder der Wortlaut der Norm noch deren systematische Stellung widersprechen der Anwendbarkeit. Problematisch ist freilich, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen muss. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass das Rechtsgut „Leben“ als verfassungsrechtlicher Höchstwert bei einer Abwägung nach § 34 StGB niemals unterliegen könne.42 Allerdings wird das Problem so verkürzt. Denn es stehen nicht die Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und der Selbstbestimmung dem Rechtsgut Leben gegenüber. Vielmehr geht es bei der Abwägung um ein Sterben in Würde und damit um die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde,43 38

BGHSt 42, 301 (305). HK-GS-Duttge § 34 Rn. 9; ders. GA 2005, 614; Kindhäuser § 34 Rn. 39; Engländer GA 2010, 15; Jakobs Strafrecht AT 13/34; a. A. Kühl AT § 8 Rn. 34. 40 Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 87; Merkel ZStW 107 (1995), 570; Mosenheuer Unterlassen und Beteiligung, 2009, S. 46 f; SSW-StGB-Rosenau § 34 Rn. 15; Müller § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 202; Kühl JURA 2009, 884. 41 LK-Zieschang § 34 Rn. 59 u. 61; SSW-StGB-Rosenau § 34 Rn. 15. 42 Auch der BGH scheint dem zuzuneigen, vgl. BGH NStZ 2003, 538; NJW 2010, 2965; so auch Dreier JZ 2007, 322. 43 Dreier-Dreier Art. 1 GG Rn. 157; Maunz/Dürig-Di Fabio Art. 2 Abs. 2 GG Rn. 39; BKZippelius Art. 1 GG Rn. 96; Hufen in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, 2008, S. 91; SSW-StGB-Rosenau § 34 Rn. 21; Verrel FS Jakobs, 2007, 725; a. A. Schumann in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, 2008, S. 225; Höfling JuS 2000, 114. 39

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die verfassungssystematisch das Höchstwertprädikat – auch vor dem Lebensrecht – für sich beanspruchen kann.44 Richtig ist aber, dass trotz der Einwilligungssperre in § 216 StGB bei diesem Abwägungsprozess der geäußerte oder mutmaßliche Wille des Patienten zu berücksichtigen ist.45 Die Einwilligung ist ein gewichtiger Faktor bei der Rechtsgüterabwägung zugunsten eines selbstbestimmten Sterbens in Würde. Roxin hat Recht, wenn er das Ergebnis der Abwägung nach dem Willen des Patienten bestimmen will.46 Denn die Sterbehilfe findet den tieferen Grund ihrer Zulässigkeit in der Autonomie des Patienten.47 Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen umfasst das Verfügungsrecht über den eigenen Körper, schließt aber auch die Selbstbestimmung über den eigenen Tod mit ein.48 Mit dem PatVG49 hat der Gesetzgeber diese Autonomie in § 1901a BGB ausdrücklich anerkannt, und zwar ohne jede Reichweitenbeschränkung etwa auf irreversible tödliche Krankheitsverläufe.50 Damit sind für die Rechtfertigung der Sterbehilfe neben der Normstruktur des rechtfertigenden Notstandes auch Einwilligung bzw. mutmaßliche Einwilligung (§ 1901a Abs. 2 BGB) heranzuziehen.

III. Zwischenergebnis Es hat sich gezeigt, dass die Trennung der erlaubten Sterbehilfeformen von der strafbaren Tötung auf Verlangen dogmatisch in hohem Maße zweifelhaft ist. Wir finden darunter Fälle aktiver Sterbehilfe, die mit einem anderen Etikett versehen werden, damit das Tabu hochgehalten werden kann, dass Deutschland die aktive Sterbehilfe bestraft.51 Der bahnbrechende Urteilsspruch im Fall Putz52 hat diese schön zurechtgeputzte Welt erschüttert, indem er in Teilbereichen Formen aktiver Sterbehilfe für zulässig erklärt 44 Vgl. auch Hufen NJW 2001, 855 f, ders. in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, 2008, S. 91. Die Gleichrangigkeit der verschiedenen Wertaspekte (so Duttge GA 2005, 574) gilt nur in der Ethik und nicht im Recht, worin sich dessen Vorzug gerade zeigt. 45 Schöch/Verrel GA 2005, 574. 46 Vgl. Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 88; ders. NStZ 1987, 349. 47 Saliger KritV 2002, 421. 48 Schroth GA 2006, 561. Es folgt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der allgemeinen Handlungsfreiheit; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann Art. 2 GG Rn. 23; SchweizerBG ZfL 2007, 25 zu Art. 8 Nr. 1 EMRK. 49 Patientenverfügungsgesetz vom 29.7.2009, in Kraft seit dem 1.9.2009, BGBl. I, 2286 f. 50 § 1901a Abs. 3 BGB. Zu dieser Debatte s. Hörr Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, Diss. Augsburg 2011, § 7 A II 1. 51 Frister FS Samson, 2010, 20; Merkel (Fn. 6) S. 314 f; Fischer Vor § 211 Rn. 18a. 52 BGH NJW 2010, 2963 ff.

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hat.53 Daher stellt sich die Frage, ob über die tradierten Kategorien der straffreien Sterbehilfe hinaus auch Fälle anzuerkennen sind, die nach derzeitigem Verständnis dem Bereich verbotener aktiver Sterbehilfe zuzuordnen wären.

IV. Rechtspolitik und aktive Sterbehilfe 1. Die Diskussion in Deutschland Die Frage ist auch in Deutschland von hoher Aktualität. Das Verbot der aktiven Sterbehilfe ist wieder in die Diskussion geraten. Hervorzuheben ist der Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz,54 der eine alte Forderung des Alternativkreises deutschsprachiger Strafrechtslehrer aus dem Jahre 1986 aufnimmt, wonach von Strafe abgesehen werden kann, wenn die Tötung der Beendigung eines schwersten, vom Betroffenen nicht zu ertragenden und nicht anders abwendbaren Leidenszustandes dient.55

2. Die Zulassung der aktiven Sterbehilfe in den Benelux-Staaten Zumindest in unseren Nachbarländern Belgien, Luxemburg und den Niederlanden ist man einen Schritt weiter. Dort finden sich weltweit einzigartige Gesetze, die die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Voraussetzungen straffrei stellen. In den Niederlanden ist nach 30jähriger Diskussion durch Gesetz vom 1.4.2002 eine bereits geübte Praxis der aktiven Sterbehilfe normiert worden. Eine ganz ähnliche Regelung findet sich in Belgien und seit 2008 im Großherzogtum Luxemburg56. Art. 293 nlStGB lässt die Tötung auf Verlangen zwar weiterhin strafbar sein. Nach Art. 293 Abs. 2 nlStGB ist die Strafbarkeit aber ausgeschlossen, wenn sie von einem Arzt vorgenommen worden ist, der dabei bestimmte Sorgfaltskriterien erfüllen muss. Der Arzt muss zur Überzeugung gelangt sein, dass der Patient freiwillig und nach reiflicher Überlegung um Sterbehilfe gebeten hat. Der Patient muss sich in einem aussichtslosen und unerträglichen Zustand befinden, aus dem heraus es keine andere angemessene Lösung gibt. Mindestens ein anderer unabhängiger Arzt muss hinzugezogen werden, den Patienten gesehen und ein schriftliches Urteil abgegeben ha53

Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 548; zutreffend Gaede NJW 2010, 2928. Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Bericht vom 23.4.2004, dort S. 70 ff. 55 Baumann et al. (Hrsg.) AE-Sterbehilfe, 1986, S. 12. 56 Loi du 16 mars 2009 sur l’euthanasie et l’assistance au suicide, ABl. 2009, S. 615 ff. 54

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ben. Ein ausführliches Formular über die Sorgfaltskriterien ist zu erstellen. Ein Leichenbeschauer hat ggf. die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Eine Kontrollkommission wird informiert und hat im Nachhinein alle Fälle aktiver ärztlicher Tötung zu überprüfen. Die Gesetze akzeptieren die Konfliktsituation, in die ein Arzt unter dem Eindruck des Zustandes seines Patienten und der an ihn herangetragenen Bitte um Sterbehilfe geraten kann.

3. Hintergründe und Folgerungen für die deutsche Diskussion Damit drängt sich die Frage auf, ob in Deutschland ein Bedürfnis nach aktiver Sterbehilfe nicht besteht. Das wäre freilich eine Illusion. Aktive Sterbehilfe findet statt. Sie ist – geleugnete – Realität auch in Deutschland.57 Auch hier leisten Ärzte aktive Sterbehilfe, auch wenn die Bundesärztekammer dies als unärztlich brandmarkt. Genannt werden aufgrund kleinerer Befragungen Ziffern von 8 bis 11 % der niedergelassenen Ärzte und 1 bis 6 % der klinisch tätigen Ärzte.58 Nach außen dringt die Praxis kaum. Manches wird unter dem Deckmantel indirekter Sterbehilfe vollzogen. Gelegentlich finden sich anonyme Berichte. So der einer 89jährigen Frau nach schwerer Hirnblutung, die einer Operation nicht zugänglich ist. Diese wird intensivmedizinisch behandelt, obwohl keine Aussicht auf Besserung besteht. Man glaubt irrig, dazu verpflichtet zu sein, hält es aber für wünschenswert, die Frau sterben zu lassen. Man verfährt so, dass die Patientin warm zugedeckt wird. Denn bei schweren Hirnschädigungen entgleist früher oder später die körpereigene Regulierung der Temperatur. So kann das Fieber steigen und die Patientin sterben.59

3. Argumente gegen die Zulassung aktiver Sterbehilfe In diesem Rahmen können nur die wesentlichen Argumente angesprochen werden, die gegen die Regelung der Benelux-Staaten vorgebracht werden.

a) Missbrauchsgefahren Befürchtet wird eine Aufweichung des Lebensschutzes. Die Möglichkeit der Fremdtötung auf Verlangen berge ein erhebliches Missbrauchspotenti-

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Vgl. Birnbacher (Fn. 7) S. 347 f. Das korrespondiert mit einer stabilen Mehrheit, die auch für die aktive Sterbehilfe eintritt; Fischer Recht auf Sterben?! 2004, S. 237. 58 Wolfslast FS Schreiber, 2003, 915; vgl. auch Janes/Schick NStZ 2006, 485. 59 N.N. Ethik Med 2006, 251 f; dazu Merkel Ethik Med 2006, 256 ff.

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al.60 Auf den Kranken laste ein hoher Erwartungsdruck der Angehörigen, beizeiten die Frage nach der Sterbehilfe zu stellen, auch um nicht zur Last zu fallen.61 Hinzu trete der Kostendruck, weil 30% aller Gesundheitskosten in den letzten 30 Lebenstagen anfallen.62 Damit entstehen Gefahren für krankes und schwer geschädigtes Leben. Kolportiert wird, dass sich nach Erlass der holländischen Regelung die Altersheime am deutschen Niederrhein besonderen Zuspruchs erfreuten.63 Allerdings trägt diese Befürchtung kein Verdikt gegen die aktive Sterbehilfe holländischen Zuschnitts.64 Denn die Argumentation gilt in gleichem Maße auch für die akzeptierten Fälle der passiven Sterbehilfe. Vermutlich ist die Gefahr des Druckes sogar höher, weil schriftlich verfasste Patientenverfügungen nun als verbindlich anzusehen sind. Der Arzt aber, an den die Bitte um aktive Sterbehilfe herangetragen wird, kann sich leichter einen Eindruck vom Zustand des Patienten und der Ernsthaftigkeit von dessen Verlangen machen als wenn er nur eine schriftliche Erklärung eines bewusstlosen Patienten zur Hand hat.65

b) Relativierung des Lebensschutzes Es wird befürchtet, dass der Schutz des Lebens nivelliert werde, weil die Tötung moribunder oder leidender Menschen gesellschaftlich als Normalität erscheinen müsse.66 Das Leben, so ist zu hören, ist aber ein absoluter Wert. Das ist schon allein deshalb verfehlt, weil die Rechtsordnung beachtliche Durchbrechungen kennt, wie die Tötung eines Angreifers in Notwehr oder im Kriegsfall. Allerdings gilt umgekehrt, dass aus dem Lebensrecht nicht auch negativ ein Recht herzuleiten ist, zu sterben. Diese Frage hatte der EGMR im Fall Diane Pretty zu beantworten. Der EGMR hat diese Frage verneint. Ein Recht, mit Assistenz zu sterben, sei Art. 2 Abs. 1 EGMR nicht zu entnehmen.67 Zu beachten ist, dass damit keine Erklärung abgegeben wurde, ob die Straflosigkeit der Suizidbeihilfe wie in Deutschland oder die Straffrei60

Dölling FS Laufs, 2006, 775 f. Schreiber in: Schreiber et al. (Hrsg.), Recht und Ethik im Zeitalter der Gentechnik, 2004, S. 298; zugleich in FS Rudolphi, 2004, 543 ff. 62 Höfling JuS 2000, 117; ansatzweise auch Roxin FS Jakobs, 2007, 579. 63 Schreiber in: Schreiber et al. (Hrsg.), Recht und Ethik im Zeitalter der Gentechnik, 2004, S. 297 f. 64 Kämpfer Die Selbstbestimmung Sterbewilliger, 2005, S. 354; Witteck KritV 2003, 185. 65 Wolfslast FS Schreiber, 2003, 916 f. 66 Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 116 f. 67 EGMR, Pretty/Vereinigtes Königreich, NJW 2002, 2852. Entsprechend BGH NStZ 2003, 538. 61

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stellung der aktiven Sterbehilfe wie in den Benelux-Staaten konventionswidrig wäre. Es besteht lediglich keine staatliche Verpflichtung, derartiges zuzulassen.

c) Ausweitungstendenzen und Dammbruchgefahr Mit der generellen Zulassung aktiver Sterbehilfe werden Ausdehnungstendenzen befürchtet,68 die in den Niederlanden bereits sichtbar geworden seien.69 Die Frage der Abgrenzbarkeit hoffnungsloser Zustände von anderen sei schwierig und führe tendenziell zur Ausweitung der Fälle. Z. T. wird behauptet, dass die Praxis der Sterbehilfe einer staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen sei. Andere bezweifeln diesen Befund und verweisen auf seriöse Publikationen aus Holland, die das Gegenteil belegten.70 Positiv wird gesehen, dass die Transparenz in Bezug auf Entscheidungen über die Lebensbeendigung erhöht wurde. Aktuell gehen die Meldeziffern zurück. Angenommen wird, dass sich der Ausbau palliativer Versorgung ausgewirkt hat. In den Niederlanden sind im Jahr 2006 2300 Sterbehilfe-Fälle gemeldet worden. Die Zahl in Belgien liegt mit 428 Fällen deutlich niedriger.71 Es ist schwer, die differierenden Befunde seriös einzuordnen; denn belastbare Dunkelfelduntersuchungen fehlen.72 Stellung ist aber zum beliebten Argument des Dammbruches zu nehmen. Die Fremdtötung müsse ein Tabu ohne Ausnahme bleiben, weil ansonsten die Gefahr einer Ausuferung, einer Abwärtsspirale bestehe. Die Gefahr des Dammbruchs ist nicht belegt. Die Verbotsnorm der aktiven Tötung hat sicher besonderes Gewicht. Ihre Geltung wird aber durch die Ausweitung der Sterbehilfe nicht in Frage gestellt. Passive wie indirekte Sterbehilfe sowie die Suizidbeihilfe kommen aktiver Sterbehilfe nahe oder stehen ihr gleich, ohne dass das allgemeine Tötungsverbot erodiert wäre. Es spricht nichts dafür, dass dies zu erwarten wäre, wenn die aktive Sterbehilfe für seltene Fälle extremen menschlichen Leides geöffnet werden würde. Es fehlen valide Wahrscheinlichkeitsprognosen für einen Dammbruch;73 was diese Argumentationsschiene versperrt.

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Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 116 f. Schöch/Verrel GA 2005, 583; Duttge GA 2005, 576. 70 Fischer (Fn. 57) S. 357; etwa Düwell/Feikema Über die niederländische Euthanasiepolitik und -praxis, 2006. 71 DÄBl. vom 15.5.2007, aerzteblatt.de. 72 Finger MedR 2004, 381 f; Schroth GA 2005, 562 Fn. 70. 73 Saliger JRE 15 (2007), 642 u. 645 f; Herzberg NJW 1996, 3045; Merkel in: FatehMoghadam et al (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 298. 69

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V. Begrenzte Freigabe aktiver Sterbehilfe Es gibt Situationen in der Lebenswirklichkeit, in denen sich die den erlaubten Formen der Sterbehilfe zugrundeliegenden Erwägungen des Notstandes wiederfinden. Abzuwägen sind Situationen unerträglichen Leides oder unerträglicher Schmerzen gegen eine Lebensverlängerung. Das sind sicher seltene Extremfälle, die sich sinnvoll nur am Beispiel darstellen lassen. Der tragische, von Roxin einfühlsam geschilderte Ravensburger Fall wäre ein solches.74 Nun wird vorgebracht, für diese Einzelfälle bedürfe es keiner gesetzlichen Regelung. Dogmatisch wäre das nach dem hier entwickelten Ergebnis sogar zutreffend, weil mit dem Notstand nach § 34 StGB auf der Grundlage des Willens des Sterbewilligen die gezielte Tötung rechtfertigungsfähig wäre.75 Jedoch fehlt es ohne eine gesetzliche Regelung an einer realistischen Möglichkeit, diese Erkenntnisse in der Praxis zur Geltung zu bringen und das Strafrecht wieder zum „geeignete(n) Mittel(s) sozialer Reaktion“76 zu machen.77 Es erscheint wohlfeil, den Gerichten auf diesem unsicheren78 wie heillos umstrittenen Feld gerechte Einzelfallentscheidungen abzuverlangen.79 Auch ein fakultatives Absehen von Strafe reicht nicht weit genug. Nötig sind klare und vor allem berechenbare Konsequenzen.8081 Eine gesetzliche Regelung würde es auch ermöglichen, prozedurale Sicherungen vorzusehen. Die Kontrolldefizite der niederländischen Regelung82 sprechen dann allerdings dafür, Prüfkommissionen bereits vor der Vornahme der Sterbehilfe einzubeziehen.83 Das ermöglicht, die Einhaltung der materiellen Kautelen, insbesondere ein Überwiegen zugunsten eines schmerzfreien Sterbens, zu prüfen und sicherzustellen. Auf diese Weise könnte auch Befürchtungen begegnet werden, der Todeswunsch beruhe

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LG Ravensburg NStZ 1987, 229; dazu Roxin NStZ 1987, 348 ff. So auch NK-Neumann Vor § 211 Rn. 129. 76 Vgl Roxin NStZ 1987, 349 zum Ravensburger Fall. 77 In diesem Sinne auch Wessels/Hettinger BT 1 Rn. 33; Kämpfer (Fn. 64) S. 359. 78 Roxin FS 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 1993, 188. 79 So aber Schöch/Verrel GA 2005, 583. Der BGH verweist dagegen auf den Gesetzgeber, BGH NStZ 2003, 538. 80 Wolfslast FS Schreiber, 2003, 925. 81 In diesem Sinne vgl. Lindner JZ 2006, 381; Lüderssen JZ 2006, 695; Czerner Das Euthanasie-Tabu, 2004, S. 11; dagegen Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 115 f. 82 Vgl. Reuter Die gesetzliche Regelung der aktiven Sterbehilfe des Königreichs der Niederlande, 2001, S. 199 ff; Schreiber in: Schreiber et al. (Hrsg.), Recht und Ethik im Zeitalter der Gentechnik, 2004, S. 297; Saliger KritV 1992, 436. 83 NK-Neumann Vor § 211 Rn. 131; Kubiciel JZ 2009, 607. 75

Aktive Sterbehilfe

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womöglich auf defizitären, übereilten Entschlüssen.84 Man müsste dafür keineswegs verlangen, dass der Sterbewillige selbst Hand an sich legt,85 was eine beschönigende Umschreibung darstellt, weil dann regelmäßig Brutalselbstmorde von der Brücke oder vor den Zug die Folge sind. Derartige Prüfverfahren, die in der Regel von Ethikkommissionen durchgeführt werden, stellen im Medizinrecht ein inzwischen bewährtes Verfahren dar und lassen sich auch im Bereich zulässiger aktiver Sterbehilfe nutzen.

84

Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 514; Duttge GA 2005, 577; Roxin NStZ 1987, 348; Jakobs (Fn. 15) S. 23. 85 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft S. 569 f; ders. FS 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 1993, 186.

Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt JAN C. JOERDEN

Dieser Beitrag ist Claus Roxin mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 80. Geburtstag gewidmet. Der verehrte Jubilar hat in zahllosen Beiträgen neben der Entwicklung des allgemeinen Strafrechts auch die Entwicklung und Diskussion des Medizinstrafrechts maßgebend mitgeprägt; das mag zu der Hoffnung berechtigen, dass auch die vorliegende Untersuchung zu rechtsdogmatischen und rechtstheoretischen Perspektiven der neuen Rechtsprechung des BGH zur Sterbehilfe auf sein Interesse stoßen könnte.

I. In seinem neuesten Urteil zur Sterbehilfe vertritt der BGH1 die Auffassung, dass „eine Differenzierung nach aktivem und passivem Handeln nach äußerlichen Kriterien nicht geeignet ist, sachgerecht und mit dem Anspruch auf Einzelfallgerechtigkeit die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer eine Rechtfertigung des Handelns durch den auf das Unterlassen oder den Abbruch der medizinischen Behandlung gerichteten Willen des Patienten anzuerkennen ist“ (S. 18). Deshalb „müssen andere Kriterien gelten, anhand derer diese Unterscheidung vorgenommen werden kann“. „Diese ergeben sich aus den Begriffen der Sterbehilfe‘ und des Behandlungsabbruchs‘ selbst und aus der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Ordnung“ (a. a. O.). Das Ziel, das der BGH mit seiner Argumentation verfolgt, ist – zumindest auf der Basis eines korrespondierenden ethischen Standpunkts – gewiss honorig: er möchte dem Willen des (sterbenskranken) Patienten Geltung 1

Vgl. BGH 2 StR 454/ 09, Urteil vom 25.6.2010. Die im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die pdf-Datei des auf der Internetseite des BGH verfügbaren Urteils; siehe inzwischen auch BGH NJW 2010, 2963-2968 mit zustimmender Rezension von Gaede NJW 2010, 2925 ff. Nach Manuskripteinreichung sind zu dem BGH-Urteil insbesondere noch erschienen: Verrel NStZ 2010, 671 ff; Hecker JuS 2010, 1027 ff; Mandla NStZ 2010, 698 f; Bosch JA 2010, 908 ff; Hirsch JR 2011, 37 ff; Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 547 ff.

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verschaffen, und zwar auch dann, wenn durch aktives Verhalten dessen Leben beendet wird. Dem stand bisher die Vorschrift des § 216 StGB im Wege, wonach es stets rechtswidrig und strafbar war, einen Menschen zu töten, selbst dann, wenn dieser dies ausdrücklich und ernstlich verlangt hat. § 216 StGB sieht hierzu weder eine Einschränkung seines vom Tatbestand bestimmten Anwendungsbereiches noch eine Ausnahme vor. Auch kommt nach bisher überwiegender Ansicht eine Anwendung der Rechtfertigungsgründe Einwilligung2 und Notstand gem. § 34 StGB3 auf ein nach § 216 StGB verbotenes Verhalten von vornherein nicht in Betracht. Die Rechtfertigung einer Tat nach § 216 StGB durch Notwehr ist zwar rein konstruktiv denkbar4, spielt aber für die Problematik der Sterbehilfe keine Rolle. Das aber heißt: Es gibt von Gesetzes wegen keine – für die (aktive) Sterbehilfe relevante – Ausnahme zu § 216 StGB. Nun könnte man erwägen, die neu ins Gesetz aufgenommene Regelung zur Patientenverfügung gem. §§ 1901a ff BGB als einen für das Strafrecht und damit auch für § 216 StGB maßgeblichen Rechtfertigungsgrund zu halten. Die §§ 1901a ff BGB verlangen ja die Beachtung des Patientenwillens durch Betreuer und Arzt nach Maßgabe der mitgeregelten verfahrensmäßigen Voraussetzungen (vgl. insbes. §§ 1901b, c BGB). Eine solche Deutung der §§ 1901a ff BGB als strafrechtlich relevanter Rechtfertigungsgrund widerspricht indes nicht nur der erklärten Absicht des Gesetzgebers, sondern wird in dem hier in Bezug genommenen Urteil auch vom BGH explizit abgelehnt. So ergebe sich schon aus „§ 1901a BGB selbst, dass die Frage einer strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem behandelt werden kann. Wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist … eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist“5. Damit ist auch der Weg zu einer „Öffnung“ der Sperre des § 216 StGB über § 1901a BGB nicht möglich. 2

Einwilligung schon deshalb nicht, weil diese in ihren Anforderungen noch unterhalb der Schwelle ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens liegt. § 216 StGB ist gerade eine positivrechtliche Grenze für den Satz volenti non fit iniuria, ob man das nun ethisch richtig findet oder nicht. 3 So auch explizit der BGH in dem vorliegenden Urteil gegen eine Minderansicht in der Literatur; vgl. BGH (Fn. 1), S. 11 m. w. N. zur Gegenansicht. 4 Beispiel: A zwingt B mit vorgehaltener Pistole, ihn, den A, zu erschießen, was B dann auch in Todesangst tut. Wobei man schon fragen mag, ob B hier überhaupt im Sinne des § 216 StGB zu der Tat „bestimmt“ wurde und nicht vielmehr nur durch die Todesdrohung. 5 BGH (Fn. 1), S. 13 f m. w. N.

Die neue Rechtsprechung zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt

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Vor diesem Hintergrund blieb dem BGH nur noch ein rechtstechnischer Ausweg, um den Behandlungsabbruch, wie er im vorliegenden Fall dem Willen der Patientin entsprach,6 von der Strafbarkeit nach § 216 StGB freizustellen: Er musste die Vorschrift für die Fälle des Behandlungsabbruchs für von vornherein unanwendbar erklären. Dem trägt der eingangs wiedergegebene Versuch des BGH Rechnung, über die Begriffe „Sterbehilfe“ und „Behandlungsabbruch“ (beides übrigens keine gesetzlich fixierten oder definierten Begriffe) einen neuen Weg zu beschreiten. Dabei soll nach Ansicht des BGH „der Begriff der Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch voraus[setzen], dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist“. „Nur in diesem engen Zusammenhang“ habe „der Begriff der Sterbehilfe‘ einen systematischen und“ – man beachte den Argumentationssprung – „strafrechtlich legitimierenden Sinn“. Demgegenüber seien „vorsätzliche lebensbeendende Handlungen, die außerhalb eines solchen Zusammenhangs mit einer medizinischen Behandlung einer Erkrankung vorgenommen werden, … einer Rechtfertigung durch Einwilligung dagegen von vornherein nicht zugänglich.“ Dies ergebe sich „ohne Weiteres aus § 216 StGB und § 228 StGB und den diesen Vorschriften zugrundeliegenden Wertungen unserer Rechtsordnung“ (S. 18). Das Ziel der Argumentation des BGH kann m. a .W . nur eine teleologische Reduktion des § 216 StGB sein, mit dem Ergebnis, dass ein Behandlungsabbruch mit Einwilligung des Patienten auch bei tödlicher Folge für diesen nicht mehr als strafbare aktive Sterbehilfe zu qualifizieren ist, wobei das Telos des § 216 StGB nunmehr durch die Neuregelung der §§ 1901a ff BGB zumindest mitbestimmt wird. Aber ist ein solches Vorgehen rechtsdogmatisch akzeptabel, selbst wenn es ethisch verständlich, ja sogar gefordert sein mag? Eine teleologische Reduktion des § 216 StGB, wie der BGH sie hier der Sache nach vertritt, ist im Hinblick auf das Rechtsgut Leben, das zumindest nach herkömmlichem Verständnis Schutzgut (nicht nur des Grundtatbestandes des § 212 StGB, sondern auch) dieser (privilegierenden)

6

Ob dieser Wille in dem vom BGH entschiedenen Fall so eindeutig festgestellt war, mag hier offen bleiben. Immerhin war die entsprechende Willensäußerung der Patientin nur aus einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter, die später zusammen mit ihrem Bruder zur Betreuerin ihrer Mutter anstelle der bisherigen „Berufsbetreuerin“ bestellt worden war, bekannt. Der Inhalt des Gesprächs war von der Mutter „trotz der Bitte der Tochter, die Angelegenheit mit ihrem Ehemann zu besprechen und sodann schriftlich zu fixieren, nicht schriftlich niedergelegt“ worden. Die Tochter (und Betreuerin) hatte dann später den Schlauch der Magensonde, über die ihre Mutter versorgt wurde, durchgeschnitten; vgl. BGH (Fn. 1), S. 5 f.

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Vorschrift ist,7 ein sehr problematisches Vorgehen. Denn die Grenzen dessen, was strafrechtlich geschützt ist, bestimmt zunächst einmal der Gesetzgeber und nicht der Richter – und der Gesetzgeber hatte mit § 216 StGB eine Norm eingeführt, die erkennbar und bisher auch vom BGH so gesehen, jedenfalls die aktive Tötung auf Verlangen, auch wenn sie zugleich einen Behandlungsabbruch bedeutet, für strafbar erklärt. Auch dass hier der allgemeine Rechtfertigungsgrund der Einwilligung nicht eingreifen kann, ergibt sich unmittelbar aus dem Wortsinn des § 216 StGB. Wenn der BGH nun an diesem Verständnis des § 216 StGB im Lichte der Neuregelung über die Patientenverfügung nicht mehr festhält, ohne zugleich §§ 1901a ff BGB als (auch) strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund zu interpretieren, sondern sich auf die Einwilligung des Patienten als Rechtfertigungsgrund stützt, kommt dies in mancher Hinsicht jenem legendären Urteil des BVerfG vom 28.5.1993 zur Problematik des Schwangerschaftsabbruchs8 nahe, das dann in der Gesetzesfassung der §§ 218 ff StGB seinen Niederschlag gefunden hat. Knapp zusammengefasst sagt das BVerfG dort, die Tötung eines Embryos sei zwar in jedem Falle rechtswidrig, doch könne sie in einem bestimmten Kontext (d. h. insbesondere nach erfolgter Pflichtberatung und vor einer bestimmten Frist) straffrei gestellt werden. Der Gesetzgeber hat das Urteil bekanntlich so „umgesetzt“, dass Schwangerschaftsabbrüche in dem in § 218a Abs. 1 StGB näher gekennzeichneten Kontext den „Tatbestand des § 218 (StGB) … nicht verwirklich[en].“ Dass dies rechtsdogmatisch widersprüchlich ist (allenfalls könnte bei fortbestehender Rechtswidrigkeit angesichts des Schutzgutes Leben insofern nur ein Entschuldigungsgrund in Betracht kommen), ist schon vielfach kritisiert worden. Anscheinend wiederholt der BGH dieses „rechtsdogmatische Kunststück“ des BVerfG und auch des Gesetzgebers nunmehr im Hinblick auf die Beurteilung bestimmter Fälle am Lebensende: Zwar wird an der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen festgehalten („Die tatbestandlichen Grenzen des § 216 StGB bleiben hierdurch unberührt“; BGH, a . a. O. , S. 20), aber die aktive Tötung im Rahmen eines Behandlungsabbruchs wird davon ausgenommen. Denn dass es sich bei einem solchen Behandlungsabbruch um eine aktive Tötung handelt, wird auch vom BGH nicht in Abrede gestellt. Der BGH wendet sich sogar explizit gegen die in Rechtsprechung und Lehre zum Teil vertretene These, wonach man den Behandlungsabbruch (mit Einwilligung des Patienten) in ein 7

Der Ansicht, § 216 StGB sei nur als abstraktes Gefährdungsdelikt (im Hinblick auf Lebensgefahren für Personen, die nicht ihren Tod verlangt haben) begründbar – vgl. dazu etwa Joerden Menschenleben, 2003, S. 175; ders. JRE 14 (2006), 407 ff, 409 f –, ist der BGH zumindest explizit noch nicht gefolgt. Vgl. auch jüngst Müller § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010. 8 BVerfGE 88, 203 ff.

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normativ verstandenes „Unterlassen“ (etwa als „Unterlassen der Weiterbehandlung“) umdeuten könne.9 Man kann die Auffassung des BGH in diesem Urteil zu der Bedeutung der Differenz von Handeln und Unterlassen daher wie folgt zusammenfassen: Obwohl an sich die Unterscheidung zwischen aktivem Handeln und Unterlassen im Strafrecht relevant ist,10 und obwohl diese Unterscheidung auch für § 216 StGB weiterhin eine wesentliche Rolle spielt,11 soll diese Unterscheidung dann irrelevant sein, wenn „die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist“ (S. 18). In einem solchen Kontext umfasse ein „Behandlungsabbruch“ nicht nur „Untätigkeit“, sondern „fast regelmäßig eine Vielzahl von aktiven und passiven Handlungen …, deren Einordnung nach Maßgabe der in Dogmatik und von der Rechtsprechung zu den Unterlassungstaten des § 13 StGB entwickelten Kriterien problematisch ist und teilweise von bloßen Zufällen abhängen kann.“ (S. 17) Der BGH bildet deshalb einen „normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs“, der „neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden umfasst, eine bereits begonnene medizinische Behandlungsmaßnahme gemäß dem Willen des Patienten insgesamt zu beenden …“ (S. 17). Wie schwierig es werden dürfte, diesen „Freiraum“ für aktive Lebensbeendigungen zu begrenzen, zeigt etwa der folgende Fall: Patient P hat sich einen Herzschrittmacher einsetzen lassen, dessen Funktionsfähigkeit in regelmäßigen Abständen von Arzt A kontrolliert wird. Nunmehr verlangt P von A (aus Gründen, auf die es hier nicht weiter ankommt), die „Behandlung“ mit einem Herzschrittmacher abzubrechen und den Herzschrittmacher abzustellen.12 Ist das auch ein „Behandlungsabbruch“ im Sinne des BGHUrteils, zu dem dann auch jeder Dritte ggf. berechtigt wäre, soweit er „als vom Arzt, dem Betreuer oder dem Bevollmächtigten für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfsperson tätig“ (S. 20) wird? Eventuell wäre man in einem solchen Fall doch ganz froh, wenn man noch die „alte“ 9 Der BGH schließt sich der Auffassung an, wonach dies ein dogmatisch unzulässiger „Kunstgriff“ sei (vgl. S. 17 m . w . N . ). 10 Was angesichts z. B. von § 13 StGB ja auch positiv-rechtlich kaum bestritten werden könnte. 11 Zwar weist der BGH in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit einer Strafbarkeit aus §§ 216, 13 StGB zumindest nach seiner Auffassung hin; vgl. S. 16 unter Hinweis auf BGHSt 13, 162, 166; 32, 367, 371; aber es bleibt natürlich dabei, dass eine (eventuelle) Strafbarkeit wegen „Tötung auf Verlangen durch Unterlassen“ eine Garantenstellung des Unterlassungstäters erfordert, eine Tötung auf Verlangen durch aktives Tun dagegen nicht. 12 Um der Argumentation willen sei hier vorausgesetzt, dass mit Abstellen des Herzschrittmachers auf absehbare Weise innerhalb kurzer Zeit der Tod von P eintreten wird.

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Differenzierung zwischen aktivem Töten und passivem Sterbenlassen auch für den Bereich des Behandlungsabbruchs zur Verfügung hätte – auch um den Preis, dass die Entscheidung dann abhängig ist von „bloßen Zufällen“ wie dem, wie lange die Batterie des Herzschrittmachers noch laufen wird (Abbruch vor Ablauf der „Lebensdauer“ der Batterie auf Verlangen des Patienten: strafbar gem. § 216 StGB – Nicht-Aufladen der Batterie auf Verlangen des Patienten: straflos). Aber auch in anderen medizinstrafrechtlichen Kontexten könnte sich die durch § 216 StGB bisher gezogene Begrenzung auflösen. So etwa dann, wenn Patient P, der auf eine andauernde apparative Versorgung (z. B. eine angebrachte Magensonde) lebensnotwendig angewiesen ist, nunmehr von dem behandelnden Arzt verlangt, diese Versorgung abzustellen, damit P – wie A weiß – seine noch funktionsfähigen (lebensnotwendigen) Organe spenden kann. Oder noch mehr zugespitzt: Wenn der mittlerweile bewusstlose P ein solches Vorgehen früher in seiner Patientenverfügung niedergelegt hatte. Soll und darf hier der Weg zu einer Spende lebensnotwendiger Organe eröffnet werden? Die Beispiele weisen darauf hin, dass es methodisch sehr problematisch ist, die Differenzierung zwischen Handeln und Unterlassen im Hinblick auf bestimmte Entscheidungen für unerheblich zu erklären, im Übrigen aber an ihr festzuhalten. Konsequenter und daher überzeugender dürfte es sein, entweder an einer einheitlichen Differenzierung zwischen Handeln und Unterlassen festzuhalten oder diese Differenzierung (ähnlich wie dies manche philosophische Konzepte, wie etwa der Utilitarismus, vorschlagen) ganz aufzugeben. 13

II. Angesichts dessen, dass der BGH zwar einerseits überzeugend der Position entgegengetreten ist, eine Handlung bei entsprechender Bewertung in eine bloße Unterlassung „umzudeuten“, es aber andererseits unternommen hat, die normative Bewertung der Sterbehilfe von der Handlungs-Unterlassungs-Dichotomie abzukoppeln und einer einheitlichen Bewertung den Vorzug zu geben, stellt sich über den Kontext der Sterbehilfe-Problematik hinaus die allgemeinere rechtstheoretische Frage, ob und, wenn ja, wie die anvisierten Ergebnisse der Bewertung eines Sachverhalts auf die rechtsdogmatische Begriffsbildung zurückwirken bzw. zurückwirken sollten.

13

Vgl. allgemein zur Problematik der Differenzierung zwischen (aktivem) Handeln und Unterlassen Birnbacher Tun und Unterlassen, 1995.

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Eine Position, die diese Frage näher in den Blick nimmt, unterscheidet zwei Gruppen von Regeln: Bewertungsregeln und Zurechnungsregeln.14 Die Bewertungsregeln geben an, ob ein bestimmtes Verhalten (in strafrechtlicher, oder auch sonst in normativer Hinsicht) zu kritisieren ist. So besagt etwa die Bewertungsregel „Du sollst nicht töten“, dass Töten ohne Rechtfertigungsgrund (moralisch bzw. rechtlich) negativ kritisiert wird; wobei diese Bewertungsregel – prospektiv verstanden – ein künftiges Verhalten verbietet und zugleich – retrospektiv verstanden – ein vergangenes Verhalten, das gegen jenes Verbot verstoßen hat, als verbotswidrig kritisiert. Im Strafrecht finden sich Bewertungsregeln typischerweise (indirekt) in den Deliktstatbeständen des Besonderen Teils; aber auch die im Allgemeinen Teil zu verortenden Rechtfertigungsgründe zählen (als Ausnahmetatbestände) zu den Bewertungsregeln. Im Unterschied zu dieser Art von Regeln muss es nun eine andere Art von Regeln geben, die überhaupt erst einmal den Gegenstand dessen bestimmen und festlegen, was der Kritik unterzogen werden soll. Im Hinblick auf das Beispiel des Tötungsverbots: Es muss Regeln geben, die festlegen, wann eine Erscheinung in der Welt als Tötungshandeln verstanden wird und wann nicht. Und diese Regeln sind grundsätzlich unabhängig von den Bewertungsregeln, und zwar schon deshalb, weil sie einen ganz anderen Zweck haben, und zwar nicht den, als Maßstab für Kritik zu dienen, sondern den, den Gegenstand der Kritik zu identifizieren. Man kann diese Regeln als Zurechnungsregeln bezeichnen. Zu ihnen gehören etwa die Regeln über die Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen (Tötungs-)Handeln und (Tötungs-)Erfolg, die Regeln über die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen und die Regeln über die Differenz zwischen vorsätzlichem und nicht-vorsätzlichem (aber ggf. fahrlässigem) Verhalten etc. Diese Regeln werden im Strafrecht bekanntlich üblicherweise im Allgemeinen Teil verortet. Dass die Zurechnungsregeln und die Bewertungsregeln voneinander grundsätzlich unabhängig sind, zeigt sich vor allem in zwei Punkten: Zum einen ist die Zurechnung z. B. einer Tötungshandlung ganz unabhängig davon möglich, ob sie positiv oder negativ oder überhaupt nicht kritisiert wird. Im Allgemeinen werden wir sogar die meisten Handlungen überhaupt nicht bewerten (bzw. kritisieren), sondern eventuell nur von ihnen berichten oder sie in unsere Planungen einbeziehen etc. Gleichwohl gibt es offenkundig Regeln der Zurechnung von Handlungen und Unterlassungen, die es uns ermöglichen, in sinnvoller Weise über solche Ereignisse zu kommunizieren, ohne dabei zugleich eine kritisierende Haltung zu ihnen einzunehmen. – 14

Vgl. insbesondere Hruschka Rechtstheorie 22 (1991), 449 ff; dort: „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“.

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Zum anderen ist der Umgang mit Zurechnungsregeln einerseits und Bewertungsregeln andererseits im Rahmen normativ-ethischen oder rechtlichen Argumentierens durchaus unterschiedlich. Wer etwa das Vorliegen von Voraussetzungen, unter denen die Zurechnung eines Verhaltens als freie Handlung an sich erfolgen würde, treuwidrig verhindert, dem kann unter Umständen sein Verhalten insgesamt gleichwohl zugerechnet werden (sog. actio libera in causa).15 Ein entsprechendes Vorgehen bei der Verhinderung des Vorliegens von Voraussetzungen einer Bewertungsnorm ist demgegenüber nicht in gleicher Weise möglich (vgl. dazu etwa die strittige Figur der sog. actio illicita in causa). Diesen Fragen ist hier indes nicht weiter nachzugehen;16 es genügt der Befund, dass der Umgang mit Zurechnungsregeln einerseits und der Umgang mit Bewertungsregeln andererseits sich durchaus erheblich voneinander unterscheiden können. Der soeben skizzierten „Trennungsthese“, die eine Differenzierung zwischen Zurechnungs- und Bewertungsregeln für angemessen hält, steht eine Position gegenüber, die einen unmittelbaren Einfluss der Bewertungsregeln und – noch weitergehend – der Bewertungsergebnisse auf unsere gesamte normativ-relevante Begriffsbildung für gegeben erachtet. Danach sind scheinbar vorgegebene Begriffe wie Kausalität, Freiheit, Handlung, Vorsatz etc. nicht etwa unabhängig von den jeweiligen Bewertungsergebnissen im Rahmen normativer Debatten, sondern diese beeinflussen und formen jene unmittelbar. Eine Differenzierung zwischen Zurechnungsregeln einerseits und Bewertungsregeln andererseits wäre von dieser Position aus entbehrlich und auch der Aufgabe normativer Beurteilung letztlich nicht angemessen. Zusammengefasst: Nicht die Begriffe für die Gegenstände der Bewertung gehen den Bewertungen und deren Ergebnissen voraus, sondern die Begriffe für die Bewertungsgegenstände werden von den Bewertungsergebnissen determiniert.

III. Eine philosophische Richtung, die dieser letzteren Konzeption nahe steht, ist die sog. experimentelle Philosophie („experimental philosophy“). Sie geht aus von Befragungen von Personen über deren Einschätzung bewertungsrelevanter Sachverhalte und stellt dabei nach eigenem Bekunden fest, 15 Zur Struktur und Reichweite des Gedankens der actio libera in causa im Rahmen von Zurechnungsurteilen vgl. Hruschka Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1987, S. 274 ff. 16 Näher dazu in Joerden Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 57 ff mit Fn. 133 m . w . N .

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dass die in Bezug genommenen Begriffe wie etwa Kausalität, Freiheit, Vorsatz etc. direkt von den Ergebnissen der Bewertung abhängig sind.17 Leading case dieser philosophischen Richtung sind die beiden folgenden Varianten eines Sachverhalts, bei denen die Adressaten der Befragung jeweils um ihre Ansicht dazu gebeten werden, ob der Firmenchef vorsätzlich gehandelt hat. 1. Fallvariante: In einem Gespräch mit dem Chef der Firma teilt der Betriebsleiter diesem mit, dass nach allen Berechnungen ein neu konzipierter Produktionsprozess, um dessen Einführung es nunmehr geht, geeignet sei, den Firmengewinn zu verdoppeln, aber dabei höchst wahrscheinlich die Umwelt erheblich geschädigt werde. Der Firmenchef, der über die Einführung des neuen Produktionsprozesses zu entscheiden hat, sagt: „Mir kommt es nur auf den Gewinn an, die Umwelt ist mir egal.“18 Tatsächlich führt der neue Produktionsprozess zu einer erheblichen Umweltverschmutzung. 2. Fallvariante: Wieder findet ein Gespräch zwischen Firmenchef und Betriebsleiter statt, im Wesentlichen mit dem gleichen Inhalt wie in der 1. Fallvariante. Wieder berichtet der Betriebsleiter davon, dass der neue Produktionsprozess den Firmengewinn verdoppeln werde; anders als in der 1. Fallvariante stellt er jedoch hier eine erhebliche Verbesserung der bisherigen Umweltsituation in Aussicht. Wieder sagt der Firmenchef: „Mir kommt es nur auf den Gewinn an, die Umwelt ist mir egal.“ Tatsächlich führt der neue Produktionsprozess zu einer erheblich verbesserten Umweltsituation. Nahezu alle Personen, die zu diesen beiden Fallvarianten befragt wurden, vertraten die Ansicht, dass der Firmenchef in der 1. Fallvariante hinsichtlich der Umweltverschmutzung vorsätzlich gehandelt habe. Für die 2. Fallvariante gaben demgegenüber dieselben Befragten ganz überwiegend an, hier habe der Firmenchef im Hinblick auf die Herbeiführung der Umweltverbesserung nicht vorsätzlich gehandelt. Dieses Ergebnis ist – zumindest auf den ersten Blick – deshalb überraschend, weil es keinen Unterschied zwischen den beiden Fallvarianten gibt, außer den Unterschied, dass es einmal um die Bewirkung einer Umweltverschlechterung und einmal um die Bewirkung einer Umweltverbesserung geht. Dieser Effekt wird nach seinem „Entdecker“19 Joshua Michael Knobe „Knobe Effect“ genannt; durchaus gebräuchlich ist auch die Bezeichnung „Side-Effect Effect“, um hervorzuheben, dass es sich hier um einen Effekt bei der Bewertung eines Nebeneffekts (und zwar der Umweltveränderung 17

Zur „experimentellen Philosophie“ vgl. insbesondere Knobe Analysis 63, 190 ff; ders. Philosophical Studies 130, 203 ff; ders./Nichols Experimental Philosophy, 2008. Demnächst wird zudem ein von Ralf Stoecker herausgegebener Band zu einer Tagung in Potsdam über experimental philosophy erscheinen. 18 Im englischen Original-Fall lautet der letzte Halbsatz: „I don’t care“. 19 Zu dessen einschlägigen Veröffentlichungen vgl. ob. Fn. 17.

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durch die jeweils beabsichtigte Einführung des neuen Produktionsprozesses) handelt.20 Die Protagonisten dieser Position einer „experimentellen Philosophie“ ziehen aus Beispielen wie diesen die Konsequenz, dass wir offenbar, sofern wir den obigen Wertungen zur Beurteilung der Vorsätzlichkeit des Verhaltens des Firmenchefs zustimmen – und es ist gar nicht so einfach, ein abweichendes Ergebnis zu vertreten –, unseren Begriff von Vorsatz von dem Ergebnis unserer Bewertungen abhängig machen: Wenn eine Folge des Handelns (hier des Firmenchefs) negativ beurteilt wird, halten wir seine Einstellung insoweit („ist mir egal“) für vorsätzlich. Beurteilen wir dagegen die Folgen seines Handelns positiv, halten wir dieselbe Einstellung insoweit („ist mir egal“) für unvorsätzlich. Es gibt zumindest zwei Ansätze, diese Thesen zu kritisieren. Man kann die Behauptung in Frage stellen, dass die „Umfrageergebnisse“ zu der Bewertung des Firmenchef-Verhaltens als vorsätzlich bzw. nicht-vorsätzlich repräsentativ sind. Dieses Vorgehen dürfte indes wenig erfolgversprechend sein, weil die in den „Umfrageergebnissen“ sich manifestierenden Wertungen (zur Zuschreibung von Vorsatz) wohl auch von den meisten Rechtsund Moralwissenschaftlern geteilt würden.21 Demgegenüber könnte gefragt werden, ob die These von der Bestimmung des hier zentralen Begriffs des Vorsatzes durch das Ergebnis der Bewertung nicht zu weit geht, weil sie die Bewertungsvorgänge nicht angemessen erfasst. Diesem Ansatz der Kritik an der genannten Position soll hier weiter nachgegangen werden.

IV. Für die strafrechtliche Perspektive ist in dem oben geschilderten Fall in seiner 1. Variante schnell klar, dass es hier um einen speziellen Fall der Vorsatzzurechnung geht. Denn die Vorstellung des Firmenchefs hat in Bezug auf die „Nebenwirkung“ der Umweltverschmutzung die Struktur des sog. dolus eventualis. Anders als beim dolus directus, bei dem der Täter gerade auf den Erfolg abzielt (1. Grades) oder ihn als sicher voraussieht (2. Grades), hält der „Täter“ (der Firmenchef) in dem Beispiel den Erfolg seines Verhaltens (Umweltverschmutzung) nur für möglich. Dass dies für die Vorsatzzurechnung im Strafrecht ausreicht, zumindest dann, wenn noch das sog. (billigende) Inkaufnehmen des Erfolgseintritts hinzukommt, ist weitgehend unstrittig. 20

Zur Problematik der Unterscheidung von Haupt- und Nebenwirkung im Strafrecht näher Joerden FS Jakobs, 2007, 235 ff. 21 Was überhaupt kein Plädoyer für herrschende Meinungen ist; aber man sollte Realist bleiben.

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Weniger ausgeprägt ist das Judiz des Strafrechtlers naturgemäß dann, wenn es wie in der 2. Variante des Falles um ein supererogatorisches, ggf. zu lobendes Verhalten geht. Dabei sind supererogatorische Verhaltensweisen, d. h. solche Handlungen (und Unterlassungen), die über das rechtlich oder moralisch Geforderte hinausgehen, prinzipiell ähnlich strukturiert wie Straftaten.22 Auch hier geht es um die Bewertung von Handlungen (oder Unterlassungen), zwar nicht als rechtswidrig, aber als supererogatorisch; und an die Stelle der Bestrafung tritt bei supererogatorischem Verhalten ggf. die Belohnung. Weshalb aber „funktioniert“ der Begriff des Eventualvorsatzes anscheinend bei supererogatorischem Verhalten (zumindest auf den ersten Blick) anders als bei Straftaten? Denn dies war ja die Quintessenz des obigen Vergleichs zwischen den beiden Fallvarianten. Im Rahmen der (möglichen) Straftat23 (1. Variante) ist eine Vorsatzzurechnung hinsichtlich der Umweltverschmutzung völlig einleuchtend; im Rahmen der supererogatorischen Handlung (2. Variante) hinsichtlich der Umweltverbesserung dagegen nicht. Dies hatte zu der These geführt, dass der Vorsatzbegriff je nach Bewertungskontext (negative oder positive Bewertung) unterschiedlich zu fassen sei, wir uns m.a.W. unsere Begriffe so „zurecht biegen“, dass sie uns für unsere Werturteile passend erscheinen: Was wir in dem einen Beurteilungskontext noch als „Vorsatz“ bezeichnen, muss es im anderen Kontext schon nicht mehr sein. Es liegt nahe, das unterschiedliche Verständnis von Eventualvorsatz in den beiden Fallvarianten in einer unterschiedlichen Struktur von strafrechtlich relevantem Verhalten einerseits und supererogatorischem Verhalten andererseits zu suchen. In erster Annäherung kann man die Unterschiede zwischen beiden Verhaltensweisen an ihren Wirkungen festmachen. Die Straftat ist regelmäßig fremdschädigend und selbstbegünstigend, wobei mit „fremdschädigend“ gemeint ist, dass ein anderer als der Handelnde (und zwar das Opfer) geschädigt wird, während mit „selbstbegünstigend“ gemeint ist, dass der Handelnde sich selbst durch seine Handlung begünstigt. Zwar gibt es auch Straftaten, bei denen auf das zuletzt genannte Merkmal verzichtet werden kann;24 das ändert aber nichts an der grundsätzlichen

22

Näher dazu Hruschka/Joerden ARSP 73 (1987), 93 ff; s . a . Joerden Logik im Recht, 2010, S. 221 ff m . w . N . 23 Es kommt hier nicht darauf an, ob dieses Verhalten des Firmenchefs tatsächlich strafbar ist; entscheidend ist, dass wir es grundsätzlich negativ bewerten. Damit fällt es in die Kategorie der tadelnswerten Verhaltensweisen, zu denen auch die Straftaten gehören. 24 Z. B. lediglich fremdschädigende Sachbeschädigungen aus bloßem Vandalismus. Immerhin wird man aber auch hier annehmen können, dass sich der Täter über sein Vorgehen „freut“ und sich so selbst begünstigt.

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Struktur. Oftmals treten die genannten Aspekte auch nicht objektiv hervor, sind aber subjektiv maßgebliches Motiv für den (Straf-)Täter.25 Demgegenüber sind supererogatorische Handlungen strukturell selbstschädigend und fremdbegünstigend (Beispiel: A schenkt dem armen B 100 Euro).26 Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie Lob herausfordern oder sogar eine Belohnung. Denn zumindest im Normalfall wird niemand dafür gelobt, dass er sich selbst begünstigt; und für eine lobenswerte Handlung erscheint regelmäßig auch die Begünstigung eines anderen erforderlich zu sein (und nicht bloß folgenloses Verhalten, selbst wenn dieses mehr sein sollte, als die Pflicht verlangt). Ohne wahrnehmbares eigenes „Opfer“ des Handelnden ist kaum je eine Handlung lobenswert.27 Projiziert man die beiden Charakterisierungen von tadelverdienendem (strafbarem) Verhalten und lobverdienendem (supererogatorischem) Verhalten nun auf die beiden obigen Sachverhaltsvarianten, dann entsteht folgendes Bild. In der ersten Variante des Falles verhält sich der Firmenchef selbstbegünstigend (Förderung seines Gewinns) und zugleich fremdschädigend (Umweltverschmutzung). In der zweiten Variante des Falles dagegen handelt er selbstbegünstigend (Förderung seines Gewinns) und zugleich fremdbegünstigend (Umweltverbesserung). Man erkennt jetzt unschwer die Asymmetrie. Während der Firmenchef in der 1. Variante eine Handlung des Typs tadelnswert vornimmt, führt der Befund für die 2. Variante keineswegs idealtypisch auf eine lobenswerte Handlung. Denn hier agiert der Firmenchef eben nicht selbstschädigend, sondern (auch) selbstbegünstigend. Hätte er dagegen selbstschädigend gehandelt, etwa eine Gewinneinbuße hingenommen, und dabei zugleich eine dadurch bewirkte Verbesserung der Umwelt für möglich gehalten, wäre an seinem (Eventual-)Vorsatz hinsichtlich der Umweltverbesserung kaum zu zweifeln (und die oben erwähnte „Befragung“ hätte bei einer solchen Fallgestaltung mutmaßlich ein anderes Ergebnis hervorgebracht). Dies aber zeigt, dass bei dem leading case für den sog. Knobe-Effekt (vgl. oben III.) zwei Sachverhaltsgestaltungen miteinander verglichen werden, die zumindest nicht symmetrisch aufeinander bezogen sind. Daher ist auch der auf der Basis dieses Fallvergleichs gezogene Schluss nicht überzeugend, wonach der Vorsatzbegriff im Hinblick auf die Bewertungsergebnisse der Fallvarianten verändert und damit in Abhängigkeit von diesen Bewertungsergebnissen verwendet wird. 25

Vgl. § 242 StGB, wo Zueignungsabsicht ausreicht; die Zueignung muss nicht erfolgt sein. Der Selbstschädigungskomponente steht nicht entgegen, dass der Handelnde sich über seine Handlung freuen mag. Denn jedenfalls hat A hier eine (objektive) Vermögenseinbuße zu verzeichnen, die durch seine Motivation zur Handlung nicht in Wegfall gerät. 27 Weiterführend U. Wessels Die gute Samariterin, 2002. 26

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Vielmehr bestimmt die Asymmetrie der Tatsachenbasis in den beiden Fallvarianten das Eingreifen unterschiedlicher Feststellungen zum Vorsatz (in der 1. Variante: dolus eventualis; in der 2. Variante: kein Vorsatz). Denn die Begehung einer tadelnswerten (Straf-)Tat wird von der 1. Variante des Falles vollständig abgebildet, während die 2. Variante eine lobenswerte Tat nur hinsichtlich ihrer fremdbegünstigenden Wirkung, aber nicht hinsichtlich einer Selbstschädigung repräsentiert. Der vorgängige Begriff des Eventualvorsatzes ist mithin in beiden Varianten derselbe; dass es im Ergebnis zu unterschiedlichen Feststellungen zum Vorsatz kommt, liegt nicht an unterschiedlichen Vorsatzbegriffen, sondern an dem nicht symmetrisch auf einander bezogenen Tatsachenmaterial in den beiden Fallvarianten. Damit hat sich gezeigt, dass sich die These, die Bewertungsergebnisse der Fallvarianten würden (gleichsam rückwirkend) die Bildung der grundlegenden Begriffe determinieren, nicht halten lässt. Vielmehr müssen die Begrifflichkeiten klar sein, um zunächst überhaupt den Gegenstand der Bewertung festzulegen, um dann eine Bewertung vornehmen zu können, die eben deshalb auch für die beiden Bewertungsergebnisse (rechtswidrig oder supererogatorisch) offen ist, sich ihnen gegenüber neutral verhält. Die grundlegenden Begriffe wie etwa der des Vorsatzes bleiben gleich, wie auch immer die Tat schließlich bewertet wird. Eine andere, hiervon zu trennende Frage ist es, ob man vorsätzliche supererogatorische Handlungen in jedem Fall loben will; etwa dann nicht, wenn nur Eventualvorsatz des Handelnden gegeben ist.28 Hier mag es gute Gründe dafür geben, nur solche Handlungen, die mit dolus directus vorgenommen wurden, für lobenswert zu halten (ähnlich wie das StGB ja auch gelegentlich den strafrechtlichen Tadel nicht für angemessen hält, wenn der Täter lediglich mit dolus eventualis gehandelt hat; vgl. etwa § 258 StGB). An dem Vorsatzbegriff, wie er gleichermaßen tadelnswertem und lobenswertem Verhalten zugrundeliegt, ändert dies nichts.

V. Um nun noch einmal auf das oben zitierte Urteil des BGH zur Sterbehilfe zurückzukommen: Zwar geht es hier nicht – anders als im leading case der experimental philosophy und seinen beiden Varianten – um die Differenz zwischen vorsätzlichem und nicht-vorsätzlichem Verhalten, aber doch um eine in ähnlicher Weise den Gegenstand unserer Bewertungen bestimmende

28

Erst recht dann, wenn nur Fahrlässigkeit des Handelnden vorliegt; z . B . A wirft aus Versehen 100 Euro weg, die ein Bettler findet.

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Dichotomie, und zwar um die zwischen Handeln und Unterlassen.29 Zu Recht ist der BGH nicht der Versuchung erlegen, die grundlegenden Begriffe von Handlung und Unterlassung „normativ“ (d. h. im Interesse eines bestimmten Bewertungsergebnisses) miteinander zu vermischen und – wie teilweise in der Literatur vorgeschlagen – im betreffenden Kontext aus einer Handlung (einem aktiven Tun) ein Unterlassen zu „machen“. Obwohl sich der BGH explizit gegen diese These wendet (S. 16 f), kommt er ihr doch einen – wie mir scheint – allzu großen Schritt entgegen. Denn um eines bestimmten Bewertungsergebnisses willen identifiziert der BGH bei der Auslegung von § 216 StGB einen Kontext (den der Sterbehilfe), innerhalb dessen die Differenz zwischen (aktivem) Handeln und Unterlassen gar keine (wertungsmäßige) Rolle mehr spielen soll, obwohl diese Differenz doch sonst (außerhalb des Kontextes der Sterbehilfe) durchaus weiterhin – auch nach Auffassung des BGH – entscheidend bleibt und bleiben soll. Und zwar in der Weise, dass in diesen zuletzt genannten Zusammenhängen die Differenz zwischen (aktivem) Handeln und Unterlassen sehr wohl noch über die Strafbarkeit des Täterverhaltens nach § 216 StGB entscheidet: Bei aktivem Handeln grundsätzlich strafbar; bei Unterlassen dagegen grundsätzlich nicht strafbar (allenfalls bei Vorliegen einer Garantenstellung gem. § 13 StGB). Die Auseinandersetzung mit dem leading case der experimentellen Philosophie (vgl. oben IV.) hat indes gezeigt, zu welchen Fehleinschätzungen es führen kann, wenn man das Bewertungsergebnis als der zugrunde liegenden begrifflichen Dogmatik überlegen darstellt. Die Argumentation „vom Ergebnis her“ ist stets in der Gefahr, zur petitio principii zu werden, und schließlich kann man mit ihr dann nahezu Beliebiges als Auslegung des Gesetzes ausgeben. Dies sollte zumindest nicht das Vorgehen der Rechtsprechung sein, weil (auf die hier diskutierte Problematik der Sterbehilfe bezogen) anderenfalls auch der Identifizierung von anderen Kontexten, in denen im Rahmen des § 216 StGB die Differenzierung zwischen Handeln und Unterlassen angeblich nicht mehr maßgeblich ist, argumentativ Tür und Tor geöffnet wird. Ein rechtstheoretisch einwandfreier Weg (der indes dem BGH selbst natürlich nicht zugänglich ist) hätte in einer Gesetzesänderung bzw. Gesetzesergänzung bestanden, etwa so, wie der Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB 2005), dessen Co-Autor Claus Roxin bekanntlich ist, dies auch vorschlägt.30 Dazu hätte es aber der Einführung einer neuen, eigenständigen 29

Näher zur Logik dieser Dichotomie Joerden (Fn. 22), S. 293 ff. Vgl. Schöch/Verrel u. a. GA 2005, 553 ff, 584: § 214 AE-StB. Allerdings sollte man dabei Euphemismen möglichst vermeiden. Wenn in § 214 AE-StB von „Beenden, Begrenzen oder Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen“ die Rede ist, sollte man nicht vergessen, 30

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Strafrechtsnorm bedurft, da dem BGH darin zuzustimmen ist, dass die betreuungsrechtliche Regelung über die Patientenverfügung in §§ 1901a ff BGB einen solchen genuin strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund nicht hergibt.

worum es der Sache nach in den Fällen des „Beendens“ (im AE-Sterbehilfe 1986 hieß es noch „Abbruch“) geht: Um die Rechtfertigung einer aktiven Tötung (auf Verlangen) in gesetzlich näher zu bestimmenden Fallkonstellationen.

Zur Straferheblichkeit des Abbruchs der ärztlichen Behandlung in irreversiblen vegetativen Stadien MIGUEL ÁNGEL NÚÑEZ PAZ Dieser Artikel ist eine bescheidene Widmung an meinen hochgeschätzten Lehrmeister Claus Roxin.

In dieser Arbeit wird versucht, einige der am meisten umstrittenen Fragen im Bereich der an sich schon vieldiskutierten Problematik der Sterbehilfe zu untersuchen. Eine Problematik, die im Verlauf der Geschichte sowohl die spanische, als selbstverständlich auch die deutsche Rechtslehre immer wieder beschäftigt hat, wobei der neueste Beitrag von Claus Roxin1 zum Thema von großer Bedeutung ist.

I. Über die Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei entscheidungsunfähigen Patienten Es geht vor allem darum, die Fälle zu untersuchen, in denen ein Wille des Patienten fehlt. Wir gehen davon aus, dass, falls der Patient keine Einwilligung geben kann und die Entscheidungen insofern von den Ärzten oder Angehörigen getroffen werden müssen, der Beginn bzw. die Fortsetzung einer Behandlung dem Arzt nur dann abverlangt werden kann, wenn nach dem neuesten Stand der medizinischen Forschung laut Aussage des Arztes die Möglichkeit besteht, dass dieser Behandlung eine heilende Funktion innewohnt. Dem ist nicht so, wenn gemäß Lex artis diese Möglichkeit nicht besteht, 1 Roxin Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 75-121 (mit aktualisiertem Inhalt, weshalb wir dieser Abhandlung folgen). Vgl. zuvor schon Roxin La protección de la vida humana mediante el derecho penal (Der Schutz des menschlichen Lebens durch das Strafrecht), Abschlusskonferenz von den „X Cursos“ des Masters in Jura der Universität zu Salamanca, Januar 2002, S. 11 ff, veröffentlicht in: Núñez Paz Preámbulo y Notas de Derecho Español, Dogmática y Ley Penal. Libro Homenaje al Prof. Enrique Bacigalupo, 2004; s. a. Roxin Tratamiento jurídico penal de la eutanasia (Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe), in: Roxin, Mantovani u. a. (Hrsg.) Eutanasia y suicido. Cuestiones dogmáticas y de Política criminal, 2001, S. 1-38.

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z. B. in irreversiblen Endstadien, wenn also eine Behandlung nicht mehr wirksam ist, so dass nur noch sedative Mittel zur Milderung von Schmerzen und Leiden bleiben. Dem steht der Begriff der sogenannten „Disthanasie“2 (aus dem Griechischen dis- schlecht und thanatos- Tod) gegenüber, welcher die unnatürliche Verlängerung des Todeskampfes durch jedwede Mittel beinhaltet, ohne die Schäden zu beachten, die bei dem Patienten dadurch verursacht werden können, und die in einigen Situationen zur therapeutischen Grausamkeit3 ausartet. Dies kann als Nötigung (Art. 172.1 span. StGB)4 oder körperliche Misshandlung (Art. 617.2 span. StGB)5 strafbar sein. Es ist offensichtlich, dass die biomedizinische Forschung großartige Fortschritte gemacht hat und Patienten geheilt werden konnten, deren Behandlung vor Jahren noch undenkbar gewesen wäre; ebenfalls ist die Lebenserwartung deutlich gestiegen, aber durch eben diese Fortschritte hat sich auch das Leiden und der Todeskampf der Kranken verlängert. Bei fehlendem Willen des Patienten (etwa in Fällen endgültiger Bewusstlosigkeit) ist der Arzt augenscheinlich nicht dazu verpflichtet, durch spezielle Mittel oder künstliche Methoden (z. B. Transfusionen, intravenöse Ernäh2

Einige Autoren bezeichnen die passive Euthanasie als Orthothanasie (aus dem Griechischen orthos – gerade – und thanatos – Tod –). Der Begriff stammt von Roskam, Universität zu Lüttich, beim ersten internationalen Kongress über Gerontologie, 1950 (siehe u. a. auch Zugaldía Espinar Eutanasia y homicidio a petición: situación legislativa y perspectivas político criminales, RFDUG, zu Ehren von Prof. Sainz Cantero, 1987, S. 283 ff). Ebenso machen folgende Autoren Gebrauch vom Begriff der Orthothanasie: Torío López Instigación y auxilio al suicidio. Homicidio consentido y eutanasia como problemas legislativos, in: Estudios Penales y Criminológicos, Ausgabe IV 1981, S. 193 f; Bajo Fernández Manual de derecho penal. Parte especial. Delitos contra las personas., 1991, S. 84. Auch wenn die Orthothanasie punktuell mit der passiven Euthanasie übereinstimmt, hat der Begriff eine andere Bedeutung und steht im Gegensatz zur Disthanasie bzw. zur therapeutischen Grausamkeit. Letztere meint die unnütze Verlängerung des Todeskampfes und die künstliche Besserung derer, die unweigerlich zum Tode verurteilt sind, womit gewissermaßen eine Form von lebenden Leichnamen geschaffen wird (siehe: Gimbernat Ordeig Eutanasia, Constitución y Derecho penal, in: Eutanasia hoy: un debate abierto, 1996, S. 212), während die Orthothanasie im Gegensatz dazu darin besteht, bestimmte Formen der Wiederbelebung bei unheilbaren Patienten in irreversiblen Komata und bei Patienten im Endstadium zu verhindern: Roskam De vida vegetativa artificial y agonizante, zitiert nach: Romeo Casabona El derecho y la bioética ante los límites de la vida humana, Centro de Estudios Ramón Areces, 1994, S. 443, Anm. 74. 3 Siehe Gonuález Rus in: Cobo Del Rosal (Hrsg.), Curso de Derecho penal español. Parte especial., 1996, S. 94; Díaz Aranda Dogmática del suicidio y homicidio consentido, Universität Complutense Madrid und Zentrum für juristische Forschung – Justizministerium, 1995, S. 164. 4 Siehe Zugaldía Espinar Perspectivas constitucionales y político criminales sobre la legalización de la eutanasia, in: Eutanasia Hoy, un debate abierto, 1996, S. 239. 5 Siehe Romeo Casabona (Fn. 2) S. 442; Núñez Paz Homicidio consentido, eutanasia y derecho a morir con dignidad, 1999, S. 73 ff.

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rung oder chirurgische Eingriffe) den Todeszeitpunkt eines vegetativen Daseins oder eines Komapatienten ohne Hoffnung willkürlich hinauszuzögern.6 Der Arzt darf nicht zu einer Fortsetzung „ad impositum“ der künstlichen Behandlung verpflichtet werden. Ganz im Gegenteil ist die Unterlassung dieser Fortsetzung eine vollkommen legale Handlung7. Die Pflicht, das Leben zu erhalten, die zunächst nicht in Zweifel zu ziehen ist, endet dann, wenn einer Person durch den endgültigen Verlust von Reaktionsfähigkeit jegliche Form von Bewusstsein und Selbstbestimmung fehlt. Dies ist der Fall beim irreversiblen Koma. Hierbei geht es nicht darum, dass der Patient an verschiedene Geräte angeschlossen ist, die in bestimmten Fällen wegen der Möglichkeiten des medizinisch-technischen Fortschritts notwendig sein können, sondern um die Situationen, in denen der Patient seine Urteilsfähigkeit verloren hat und er auf Grund des Lebenserhalts ein Dasein fristet, bei dem es sich nicht mehr um das eines Individuums handelt. In diesen Fällen handelt es sich um eine sinnlose Verlängerung des Todeskampfes und um eine Verneinung jeglicher Menschenwürde, wenn der Kranke aufgrund politischer Überlegungen, wirtschaftlicher oder familiärer Interessen oder gar Interessen des Krankenhauses (Bettenbelegung) mit medizinischen Apparaten am Leben gehalten bzw. sein Tod hinausgezögert wird. Daher hat der Arzt die Pflicht, die Behandlung abzubrechen, wenn das Individuum zum bloßen Objekt degradiert wird. 8 Denken wir nur an die lebenserhaltenden Maßnahmen, die zeitgenössische Persönlichkeiten wie z. B. Franco, Truman, Tito, Hiro Hito oder auch 6 Siehe Zugaldía Espinar (Fn. 4) S. 239. Insofern existiert in diesen Fällen keine gesetzliche Pflicht, alle technischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung auszuschöpfen, auf welcher ein Vergehen durch Unterlassung basieren würde (Art. 138 span. StGB), ebenso wenig besteht nach Art. 143 span. StGB ein Vergehen im Bereich der Suizidbeihilfe, da die Person leben will, aber eben nicht zu jedem Preis und auf natürliche Weise, immer wenn seine Würde respektiert wird. S. a. Bajo Fernández Manual de Derecho penal. Parte especial. Delitos contra las personas., 1991, S. 97; Hirsch FS Lackner, 1987, 605; ders. in: Strafrechtliche Probleme, 1999, S. 814-838; Valle Muñiz CPC Nr. 38, 1989, 156, welcher sich auf die Notwendigkeit des Abbruchs von Behandlungen, bei denen – auch ohne explizite Einwilligung des Patienten – die Weiterführung und Verlängerung einen Eingriff in dessen Persönlichkeit bedeuten könnten, bezieht; s. a. Roxin Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe (Fn. 1) S. 97, der mitteilt, dass in Deutschland der BGH den Abbruch von Behandlungen zur Lebensverlängerung genehmigt, wenn gemäß der medizinischen Forschung der Tod kurz bevorsteht. 7 Vgl. Torío López Reflexión crítica sobre el problema de la eutanasia, in: Estudios Penales y Criminológicos, 1991, S. 235; in diesem Sinne zeigt sich der § 214 des Alternativ-Entwurfs Sterbehilfe in Deutschland von 1986, auf den wir uns später beziehen werden. 8 Schönke/Schröder-Eser Vorbem §§ 211 ff Rn. 21 ff; Eser Límites del deber de tratamiento médico desde el punto de vista jurídico (übersetzt von Alonso Alamo) in: Nuevo Foro Penal, 1985, 445-447; ders. Perspektiven des Medizinrechts, 2004.

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einige namentlich bekannt gewordene Privatpersonen zu erdulden hatten, wie in dem stark umstrittenen Fall von Karen Ann Quinlan und später dem von Nancy Cruzan. Letztere war auf Grund eines Autounfalls in ein vegetatives Stadium verfallen, und ihre Eltern forderten das Abschalten der Magensonde, was zunächst vom Obersten Gerichtshof des Staates Missouri abgelehnt wurde. Erst später, am 14. Dezember 1990 wurde der Abbruch der Behandlung durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika, basierend auf der 14. Änderung der amerikanischen Verfassung, welche die individuelle Freiheit schützt, anerkannt. Man ging davon aus, dass Nancy Cruzan es vorgezogen hätte zu sterben, anstatt in einem endgültigen vegetativen Stadium weiterzuleben.9 Das dauerhafte vegetative Stadium wird als eine Form von anhaltender Bewusstlosigkeit betrachtet, bei welcher der Patient die Augen geöffnet hat, wach ist, mit Zyklen des Schlafes und des Wachzustandes, jedoch ohne sich selbst oder die Außenwelt wahrzunehmen.10 Die Behandlung sinnlos weiterzuführen, ohne dass sie von Vorteil für den Patienten ist, obwohl also keine Hoffnung darauf besteht, dass er das Bewusstsein wiedererlangt, sondern nur eine Verlängerung des Todeskampfes zu erwarten ist, bedeutet einen Angriff auf die Menschenwürde.11 Solche Handlungen kann man sogar als „unmenschlichen oder erniedrigenden Umgang“ bezeichnen, welcher nach Art. 15 der Spanischen Verfassung ausdrücklich verboten ist.12 Natürlich besteht die Aufgabe des Arztes in der Erhaltung der Gesundheit und der Linderung bzw. Beseitigung von Schmerzen. In den oben genannten Fällen jedoch müsste die Lex artis jegliche Maßnahmen, die zu therapeutischer Grausamkeit führen könnten bzw. künstlich ein biologisches 9 Siehe Abel Labor Hospitalaria Nr. 221, 1991, 212 ff; Stone/Winslade El auxilio médico al suicidio y la eutanasia en los Estados Unidos, in: El tratamiento jurídico de la eutanasia: una perspectiva comparada, 1996, S. 387 ff und 403 f, Anm. 140 und 147. 10 Siehe Academy of Neurology Labor Hospitalaria Nr. 221, 1991, 216. Unter „Personen in einem dauerhaften vegetativen Stadium“ versteht man solche, die gemäß der neuesten medizinischen Forschung dauerhaft das Bewusstsein und somit die Wahrnehmungsfähigkeit, wie auch die Fähigkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren, verloren haben, ohne dass die Situation medizinisch verbessert werden kann, es vielmehr nur möglich ist, die wichtigsten Lebensfunktionen zeitlich begrenzt bzw. dauerhaft in diesem Zustand zu erhalten (vgl. Díez Ripollés/Gracia Martín Comentarios al Código penal. Parte Especial, 1997, S. 231; Díez Ripollés Eutanasia y derecho, in: El tratamiento jurídico de la eutanasia: una perspectiva comparada, 1996, S. 518; Roxin Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe (Fn. 1) S. 97104. 11 Siehe Otto Recht auf den eigenen Tod? Strafrecht im Spannungsverhältnis zwischen Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung, in: Verhandlungen des sechsundfünfzigsten deutschen Juristentages, 1986, S. 26 ff; aktuell: ders. Zeitschrift für Lebensrecht 2002, 42-49. 12 Bueno Arús PJ 1985, 14.

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Leben ohne rationale Hoffnung auf Besserung verlängerten, verbieten.13 In diesen Fällen bedeutet ein Nichtbeginn, eine Nichtfortsetzung, der Abbruch einer medikamentösen oder chirurgischen Behandlung oder der Abbruch des Einsatzes künstlicher Geräte zu therapeutischen Zwecken bzw. der Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen keineswegs eine strafbare Unterlassung.14 In sonstigen Fällen passiver Sterbehilfe ohne Einwilligung, wie z. B. bei behinderten Patienten, ändert sich die Fragestellung, soweit noch kein Hirntod vorliegt. Die vorherrschende öffentliche Meinung geht davon aus, dass die rechtliche Pflicht des Arztes dann aufhört, wenn eine unheilbare Krankheit ihr Endstadium erreicht hat, da jedwede Verlängerung einer Behandlung unter diesen Umständen den Patienten zum bloßen Objekt herabstuft und seine Würde verletzt, dies führe wiederum zur therapeutischen Grausamkeit. Jedoch ist es nicht leicht, die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität zu ziehen, bedingt durch die Problematik, was als eine solche „Grausamkeit“ angesehen werden kann, die in Artikel 20 des italienischen Kodex des Berufsstandes vom 15. Juli 1989 als „das irrationale Festhalten an Behandlungen, von denen weder Vorteile für den Patienten noch eine Verbesserung seiner Lebensqualität ausgehen“, definiert wird. Eine Ausprägung dieser Doktrin betrachtet als therapeutische Grausamkeit die unnütze und unverhältnismäßige Behandlung, bei der das Ergebnis (die Nichtheilung) voraussehbar ist. Hierbei handelt es sich um eine Auffassung, die von der Katholischen Kirche geteilt wird und die zu Beginn der Amtszeit von Papst Pius XII. auf dem berühmten Kongress der Anästhesisten im Jahre 195715 auf eine – aufgrund des Prozesses „Nancy Cruzan“16 dann später neu überdachte – Unterscheidung zwischen „üblichen“ und „unüblichen“ Maßnahmen Wert legte. Sie ließ den Abbruch einer Behandlung dann zu, wenn die Maßnahmen wirtschaftlich nicht tragbar sind oder ein zu großes Opfer für den Patienten, dessen Familie oder die Gemeinde darstellen.17 Gegen eine solche Unterscheidung spricht jedoch die Frage, ob 13

Siehe Romeo Casabona (Fn. 2) S. 446. Siehe Romeo Casabona (Fn. 2) S. 447; im gleichen Sinne auch: Torío López (Fn. 7) S. 206; s. a. Roxin La protección (Fn. 1) S. 11 f und ders. Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe (Fn. 1) S. 96 f; Siehe ebenfalls: § 223 und § 323c des deutschen Strafgesetzbuches (StGB). 15 Siehe Flecha Andrés Revista Española de Derecho Canónico Nr. 124, Januar-Juni 1988, 36 f. 16 Siehe Eser Limites (Fn. 8) S. 445; ders. Posibilità e limiti dell’eutanasia dal punto di vista giuridico, in: Vivere: diritto o dovere, 1992, S. 77. 17 Ausführliche Hinweise zu den Lehren von Pius XII. können nachgelesen werden in Concetti L’eutanasia. Aspetti giuridici, teologici, morali, 1987, S. 31 ff. Die Unterscheidung zwischen üblichen und unüblichen Maßnahmen hängt sowohl von den Betroffenen, deren Leben, dem medizinischen Fortschritt und den sozio-kulturellen Aspekten 14

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sie nicht allzu sehr in Abhängigkeit von den medizinischen Möglichkeiten und dem schnellen Fortschritt von Behandlungsmöglichkeiten steht. Daher ziehen einige Moralisten es vor, von verhältnismäßigen und unverhältnismäßigen Maßnahmen zu sprechen.18 Nach dieser Vorstellung ist der Arzt nicht dazu verpflichtet, unnütze und unverhältnismäßige medizinisch-chirurgische Behandlungen anzuwenden, wenn die Ergebnisse voraussehbar sind, und ihre Unterlassung fiele nicht unter den Begriff der Sterbehilfe.19 Wenn der Kranke zum bloßen Objekt klinischer Experimente wird, setzt sich selbstverständlich die Achtung vor dem Verlust seiner Lebensqualität durch, aber es herrscht immer mehr die Meinung vor, dass mit dieser Unterscheidung eine Verworrenheit zwischen Behandlung und Experiment eintritt, z. B. im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Medikamenten und Techniken, die noch nicht zum Verkauf bereitstehen bzw. für diesen genehmigt sind. Das Ergebnis ist, dass der Arzt in dieser Situation zum Richter wird. Dennoch wird die Vorstellung, dass die Grenze zwischen Leben und Tod eine Grauzone ist, die dem Urteil des Arztes unterliegt, vor allem von einer Gruppierung innerhalb der italienischen Doktrin als abwegig betrachtet, da dem Belieben anheimgestellte medizinische Entscheidungen, unabhängig davon, ob sie auf der Ethik des Berufsstandes oder auf praktischen oder wirtschaftlichen Gründen basieren, negative Folgen für den Patienten haben können. Da insoweit keine andere Lösung vorliegt, müsste man dies also auch auf Neugeborene mit starken Deformierungen, auf psychisch Behinderte und auf andere Kranke, die ihren Willen bewusst nicht ausdrücken können, anwenden. Ausgehend davon, dass das Leben an sich ab, wobei das Fehlen eines nationalen Gesundheitswesens zur Zeit von Pius XII. maßgebend war. 18 Siehe Flecha Andrés Revista Española de Derecho Canónico Nr. 124 Januar-Juni 1988, 42, 48 f; s. a. La Declarazione sull’eutanasia (vom 5.5.1980) und § 2.4 des Documento del Pontificio Consiglio Corunum in questioni etiche relative ai malati gravi e ai morenti (1981), in beiden Fällen aus der Versammlung zur Glaubensfrage; ebenso El Catecismo de la Iglesia Catolica (der Katholische Katechismus), 1992, § 2278. Eine etwas doppeldeutige Alternative wird vorgeschlagen von Häring Eutanasia y teología moral, in: Beretta (Hrsg.), Morire si, ma quando?, 1977, S. 224 ff, wobei er zwischen vorteilhaften und schadhaften Behandlungen unterscheidet. 19 Siehe Conferencia Episcopal Española La eutanasia, 1993, S. 34 f, sowie die Aussage in der vorherigen Fußnote. Wohingegen die Evangelische Kirche in Deutschland sowohl die Einschränkung der ärztlichen Zuständigkeit als auch die Unterstützung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung ablehnt (obgleich sie, was die Behandlung angeht, einige Freiräume in der Entscheidung und Verantwortung des Arztes belässt, immer in Abhängigkeit vom konkreten Fall – indirekte Sterbehilfe) und vor allem das Verbot von Organisationen anstrebt, die sich der Beihilfe zur Selbsttötung widmen (vgl. Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung, Kirchenamt der EKD (Hrsg.), 2008, S. 6).

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einen höheren Wert hat, der unabhängig vom Zustand, in dem sich das Individuum befindet, niemandem zusteht außer seinem Besitzer, fällt es dem Arzt zu, alle notwendigen und angemessenen Behandlungen anzuwenden, a priori jedoch, ohne über die Würde eines Lebens oder darüber zu urteilen, ob dieses es wert ist, gelebt zu werden.20 Insofern liegt das Problem darin festzusetzen und zu präzisieren, was man unter „notwendigen und angemessenen Maßnahmen“ versteht, was an die Problematik der auf die Stellungnahme der Katholischen Kirche zurückgehenden Unterscheidung zwischen verhältnismäßigen und unverhältnismäßigen Maßnahmen erinnert, welche die Art der Therapie, den Schwierigkeitsgrad, mögliche Risiken, notwendige Ausgaben, Möglichkeiten der Anwendung und den Zustand des Kranken etc. in die Abwägung mit einbezieht.21 All dies impliziert Unklarheiten und Unsicherheiten, welche es unmöglich machen, die Pflichten des Arztes festzulegen. Daher wird dieser rechtsfreie, da vom Gesetzgeber nicht ausgefüllte, Raum, den die Medizin eröffnet, zum Thema des juristischen Ermessens. Man hat versucht, eine Lösung für diese Problematik zu finden, wobei davon ausgegangen wird, dass das Leben einer Person mit dem Stillstand seiner Hirnfunktionen aufhört, und davon, dass die rechtliche Pflicht des Arztes, eine Behandlung weiterzuführen oder eine Wiederbelebung zu beginnen, sogar bei unheilbaren Krankheiten oder bei nahem Bevorstehen des Todes fortbesteht, außer in Fällen, in denen diese Behandlung das Leben nicht auf beachtliche Weise verlängert bzw. eine Quelle des Leidens oder des Schmerzes bedeutet. Ein großer Teil der italienischen Doktrin geht von dem Standpunkt aus, dass der Arzt sich von der sogenannten therapeutischen Grausamkeit fernhalten sollte und Behandlungen ohne wirkliche Hoffnung auf bedeutsame therapeutische Ergebnisse ablehnen kann, wobei er seine Arbeit dann auf seelische Unterstützung und die Versorgung mit einer geeigneten Behandlung beschränken darf, um unnützes Leiden zu verhindern, indem er versucht, die Lebensqualität des Sterbenden soweit wie möglich aufrechtzuerhalten. Insofern geht die italienische Doktrin von zwei Möglichkeiten aus: zum einen der Unterlassung oder dem Abbruch einer ab initio unnützen und schädlichen Behandlung sowie zum anderen des Abbruchs der Behandlung von Personen in irreversiblen Komata oder vegetativen Stadien, die auf künstliche Weise am Leben erhalten werden. Bei der ersten Möglichkeit 20 Siehe Seminara La eutanasia en Italia, in: Díez Ripollés/Muñoz Sánchez (Hrsg.), El tratamiento jurídico de la eutanasia. Una perspectiva comparada, 1996, S. 129; ders. Riflessioni in la tema di suicido e di eutanasia, Riv. ti., dir. proc.pen, S. 689. 21 Siehe Declarazione sull’eutanasia (vom 5.5.1980); s. a. Ciccone Salute e malattia. Questioni de morale della vida fisica, 1986, S. 82 ff.

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sind die Unterlassung bzw. der Abbruch rechtmäßig, soweit sie die verwerfliche therapeutische Grausamkeit verhindern. Bei der zweiten praktiziert man die Behandlung nur, wenn sie üblich ist, was bedeutet, dass sie begründeter Weise für die Verlängerung des Lebens nützlich ist; im Gegensatz dazu ist die Behandlung nicht verpflichtend, falls sie unüblicher Natur ist, was bedeutet, dass sie nur den Todeskampf unnütz verlängert („aufgeschobener Tod“). In diesem Fall ist Art. 40 des italienischen StGB nicht anwendbar, nach dem „das Nichtverhindern des Todes dem Hervorrufen desselben gleichkommt“.22 Dabei müssen die Umstände und das Interesse des Patienten den Inhalt der Therapie bestimmen, was die herrschende Auffassung in der Wissenschaft zu der Annahme führt, dass auch in Fällen eines irreversiblen Komas der Arzt dazu verpflichtet ist, dem Patienten eine übliche Behandlung zukommen zu lassen (künstliche Beatmung, parenterale Ernährung, Flüssigkeitsversorgung etc.). In den Fällen eines irreversiblen Komas existiert die Pflicht, solche hochgradig belastenden und erschöpfenden Maßnahmen bis zum Tode des Patienten anzuwenden, hingegen nicht.23 Außerdem ist der Begriff der therapeutischen Grausamkeit recht undeutlich und ist wenig definiert, was dieser alles umfasst. In der deutschen Doktrin hat man ebenfalls über das Problem der Unterscheidung zwischen üblichen und unüblichen Maßnahmen (bzw. „gewöhnlichen“ und „ungewöhnlichen“ Maßnahmen) oder, falls dies bevorzugt wird, verhältnismäßigen und unverhältnismäßigen Maßnahmen, deren Anwendung im Bereich des Medizinischen bleibt, debattiert. Eser hebt dabei hervor, dass heutzutage z. B. der Herzschrittmacher eine „gewöhnliche Behandlung“ ist, während er vor wenigen Jahrzehnten noch als eine „unübliche Maßnahme“ galt; entsprechendes gilt für die beeindruckenden Techniken der Wiederbelebung und der Chirurgie in den Fällen von Neugeborenen mit irreversiblen Deformationen. Diese Methoden, auch wenn heute noch ungewöhnlich, könnten in einigen Jahren als normal gelten.

22

Dafür B. Pannain/Scalafani/M. Pannain L’omicidio del consenziente e la questione „eutanasia“, 1988, S. 21 f. 23 Siehe Seminara La eutanasia (Fn. 20) S. 93; s. a. Stella RIML 1984, 1019 ff. Das vorrangige Kriterium ist immer noch, vor dem traditionellen Begriff des „klinischen Todes“, der des sogenannten „Hirntodes“, der in unserer Gesetzgebung seit dem alten Gesetz über Transplantation von 1979 existiert und dessen Bestimmungen (1980), heutzutage durch die Gesetzesreform, welche zur Verabschiedung des neuen Gesetzes über Organtransplantation von 1999 führte, welches das Konzept von „Tod“ erweitert und nuanciert, erneuert sind; hierzu Núñez Paz (Fn. 5) S. 176 ff, ders. La Buena muerte, 2006. Jedoch ist es, abgesehen vom klinischen Tod, zulässig, den Lebenserhalt zum bloßen Aufrechterhalten der Aktivität von Organen, die für eine Transplantation bestimmt sind, weiterzuführen, jedoch nur für den notwendigen Zeitraum, siehe Art. 44 des Italienischen Standeskodex.

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Die Versuche, eine Unterscheidung zu treffen, bleiben oberflächlich, wobei deren Entwicklung dem eigentlichen Ziel, der medizinischen Aktivität, nicht entgegenkommt.24 Auch wenn man zur ärztlichen Pflicht, neben der Heilung und dem Lindern von Schmerzen, den Erhalt des Lebens zählt 25, so ist der Europarat jedoch davon überzeugt, dass man die Verlängerung des Lebens nicht als „ausschließliches Ziel der medizinischen Praxis“26 betrachten kann. Insofern sollte, wenn man sowohl die Pflicht des Arztes, das Leben zu erhalten, als auch die Pflicht, zu heilen und Schmerzen zu lindern, hervorhebt, diese Pflicht, das Leben zu erhalten, die anfänglich noch unverzichtbar ist, dort enden, wo der Mensch jegliche Möglichkeit des Bewusstseins und der Selbstverwirklichung verloren hat. Genau das geschieht bei nachgewiesenem irreversiblem Koma, bei dem der Sterbende seine Entscheidungsfähigkeit verloren hat und durch den Lebenserhalt zu einem bloßen Objekt degradiert wird; die Verlängerung seines Todeskampfes bedeutet eine Verletzung seiner Menschenwürde. Eser weist zu Recht darauf hin, dass sich die ärztliche Befugnis zum Abbruch der Behandlung bei Patienten, die nicht fähig sind, eine Einwilligung zu erteilen, bei Unmöglichkeit einer Lebensverlängerung sowie in Fällen der endgültigen Bewusstlosigkeit auf die Befreiung von schmerzhaftem Todeskampf beschränkt, immer gemäß dem medizinischen Zweck, nach dem man davon ausgehen sollte, dass die Pflicht, das Leben zu erhalten, dort aufhört, wo der Mensch auf Lebenszeit seines Bewusstseins und seiner Fähigkeit zur Selbstverwirklichung beraubt ist; dabei muss immer die Menschenwürde respektiert (keine Herabwürdigung des Kranken zum bloßen Objekt) und auf unangemessene Mühen verzichtet werden, wie z. B. in Situationen, in denen mehrere Kranke gleichzeitig einer Behandlung bedürfen, bei der die chronologische Reihenfolge maßgeblich ist.27 24 Eser Limites (Fn. 8) S. 445; Henke Grenzen der ärztlichen Aufklärung und Behandlungspflicht, 1982; Roxin Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe (Fn. 1) S. 97 sagt, dass der BGH die Unterbrechung der Behandlung im Sinne einer Lebensverlängerung bei entscheidungsunfähigen Patienten bewilligt, wenn der Tod nach medizinischer Forschung nah bevorsteht. 25 Siehe Schadewaldt Klinische Wochenschrift 1969, 560. 26 Der Autor empfiehlt hier Nr. 779 der Parlamentsversammlung des Europarates vom 29.1.1976. 27 Eser Limites (Fn. 8) S. 442-446; außerdem: ders. Lebenserhaltungspflicht und Behandlungsabbruch, in: Auer/Menzel/Eser Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe; zum Behandlungsabbruch aus ethischer, medizinischer und rechtlicher Sicht, 1977, S. 121 ff; Schönke/SchröderEser S. 164. Zu dem Thema aktuell Geissendörfer Die Selbstbestimmung des Entscheidungsunfähigen an den Grenzen des Rechts, 2009. Für Arthur Kaufmann Relativización de la protección jurídica de la vida, in: CPC Nr. 31 1987, 39 f (Übersetzung durch Silva Sánchez des Werkes „Relativierung des rechtlichen Le-

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Der Arzt darf nicht zu einer Fortführung einer künstlichen Behandlung „ad infinitum“ gezwungen werden. Die Unterlassung der Fortsetzung ist demgegenüber eine rechtlich angemessene Handlung.28 Dies bestätigt auch § 214 des deutschen Alternativ-Entwurfs Sterbehilfe (Euthanasie), welcher besagt, dass jemand, der Maßnahmen zum Lebenserhalt abbricht bzw. unterlässt, nicht rechtswidrig handelt, wenn der Patient gemäß ärztlichem Befund auf Dauer sein Bewusstsein verloren hat oder dieses, wie im Falle von Neugeborenen, nie ausbilden wird. Ebenso wenig rechtswidrig sind der Abbruch oder die Unterlassung, wenn nach ärztlicher Erkenntnis die Anwendung bzw. die Weiterführung von Maßnahmen zum Lebenserhalt sinnlos ist, da der Tod nah bevorsteht, der Betroffene stark leidet und die Behandlung unnütz ist.29 Seit der Verabschiedung des Strafgesetzbuches von 1995 muss die sogenannte passive Sterbehilfe im Sinne des Unterlassens einer Behandlung von Patienten im Endstadium als tatbestandslos betrachtet werden, da der Verweis auf den Begriff „aktiv“, wenn der Gesetzgeber von Beihilfe zum Tode „durch notwendige und unmittelbare Handlungen“ spricht, unmissverständlich deutlich macht, dass darunter ausschließlich die aktive und direkte Sterbehilfe verstanden wird, da die Sterbehilfe durch Unterlassung (passive Sterbehilfe) nicht erwähnt wird.30

bensschutzes?“, das in erneuerter Version in FS Roxin, 2001, 841 ff. veröffentlicht wurde) bedeutet allein die Tatsache, dass ein Arzt eine „Auswahl“ treffen muss, wenn er auf Grund einer beschränkten Anzahl an Wiederbelebungsgeräten bzw. transplantationstauglichen Organen nicht alle Kranken retten kann, einen grundlegenden Bruch des Prinzips, das Menschenleben als einzigartig zu betrachten. 28 Torío López (Fn. 7) S. 235. 29 Siehe den Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe, 1986 (Übersetzung ins Spanische von Mapelli Cafarena in ADPCP 1988, 843 ff.). Eine Sammlung aller Gesetzesvorschläge über Euthanasie in Deutschland von 1986 bis 2008 findet sich bei Lorenz Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf, 2008, S. 333-349; ebenso ein Gesetzesvorschlag des Autors, welcher Ziel des Werkes ist (S. 93-109), sowie die Gesetzgebungsschriften zu diesem Thema aus Belgien, den Niederlanden, Oregon (USA) und Northern Territory (Australien), S. 271-331. 30 In diesem Sinne González Rus in: Cobo del Rosal (Hrsg.) Curso de Derecho penal español. Parte especial., 1996, S. 94. Siehe auch Valle Muñiz Comentarios al Nuevo Código Penal, S. 705 f, welcher die indirekte aktive Sterbehilfe sowie die passive Sterbehilfe als atypisch ansieht; ebenso Díez Ripollés/Gracia Martín Comentarios al Código penal. Parte Especial, 1997, S. 231, wenn auch unter verschiedenen Abstufungen, da man davon ausgehen müsse, dass in vielen Fällen der Einsatz von Maßnahmen, die Schmerzen verhindern können und den Tod beschleunigen, das aktive Eingreifen Dritter nicht verhindert, wobei insofern eine Beihilfe im Sinne des Art. 143 span. StGB angeführt wird. S. a. Del Rosal Blasco Libro Homenaje al Prof. Torío López, 1999, 697, der dazu neigt, die indirekte aktive Sterbehilfe sowie die passive Sterbehilfe als atypisch zu betrachten, auch wenn er die Reform als nicht sehr überzeugend und etwas zaghaft ansieht. Siehe außerdem zu dieser Problematik Tomás-Valiente Lanuza La cooperación al suicidio y la eutanasia en el nuevo Código penal (art. 143), 2000, S. 108-110.

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Es ist notwendig zu verdeutlichen, auch wenn dies über den Bereich dieser Arbeit hinausgeht, dass von der internationalen Diskussion vor allem die aktive Sterbehilfe betroffen ist, die als Tötung auf Verlangen gemäß § 143 span. StGB mit einer milden Strafe geahndet wird: Freiheitsstrafe von vier bis zu acht Jahren bzw. weniger, wenn beim Opfer besondere Umstände vorlagen, er etwa an einer Krankheit litt, die unweigerlich zum Tode führen oder sehr starke Leiden hervorrufen würde. 31 Die Diskussion bleibt offen, latent und immer aktuell, bedingt durch neue Fälle, wie den Tod von Ramón Sampedro, Elisabeth Pop oder zuletzt auch der Britin Diane Pretty, einer Patientin, die für die Ausführung jeglicher Aufgaben Hilfe benötigte und auf Grund schwerwiegender und schmerzhafter Atembeschwerden, die zum Ersticken führten (die Todesform, die sie am meisten beängstigte) verstarb, zwei Wochen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihren Antrag auf „Beihilfe zum Suizid“ abgelehnt hatte. Dieser Fall hat die Debatte in Großbritannien wiederbelebt und einige Abgeordnete dazu gebracht, über Wege zur Legalisierung nachzudenken.32

31

Auch im deutschen Recht wird die Tötung auf Verlangen mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren geahndet (§ 216 StGB), wobei dadurch die Möglichkeit offen bleibt, dass die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei ist, z. B., falls man dem Patienten eine giftige Kapsel gibt und er diese selbst einnimmt, Roxin La protección (Fn. 1) S. 13. Aktuell zur Tötung auf Verlangen („homicidio a petición“): Müller § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010; Tenthoff Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, 2008; Vöhringer Tötung auf Verlangen: die Abgrenzung des § 216 StGB zur straflosen Beihilfe zum Suizid sowie das Verhältnis von privilegierenden zu qualifizierenden Tötungsumständen, 2008; Schork Ärztliche Sterbehilfe und die Bedeutung des Patientenwillens, 2007; s. a. die interessante Arbeit zum Rechtsvergleich von Leitner Sterbehilfe im deutsch-spanischen Rechtsvergleich, 2005. Das niederländische Gesetz vom April 2001, welches im April 2002 in Kraft trat, hat die schon übliche Praxis in diesem Land legalisiert, wenn auch unter strengen Kriterien und unter festgelegten Voraussetzungen (jedoch unter zweifelhafter Gesetzmäßigkeit, siehe zum Thema Núñez Paz [Fn. 5] S. 233 ff): hierbei spricht man von aktiver Sterbehilfe. Wobei diese Praxis in den meisten Ländern Europas noch strafbar ist, auch wenn teilweise mit Strafmilderungen. 32 Siehe El País 14.5.2002, 25. – Zu einer Abschaffung der Strafbarkeit von Sterbehilfe auf Verlangen des Patienten und deren Risiken Tomás-Valiente Lanuza La cooperación al suicidio y la eutanasia en el nuevo codigo penal, 2000, S. 373 ff und 557 ff. – Zu den strafrechtlichen Konsequenzen der neuen, im Juni 2009 verabschiedeten gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung in Deutschland Reus JZ 2010, 80-84; Roglmeier/Lenz ZErb 2009, 236-239; Olzen JR 2009, 354-362.

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II. Der Abbruch von Behandlungen bei Neugeborenen mit schwerwiegenden Missbildungen Eine Problematik, die in letzter Zeit länderübergreifend, vor allem aber in Deutschland, die Gerichte beschäftigt hat, ist die so genannte Früheuthanasie bei Kindern, die mit angeborenen Missbildungen auf die Welt kommen (Downsyndrom, Spina bifida etc.) und eine pathologische Anomalie der Organe aufweisen.33 Der Begriff der „Früheuthanasie“ wird von einem Teil der Doktrin abgelehnt, da es sich nicht um die Form von Euthanasie im Sinne der bisher besprochenen Sterbehilfe bei starkem Leiden oder zur frühzeitigen Beendigung des Todeskampfes handelt, sondern eher um die Beseitigung von Neugeborenen, die lebensfähig sind oder sein könnten, aber körperliche Missbildungen bzw. psychische Schwächen aufzeigen. Damit nähern wir uns den Praktiken von Euthanasie an, bei denen Menschen, denen der Wert auf Leben abgesprochen wurde, vernichtet werden, was uns zu unheilvollen Erinnerungen führt.34 Das Recht auf Leben kann man hier nicht einfach als durch den betreffenden Menschen verfügbar betrachten, da Neugeborene keine Entscheidungen treffen können und insofern abhängig von Dritten, also den Ärzten oder Angehörigen, sind. Wenn man die aktive Sterbehilfe bei Neugeborenen ablehnt, weil sie bezüglich ihrer Rechtfertigung und Entlastung anfechtbar ist, da man nicht einmal das Einverständnis zur Strafmilderung vorbringen kann,35 besteht

33 Siehe Torío López (Fn. 7) S. 219; Keyserlingk ZStW 1985, 178 ff; aktuell Everschor Probleme der Neugeboreneneuthanasie und der Behandlungsgrenzen bei schwerst geschädigten Kindern und ultrakleinen Frühgeborenen aus rechtlicher und ethischer Sicht, 2001; Bänziger Sterbehilfe für Neugeborene aus strafrechtlicher Sicht, 2006; Glöckner Ärztliche Handlungen bei extrem unreifen Frühgeborenen. Rechtliche und ethische Aspekte, 2007. 34 Siehe Arthur Kaufmann Relativización de la protección jurídica de la vida, 1988, S. 42; ders. JZ 1982, 481 ff; ders. Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 117 ff. Zu Praktiken der Euthanasie in der Vergangenheit Czeguhn Ignacio, Eugenik und Euthanasie 1850-1945: Frühformen, Ursachen, Entwicklungen, Folgen, 2009; Merkel Tod den Idioten – Eugenik und Euthanasie in juristischer Rezeption vom Kaiserreich zur Hitlerzeit, 2006. 35 Zu Recht bestätigt Casabona, dass die aktive Sterbehilfe bei Neugeborenen weder Rechtfertigung noch Entlastung zulässt und zur gleichen Strafverfolgung führt wie die Sterbehilfe bei Erwachsenen, mit dem Unterschied, dass die Einwilligung bei der Entscheidung über Totschlag oder Mord des Neugeborenen nicht strafmildernde Konsequenzen haben kann, da diese nicht existiert (vgl. Romeo Casabona [Fn. 2] S. 468 f). Arthur Kaufmann Relativización (Fn. 34) S. 42 f, stellt den Münchener Fall von 1982 dar, bei dem zwei Ärzte (Mann und Frau) verurteilt wurden, die einen Neugeborenen mit starken körperlichen Schwächen nach der Geburt nicht behandelten, wobei dieser nach einem langen Zeitraum noch Lebenszeichen von sich gab und sie ihn daraufhin mit einer Injektion des Mittels succinyl töteten. Kaufmann geht davon aus, dass eine aktive Tötung nicht entschuldbar oder vertretbar ist, auch nicht wenn es sich dabei um „Früheuthanasie“ handelt. Wobei der

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das Problem der Nichtbehandlung darin, Umstände und Grenzen der Anwendung, Fortsetzung und des Abbruches einer Behandlung festzulegen. Um dies anschaulich zu machen, wollen wir uns nun auf den Fall eines Neugeborenen mit irreversiblen Missbildungen und einer Analatresie beziehen, die chirurgisch hätte geheilt werden können, wobei die Eltern jedoch ihr Einverständnis in die Operation nicht erteilten, die Einwilligung aber durch ein Gericht mittels Dringlichkeitsantrag erzwungen wurde, woraufhin sich indes der Anästhesist verweigerte, weniger auf Grund medizinischer, als vielmehr ethisch-juristischer Gründe. Die Staatsanwaltschaft (Freiburg i. Br., 1980) stellte jedoch das Ermittlungsverfahren ein. Eser sagt zu diesem Fall, dass, auch wenn die Ablehnung der Operation objektiv gesehen rechtswidrig ist, man doch darüber nachdenken sollte, ob die Annahme eines unüberwindbaren Verbots (gerade auch im Hinblick auf § 17 StGB) im Zusammenhang mit dem Vorwurf einer Tötung durch Unterlassen nicht fehlerhaft sei. Die Problematik besteht darin, ob die Gründe für eine Ablehnung, basierend auf dem Grundsatz der ärztlichen Behandlungspflicht, nicht doch durch die Betroffenen bestimmt werden müssen. Insofern stellt sich die Frage, ob die Ablehnung einer Operation in diesen Fällen dem Urteilsvermögen des Arztes unterstehen sollte. Eser geht zu Recht davon aus, dass die Handlung des Arztes sich nach legitimen und objektiven Beweggründen richten muss. Einige der eingrenzenden Kriterien sind schwierig anzuwenden: Die Position der Angehörigen darf eine auf der Idee des „Sterbenlassens aus Einsicht“ basierende Ablehnung der Operation an sich nicht begründen, da der Neugeborene sich nicht verständlich machen kann. Dann aber würde im Falle des zuvor genannten Neugeborenen die Ablehnung des chirurgischen Eingriffes nicht entschuldbar sein, obgleich weder sein Tod abwendbar war noch die Operation dazu gedient hätte, ihn von starken Schmerzen zu befreien. Man muss jedoch den Unterschied zwischen Sterbehilfe bei Sterbenden und das Sterbenlassen von Neugeborenen mit Missbildungen hervorheben. Daher kann man die beiden Formen von Sterbehilfe nicht an Hand ein und derselben Kriterien betrachten. Außerdem muss man, außer bei irreversiblen Komata, die Gefahr hervorheben, die darin besteht, dass die Gesellschaft davon ausgehen könnte, dass es legal ist, jemandem den „Sinn“ auf Leben abzusprechen, wobei wir uns dann nicht mehr weit weg von der Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ bewegen Autor auch bestätigt, dass es bei Neugeborenen mit starken Beeinträchtigungen üblich ist, auf Lebenserhaltungsmaßnahmen zu verzichten und diese sterben zu lassen. Nach deutschem Recht ist die aktive Sterbehilfe im Bereich der pränatalen Medizin verboten. Ein Antrag der Eltern auf die Beendigung des Lebens ihres Kindes würde nicht angenommen werden und auch das Sonderrecht nach § 216 StGB findet keine Anwendung (siehe Koch La ayuda a morir como problema legal en Alemania, in: El tratamiento jurídico de la eutanasia. Una perspectiva comparada, 1996, S. 253).

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würden, Fällen von Euthanasie also, bei denen es um die „Nützlichkeit“ für die Gesellschaft geht. Das Problem der Früheuthanasie besteht darin, dass diese über die Sterbehilfe hinausgeht.36 Wir haben schon aufgezeigt, dass im Falle von Personen in irreversiblen Komata, Personen also, deren Hirnfunktionen und Bewusstsein nicht wieder hergestellt werden können, sowie in endgültigen vegetativen Stadien die Ablehnung einer Behandlung erlaubt ist. Dieses Kriterium ist problemlos anwendbar auf Neugeborene mit unheilbaren und tödlichen Missbildungen ohne Hoffnung auf eine Besserung, da das Leben eines Kindes genauso wertvoll ist wie das eines Erwachsenen. So kann z. B. in Fällen von Anenzephalie mit Darmverschluss (Atresie) ein chirurgischer Eingriff, um den Darmverschluss zu beseitigen, weder den Zustand des Kindes verändern, noch seine Prognose, wonach das Kind kurzfristig sterben wird. In diesem Sinne ist die Aufgabe des Arztes dieselbe wie bei einem Erwachsenen. Insofern treten beim Säugling mit starken Missbildungen, welcher sich im irreversiblen Koma befindet, die gleichen Probleme auf, wie beim Erwachsenen; zweifelsohne gibt es aber bestimmte Besonderheiten, da der Neugeborene weder Bewusstsein noch Willen aufweist, die sich, wie auch die Lebensqualität, erst mit der Zeit herausbilden. Im Ergebnis wird folgendermaßen zu entscheiden sein: Falls das Ziel der medizinischen Handlung die Verbesserung der Gesundheit und der Lebenserhalt des Kindes ist, dieses Ziel aber unmöglich erreicht werden kann, wie im Falle von Anenzephalie, liegt keine Pflicht vor, die Behandlung aufzunehmen oder fortzusetzen; wenn Zweifel verbleiben, ist nach dem Prinzip „in dubio pro vita“ (im Zweifel für das Leben) zu entscheiden. Niemals darf der Arzt jemanden aufgrund von Vermutungen sterben lassen.37 Die Fragestellung ist wiederum eine andere bei Kindern mit Downsyndrom in Verbindung mit einer organischen Dysfunktion, z. B. einer Atresie. In diesem Falle kann das Absehen von der Behandlung eines Darmverschlusses nicht von den Möglichkeiten der Besserung (hier: im Hinblick auf das Downsyndrom) abhängig sein. Hier tritt insofern eine rechtliche Handlungspflicht für den Arzt ein.38

36

Siehe Eser Limites (Fn. 8) S. 435 ff, 443; s. a. Arthur Kaufmann Relativización (Fn. 34) S. 43. 37 Arthur Kaufmann Relativización (Fn. 34) S. 44; Romeo Casabona (Fn. 2) S. 446; ebenso Torío López (Fn. 7) S. 237. 38 Vgl. Romeo Casabona (Fn. 2) S. 446-466, der davon ausgeht, dass in diesen Fällen die Unterlassung der Behandlung nicht darauf basieren kann, dass es keine Heilungsmöglichkeit für das Kind gibt, sondern auf seiner eingeschränkten Lebensqualität; eine Überlegung, von der weder die spanische Gesetzgebung noch die Spanische Verfassung ausgeht.

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Die Unterlassung der Behandlung von Neugeborenen mit starken Missbildungen wirft ebenso wie bei Erwachsenen die Frage des Eingreifens des Arztes bzw. die Grenzen dessen auf.39 Die deutsche Doktrin setzt sich für die „maßgebende Nicht-Einklagbarkeit“40 ein, wenn es sich um irreversible Schäden handelt, bei denen das Kind keine Möglichkeiten auf eine Heilung hat und weder aufnahme- noch kommunikationsfähig ist; in diesem Falle kann man nicht verlangen, das Kind am Leben zu erhalten. § 214 Abs. 1 Nr. 2 des deutschen Alternativ-Entwurfs Sterbehilfe sieht vor, dass derjenige, welcher Maßnahmen zum Lebenserhalt abbricht oder unterlässt, nicht gegen das Gesetz verstößt, wenn der Betroffene gemäß medizinischem Gutachten das Bewusstsein auf Dauer verloren hat; ebenso verhält es sich bei Neugeborenen mit starken Missbildungen, wenn diese nie ein solches Bewusstsein ausbilden werden. Die Vorschrift präzisiert die Umstände, unter denen es erlaubt ist, einen Neugeborenen, der unter starken Verletzungen oder dauerhafter Bewusstlosigkeit leidet, sterben zu lassen, wobei man hier nicht von Bewusstseinsverlust reden kann, weil der Neugeborene nie ein Bewusstsein hatte.41 Letztlich scheint das Kriterium der „maßgebenden Nichteinklagbarkeit“, auf das sich Arthur Kaufmann bezieht, auch in den Einbecker Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht auf, aus denen hervorgeht, dass man nicht verlangen kann, das Leben des Kindes zu erhalten, wenn dieses irreparable Schäden solcher Art aufweist, dass keine Möglichkeit besteht, dass es jemals eine Wahrnehmungs- bzw. Kommunikationsfähigkeit entwickelt.42 39

Eser Lebenserhaltungspflicht (Fn. 27) 124 ff, erwähnt das Kriterium der rechtlichen Nicht-Einklagbarkeit, welches nur bei Fällen von irreversiblen Zuständen, bei denen das Kind nie die Fähigkeiten der Wahrnehmung bzw. der Kommunikation entwickeln wird, eintritt. 40 Eser Lebenserhaltungspflicht (Fn. 27) S. 75 ff, 124 ff. 41 Siehe Mapelli Cafarena ADPCP 1988, 850 f. sowie Abs. 4 des § 214 des deutschen Alternativ-Entwurfs, der auf Neugeborene anwendbar ist und die Legalität einer vor dem nahe bevorstehenden Tod stattfindenden Handlung in Fällen regelt, in denen es gemäß ärztlichem Gutachten nicht angemessen ist, Maßnahmen zum Lebenserhalt anzuwenden oder aufrechtzuerhalten, weil der nahe Tod und die Nutzlosigkeit der Behandlung deutlich sind. Der Arzt muss sich an die Eltern des Kindes wenden, bevor er eine Entscheidung trifft und ist ebenfalls dazu verpflichtet, in den Fällen, in denen das Sterbenlassen des Neugeborenen erlaubt ist, diesen mit den notwendigen Maßnahmen zu behandeln (Beatmung, Sauerstoffversorgung, Wärme, Nahrung etc.). 42 Siehe Arthur Kaufmann Relativización (Fn. 34) S. 43 f. Nach Koch (Fn. 35) S. 254 „dürfte keine Behandlungspflicht bestehen, wenn die Medizin nicht ein Minimum an Lebensqualität für den Neugeborenen erreichen kann“. Siehe auch die „Einbecker Empfehlung“ (las Recomendaciones Einbecker) der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht von 1986 (vgl. MedR 1986, 281), überarbeitet im Jahre 1992 (vgl. MedR 1992, 206); in dieser Empfehlung wird hauptsächlich darauf hingewiesen, dass der Arzt nicht dazu verpflichtet ist, eine Behandlung weiterzuführen, wenn sie nur befristet in der Lage ist, das Leben des Neugeborenen zu erhal-

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Der Vorschlag für einen Gesetzesentscheid zur Beihilfe bei Kranken im Endstadium, aufgesetzt von der Kommission für Umweltschutz, öffentliches Gesundheitswesen und Verbraucherschutz und am 25. April 1991 dem Europäischen Parlament vorgelegt, besagt, dass „in der Europäischen Charta für Kinder, die in Krankenhäuser eingeliefert sind, das Recht eingeschlossen werden muss, weder unnützen Behandlungen noch physischen oder psychischen Belästigungen ausgesetzt zu sein“. 1980 nahm der Fall Baby Doe in den USA großen Einfluss auf die öffentliche Diskussion. Dieses Baby kam mit Downsyndrom und anderen Missbildungen, wie Ösophagusatresie und einer tracheoösophagealen Fistel, zur Welt. Um seine Ernährung zu ermöglichen, wäre ein chirurgischer Eingriff notwendig gewesen. Die Eltern verweigerten ihre Einwilligung, weshalb das Krankenhaus eine juristische Bewilligung beantragte. Das Gericht teilte jedoch die Meinung der Eltern. Das Kind verstarb sechs Tage nach seiner Geburt. Der Oberste Gerichtshof lehnte eine Revision der Entscheidung des Gerichts von Indiana wegen verfahrensrechtlicher Mängel ab.43 Große Hoffnungen weckte der Fall des Justizgerichtes von Alkmaar in Holland, bei dem ein Gynäkologe das Leben eines Säuglings beendete, der mit starken Behinderungen auf die Welt kam. Der Arzt handelte, nachdem er sich mit seinem Team beraten hatte. In der Erwartung, dass das Gericht verstehen würde, dass es sich bei der Handlung um eine ärztliche Notwendigkeit handelte, zeigte er sich selbst an. Das Gericht bestätigte, dass es sich nach medizinischem Gutachten um Behinderungen gehandelt hatte, bei denen eine herkömmliche medizinische Behandlung keinen Sinn gehabt ten, der sichere Tod nur hinausgezögert, das Neugeborene trotz der Behandlung keine Kommunikationsfähigkeit entwickeln wird; vgl. Hiersche u. a. (Hrsg.), Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei schwer geschädigten Neugeborenen, 1987 (siehe dort insb. S. 187 sowie den Beitrag von Jahnke). Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften bestätigt in ihren Richtlinien für die Sterbehilfe, veröffentlicht am 5.11.1976, dass im Falle der Neugeborenen mit starken Hirnschäden, die nur anhand eines dauerhaften Anschlusses an Apparate leben können, deren Nichtgebrauch bzw. Abschaltung gestattet ist. 43 Siehe King Federal and State Regulation of Neonatal Decision, in: Euthanasia and the Newborn, 1987, S. 89. Das US-Ministerium für Gesundheit und Human Services (D.H.H.S.) geht davon aus, dass Behandlungen nicht begonnen werden müssen bzw. abgebrochen werden dürfen, wenn das Neugeborene sich im irreversiblen Koma befindet und die Behandlung nur dazu führen würde, seinen Sterbeprozess zu verlängern und sein Leben zu gefährden, und somit die Behandlung nutzlos und unmenschlich wäre. Über den berühmten Prozess von Lüttich, bei dem Madame Vandeputt und Dr. Casters angeklagt wurden, die Tochter von Corinne, die mit starken körperlichen Missbildungen geboren wurde, getötet zu haben und die später vom Gericht von Lüttich freigesprochen wurden, siehe Graven SZSt 1964, 121 ff; zu diesem und ähnlichen Fällen s. a. Núñez Paz Historia del Derecho a morir, 1999, S. 100 ff; ders. (Fn. 5) S. 73 ff.

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hätte, und bestätigte, dass die Entscheidung, das Leben des Kindes zu beenden, gerechtfertigt gewesen war.44 Dabei ist hervorzuheben, dass in solchen Fällen große Sicherheit und Klarheit sowohl bei den Ärzten, als auch bei den Eltern herrschen muss.45 In der deutschen Doktrin gibt es eine wichtige Gruppierung, die davon ausgeht, dass der Neugeborene trotz seiner Unfähigkeit, einen freien Willen zu äußern, nicht anders als jeder andere Patient behandelt werden darf, weshalb die Behandlungspflicht keinen Einschränkungen unterliegen dürfe, nicht einmal wenn das Leben bedroht ist, falls die Bedrohung durch einen chirurgischen Eingriff ausgeräumt und dem Kind damit eine autonome Existenz gewährt werden kann.46 Es gibt keine klaren Angaben im Spanischen Strafrecht über schwerstgeschädigte Neugeborene wie im deutschen Alternativ-Entwurf Sterbehilfe. Ebenso wenig finden sich solche in den Alternativ-Vorschlägen zur Novellierung des Strafgesetzbuches bezüglich des gesetzlichen Umgangs mit den Handlungen Dritter im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit über das eigene Leben. Normalerweise tragen die Eltern die Verantwortung, über den Beginn oder den Abbruch einer Behandlung ihres Kindes zu entscheiden. Falls die Eltern und der Arzt nicht übereinstimmen und der Arzt davon ausgeht, dass die Eltern voreingenommen sind, kann er rechtliche Schritte einleiten bzw. bei einem dringenden Eingriff von der Notlagenregelung des Art. 20.5 span. StGB Gebrauch machen.

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Tribunal de Alkmaar, 26.4.1995. Siehe Van Kalmthout La eutanasia, ayuda al suicidio y terminación activa de la vida sin solicitud expresa en los Países Bajos, in: El tratamiento jurídico de la eutanasia. Una perspectiva comparada, 1996, S. 322. 46 Siehe Jähnke Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerst geschädigten Neugeborenen aus juristischer Sicht, in: Hiersche/Hirsch/Graf-Baumann (Hrsg.) Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei schwerst geschädigten Neugeborenen, 1987, S. 99. 45

Darf der Staat foltern? JUSTA GÓMEZ NAVAJAS1

„Es ist dies das sichere Mittel, kräftige Verbrecher freizusprechen und schwache Unschuldige zu verurteilen“. (C. Beccaria)

I. Einleitung Folter war bisher im Rechtsstaat Deutschland und anderen Ländern ein Tabu-Thema.2 Darüber wird jedoch wieder heftig diskutiert.3 Einige plädieren dafür, Folter in Ausnahmefällen zuzulassen mit dem Argument, die Würde potentieller Opfer sei höher zu bewerten als jene der Täter. Art. 1 GG schützt die Menschenwürde absolut mithin umfassend und lässt damit keine Einschränkung bzw. Verletzung zu. Dieses oberste Prinzip

1 Diesen Aufsatz widme ich in großer Dankbarkeit und Bewunderung Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, der mich immer jahrelang mit großer Gastfreundlichkeit in der Bibliothek für die gesamten Strafrechtswissenschaften der Universität München empfangen und betreut hat. Es war – und ist noch gelegentlich – eine große Ehre, sich in der wunderschönen Stadt München aufzuhalten. Einen besseren Gastgeber und Strafrechtslehrer konnte ich nicht haben. Für seinen Rat und seine Unterstützung werde ich Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin immer dankbar sein. 2 „Ein Laster der so genannten Schurkenstaaten“, vgl. Husmann VR 2004, 109 ff; Pawlik FAZ vom 1.03.2003; Saliger ZStW 116 (2004), 35; Breuer in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 11 ff. 3 Kramer KritJ 33 (2000), 624 ff; Bertram RuP 2005, 245; ders. RuP 2006, 224; Baumann Jahrbuch Menschenrechte, 2006, S. 322 ff; Böhm Jahrbuch Menschenrechte, 2006, S. 112 ff; Scheiler NJW 2009, 705; Góngora Mera http://www.menschenrechte.org/lang/de/lateinamerika/ein-bisschen-folter; Ehrlich/Johannsen in: Hasse u. a. (Hrsg.), Menschenrechte, 2002, S. 332 ff; Brieskorn in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 52; Spirakos Folter als Problem des Strafrechts, 1990; Scheller NJW 2009, 705 ff; v. Becker NJW 2007, 662 f; Der Spiegel Nr. 9, 24.2.2003; Quorin „Held oder Verbrecher?“ Der Spiegel 9/2003, S. 22 ff; Hassemer im Gespräch mit Prantl: „Das Folterverbot gilt absolut – auch in der Stunde der Not“, Der Tagesspiegel v. 25.2.2003.

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unseres Grundgesetzes bedingt das absolute Folterverbot.4 Art. 1 Abs. 1 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“5 Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist unabänderlich. Der Verfassungsgeber hat in Art. 79 Abs. 3 GG eine Änderung dieses Verfassungsgrundsatzes ausgeschlossen, auch wenn eine entsprechende Mehrheit für eine Grundgesetzänderung vorläge. Aus diesem Grund wird Art. 79 Abs. 3 GG auch als „Ewigkeitsklausel“ bezeichnet. Das strikte Verbot, einem Beschuldigten Gewalt auch nur anzudrohen, ist bereits das Ergebnis einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Interessen. Der Rechtsstaat würde sich selber aufgeben, wenn er diesem strikten Gebot keine Folge leisten würde. Folter verstößt eindeutig gegen die Würde des Menschen, nicht dagegen einfacher unmittelbarer Zwang zur Erlangung von Informationen.6

4 Neumann ARSP 84 (1998), 153 ff; Hruschka ARSP 88 (2002), 463 ff; Hassemer FS Maihofer, 1998, 183 ff; ders. StV 2006, 321 ff; ders. SZ v. 27.2.2003, S. 7; Gusy NJW 2005, 239 ff; Ferrajoli Diritto e ragione, 1998, S. 927; Hobbes Leviathan, 1996; Miehe NJW 2003, 1219; Ziegler Vierteljahresfestschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 2004, S. 50; ders. KritV 2004, 50 ff; Düx ZRP 2002, 180; Merten JR 2003, 404 ff; Gross in: Levinson (Hrsg.), Torture – A collection, 2004, S. 229 ff; Christensen in: Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit oder Freiheit?, Folter – Zulässiges Instrument im Rechtsstaat?, 2005, S. 133 ff; Lübbe in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 67 ff; Badura JZ 1964, 337 ff; Häberle in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 20/44; BVerfGE 87, 228; Franke in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 51 ff. 5 „Das Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde (...) sei ein Grundrecht, und zwar das einzige absolute. Denn nur ihm seien keine Schranken gezogen und nur bei ihm sei der staatlichen Gewalt der Eingriff unter allen Umständen verboten“. Eingehend dazu Herzberg JZ 2005, 322; Beestermöller in: ders./Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 115 ff; Stobbe in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 36 ff; Tomuschat in: Schulz-Hageleit (Hrsg.), AlltagMacht-Folter, 1989, S. 95 ff; Hong in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 24 ff; Brunkhorst in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 88 ff; Wittrecht DÖV 2003, 873 ff; Dürig AöR 81 (1956), 117 ff; Schlehofer GA 1999, 357 ff; Wetz ARSP 87 (2001), 311 ff; Hilgendorf JZ 2004, 339. 6 „Ausnahmen sind in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen, der Schutz, den Art. 1 des GG gewährt, ist absolut und darf insoweit in keiner Hinsicht eingeschränkt werden“. Husmann VR 2004, 112; Enders in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 133 ff.

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II. Zulässigkeit von Folter im Rechtsstaat? Die Bedingungen unter denen Folter zulässig sein könnte, werden derzeit besonders in Bezug auf den „Krieg gegen den Terrorismus“ debattiert, sowie im Hinblick auf die so genannte „Rettungsfolter“.7 Der Fall Daschner hatte enorme Resonanz in der Öffentlichkeit. Während die Rechtsordnung Folter ausnahmslos verbietet, lässt sich Folter nach Meinung vieler moralisch in extremen Grenzfällen u. U. rechtfertigen.8 Gäfgen, der Entführer und Mörder des elfjährigen Bankierssohns Jakob von Metzler, wurde rechtskräftig wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und wegen falscher Verdächtigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Der Angeklagte Daschner hatte sich einer Nötigung i. S. des § 240 Abs. 1 StGB und der Verleitung eines Untergebenen zu dieser Straftat gem. § 357 StGB i. V. mit § 240 Abs. 1 StGB schuldig gemacht.9 Die Drohung hatte den gewünschten Erfolg, so dass Gäfgen seinen Widerstand aufgab und den Verwahrort des Kindes offenbarte. Die Androhung von Schmerzen zu dem Zweck, eine Information zu erlangen, war verwerflich10 (§ 240 Abs. 2 StGB). Beide Angeklagten wussten ganz genau, was sie taten. Es sind also keine Rechtfertigungsgründe gegeben und keine Ermächtigungsgrundlagen ersichtlich. Die Schutzpflicht des Staates zur 7 Synonyme dafür sind „Präventions-, Präventivfolter oder Gefahrabwendungsfolter. Symposium am 18. und 19. Juni 2010 auf Schloß Mickeln in Düsseldorf; Krasmann/Wehrheim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2006, 265 ff; Herrmann Folter und Rechtsstaat, Nr. 45, 2005. „Rettungsfolter“ ist ein Euphemismus und bezeichnet nichts anderes als Folter; Gur-Arye in: Levinson (Hrsg.), Torture, A collection, 2004, S. 183 ff; Moore Israel Law Review 23 (1989). Siehe auch Placing Blame: A general Theory of the Criminal Law, 1997, S. 670 ff; Morgan Punishment and Society (2), 2000, S. 181 ff; Ulbrich in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 119 ff; Bentham in: Twining/Twining, Northern Ireland Legal Quarterly, 24, 1973, S. 305 ff; Hilgendorf JZ 2004, 335. 8 Näher dazu Hilgendorf JZ 2004, 339; Steinhof in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 173 ff; Lenzen in: ders. (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 200 ff; Birnbacher in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 135 ff. 9 Man muss zwei Entscheidungen des LG Frankfurt a. M. berücksichtigen: die Verurteilung des Jurastudenten Magnus Gäfgen vom August 2003 zur lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes unter Feststellung besonderer Schuldschwere und das Urteil gegen den Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner vom 20.12.2004, das auf Verwarnung unter Vorbehalt einer geringen Geldstrafe wegen Nötigung im Amt lautete. Keiser GA 2009, 344 ff. 10 Die 22. StrK des LG Frankfurt a. M. hat in dem Strafverfahren gegen Gäfgen festgestellt, dass die Androhung des Angeklagten E wegen Verstoßes gegen Art. 1 und 104 I 2 GG und Art. 3 EMRK gesetzeswidrig ist (LG Frankfurt a. M. StV 2003, 325). Siehe Bourcarde Folter im Rechtsstatt?, Justus-Liebig-Univ. Gießen; Weihmann Kriminalistik 6 (2005), 342; Braum Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 2005; Jeȕberger Jura 2003, 711 ff; Schild in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtstaat?, 2005, S. 61 f; Haurand/Vahle NVwZ 2003, 514 ff.

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Rettung menschlichen Lebens besteht immer nur in den Grenzen, die dem Handeln des Staates gesetzt sind.11 Bei der Kollision der polizeilichen Auskunftspflicht mit dem umfassenden Schweigerecht als Beschuldigter gelten die Vorschriften des § 136a StPO entsprechend. Die Auskunft im Rahmen der Gefahrenabwehr darf nicht auf die in § 136 StPO beschriebene Weise, also z. B. nicht durch Drohung mit Schmerzzufügung, erlangt werden. Es gibt verbotene Vernehmungsmethoden.12 Das ist der Fall bei Methoden, die die Freiheit der Willensentschließung nach § 136a StPO beeinträchtigen, weil sie gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) verstoßen.13 Ist also Folter in einem modernen Rechtsstaat legitimierbar?14 In einem Rechtsstaat heiligt der Zweck eben gerade nicht die Mittel.15 Aber kann ein kategorisches Verbot der Folter die Menschenwürde nicht verletzen, „nämlich die Menschenwürde der Unschuldigen, die, von Geiselnehmern entführt oder von Terroristen bedroht, vom Staat ihrem Schicksal überlassen werde?“, wie Hilgendorf sich fragt. Falls der Rechtsstaat foltert, hört er auf 11 Jäger FS Herzberg, 2008, 539 ff. Das BVerfG hat eine mögliche Rechtfertigung des Abschusses durch §14 III LuftSiG verneint. BVerfG NJW 2006, 751. 12 Theorie der Früchte des vergifteten Baumes. 13 Die Verabreichung eines Wahrheitsserums an den einer Geiselnahme Verdächtigen zur Auffindung der Geisel ist unzulässig. Welsch BayVBl 2003, 481 ff; Gaede in: Camprubi (Hrsg.), Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, 2004, S. 161 ff; Guckelberger VBlBW 2004, 121 ff; Norouzi JA 2005, 306 ff; Dershowitz billigt die Folter: IsLR (23) 1989, 192 ff; Kadish IsLR (23) 1989, 345 ff; Kreuzer in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 44.; Trapp in: Nida-Rümelin/Vossenkuhl (Hrsg.), Ethische und politische Freiheit, 1997, S. 448 ff; Wittreck in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtsstaat?, 2005, S. 37 ff; ders. in: Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit oder Freiheit?, 2005, S. 161 ff; Trapp in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 95 ff; Wolbert, in: Gehl (Hrsg), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtsstaat?, 2005, S. 93 ff; Christensen in: Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit oder Freiheit?, 2005, S. 133 ff; Kremnitzer IsLR 1989 (23), 260 f; Fahl JR 2004, 182 ff; Busch Grundrechte-Report 2004, 21 ff; Reemtsma Folter im Rechtstaat, 2005, S.122; ders. in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter: Der Rechtsstaat im Zwielicht, 2006, S. 71 ff; Zizek Welcome to the desert of the real, 2002, S. 103. 14 Ward Is Torture ever permissible?, www.hmprisonservice.gov.uk/assets/.../ 100048A9 is_torture_ever_possible.pdf. Dagegen zeigt sich Jäger FS Herzberg, 2008, 539 ff.; Hamm NJW 2003, 946; Erb Jura 2005, 24 ff; ders. NStZ 2005, 593 ff; ders. in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 38 ff; Saliger ZStW 116 (2004), 35; Jahn Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2004; ders. KritV 2004, 24 ff; Jerouschek JuS 2005, 296; ders./Kölbel JZ 2003, 613 ff; Gössel FS Otto, 2007, 60 ff; Otto JZ 2005, 480 f; Wagenländer Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006, S. 199; Wittrek DÖV 2003, 873 ff; Brugger JZ 2000, 165; ders. Freiheit und Sicherheit 2004, 59 f; ders. in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtstaat, 2005, S. 107 ff; ders. Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 23 ff; ders. FAZ vom 10.03.2003, Nr. 58, S. 8; Kissel FAZ 5.3.2003; Miehe NJW 2003, 1219 f; Hetzer StraFo 2006, 140 ff; Schlink in: Brugger/Schlink (Hrsg.), Darf der Staat foltern – Eine Podiumdiskussion, 2002. 15 Husmann VR 2004, 113; Vgl. auch Müller FAZ vom 22.02.2003, Nr. 45, S.3; Hecker KritJ 36 (2003) 210; ders. Frankfurter Rundschau v. 27.3.2003.

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Rechtsstaat zu sein. Foltert der Rechtsstaat nicht, gibt er Unschuldige ihrem schrecklichen Schicksal preis. In beiden Fällen wird die Menschenwürde verletzt. Hilgendorf spricht von einem Tabubruch. „Keinesfalls ist davon auszugehen, dass unmittelbarer Zwang schon per se die Menschenwürde verletzt“.16 Für Lüderssen sei es unstreitig, „dass mit der Folter und ihrer Androhung nicht nur die körperliche Unversehrtheit dessen, dem sie gelten, verletzt wird, sondern auch seine Menschenwürde (...). Die Menschenwürde ist aber unantastbar, Art. 1 GG, sie ist jeder abwägenden Entscheidung entzogen“.17 Herzberg hält das Urteil des LG Frankfurt18 für falsch und meint, die Angeklagten hatten keine Straftat begangen und hätten freigesprochen werden müssen. Man kann nicht sagen „keine Rechtfertigung, weil Menschenwürdeverletzung“, sondern höchstens umgekehrt „keine Menschenwürdeverletzung, weil gerechtfertigt“.19 Hilgendorf hält es in diesem Fall für vertretbar, die Folter als moralisch erlaubt anzusehen. Nach seiner Meinung gibt es drei Lösungswege: „In einer so extremen Situation, wie sie im Frankfurter Fall vorlag, ist es jedenfalls vertretbar, die Folter als moralisch erlaubt, vielleicht sogar als moralisch geboten anzusehen“. (...) 2) „Ein zweiter Ausweg könnte darin liegen, in Extremsituationen wirksame Droh- und Zwangsmittel unterhalb der Schwelle von Folter von Rechts wegen zuzulassen, wenn es um die Abwehr von Gefahren für das Leben oder erhebliche Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit geht. (...). Es handelt sich hierbei um Schmerzzufügung, aber noch nicht um Folter.20 Während derartige Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung ausgeschlossen sind (§ 136a StPO), könnten 16

Hilgendorf JZ 2004, 337; ebenso Poscher JZ 2004, 756 ff; Saliger ZStW 116 (2004), 39. Lüderssen FS Rudolphi, 2004, 700 f; ders. FAZ 25.2.2003. 18 Siehe LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692. „Schriftliche Urteilsgründe in der Strafsache gegen Wolfgang Daschner“ vom 15.2.2005: http://www.lg-frankfurt.justiz.hessen.de, S. 16; Götz NJW 2005, 953 ff; BGH 2 StR 35/2004 (Zurückweisung der Revision Gäfgens); BVerfG NJW 2005, 656 (Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde Gäfgens) sowie BVerfG 1 BvR 1807/07 vom 19.2.2008 (erfolgreiche Verfassungsbeschwerde Gäfgens gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe); EGMR Nr. 22978/05 (in Teilen und ohne abweichende Meinungen abgedruckt in NStZ 2008, 699 m. Anm. Esser NStZ 2008, 657. Damit war kein Verstoß gegen Art. 6 I und III EMRK anzunehmen). 19 Herzberg JZ 2005, 328. „Das Folterverbot gilt absolut, aber trotzdem waren die Beamten im Recht“; Herdegen in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 2003, S. 14 ff; Marx KJ 2004, 278 ff; ders. in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtstaat?, 2005, S. 95 ff; Brugger JZ 2000, 167. Bedenken gegen die von Brugger genannten Kriterien haben Gebauer NVwZ 2004, 1408, und auch Kinzig ZStW 115 (2003), 806; Brugger APuZ 36 (2006), 9 ff; ders. VBlBW 1995, 415 f; ders. Der Staat 35 (1996), 67 ff; ders. JZ 2000, 165 ff; Husmann VR 2004, 112. Vgl. Kretschmer RuP 2003, 102 ff; Perron FS Weber, 2004, 143 ff. 20 Hilgendorf JZ 2004, 338. Hilgendorf gibt zu, dass in einem so sensiblen Bereich die Grenzziehung außerordentlich schwierig ist, Fn. 56. 17

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sie zum Zwecke der Gefahrenabwehr, wenn sie zur Rettung von Menschenleben erforderlich sind, zugelassen werden.21 Im Rahmen des allgemeinen polizeilichen Handelns sind Zwangsmaßnahmen bis hin zum „finalen Todesschuss“ zulässig (...). Es handelt sich um einen Fall von unmittelbarem Zwang, dessen Anwendung grundsätzlich zulässig ist, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stehen und das Übermaßverbot beachtet wird22 (...). Unmittelbarer Zwang verstößt nicht per se gegen die Menschenwürde. (...)23 „3) Eine dritte Lösungsmöglichkeit liegt in der Anwendung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe §§ 32 und 34 StGB. Es ist allerdings umstritten, ob diese Rechtfertigungsgründe im Polizeirecht die Befugnisse von Amtsträgern erweitern können. Während dies von einer Mindermeinung abgelehnt wird, vertritt die im öffentlichen Recht h. M., dass die allgemeinen Rechtfertigungsgründe zwar keine polizeilichen Eingriffsbefugnisse begründen könnten, jedoch geeignet seien, den Amtsträger, der sich auf sie berufen kann, vor strafrechtlicher Haftung zu schützen. (...).“24 Auf der Grundlage des geltenden Rechts lassen sich Extremfälle grundsätzlich über die Nothilfe, § 32 StGB, lösen.25 § 32 StGB setzt objektiv eine 21

Dagegen Ellbogen Jura 2005, 339 ff. In den Polizeigesetzen der Länder finden sich allerdings überwiegend Regelungen, wonach die Anwendung unmittelbaren Zwangs „zur Abgabe einer Erklärung“ (so die Formulierung in Art. 58 BayPAG) ausgeschlossen ist. 23 Demgegenüber muss auch der Verfassungsgrundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss (Nemo tenetur se ipsum accusare), zurücktreten, Hilgendorf JZ 2004, Fn. 54 und Fn. 61. Die Verletzung der Menschenwürde wird von den Intentionen des Akteurs abhängig gemacht. Gegen diese Lösung de lege ferenda spricht vor allem die Schwierigkeit, zwischen einer noch zulässigen Schmerzzufügung und verbotener Folter klar zu unterscheiden. Fraglich ist zudem, ob eine „leichtere Schmerzzufügung“ zum Zwecke der Informationserlangung mit Art. 3 EMRK vereinbar wäre, wo neben der Folter auch die „unmenschlich oder erniedrigende Strafe“ verboten wird. Näher Meyer-Ladewig EMRK-Handkommentar, 2003, Art. 3 Rn. 6 ff. 24 „Folgt man der (...) herrschenden Ansicht, dass die allgemeinen Rechtfertigungsgründe auch im Polizeirecht anwendbar sind, so lässt sich auf den vorliegenden Problemfall § 32 StGB (Nothilfe) anwenden. Der Angriff auf das Leben, die Würde und die körperliche Unversehrtheit des Kindes, liegen in der Weigerung, seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben (...). Hilgendorf JZ 2004, 339; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 12/41 ff; ders. HRRS 2004, 88 ff; ders. ZStW 2005 (117), 839 ff; Saliger JZ 2006, 756 ff; ders. FS Nehm, 2006, 219 ff; Renzikowski Notstand und Notwehr, 1994, S. 297; Seelmann ZStW 89 (1977), 49 ff; Zeller IsLR 23 (1989), 201 ff; Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983, S. 366 ff; Kühl Strafrecht AT, § 7 Rn. 155. Lackner/Kühl § 32 Rn. 17. Das Kind war bereits tot, was die Polizei nicht wusste. Es lag deshalb ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Jäger in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtsstaat?, 2005, S. 29 ff; Schaefer NJW 2003, 947. Siehe Llobet Anglí InDret, 2010. 25 Hilgendorf JZ 2004, 339; Von der Pfordten in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 149 ff „Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe können somit nicht als QuasiErmächtigung für eine allgemeine polizeiliche „Rettungsfolter“ zur Anwendung kommen, wie dies häufig unterstellt wird“; Hecker KritJ 36 (2003), 216. 22

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Notwehrlage zur Tatzeit voraus.26 Das lag nicht vor, weil das Kind bereits tot war. Die Angeklagten befanden sich gleichwohl nicht in einem vorsatzausschließenden Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Erforderlich i. S. des § 32 StGB ist die Verteidigung, wenn sie einerseits zur Abwehr geeignet ist und andererseits das mildeste Gegenmittel darstellt. Die Androhung von Schmerzzufügung war jedoch nicht das mildeste Gegenmittel. § 34 StGB setzt voraus, dass die Gefahr für das Leben des Kindes nicht anders abwendbar sei und die Tat ein angemessenes Mittel darstellt. Beide Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Andere weniger einschneidende Mittel standen zur Verfügung. Zudem war die Handlung weder geboten i. S. des § 32 StGB noch stellte sie ein angemessenes Mittel i. S. des § 34 StGB dar, denn sie verstieß gegen Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Dieser fundamentale Satz der Verfassung findet sich auch in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG wieder, wonach festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen. Keine Person darf durch die staatliche Gewalt zum Objekt, zu einem Ausbund von Angst und Schmerzen gemacht werden27. Die Achtung der Menschenwürde ist die Grundlage dieses Rechtsstaats. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist in Art. 2 Abs. 2 GG normiert. Der Mensch sollte nicht als Träger von Wissen behandelt werden können, das der Staat aus ihm herauspressen will, und sei es auch im Dienste der Gerechtigkeit. Die Androhung von Schmerzen zu dem Zweck, eine Information zu erlangen, war verwerflich, sogar wenn sie zu dem Zweck erfolgt ist, das Leben eines Kindes zu retten28. Die Anwendung von Gewalt zur Aussageerpressung ist in Deutschland insbesondere auch verfassungsrechtlich absolut verboten29. 26 Fahl Jura 2007, 743 ff. Fahl meint, dass der Frankfurter Fall falsch entschieden sei; Ipsen in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 38 ff; Jäger FS Herzberg, 2008, 539 ff. 27 Seinen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke auch in internationalen Verträgen und Konventionen, wie z. B. in Art. 3 EMRK, die in Deutschland Gesetzeskraft hat, gefunden. Siehe Maqueda Abreu ADPCP 39 (1986) 423 ff. 28 Reemtsma Folter im Rechtstaat, 2005; Herrmann Themenblätter im Unterricht, 2005, Nr. 45; Bielefeldt APuZ 36 (2006), 3 ff; ders. Jahrbuch Menschenrechte, 2006, S. 59 ff; ders. in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, 2005, S. 95 ff. 29 „Folter ist im Rechtsstaat ausnahmslos unzulässig und darf niemals als legitimes Mittel zur Erreichung staatlicher Zwecke angesehen werden“. (...). „Der Preis der Folter ist die Würde und damit der Rechtstaat. (...). „Folter und Rechtsstaat schließen einander aus“. Hecker KritJ 36 (2003), 212; Bamberger/Moll RuP 2007, 142 f, 149; Hecker KritJ 36 (2003), 217. Hecker ist der Meinung, dass „mit der Zulassung eines Unterlaufens des absoluten Folterverbots über die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe würde der Staat aber gegen die ihm obliegende Schutzpflicht zur Wahrung des absoluten Verbots verstoßen. Aus dieser Schutzpflicht folgt, dass wirksame strafrechtliche Regelungen und ein effizientes Verfahren vorgehalten werden müssen, um Verstößen gegen das Folterverbot zu begegnen“.

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Für Hilgendorf wird „das allgemeine, grundsätzlich unangezweifelte Folterverbot (…) in Extremfällen von Geiselnahme oder terroristischen Bedrohungen problematisch. (...). „Legt man der juristischen Bewertung, wie es das Grundgesetz gebietet, die Menschenwürde als Grundlage der Staatsordnung der Bundesrepublik Deutschland zugrunde, und akzeptiert man zudem die Prämisse, dass es dem Staat unter keinen Umständen erlaubt ist, die Menschenwürde zu verletzen, so bleibt Folter auch dann rechtswidrig, wenn sie dazu eingesetzt wird, das Leben und die Würde Unschuldiger zu retten“.30 Brugger hat sich für die Zulässigkeit der Folter in bestimmten Ausnahmesituationen ausgesprochen und gesagt: „Folter darf wirklich nie, und Folter darf ausnahmsweise doch angewendet werden!“.31 Jerouschek/Kölbel halten am Folterverbot fest, sehen die Täter im Fall Daschner aber straffrei32. Erb geht davon aus, dass in dieser Situation das Folterverbot nur den Staat bindet, nicht aber seine Handlungsträger33 und verneint die strafrechtliche Haftung des Beamten34. Roxin hält bei katastrophalen Situationen eine übergesetzliche Entschuldigung für „diskutabel“35. Es gibt Autoren die für 30

Hilgendorf JZ 2004, 339. Brugger JZ 2000, 170. 32 Jerouschek/Kölbel JZ 2003, 619 f; Jerouschek JuS 2005, 296. 33 Aber zum Menschenwürdeartikel sagt er: „Es ist richtig, dass diese Norm dem Staat ausnahmslos verbietet, Folter durch eine polizeirechtliche Regelung hoheitlich anzuordnen – der Staat darf nicht durch eigene Handlungen die Würde eines Bürgers herabsetzen, auch nicht mit dem Ziel, die Würde eines anderen zu schützen“. Erb Jura 2005, 24 f. Dagegen Ebel KR 1995, 827. 34 DIE ZEIT, 9.12.2004, Nr. 51, S. 15. So Hilgendorf JZ 2004, 335: „Auch wenn man die Folter auf wenige extreme Notfälle begrenzen würde, wäre ein Missbrauch nie ausgeschlossen. (...). Es gibt bestimmte Mittel, zu denen der Staat auch in Notlagen nicht greifen darf, wenn er nicht seine moralische Legitimität verspielen will“. Das Bundesverfassungsgericht hatte erinnert, als es die Beschwerde Gäfgens abwies, an die Ausnahmslosigkeit des Folterverbots: „Denn die Anwendung von Folter macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen“. BVerfG NJW 2005, 657. Siehe auch NJW 2007, 1934. In kantischer Terminologie – so Saliger ZStW 116 (2004), 47 – „ist der Gefolterte nicht mehr Zweck an sich, sondern nur noch Mittel für andere und anderes“. 35 Husmann VR 2004, 112: „Die Argumentation, dass – wenn es um das Leben des Opfers gehe – die Menschenwürde des Täters – bei einer interessengerechten Abwägung – zurücktreten müsse, ist (...) verfassungswidrig. Die unbestrittene Tatsache, dass der Täter durch seine Tat auch die Würde des Opfers verletzt hat (...), setzt nicht die Pflicht des Staates außer Kraft, die Würde des Täters dennoch zu achten und zu schützen“. Roxin FS Eser, 2005, 461 ff; ders. FS Nehm, 2006, 161 ff; Greco GA 2007, 628 f. Dazu Schünemann GA 2007, 644 f; Luhmann Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 1; Bielefeldt ApuZ 36 (2006), 4; Roxin FS Eser, 1995, 469; ders. FS Nehm, 2006, 172; ders. Strafrecht AT I § 22 Rn. 169; Gaede in: Camprubi (Hrsg.), Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, 2004, S. 155 ff; Ambos FS Bunster, 2009, 41 ff. 31

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den Fall der tickenden Zeitbombe eine Rechtfertigung der Folter vertreten36. Molina Fernández setzt sich für eine Pflicht, sich aus moralischen Gründen töten zu lassen, ein.37 Manche Autoren vertreten die Meinung, dass der zu Folternde kein Unbeteiligter ist und dass der Rechtsstaat zwischen Recht und Unrecht nicht neutral bleiben darf und zu Gunsten des Opfers intervenieren muss. Ansonsten würde er „die Kaltblütigkeit und die Raffinesse des Erpressers“ belohnen.38 Aus dem Tun des zu Folternden könnte ein Schaden verheerenden Ausmaßes entstehen. Numbers do matter! Diese zwei Argumente könnten eine Ausnahme vom Folterverbot für den Fall der tickingtime bomb begründen. Greco spricht hier mit Recht von zwei Regeln, die die Folter rechtfertigen könnten, aber die inakzeptabel sind39: 1) Verwirkungsregel, die man so formulieren könnte: Würde ist etwas, was man durch eigenes Vorverhalten verwirken könnte. 2) Kostenregel, also: Würde ist etwas, was nur zu achten ist, als die Kosten dieser Achtung nicht eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreiten.40 Der Vize-Polizeipräsident im Fall Daschner und manche Juristen sind der Auffassung, das Recht erlaube zur Rettung des Lebens einer Geisel den mutmaßlichen Täter notfalls mit Gewalt zu befragen. Aber das Leben sei nicht der Höchstwert der Verfassung. So Saliger: „Das Grundgesetz stellt in Art. 1 die Menschenwürdegarantie an seine Spitze, die anders als das Grundrecht „Leben“ in Art. 2 Abs. 1 auch keinem Schrankenvorbehalt unterliegt“.41

III. Folter und Völkerrecht Im Völkerrecht42 schließen mehrere Konventionen, die Deutschland ratifiziert hat, die Anwendung von Folter aus. Art. 1 UN-Folterkonvention (1984) beinhaltet eine ausführliche Definition des Begriffs Folter. Gemäß Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 36 Neuhaus GA 2004, 525, Fn. 23; Joerden Jahrbuch für Recht und Ethik, 2005, 522 f; Scharnweber Kriminalistik 3 (2005). 37 Molina Fernández in: Cuerda Riezu (Hrsg.), La respuesta del Derecho Penal ante los nuevos retos, 2006, S. 265 ff; Posner in: Levinson (Hrsg.), Torture, A collection, 2004, S. 291 ff. 38 Brugger Der Staat 35 (1996), 170; Isensee Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 60. 39 Greco GA 2007, 633. 40 Greco in: Levinson (Hrsg.), Torture – A collection, 2004, S. 165 ff. Siehe die Entscheidung des Israeli Supreme Court v. 6.9.1999. www.derechos.org/human-rights/mena/ doc/torture.html. 41 Saliger ZStW 116 (2004), 46. 42 Bruha/Tams ApuZ 36 (2006); Schmal-Steiger Archiv des Völkerrechts, Bd. 43 (2005), 358 ff; Raess Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, 1989, S. 112 ff.

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(IPBPR), der auf Art. 5 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte (AEMR) zurückgeht, darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ausgesetzt werden. Auf Ebene des universellen Menschenrechtsschutzes gilt ein absolutes Folterverbot. Die Folterverbote sind aufgrund der Vorschriften des Art. 4 Abs. 2 IPBPR und Art. 2 Abs. 2 der Anti-Folterkonvention unabdingbar. Die „Rettungsfolter“ findet im vertraglichen System des universellen Menschenrechtsschutzes keinen Raum. Dem steht bereits der klare Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 EMRK entgegen. Auch findet diese Argumentation keinen Rückhalt in der Rechtsprechung des EGMR. Danach gehören das Recht auf Leben und das Folterverbot gleichermaßen zu den grundlegendsten Werten in der demokratischen Gesellschaft. Eine Güterabwägung ist daher ausgeschlossen“43. Das völkerrechtliche Folterverbot gilt absolut und das Völkerrecht kennt keine Ausnahmen von diesem Prinzip44. Art. 3 EMRK45 verbietet direkt die Anwendung von Folter: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“. Dieses Verbot ist absolut und eine Ausnahme ist – selbst im Fall eines Staatsnotstandes – nicht zugelassen46. Der EGMR in Sachen Gäfgen v. Deutschland (22978/05), Urt. v. 30.6.2008, stellte folgendes fest: Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann – unabhängig vom Verhalten des Betroffenen – auch zur Rettung von Leben und selbst im Fall eines Notstands für den gesamten Staat nicht gerechtfertigt werden. Wird eine Person unmittelbar und realistisch mit Folter bedroht, stellt dies (wie hier im Fall Gäfgen) einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK mindestens in Form der unmenschlichen Behandlung dar. Nur die Verwertung von Beweismitteln, die unmittelbar unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, führt stets zur Unfairness des Verfahrens, in dem die Beweise verwertet worden sind.

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Selbmann NJ 2005, 301. Folter sollte nur bei Zufügung von starken und andauernden Schmerzen angenommen werden. „Minder schwere Fälle hingegen sind dem Folterbegriff nicht zu subsumieren“. „Kleine Schmerzen sind keine ‚großen Schmerzen’, und erst mit solchen lässt die Konvention die Folter beginnen“. Hilgendorf JZ 2004, 339; Herzberg JZ 2005, 326; Merkel FS Jakobs, 2001, 375 ff. 45 Brugger JZ 2000, 170; Esser NStZ 2008, 657; ders. in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Rechtsstaat?, 2005, S. 143 ff. 46 Husmann VR 2004, 112; Satzger Jura 2009, 759 ff. Die Drohung mit der Anwendung von Folter wie im Frankfurter Fall wird vom Folterverbot nicht erfasst. Hecker KritJ 36 (2003), 217, Fn. 35. Die Anwendung von unmittelbarem Zwang durch die Polizei ist nicht nur im Rahmen der §§ 50 ff BWPolG möglich, sondern auch durch das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention gerechtfertigt. Siehe Brugger JZ 2000, 170. 44

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Der Verwertung von Beweisen, die mittelbar auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, steht eine Vermutung entgegen, dass auch diese Verwertung die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zerstört. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat in seiner Entscheidung vom 1.6.2010 festgestellt, dass Deutschland den Kindsmörder Magnus Gäfgen vor acht Jahren unmenschlich behandelt hat, als ihm Folter angedroht wurde.47 Der Strafprozess gegen Gäfgen muss aber nicht neu aufgerollt werden. Die Beamten hatten ihm „besondere Schmerzen" angekündigt, sollte er nicht verraten, wo sich der Junge aufhält. Tatsächlich hatte Gäfgen den Jungen direkt nach der Entführung erstickt. 2003 wurde Gäfgen wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. In Straßburg beschwerte sich Gäfgen nun, dass das deutsche Gerichtsverfahren damals unfair gewesen sei. Er sei mit Hilfe von Beweismitteln verurteilt worden, die die Polizei nur aufgrund der Folterdrohung erlangt habe. Außerdem verlangte Gäfgen die ausdrückliche Feststellung, dass er Opfer einer Menschenrechtsverletzung wurde. In einem ersten Urteil hatte der Straßburger Gerichtshof 2008 Gäfgens Klage abgelehnt. Eine Verurteilung Deutschlands hielt der Gerichtshof für überflüssig, denn deutsche Gerichte hätten bereits unzweideutig das Vorgehen der Frankfurter Polizei als Verstoß gegen das Folterverbot kritisiert. Gäfgen ging aber in die nächste Instanz. Die Große Kammer des Gerichtshofs verurteilte Deutschland ausdrücklich wegen „unmenschlicher Behandlung" Gäfgens. Der damalige Frankfurter Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner, der die Folterdrohung anordnete, wurde 2004 nur zu einer geringen Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Dies habe nicht den „notwendigen Abschreckungseffekt" gehabt, argumentierten die Straßburger Richter. Erneut entschied der EGMR, dass Gäfgens Verurteilung zu lebenslanger Haft nicht auf Beweismitteln beruht habe, die mit Hilfe der Folterdrohung gewonnen wurden, sondern vielmehr habe Gäfgen in seinem Strafprozess ein neues Geständnis abgelegt und dies als Ausdruck seiner Reue bezeichnet. Das Urteil macht klar, dass Staaten ernsthafte Konsequenzen aus Verstößen gegen das Folter- und Misshandlungsverbot ziehen müssen. Das absolute Folterverbot ist eine grundlegende Errungenschaft des Rechtsstaates und nicht ein Hindernis bei der Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses.48

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Müller-Neuhof Zeit online, 2.6.2010. Baumann Jahrbuch Menschenrechte, 2006, S. 324.

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IV. Fazit Das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main49 vom 20.12.2004 hat klargestellt, dass Folter auch im Bereich der Gefahrenabwehr unzulässig ist. „Schon die Möglichkeit, dass der Rechtsordnung Grenzen des Folterverbots zu entnehmen sind, erschüttert die Grundfesten des Rechtsstaats“. „Die Folterung eines Verdächtigen zur Erlangung eines Geständnisses bzw. auch deren Androhung sind unter keinen Umständen zulässig“.50 Die Anwendung oder die Androhung von Folter verletzt das in Art. 1 GG manifestierte Recht auf Menschenwürde, deren Schutz – im Gegensatz zu dem Grundrecht auf Leben in Art. 2 GG – absolut ist. Folter darf in einem Rechtsstaat keine Ausnahme kennen, solange der Rechtsstaat weiter Rechtsstaat bleiben möchte.

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NJW 2005, 692 = JuS 2005, 376 m. Bespr. Kudlich; Ellbogen Jura 2005, 339 ff. Husmann VR 2004, 111; Schnorr/Wising ZRP 2003, 142; Vec FAZ vom 04.03.2003, Nr. 53, S. 38; Kaiser KrimJ 35 (2003), 243 ff. 50

Verhinderung lebensrettender Folter WOLFGANG MITSCH

I. Einleitung Bald jährt sich zum zehnten Mal der Kriminalfall, der wie kein zweiter in dieser Dekade eine heftige öffentliche und wissenschaftliche Diskussion ausgelöst hat,1 die noch lange nicht zu Ende sein wird.2 Eigentlich sind es zwei Fälle, nämlich der Entführungsfall Jakob von Metzler und der „Frankfurter Folterfall“3 mit den Hauptakteuren Wolfgang Daschner und Magnus Gäfgen. Beide Fälle hängen eng miteinander zusammen, weil die Entführung des 12-jährigen Jakob durch Gäfgen den erfolglosen Versuch Daschners veranlaßte, mittels Foltermethoden das Leben des entführten Jungen zu retten. Diese Maßnahme des damaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner und ihre anschließende strafrechtliche Behandlung durch die Organe der hessischen Justiz ist das Thema der bald darauf einsetzenden rechtswissenschaftlichen Debatte, an der sich auch Claus Roxin mit mehreren Veröffentlichungen beteiligte. Die überwiegende Ansicht bewertet die „Rettungsfolter“4 als rechtswidrige und strafbare Nötigung und Körperverletzung (nicht dagegen als Aussageerpressung5), was in dem Strafverfahren gegen Daschner auch der Strafkammer beim LG Frankfurt richtig erschien6. Die Richter befinden sich damit im Einklang mit der Einschätzung Claus Roxins, der die Vorgehensweise Daschners unter mehreren Gesichtspunkten der Allgemeinen Strafrechtslehre würdigt7 und am 1 Nach Roxin handelt es sich um den „kontroversesten Strafrechtsfall der Nachkriegsgeschichte; Roxin FS Nehm, 2006, 205. 2 So auch Roxin am Ende seines Beitrags zur FS Eser, 2005, 461, 471. An der Richtigkeit der Prophezeiung kann nach dem – überfälligen – couragierten „Warnungsruf“ von Eser in der Hassemer-Festschrift (2010, 713 ff) kein Zweifel bestehen. 3 Roxin AT I § 22 Rn. 169. 4 Zutreffend präzisierend Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 389: „Notwehrfolter“; ebenso Erb FS Seebode, 2008, 99, 101. 5 Auch insoweit zutreffend Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 377 Fn. 10. 6 LG Frankfurt NJW 2005, 692 ff. 7 Im AT-Lehrbuch (Fn. 3): Notwehr, § 15 Rn. 103 ff; rechtfertigender Notstand, § 16 Rn. 97 ff.; Verantwortlichkeitsausschluss, § 22 Rn. 166 ff. Das LG Frankfurt erörtert in NJW 2005, 692 ff. § 32 StGB, § 34 StGB, § 240 Abs. 2 StGB und § 35 StGB.

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Ende zu dem Fazit gelangt, dass ein Ausschluss der Strafbarkeit nicht zu begründen sei.8 Der Ausstrahlung seiner Person und der Suggestivkraft seiner Worte kann sich auch ein Mitdiskutant schwer entziehen, dem die h. M. und ihre Konsequenzen „Bauchschmerzen“ bereitet oder „keine Ruhe lässt“9 und der deshalb alles in allem der Gegenansicht – Folter ist gerechtfertigte Nothilfe (§ 32 StGB) – stärkere Zuneigung entgegenbringt.10 Roxin selbst hat mit wünschenswerter Klarheit dargelegt, wie schwer Gewissen und Verstand von der unausweichlichen Entscheidung belastet werden, egal wie diese letztendlich ausfällt. Welcher Meinung man sich auch anschließt: die unleugbare Inkaufnahme dessen, was die andere Auffassung vermeidet, ist eine nur schwer erträgliche Bürde. Vor allem die einschlägigen Festschrift-Beiträge von Claus Roxin zeigen deutlich und überzeugend auf, welche Kollateralschäden infolge einer rechtlichen Billigung der Rettungsfolter zu entstehen drohen und wie groß insbesondere die Gefahr eines „Dammbruchs“11, also einer allmählichen Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs ist,12 den man im Angesicht des konkreten Entführungsfalles doch auf extreme und seltene Ausnahmefälle beschränkt wissen will. Die gravierendste Konsequenz der von der h. M. vertretenen Beurteilung der Rettungsfolter als rechtswidrige und strafbare Handlung zeigt sich, wenn man sich vorstellt, dass in einer zugespitzten Situation die Personen, die faktisch so handeln könnten, das Folterverbot befolgen: Die Rettung des Opfers unterbleibt, das Opfer verstirbt.13 Das Opfer „bezahlt“ mit seinem Leben!14 Diesen Preis zahlen nur das Opfer und seine Angehörigen, nicht „wir“.15 Selbstverständlich ist dies in allen Beiträgen, deren Thema die Strafbarkeit des Folterers ist, auf den strafrechtsdogmatisch relevanten Ebenen (Rechtfertigung, Entschuldigung) berücksichtigt worden und zwar von Befürwortern der Rettungsfolter und von ihren Gegnern. Allenfalls am Rande Erwähnung findet jedoch der Aspekt einer strafrechtlichen Verantwortung für die Folgen einer nicht wahrgenommenen Rettungschance durch Folter, also strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Opfers, dessen Leben durch Anwendung der Folter (vielleicht) hätte gerettet werden können. Man mag 8

Roxin AT I § 16 Rn. 169. Eser FS Hassemer, 2010, 713, 2. Absatz. 10 Vom Verf. schwach angedeutet in Die Polizei 2004, 254 ff. 11 Roxin FS Nehm, 205, 215; ders. FS Eser, 2005, 461, 467. 12 Eser FS Hassemer, 713, 715: Abrutschen auf „schiefer Ebene“. 13 Eindringlich Eser FS Hassemer, 713, 721 unten; Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 402 unten. 14 Dieser Folge wegen könnte man sagen, dass die h. M. der Bundesrepublik Deutschland unterstellt, mit der Unterwerfung unter völkervertragsrechtlich begründete Folterverbote Verträge zu Lasten Dritter abgeschlossen zu haben. 15 Dies zu Wittreck, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 176. 9

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diese Zurückhaltung damit erklären, dass es sich hierbei gewissermaßen um die Kehrseite dessen handelt, was mit Blick auf die Strafbarkeit des Folterers diskutiert und entschieden wurde: Wenn Foltern trotz Rettungschance rechtswidrig und strafbar ist, dann kann Nichtfoltern trotz damit verbundener Nichtwahrnehmung einer – der einzigen – Rettungsmöglichkeit nicht rechtswidrig und keine Straftat sein.16 Eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) oder auch nur Unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c StGB) brauchen Anhänger der h. M.17 also von vornherein nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen.18 Selbst unter der Prämisse rechtmäßiger Folter ließe sich eine auf Unterlassen rekurrierende Strafbarkeit des Folterverweigerers mit dem Korrektiv der Unzumutbarkeit vermeiden.19 Ein erheblich geringerer Grad an Evidenz haftet indessen der etwas komplizierteren Situation an, in der es nicht allein um schlichtes Unterlassen von Rettung durch Folter geht, sondern in der ein Dritter aktiv bewirkt, dass eine lebensrettende Folter unterbleibt. In seinem Beitrag zur Festschrift für Karl Engisch hat Claus Roxin wegweisende Ausführungen zur „Grenze von Begehung und Unterlassung“ gemacht.20 Dass diese einmal mit dem Thema „Verhinderung lebensrettender Folter“ in Verbindung gebracht werden könnten, wird der Jubilar wahrscheinlich nicht geahnt haben. Die vorliegende Festschrift gibt daher die Gelegenheit, Roxins Gedanken aufzugreifen, einige eigene hinzuzufügen und so vielleicht strafrechtsdogmatische Erkenntnisse zu gewinnen, die nicht nur der Diskussion über die besondere Folter-Thematik, sondern auch der Lehre von der Vereitelung erfolgsabwendender Kausalverläufe etwas einbringen.

II. Aktives Tun oder Unterlassen Die Einordnung des zu beurteilenden Verhaltens in die Kategorien der Begehung oder der Unterlassung ist die erste wichtige Weichenstellung, von der im konkreten Fall die Entscheidung über Strafbarkeit oder Straflosigkeit abhängen kann.21 Wenn z. B. der Täter keine Garantenstellung hat oder wenn der einzige als Rechtfertigungsgrund in Frage kommende Umstand die Kollision mehrerer Handlungspflichten ist, ist Strafbarkeit wegen Unterlassens ausgeschlossen, Strafbarkeit wegen aktiver Begehung scheitert an 16

Lüderssen FS Rudolphi, 2004, 691, 705; Wilhelm Die Polizei 2003, 206. Als Anhänger der Gegenmeinung konsequent Strafbarkeit des Polizeibeamten wegen (versuchten) Totschlags durch Unterlassen bejahend z. B. Kühl AT § 7 Rn. 156 a. 18 Mitsch GA 2006, 14. 19 Erb FS Seebode, 2008, 99, 122; Fahl JR 2004, 188. 20 Roxin FS Engisch, 1969, 380 ff. 21 B. Heinrich AT II Rn. 863; Rengier AT § 48 Rn. 8. 17

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den genannten Umständen hingegen nicht.22 Die rechtlichen Unterschiede, d. h. die Verschiedenheit der Bewertung durch das Recht und der daran anknüpfenden rechtlichen Folgen, sind also – jedenfalls in der Theorie23 – erheblich, obwohl das tatsächliche Erscheinungsbild der Tat mitunter kaum erkennen lässt, dass die Tat Unterlassung und nicht Begehung ist – und umgekehrt.24 In den hier zu betrachtenden Fallkonstellationen beruht nun der Tod des Opfers entscheidend25 darauf, dass jemand es unterlassen oder zwar nicht unterlassen, aber nicht getan hat,26 den Entführer des Opfers durch Folter zur Preisgabe des Ortes zu zwingen, an dem das Entführungsopfer gefangen gehalten wird. Dies scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen, das in den Tod des Entführten mündende Geschehen nach den Regeln des Unterlassens zu würdigen.27 Hinzu kommt, dass die Zurechnung des Todeserfolgs zum Verhalten aller in dieses Geschehen involvierten Akteure das Hinzudenken einer Vielzahl erfolgsabwendender Aktivitäten (Ausführung der Folter, Preisgabe des Opferverstecks durch den Gefolterten, Aufsuchen dieses Ortes durch Rettungskräfte und Befreiung des Opfers, gegebenenfalls ärztliche Lebensrettungsmaßnahmen …) erfordert.28 Die gedankliche „Krücke“ des Hinzudenkens von Handlungen ist nun bekanntlich eine Methode zur Begründung29 der (Quasi)-Kausalität eines Unterlassens für einen eingetretenen Erfolg,30 in Umkehrung der „Hinwegdenk-Methode“ bei der Begehungskausalität.31 Unterbleibt die rettende 22

Weitere Strafbarkeitsrestriktionen des Unterlassens sind das Entsprechungserfordernis des § 13 StGB und die schuldausschließende Unzumutbarkeit normgemäßer Pflichterfüllung. 23 Der oftmals in der Praxis entsprechende Relevanz nicht korrespondiert, vgl. Volk FS Tröndle, 1989, 219, 221. Denn manchmal steht für die zur Entscheidung berufenen Rechtsanwender „die Endbewertung intuitiv außer Diskussion“, Gimbernat Ordeig SchünemannSymposium, 2005, S. 177. 24 Instruktiv Volk FS Tröndle, 1989, 219, 222 ff. 25 Damit ist gemeint, dass alle anderen Bedingungen, die im Zusammenwirken mit der Folter zur Rettung des Opfers geführt hätten, erfüllt sind, also die Rettung nicht auch noch an einem anderen Hindernis gescheitert wäre (z. B. weil niemand bereit gewesen wäre, die dem Entführer durch Folter abgerungene Information aufzugreifen und zur Rettung des Entführungsopfers zu verwerten). 26 Hierher gehört auch der Fall, dass die Folter faktisch unmöglich ist, weil der Dritte dies mit vis absoluta verhindert. Das ist kein Unterlassen im rechtlichen Sinn. 27 Haas Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 214, 270; Röh Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, 1995, S. 140. 28 Kühl AT § 4 Rn. 17. 29 Nicht im Sinne der Gewinnung einer empirischen Erkenntnis über die Kausalitätstatsache im konkreten realen Fall, sondern im Sinne einer das Verständnis vom Bedeutungsgehalt des Begriffs „Kausalität“ fördernden vereinfachenden Umschreibung des Ursache-FolgeZusammenhangs; Gropp AT § 5 Rn. 18; Roxin AT II § 31 Rn. 45. 30 Gropp AT § 11 Rn. 71; Lackner/Kühl 26. Aufl. 2007, vor § 13 Rn. 12; Kühl AT § 18 Rn. 36; Rengier AT § 49 Rn. 13; Wessels/Beulke AT, 39. Aufl. 2009, Rn. 711. 31 BGHSt 48, 77 (93).

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Folter aber, weil ein Dritter z. B. durch Anwendung physischer Gewalt, Aussprechen von Drohungen, Warnungen oder rechtlichen Belehrungen den Folterwilligen an der Ausführung seiner potentiell rettenden Handlung gehindert oder von ihr abgehalten hat, weist diese Intervention zweifellos Kennzeichen aktiven Tuns auf.32 Allerdings besteht zwischen dieser Handlung und dem Tod des Entführten kein unmittelbarer Ursachenzusammenhang.33 Vermittelt wird der Zusammenhang durch das Ausbleiben der Folter und aller weiteren rettenden Handlungen, die infolge „gelungener“ Folter zur Ausführung gekommen wären. Sofern nun die durch die Intervention des Dritten veranlasste Untätigkeit des Folterers und der sonstigen rettungswilligen Beteiligten die Qualität tatbestandsmäßigen Unterlassens hat, könnte dies auf den Intervenienten „abfärben“ und zur Folge haben, dass die strafrechtliche Qualität seines Verhaltens ebenfalls an den für Unterlassungen geltenden rechtlichen Maßstäben zu messen wäre. Ausgangspunkt der Überlegungen ist jedoch, dass „positives Tun … grundsätzlich nicht in ein Unterlassen umgedeutet werden“ kann.34 Sofern also das Verhalten des Folterverhinderers aus sich heraus die Einordnung in die Kategorie des aktiven Tuns aufdrängt,35 kann daran durch eine Verbindung mit als Unterlassen zu qualifizierendem Verhalten anderer Personen grundsätzlich nichts geändert werden. Jedoch sind Ausnahmen von diesem Grundsatz anerkannt. Es ist unschwer zu erkennen, dass die hier zu diskutierende Fallkonstellation Strukturmerkmale aufweist, die ihre Einordnung in die Fallgruppe der „Unterbrechung rettender Kausalverläufe“36 nahelegt.37 Ausschlaggebende Bedeutung für die Behandlung des rettungsvereitelnden Verhaltens als Tun oder Unterlassen wird dabei überwiegend dem Umstand zugeschrieben, ob der Täter einen von ihm selbst oder einen von einem anderen angestoßenen rettenden Kausalverlauf ab- oder unterbricht. Der Eingriff in den fremdbe-

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Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 110; Röh (Fn. 27) S. 140. 33 Aus diesem Grund gegen die Annahme eines Begehungsdelikts und für die Einführung einer „dritten Art der Tatbestandsverwirklichung“ Gimbernat Ordeig (Fn. 23) S. 163, 174, 177 ff. 34 Lackner/Kühl § 13 Rn. 3. 35 Zu den dafür maßgeblichen Kriterien vgl. z. B. Lackner/Kühl § 13 Rn. 3; Rengier AT § 48 Rn. 10. 36 Da ein Rettungserfolg tatsächlich nicht erreicht, sondern nur angestrebt wurde, wäre an sich die Bezeichnung „Finalverlauf“ treffender. Da sich der Ausdruck „Kausalverlauf“ im hiesigen Kontext eingebürgert hat, soll er hier beibehalten werden. 37 Erb JURA 2005, 27; ders. FS Seebode, 2008, 99, 107; Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 394; Stübinger in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 305.

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stimmten Rettungsverlauf sei aktives Tun,38 das Anhalten oder Rückgängigmachen eines vom Täter selbst in Bewegung gesetzten Rettungsgeschehens sei hingegen – grundsätzlich39 – ebenso zu bewerten wie vollständige Untätigkeit von Anfang an, also als Unterlassen.40 Im Falle „erfolgreicher“ Folter hätte die Rettung des Opfers auf einem Kausalverlauf beruht, den ein Dritter ausgelöst hat. Demnach gehört die Folterverhinderung in die Falluntergruppe, für die nach überwiegender Auffassung das Reglement des Begehungsdelikts zuständig ist. Noch nicht berücksichtigt ist an dieser Stelle der Aspekt der Beteiligungsform. Da das rettungsvereitelnde Verhalten nicht – wie z. B. in dem Schulfall des zurückgeholten Rettungsrings – seine unmittelbar störende Wirkung an einem sächlichen Rettungsutensil entfaltet, sondern direkt eine Retterperson und ihr Verhalten berührt, kann dieser Gesichtspunkt nicht außen vor bleiben. Gewiss kommt etwas anderes als unmittelbare Täterschaft durch aktives Tun nicht in Betracht, wenn jemand den von einem anderen geworfenen Rettungsring aus dem Wasser holt, bevor der Ertrinkende ihn ergreifen kann. Schon anders stellt sich die Frage der exakten strafrechtlichen Qualifizierung dar, wenn der Rettungsvereiteler bewirkt, dass der Retter selbst den von ihm geworfenen Ring wieder aus dem Wasser holt. Zum einen könnte die Verhaltenskategorie des Unterlassens maßgeblich sein und zum anderen könnte die Rolle des externen Rettungsvereitelers die eines mittelbaren Täters oder Anstifters sein. Ähnlich strukturiert sind die Situationen der Foltervereitelung: Der Dritte verhindert, dass der Retter foltert, er verhindert also Rettungsverhalten des anderen bzw. er bewirkt, dass dieser nicht rettet, obwohl er es vielleicht könnte. Der Bezug zu einer anderen Person – des (verhinderten) Folterers – und ihrem Verhalten nötigt zu einer genaueren und differenzierten strafrechtlichen Qualifizierung des Vorgangs, dessen Bezeichnung als „Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs“ einen über die hier interessierenden Konstellationen hinausgehenden Bereich abdeckt und daher die dogmatisch gebotenen Differenzierungen nicht klar erkennen läßt. Zweifellos eine bloße Anstiftung zum Unterlassen liegt vor, wenn der Dritte den Folterer von seinem rettenden Tun dadurch abhält, dass er ihm einen entsprechenden Verhaltensvorschlag („Foltere nicht !“) macht, ohne dabei nötigend Druck auszuüben oder durch Täuschung die Motivation zu

38 Ebert AT, 3. Aufl. 2001, S. 174; Kindhäuser AT § 35 Rn. 11; Kühl AT § 18 Rn. 20; NKWohlers § 13 Rn. 9; Rengier AT § 48 Rn. 18; Roxin AT II § 31 Rn. 114; Wessels/Beulke AT Rn. 701; Zieschang AT S. 149. 39 Zu der überwiegend geforderten Differenzierung vgl. z. B. NK-Wohlers § 13 Rn. 9. 40 Ebert AT S. 174; Kindhäuser AT § 35 Rn. 12; Kühl AT § 18 Rn. 21; Rengier AT § 48 Rn. 21 ff; Roxin FS Engisch, 1969, 380, 383; ders. AT II § 31 Rn. 109; Wessels/Beulke AT Rn. 702.

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beeinflussen.41 Da das Unterlassen rettender Folter nach h. M. in seiner Beziehung zum Entführungsopfer nicht garantenpflichtwidrig, also nicht rechtswidrig ist, scheidet mangels rechtswidriger Haupttat auch eine Strafbarkeit des Dritten aus. Am anderen Ende der Skala verschiedener Formen rettungsverhindernder Einmischung steht die Unterbindung der Folter durch Ausübung unüberwindlicher vis absoluta gegenüber dem Folterer. Fesselt der Dritte den Folterer, hält er ihn fest oder tötet er ihn gar, liegt zwischen dem Verhalten des Dritten und dem Tod des Entführungsopfers kein Unterlassen des zur rettenden Folter Entschlossenen. Anstiftung kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil es an einer Haupttat völlig fehlt. Auch mittelbare Täterschaft setzt zumindest ein willensgetragenes Verhalten des Tatmittlers voraus und liegt daher hier ebenfalls nicht vor.42 Der Folterverhinderer agiert also als unmittelbarer Täter und zwar durch aktives Tun.43 Dass dieses Verhalten den Tatbestand des Totschlags oder gar des Mordes zum Nachteil des Entführungsopfers erfüllt, liegt durchaus nahe. Es wird sich zeigen, ob die Strafbarkeit infolge Eingreifens eines Rechtfertigungsgrundes entfällt (dazu unten III.) oder ob es zur Begründung dieses Ergebnisses einer Einschränkung des objektiven Tatbestandes bedarf (dazu unten IV.). Auf dieselbe Fragestellung läuft es hinaus in den Fällen, in denen der Folterer zwar willentlich die rettende Folter unterlässt, dazu jedoch durch massive Einwirkung seitens des Dritten in Gestalt Androhung schwerer Übelszufügung (§ 35 StGB) oder vorsatzrelevanter Irreführung (§ 16 StGB) veranlasst worden ist. Der Dritte ist Täter durch aktives Tun, wobei dahingestellt bleiben kann, ob es sich um unmittelbare44 oder mittelbare Täterschaft handelt.45

41

Krey AT II Rn. 388; Renzikowski (Fn. 32) S. 111; Roxin FS Engisch, 1969, 380, 385; ders. AT II § 26 Rn. 170, § 31 Rn. 101. 42 Über mittelbare Täterschaft beim Unterlassen wird in erster Linie in Bezug auf die Konstellation „mittelbare Täterschaft durch einen unterlassenden Garanten“ diskutiert, Krey AT II Rn. 385; Roxin AT II § 31 Rn. 175. In dem umgekehrten Fall, in dem das „Werkzeug“ unterlässt und der „Hintermann“ aktiv handelt, wird kein Unterlassungsdelikt, sondern ein Begehungsdelikt in mittelbarer Täterschaft angenommen, Frister AT 27/48. 43 Mitsch GA 2006, 16; Renzikowski (Fn. 32) S. 111; Roxin FS Engisch, 1969, 380, 391. 44 Dies ist dogmatisch stimmiger, weil die Tatbestandsmäßigkeit des Hintermannverhaltens nicht darauf beruht, dass ihm tatbestandsmäßiges Werkzeugverhalten zugerechnet wird, sondern darauf, dass das Werkzeug nichts tut, insbesondere nicht tatbestandsmäßig handelt; Haas (Fn. 27) S. 268. 45 Frister AT 27/48, der das Verhalten des Hintermannes für ein Begehungsdelikt in mittelbarer Täterschaft hält.

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III. Rechtfertigungsgründe Der Erörterung rechtswidrigkeitsausschließender Rechtfertigungsgründe an dieser Stelle ist eine klarstellende Bemerkung vorauszuschicken. An sich ist die hier praktizierte Vorgehensweise methodisch und dogmatisch unkorrekt, da wir uns weitgehend darüber einig sind und es im Strafrechtsunterricht Legionen von Studierenden zu predigen pflegen, dass die Strafbarkeitsvoraussetzung „Rechtswidrigkeit“ erst dann und überhaupt nur geprüft wird, nachdem zuvor die Erfüllung sämtlicher objektiver und subjektiver Tatbestandmerkmale festgestellt worden ist:46 Die Tatbestandsmäßigkeit „indiziert“ die Rechtswidrigkeit.47 Im vorliegenden Text sind die Überlegungen zur objektiven Tatbestandsmäßigkeit des folterverhindernden Verhaltens (oben II.) noch nicht abgeschlossen. Es fehlen notwendige Ausführungen zur objektiven Zurechnung des Erfolges. Darauf wird daher unten (IV.) noch zurückzukommen sein. Jedoch erscheint es mir sinnvoll, die Frage der Rechtfertigung vorzuziehen, bereits aus dem einfachen Grund, dass die Lehre von der „objektiven Zurechnung“ trotz ihres beeindruckenden Siegeszuges48 und ihrer weitreichenden Anerkennung in Wissenschaft, Lehre und Rechtsprechung immer noch auf Skepsis oder Ablehnung stößt.49 Zum Teil wird explizit vorgeschlagen, die unter dem Leitgedanken der objektiven Zurechnung diskutierten Sachfragen der Lehre von den Rechtfertigungsgründen zuzuweisen.50 Wie bewältigen also die Strafrechtler die hier thematisierten Fälle, die auf die objektive Zurechnung verzichten wollen? Geht man davon aus, dass ohne das normative Korrektiv der objektiven Zurechnung an der objektiven Tatbestandsmäßigkeit des folter- und rettungsverhindernden Verhaltens als Totschlag oder gar Mord nicht gezweifelt werden kann, bleibt zur Vermeidung eines Unrechtsurteils als Ausweg nur die Kategorie der Rechtfertigung. Sollte sich herausstellen, dass eine Rechtfertigung nicht begründbar ist, sehen sich Gegner der objektiven Zurechnung mit der Frage konfrontiert, ob es wirklich richtig sein kann, dass einerseits die Anwendung der Folter zur Lebensrettung rechtswidrig ist, andererseits die Verhinderung der Folter mit der Folge unterbliebener Lebensrettung im Hinblick auf den daraus resultierenden Todeserfolg ebenfalls rechtswidrig ist. Befürworter der objektiven Zurechnung sehen sich mit 46 Baumann/Weber/Mitsch AT § 12 Rn. 9, § 16 Rn. 14; Frister AT 7/9; B. Heinrich AT I Rn. 87, 306; Rengier AT § 11 Rn. 11; Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht, S. 14. 47 Beulke Klausurenkurs im Strafrecht I, 4. Aufl. 2008, Rn. 67; Ebert AT S. 28; Haft AT S. 65; Krey AT I, 2. Aufl. 2004, Rn. 216; Roxin AT I § 7 Rn 7; krit. dazu Schmidhäuser FS Lackner, 1987, 77, 81. 48 Maiwald FS Miyazawa, 1995, 465. 49 Dazu Roxin AT I § 11 Rn. 46 Fn. 105. 50 Baumann/Weber/Mitsch AT § 14 Rn. 100; Hilgendorf FS Weber, 2004, 33 ff.

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der Aufforderung konfrontiert, die Leistungsfähigkeit dieser Deliktskategorie unter Beweis zu stellen, indem sie belastbare Kriterien benennen, deren Anwendung nachvollziehbar und sachlich überzeugend begründet, warum der Tod des Entführungsopfers dem Folterverhinderer nicht objektiv zuzurechnen ist. Das folterverhindernde Verhalten ist eine einheitliche Handlung mit einer zweifachen Handlungswirkung und dementsprechend differenzierend festzustellender – möglicherweise unterschiedlicher – Rechtsqualität. Diese ergibt sich einmal aus dem unmittelbaren Handlungsbezug zur Person des Folterers und zum anderen aus dem mittelbaren Handlungsbezug zur Person des Entführungsopfers.51 Dem Folterer gegenüber ist die Folterverhinderung je nach angewandter Methode tatbestandlich Nötigung, Körperverletzung und gegebenenfalls sogar Totschlag. Für eine diesbezügliche Rechtfertigungsprüfung bietet sich in erster Linie die Nothilfevariante des § 32 StGB an.52 Seitens des Folterers ist die physische Folter ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des Gefolterten, die bloße verbale Folterandrohung ist ein Angriff auf die Willensentschließungsfreiheit oder die strafrechtlich marginalisierte psychische oder seelische Unversehrtheit. Dieser Angriff ist nach der hier zugrunde gelegten h. M. rechtswidrig. An der Gegenwärtigkeit besteht ebenfalls kein Zweifel, wenn der Folterverhinderer tätig wird, während die Anwendung der Folter schon begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht. Dem Folterer gegenüber hat der Eingriff des Folterverhinderers Verteidigungscharakter. Dass dies im Verhältnis zu dem mittelbar betroffenen Entführungsopfer anders ist (dazu sogleich), ist im hiesigen Zusammenhang unerheblich.53 Es geht allein darum, ob dem tatbestandlich genötigten, verletzten oder getöteten Folterer gegenüber die Intervention eine Verteidigungsaktion ist. Die weiteren Notwehrvoraussetzungen Erforderlichkeit, Verteidigungswille und Gebotenheit werfen keine speziellen Fragen auf. Wenn die Folter nicht mit anderen milderen Mitteln verhindert werden kann, ist die praktizierte tatbestandsmäßige Verteidigung erforderlich. Eine „sozialethische Notwehreinschränkung“ könnte allenfalls in dem Sonderfall relevant werden, dass die Folter einer Person verhindert wird, der die h. M. einen entschuldigenden Notstand zubilligen würde (Beispiel: der Vater des entführten Kindes foltert den Entführer).54 Dann wären die Grundsätze über die Gebotenheit der Notwehr gegen „schuldlose Angriffe“55 zu beachten. Ansonsten ist die Tat nach § 32 StGB gerechtfertigt.56 51

Engländer Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 340. Mitsch GA 2006, 15; Roxin AT I § 15 Rn. 116. 53 MK-Erb § 32 Rn. 114; Roxin AT I § 15 Rn. 124. 54 Roxin AT I § 22 Rn. 166 ff. 55 Roxin AT I § 15 Rn. 61 ff. 56 Hruschka Strafrecht nach logtisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 74. 52

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Unterstellt man einmal, dass die Verhinderung der Folter den objektiven und subjektiven Tatbestand des Totschlags zum Nachteil des Entführten erfüllt, stellt sich auch in dieser Täter-Opfer-Beziehung die Frage nach der Rechtfertigung. Obwohl es um die Handlung geht, bezüglich derer soeben das Eingreifen des § 32 StGB festgestellt wurde, scheidet genau diese Rechtfertigungsnorm hier aus, weil die tatbestandsmäßige Handlungswirkung einen Nichtangreifer trifft.57 Notwehrqualität hat eine angriffsabwehrende Handlung nur in Bezug auf Rechtsgüter des Angreifers.58 Es ist nicht möglich, die Angreifereigenschaft des Folterers dem Entführten zuzurechnen, obwohl dieser den Lebensrettungsversuch gewiss billigen wird und damit zwischen Folterer und Entführungsopfer eine Art Interessengemeinschaft besteht. Dass der Entführte von dem nothilfefähigen Angriff des Folterers profitiert, macht ihn nicht zum Mitangreifer. Ebenso vermag die Motivation des Folterers durch die Lage des Entführten diesen nicht in eine Angreiferstellung zu drängen. Zwar kann man gewiss behaupten, dass die Person des Entführten mittelbar den nothilfefähigen Rettungsversuch des Folterers verursacht hat. Vielleicht hat der Entführte sogar durch unbedachtes Verhalten selbst etwas zu seiner misslichen Lage beigetragen. Jedoch reicht das alles natürlich nicht aus, um von einem Angriff seitens des Entführten sprechen zu können. Der einzige ernsthaft in Betracht zu ziehende Rechtfertigungsgrund ist also der Notstand (§ 34 StGB). Eine gegenwärtige Gefahr für notstandsfähige Rechtsgüter des Folteropfers liegt vor. Aus der Sicht des Folterverhinderers ist diese Gefahr auch nicht anders abwendbar. Jedoch könnte der Entführer selbst die Gefahr abwenden, indem er das Versteck des Entführten preisgibt.59 Denn dann würde der Folterer die angedrohte Folter unterlassen bzw. die begonnene Folter einstellen.60 Da es sich um einen Fall der „Notstandshilfe“ handelt, wäre durchaus zu überlegen, ob die dem Gefährdeten zu Gebote stehende Gefahrabwendungsmöglichkeit – also die Nichterfüllung des Notstandsmerkmals „nicht anders abwendbar“ – auch dem Notstandshelfer entgegenzuhalten ist. Zumindest aber ist dieser Aspekt im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen und zwar als ein Umstand, der das Gefahrabwendungsinteresse verringert. Damit die Tötung des Entführungsopfers durch Notstand gerechtfertigt ist, müsste das Interesse an der Verhinderung der Folter das Interesse an der Erhaltung des Lebens des Entführten wesentlich überwiegen. Zugespitzt formuliert lautet die Frage 57

Hruschka (Fn. 56) S. 75. Krey AT I Rn. 430; MK-Erb § 32 Rn. 114; Roxin AT I § 15 Rn. 124; Schönke/SchröderPerron § 32 Rn. 31. 59 Engländer (Fn. 51) S. 341; Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 392. 60 Unter diesem Aspekt erscheint die von Lüderssen (FS Rudolphi, 2004, 691, 698) angestellte Notwehrprobe – Notwehr gegen (bevorstehende) Folter in einem etwas anderen Licht. 58

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also: Ist es auf Grund rechtfertigenden Notstands erlaubt, einen – unschuldigen (!) – Menschen zu töten, um die Würde des – für die Lage des anderen strafrechtlich verantwortlichen (!) – davor zu bewahren, durch Folter verletzt zu werden? Ist die Tötung eines Menschen – des Entführten – gerechtfertigt, weil die konkret durch Folter verursachte Gefahr für die Würde eines anderen Menschen – des Entführers – anders nicht abgewendet werden kann?61 Über eine derartige Interessenkollision wird in der umfangreichen Literatur zum rechtfertigenden Notstand – soweit ich sehe – nichts geschrieben. Orientierung bietet jedoch gewiss das Material zur Kollisionslage „Leben gegen Leben“, insbesondere die aktuellen Stellungnahmen zur Problematik des „Luftsicherheitsgesetzes“. Im Grundsatz ist auch nach dem Ereignis des 11.9. 2001 immer noch klar herrschende Auffassung, dass die vorsätzliche Tötung eines einzelnen Menschen zur Rettung anderer Menschen aus lebensbedrohlicher Lage nicht durch Notstand zu rechtfertigen ist.62 Wenn nicht einmal ein derart überragender Rettungszweck die vorsätzliche Tötung eines Menschen zu rechtfertigen vermag, kann es dann überhaupt eine durch Notstand gerechtfertigte vorsätzliche Tötung geben? Die Verneinung der Frage drängt sich auf, es sei denn, die Menschenwürde (Art. 1 GG) ist ein über dem Leben stehendes Rechtsgut und führt deshalb bei einer Kollision dieser beiden Rechtsgüter die Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Vernichtung des Lebens zur Bewahrung der Menschenwürde gerechtfertigt ist. Die h. M. zur Folterproblematik müsste wohl diesem Gedanken nähertreten, nachdem sie in der umgekehrten Rechtfertigungslage – Eingriff in die Würde des Gefolterten zur Rettung eines Menschenlebens – dem erstgenannten Rechtsgut den Vorrang zugesprochen hat.63 Auch scheint die in der Reihenfolge der Grundgesetz-Artikel64 zum Ausdruck gebrachte Wertung für ein wesentlich überwiegendes Interesse an der Aufopferung des Menschenlebens zur Erhaltung der Menschenwürde zu sprechen. Dennoch ist diese Schlussfolgerung abzulehnen. Einen Schutz des

61

Die hier thematisierte ist die abgeschwächte Version der „Tötung eines Unschuldigen zur Verhinderung von Folter“. Die Extremform sieht so aus: Terrorist T foltert O und verlangt von der Regierung die Hinrichtung des Politikers P. Wenn P getötet wird, stellt T die Folterung ein. Wer würde es wagen, die Tötung des P auf der Grundlage des § 34 StGB zu rechtfertigen? 62 Frister AT 17/14; Kindhäuser AT § 17 Rn. 30; LK-Zieschang § 34 Rn. 17, 74 ff; MKErb § 34 Rn. 114; Roxin AT I § 16 Rn. 33 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT § 9 Rn. 113; Wessels/Beulke AT Rn. 316b. 63 Vorrang der Menschenwürde gegenüber dem Menschenleben auch im Fall der „erzwungenen Blutspende“, vgl. Kindhäuser AT § 17 Rn. 31; Krey AT I Rn. 563. 64 Wagenländer Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006, S. 150; Wittreck DÖV 2003, 877; ders. (Fn. 15) S. 172.

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abstrakten Prinzips „Folterverbot“ um jeden Preis darf es nicht geben.65 § 34 StGB ist Gegenteiliges nicht zu entnehmen. Auffallend ist die Nichterwähnung der „Menschenwürde“ im Gesetzestext, der das „Leben“ jedenfalls in der Aufzählung notstandsfähiger Rechtsgüter an die Spitze stellt.66 Abgesehen davon ist der abstrakte Rang eines Rechtsgutes innerhalb der Interessenabwägung des § 34 StGB immer nur ein Aspekt neben vielen.67 Die Berücksichtigung anderer Abwägungsgesichtspunkte kann im konkreten Fall zur Folge haben, dass sich im Ergebnis das abstrakt geringere Rechtsgut gegen das höherwertige durchsetzt.68 Dass dies für die Menschenwürde nicht gelten soll, ist jedenfalls aus der internen Dogmatik des rechtfertigenden Notstands heraus nicht zu begründen. Richtiger Ansicht nach ist die Menschenwürde nicht abwägungsresistent.69 Zwar mag das Gut Menschenwürde absolut und daher einer Quantifizierung entzogen sein. Es gibt also kein großes, mittleres oder geringes Quantum an Menschenwürde. Quantifizierbar ist aber die Beeinträchtigung der Menschenwürde. Es gibt schwere, mittelschwere und leichte Eingriffe in die Menschenwürde.70 Diese Differenzen sind im Rahmen der Interessenabwägung relevant. Die Gefahr einer leichten Beeinträchtigung der Menschenwürde hat ein entsprechend geringes Rechtfertigungspotential. Ein in diesem Sinne gewichtiger Abwägungsfaktor71 ist hier das in extremem Maß rechtswidrige Vorverhalten des Gefolterten, der sich durch das von ihm begangene Schwerverbrechen selbst in die Gefahr des Gefoltertwerdens gebracht hat. Es handelt sich also gewissermaßen um die Umkehrung der Defensivnotstandslage, bezüglich derer anerkannt ist, dass das Nichteingriffsinteresse des Rechtsgutsinhabers, der zur Abwendung der Gefahr in Anspruch genommen wird, erheblich abgewertet ist.72 Zudem hat der Entführer es selbst in der Hand, die ihm drohende Foltergefahr abzu65

Erb JURA 2005, 30; ders. NStZ 2005, 600; ders. in: Nitschke (Hrsg.), „Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung“, 2005, S. 165. 66 In den umfangreichen Erläuterungen zum Merkmal „Rechtsgut“ bei Schönke/SchröderPerron § 34 Rn. 9 – 11 taucht das Wort „Menschenwürde“ nicht in einziges Mal auf; siehe hingegen Krey AT I Rn. 562. 67 LK-Zieschang § 34 Rn. 58; MK-Erb § 34 Rn. 109. 68 Frister AT 17/13; Lenckner Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 98; MK-Erb § 34 Rn. 112. 69 Erb FS Seebode, 2008, 99, 112; Gössel FS Otto, 2007, 41, 52; Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 397; a. A. Albrecht in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 17; Lüderssen FS Rudolphi, 2004, 691, 701; NK-Herzog § 32 Rn. 59; NK-Neumann § 34 Rn. 118 a. 70 Fahl JR 2004, 186: Druck auf die Ohrläppchen, Brechen von Gliedmaßen. 71 Kindhäuser AT § 17 Rn. 40; LK-Zieschang § 34 Rn. 70; MK-Erb § 34 Rn. 98, 133 ff; Roxin AT I § 16 Rn. 62. 72 Jerouschek/Kölbel JZ 2003, 620; LK-Zieschang § 34 Rn. 72; Wessels/Beulke AT Rn. 313.

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wenden, indem er offenbart, an welchem Ort das Entführungsopfer gefangen gehalten wird. Oben wurde schon erwähnt, dass dieser Umstand bereits die Notstandsvoraussetzung „nicht anders abwendbar“ blockierte, soweit es um eine eigene Gefahrabwendungshandlung des Entführers ginge. Bei der hier in Rede stehenden Gefahrabwendungshandlung des Notstandshelfers muss die Gefahrabwendungsmöglichkeit des Entführers die ihr gebührende Berücksichtigung im Rahmen der Interessenabwägung finden.73 Hinzu kommt schließlich, dass mit der Gefangenschaft des Entführten und mit der Verursachung seines Todes durch Vereitelung der Rettung auch dessen Menschenwürde tangiert ist.74 Nicht allein „Menschenwürde gegen Leben“, sondern auch „Menschenwürde gegen Menschenwürde“ kennzeichnet die Kollisionslage.75 Warum an der Menschenwürde des Entführers ein wesentlich höheres Erhaltungsinteresse bestehen soll, als an der Menschenwürde des Entführten, ist nach allem nicht einzusehen. Damit ergibt sich kein Überwiegen zugunsten des Folteropfers, sondern allenfalls76 ein Gleichstand77 oder eine „Pattsituation“78. Somit kann die Tötung des Entführten auch nicht durch Notstand gerechtfertigt werden.

IV. Objektive Erfolgszurechnung Die Erörterung der Rechtfertigungsgründe hat zu dem wenig überraschenden Ergebnis geführt, dass die Folterverhinderung eine rechtswidrige Tötung des Entführungsopfers wäre, so sie denn den objektiven und den subjektiven Tatbestand eines Tötungsdelikts erfüllen würde. Diese vor III. noch nicht abschließend beantwortete Frage muss nunmehr wiederaufgenommen werden. Hängt von ihrer Beantwortung doch ab, ob die gewaltsame oder mittels Drohung bewirkte Unterbindung lebensrettender Folter als Totschlag oder gar Mord strafbar ist oder nicht. Wie oben angedeutet, zieht die Lehre vom Abbruch fremder rettender Kausalverläufe die hier zu beurteilende Situation an sich und legt die Qualifizierung des folterverhindern73

Engländer (Fn. 51) S. 340; Brugger Der Staat 35 (1996), 81; Merkel FS Jakobs, 375, 397; Wittreck DÖV 2003, 880. 74 Brugger VBlBW 1995, 450; ders. Der Staat 35 (1996), 79; Erb JURA 2005, 27; ders. in: Nitschke (Hrsg.), „Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung“, 2005, S. 161; ders. FS Seebode, 2008, 99, 105; Fahl JR 2004, 186; Gössel FS Otto, 41, 54; Hilgendorf JZ 2004, 337; Wittreck DÖV 2003, 880; ders. (Fn. 15) S. 178. 75 Erb JURA 2005, 28; a. A. Merten JR 2003, 407. 76 Für eine erheblich gewichtigeres Interesse des Entführungsopfers überzeugend Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 397; Wittreck (Fn. 15) S. 182. 77 Hilgendorf JZ 2004, 339. 78 Erb in: Nitschke (Hrsg.), „Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung“, 2005, S. 162; ders. NStZ 2005, 599; Wittreck (Fn. 15) S. 183.

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den Verhaltens als objektiv tatbestandsmäßiges Begehungsdelikt nahe. Legt man als hypothetischen Geschehensverlauf ohne die Folterverhinderung eine wahrheitsgemäße Auskunft des Gefolterten und daran anknüpfende sofortige und letztlich erfolgreiche Rettungsmaßnahmen zugrunde, bereitet der erforderliche Kausalzusammenhang keine unlösbaren Probleme:79 Hätte der Täter den Folterer nicht an seinem Tun gehindert, wäre das Entführungsopfer nicht gestorben. Allerdings impliziert das „Hinwegdenken“ der Folterverhinderung das „Hinzudenken“ diverser Rettungs-, d. h. Erfolgsabwendungsmaßnahmen.80 Ohne diese ist der Zusammenhang zwischen der Folterverhinderung und dem Tod des Entführten nicht darstellbar. Einen methodischen Fremdkörper bei der Feststellung dieses Zusammenhanges bildet das Hinzudenken jedoch nicht.81 Im Gegenteil: Da das Fehlen der Rettungshandlungen eine Folge der foltervereitelnden Handlung ist, muss der nach dem Wegdenken der Folterverhinderung zu konstruierende hypothetische Sachverhalt diese Ereignisse beinhalten, also durch „Hinzudenken“ entsprechend vervollständigt werden. Im Lichte der Lehre von der objektiven Zurechnung als einer wertenden Verknüpfung von Ursachen und Folgen stellt sich die weitere Aufgabe nach normativen Kriterien zu bestimmen, welche hypothetischen Ereignisse bei der Herstellung des Zusammenhanges zwischen Folterverhinderung und Todeserfolg berücksichtigt werden dürfen und welche nicht. Vor dem Hintergrund einer wertneutral zusammengestellten Kette von aufeinanderfolgenden Vorgängen, deren ununterbrochener Zusammenhalt die Verbindung zwischen Anfangsursache und Enderfolg abbildet, besteht die Wirkung der objektiven Zurechnung darin, auf Grund normativer Erwägungen einzelne Glieder dieser Kette herauszubrechen und damit den Gesamtzusammenhang aufzuheben. Objektive Zurechnung bedeutet Eliminierung von notwendigen Elementen der Erklärung, warum der Erfolg auf der Ursache beruht. Wer einem Lebensmüden Gift besorgt, verursacht dadurch dessen Tod, wenn das Opfer das Gift einnimmt und damit seinen Selbsttötungsplan in die Tat umsetzt. Darf aber dieses Opferverhalten – weil es die Anforderungen einer „eigenverantwortlichen Selbstschädigung“ erfüllt – nicht berücksichtigt werden,82 kann auch nicht mehr erklärt werden, inwiefern der Giftgeber den Tod des Giftempfängers verursacht hat. Nach der heute gebräuchlichen „Grundformel“83 setzt objektive Erfolgszurechnung die Schaffung eines unerlaubten Risikos und die adäquate Ver79

Hruschka (Fn. 56) S. 74; Merkel FS Jakobs, 2007, 375, 394; Roxin FS Engisch, 1969, 380, 382; ders AT I § 11 Rn. 31. 80 Mitsch GA 2006, 15. 81 Gropp AT § 5 Rn. 32; Roxin AT I § 11 Rn. 34. 82 BGHSt 32, 262 (264). 83 Kühl AT § 4 Rn. 43.

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wirklichung dieses Risikos im eingetretenen Erfolg voraus.84 Bei dem hier zu beurteilenden Fall fällt die Anwendung dieses Leitsatzes schwer. Denn das Todesrisiko, dem der Entführte zum Opfer gefallen ist, hat bereits der Entführer geschaffen. Der Folterverhinderer hat dieses Risiko nicht erzeugt, er hat es vorgefunden. Sein diesbezüglicher Beitrag beschränkt sich darauf, die Hemmung der Risikoverwirklichung unterbunden zu haben. Um plausibel zu machen, warum der Tod des Entführungsopfers auch das „Werk“ des Folterverhinderers ist, eignet sich der Aspekt der „Risikoschaffung“ nur bedingt. Es handelt sich nicht darum, dass das Opfer aus einer sicheren risikolosen Lage in eine Gefährdungslage versetzt worden ist. Für diese Situationsveränderung – das „primäre“ Risiko – ist der Entführer allein verantwortlich. Was der Folterverhinderer dem hinzugefügt hat, ist gewissermaßen ein „sekundäres“ Risiko, durch welches weder das primäre Risiko ersetzt noch seine Verwirklichung verhindert worden ist.85 Wenn man also den Einfluss, den der Folterverhinderer genommen hat, mit dem Wort „Risiko“ beschreiben will, dann muss man folgendermaßen präzisieren: Aufgrund der Initiative des Folterers eröffnete sich dem in Lebensgefahr schwebenden Entführungsopfer eine Rettungs- und Überlebenschance. Mit dem Eingriff in den bereits begonnenen oder bevorstehenden Rettungsverlauf hat der Folterverhinderer das (sekundäre) Risiko geschaffen, dass diese Chance vernichtet wird und sich deshalb das ursprüngliche Risiko realisiert.86 Schlüsselbegriff für die Bestimmung der normativen Kriterien, mit denen die Entscheidung über die Zurechnung des Todeserfolges zu begründen ist, sollte deshalb hier die „Chance“ sein. Ausgangspunkt ist das noch nicht rechtlich bewertete tatsächliche Bestehen der Rettungschance. Hätte im „Fall Daschner“ der entführte Jakob noch gelebt, so wäre durch das Vorgehen Daschners und der ihm untergebenen Polizeibeamten eine Chance der Lebensrettung geschaffen worden. Allerdings wäre das eine Chance, die auf Umständen beruht, die nach h. M. das geltende Recht nicht billigt. Es handelte sich also um eine „unerlaubte Rettungschance“. Das entführte Kind könnte demzufolge auch kein Recht geltend machen, auf diese Weise gerettet zu werden.87 Ein Entführungsopfer hat keinen Anspruch darauf, dass mit dem Mittel der Folter die Chance auf Lebensrettung erzeugt, nicht beseitigt und letztlich verwirklicht wird. Die Kehrseite dieser negativen Chancenbewertung ist, dass die Vereitelung der Chance bzw. der Chancenverwirklichung keine unerlaubte Schaffung eines 84

Roxin AT I § 11 Rn. 47. Renzikowski (Fn. 32) S. 111. 86 Kühl AT § 4 Rn. 57. 87 Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 132; Haas (Fn. 27) S. 236. 85

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sekundären Risikos sein kann. Durch Behinderung der lebensrettenden Folter stellt der Intervenient lediglich sicher, dass die tatsächliche Aussicht auf Rettung des Entführungsopfers im Einklang mit den Rettungsmöglichkeiten steht, die rechtlich zulässig sind. Ein „Hinzudenken“ unerlaubter Rettungsaktionen zur Begründung der objektiven Erfolgszurechnung hätte eine widersprüchliche Bewertung der „Rettungsfolter“ zur Folge. Denn ihre Berücksichtigung als Element des Zurechnungszusammenhanges wäre nicht wertneutral, sondern trüge eine – wenngleich unterschwellige – positive Bewertung. Indem der Eingriff des Folterverhinderers als für den Tod des Opfers verantwortlich erklärt wird, wird zugleich ausgedrückt, dass die Folterverhinderung nicht sein soll, weil alle durch die Verhinderung unterbundenen Folgen sein sollen. In Bezug auf die Rettungsfolter behauptet die h. M. – außerhalb des hier thematisierten Zusammenhanges – das Gegenteil: „Folter soll nicht sein!“. Die Aufrechterhaltung dieser Bewertung im Rahmen der Feststellung der objektiven Erfolgszurechnung kann nur die Konsequenz haben, dass dieser Vorgang, der nicht sein soll, aus der Herstellung des Zurechungszusammenhanges herausgehalten werden muss.88 Daraus resultiert die Nichtzurechnung des Todeserfolgs zum Handeln des Folterverhinderers.

V. Schluss Der Abhandlung liegt als präjudizielle Rechtstatsache die von der h. M. vertretene Bewertung der lebensrettenden Folter als rechtswidrige und strafbare Tat zugrunde. Mit dem eigenen Standpunkt des Verf. hat die Wahl dieses Blickwinkels nicht unmittelbar etwas zu tun. Sie erklärt sich daraus, dass die rechtliche Beurteilung der Folterverhinderung vor diesem Hintergrund interessanter und schwieriger ist. Da die todesverursachende Rettungsvereitelung nicht zu rechtfertigen ist (s. o. III.), kann die h. M. das Ergebnis strafbarer Folterverhinderung nur durch eine Argumentation vermeiden, die auf den Ausschluss der objektiven Erfolgszurechnung hinausläuft. Dafür wurde hier ein Vorschlag (s. o. IV.) gemacht, der möglicherweise selbst bei den Anhängern der Lehre von der objektiven Zurechnung nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen wird. Gegner dieser Lehre können diesen Weg zur Straflosigkeit ohnehin nicht beschreiten. Das Festhalten am Folterverbot kann somit den einen oder anderen dazu zwingen, sowohl die Anwendung der lebensrettenden Folter als auch ihre aktive Verhinderung als rechtswidrige und strafbare Taten beurteilen zu müssen. Es fällt schwer, dies in der Gesamtbetrachtung als widerspruchsfreie und harmonische Be88

Mitsch GA 2006, 18.

Verhinderung lebensrettender Folter

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wertung zu akzeptieren.89 Geht man hingegen mit inzwischen doch recht vielen Autoren90 davon aus, dass physischer Zwang in Form von Folter91 zur Abwendung eines sonst unvermeidbaren Todes gerechtfertigt ist, folgt daraus die Beurteilung rettungsvereitelnder Folterverhinderung nahezu zwangsläufig: Dieser Eingriff in den erfolgsabwendungsgerichteten Kausalverlauf ist eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tötung durch aktives Tun, die – sofern sie vorsätzlich und schuldhaft begangen wurde – als Totschlag oder Mord strafbar ist. Wer durch Folter Leben rettet, bleibt straflos, wer durch Verhinderung der Folter Leben vernichtet, ist strafbar. Einen Wertungswiderspruch zwischen diesen beiden Rechtsaussagen kann ich nicht erkennen. Die Entstehung jeder einzelnen persönlichen Rechtsauffassung zur Rettungsfolter beruht auf einer Vielzahl rechtlicher Überlegungen, in denen die rechtliche Bewertung rettungsvereitelnder Folterverhinderung vermutlich überwiegend keine Rolle spielt. Wer jedoch „von vornherein“ die Rechtfertigung der Rettungsfolter für richtig hält, wird sich darin vielleicht durch die hier vorgetragenen Bemerkungen zur sekundären Thematik bestätigt fühlen.

89

Hruschka (Fn. 56) S. 76. Vgl. die Hinweise bei Schönke/Schröder-Perron § 32 Rn. 62 a. 91 Darüber, ob der Rettungszweck mit der Definition des Rechtsbegriffs „Folter“ so in Zusammenhang gebracht werden kann, dass die Qualifikation der Rettungshandlung als „Folter“ ausscheidet, müsste gewiss diskutiert werden. Hier wurde davon abgesehen und daher das Vorliegen von Folter zugrunde gelegt; vgl. Wittreck (Fn. 15) S. 187. 90

Die Pflicht zur Notwehrhilfe ARMIN ENGLÄNDER

I. Problemaufriss Befindet sich jemand in einer Notwehrlage, d. h. wird er gegenwärtig rechtswidrig angegriffen, so gewährt ihm § 32 StGB ein weitreichendes Verteidigungsrecht. Er darf gegenüber dem Angreifer jede Maßnahme ergreifen, die erforderlich ist, um diesen Angriff von sich abzuwenden. Das bedeutet, dass eine Verletzung der Güter des Angreifers schon dann als gerechtfertigt gilt, wenn der Angegriffene über kein zum Zweck der Angriffsabwehr gleichermaßen geeignetes milderes Mittel verfügt. Auf die Wertigkeit der betroffenen Güter kommt es dabei – sieht man einmal von den Ausnahmefällen der extrem unverhältnismäßigen Verteidigung ab1 – nicht an. Grundsätzlich erfordert die Notwehr keine Abwägung der Güter bzw. Interessen des Angegriffenen mit denen des Angreifers; Proportionalität stellt keine Zulässigkeitsbedingung für eine Verteidigung dar.2 Daher darf bspw. der Angegriffene dem Angreifer auch erhebliche Verletzungen seiner körperlichen Integrität zufügen, sofern dies zur Verteidigung seiner bedrohten Sachgüter notwendig ist. Freilich räumt die Rechtsordnung dem Angegriffenen durch § 32 StGB lediglich ein Verteidigungsrecht ein; sie legt ihm aber keine Verteidigungspflicht auf. Der Angegriffene darf deshalb zwar – Erforderlichkeit vorausgesetzt – zu einer einschneidenden Verteidigungsmaßnahme greifen, er muss dies aber nicht. Vielmehr ist er frei darin, auch ein für den Angreifer weniger schädliches Mittel zu wählen, selbst wenn dieses weniger geeignet erscheint und sein Einsatz folglich mit einem höheren Fehlschlagrisiko 1 Eine solche erachtet die h. M. aufgrund einer sog. sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts als unzulässig; vgl. Fischer § 32 Rn. 39; LK-Rönnau/Hohn § 32 Rn. 230 f; Matt/Renzikowski-Engländer § 32 Rn. 43; Roxin AT I § 15 Rn. 83; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron § 32 Rn. 50; a. A. Lesch FS Dahs, 2005, 107; Renzikowski Notstand und Notwehr, 1994, S. 312, S. 315 f; zur Problematik des gesetzlichen Anknüpfungspunktes bei den sozialethischen Notwehreinschränkungen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG vgl. Engländer Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 296 ff; Erb ZStW 108 (1996), 266 ff. 2 Vgl. nur Fischer § 32 Rn. 31; Matt/Renzikowski-Engländer § 32 Rn. 26; Roxin AT I § 15 Rn. 47.

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behaftet ist. Er kann sogar, etwa um den Angreifer zu schonen, ganz auf eine Verteidigung verzichten. Denn den Einzelnen trifft grundsätzlich keine rechtliche Pflicht zum Erhalt der eigenen Güter; die Möglichkeit des Angegriffenen frei zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er zu ihrem Schutz von seiner Notwehrbefugnis Gebrauch machen will, ist ein Teil seiner grundrechtlich geschützten Autonomie.3 Das skizzierte weitreichende Verteidigungsrecht gewährt § 32 StGB indes nicht nur dem Angegriffenen persönlich, sondern ebenfalls jedem privaten Dritten, der dem Angegriffenen in einer Notwehrlage beisteht.4 Die Notwehrhilfe5 ist prinzipiell im gleichen Umfang gestattet wie die Selbstverteidigung.6 Auch der Notwehrhelfer darf damit jede zur Angriffsabwehr erforderliche Maßnahme ergreifen. Ist er aber ebenso wie der Angegriffene frei darin, von seiner Notwehrhilfebefugnis nur einen eingeschränkten Gebrauch zu machen bzw. auf ihre Ausübung ganz zu verzichten? Oder trifft ihn eine Pflicht, Notwehrhilfe zu leisten – und zwar mit dem effektivsten ihm zur Verfügung stehenden Mittel? Muss er ggf. auch Maßnahmen mit möglicherweise tödlicher Wirkung ergreifen? Macht er sich vielleicht sogar strafbar, wenn er das ihm eingeräumte Verteidigungsrecht ungenutzt lässt oder zumindest nicht ausschöpft? Zwar lässt sich eine Pflicht zur Notwehrhilfe nicht aus § 32 StGB ableiten, denn dieser befreit als Rechtfertigungsgrund den Notwehrhelfer lediglich von einem Verbot, erweitert also dessen Handlungsspielraum. Ergeben kann sie sich aber womöglich zum einen aus der in § 323c StGB strafbewehrten allgemeinen Hilfspflicht und zum anderen aus einer Garantenpflicht i.S. des § 13 StGB, wenn der Dritte rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Angegriffene nicht geschädigt wird.

II. Die erforderliche Handlung bei der allgemeinen Hilfspflicht und bei der Garantenpflicht Gemäß der dem § 323c StGB zugrunde liegenden Verhaltensnorm muss ein jeder bei einem Unglückfall die erforderliche und ihm den Umständen 3

Für eine – allerdings nicht strafbewehrte – Selbstverteidigungspflicht im Anschluss an Kant jedoch Hruschka ZStW 115 (2003), 208 ff. 4 Zur Frage, inwieweit auch Amtsträger sich auf die Verteidigungsbefugnis aus § 32 StGB berufen können, sogleich unter III. 5 Üblicherweise spricht man bei der Verteidigung eines anderen gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff gem. § 32 StGB einfach von Nothilfe. Im Kontext der in § 323c StGB strafbewehrten allgemeinen Hilfspflichten wird der Begriff der Nothilfe allerdings in einem weiteren Sinne verwendet; die Fremdverteidigung stellt hier lediglich einen Unterfall dar. Der Klarheit wegen soll dieser Unterfall daher im Folgenden als Notwehrhilfe bezeichnet werden. 6 Ausf. zu den Gründen Engländer (Fn. 1) S. 67 ff.

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nach zumutbare Hilfe leisten. Das bedeutet zunächst, dass niemand, der in einer solchen Situation helfen kann, ohne dadurch in seinen eigenen Interessen unzumutbar beeinträchtigt zu werden, untätig bleiben darf, wenn das Unglücksopfer auf seinen Beistand angewiesen ist.7 Darüber hinaus genügt es aber auch nicht, dass der Hilfspflichtige einfach irgendetwas unternimmt. Vielmehr leistet er nach allgemeiner Meinung nur dann die erforderliche Hilfe, wenn er im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Gefahrenabwehr die „wirksamste“8, „optimale“9, „bestmögliche“10 Maßnahme ergreift. Ein Auswahlermessen besitzt der Hilfspflichtige somit lediglich in den Fällen, in denen er über mehrere gleichermaßen geeignete Mittel verfügt.11 Gilt nun als Unglücksfall für den Angegriffenen auch der gegenwärtige rechtswidrige Angriff eines anderen12 auf seine höchstpersönlichen Rechtsgüter wie Leib, Leben und Freiheit sowie – nach h. M. – seine Sachgüter (zumindest soweit diese von erheblichem Wert sind)13, so folgt aus den eben geschilderten Grundsätzen prima facie, dass – vorbehaltlich der Zumutbarkeit – jeder eingriffsfähige Dritte verpflichtet ist, (1) überhaupt Notwehrhilfe zu leisten und (2) die ihm von § 32 StGB eingeräumte Notwehrhilfebefugnis durch den Einsatz des effektivsten ihm zur Verfügung stehenden Mittel auch voll auszuschöpfen – was auch die Anwendung tödlicher Gewalt bedeuten kann. Entsprechend verhält es sich bei der Garantenpflicht. Der Garant muss das zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges Erforderliche tun. Unter mehreren geeigneten Handlungsmöglichkeiten hat er deshalb grds. diejenige auszuwählen, die unter den gegebenen Umständen am sichersten den Erfolg abzuwenden vermag.14 Tritt der Erfolg ein, weil der Garant nicht die wirksamste Maßnahme ergriffen hat, so haftet er aus dem einschlägigen unech7

An diesem Angewiesensein fehlt es, wenn der andere sich selbst zu helfen vermag oder die notwendige Hilfe bereits von einem Dritten geleistet wird. Vgl. Kindhäuser § 323c Rn. 13; NK-Wohlers § 323c Rn. 10; Wessels/Hettinger BT I Rn. 1046. 8 BGHSt 14, 213 (216); Eisele BT 1 Rn. 966; Lackner/Kühl § 323c Rn. 10; LK-Spendel § 323c Rn. 82; Rengier BT II § 42 Rn. 11; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Hecker § 323c Rn. 16; Satzger/Schmidt/Widmeier-Schöch § 323c Rn. 15; Wessels/Hettinger BT I Rn. 1045. 9 Arzt/Weber/Hilgendorf BT § 39 Rn. 17; MüKo-Freund § 323c Rn. 82. 10 BGHSt 21, 50 (54); Dölling/Duttge/Rössner-Verrel § 323c Rn. 9; Satzger/Schmidt/Widmeier-Schöch § 323c Rn. 15. 11 MüKo-Freund § 323c Rn. 80; Satzger/Schmidt/Widmeier-Schöch § 323c Rn. 13. 12 BGHSt 3, 65 (66); 30, 391 (397); MüKo-Freund § 323c Rn. 65; Rengier BT II § 42 Rn. 5; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Hecker § 323c Rn. 7. 13 BGHSt 3, 65 (66); 6, 147 (152); Arzt/Weber/Hilgendorf BT § 39 Rn. 3; Eisele BT I Rn. 957; Fischer § 323c Rn. 3; Gössel/Dölling BT I § 56 Rn. 2; Lackner/Kühl § 323c Rn. 2; Wessels/Hettinger BT I Rn. 1044; restriktiver NK-Wohlers § 323c Rn. 6; Schönke/SchröderSternberg-Lieben/Hecker § 323c Rn. 7; Seelmann JuS 1995, 284; ganz ablehnend Harzer Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB, 1999, S. 105. 14 LK-Weigend § 13 Rn. 63.

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ten Unterlassungsdelikt. Ist jemand Beschützergarant des Angegriffenen oder Überwachergarant des Angreifers,15 darf er deshalb wiederum prima facie nicht beiseite stehen oder sich mit halbherzigen Notwehrhilfemaßnahmen begnügen, sondern muss alles ihm Mögliche unternehmen, um den Angriff abzuwenden.

III. Die für den Notwehrhelfer gefährliche Notwehrhilfe Freilich muss normalerweise niemand zur Rettung fremder Güter sich selbst erheblichen Gefahren aussetzen. Solidarität schulden die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft einander lediglich, solange sie ohne eine Gefährdung oder Preisgabe gewichtiger eigener Interessen geleistet werden kann. Für den Bereich der Eingriffsduldungspflichten trägt § 34 StGB dem Rechnung, indem er einen Rettungseingriff in die Güter eines unbeteiligten Dritten nur rechtfertigt, wenn dessen dadurch beeinträchtigte Interessen wesentlich weniger wiegen als die des Gefährdeten und die absolute Aufopferungsgrenze16 nicht überschritten wird. Dieser Maßstab gilt aber ebenfalls für den Bereich der Rettungshandlungspflichten.17 Ist eine an sich erforderliche Hilfsmaßnahme zur Rettung fremder Güter für den Helfer mit einer erheblichen Gefährdung eigener, nicht wesentlich geringwertigerer bzw. prinzipiell nicht aufopferungspflichtiger Güter verbunden, darf sie diesem daher nicht abverlangt werden; ihr fehlt in einem solchen Fall die von § 323c StGB für eine Hilfspflicht tatbestandlich vorausgesetzte Zumutbarkeit.18 Der (potenzielle) Helfer ist dann berechtigt, stattdessen eine für ihn ungefährlichere Maßnahme zu ergreifen, auch wenn diese nicht gleichermaßen effektiv ist, oder, wenn eine solche nicht zur Verfügung steht, sogar 15

Zu der nach wie vor nicht befriedigend geklärten Frage, wann jemand ausnahmsweise als Überwachergarant eines anderen die Begehung von Straftaten durch diesen zu verhindern hat, vgl. nur Jäger AT Rn. 373; Roxin AT II § 32 Rn. 125 ff; Schönke/Schröder-Stree/Bosch § 13 Rn. 51 ff; SK-Rudolphi/Stein § 13 Rn. 32 ff; Wessels/Beulke AT Rn. 724 jeweils m. w. N. 16 Opfer, die die Schwelle einer nur punktuellen Beeinträchtigung der Lebensführung überschreiten, dürfen unabhängig von der Relation der betroffenen Interessen prinzipiell niemandem abverlangt werden. Nicht durch § 34 StGB rechtfertigbar sind daher Tötungen, erhebliche Körperverletzungen, längere Freiheitsberaubungen und Verletzungen der Menschenwürde. Näher dazu Matt/Renzikowski-Engländer § 34 Rn. 32 ff. 17 Eine Rettungshandlungspflicht kann ihrem Adressaten aus axiologischen Gründen keine weitergehende Aufopferung seiner Interessen abverlangen als eine entsprechende Eingriffsduldungspflicht. Vgl. zu dieser axiologischen Beziehung Hruschka JuS 1979, 386. 18 Insoweit zutreffend LG Mannheim NJW 1990, 2212. Ob in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall – der Angeklagte verweigerte der im Rahmen eines nächtlichen Beziehungsstreits lebensgefährlich verletzten Nachbarin u.a. aus Angst vor ihrem gewalttätigen Partner die Hilfe – wirklich eine solche Gefährdung bestand, erscheint allerdings zweifelhaft.

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ganz von Hilfe abzusehen. Zivilcourage mag hier wünschenswert sein; rechtlich erzwingbar ist sie indes nicht. Am Bsp.: Sieht ein Passant, dass ein anderer von einem Straßenräuber mit einer Pistole bedroht wird, trifft ihn aufgrund der erheblichen Risiken eines Einschreitens keine Pflicht, sich auf der Seite des Angegriffenen zu dessen Verteidigung in den Konflikt hineinzubegeben. Nicht wesentlich anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn der Betreffende Beschützergarant ist. Zwar verschiebt sich das geschuldete Solidaritätsniveau hier ein Stück weit. Denn derjenige, den eine über die allgemeine Solidarpflicht hinausgehende Sonderpflicht zum Schutz der Güter eines anderen trifft, muss in höherem Maße als ein beliebiger Dritter eigene Interessen aufopfern und Risiken eingehen.19 Gleichgewichtige oder gar überwiegende Interessen braucht er dabei aber wiederum nicht preiszugeben.20 Ein Beschützergarant, der die an sich erforderliche Rettungshandlung zum Schutz eigener, mindestens ebenso wertvoller Güter unterlässt, macht sich daher nicht aus Unterlassungsdelikt strafbar. Am Bsp.: Sieht der Ehemann, dass seine Ehefrau durch einen Straßenräuber mit einer Pistole bedroht wird, kann ihm aufgrund der erheblichen Risiken ein Einschreiten ebenso wenig abverlangt werden wie dem Passanten im ersten Bsp. Umstritten ist indes die genaue deliktssystematische Begründung für die Nicht-Strafbarkeit des Beschützergaranten in einer solchen Konstellation. Die hM nimmt hier eine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens an.21 Diese soll allerdings nach einer Auffassung bei den sog. unechten Unterlassungsdelikten22 anders als im Falle der Unzumutbarkeit der Hilfeleistung bei § 323c StGB nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit, sondern erst die Schuld entfallen lassen.23 Das erscheint jedoch für die Fälle, in denen die Interessen des Garanten jenen des Schutzbefohlenen wenigstens gleichste19

So für den Bereich der Eingriffsduldungspflichten die h. M.; vgl. LK-Zieschang § 34 Rn. 67; Lugert Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen im differenzierten Notstand, 1991, S. 42 ff; MüKo-Erb § 34 Rn. 144; Roxin AT I § 16 Rn. 66; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron § 34 Rn. 34; krit. allerdings Küper Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 108 f; NK-Neumann § 34 Rn. 105. 20 Eine weitergehende Pflicht zur Hinnahme von Risiken kann allerdings in den Fällen bestehen, in denen der Beschützergarant freiwillig besondere Gefahrtragungspflichten übernommen hat. Im Hinblick auf die Verhinderung drohender Straftaten sind das freilich i. d. R. die zuständigen staatlichen Gefahrenabwehrorgane, deren Befugnisse sich nach Gefahrenabwehrrecht und nicht nach § 32 StGB richten. Zur Beschützergarantenstellung von Polizeibeamten gegenüber dem Bürger, vgl. Roxin AT II § 32 Rn. 85 ff m. w. N. 21 Umfassend dazu Momsen Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006. 22 Zur Terminologie vgl. Roxin AT II § 31 Rn. 16. 23 Kühl AT § 18 Rn. 139 ff; Rengier AT § 49 Rn. 47 ff; Satzger/Schmidt/Widmeier-Kudlich § 13 Rn. 31; Wessels/Beulke AT Rn. 739.

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hen, nicht überzeugend. Denn ist in einer Kollisionslage die Erfüllung der Beschützergarantenpflicht nur um den Preis eines überobligatorischen Sonderopfers möglich, führt das nicht bloß dazu, dass man dem Garanten die Nichtbefolgung des Handlungsgebots subjektiv nicht vorwerfen kann; vielmehr muss, da vom Beschützergaranten nicht mehr als das geschuldete Solidaritätsniveau gefordert werden darf, das Handlungsgebot für diese Situation aufgehoben werden. Das Unterlassen einer überobligatorischen Rettungshandlung ist daher nicht nur nicht schuldhaft, sondern schon nicht rechtswidrig. Eine andere Ansicht möchte in der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ebenso wie bei § 323c StGB bereits einen Ausschlussgrund auf Tatbestandsebene sehen.24 Indessen vermag auch eine solche Tatbestandslösung – zumindest solange man am dreistufigen Deliktsaufbau festhält25 – für die vorliegende Konstellation nicht recht zu überzeugen. Beim Begehungsdelikt wird nach dem dreistufigen Deliktsaufbau die Aufhebung des tatbestandlichen Handlungsverbots durch eine besondere Erlaubnisnorm, die die Vornahme der Handlung unter speziellen Umständen ausnahmsweise gestattet, auf der Rechtswidrigkeitsebene angesiedelt. Konsequenterweise ist dann beim Unterlassungsdelikt die Aufhebung eines tatbestandlichen Handlungsgebots durch eine Erlaubnisnorm, die das Unterlassen der Handlung ausnahmsweise genehmigt, ebenfalls auf dieser Ebene zu verorten.26 Letztlich resultieren diese Einordnungsprobleme hier daraus, dass der Topos der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens insgesamt zu unspezifisch erscheint, um die verschiedenen möglichen Kollisionen zwischen den Interessen des Garanten und denen des Schutzbefohlenen in einer Notlage einer überzeugenden rechtlichen Lösung zuzuführen. Zutreffend bemängelt Roxin, dass unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit Fragestellungen erörtert werden, die sich nach anderen dogmatischen Kriterien präziser behandeln lassen.27 Mit einem solchen Vorgehen läuft man aber Gefahr, wesentliche Differenzierungen sachwidrig einzuebnen. Bei den Begehungsdelikten wird durch die Notstandsvorschriften der §§ 34, 35 StGB zu Recht unterschieden zwischen Rettungseingriffen, die als gerechtfertigt anzusehen sind, und Rettungseingriffen, die lediglich entschuldigt werden können (sowie, wenn weder die Voraussetzungen des rechtfertigenden noch die des entschuldigenden Notstands vorliegen, Rettungseingriffen, bei denen die Notsituation allenfalls für die Strafzumessung eine Rolle spielt). Es gibt nun 24

Fischer § 13 Rn. 44; Heinrich AT Rn. 904; LK-Weigend § 13 Rn. 68; NK-Wohlers § 13 Rn. 17; Schönke/Schröder-Stree/Bosch Vorbem. § 13 ff Rn. 155; Stratenwerth/Kuhlen § 13 Rn. 62 f. 25 Zum Diskussionsstand vgl. Roxin AT 1 § 10 Rn. 16 ff m. w. N. 26 Ebenso i. E. Gropp AT § 11 Rn. 54 f; Köhler AT Kap. 5 IV.4; Küper (Fn. 19) S. 98 f. 27 Roxin AT II § 31 Rn. 217.

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aber keinen Grund, im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte diese differenzierenden Regelungen bei den entsprechenden Interessenskollisionen nicht anzuwenden und stattdessen auf ein unspezifisches Prinzip der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens auszuweichen.28 Richtig kritisiert Roxin daher, dass hier Fälle des rechtfertigenden Notstands fälschlich als solche der Unzumutbarkeit angesehen werden.29 Die Rechtfertigung des Unterlassens der erforderlichen Notwehrhilfe seitens eines Garanten zum Schutz seiner eigenen Güter vor Gefahren bestimmt sich daher grundsätzlich nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands.30 § 34 StGB ist hier allerdings in zweifacher Hinsicht zu modifizieren. Zum einen braucht sich der Garant zum Zeitpunkt des Unterlassens der Rettungshandlung noch nicht in einer Gefahrenlage zu befinden; es genügt, dass er sich mit der Vornahme dieser Handlung in eine solche begeben würde.31 Und zum anderen müssen seine Interessen die Interessen seines Schutzbefohlenen nicht wesentlich überwiegen; vielmehr genügt es, wie oben dargelegt, wenn sie zumindest gleichwertig oder prinzipiell nicht aufopferungspflichtig sind. Denn das von ihm im Rahmen einer Rettungshandlungspflicht zugunsten des Gefährdeten zu erbringende Solidaropfer kann nicht weiter reichen als das Solidaropfer, das ihm durch eine Eingriffsduldungspflicht abverlangt wird. Den Notstandseingriff eines anderen in seine Güter zugunsten seines Schutzbefohlenen braucht er aber nicht mehr hinzunehmen, sobald bei ihm gleichgewichtige Interessen betroffen sind.32 Die Anwendung der Notstandsregeln erhellt auch die Besonderheiten beim Unterlassen des Überwachungsgaranten.33 Trifft diesen die Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle, dürfte zur Abwehr einer von dieser ausgehenden Gefahr nach den Regeln des Defensivnotstands nicht erst in seine Güter eingegriffen werden, wenn die Interessen des Gefährdeten seine Interessen wesentlich überwiegen, sondern bereits dann, wenn der dadurch angerichtete Schaden zu der abgewendeten Gefahr nicht außer Verhältnis steht, die Interessen des Gefährdeten also nicht wesentlich weniger wiegen. Wer verantwortlich ist für die Gefährdung eines anderen, darf grundsätzlich als

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Eingehend zur Bedeutung des Unzumutbarkeitsgedankens bei unechten Unterlassungsdelikten Momsen (Fn. 21) S. 386 ff. 29 Roxin AT II § 31 Rn. 219. 30 So auch Roxin AT II § 31 Rn. 206. 31 Ebenso Küper (Fn. 19) S. 94 f. 32 Ausf. Küper (Fn. 19) S. 92 ff. 33 Zwischen Beschützer- und Überwachungsgaranten differenzieren auch Hruschka JuS 1979, 391 f; Jakobs AT 15/12 ff.

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Störer in Anspruch genommen werden, damit die Gefahr sich nicht realisiert.34 Dieser für die Eingriffsduldungspflichten entwickelte Abwägungsmaßstab ist nun wiederum auf die Rettungshandlungspflichten des Überwachungsgaranten zu übertragen. Von ihnen wird er folglich nur befreit, wenn seine Interessen die Interessen des Hilfsbedürftigen wesentlich überwiegen. Sind dagegen aufseiten des Gefährdeten Interessen betroffen, die nicht wesentlich hinter denen des Überwachungsgaranten zurückstehen, bleibt letzterer als für die Gefahrenquelle zuständige Person zur Erbringung der erforderlichen Rettungsmaßnahme verpflichtet. Das gilt selbst dann, wenn er sich hierdurch erheblichen Risiken bis hin zur Gefahr des Todes aussetzen muss.35 Denn es handelt sich bei der Rettungshandlungspflicht des Überwachungsgaranten nicht um eine begrenzte Solidarpflicht, die endet, sobald er zu ihrer Erfüllung gewichtige eigene Interessen aufopfern müsste. Vielmehr geht es um die wesentlich weiterreichende Pflicht, andere Personen nicht zu schädigen (neminem laede). Diese Pflicht fordert nicht nur, aktive Schädigungshandlungen zu unterlassen, sondern sie verlangt auch, zurechenbare Gefahren, die von dem eigenen Organisationsbereich für die Güter anderer ausgehen, zu beseitigen. Und von diesem Nichtschädigungsgebot wird in einer Notsituation zulasten eines anderen, den für die Notsituation keine Verantwortung trifft, nur derjenige entbunden, dessen Interessen gegenüber den Interessen des anderen wesentlich überwiegen. Denn nur in einem solchen Fall kann letzterem abverlangt werden, aus Gründen der Solidarität mit ersterem die Schädigung seiner Güter zu dulden. Am Bsp.: Wer dem Ehemann wahrheitswidrig erzählt, seine Ehefrau betrüge ihn mit einem anderen Mann, und ihn so dazu provoziert, im Zorn seine Gattin mit einem Messer zu attackieren, ist aus Ingerenz dazu verpflichtet, der Angegriffenen beizuspringen36 – selbst wenn er befürchten muss, dann selbst zum Ziel des messerschwingenden Angreifers zu werden.37 34

Näher dazu Engländer (Fn. 1) S. 96 ff; Hruschka Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1988, S. 110 f; Renzikowski (Fn.1) S. 180 ff. Anders als beim Aggressivnotstand begründet das Solidaritätsprinzip beim Defensivnotstand die Eingriffsbefugnis nicht, vielmehr begrenzt es sie. Die Solidarpflicht trifft nicht den Eingriffsadressaten, sondern den Gefährdeten: Von letzterem wird verlangt, eine Gefahrenabwehr zu Lasten des ersteren trotz dessen Verantwortlichkeit zu unterlassen, wenn das dadurch beeinträchtigte Interesse das geschützte Interesse wesentlich überwiegt. Siehe dazu auch NK-Neumann § 34 Rn. 86; Pawlik GA 2003, 12 f. 35 Ebenso Hruschka Strafrecht, S. 126; Jakobs AT 15/13. 36 Noch nicht zureichend geklärt sind indes die Voraussetzungen, unter denen eine ingerenzbegründende Garantenpflicht besteht, die freiverantwortliche rechtswidrige Tat eines anderen zu verhindern. Der BGH hat in zwei Fällen die aktive Mitwirkung an vorangegangenen Misshandlungen des Opfers genügen lassen, da durch diese dem Begehungstäter signalisiert worden sei, dass er sich bei weiteren Gewalttätigkeiten keine Hemmungen aufzuerlegen

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IV. Die für den Notwehrhelfer ungefährliche Notwehrhilfe Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass die Pflicht zur Notwehrhilfe normalerweise jedenfalls dann endet, wenn der (potenzielle) Helfer sich mit einem Eingreifen selbst erheblichen Gefahren aussetzen würde. Eine Ausnahme besteht lediglich beim Überwachungsgaranten, sofern die Interessen des Angegriffenen nicht wesentlich weniger wiegen als die seinen. Wie verhält es sich nun aber in den Fällen, in denen die Notwehrhilfe für den Helfer mit keinen besonderen Risiken verbunden ist (bzw. dieser die Risiken zu tragen hat)? Bleibt er hier stets zur Verteidigung des Angegriffenen unter Verwendung des effektivsten ihm zur Verfügung stehenden Mittels verpflichtet? Das hätte angesichts der Schärfe der Notwehrhilfebefugnis weitreichende Konsequenzen. So träfe den Notwehrhelfer, solange die Grenze des extremen Missverhältnisses nicht überschritten ist, u. U. die Pflicht, dem Angreifer auch zur Verteidigung geringwertigerer Güter gravierende Verletzungen zuzufügen. Am Bsp.: Es müsste der private Wachmann den sich zur Flucht wendenden Dieb erschießen oder durch den Gebrauch der Schusswaffe zumindest schwer verletzen, wenn er nur auf diese Weise den Angriff auf das Eigentum seines Geschäftsherrn erfolgreich abwenden könnte. Die Verpflichtung des privaten Notwehrhelfers ginge damit erheblich über die Pflichten und sogar über die Befugnisse der vorrangig für die Abwehr gegenwärtiger rechtswidriger Angriffe zuständigen staatlichen Gefahrenabwehrorgane38 hinaus. Denn diese sind selbst in zugespitzten Konfliktsituationen bei Eingriffen in die Rechte eines Störers strikt an den verfassungsrechtlich begründeten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz39 gebunden. Eine Gefahrenabwehrmaßnahme darf daher auch im Falle eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs nicht zu einem Nachteil führen, der zu der abgewendeten Gefahr erkennbar außer Verhältnis steht.40 So ist etwa ein Schusswaffengebrauch gegen Personen nur zur Abwehr besonders graviebrauche, was die Gefahr für das Opfer erheblich erhöht habe; vgl. BGH NJW 1992, 1246 mit krit. Anm. Neumann JR 1993, 161 und Seelmann StV 1992, 416; BGH NStZ 2009, 321 mit krit. Bspr. Becker HRRS 2009, 242 und krit. Anm. Bosch JA 2009, 655. Vgl. zur Problematik auch Roxin AT II § 32 Rn. 163 m. w. N. 37 Bleibt der Überwachungsgarant aus Sorge um seine Rechtsgüter untätig, obwohl seine Interessen die des Angegriffenen nicht wesentlich überwiegen, kann dies allenfalls nach § 35 StGB entschuldigt sein. Eine solche Entschuldigung scheidet im Falle der Ingerenz allerdings regelmäßig gem. § 35 Abs. 1 S. 2 StGB aus, da er die Gefahr hier selbst vorwerfbar herbeigeführt hat. 38 Ausf. zur Subsidiarität der Notwehrhilfe gegenüber der staatlichen Gefahrenabwehr Engländer (Fn. 1) S. 159 ff; Sengbusch Die Subsidiarität der Notwehr, 2008. 39 Näher Dreier-Dreier GG Vorb. Rn. 145. 40 Vgl. bspw. Art. 4 Abs. 2 bay. PAG, § 4 Abs. 2 HSOG, § 2 Abs. 2 POG Rh. Pf.

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render Gefahren gestattet.41 Und im Falle eines wahrscheinlich tödlichen Ausgangs – sog. finaler Rettungsschuss – gelten als solche allenfalls eine gegenwärtige Lebensgefahr oder die gegenwärtige Gefahr einer schwerwiegenden Körperverletzung.42 Im o. g. Bsp. wäre ein Polizist somit nicht befugt, den sich zur Flucht wendenden Dieb durch den Gebrauch der Schusswaffe aufzuhalten. Zwar soll einer verbreiteten, von Roxin geteilten Auffassung zufolge § 32 StGB nicht nur ein privates Verteidigungsrecht, sondern zugleich eine hoheitliche Eingriffsgrundlage normieren.43 Dem ist indes zu widersprechen; § 32 StGB erfüllt nicht die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer gefahrenabwehrrechtlichen Befugnisnorm.44 Einen nach Gefahrenabwehrrecht nicht erlaubten Eingriff kann der Amtsträger deshalb nicht ersatzweise auf das private Notwehrhilferecht stützen;45 er bleibt damit unzulässig. Aber auch in den Fällen, in denen eine hoheitliche Eingriffsgrundlage existiert, verfügen die staatlichen Gefahrenabwehrorgane gemäß dem Opportunitätsprinzip grundsätzlich über ein Entschließungsund Auswahlermessen; eine Pflicht zum Ergreifen einer bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahme besteht damit nur ausnahmsweise bei einer Ermessensreduzierung auf null.46 Nun mag es zwar gute Gründe dafür geben, das Notwehr- und Notwehrhilferecht des Privaten weiter reichen zu lassen als die staatlichen Gefahren41

Siehe z. B. Art. 67 bay. PAG, § 61 HSOG, § 64 POG Rh. Pf. Etwa Art. 66 Abs. 2 S. 2 bay. PAG, § 60 Abs. 2 S.2 HSOG, § 63 Abs. 2 S. 2 POG Rh. Pf. 43 Bockelmann FS Dreher, 1977, 235 ff; Kühl § 7 Rn. 153; Roxin AT I § 15 Rn. 108 ff; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron Rn. 42a ff; bezogen auf § 34 BGHSt 27, 260 (262). 44 Zunächst umfasst die Zuständigkeit des Bundes für die Strafgesetzgebung keine Kompetenz zur Schaffung von Eingriffsgrundlagen im Bereich der allgemeinen Gefahrenabwehr, die nach Art. 70 i. V. m. Art. 73 ff GG ausschließlich bei den Ländern liegt. Keine Lösung bieten in diesem Zusammenhang – entgegen Roxin AT I § 15 Rn. 112 – die Notrechtsvorbehalte in den Polizeigesetzen der Länder, da nach diesen die Notwehrvorschrift bzw. deren „zivil- und strafrechtliche Wirkung“ lediglich „unberührt“ bleibt (vgl. z.B. Art. 60 Abs. 2 bay. PAG; § 54 Abs. 2 HSOG; § 57 Abs. 4 POG Rh. Pf.); sie ordnen also keine befugniserweiternde Inkorporation an. Darüber hinaus erfüllt § 32 StGB nicht die Anforderungen, die das Bestimmtheitsgebot an hoheitliche Eingriffsgrundlagen stellt. Weder werden die zuständigen Organe benannt noch die zulässigen Eingriffe nach Art und Ausmaß näher präzisiert. Dagegen lässt sich – entgegen Schaffstein FS Schröder, 1978, 114 – auch nicht die polizeirechtliche Generalklausel anführen, die trotz ihrer Allgemeinheit als hinreichend bestimmt gilt, da diese zur Legitimation weitreichender Eingriffe, wie sie § 32 StGB gestattet, gerade nicht genügt. Schließlich kann eine Anwendung von § 32 StGB als hoheitliche Eingriffsgrundlage nicht mit den Anforderungen in Einklang gebracht werden, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip an staatliches Handeln stellt. Ausführlich zum Ganzen Engländer (Fn. 1) S. 185 ff; Fechner Grenzen polizeilicher Notwehr, 1991, S. 56 ff; Jahn Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2004, S. 352 ff. 45 § 32 StGB ist hier lediglich insoweit anwendbar, als er die Strafbarkeit des Amtsträgers auszuschließen vermag. Näher dazu Engländer (Fn. 1) S. 228 ff. 46 Gusy Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 391 ff; Lisken/Denninger-Rachor HdB des Polizeirechts F/114 ff; Pieroth/Schlink/Kniesel Polizei- und Ordnungsrecht § 10 Rn. 32 ff. 42

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abwehrbefugnisse. Denn auch wenn die Rechtsgemeinschaft sich dazu entschließt, um bestimmter Ideale wie der besonderen Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens willen die weniger gewichtigen Rechte des Angegriffenen nicht um jeden Preis zu verteidigen und deshalb den für sie handelnden Staatsorganen besonders eingriffsintensive Maßnahmen nicht gestattet, so kann sie doch dem Angegriffenen freistellen, ob und inwieweit er bzw. der stellvertretend für ihn handelnde private Notwehrhelfer bei der persönlichen Durchsetzung seiner subjektiven Rechte diese Ideale ebenfalls berücksichtigen möchte.47 Anders als bei den Verteidigungsrechten verhält es sich aber bei den Verteidigungspflichten. Hier wäre es schlicht axiologisch ungereimt, von Privatpersonen mehr zu fordern als von den Amtsträgern, denen die Aufgabe der Gefahrenabwehr vorrangig obliegt. Sind die Interessen des Angegriffenen nach der Bewertung des Gesetzgebers nicht gewichtig genug, um die Gefahrenabwehrorgane zum Einschreiten bzw. zum Ergreifen einer bestimmten Verteidigungsmaßnahme zu verpflichten, kann für Privatpersonen nichts anderes gelten. Das bedeutet: Soweit die Amtsträger über ein Entschließungs- und Auswahlermessen verfügen, ist einem Privaten zumindest ein vergleichbarer Entscheidungsspielraum zuzuerkennen, ob bzw. wie er handelt. Deshalb ist es normalerweise auch nicht zu beanstanden, wenn der Private nicht persönlich einschreitet, sondern – sofern er mit rechtzeitigem Erscheinen rechnen darf – lediglich die Polizei verständigt, selbst wenn dadurch der Angegriffene der Bedrohung durch den Angreifer noch etwas länger ausgesetzt ist. Und Maßnahmen, die die staatlichen Gefahrenabwehrorgane nicht ergreifen dürfen, kann die Rechtsordnung auch einer Privatperson nicht abverlangen. Somit besteht in dem o. g. Bsp. keine Pflicht des privaten Wachmanns, den sich zur Flucht wendenden Dieb durch den Gebrauch der Schusswaffe aufzuhalten.48 Deliktssystematisch lässt sich dem durch eine teleologische Reduktion des Merkmals der „erforderlichen Hilfe“ Rechnung tragen; das Unterlassen einer solchen Maßnahme durch den potenziellen Notwehrhelfer erfüllt dann schon nicht den objektiven Tatbestand des § 323c StGB bzw. des in Betracht kommenden unechten Unterlassungsdelikts. Wie verhält es sich nun aber in den Fällen, in denen die Staatsorgane zum sofortigen Einschreiten und sogar zum Ergreifen einer bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahme verpflichtet wären? Genügt zur Angriffsabwehr eine Maßnahme, die unterhalb der Schwelle zur Körperverletzung bleibt oder die dem Angreifer nur geringe körperliche Schäden zufügt, so gibt es keinen Grund, sie einem privaten Notwehrhelfer nicht abzuverlangen. Am Bsp.: Kann der Gastwirt einen Angriff auf die körperliche Integrität eines Gastes 47 48

Vgl. hierzu Engländer (Fn. 1) S. 206 ff. Für ein vergleichbares Bsp. ebenso Frister AT 22/52.

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dadurch abwenden, dass er den Randalierer vorläufig in einem Nebenraum einsperrt, so muss er dies tun. Nicht so leicht zu beantworten ist die Frage dagegen bei einer Notwehrhilfemaßnahme, die – wenn auch als letztes Mittel zur Abwehr tödlicher Attacken oder schwerwiegender Bedrohungen des Leibes, der Fortbewegungsfreiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung – die körperliche Unversehrtheit des Angreifers in schwerwiegender Weise zu schädigen, ja ihn womöglich sogar zu töten droht. Am Bsp.: Der private Leibwächter vermag die Entführung der fünfjährigen Tochter eines wohlhabenden Industriellen nur noch zu verhindern, indem er auf den Entführer einen wahrscheinlich tödlich wirkenden Schuss aus seiner Pistole abgibt. Ob und inwieweit von einer Privatperson überhaupt rechtlich gefordert werden kann, als ultima ratio einen anderen Menschen zu töten oder schwer zu verletzen, um einen von diesem verübten rechtswidrigen Angriff auf das Leben oder andere existenzielle Güter eines Dritten abzuwehren, stellt ein bislang kaum erörtertes Problem dar. Für den Leibwächter im o.g. Bsp., der ähnlich einem Polizisten aus freien Stücken eine entsprechende Schutzaufgabe übernommen hat, mag man das noch bejahen. Wie verhält es sich aber, wenn es an dem freiwilligen Eingehen eines solchen besonderen Rechtsverhältnisses fehlt? Darf der Staat seinen Bürgern auch unabhängig davon die Vornahme einer solchen Verteidigungshandlung abverlangen? Sucht man für eine Antwort auf diese Frage nach gesetzlichen Anknüpfungspunkten, so kann man zunächst § 12 Abs. 2 SchKG heranziehen: Nach dieser Vorschrift darf niemand seine Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch verweigern, wenn sie notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden. Ferner lässt sich Art. 12a GG anführen; er sieht vor, dass die männlichen Bürger zum Schutz des freiheitlichen Gemeinwesens vor feindlichen Angriffen zum Kriegsdienst mit der Waffe verpflichtet werden können, der im Verteidigungsfall ggf. auch die Tötung anderer Menschen beinhaltet. Nun kann man zwar aus diesen wenigen Regelungen kaum ein zwingendes Ergebnis ableiten; sie belegen aber doch immerhin, dass der Staat auch in anderen zugespitzten Bedrohungssituationen von seinen Bürgern zur Verteidigung besonders gewichtiger Interessen ausnahmsweise die Tötung menschlichen Lebens fordert. Für die Möglichkeit, den Notwehrhelfer dazu zu verpflichten, dass er erforderlichenfalls auch den Tod oder eine schwere Verletzung des Angreifers in Kauf zu nehmen hat, spricht zudem, dass eine entsprechende Regelung im rationalen Eigeninteresse der allermeisten Mitglieder der Rechtsgemeinschaft liegt.49 Praktisch ein jeder wünscht, im Falle eines rechtswidrigen 49

Näher zu diesem Rechtfertigungsansatz Engländer JuS 2002, 535 ff; Hoerster Ethik und Interesse, 2003, S. 73 ff.

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Angriffs den zu dessen Abwehr notwendigen Beistand der anderen zu erlangen. Dieses Interesse ist naturgemäß dann besonders groß, wenn der Angriff ihn existenziell bedroht. Gerade in einer Bedrohungslage, in der es für den Angegriffenen gleichsam „um alles“ geht, will er so sicher wie möglich sein, die benötigte Hilfe auch zu erhalten. Folglich wird er nicht nur wünschen, dass andere hier als ultima ratio mit tödlich wirkenden Mitteln eingreifen dürfen, sondern auch, dass sie, wenn keine andere Möglichkeit bleibt, mit solchen eingreifen müssen. Freilich haben diese nur dann einen Anlass, sich hierzu zu verpflichten, wenn er ihnen zusagt, als Gegenleistung ihnen ggf. ebenfalls die erforderliche Hilfe zu leisten. Deshalb ist er bei vernünftiger Überlegung bereit, auch selbst – solange damit für ihn keine größeren Risiken verbunden sind – eine Verpflichtung zum Gebrauch des entsprechenden Verteidigungsmittels einzugehen.50 Es besteht somit kein Grund, Maßnahmen, die tödlich wirken oder den Leib des Angreifers sonst gravierend verletzen können, aus der Notwehrhilfepflicht prinzipiell herauszunehmen. Allerdings gibt es i. d. R. immer einige Personen, die sich persönlich dem Ideal der Gewaltfreiheit51 verpflichtet fühlen und deshalb eine Anwendung tödlicher oder sonst schwerer Gewalt ablehnen.52 Eine freiheitliche Gesellschaft wird diese Entscheidung respektieren. Ihre Grenze findet die Pflicht zur tödlichen Notwehrhilfe deshalb in der von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Gewissensfreiheit des Einzelnen: Niemand darf gezwungen werden, einen anderen zu töten oder schwer zu verletzen, wenn er dies mit seinem Gewissen53 nicht vereinbaren kann. Das zeigt im Übrigen auch Art. 4 Abs. 3 GG, der es als Ausprägung von Art. 4 Abs. 1 GG54 selbst für den Fall der Bedrohung der Bundesrepublik durch einen mit Waffengewalt geführten feindlichen Angriff untersagt, jemanden gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe zu verpflichten. Fraglich ist dann indes die genaue deliktssystematische Einordnung der Gewissensfreiheit. Bei § 323c StGB lässt sie sich ohne größere Probleme auf Tatbestandsebene bei der Zumutbarkeit der Hilfeleistung berücksichti50

Mit diese Überlegung lassen sich auch die Grenzen der Beistandspflicht begründen: Muss ein jeder damit rechnen, nicht nur Nutznießer, sondern auch Belasteter der Notwehrhilfepflicht sein zu können, wird er nur eine solche befürworten, die auch die Nachteile auf ein für ihn erträgliches Maß begrenzt. 51 Ideale sind Wunschvorstellungen über die Beschaffenheit bestimmter Aspekte der Welt, die man haben kann, nicht aber unbedingt auch haben muss. Näher dazu Stemmer Handeln zugunsten anderer, 2000, S. 291 ff. 52 Konsequenterweise muss das auch für den Fall gelten, dass sich der Betreffende in der Position des Angegriffenen befindet. Zur Frage, ob die Notwehrhilfe auch bei lebensgefährlichen Angriffen abgelehnt werden kann, näher Engländer (Fn. 1) S. 116 ff. 53 Zum Begriff des Gewissens BVerfGE 12, 45 (55). 54 Vgl. dazu Dreier-Morlok Art. 4 GG Rn. 157.

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gen:55 Eine schwere, womöglich tödliche Verletzung des Angreifers, die der (potenzielle) Notwehrhelfer nicht mit seinem Gewissen zu vereinbaren vermag, ist ihm nicht zuzumuten. Am Bsp.: Der zufällig vorbeikommende Passant schießt, obwohl ihm dies ohne Risiko für sich selbst oder Dritte möglich wäre, nicht mit der infolge eines vorangegangenen Handgemenges zufällig direkt vor seine Füße gelangten Pistole auf den Entführer des fünfjährigen Mädchens, weil er als überzeugter Pazifist Gewalt gegen Menschen strikt ablehnt. Schwieriger erscheint die Einordnung dagegen bei den unechten Unterlassungsdelikten. Am Bsp.: Im o. g. Bsp. unterlässt nicht ein beliebiger Passant, sondern das Kindermädchen der Fünfjährigen aus Gewissensgründen die erforderliche Verteidigung mit der Pistole. Während einige Autoren der Gewissensfreiheit prinzipiell eine rechtfertigende Kraft zuerkennen möchten,56 sieht die h. M. in ihr bestenfalls einen Entschuldigungsgrund.57 Roxin etwa schreibt, die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit solle zwar den Einzelnen vor dem Gewissenszwang schützen, den eine Strafdrohung ausüben würde. Sie bedeute aber keineswegs, dass der Staat sich die Wertung des Gewissenstäters zu Eigen machen müsse. Das Recht, nicht durch Strafe zum Handeln gegen das eigene Gewissen gezwungen zu werden, verleihe nur einen Anspruch auf Nachsichtigkeit, nicht auf Legalisierung des eigenen Standpunktes.58 In dieser Allgemeinheit erscheint das indes nicht überzeugend.59 Zuzustimmen ist Roxin darin, dass nicht jede Berufung des Täters auf sein Gewissen ein tatbestandsmäßiges Verhalten zu rechtfertigen vermag. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Gewissenbetätigung sich noch innerhalb der verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 Abs. 1 GG bewegt, die dabei ihrerseits im Lichte des eingeschränkten Grundrechts zu bestimmen sind (Wechselwirkungslehre).60 Ist das aber der

55

Böse ZStW 113 (2001), 71. Höcker Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, 2000, S. 50 ff; Peters FS H. Mayer, 276; Ranft FS Schwinge, 1973, 115 f. 57 Für die Möglichkeit einer Entschuldigung Dölling/Duttge/Rössner-Duttge Vor §§ 32 – 35 Rn. 35 (allerdings nicht beim Begehungsdelikt); Kühl AT § 12 Rn. 116; MüKo-Schlehofer Vor § 32 ff. Rn. 207 ff; NK-Neumann § 17 Rn. 46; Roxin AT I § 22 Rn. 122 f; Schönke/SchröderLenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 120 (unter dem Topos der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens); dagegen Frister AT 22/58. 58 Roxin AT I § 22 Rn. 121. Krit. zu diesem Argument LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 367. 59 Vgl. dazu auch Frisch GA 2006, 273 ff. 60 Allgemein zur Relevanz der Wechselwirkungslehre des BVerfG im Hinblick auf die Frage, ob Grundrechte des Täters unmittelbar als Rechtfertigungsgründe herangezogen werden können, LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 139; Radtke GA 2000, 33. 56

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Fall, handelt der Täter nicht bloß entschuldigt, sondern er verwirklicht schon kein Unrecht.61 Hier gebietet die grundrechtlich geschützte Gewissensfreiheit, wie auch Art. 4 Abs. 3 GG als Ausprägung für den Kriegsdienst zeigt, den Einzelnen nicht gegen sein Gewissen zur Vornahme tödlicher Verteidigungshandlungen zu verpflichten. Art. 4 Abs. 1 GG geht insoweit den kollidierenden Schutzinteressen vor.62 Er entlastet den Einzelnen in dieser besonderen Konstellation nicht etwa erst vom Vorwurf mangelnder Normtreue, sondern befreit ihn schon von der Handlungspflicht als solcher. Deshalb muss die Gewissensfreiheit in diesem Fall nicht als Entschuldigungs-, sondern als Rechtfertigungsgrund gesehen werden.

V. Fazit Zusammengefasst: Es gibt nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht zur Notwehrhilfe. Bedroht der Angriff das Leben oder in schwerwiegender Weise den Leib, die Fortbewegungsfreiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, umfasst diese als ultima ratio auch Maßnahmen, die tödlich wirken oder den Angreifer sonst schwer verletzen können. Kommt der Hilfspflichtige seiner Verpflichtung nicht nach, macht er sich nach § 323c StGB sowie, falls er über eine Garantenstellung verfügt, aus unechtem Unterlassungsdelikt strafbar. Grenzen hat die Pflicht zur Notwehrhilfe in dreierlei Hinsicht: (1) Der Notwehrhelfer braucht sich selbst nicht in eine erhebliche Gefahr zu bringen (Besonderheiten bestehen hier allerdings beim Überwachungsgaranten). (2) Er muss nichts tun, wozu die an sich zuständigen Gefahrenabwehrorgane an seiner Stelle nicht ebenfalls verpflichtet oder wozu sie schon nicht befugt wären. (3) Und er darf nicht zu einer Verteidigung gezwungen werden, die den Angreifer schwer, möglicherweise tödlich verletzt, wenn er dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann.

61

Zutreffend Frisch GA 2006, 277; LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 366; Radtke GA 2000, 33; SK-Günther Vor § 32 Rn. 48. Überschreitet die Gewissenstat dagegen die verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 Abs. 1 GG, kann die Berufung des Täters auf sein Gewissen allenfalls im Rahmen der Schuld oder bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Am Bsp.: Die Eltern unterlassen es aus religiösen Gründen, ihr schwer erkranktes Kind zur ärztlichen Behandlung ins Krankenhaus zu bringen, so dass das Kind stirbt. 62 Soweit Böse ZStW 113 (2001), 74 und LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 363 annehmen, dass der Schutz des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit stets Vorrang hat, ist dem für die vorliegende Konstellation im Hinblick auf die in Art. 4 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende grundrechtliche Wertung zu widersprechen.

Recht im Irrtum? Zur strafrechtlichen Rechtfertigung militärischer Gewalt bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten ARNDT SINN

A. Einleitung Die Beteiligung deutscher Soldaten an bewaffneten Auslandseinsätzen gehört zu den medial und politisch präsentesten Themen der Gegenwart. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob Deutschland sich überhaupt an Einsätzen, bspw. in Afghanistan, beteiligen sollte. Nachdem immer wieder Meldungen erscheinen, in denen berichtet wird, dass Zivilisten an Straßensperren getötet oder verletzt wurden, weil sie bspw. die Haltegebote der Soldaten missachtet hätten,1 wendet sich der Blick nun auch auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Soldaten und damit auf die individuelle Komponente eines solchen Einsatzes.2 In diesem Beitrag soll es nur um diese individuelle Komponente – die strafrechtliche Rechtfertigung – gehen.

B. Ausgangsfall Soldaten der Bundeswehr hatten eine Absperrung aus mehreren Bundeswehrpanzern errichtet, um Aktivitäten, die auf einen Sprengstoffanschlag hindeuteten, zu überprüfen. Als sich der Straßensperre ein Zivilfahrzeug mit hoher Geschwindigkeit näherte, wurde zunächst das Laserlicht einer Langwaffe auf die Frontscheibe gerichtet. Der Fahrer fuhr davon unbeeindruckt weiter und vorbei an bereits wartenden Fahrzeugen. Nach der Abgabe von Warnschüssen über das Fahrzeug und weiteren Schüssen vor das Fahrzeug, durch die das Fahrzeug beschädigt worden war, fuhr es immer noch weiter 1 Vgl. StA Zweibrücken v. 23.1.2009 – 4129 Js 12550/08; StA Frankfurt/Oder v. 15.5.2009 – 244 Js 29960/08; Süddeutsche Zeitung v. 29.8.2008: „Drei Zivilisten sterben an deutscher Straßensperre. […]“; Süddeutsche Zeitung v. 19.7.2009: „Bundeswehrsoldaten erschießen zwei Zivilisten. […]“. 2 Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 10.

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auf die Sperre zu. Als das Fahrzeug weniger als 50 m bis zur Sperre zurückzulegen hatte, trafen mindestens sechs Geschosse die Insassen, woraufhin diese verletzt die Fahrt beendeten. In dem Auto befanden sich sechs afghanische Zivilisten. Alle waren unbewaffnet und wollten die Leiche eines Verwandten in die Provinz Ba bringen. Der Sarg befand sich auf dem Auto. Sprengmittel wurden nicht gefunden.3 In einem ersten Schritt werden die Grundlagen4 für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Soldaten bei Auslandseinsätzen dargestellt (vgl. C), um dann in einem zweiten Schritt die gegenwärtige strafrechtliche Rechtfertigungsdiskussion aufzugreifen und kritisch zu reflektieren (vgl. D.).

C. Anwendbares Recht Hinsichtlich des anwendbaren Rechts ist zwischen dem deutschen Strafrecht (I.) und dem Recht des Tatorts (II.) sowie dessen Durchsetzbarkeit (III.) zu unterscheiden.

I. Deutsches Recht Begibt man sich auf die Suche nach den Grundlagen der für einen Soldaten im Ausland gültigen Strafvorschriften, so wird man bei einem Blick in das Strafgesetzbuch zunächst enttäuscht, denn der Begriff „Soldat“ taucht nur an ganz wenigen Stellen im Gesetz auf. Eine Sondervorschrift für das Verhalten von Soldaten findet sich nicht. Vielmehr gilt dem ersten Eindruck nach der allgemeine Grundsatz, dass Deutschland seine Strafgewalt grundsätzlich nur auf das eigene Territorium erstreckt, es sei denn, die Regelungen der §§ 3-9 StGB erweitern diesen Anwendungsbereich. Wird hingegen eine Straftat gegen einen Soldaten während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf dessen Dienst begangen, so wird mit § 5 Nr. 14 StGB das deutsche Strafrecht auch unabhängig vom Recht des Tatorts für anwendbar erklärt. Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB gilt das deutsche Strafrecht auch für Taten im Ausland, wenn diese am Tatort mit Strafe bedroht sind und der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war. Unter diesen Voraussetzungen wird der Soldat also auch von der deutschen Strafgewalt bei Auslandstaten erfasst. Lässt man im Anschluss an diesen Befund den Blick nun in das Nebenstrafrecht, das Wehrstrafgesetz, schweifen, so wird man mit § 1a

3 4

Fall nach StA Zweibrücken v. 23.1.2009 – 4129 Js 12550/08 = NZWehrr 2009, 169. Vgl. a. Talmon NZWehrr 1997, 221; Wentzeck NZWehrr 1997, 25.

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WStG fündig, denn dieser regelt ausdrücklich Auslandstaten deutscher Soldaten. Bei § 1a WStG handelt es sich um eine ergänzende Vorschrift, die lückenlos die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Auslandsstraftaten ermöglicht. Damit ist der Soldat einer weitergehenden Strafverfolgung ausgesetzt als jeder andere Bürger der Bundesrepublik, denn für den Bürger gilt § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB und damit der lex loci-Vorbehalt. Rechtfertigen lässt sich diese Ungleichbehandlung dadurch, dass der Soldat, wie auch jeder Amtsträger, anlässlich eines dienstlichen Aufenthalts bzw. in Beziehung auf den Dienst nicht nur Bürger ist, sondern gleichzeitig ein Repräsentant Deutschlands. In § 1a WStG werden also zwei Prinzipien miteinander kombiniert: das aktive Personalitätsprinzip und das Schutzprinzip.5 Aus diesem Grunde handelt es sich in diesen Fällen auch nicht um eine völkerrechtlich bedenkliche Berührung des Nichteinmischungsgrundsatzes.

II. Recht des Tatorts Obwohl das deutsche Strafrecht auf Auslandstaten deutscher Soldaten Anwendung findet, ist damit nicht der Ausschluss anderer Strafgewalten verbunden. Anders als im Internationalen Privatrecht ist die Reichweite des Anwendungsbereichs der innerstaatlichen Strafnormen nicht als Kollisionsrecht ausgestaltet. Es ist also völkerrechtlich üblich, dass aufgrund einer Tat mehrere Strafansprüche geltend gemacht werden können, je nachdem, wie viele Länder einen sinnvollen Anknüpfungspunkt in ihren Strafanwendungsrechten geltend machen können.6 Während Deutschland für die Geltung deutschen Strafrechts im Ausland über § 1a WStG das Schutzprinzip in Kombination mit dem aktiven Personalitätsprinzip anführen kann, ist der Tatortstaat aufgrund des Territorialprinzips ebenfalls berechtigt, seine Strafvorschriften zur Anwendung zu bringen. In Beziehung auf die Durchsetzbarkeit des Tatortstrafrechts bei Straftaten von Soldaten ist nun eine Besonderheit zu beachten: ihr Status bei dem Einsatz.

III. Status der deutschen Soldaten Deutsche Soldaten genießen anlässlich ihres Auslandseinsatzes Immunität vor der Strafverfolgung des Einsatzstaates. Handelt es sich um eine kriegerische oder friedliche Besetzung, also um eine ohne Zustimmung des Auf5

Vgl. MüKo-Dau § 1a WStG Rn. 1. Vgl. Ambos Internationales Strafrecht, 2006, § 2 Rn. 6 ff; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 2010, § 3 Rn. 6. 6

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enthaltsstaates erfolgte Intervention, so ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt, dass die Besatzungstruppen Immunität vor der ausländischen Strafverfolgung genießen.7 Aber auch bei mit Zustimmung erfolgten friedlichen Missionen, die der Stabilisierung oder dem Aufbau eines zerstörten Landes dienen, ist Immunität anzunehmen. Die Quellen dieser Immunität sind vielfältig: Als Rechtsquellen sind zu nennen:8 x Art. 105 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, x das Übereinkommen vom 13. Februar 1946 über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen, x die in Einzelfällen abgeschlossenen Truppenstationierungsabkommen zwischen den Vereinten Nationen und dem Aufenthaltsstaat, x Einzelfallabsprachen zwischen den Vereinten Nationen und dem Aufenthaltsstaat über den völkerrechtlichen Status der Angehörigen einer Friedensmission, x Völkergewohnheitsrecht. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Aufgrund des Territorialitätsprinzips ist das ausländische Strafrecht auf deutsche Soldaten zwar anwendbar, i. d. R. genießen die Soldaten jedoch Immunität vor der Strafverfolgung des Aufenthaltsstaates. Das deutsche Strafrecht ist auf Auslandssachverhalte ebenfalls anwendbar.

D. Die gegenwärtige Diskussion zur Rechtmäßigkeit militärischer Gewalt bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten Während man in der Vergangenheit rege darüber diskutierte, ob sich der Soldat überhaupt auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, insbesondere die Notwehr (§ 32 StGB) berufen könne,9 hat sich der Blick nun auch in Richtung Völkerrecht verschoben. Es wird versucht, auch außerhalb von bewaffneten Konflikten eine Rechtfertigung aus dem Völkerrecht, insbesondere dem VN-Mandat, abzuleiten.10 Dabei wird einerseits zugestanden, dass die dogmatische Herleitung im Einzelnen noch ungewiss11 ist und die „Grundlagen der strafrechtlichen Rechtfertigung militärischer Gewalt in der 7

Vgl. Talmon NZWehrr 1997, 221. Vgl. Hermsdörfer NZWehrr 1997, 101. 9 Vgl. Heinen NZWehrr 1995, 138; Wentzek NZWehrr 1997, 25; zur allg. Diskussion vgl. Schönke/Schröder-Perron § 32 Rn. 42a ff; Frister AT 16/34 ff. 10 Vgl. Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 10; Weingärtner NZWehrr 2008, 154; H. A. Wolff NZWehrr 1996, 9; nach a. A. wird die Anwendbarkeit des BT des StGB grundsätzlich bestritten, vgl. Zimmermann GA 2010, 507 ff. 11 Vgl. Weingärtner NZWehrr 2008, 154. 8

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Rechtswissenschaft bisher kaum hinreichend geklärt“12 sind. Andererseits wird aber auch beklagt, dass die Rechtfertigung militärischer Gewalt aufgrund der allgemeinen Notrechte „sachlich und systematisch unzureichend“ sei.13 Im Folgenden wird diese These auf die Probe gestellt. Zunächst werden die allgemeinen Notrechte untersucht (I.-IV.), um diesen die Rechtfertigungsthese aufgrund eines VN-Mandats gegenüberzustellen (V. 1.-2.). Im Anschluss daran wird die Frage beantwortet, ob ein VN-Mandat sachlich und systematisch ein tragfähiges Fundament für einen Rechtfertigungsgrund bilden kann (V. 3.).

I. Rechtfertigung aufgrund der Notwehr Sieht man einmal von der Grundsatzdiskussion ab, ob sich Hoheitsträger überhaupt auf Notrechte berufen können,14 so ist jedenfalls in den hier interessierenden Fällen das Recht zur Selbstverteidigung nicht eingeschränkt. In dem Antrag der Bundesregierung vom 7.10.200815 wird ausdrücklich festgehalten: „Die Wahrnehmung des Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bleibt davon unberührt. Die im Rahmen dieser Operation eingesetzten Kräfte sind befugt, das Recht auf bewaffnete Nothilfe zugunsten von Jedermann wahrzunehmen.“ Deutlicher kann ein Hinweis auf die Notwehr gemäß § 32 StGB nicht formuliert werden. Völlig unproblematisch ist demnach, dass ein Soldat, der sich innerhalb einer Friedensmission eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs ausgesetzt sieht und angesichts dieser Situation die erforderlichen und gebotenen Abwehrmaßnahmen ergreift, gerechtfertigt ist. Entsprechendes gilt, wenn er zugunsten einer anderen angegriffenen Person handelt. Angesichts dieser klaren Rechtslage bedarf es keiner weiteren Vertiefung. Allerdings gerät die Rechtfertigung aufgrund allgemeiner Notrechte dann selbst in Not, wenn sich der Soldat in der irrigen Annahme verteidigt, er oder eine andere Person werde angegriffen. Hier befindet sich der Soldat in einer Situation, wie sie bspw. der Verletzung der Zivilisten im Jahr 2008 im oben geschilderten Fall zugrundelag: Objektiv lag kein Angriff auf das Leben der Soldaten vor. Notwehr scheidet nach h. M. aus.16 12

Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 11. Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 12. 14 Zur Diskussion vgl. Frister AT 16/34 ff; Schönke/Schröder-Perron § 32 Rn. 42a und § 34 Rn. 7. 15 BT-Drs. 16/10473. 16 Vgl. für die h. M. MüKo-Erb § 32 Rn. 57 m. w. N.; nach a. A. ist der Angriff ex ante aus der Sicht des Angegriffenen zu bestimmen, vgl. RGSt 67, 337; Freund GA 1991, 406 f; Herzberg JA 1989, 247 f; Arm. Kaufmann FS Welzel, 1974, 400 ff; Momsen/Rackow JA 2006, 550; 13

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II. Putativnotwehr Die Straffreiheit der Soldaten wird schließlich aus der Irrtumsdogmatik gewonnen. Da die Soldaten annahmen, angegriffen zu werden, stellten sie sich eine Situation vor, in der sie, ihre Vorstellung als richtig unterstellt, gerechtfertigt gewesen wären. Das ist die Situation eines Erlaubnistatbestandsirrtums. Die Strafbarkeit ist deshalb zu verneinen, weil dem Täter der Deliktsvorsatz fehlt.17 An dieser Stelle setzen nun die strafrechtsdogmatischen Bedenken gegen diese Lösung an. Es wird vorgebracht, dass es einen Unterschied zwischen objektiver Rechtfertigung und bloßem Erlaubnistatbestandsirrtum gäbe, denn wer lediglich aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtums straflos sei, dessen Handeln sei seinerseits objektiv rechtswidrig und begründe ein Abwehrrecht des Betroffenen.18 Dieser Einwand wiegt schwer. Die Bemakelung des Verhaltens der Soldaten mit der Wertung „rechtswidrig“, aber straflos, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird deshalb nach weiteren Möglichkeiten einer Rechtfertigung gesucht und im Völkerrecht gefunden. Bevor darauf eingegangen werden soll (vgl. dazu u. V.), ist aber der Einwand in Frage zu stellen. Unstreitig dürfte sein, dass die fehlende Straftatbestandsmäßigkeit nichts über die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens aussagt. Die Fälle der straflosen aber rechtswidrigen Gebrauchsanmaßung belegen dies.19 Entfällt nun bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum der Vorsatz, so fehlt es an der Tatbestandsmäßigkeit, genauer, dem Handlungsunwert des Verhaltens. Der Irrende hat kein vorsätzliches Unrecht begangen. War der Irrtum sogar objektiv unvermeidbar, so wurde auch kein fahrlässiges Unrecht verwirklicht.20 Dem Verhalten fehlt also insgesamt ein Anknüpfungspunkt für eine strafrechtliche Bewertung. Anders als in den Fällen der straflosen Gebrauchsanmaßung findet man auch außerhalb des Strafrechts keine Anknüpfungspunkte für ein Rechtswidrigkeitsurteil.21 Der einzige Umstand, der für die Rechtswidrigkeit streitet, ist der Erfolgsunwert, bspw. der Tod oder die Verletzung einer oder mehrerer Menschen. Aber darauf kann das Rechtswidrigkeitsurteil allein nicht gestützt werden.22 Der Täter wird nach dem Verständnis der personalen Handlungslehre als jemand wahrgenommen, der VerhaltensRudolphi GS Arm. Kaufmann, 1989, 383; Satzger/Schmitt/Widmaier-Momsen § 15, 16 Rn. 108 m. w. N. 17 So auch die StA Zweibrücken v. 23.1.2009 – 4129 Js 12550/08. Zum Erlaubnistatbestandsirrtum vgl. Roxin AT I § 14 Rn. 52 ff. 18 So einerseits Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 12 andererseits vgl. aber Frister AT 14/30. 19 Gropp AT § 6 Rn. 7 f; Roxin AT I § 10 Rn. 21. 20 Roxin AT I § 14 Rn. 112. 21 Bei der tatbestandslosen Gebrauchsanmaßung ist § 858 BGB (verbotene Eigenmacht) heranzuziehen. 22 Vgl. a. Hirsch FS Dreher, 1977, 223 f; Sinn GA 2003, 103 ff.

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normen angreift. Mit der Rechtswidrigkeit wird der Widerspruch zwischen Norm und Handlung beschrieben.23 Das bedeutet, dass strafrechtlich betrachtet Erfolge isoliert von der Handlung nicht berücksichtigt werden. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten bestimmt nicht der Erfolg die Rechtswidrigkeit, sondern quantifiziert das Unrecht.24 Ein Verhalten, das weder vorsätzlich noch objektiv sorgfaltswidrig ist, kann trotz der kausalen Bewirkung eines Erfolges nicht rechtswidrig sein.25 Wer sich objektiv unvermeidbar Tatsachen vorstellt, die eine Verteidigung im Rahmen der Notwehr zulassen würden, handelt nicht rechtswidrig.26 Anders zu entscheiden würde bedeuten, vom Täter mehr zu verlangen als er zu leisten im Stande ist. Mehr als sorgfaltswidriges Verhalten zu unterlassen kann das Recht aber nicht fordern. Diesen aus der personalen Unrechtslehre stammenden Einsichten wird vorgeworfen, das Rechtswidrigkeitsurteil völlig zu entwerten.27 Die Handlungssteuerung des irrenden Täters verlaufe „im Ergebnis in der falschen Richtung“. Das Verhalten sei daher rechtlich nicht irrelevant oder gar erlaubt. Vielmehr begründe es einen „objektiven Verstoß gegen rechtliche Handlungsanforderungen“.28 Diese Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Was gemessen an den strafrechtlichen Normen richtig und falsch ist, ist eine Frage der Dogmatik. Der Irrtum des Täters ist systematisch einzuordnen und zu bewerten. Führt die Bewertung gemessen an strafrechtsdogmatischen Grundaussagen zu dem Ergebnis, dass Handlungsanforderungen vom Täter nicht erfüllt werden konnten, weil der Irrtum unvermeidbar war, so kann ihm die Motivation nicht als falsch vorgeworfen werden. Jene Ansicht bleibt die Erklärung schuldig, wie sich der Irrende hätte richtig verhalten sollen und was die behauptete rechtliche Handlungsanforderung ist. Es bleibt festzuhalten: Der im unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum handelnde Soldat verhält sich nicht rechtswidrig. Die Straffreistellung ist also trotz des Weges über die Irrtumsdogmatik nicht bemakelt. Die Soldaten haben Recht im Irrtum.

III. Defensivnotstand Während die Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Soldaten bisher allein negativ – aus dem Fehlen des Handlungsunwertes – abgeleitet werden konnte, gelingt aber auch eine positive Rechtfertigung. Dies ist insoweit von 23

Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vor § 13 Rn. 51. Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vor § 13 Rn. 58. 25 Henkel FS Mezger, 1954, 283; Roeder Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, 1969, S. 67, 77 ff. 26 Roxin AT I § 14 Rn. 112 und § 16 Rn. 17 für den Putativnotstand. 27 MüKo-Erb § 32 Rn. 37. 28 MüKo-Erb § 32 Rn. 39. 24

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Bedeutung, als die Feststellung der Rechtmäßigkeit außerhalb von Rechtfertigungsgründen kein Eingriffsrecht gewährt, während Rechtfertigungsgründe den Eingriff in Rechtsgüter anderer Personen erlauben.29 Die Möglichkeit des Defensivnotstandes ist trotz dessen grundsätzlicher Anerkennung in der Literatur30 hinsichtlich der o. g. Fallgestaltung – soweit ersichtlich – noch nicht diskutiert worden. Das liegt sicherlich zum einen an einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer Rechtfertigung, bei der auch Tötungen anderer Menschen als gerechtfertigt bewertet werden können.31 Hinzu kommt, dass der Entstehung der Gefahr aus der Sphäre des Eingriffsopfers erst in jüngerer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wurde.32 Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Diskussion über den Defensivnotstand vor dem Hintergrund des für verfassungswidrig erklärten § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz wieder zugenommen hat.33 Zum anderen sind die Fallgruppen, in denen ein Defensivnotstand bisher angenommen wurde, begrenzt. Roxin nennt vier Fallgruppen, in denen die Abwehr einer von Menschen ausgehenden Gefahr nach § 34 StGB beurteilt werden muss, weil die Notwehrbestimmung in Ermangelung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs nicht herangezogen werden kann:34 x Bedrohung durch eine Nichthandlung; x Gefährdung durch eine sorgfaltsgemäße und daher nicht rechtswidrige Handlung; x Perforation;35 x Präventiv-Notwehr. Der Anerkennung des durch Menschen verursachten Defensivnotstandes liegt die Einsicht zugrunde, dass bei einer Bedrohung des Lebens oder der Gesundheit niemand verlangen kann, den Tod oder eine schwere Verletzungen auf sich zu nehmen. „Der Gefährdete ist also nach § 34 gerechtfertigt, wenn er den Gefahrverursacher schwer verletzt oder äußerstenfalls sogar tötet.“36 In die Interessenabwägung ist also der Umstand der „Zuständig29

Roxin AT I § 14 Rn. 108. Vgl. zuletzt die Analyse von Rogall NStZ 2008, 3 m. w. N.; grundlegend vgl. Otte Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998. 31 Vgl. Jakobs AT 13/22; Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 30; LK-Zieschang § 34 Rn. 74; Felber Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen, 1978, S. 175, alle m. w. N. 32 Roxin AT I § 16 Rn. 72; Rogall NStZ 2008, 3. 33 Vgl. bspw. die Beiträge von Gropp GA 2006, 286; Hirsch FS Küper, 2007, 149; Köhler FS Schroeder, 2006, 257; Ladiges ZIS 2008, 129; Pawlik JZ 2004, 1049; Rogall NStZ 2008, 1; Sinn NStZ 2004, 585; grundlegend bereits Pawlik Der rechtfertigende Notstand, 2002; ders. GA 2003, 12. 34 Roxin AT I § 16 Rn. 73; enger vgl. Jescheck/Weigend AT § 33 IV 5. 35 Krit. Pawlik (Fn. 33) S. 327 ff; ders. Jura 2002, 31. 36 Roxin AT I § 16 Rn. 78 vgl. a. Gropp AT § 6 Rn. 137; vgl. a. Pawlik (Fn. 33) S. 326. 30

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keit“37 für die Gefahr oder der „Sphäre“38, aus der die Gefahr herrührt, einzustellen. Im Ergebnis überwiegt das Interesse des Gefährdeten das Interesse des Gefahrverursachers. Die grundsätzlich unzulässige Abwägung Leben gegen Leben ist also, wie Roxin ausführt, „in Grenzfällen unvermeidbar“.39 Auf den ersten Blick scheint keine der genannten Fallgruppen einschlägig zu sein. Bei näherer Betrachtung kommt für die hier interessierende Fallgestaltung jedoch die zweite Gruppe in Frage. Wenn schon die sorgfaltsgemäße und daher nicht rechtswidrige Handlung einen Defensivnotstand auslösen kann, so muss dies erst recht für sorgfaltswidriges rechtswidriges Verhalten gelten. Soll innerhalb der Interessenabwägung die Herkunft der Gefahr aus der Sphäre des Eingriffsguts zu dessen Lasten berücksichtigt werden, selbst wenn die Gefahr nicht zurechenbar bewirkt wurde,40 so muss dies auch dann gelten, wenn die Gefahr rechtswidrig und zurechenbar verursacht wurde. Mehr als die Möglichkeit eines Defensivnotstandes ist damit aber noch nicht begründet.

1. Gefahr Der (Defensiv-)Notstand setzt eine Gefahr für ein Rechtsgut voraus. Was unter „Gefahr“ zu verstehen sein soll, ist heftig umstritten.41 Der Begriff gehört zu den am wenigsten geklärten im Allgemeinen Teil.42 Es wird sowohl um das Maß der drohenden Gefahr als auch um den zeitlichen Maßstab, nach welchem eine Gefahr zu bestimmen ist, gerungen. Erschwerend kommt in unserem „Soldaten-Fall“ hinzu, dass diese sich irrten. Die Schwierigkeit des Falles liegt also u.a. darin, zu bestimmen, jenseits welcher Grenze eine Fehlbeurteilung der Lage oder der Entwicklung die Rechtfertigung in eine nach Irrtumsregeln zu behandelnde Putativrechtfertigung umschlagen lässt.43 Die inhaltliche Bestimmung des Gefahrbegriffs ist also der Dreh- und Angelpunkt bei der Frage, ob eine Rechtfertigung nach Defensivnotstandsgesichtspunkten möglich ist. Mit dem Gefahrbegriff verbindet sich immer eine Prognose über einen Geschehensablauf. Aufgrund bestimmter Risikofaktoren wird eine Vorhersage für das Eintreten oder Nichteintreten eines bestimmten Schadensereig37

Pawlik GA 2003, 21. Gropp GA 2006, 287. 39 Roxin AT I § 16 Rn. 78; vgl. a. Rogall NStZ 2008, 2. 40 Vgl. Roxin AT I § 16 Rn. 75. 41 Zum Streitstand vgl. MüKo-Erb § 34 Rn. 58 m. w. N.; Roxin AT I § 16 Rn. 14 ff; Kretschmer JURA 2005, 662; Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 12 ff, alle m. w. N. 42 Vgl. Roxin AT I § 16 Rn. 14. 43 Vgl. Roxin AT I § 14 Rn. 89; vgl. a. Jakobs AT 11/9. 38

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nisses abgegeben.44 Dem Begriff „Gefahr“ wohnt also immer eine notwendige Ungewissheit inne.45 Da während der Notstandstat feststehen muss, ob eine Handlung gerechtfertigt ist,46 wird nach weitgehend anerkannter Ansicht die Gefahr ex ante bestimmt.47 Ob sich die Gefahrprognose im Nachhinein als falsch erweist, ist für das Gefahrurteil irrelevant.48 Die Unsicherheit ist im Gefahrbegriff selbst angelegt. Wer eine Fensterscheibe einschlägt, weil er eine Gasexplosion verhindern will, handelt auch dann gerechtfertigt, wenn sich herausstellt, dass nie Explosionsgefahr bestand.49 Die innerhalb des Gefahrbegriffs angelegte Ungewissheit darf aber nicht mit der individuellen Ungewissheit über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes verwechselt werden.50 In der hier betrachteten Fallgestaltung zweifelten die Soldaten nicht an der Gefahr eines Bombenanschlags: Es gab Hinweise darauf, dass Sprengstoffanschläge bevorstanden; das Fahrzeug näherte sich der Straßensperre mit hoher Geschwindigkeit; Leuchtkugeln und Warnschüsse wurden abgefeuert. Alle Risikofaktoren ließen nur einen Schluss zu:51 Es handelte sich um einen Selbstmordattentäter und damit um eine Gefahr für das eigene Leben. Dieser Prognose halten alle objektiven ex-ante-Maßstäbe stand, gleich, ob sie auf das Urteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden unter Berücksichtigung spezieller Kenntnisse52, auf den in der Konfliktlage zuständigen Fachmann53, auf Maximalwissen54 oder das gesamte menschliche Erfahrungswissen55 abstellen. In dieser Situation würde kein objektiver Dritter in der Situation der Soldaten ein Abwarten raten. Die Soldaten irrten dementsprechend nicht über das Vorliegen einer Gefahr, sondern sie stellten sich mehr als eine Gefahr, nämlich einen Angriff, vor (s.o.). 44 Vgl. zur Rspr. BGHSt 18, 271; BGH NStZ 1988, 554; BGH NStZ 1989, 431; BayObLG NJW 2000, 888. 45 MüKo-Erb § 34 Rn. 59; Jakobs AT 13/12 f; Schüler Der Zweifel über das Vorliegen einer Rechtfertigungslage, 2004, S. 58; vgl. a. Frister FS Rudolphi, 2004, 45. 46 Vgl. Roxin AT § 16 Rn. 15; Jakobs AT 11/12 und 13/12 f. 47 Kühl AT § 8 Rn. 43; ders. § 34 Rn. 2; Rengier AT § 19 Rn. 9; Satzger/Schmitt/WidmaierRosenau § 34 Rn. 8; Rudolphi GS Arm. Kaufmann, 1989, 383; Wessels/Beulke AT Rn. 304. m. w. N.; zur a. A. vgl. MüKo-Erb § 34 Rn. 60 ff; Frister AT 14/11, 16/2; Stratenwerth/Kuhlen AT § 9 Rn. 102. 48 MüKo-Erb § 34 Rn. 61; Kühl AT § 8 Rn. 43. 49 Roxin AT I § 14 Rn. 92; a. A. Frister AT 14/11, 16/2. 50 Vgl. dazu Frister FS Rudolphi, 2004, 45; Schüler (Fn. 45). 51 A. A. wohl NK-Neumann § 34 Rn. 50: bestehe objektiv kein Risiko, so gäbe es auch keine Risikofaktoren. 52 Vgl. Schaffstein FS Bruns, 1978, 106. 53 Vgl. Jakobs AT 13/13. 54 Vgl. Blei AT § 44 III 3. 55 Vgl. Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 14.

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Der Vorwurf an diese Ansicht, sie würde den Unterschied zwischen Gefahr und „scheinbarer Gefahr“ einebnen,56 geht fehl, weil es diesen Unterschied im Gefahrbegriff, so wie er hier bestimmt wurde, nicht gibt. Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich eine ex-post-Betrachtung hinsichtlich der Grundlagen des Gefahrurteils und eine ex-ante-Betrachtung der Verlaufsprognose57 nicht nur schwer durchführen lässt,58 sondern auch hinsichtlich des von Menschen ausgelösten Defensivnotstandes nicht durchzuhalten ist. Soll die Perforation gem. § 34 StGB gerechtfertigt sein, so setzt dies eine Gefahr voraus. Mit der Tötung des Kindes bei der Geburt zum Schutz der Mutter wird nun jeder weitere alternative Geschehensablauf abgeschnitten. Es kann also niemand wissen, ob die Gefahr für die Mutter tatsächlich bestand, oder ob „nur“ nach allem fachärztlichem Wissen zum Zeitpunkt der Notstandshandlung der Tod der Mutter drohte. Die Tötung beruht also auf einer Prognose, die nachträglich nicht zu überprüfen ist.59 Daran ändert sich auch nichts, wenn man für diese und andere Fälle eine eigenständige Betrachtung außerhalb des Defensivnotstandes anstrengt.60 Die Zufälligkeit der Fallgestaltung kann nicht darüber entscheiden, ob eine Gefahr vorliegt oder nicht. Nur wenn die Notstandshandlung nicht zum Erfolg führt, kann das Risiko nachträglich objektiv bewertet werden. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass eine gelungene Perforation gerechtfertigt sein kann, während eine versuchte, weil misslungene Tötung des Kindes bei nachträglich berichtigter Prognose zur Rechtswidrigkeit führt. Festzuhalten bleibt: Die Soldaten handelten in einer von den Zivilisten ausgelösten Defensivnotstandssituation.

2. Notstand vs. Notstand Die Anerkennung eines Defensivnotstandes zugunsten der Soldaten führt nun zu der Konstellation, dass sich die auf die Sperre zufahrenden Zivilisten und die Soldaten wechselseitig auf § 34 StGB berufen könnten: Die Zivilisten aufgrund des Erlaubnistatbestandsirrtums der Soldaten61 und die Solda56

So MüKo-Erb § 34 Rn. 62; NK-Neumann § 34 Rn. 45. So aber MüKo-Erb § 34 Rn. 63; SK-Günther § 34 Rn. 21; LK-Zieschang § 34 Rn. 27. 58 Vgl. Dimitratos Das Begriffsmerkmal der Gefahr in den strafrechtlichen Notstandsbestimmungen, 1989, S. 147 ff; Jakobs AT 13/13; Schaffstein FS Bruns, 1978, 95 ff. 59 Gleiches gilt für die Fälle der Präventivnotwehr. Wer einem Angriff zuvorkommt, verhindert damit nicht nur einen möglichen Angriff, sondern auch, dass die Gefahr sich nicht realisiert, weil der potentielle Angreifer es sich im letzten Moment anders überlegt hat. Entsprechendes gilt in dem von Gropp gebildeten Radartechniker-Fall (GA 2006, 284 ff). 60 So MüKo-Erb § 34 Rn. 154. 61 Vgl. näher zu dieser Fallgruppe Otte Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998, S. 59 ff. 57

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ten aufgrund des von den Zivilisten ausgelösten Defensivnotstandes.62 Ein absurdes Ergebnis, wie von den Anhängern einer ex-post-/ex-anteBetrachtung beim Gefahrbegriff eingewandt wird.63 Die Absurdität lässt sich aber einfach auflösen. Denn während sich die Soldaten schon aufgrund des Erlaubnistatbestandsirrtums rechtmäßig verhielten, war das Verhalten der Zivilisten (Zufahren auf eine Halt gebietende Straßensperre in einem Gebiet mit Terrorgefahr) schon aus diesem Grund rechtswidrig.64 Ihr rechtswidriges Verhalten war der Grund für die Gefahr. Sie haben den Soldaten die Konfliktlage aufgedrängt. Diese Konfliktlage war nicht nur scheinbar, sondern aufgrund des eigenen Verhaltens real.65 Der für die Annahme eines Defensivnotstandes ausschlaggebende Umstand der „Zuständigkeit“ oder „Sphäre“ der Gefahr verdichtet sich aufgrund des per se rechtswidrigen Verhaltens der Zivilisten derart, dass diese sich nicht auf § 34 StGB berufen können. An dieser Stelle kommen die beim Gefahrbegriff sich als gegensätzlich gegenüberstehenden Thesen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass niemand Solidarität einfordern kann, wenn durch ihn ein pflichtwidriger Übergriff in eine fremde Rechtssphäre droht.66

IV. Zwischenergebnis Es konnte gezeigt werden, dass die Notrechte selbst nicht in Not geraten, auch wenn es sich um extreme Fälle wie bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten handelt. Die Rechtfertigungsdogmatik kann auch in diesen Fällen zu sachlich zureichenden Ergebnissen und Wertungen gelangen, um sowohl ein Recht im Irrtum zu begründen als auch in dieser Situation ein Eingriffsrecht zu gestatten.

62 Aufgrund des rechtmäßigen Verhaltens der Soldaten handelt es sich nicht um die Fallgruppe asymmetrischer Zuständigkeit der Konfliktbeteiligten, vgl. dazu Pawlik (Fn. 33) S. 319 f und ders. GA 2003, 24. 63 Vgl. MüKo-Erb § 32 Rn. 37. 64 Die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Straßensperre ergibt sich nach Ansicht der StA Zweibrücken (23.1.2009 – 4129 Js 12550/08) aus Art. 24 Abs. 2 GG i. V. mit dem Antrag der Bundesregierung vom 7.10.2008, BT-Drucks. 16/10473, und dem Beschluss des Bundestages vom 16.10.2008, PlProt. 16/183. Vgl. ausf. und insoweit abw. Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 13 f). Dass sich die Zivilisten ihrerseits auf einen Rechtfertigungsgrund berufen könnten, ist nicht ersichtlich. 65 Vgl. a. Jakobs AT 11/9. 66 Vgl. a. MüKo-Erb § 34 Rn. 154; Hirsch FS Dreher, 1977, 229; Jakobs AT 11/15; Pawlik GA 2003, 24 spricht bei asymmetrischen Sonderzuständigkeiten von einem überschießenden Zuständigkeitsanteil.

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V. Völkerrecht 1. Prämissen Bevor der These nachgegangen werden soll, ob sich aus dem VN-Mandat ein Rechtfertigungsgrund ableiten lässt, seien die Prämissen dieser Ansicht offengelegt. Sie geht davon aus, dass die Notrechte sachlich und systematisch unzureichend seien. Die sachliche Komponente wird von der These objektiver Rechtswidrigkeit der im Erlaubnistatbestandsirrtum handelnden Soldaten genährt. Der systematische Einwand beruht auf der Bedingung, dass die Notrechte hoheitliches Handeln primär nicht rechtfertigen könnten.67 Beide Prämissen sind angreifbar und auch die h. M. nimmt zu beiden einen anderen Standpunkt ein.68 Dennoch strahlt die Idee, eine Rechtfertigung aus dem VN-Mandat abzuleiten, eine gewisse Faszination aus. Einerseits würde eine solche Rechtfertigungslösung zur Subsidiarität der Notrechte führen und andererseits wohnt der Begründung über ein VN-Mandat eine verführerische autoritäre Kraft inne.

2. Lösungsmodell Zum Vorbild einer Rechtfertigungslösung dienen Schädigungshandlungen von Kombattanten in einem internationalen bewaffneten Konflikt.69 Als Kompetenzgrundlage wird Art. 42 der VN-Satzung, den Frieden notfalls auch durch militärische Zwangsmaßnahmen zu sichern, angeführt. Die Voraussetzung und Reichweite der Rechtfertigung seien dann in erster Linie durch Auslegung der jeweiligen Resolution des Sicherheitsrates zu ermitteln.70

3. Zuordnung des VN-Mandats zum Prinzip des überwiegenden Interesses An dieser Rechtfertigungslösung ist zunächst unklar, ob sich in ihr ein rechtfertigendes Prinzip71 nachweisen bzw. ob sie sich, wie von Roxin vor-

67

Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 12. Vgl. zur h. M. die Nw. in Fn. 69 bei MüKo-Erb § 32 Rn. 35 und o. D. II. sowie die Nw. bei Schönke/Schröder-Perron § 32 Rn. 42a ff, 32 Rn. 7. 69 Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 12 ff. 70 Zur Überführung dieses Rechtfertigungsgrundes in innerstaatliches Recht, zur Rechtmäßigkeit der Entsendung als Voraussetzung der Rechtfertigung und zu weiteren Details vgl. ausführlich Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 12 ff. 71 Vgl. dazu Gropp AT § 6 Rn. 21 ff. 68

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geschlagen, auf ein soziales Ordnungsprinzip72 zurückführen lässt. Einige wenige Überlegungen zum Prinzip des überwiegenden Interesses sollen die Debatte anregen: Während Kapitel VII der VN-Satzung das zu erhaltende Ziel „Friedenswahrung und -wiederherstellung“ zum Inhalt hat, steht auf der anderen Seite das beeinträchtigte Interesse des Defensivnotstandsverursachers - Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Überwiegen der Friedensbewahrung bzw. -wiederherstellung als Daseinsbedingung des Lebens scheint auf den ersten Blick sofort für das Prinzip des überwiegenden Interesses zu streiten, und auch entsprechend einer Mittel-Zweck-Relation scheint es nicht schwer zu sein, eine Rechtfertigung anzunehmen. Allerdings stehen hier kollektive Sicherheitsinteressen den Freiheitsinteressen Einzelner gegenüber. Die Interessen des einzelnen Zivilisten würden so, folgte man dem Prinzip des überwiegenden Interesses, im Wege einer sog. Vorwegabwägung hinter die kollektiven Sicherheitsinteressen zurückgestellt. Das ist jedenfalls so lange möglich, wie es nicht um die Aufopferung des eigenen Lebens zugunsten des kollektiven Sicherheitsinteresses geht. Bestätigt wird dieser erste Befund durch Überlegungen zum nationalen Recht. Das Prinzip des überwiegenden Interesses wird auch den Amts- und Zwangsrechten von Amtsträgern zugrundegelegt. Insbesondere zum Zwecke der Strafverfolgung vorgenommene Eingriffe in Rechte und Interessen der Verfolgten tragen das Risiko in sich, materiell rechtswidrig zu sein, da bis zur Fällung des richterlichen Urteils von der Unschuld des Beschuldigten auszugehen ist. Wollte man angesichts dieser Unsicherheit von Zwangsmaßnahmen (UHaft, körperliche Untersuchungen usw.) absehen, so würde dies die Strafrechtspflege zum Erliegen bringen. Deshalb formuliert der Gesetzgeber diese Unsicherheiten innerhalb der Ermächtigungsgrundlagen auch, indem er Begriffe wie „Verdacht“ oder „Gefahr“ verwendet.73 Im Rahmen der Vorwegabwägung wird also das Interesse des Einzelnen hinter das Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege gestellt. Allerdings reichen diese Zwangsrechte auch im nationalen Recht nicht aus, um eine Tötung eines Anscheinsangriffs- oder Anscheinsgefahrverursachers zu rechtfertigen. Hinzukommen muss also eine weitere Erwägung, die das Ergebnis – Rechtfertigung – trägt. Die das Haltegebot missachtenden Zivilisten waren nicht nur causa für die tödlichen Schüsse, sondern sie haben diese vorwerfbar provoziert. Wer erkennt, dass eine Straßensperre von ISAF Soldaten errichtet wurde und sich bereits andere Zivilsten in die Schlange zur Kontrolle eingereiht haben, der kann nicht darauf vertrauen, dass sein Verhalten – Vorbeifahren an den wartenden Autos mit unverminderter Geschwindig72 73

Roxin AT I § 7 Rn. 70 und § 14 Rn. 38 ff. Vgl. a. Jakobs AT 11/12.

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keit und Weiterfahrt nach Warnschüssen – als friedlicher Akt gewertet wird. Sein Verhalten trägt aus einer ex-ante-Perspektive bewertet vielmehr alle Merkmale eines terroristischen Anschlags. Das Verhalten des Fahrers hat also eine notwendige Gegenmaßnahme der Soldaten provoziert, weil er sich rechtswidrig verhalten hat (Missachtung des Haltegebots). Obwohl das Verhalten des Pkw-Fahrers nicht als Angriff auf Rechtsgüter der Soldaten oder Dritte i. S. d. Notwehr gewertet werden kann, ist es doch rechtswidrig. Den Soldaten wurde die notwendige militärische Gegenwehr aufgezwungen74. Die „Notwendigkeit/Erforderlichkeit“ ist auch im VN-Mandat genannt („all necessary measures“). Aufgrund des provozierenden Verhaltens, der Herausforderung von Gegenmaßnahmen, ist also über das Merkmal der Notwendigkeit eine Vorwegabwägung zu Lasten der Güter des Fahrers des Pkw möglich. Im Merkmal der Notwendigkeit/Erforderlichkeit ist auch die den Amts- und Zwangsrechten eigene Unsicherheit der Tatsachengrundlage enthalten. Denn was notwendig und erforderlich ist, lässt sich, um eine zwangsweise Durchsetzung einer Maßnahme effektiv zu ermöglichen, nur durch eine ex-ante-Beurteilung bestimmen. Die Notwendigkeit/Erforderlichkeit militärischen Handelns ist also ein Merkmal, das eine Voraussage über zukünftige Entwicklungen zum Gegenstand hat.75 Der Grund für die Zurückstellung der Interessen des Pkw-Fahrers ist sein rechtswidriges und die Konfliktlage zurechenbar verursachendes Verhalten. Angesichts der im Krisengebiet alltäglichen Gefahren terroristischer Anschläge ist diese Vorwegabwägung auch sachgerecht, da andernfalls der zur Rechtsdurchsetzung erforderliche binäre Schematismus von Anordnung und Durchsetzung ins Leere liefe, weshalb die gesamte Mission, auf die sich der Auslandseinsatz stützt, an Sinn verlieren würde. Aber auch diese Rechtfertigungslösung hat mehrere „blinde Flecke“. Zunächst ist problematisch, ob der Soldat zum Zweck der Durchsetzung von Befugnissen des VN-Mandats gehandelt hat (subjektives Rechtfertigungselement). Dieses Problem könnte man verdrängen, indem man behauptet, dass es „ausgesprochen fern“ liege, den Soldaten diese Motivation abzusprechen.76 Angesichts der Gefährdungslage erscheint es demgegenüber naheliegender, dass für die Abwehr das Motiv „Selbstverteidigung“ ausschlaggebend gewesen sein wird.77 Einen Ausweg aus reinen Vermutungen bietet nur der Verzicht auf ein subjektives Rechtfertigungselement innerhalb des VN-Mandats.

74

Für die Notwehr vgl. Rudolphi GS Arm. Kaufmann, 1989, 394 f; vgl. a. Jakobs AT 11/9. Vgl. Rudolphi GS Arm. Kaufmann, 1989, 382. 76 Frister/Korte/Kreß JZ 2010, 17. 77 So auch die StA Zweibrücken (23.1.2009 – 4129 Js 12550/08). 75

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Viel schwerer wiegt aber das Problem, dass in den dargestellten Fallgestaltungen sich die Rechtfertigungslösung aufgrund eines VN-Mandats nur gegenüber dem Fahrer oder den von der Missachtung der Kontrolle eingeweihten Personen begründen lässt. Gegenüber uneingeweihten Personen, also bspw. Schlafenden oder Kindern, verbietet sich eine Rechtfertigung, denn diese Personen sind Unbeteiligte. Hier ist eine Rechtfertigung unmöglich. Es verbleibt bei der Irrtumskonstellation.

E. Ergebnis Die Rechtfertigungslösung über ein VN-Mandat lässt noch (zu) viele Fragen offen. Nicht zu übersehen ist, dass all die Argumente, gegen die im Rahmen der Anwendung der allgemeinen Notrechte gestritten wird, bei der Begründung eines Rechtfertigungsgrundes aus einem VN-Mandat aufgegriffen werden. Der ex ante bestimmte Defensivnotstand wird mit dem VNMandat erfasst, bei den allgemeinen Notrechten aber abgelehnt. Argumentativ liegen beide Ansichten nicht weit auseinander. Beide vereint, dass sie ein Recht im Irrtum anerkennen.

Schuld und Strafzwecke* EDUARDO DEMETRIO CRESPO

I. Claus Roxin und sein methodologischer Ansatz Die Frage nach Schuld und Strafzwecken ist seit langer Zeit ein Grundbaustein der Strafrechtswissenschaft und gordischer Knoten im Denken und Werk Professor Roxins, dem dieser Beitrag in Verbundenheit aus Anlaß seines 80. Geburtstages gewidmet ist. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnet den Punkt, an dem versucht wurde, den Irrationalismus der Kieler Schule radikal zu überwinden1; hierbei tat die deutsche Strafrechtsdogmatik einen Schritt zurück, statt auf von Liszts Wege voranzuschreiten, und kehrte zu Kant und Hegel zurück, ein Prozeß, der in den sechziger Jahren abgeschlossen war, als – in Worten Klugs – der „Abschied von Kant und Hegel” und die „Rückkehr zu von Liszt” stattfindet.2 In diesem Geiste wurde der Alternativentwurf des Jahres 1966 verfaßt, bei dem die Roxin als derjenige Strafrechtler hervortritt, der von neuem die Kriminalpolitik als einen besonderer Beachtung durch die Strafrechtswissenschaft würdiger Gegenstand postuliert. Vor nun schon vier Jahrzehnten hat Roxin den Stand der Strafrechtswissenschaft auf den Begriff gebracht und in einem grundlegenden Werk – Kriminalpolitik und Strafrechtssystem3 – die Schritte identifiziert, die sie in Zukunft zu tun haben würde. In Roxins Denken sind es die Straflehren, die den Weg bezeichnen, auf dem das Strafrecht seinen Hauptzweck, nämlich Rechtsgüterschutz und * Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des folgenden Forschungsprojekts verwirklicht worden: „Neurociencia y Derecho penal: nuevas perspectivas en el ámbito de la culpabilidad y tratamiento jurídico-penal de la peligrosidad” (DER 2009/09868. IP: Eduardo Demetrio Crespo). Die deutsche Übersetzung verfasste Manuel Cancio Meliá (Universidad Autónoma de Madrid). 1 Zugaldía Espinar in: von Liszt, La idea de fin en el Derecho penal, 1995, S. 31; Weigend in: Sieber/Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 49 ff. 2 Klug in: Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 36 ff; ders. FS Luis Jiménez de Asúa, 1970, 35 ff. 3 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970. Für diese Tendenz nicht minder bedeutsam Hassemer Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974.

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hierdurch die freie Selbstentfaltung des Menschen, zu erreichen hat.4 Seine Arbeit auf diesem Gebiet führen ihn zu einer integrations-präventiven Lehre, durch die soweit möglich general- und spezialpräventive Perspektiven nebst der Berücksichtigung der Opferinteressen in Einklang gebracht werden sollen. Wie bekannt beruht seine präventive Vereinigungstheorie auf drei grundsätzlichen Postulaten5: a) Dem ausschließlich präventiven Zweck der Strafe, da strafrechtliche Normen nur dann gerechtfertigt seien, wenn sie auf den Schutz individueller Freiheit und einer dieser dienenden Gesellschaftsordnung ausgerichtet sind; b) dem Verzicht auf jegliche Vergeltung; c) dem Schuldgrundsatz als Mittel der Eingriffsbeschränkung. Nach Roxins Auffassung ist der Gedanke von grundlegender Bedeutung, dass eine präventiv orientierte Strafe nicht auf bloßer Schuld des Täters gegründet sein kann, sondern stets auch aus einer präventiven Perspektive notwendig sein muss.6 Das sind die beiden Grundelemente, die zum Unrecht dazukommen müssen, und von denen die Kategorie der Verantwortlichkeit abhängt: Schuld des Täters und präventive Notwendigkeit der strafrechtlichen Sanktion.7

II. Schuld und Strafzwecke im Kontext der „Antinomien des Strafrechtssystems” Meines Erachtens ist das Problem, dass in der Diskussion zu Schuld und Strafzwecken – in die auch Roxins Standpunkt gehört – zu Tage tritt, kein anderes als das der Antinomien des Strafsystems und insbesondere die Antinomie zwischen Prävention und Schuld.8 Baurmann hat die etwas schizophrene Doppeltendenz herausgestrichen, die Strafsystem und Strafrechtswissenschaft kennzeichnet, wenn einerseits eine Begründung durch Vergeltung als Legitimationsgrundlage abgelehnt, aber andererseits weiterhin die Auferlegung und Zumessung der Strafe im Einzelfall nach Maßgabe des Schuldprinzips bestimmt werden soll.9 Wegen diesem fundamentalen Widerspruch ist die Notwendigkeit behauptet wor4

Roxin AT I § 3 Rn. 1; ders. JuS 1966, 377. Roxin AT I § 3 Rn. 37 ff. 6 Roxin MschrKrim 1973, 316; ders. FS Henkel, 1974, 171; ders. FS Bockelmann, 1979, 279; ders. ZStW 96 (1984), 641; ders. SchwZStr 104 (1987), 356; ders. FS Müller-Dietz, 2001, 701. 7 Roxin AT I § 19 Rn. 1 ff. 8 Näher dazu Demetrio-Crespo Prevención general e individualización judicial de la pena, 1999, S. 81 ff; vgl. auch Pérez Manzano Festgabe Roxin, 1997, 73 ff. 9 Baurmann Folgeorientierung und subjektive Verantworlichkeit, 1981, S. 7 ff. 5

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den, eine neue Begründung für das Schuldprinzip zu finden, die auf den vergeltungstheoretisch geprägten und den freien Willen voraussetzenden Schuldvorwurf verzichten kann.10 Die zugrundeliegende wissenschaftliche Diskussion ist nicht nur weiterhin offen, sondern sogar im Lichte der neuesten Forschungen auf dem Gebiet der Neurobiologie11 zu besonderer Aktualität gelangt12, da diese zur Schlußfolgerung zu führen scheinen, dass in Wirklichkeit kein Mensch die Wahl hat, moralisch gut oder falsch zu handeln, da die Willensfreiheit eine bloße Illusion sei, und das Schlechte, ein im Gehirn angesiedeltes biologisches Phänomen. Es ist aber äußerst zweifelhaft, ob diese Forschungen einen Paradigmenwechsel13 herbeizuführen vermögen, der die gegenwärtige juristische Kultur radikal in Frage stellen würde.14 Nach dem traditionell herrschenden Verständnis der Strafrechtswissenschaft beruht der Schuldgrundsatz auf der logischen Voraussetzung der Entscheidungsfreiheit des Menschen15, wobei argumentiert wird, die Verwurzelung der Willensfreiheit in den grundlegenden Strukturen sozialer Kommunikation16 und im Selbstverständnis des Menschen17 sei nicht von der Hand zu weisen. Diese Perspektive wird aber seit Jahrzehnten nicht nur aufgrund der Unmöglichkeit eines Beweises der Willensfreiheit, sondern auch durch den wachsenden Einfluß der Wissenschaften, die das menschliche Verhalten und seine Ursachen untersuchen, in Frage gestellt.18 Dieser Herausforderung durch die Verhaltenswissenschaften – und angesichts des permanenten Rechtfertigungsbedürfnisses des Strafrechts – ist die Strafrechtswissen-

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Dazu kritisch Hirsch ZStW 106 (1994), 746 ff. Vgl. u. a. Prinz in: Cranach/Foppa (Hrsg.), Feiheit des Entscheidens und Handelns, 1996, S. 86 f; ders. in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 20 ff; Singer in: Geyer (Fn. 11), S. 30 ff; Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung, 2008; Roth/Lück/Strüber in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.) Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 99 ff; Roth in: ders./Grün (Hrsg.), Das Gehirn und seine Freiheit, 2009, S. 9 ff. 12 Der Spiegel 31/2007, 108 ff; Hassemer FAZ 15.06.2010 und die entsprechende Erwiderung von Roth/G. Merkel FR-online 22.07.2010. 13 Vgl. Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen,1976, passim. 14 Vgl. Mahlmann Rationalismus in der praktischen Theorie: Normentheorie und praktische Kompetenz, 1999, passim. 15 Jescheck/Weigend AT § 37 I 1. 16 Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 166; ders in: Roxin/Jakobs/Schünemann/Frisch/Köhler, Sobre el estado de la teoría del delito, 2000, S. 110. 17 Hirsch FS Otto, 2007, 321. 18 Besonders bedeutend und vorausblickend Gimbernat ZStW 82 (1970), 379 ff. 11

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schaft im allgemeinen kritisch begegnet19, auch mit gewisser Resgniertheit20, und in Einzelfällen mit einer Befürwortung eines Maßregelstrafrechts21. Meiner Ansicht nach ist es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Rechtfertigungslast der Strafe demjenigen aufzubürden ist, der ihre Legitimität behauptet, so dass nichts unter den Teppich gekehrt werden darf, wenn es um neue Erkenntnisse geht, die die Bedingungen menschlichen Verhaltens, das wir für schuldhaft halten, betreffen. Ein zutreffender Ausgangspunkt kann nicht darin bestehen, das „gute Gewissen” zu bewahren; vielmehr ist eine zu anderen Wissenschaften offene Perspektive einzunehmen, die denjenigen Änderungsmöglichkeiten Raum läßt, die einem besseren und vor allem menschlicheren Strafrecht zuträglich sind; insbesondere, was die Auslegung der Vorschriften angeht, die die Gründe der Unzurechnungsfähigkeit aufgrund psychischer Anomalien oder Änderungen regeln (§ 20 StGB / art. 20.1 CP).22 Dass es sich um eine normative Verantwortungsfeststellung handelt, bedeutet m. E. nicht, dass es auch um ein nur auf seine eigene Regeln fixiertes Spiel geht.23 Das Strafrecht hat nämlich ständig das hinter seiner Regelung liegende Phänomen im Auge zu behalten, und dieses beschränkt sich nicht auf eine Verständigung über die Willensfreiheit, sondern erstreckt sich auch auf unser Wissen (oder unsere Unkenntnis) über das menschliche Verhalten selbst und über die sogenannte „freie Handlung”.24 Wie bekannt sind auf dem Wege zu dieser neuen Begründung verschiedene Argumentationen vorgeschlagen worden, unter denen folgende hervorzuheben sind: das Verständnis der Schuld als Fiktion zugunsten des Täters; die Ersetzung der Schuld durch Generalprävention; die Ersetzung

19 Vgl. u. a. Lüderssen in: Geyer (Fn. 11) S. 98 ff; Hillenkamp JZ 2005, 318 ff; Jakobs ZStW 117 (2005), 247 ff; Günther KJ 39 (2006) 116 ff; Lampe ZStW 118 (2006), 1 ff; T. Walter FS Schroeder, 2006, 131 ff; Streng FS Jakobs, 2007, 675 ff; Hirsch ZIS 2010, 62 ff. 20 Vgl. R. Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 133. 21 Vgl. vor allem Detlefsen (jetzt G. Merkel) Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handels – Perspektive des Schuldprinzips: Konsequenzen neurobiologischer Forschung für das Strafrecht, 2006; dies. FS Herzberg, 2008, 3 ff. 22 Für den Jubilar muss jede Schuldkonzeption letztlich auf dasjenige zurückzuführen sein, was in der gerichtlichen Praxis erforschbar ist: die Normalität der normativen Ansprechbarkeit des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt, vgl. Roxin FS Kaufmann, 1993, 521. 23 Für die Vereinbarkeit von Determinismus und Handlungsfreiheit schon SerranoPiedecasas/Demetrio-Crespo FS Vives Antón, 2009, 1784 ff. Die spanische Lehre vertritt aber mehrheitlich eine indeterministische Perspektive oder zumindest die Irrelevanz der deterministischen Thesen für das Strafrecht. So u. a. Prats Canut GS Valle Muñiz, 2001, 627 f; Sanz Morán FS Cerezo Mir, 2002, 155 und Vives Antón FS Cerezo Mir, 2002, 232. 24 Bei dem von der Zeitschrift New Scientist (21.10.2002) berichteten Fall handelte es sich um einen Lehrer, der nach Auftreten eines Tumors pädophile Verhaltensweisen und sonstige auffällige sexuelle Tendenzen an den Tag legte. Näher dazu G. Merkel FS Herzberg, 2008, 18.

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der Schuld durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und die Schuld wohl als Begrenzung, nicht aber als Grundlage der Strafe. Zweifellos ist Roxin der Angelpunkt der letztgenannten These, die er in verschiedenen Schriften erarbeitet hat. Für ihn ist der Begriff der Schuld zur Begründung der Strafe unzureichend und deshalb insoweit abzulehnen; als strafbegrenzender Grundsatz sei er aber beizubehalten und insoweit, für diese zweite Funktion, auch begründbar. In ihr erblickt unser Autor alle Bestandteile des Schuldprinzips, die als Schöpfung des aufgeklärten Liberalismus bewahrenswert erscheinen, der Begrenzung staatlicher Strafgewalt dienen und stets zugunsten des Täters eingreifen.25 Dem Einwand, nach dem eine strafbegrenzende Schuld auch zur Strafbegründung herangezogen werden können muss, entgegnet Roxin, dass Schuld eine nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Strafe ist.26 Tiefschürfender scheint Hirschs 1994 formulierte Kritik, nach der Roxins Schuldbegriff in Wriklichkeit gar nicht in der Lage ist, eine begrenzende und unabhängige Funktion wahrzunehmen, da er selbst durch die Prävention bedingt sei.27 Roxin hält diese Kritik für unbegründet, da er die Schuld vollständig präventionsfrei als „rechtswidriges Verhalten trotz normativer Ansprechbarkeit” bestimme und dergestalt die Strafe wie jeder konsequente Verfechter des Schuldprinzips begrenze.28

III. Schuldbegriff, Struktur der Schuld in Bezug auf das Unrecht und Schuldfunktion als aufeinander bezogene Probleme (Stellungnahme) Meines Erachtens ist es von grundsätzlicher Bedeutung, zur Untersuchung der genannten Problematik drei aufeinander bezogene Fragen zu analysieren: der verwandte Schuldbegriff, die Struktur der Schuld in ihrer Beziehung zum Unrecht und die der Schuld im Zusammenhang der Strafzwecke zugewiesene Funktion.29

1. Schuldbegriff Meines Erachtens ist der einzige gültige Schuldbegriff im Strafrecht des Rechtsstaats derjenige der „Tatschuld”, der auch den Modellen eines „Tat25

Roxin MSchrKrim 1973, 319. Roxin MSchrKrim 1973, 320 f. 27 Hirsch ZStW 106 (1994), 754 ff. 28 Roxin AT I § 19 Rn. 9. 29 Näher dazu schon Demetrio-Crespo (Fn. 8) 215 ff; ders. Culpabilidad y fines de la pena: con especial referencia al pensamiento de Claus Roxin, 2008, passim. 26

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strafrechts” entspricht. Die verschiedenen Konzepte einer „Täterschuld”, die die „Täterstrafrecht”-Modelle begleiten, führen zu autoritären Systemen.30 Dass nur ein „Tatschuldbegriff” verwendet werden kann, ergibt sich andererseits auch aus der Untersuchung der zweiten zu behandelnden Frage, d.h. der Schuldstruktur in Bezug auf das Unrecht.

2. Struktur der Schuld in Bezug auf das Unrecht Aus dem hier nicht geteilten Gedanken, nach dem die Schuld das Maß der Vorwerfbarkeit und auch ihre Grenze darstellen soll, entspringt auch der Begriff der „Steigerungsfähigkeit der Schuld“31. Dies impliziert eine vergeltungstheoretische Begründung des Strafrechts und der Strafe, die vom „konstitutiven” Charakter der Schuld im Rahmen der Strafzumessung ausgeht. Wird aber hingegen von einer präventiven Begründung des Strafrechts ausgegangen – ohne auf das Modell eines zweispurigen Strafrechts zu verzichten –, gelangt man zu einer Schuldkonzeption, die dieser eine nur begrenzende Wirkung zuschreibt. Wie es schon Horn formulierte, ist die Schuld nur eine Voraussetzung der Strafe für die rechtswidrige Tat, so dass der Schuldige nicht für seine schuldhafte rechtswidrige Handlung, sondern für seine rechtswidrige Handlung im Rahmen seiner Schuld bestraft wird.32 Die Schuld ist nur Bedingung der Unrechtszuschreibung zu seinem Täter, so dass sie die Strafe nicht zu begründen, sondern nur zu mildern oder auszuschließen in der Lage ist.33 Mit dieser Behauptung wird auch eine bestimmte Konzeption der Beziehung zwischen Unrecht und Schuld als unabhängiger Kategorien impliziert, da erstens die Schuld nicht vom Ausmaß des Unrechts abhängt (sehr schwerwiegendes Unrecht kann mit verminderter oder fehlender Schuld einhergehen), und zweitens entbehrt die Schuld eines „Inhalts” (sei es als Reflex des Unrechts oder autonom), der die Rede von ihrer Schwere zulas-

30 Vgl. die kritische historische Rekonstruktion von Begriffen wie der „Gesinnungsschuld“ durch Hirsch FS Otto, 2007, 309 ff. 31 Bruns Strafzumessungsrecht, 1974, S. 394. 32 Horn Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit. Eine systematische Grundlagenanalyse der Schuldtheorie, 1969, S. 139 (Fn. 104). 33 Mir Puig El Derecho Penal en el Estado social y democrático de derecho, 1994, S. 88 (Fn. 147). Auch Hirsch FS Otto, 2007, 310 geht davon aus, dass der Schuldgrundsatz eine restriktive Funktion erfüllt, die darin besteht, dass der Täter nur dann für das begangene Unrecht zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn er individuell für die Tat zu haften hat.

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sen würde.34 Die Schuld bedeutet die Untersuchung der Verantwortung des Täters für die rechtswidrige Tat.35 So ist dasjenige, was eine „schuldangemessene Strafe” ist, eigentlich eine „unrechtsangemessene Strafe”. Aus dieser Perspektive hat nur das Maß des durch den Täter hervorgerufenen Unrechts konstitutiven Charakter für das Strafmaß. Zudem folgt aus dem konstitutiven Charakter des Unrechts auch, dass nur ein „Tatschuld”begriff legitim sein kann, während abweichende Konzeptionen wie diejenige der „Lebensführungs-, Haltungs- oder Charakterschuld” abzulehnen sind, und dies nicht nur aus vorgenanntem Grund, sondern auch auf der Grundlage des Hauptarguments, dass Schuld Unrecht voraussetzt, und die Rechtsordnung einen bestimmten Charakter oder eine bestimmte Lebensführung weder verbietet noch gebietet.36

3. Begrenzende Funktion der Schuld und Präventivzwecke a) Ich glaube, dass einer der wenigen Aspekte im bisher behandelten Zusammenhang, über die ein praktisch einmütiger Konsens besteht, in der Behauptung liegt, die schuldangemessene Strafe dürfe nicht in ihrer oberen Grenze aus präventiven Überlegungen – seien diese general- oder spezialpräventiver Art – überschritten werden.37 Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung sowohl in Spanien als auch in Deutschland stellt die Tatschuld das Höchstmaß der anwendbaren Strafe dar, auch wenn weder CP noch StGB vorhin genanntes Gebot ausdrücklich festhalten.38 Die überwiegende Lehre vertritt die Auffassung, dass die Generalprävention nicht außerhalb der schuldangemessenen Strafe angestrebt werden darf, und dass jedenfalls eine Strafschärfung über dieses Maß hinaus eine Verletzung des Verfassungsrechts auf Menschenwürde darstellt, da das Individuum zu einem bloßen kriminalpolitischen Instrument degradiert werde.

34 Luzón Peña Medición de la pena y sustitutivos penales, 1979, S. 38 (Fn. 84); ähnl. Gómez Benítez RFDUC 3 (1980), 183. Vgl. anders Melendo Pardos El concepto material de culpabilidad y el principio de inexigibilidad, 2002, der die Wiedergewinnung eines eigenen Unwertinhalts der Schuld als Anspruch auf Unterwerfung unter die Rechtsordnung postuliert. 35 LK11-Hirsch Vor § 32 ff Rn. 182 ff. 36 SK-Horn § 43 Rn. 1 ff. Zur Unmöglichkeit, eine Steigerung oder Vegrößerung der Schuld nach Maßgabe der Persönlichkeit des Täters zu begründen vgl. Frisch ZStW 9 (1987), 383. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des spanischen Obersten Gerichtshofes sowie des spanischen Verfassungsgerichts Bacigalupo Zapater FS Torío López, 1999, 33 ff. 37 Vgl. u. a. Morillas Cueva Curso de Derecho Penal Español. Parte General, 1996, S. 33; Choclán Montalvo LL 6 (1996), 1515; Roxin AT I § 3 Rn. 51; ders. FS Müller-Dietz, 2001, 703; krit. Quintero Olivares Locos y culpables, 1999, S. 197, 198. 38 El § 2.2 AE stellte aber fest: „Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten“. Vgl. m. w. N. LK10-G. Hirsch § 46 Rn. 16; sowie LK-Theune § 46 Rn. 1063.

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Nur wenn die Normzuwiderhandlung objektiv zurechenbar ist, kann eine strafrechtliche Reaktion legitim sein, die ein Werturteil über den Täter mit sich bringt, das ihn ausschließlich wegen dieser Tat betrifft. Die bloße Tatsache, dass der Täter durch sein Verhalten eine objektive Gefährdung der Rechtsordnung durch das Verhalten eines Dritten herbeigeführt hat, wäre ihm weder objektiv noch subjektiv zurechenbar, denn die entsprechende darauf gerichtete Schuld würde fehlen. Aus diesen Gründen sei es in keinem Falle möglich, das Schuldmaß in der Strafzumessung zu überschreiten, da diese an jenes Maß gebunden ist und dadurch beschränkt wird.39 Die Anerkennung des Verbots der Überschreitung des Schuldrahmens führt nun zur Frage, ob generalpräventive Überlegungen bei der Strafzumessung überhaupt Beachtung finden können, oder ob sie nicht vielmehr ausschließlich auf die gesetzgeberische Wertung bei der Festlegung des tatbestandlichen Strafrahmens zu beschränken sind. In diesem Zusammenhang ist zwischen jenen Fällen zu unterscheiden, bei denen der Täter die generalpräventiv bedeutsamen Umstände kennt, und jenen anderen, bei denen sie ihm unbekannt sind. Bezüglich der ersten Fallgruppe gibt es in der Lehre unterschiedliche Ansichten. Für Haag ist es zweifelhaft, ob in dieser Konstellation eine Strafschärfung zulässig sein kann, da man hiermit illegitimerweise unter dem Dach der Schuld generalpräventiven Notwendigkeiten Rechnung trage.40 Ein bedeutender Teil der Lehre hält es aber in diesem Falle für möglich, eine Strafschärfung zu begründen.41 Bei Unkenntnis der Umstände durch den Täter darf diesen nach h. M. jedenfalls keine Strafschärfung treffen. Die hieraus abzuleitenden Schlußfolgerungen bezüglich der Legitimität von generalpräventiven Gesichtspunkten bei der Strafzumessung lassen sich bezüglich der negativen Generalprävention dahingehend zusammenfassen, dass diese jedenfalls eine der Auferlegung der schuldangemessenen Strafe parallele Wirkung haben kann, aber weder beabsichtigt werden noch eine Überschreitung des Schuldrahmens begründen darf. Bezüglich der positiven Generalprävention nimmt der überwiegende Teil der Lehre an, eine Kollision sei gar nicht möglich, denn es wird davon ausgegangen, dass die einzige Strafe, die generalpräventive Wirkung entfalten kann, eben jene ist, die als dem Schuldmaß entsprechend, als gerecht, wahrgenommen wird. 39

Stratenwerth /Kuhlen AT I Rn. 25. Haag Rationale Strafzumessung, 1970, S. 21. Gegen eine ausdrückliche strafschärfendeBerücksichtigung der Generalprävention bei der Strafzumessung, aus dogmatischsystematischen (Verbot einer Doppelbewertung der Tatbestandselemente), verfassungsrechtlichem und kriminologischen Gründen schon Demetrio-Crespo (Fn. 8) S. 139 ff, 159 ff. Vgl. krit. zu dem von mir vorgeschlagenen Modell Feijoo Sánchez InDret 1 (2007), 11 ff. Seinerseits kritisch an letzterem bei Silva Sánchez InDret 2 (2007), 7 (Fn. 19). 41 Bruns (Fn. 31) S. 246. 40

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Aus einer allgemeinen Perspektive scheint m. E. der Versuch dieses Denkmodells, das Strafrecht eines demokratischen Staates mit der Logik der Prävention in Verbindung und mit rechtsstaatlichen Garantien in Einklang zu bringen, legitim. Ich kann aber dem Gedanken nicht zustimmen, die Verhältnismäßigkeit erwachse aus der präventiven Effizienz selbst, denn die Logik der Prävention trägt die Tendenz zur Strafmaximierung in sich, so dass die Begrenzungen, die aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder aus der Schuld erwachsen, ausschließlich externer Art sind, als Folge der verfassungsrechtlichen Grundsätze, die den axiologischen Rahmen darstellen, in dem sich das Strafrecht zu bewegen hat.42 Das Verbot gilt wie gesagt auch für die Spezialprävention. Der Gedanke der Sicherung vor dem Täter (negative Spezialprävention) darf in keinem Fall zur Auferlegung von Strafen führen, die das Schuldmaß übersteigen. Hiergegen steht auch die klare Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln in zweispurigen Systemen.43 Eine das Schuldmaß überschreitende Strafe darf auch nicht aus Gründen der positiven Spezialprävention gerechtfertigt werden, um eine Behandlung erfolgreich zu Ende führen zu können, usw. Solche Überlegungen auf der Grundlage der Behandlungsideologie – deren Angelpunkt in der unbestimmten Strafe zu finden ist – sind in einem demokratischen Strafrecht nicht hinnehmbar. Es ist kein Zufall, dass Institutionen wie die sogenannte „Sicherungsverwahrung”44 aus der Perspektive des sogenannten „Feindstrafrechts”45 betrachtet worden sind. b) Obwohl die Diskussion zur Möglichkeit einer Überschreitung des Schuldmaßes abgeschlossen ist – da dies nach einhelliger Meinung verfassungswidrig wäre –, verhält es sich anders, wenn es um dessen Unterschreitung aus (logischerweise positiv) generalpräventiven Bedürfnissen geht. Diejenigen Autoren, die sich für diese Möglichkeit aussprechen, schreiben 42 Für Ferrajoli Derecho y Razón. Teoría del garantismo penal, 1995, S. 214 ff, vermengen die Lehren von der positiven Generalprävention Recht und Moral, und verfallen dem Legalismus und der staatsorientierten Ethik. Zu den Denkmodellen der positiven Generalprävention vgl. u. a. Schumann Positive Generalprävention. Ergebnisse und Chancen der Forschung, 1989, S. 2 ff; krit. m. w. N. Demetrio-Crespo (Fn. 8) S. 109 ff. 43 Siehe dazu Roxin AT I § 3 Rn. 63 ff. 44 Vgl. m. w. N. LK-Weigend § 46 Rn. 79, sowie die Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 - Fall M. v. Deutschland -, die zum Ergebnis gelangt, dass Art. 5 und 7 EMRK verletzt worden sind. M. E. ist eines der besten Argumente des EGMR in dieser Entscheidung die Überlegung, dass es nicht zulässig ist, einen Freiheitsentzug als „Präventivmaßnahme” zu kaschieren, wenn dessen strafender Charakter außer Zweifel steht, und der zudem in Justizvollzuganstalten – wenn auch in getrennten Flügeln – zur Anwendung kommt. 45 Vgl. Jakobs ZStW 117 (2005), 839 ff. Schon dazu m. w. N. Demetrio-Crespo ZIS 9 (2006), 413 ff. Vgl. auch, unter krit. Bezugnahme auf mögliche Verschiebungen der Rollenverteilung zwischen Straf- und Polizeirecht Kindhäuser FS Schroeder, 2006, 93 ff; zur geschichtlichen Entwicklung seit von Liszt siehe Muñoz Conde FS Hassemer, 2010, S. 535 ff.

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der Schuld begrenzenden und nicht konstitutiven Charakter bei der richterlichen Strafzumessung zu. Jene anderen, die im Gegensatz dazu, auf der Grundlage eines Vergeltungszwecks, der Schuld bei der Strafzumessung diesen konstitutiven Charakter zuerkennen, gehen davon aus, dass diese keinesfalls vom „gerechten Schuldausgleich“ weder nach oben noch nach unten abweichen darf, so dass ihrer Ansicht nach präventive Zwecke nur im Rahmen der noch schuldangemessenen Strafe einen Spielraum haben dürfen.46 Erstere Option wurde in § 59 AE übernommen, und scheint nicht zum geltenden § 46 StGB zu passen, da sein Abs. 1 ausdrücklich festhält, dass die Schuld die Grundlage richterlicher Strafzumessung darstellt; es wird angenommen, dass diese Erklärung der Schuld nun konstitutiven Charakter zugewiesen hat und somit die Aufgabe, sowohl das Unter- als auch das Obermaß der Strafe zu begrenzen.47 Das spanische CP kennt keine entsprechende Vorschrift. Käme dem Schuldprinzip eine konstitutive Funktion zu, hätte dies zur Folge, dass die schuldangemessene Strafe schon aus diesem Grunde nie unterschritten werden dürfte. Dann wären auch alle Überlegungen zur positiven Generalprävention bei der richterlichen Strafzumessung völlig überflüssig, da ihre Funktion jedenfalls von der gerechten Vergeltung der Schuld erfüllt werden könnte.48 Erwägungen des Richters zur Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe im Einzelfall könnten nur auf spezialpräventiven Gründen beruhen, da sowohl die Vergeltung als auch die Generalprävention die Ausschöpfung der schuldangemessenen Strafe erfordern würden.49 Satz 2 des § 46 Abs. 1 StGB bezieht sich bezüglich der richterlichen Strafzumessung auf die Berücksichtigung der Wirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft, was Überlegungen zur Resozialisierung des Täters zwingend macht.50

LK11-Gribbohm § 46 Rn. 12. LK10-Hirsch § 46 Rn. 16. 48 Schnelle Die Funktion generalpräventiver Gesichtspunkte bei der Strafzumessung, 1977, S. 158. 49 Diese in der Lehre ziemlich verbreitete Ansicht muss m. E. dahingehend ergänzt werden, dass die Integrations-Generalprävention in einem gewissen Maße eine Bezugnahme auf die Spezialprävention zuläßt, da die Gesellschaft einen gewissen Strafverzicht aus spezialpräventiven Gründen hinnimmt. Vgl. Pérez Manzano Culpabilidad y prevención: Las teorías de la prevención general positiva en la fundamentación de la imputación subjetiva y de la pena, 1986, S. 275; Müller-Dietz FS Jescheck, 1985, 824 f. 50 Zu Recht weist der Jubilar darauf hin, dass es bedauernswert erscheint, wenn aus den Augen verloren wird, dass der Zweck, dem Straftäter für sein Leben in Freiheit Hilfe zu leisten, das wohl konstruktivste Mittel der Behandlung von Kriminalität darstellt, da nicht nur die 46 47

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Die Diskussion in der deutschen Lehre hat sich in diesem Punkt vor allem mit der diesbezüglichen Reichweite der Spezialprävention befaßt. Die Vertreter der Stellenwerttheorie gehen davon aus, dass die Spezialprävention ihre Rolle im Rahmen der sogenannten „richterlichen Strafzumessung in weiterem Sinne” zu spielen hätte, d.h., auf einer sekundären Ebene, bei der es um die Auswahl der Strafart, der Anwendung oder Nichtanwendung von Alternativfolgen geht, aber nicht um die Strafmenge an sich. Aber schon der vorhin zitierte Satz des StGB läßt eine solche Auslegung nicht zu, da die Resozialisierung bei der gesamten Strafzumessung zum Tragen kommen soll, also auch bei der Strafzumessung in engerem Sinne, d. h., bei der Bestimmung des konkreten Strafmaßes. Diese Position ist auch nicht mit spanischem Strafrecht verträglich, da das CP in der 6. Regel des Art. 66 den persönlichen Umständen des Straftäters allgemein bei der richterlichen Strafzumessung Bedeutung zuschreibt. Trotzdem kann es nach denjenigen Autoren, die die Rolle der Generalprävention bei der richterlichen Strafzumessung in einer Kompensation bestimmter Wirkungen der Straftat im Rechtsvertrauen der Bevölkerung sehen, unzulässig sein, die schuldangemessene Strafe zu unterschreiten, wenn ebendiese generalpräventiven Bedürfnisse dagegenstehen. Besonders klar sind in diesem Zusammenhang Jakobs’ Ausführungen – die auch den neo-vergeltungstheoretischen Gehalt dieser Argumentation unterstreichen –, wenn er darauf hinweist, dass die Strafe als Kompensation der Schuld im Rahmen der präventiven Bedürfnisse fungiert. Diese Überlegung führt auch zur Ablehnung der Möglichkeit einer Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe, wobei diese als die zur Normstabilisierung notwendige Strafe verstanden wird.51 Im Gegensatz hierzu besteht nach Ansicht von Autoren wie Roxin, Lackner oder Frisch, die sich vor allem auf die spezialpräventive Klausel des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB berufen, die Möglichkeit, die Untergrenze der schuldangemessenen Strafe zu unterschreiten.52 In eine ähnliche Richtung geht die „Lehre von der durch die schuldhafte Tat bezeichneten Obergren-

Resozialisierung des Straftäters gefördert wird, sondern auch die Lebensbedingungen der anderen verbessert werden, siehe Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 705. 51 Jakobs AT Rn. 30 f (Fn. 74). In gewissem Sinne ist diese vergeltende-kompensatorische Wirkung auch in Roxins integrations-präventiven Modell präsent, wenn er ausführt, im Moment der Auferlegung der Sanktion spezial- und generalpräventive Zwecke auf ein und dieselbe Ebene bringt, da „je schwerer die Straftat ist, desto eher gebieten generalpräventive Erfordernisse eine Auschöpfung des Schuldmaȕes”, vgl. Roxin FS Müller-Dietz, 2001, 712. 52 Roxin FG Schultz, 1977, 473 f; ders. FS Bockelmann, 1979, 279 ff; ders. FS MüllerDietz 2001, 704; Lackner Über neue Entwicklungen in der Strafzumessungslehre und ihre Bedeutung für die richterliche Praxis, 1978, S. 24 ff; Frisch ZStW 9 (1987), 367.

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ze”, die Luzón Peña in Spanien formuliert hat.53 M. E. kann ist dies auch bezüglich der spanischen Rechtsordnung aus folgenden Gründen vertretbar: das Kriterium der persönlichen Umstände des Täters ist der einzige allgemeine Gesichtspunkt bei der richterlichen Strafzumessung, der eindeutig aus der Zweckperspektive auszulegen ist; eine gesetzliche Festlegung auf die Schuld als Grundlage der Strafzumessung wie in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB fehlt; der Gesichtspunkt der Schwere der Tat, der ebenfalls in Art. 66. 6 CP erwähnt wird, ist eine bloße Projektion der der „Tatschuld” eigenen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, wobei diese in unserem Bereich als „schuldhaftes Unrecht” und die strukturelle Beziehung zwischen Unrecht und Schuld wie oben dargestellt zu verstehen sind.54

IV. Schlußfolgerungen 1. Claus Roxins Werk ist für das moderne Verständnis des Strafrechts entscheidend. Mit ihm gelangt die von von Liszt seinerzeit vorgeschlagene Gesamtperspektive zu einer Renaissance, die einen methodologischen Fortschritt darstellt, der einen höchst bedeutsamen Einfluß auf die Entwicklung der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft ausgeübt hat. Aus dieser Warte ist es unerläßlich, nicht aus den Augen zu verlieren, dass unser begriffliches Universum nicht auf von kriminalpolitischen Belangen unberührte Kategorien beschränkt bleibt. Andererseits sollte aber ebensowenig verkannt werden, dass kriminalpolitische Wertungen – für sich alleine und unbedingt – die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von dogmatisch erarbeiteten Ergebnissen nicht zu bestimmen vermögen. Es ist also wichtig, die Beziehung zwischen beiden Variabeln explizit zu definieren. Es kann vorkommen, dass ein kriminalpolitisches Postulat – so wünschenswert es in einer bestimmten Lage erscheinen mag – unannehmbar ist, wenn es dogmatisch unhaltbar, wider53 Eine kurze Zusammenfassung seiner schon in der Arbeit aus dem Jahre 1979 (Fn. 32) formulierten These liefert Luzón Peña FS Cerezo, 2002, 167: „Bündig zusammengefaßt gebieten nach dieser Konzeption Verhältnismäßigkeits- und Schuldgrundsatz bei geringer „Schwere der Tat” – d. h., des Unrechts und der Schuld – einen Strafhöchstrahmen für die konkrete Strafe unter dem gesetzlichen Tatbestandshöchststrafrahmen; nicht aber Untergrenzen über die Mindestausdehnung dieses gesetzlichen tatbestandlichen Rahmens hinaus (mit Ausnahme – in der spanischen Rechtsordnung – bei ausschließlichem Vorliegen von Strafschärfungsgründen – die eine höhere Mindeststrafe zwingend macht: höhere Hälfte der tatbestandlichen Strafe nach Art. 66.3). Deshalb ist unter dem bezeichneten Höchststrafrahmen vor allem den spezialpräventiven Bedürfnissen nach Maßgabe der persönlichen Umstände des Täters Rechnung zu tragen.“ 54 Vertieft bei Demetrio-Crespo (Fn. 8) S. 236 ff, 266 ff; ders. ADPCP 1997, 323 ff. Auf ähnliche Weise bezieht sich García Arán GS Valle Muñiz, 2001, 412, auf den Gedanken einer „Verhälnismäßigkeit bezüglich der Gesamtbewertung der Tat”.

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sprüchlich oder schwach begründet ist. Umgekehrt ist nicht notwendigerweise jede dogmatische Schlußfolgerung, so logisch sie in ihrem Schema erscheinen mag, auch unter dem Lichte der kriminalpolitischen Perspektive, die für sie bindend ist, auch annehmbar oder vernünftig.55 Grundlegend ist jedenfalls, dass die dogmatische Erarbeitung und die kriminalpolitischen Wertungen in einem gemeinsamen methodologischen Argumentations- und Begriffsrahmen, in ein und demselben „axiologischen Rahmen” eingepaßt werden: in ein Staatsmodell, den Rechtsstaat. Die Funktion der Strafrechtswissenschaft kann nicht darin bestehen, festzustellen, in welchem Maße oder in welchem Rahmen es zulässig ist, von diesem Modell abzuweichen, sondern aufzuzeigen, in welchem Rahmen die geltende Rechtsordnung ihm entspricht. Ich glaube, dass diese tiefe verfassungsrechtliche Wurzel, mit offenen Fenstern hin zur gesellschaftlichen Entwicklung und zum wissenschaftlichen Fortschritt, stets im Werk Claus Roxins und in seinem Begriff von Kriminalpolitik präsent war. 2. Meines Erachtens ist der Schuldbegriff weiterhin, früher wie jetzt, ein Eckstein in einem garantieorientierten Verständnis des Strafrechts, als Begrenzung des staatlichen Strafanspruches. Heute mehr denn je sind klare Grundsätze und solide dogmatische Begriffe notwendig, die den Eingriff des Staates begrenzen. Die Schuld ist ein dogmatisch wohlstrukturierter verfassungsrechtlicher Grundsatz, der diese Funktion erfüllt. Die Diskussionen über seine letzte philosophische Begründung verbinden ihn tiefgehend mit dem ewigen Problem der Strafzwecke. Diese Verbindung und die Unzahl und Konfusion von entsprechenden Konzeptionen darf diese Funktion keinesfalls verschleiern. In diesem Sinne, wie vorhin unterstrichen, ist im Rechtsstaatsmodell nur ein mit einem Tatstrafrecht korrespondierender Tatschuldbegriff möglich. Dies gilt sowohl für die Schuld als dogmatische Straftatkategorie als auch für die Schuld bei der Strafzumessung. 3. Die Struktur der Schuld in Bezug auf das Unrecht führt zu derselben Schlußfolgerung: Das Strafrecht des Rechtsstaates weder gebietet noch verbietet Denkweisen, Wünsche oder Intentionen der Personen, Wesensmerkmale usw., sondern nur äußere Taten, die vorsätzlich oder fahrlässig auf die Schädigung von Rechtsgütern willensgerichtet sind, die diese tatsächlich verletzen oder gefährden.56 Die Tatschuld bedarf ihrerseits eines

55

S. zu diesem Problemkreis Muñoz Conde FS Rodríguez Mourullo, 2005, 743 ff. Eingehender zur Bedeutung des „personalen Unrechts” und zu irregeleiteten subjektivistischen Auslegungen desselben, die nicht mit dem vom Finalismus vorgeschlagenen methodologischen Ansatz übereinstimmen, für alle Hirsch FS Cerezo Mir, 2002, 773 ff; ders. ZStW 93 (1981), 831 ff.; ders. ZStW 94 (1982), 239 ff; ders. Strafrechtliche Probleme I, 1999, 336 ff, 366 ff. 56

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zeitgleichen Unrechts, woraus sich unter anderem die Unzulässigkeit des Ausnahmemodells auf dem Gebiet der actio libera in causa ergibt.57 Eine folgenorientierte Strafrechtskonzeption, wobei hierunter ein auf Rechtsgüterschutz und nicht auf (bloße vergeltende) Kompensation der Schuld orientiertes Strafrecht verstanden wird, führt sodann zur Behauptung, dass die Schuld nur Bedingung der Zuschreibung des Unrechts zum Täter sein kann, so dass sie die Strafe nicht zu verschärfen, sondern nur zu mildern oder auszuschließen in der Lage ist. Das Schuldprinzip hat nur für das „ob” der Strafe in dem Sinne konstitutive Bedeutung, dass keine Strafe ohne Schuld möglich ist, während sensu contrario Schuld niemals eine Strafe erzwingt.58 Beim Strafmaß aber erfüllt es nur eine Begrenzungsfunktion. Wenn ich mich nicht irre, wären Roxin und einige seiner Kritiker bezüglich des Kerngehaltes dieser Behauptungen einer Meinung, so dass ich vermute, dass es manchmal um ein Problem der sprachlichen Verständigung geht. Wenn Roxin ausführt, dass die Schuld die Strafe nicht begründet, will er damit nicht sagen, dass sie damit vorhin benannte konstitutive Rolle verliert, sonder nur, dass der Vergeltungsgedanke, der ihrem herkömmlichen Verständnis zugrundeliegt (auf der Ebene der Strafzwecke) nicht dadurch gerechtfertigt wird. Dies erklärt sich aber zwanglos, wenn wir fähig sind, zwei Diskursebenen zu unterscheiden, die seit Achenbachs Werk immer deutlicher zu Tage treten: der Schuldgedanke (philosophischaxiologische Ebene) und die Schuld als Verbrechenskategorie und bei der Strafzumessung (Rechtsanwendungsebene).59 Nicht weniger aufgefächert und komplex sind jene Konfusionen, die von einem mangelhaften Verständnis der Beziehungen zwischen der Schuld als Verbrechenskategorie und der Schuld bei der Strafzumessung ausgehen, oder aus dem Gedanken, beide könnten von vollständig unterschiedlichen Wertungsrahmen geleitet werden. 4. Die Funktion der Schuld ist in erster Linie, als Verbrechenskategorie, eine Garantie, die einem unbezweifelbaren Zweck dient, der nicht aus Gründen sozialen Nutzens pervertiert werden darf (Antinomie Prävention57 Hirsch FS Nishihara, 1998, 104. Eingehend für das Tatbestandsmodell auch in der spanischen Rechtsordnung Demetrio-Crespo FS Barbero Santos, 2001, 993 ff.; ders. La tentativa en la autoría mediata y en la actio libera in causa, 2003, S. 123 ff. 58 Vgl. Roxin FS Kaufmann, 1993, 522. 59 Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 2 ff. Für Hirsch FS Otto, 2007, 318 ist die Schuld bei der Strafzumessung weiter gespannt, wobei er richtig unterstreicht, dass sie ebenfalls an die Grenzen der begangenen Tat und infolgedessen an die Tatschuld gebunden ist. Ebenso NK-Streng § 46 Rn. 22. Auf die Unschärfe des Begriffs der „Strafzumessungsschuld” und die Schwierigkeiten der „Differenzierungsthese” weist Frisch FS Müller-Dietz, 2001, 237 ff hin.

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Schuld).60 Das ist gleichzeitig auch der Kern des zweispurigen Systems bei den Rechtsfolgen, und erlaubt auch die Behauptung, dass ein rechtsstaatliches Strafrecht keine Geisteskranken bestrafen darf. Darüber hinaus liegt aber die Funktion der Schuld auch, was die konkret aufzuerlegende Strafe angeht, in der Festlegung derjenigen Obergrenze, die keinesfalls aus präventiven Gründen überschritten werden darf, seien sie nun general- oder spezialpräventiver Art. Man spricht in diesem Sinne von einem absoluten Verbot, die schuldangemessene Strafe zu überschreiten. Hier bewegen wir uns bereits auf der Ebene der „Schuld bei der Strafzumessung”, und die Gefahr liegt darin, Strafschärfungen unter dem Deckmantel der Schuld – aus generalpräventiven Gründen – zu verfolgen. Übrigens besteht in diesem Zusammenhang eine einstimmige Position. Gleichzeitig ist es das richtige Gebiet, um kategorienübergreifend zu untersuchen, welche Konzeptionen (vergeltungstheoretisch oder präventiv) die Argumentation inspirieren. Geht man von einer präventiven Sicht (Rechtsgüterschutz) eines Tatstrafrechts aus, so bedeutet dies, dass es doch möglich ist, die angebliche Mindestgrenze der schuldangemessenen Strafe zu unterschreiten. Geht man von anderen (hegelianisch-vergeltenden) Prämissen aus, muss man zur gegenteiligen Behauptung gelangen, da dies nicht mehr im Rahmen des zur Normstabilisierung Notwendigen wäre. Mit diesen Überlegungen will ich schließen, denn in ihnen verdichtet sich ein Gutteil des „Wesens” der in Professor Roxins Lehren enthaltenen Botschaft in diesem komplexen Bereich, und sein Verständnis des Strafrechts, das ihn deutlich von den Exzessen des „fundamentalistischen” Normativismus unterscheidet.

60 Von einer doppelten, einerseits systematischen und andererseits garantieorientierten, Funktion spricht García Arán GS Valle Muñiz, 2001, 405, die in der hier vertretenen Konzeption sich in einer Hauptfunktion verbinden, der Garantie der Begrenzung des strafrechtlichen Eingriffs, und die auf effizientere Weise durch den gegenwärtigen Stand der Dogmatik erfüllt werden. Wie die Autorin zutreffend ausführt, läßt es jener zu, das Verbot der Erfolgshaftung als (eigenständiges) Haftungsprinzip zu formulieren. So gesehen sollte die Dichotomie Grundsatz-(Schuld-)Begriff keinerlei Erstaunen hervorrufen.

Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf ULRICH SCHROTH

Einleitung Es entspricht langer Tradition, dass Staaten Strafe androhen, verhängen und vollziehen. Der Soziologe Durkheim hat dieses Phänomen soziologisch zu erklären versucht. Er hat die provozierende These aufgestellt, dass das Verbrechen ebenso normal sei wie seine Bestrafung. Verbrechen und Strafe seien keine pathologischen, sondern normale Erscheinungen sozialen Lebens. Diese These wird von ihm mit der Behauptung gestützt, eine Gesellschaft ohne Strafe sei unmöglich. Diese behauptete Unmöglichkeit einer Gesellschaft ohne Strafe resultiere – so Durkheim – aus der Variabilität der kollektiven Gefühle. Wenn die kollektive Missbilligung aller in einer Gesellschaft kriminalisierten Verhaltensweisen so stark sei, dass niemand mehr kriminell würde, so würden infolge des Bedürfnisses nach Strafe moralische Verfehlungen zu Verbrechen aufgewertet. Die kollektive Empörung über abweichendes Verhalten, die durch Verhängung von Strafe zum Ausdruck gebracht wird, schafft Solidarität, indem sie die Aufrechten zusammenrücken lässt. Die Empörung und die hierauf folgende Reaktion mit Strafe benötigt eine Gesellschaft, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Weiter ist – nach Durkheim – die Nützlichkeit eines Verbrechens eine indirekte. Ein moralisches Bewusstsein könne sich in einer Gesellschaft nur entwickeln, wenn es auch Verbrechen gäbe. Es entwickle sich, wenn Normabweichung durch die Gesellschaft erlebt werde. Aus der Sicht der betroffenen Gesellschaft ist das Verbrechen verabscheuenswert – aus der Perspektive künftiger Entwicklung kommt ihm eine nützliche Bedeutung zu. Durkheim erklärt den Vorwurf, er wolle das Verbrechen, indem er es als normales gesellschaftliches Phänomen darstellt, als billigenswert erachten,

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für kindisch. Die Bestrafung des Verbrechens sei nicht weniger normal als dessen Ausführung.1 Die jahrtausendalte Tradition, zu strafen sowie Verbrechen und Strafe als normal anzusehen, darf jedoch nicht dazu führen, dass Strafandrohung, Strafverhängung und Strafvollzug generell als legitim erachtet werden. Vielmehr müssen konkrete Strafdrohungen, konkrete Strafverhängungen und konkreter Strafvollzug ständig im Hinblick auf ihre Legitimität analysiert werden. Die Schuldidee, die Idee also, dass ein Täter nur bestraft werden darf, wenn er Strafe verdient, hat viel zur Humanisierung des Strafrechts beigetragen. Kinder können nicht bestraft werden, da sie von Gesetzes wegen als schuldunfähig gelten (§ 19 StGB). Für Jugendliche, die nicht hinreichend reif sind, gilt entsprechendes (§ 3 JGG).2 Auch geisteskranke Menschen, die sich in der Tatsituation nicht an Normen orientieren können, werden von der Verhängung von Strafe ausgenommen (§ 20 StGB). Dass jede Bestrafung Vorsätzlichkeit oder zumindest Fahrlässigkeit erfordert (letzteres ist nur hinlänglich, wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit ausdrücklich bestimmt hat), ist ebenso der Schuldidee zu verdanken. Auf die Schuldidee geht auch zurück, dass der vorsätzlich Handelnde – jedenfalls im Regelfall – mit höherer Strafe zu belegen ist als der nur fahrlässig Handelnde.3 Auch das Axiom, dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, ist – wie der Jubilar zu Recht ausgeführt hat – auf das Schuldprinzip zurückzuführen, welches Strafe limitiert.4

I. Strafe als Reaktion auf Schuld Unsere Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass Strafe als Schuldausgleich verstanden wird; d. h. es wird überwiegend davon ausgegangen, dass Strafe voraussetzt, dass der Täter sie verdient. Dass der Täter Strafe verdient, ist Grund aber auch Maß der Strafe.5 Dem liegt ein Verständnis von Strafe 1

Durkheim Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977; hierzu auch Luhmann Rechtssoziologie, 1972, S. 102 ff; Neumann/Schroth Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 99 ff. 2 Meier/Rössner/Schöch-Meier Jugendstrafrecht § 5 Rn. 9 ff. 3 Vgl. hierzu Schroth Vorsatz als Aneignung der unrechtskonstituierenden Merkmale, 1994, wo dargelegt wird, dass Vorsatz, auch wenn man ihn als Tatbestandsmerkmal ansieht, unter Schuldgesichtspunkten zu bestimmen ist. Auch die psychologische Schuldtheorie war von der Idee getragen, dass die Schuld nicht nur durch Vorsatz und Fahrlässigkeit gebildet wird. Vielmehr werden die Begriffe von der Schuld her bestimmt. Zur Kritik der psychologischen Schuldtheorie vgl. Roxin AT I § 19 Rn. 10 ff. 4 Roxin ZStW 96 (1984), 642. 5 Hierzu auch Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1973, S. 33.

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zugrunde, das jedenfalls teilweise außerhalb des Bereichs sozialer Wirklichkeit Berechtigung erfährt. Gestraft wird primär nicht, um einen bestimmten Zweck in der Gesellschaft zu erreichen, sondern, weil die Zufügung von Übel gegenüber einem sittlich schuldigen Täter an sich von Wert ist. Der BGH selbst formuliert: „Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden.“6 Innerhalb der absoluten Straftheorien, den Theorien, die Strafe als intrinsischen Wert ansehen, müssen Vergeltungs- und Sühnetheorie unterschieden werden.7

1. Nach der klassischen absoluten Straftheorie liegt der Sinn der Strafe in der Vergeltung. Sie wurde in einer besonders radikalen Form in der Aufklärungsphilosophie, hier insbesondere von Kant, ausgearbeitet. Lassen wir Kant selbst sprechen: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf die Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.“8 In dieser Konzeption ist die Idee enthalten, dass der Staat Leid zufügen müsse, ohne dies aber damit rechtfertigen zu können, dass das Leid dem Bestraften, dem Opfer oder der mitbetroffenen Gesellschaft zu Gute komme.

2. Ein Verständnis der Strafe unter dem Sühnegesichtspunkt geht dahin, dass durch Strafe der Täter mit sich selbst versöhnt werden solle. Unklar ist, 6

BGHSt 2, 200. Auf die Gerechtigkeitstheorie wird hier nicht eingegangen. Dazu Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 15 f. 8 Kant Metaphysik der Sitten, 1916, S. 141. 7

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ob damit ein realer psychischer Prozess gemeint ist oder die Versöhnung mit einem ideal gedachten Selbst.9 Sowohl die Vergeltungstheorie als auch die Sühnetheorie setzen voraus, dass dem Täter die Tat vorgeworfen werden kann, dass er die Möglichkeit hatte, anders handeln zu können, die Straftat hätte vermeiden können, die Möglichkeit hatte, sich anders zu motivieren. Die Frage, die sich damit stellt, ist: Kann Freiheitsmissbrauch dahingehend in einem Strafverfahren festgestellt werden, dass plausibel behauptet werden kann, dass der Täter die Strafe verdient?

II. Entscheidungsfreiheit und Schuld Sieht man Strafe als Schuldausgleich an und sieht man den Sinn der Strafe in der Begründung eines Vorwurfs, resultieren aus diesem Begründungszusammenhang aporetische Probleme. Ist Strafe Schuldausgleich und setzt Verantwortlichkeit in dem Sinne voraus, dass sie nur verhängt werden kann, wenn feststeht, dass der Täter seine individuellen Handlungsmöglichkeiten nicht realisiert hat, setzt Strafe die Feststellung voraus, dass der Täter zum Tatzeitpunkt anders handeln konnte.10 Damit befindet sich das Verständnis der Strafe als Schuldausgleich mitten im Determinismus-Indeterminismus-Streit. Sieht man Schuld und Strafe in diesem Zusammenhang, so ist die Straflegitimation abhängig von allen prinzipiellen Einwänden, die gegen die Willensfreiheit vorgebracht werden. Zunächst erscheint angesichts neuerer Erkenntnisse der Neurobiologie fraglich, ob der Mensch überhaupt die Fähigkeit besitzt, anders handeln zu können, ob also überhaupt eine Freiheit nachweisbar ist, die ein Täter missbraucht haben kann.11 Mir persönlich erscheint die Auffassung, dass Willensfreiheit existiert, durch die Neurobiologie bisher nicht widerlegt.12 Nach Auffassung des Neurobiologen Libet beruht zwar der Willensentschluss auf einem Bereitschaftspotential, das unbewusst entsteht und den Willensentschluss determiniert. Ob dies den Entscheidungsspielraum eines Individuums generell 9

Vgl. dazu Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 16 ff. Es genügt dann nicht das Abstellen auf Handlungsfreiheit in dem Sinne, dass die Handlung frei von Zwängen, Druck oder Täuschung sein muss. Vielmehr ist es notwendig, dass der Täter die Straftat vermeiden kann. 11 Singer in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähigkeit, 2010, S. 22 f. 12 So auch Herzberg Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 4 ff; Tretter/Grünhut in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähigkeit, 2010, S. 82. 10

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ausschließt, ist aber fraglich.13 Auch nach Libet kann ein unbewusster Wille den Impuls für unbewusste Vorgänge blockieren. Gleichwohl: Wenn Strafe Schuld und Schuld einen Freiheitsmissbrauch voraussetzt, ist der Strafrichter gehalten nachzuweisen, dass der Täter in der Situation anders handeln konnte. Wird Strafe damit begründet, dass ein Krimineller wegen einer Straftat eine bestimmte Strafe verdient, ist seine Schuld nicht nur der Grund, sondern auch das Maß seiner Strafe. Vor dem Anspruch, diese Freiheit feststellen zu müssen, kann der Strafrichter nur versagen. Freiheit ist kein Sachverhalt, zu dem ein Richter beweisbare Feststellungen treffen kann.14 Dies folgt schon aus der Logik der Beweisführung.15 Der Richter kann sich ja nur derjenigen Sachverständigen bedienen, die Täterverhalten erklären. Psychologische Sachverständige erklären die Taten über Faktoren, die möglicherweise die Kriminalität bedingt haben. Das gleiche gilt für psychiatrische oder soziologische Sachverständige. Jede Markierung von Faktoren, die den Täter zu einer Tat veranlasst haben, schließt die Annahme von Freiwilligkeit gerade aus oder lässt sie jedenfalls zweifelhafter erscheinen.16 Je sorgfältiger psychologische, psychiatrische und soziologische Sachverständige das Verhalten erklären, umso schmaler wird der Bereich, in welchem dem Täter ein Vorwurf gemacht werden kann. Die Freiheit des Täters, sich selbst zu bestimmen, kann man nach diesem Ansatz nur dadurch nachweisen, dass man alles, was determinierend sein könnte, ausschließt.17 Dies überfordert allerdings nicht nur jeden Wissenschaftler, sondern auch jeden Strafrichter. Der Nachweis von Freiheit muss misslingen, weil nicht alles, was determinierend sein könnte, ausgeschlossen werden kann.18 Weiter sprechen die empirisch-kriminologischen Erkenntnisse über Kriminalität dagegen, dass Täter in ihrer Mehrheit frei handeln. Ein erheblicher Teil von Delinquenz, gerade jene von chronischen Rechtsbrechern, zeichnet sich durch Lebensläufe aus, die ungewöhnlich und der Sozialisierung abträglich sind. Viele Rechtsbrecher haben im Laufe ihrer Kindheit und Jugend keine Zuwendung erfahren, sind in Heimen und Anstalten oder unter anderen schwierigen Bedingungen aufgewachsen, die nahelegen, dass es zu Störungen in Sozialisationsprozessen gekommen ist. Auch die Kriminali13

Zu den sog. „Libet-Experimenten“ und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen Tretter/Grünhut (Fn. 13) S. 66 ff. 14 Dazu auch Roxin AT I § 19 Rn. 20 ff. 15 So Ellscheid/Hassemer in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II – Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 1, 1975, S. 267 ff. 16 So Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 267 ff. 17 So Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 267 ff. 18 So Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 267 ff.

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tätstheorien zeichnen ein Bild von Straftätern, welches dagegen spricht, dass wenigstens ein Großteil der Straftäter bei ihren kriminellen Handlungen hätte anders handeln können. In älteren persönlichkeitspsychologischen Theorien wurde eine signifikante Korrelation von niedriger Intelligenz und kriminellem Verhalten behauptet. Diese Behauptung kann inzwischen als widerlegt gelten.19 Bei Delinquenten wurde lediglich ein leicht unterdurchschnittlicher Intelligenzquotient festgestellt. Was mit Delinquenz – zu Recht – in Verbindung gebracht wird, ist die fehlende Selbstkontrolle von Delinquenten. Nach Auffassung dieser Theorien unterscheiden sich Straffällige von nicht Straffälligen dadurch, dass sie auch bei Gefahr negativer Sanktionen eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung suchen, da sie unfähig zum Bedürfnisaufschub sind. Weitere psychologische Theorien erklären kriminelle Handlungen mit dem familiären Milieu.20 Unklar ist, ob das broken home kriminalitätsfördernd ist oder ob spezifische Strukturen der unvollständigen Familie Kriminalität vermehrt herbeiführen. Gesellschaftliche Theorien wie die Anomietheorie führen die Entstehung von Kriminalität auf gesellschaftliche Strukturen zurück.21 Bohle hat die zentralen Punkte der Anomietheorie in die Form eines komparativen Gesetzes gebracht: Je stärker ein kulturelles Wertesystem ein gemeinsames kulturelles Ziel für alle Mitglieder einer Gesellschaft ungeachtet ihrer strukturellen Möglichkeiten betont, je stärker die Mitglieder der Gesellschaft das kulturelle Ziel akzeptieren, je begrenzter aber die legitimen Mittel zur Erreichung des Ziels sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass illegitime Mittel zur Erreichung dieses Ziels gewählt werden, dass also abweichendes (strafrechtsrelevantes) Verhalten auftritt.22 Klar ist, dass Unterschichtangehörige, die über weniger Geld verfügen, aber die kulturellen Ziele einer Gesellschaft akzeptiert haben, eher kriminell werden als Mittelschichtangehörige, denen auch legitime Mittel zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele zur Verfügung stehen. Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten stellt eine Weiterentwicklung der Anomietheorie dar. Hiernach sind die Annahmen der Anomietheorie zwar zutreffend, jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Kriminalität steigt, wenn gleichzeitig Zugangschancen zu illegitimen Mitteln vorhanden sind.23 19

Vgl. dazu Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 61 m. w. N. Vgl. dazu Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 62 f m. w. N. 21 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2. Aufl. 1974, S. 293. 22 Bohle Soziale Abweichung und Erfolgschancen. Die Anomietheorie in der Diskussion, 1975, S. 200. 23 Vgl. Cloward/Ohlin Delinquency and Opportunity. A Theory of Delinquent Gangs, 1970. 20

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Während diese Theorien in erster Linie anzweifeln, dass der Täter bei Begehung einer strafbaren Handlung hätte anders handeln können, so hebt die Kriminalitätstheorie, die Kriminalität mit Erlernen von Neutralisationstechniken erklärt, noch einen zusätzlichen Aspekt hervor. Sie geht davon aus, dass Straftäter strafrechtliche Normen an sich akzeptieren und Techniken benötigen, vor Begehung der Kriminalität, die es ihnen erlauben, die grundsätzliche Akzeptanz einer Strafrechtsnorm in Frage zu stellen: 24 Zum einen kann die Neutralisation durch den Delinquenten in Form von Ablehnung seiner Verantwortung erfolgen. Der Delinquent sieht sich selbst als Opfer gesellschaftlicher Umstände. Eine andere Neutralisationstechnik besteht darin, dass der Delinquent das Unrecht verneint, indem er sein Verhalten anders als die Instanzen sozialer Kontrolle interpretiert. Beispielsweise bagatellisiert er den Schaden. Weiter kann die Neutralisation über die Ablehnung des Opfers erfolgen. Der Delinquent rechtfertigt sein kriminelles Verhalten mit der Behauptung, die Verletzung treffe ja keinen Falschen, das Opfer habe die Schädigung vielmehr verdient usw. Der Delinquent kann auch die Verdammenden selbst verdammen, indem er die Repräsentanten der Instanzen der sozialen Kontrolle als korrupt definiert und ihnen folglich die Legitimation zur Verurteilung abspricht. Letztendlich kann der Delinquent auch versuchen, sein Verhalten dadurch zu legitimieren, dass er sich auf eine höherwertige Norm beruft, etwa den Vorrang der Gruppensolidarität gegenüber den Anforderungen der Strafgesetze. Durch all diese Techniken kann der Täter an im Sozialisationsprozess erlernten Regeln festhalten, sich von ihnen leiten lassen und gleichwohl eine Legitimation für sein abweichendes Verhalten finden. Er ist an sich durch Normen ansprechbar und benötigt deshalb Mechanismen, um seine Normabweichung zu erklären.25 Die entscheidende Frage aber bleibt: Hätte der Täter anders handeln können? Es kann zusammengefasst werden, dass Anders-Handeln-Können jedenfalls im Strafprozess nicht nachzuweisen ist, selbst wenn es prinzipiell nachweisbar sein sollte. Alles, was man von Kriminalität empirisch, aber auch aufgrund von Kriminalitätstheorien, weiß, spricht dafür, dass vielen Kriminellen der Vorwurf „Du hättest anders handeln können“ nicht gemacht werden kann. Für die Behauptung, dass der Täter frei sei in dem Sinne, dass er die Straftat auch hätte vermeiden können, wird weiter angeführt, dass sich die 24

Vgl. dazu Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 71 f. Weitere Kriminalitätstheorien, die Ursachen von Kriminalität zeichnen, ließen sich anführen. Vgl. Kunz Kriminologie § 11 Rn. 1 ff; Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 64 ff. 25

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Freiheit aus den Schuldgefühlen des Täters ergäbe. Die Existenz eines Schuldgefühls erklärt jedoch nicht, dass Freiheit missbraucht wurde. Es existiert kein Kausalgesetz dahingehend, dass Schuldgefühle Ausdruck von Freiheit sind. Die moderne Hirnforschung beschäftigt sich mit der Frage, ob Freiheit aus der Tatsache abgeleitet werden kann, dass der Einzelne sich als frei versteht. Sie geht davon aus, dass in alltäglicher Praxis eine enge Verbindung zwischen Freisein und Bewusstsein besteht. In der gesellschaftlichen Praxis geht man davon aus, dass Entscheidungen dann frei sind, wenn sie über die bewusste Deliberation von Argumenten herbeigeführt wurden und ohne Einfluss von Faktoren erfolgen konnten, die diesen bewussten Akt von vornherein in seinem normalen Ablauf hätten verhindern können.26 Jedoch wird hiergegen eingewandt, dass auch die frei bewerteten bewussten Deliberationen, wie alle anderen Leistungen, auf neuronalen Prozessen beruhen, die vorwiegend auf der Großhirnrinde ablaufen.27 Jedenfalls muss gesagt werden, dass – auch wenn Personen sich als frei definieren – Freiheit nicht gegeben sein muss. Vorfindbare Schuldgefühle des Täters begründen nicht die Fähigkeit, anders handeln zu können. Eine weitere Auffassung zur Lösung des Freiheitsproblems besteht nun darin, dass argumentiert wird, im Strafprozess sei nur das durchschnittliche Können zu ermitteln und die Abweichung vom durchschnittlichen Können begründe die Vorwerfbarkeit der Handlung.28 Sieht man die Lösung darin, dass dem Täter nur zum Vorwurf gemacht wird, dass er durchschnittliches Können verfehlt hat, so präsentiert man, was den Freiheitsmissbrauch anbelangt, eine Scheinlösung. Vorgeworfen wird dem Täter dann, dass er dem durchschnittlichen Können nicht genügt hat. Nicht nachgewiesen ist damit aber, dass er auch in der Lage war, durchschnittlichem Können zu genügen. Dies heißt insgesamt, dass auf einem dem Täter vorwerfbaren Freiheitsmissbrauch der strafrechtliche Schuldvorwurf nicht aufgebaut werden kann.

III. Charakterschuldlehre und Vorwerfbarkeit der Tat Um die Vorwerfbarkeit einer Straftat zu begründen, wird weiter auf den Charakter des Straftäters abgestellt.29 Die Charakterschuldlehre30 sieht die Gesamtperson des Täters als Gegenstand des Schuldurteils und in der bisherigen Lebensführung den Grund strafrechtlicher Haftung. Dem Täter – so 26

So Singer (Fn. 12) S. 17. Singer (Fn. 12) S. 18. 28 Hierzu Stuckenberg Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, Antrittsvorlesung an der Universität des Saarlandes, gehalten am 01. Juli 2009, S. 13 f. 29 Vgl. zur Charakterschuldtheorie mit Nachweisen auch Roxin AT I § 19 Rn. 27 ff. 30 Vgl. hierzu auch Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 266 ff. 27

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die Charakterschuldlehre – wird verfehlte Lebensführung zum Vorwurf gemacht. Diese Auffassung ist durchaus aktuell. Hier ein Statement eines Vertreters der Charakterschuldlehre: „Da wo die Schuld liegt, muss auch die Verantwortlichkeit liegen [und da diese das alleinige Datum ist, welches auf moralische Freiheit zu schließen berechtigt, muss auch die Freiheit eben daselbst liegen], also im Charakter des Menschen, formuliert Schopenhauer. Er hält ihn allerdings für angeboren und unabänderlich. Dagegen ist mit Jaspers zu vertreten, dass die Welt keineswegs bloß erlittene Umwelt sondern Aufgabe der Gestaltung ist. Nicht nur im Menschenbild unseres Strafrechts, sondern auch bei therapeutischen Vorhaben wird davon ausgegangen, dass es selbst gegenüber schwerwiegenden Anlage- und Umweltfaktoren einen Entscheidungsspielraum der Person gibt. […] Gegen Freuds Aussage, dass wir nicht leben sondern gelebt werden, ist die Maxime Gehlens zu halten, dass „der Mensch nicht lebt, sondern sein Leben führt. Dies bewirkt Verantwortlichkeit für […] Delikte, aber auch für die Entwicklung der Persönlichkeit.“ 31 Gegen eine Charakterschuldlehre spricht aber zweierlei.32 Einmal kann in einem Strafprozess nicht über eine Gesamtperson in ihrer Lebensführung Beweis erhoben werden. Dies ist weder faktisch möglich noch normativ legitim. Über die Gesamtperson Beweis zu erheben, würde die Strafrechtspflege überfordern. Nach der Strafprozessordnung sollen Taten aufgeklärt werden, nicht Lebensführungen. Weiter führt auch die Charakterschuldlehre nicht aus dem Dilemma der Strafrechtspflege heraus, Freiheitsmissbrauch nicht aufklären zu können. Es müsste dem Täter ja nachgewiesen werden, dass er sein Leben aus eigenem Antrieb heraus hätte anders gestalten und einen anderen Charakter hätte bilden können. Ein derartiger Nachweis kann nicht gelingen.

IV. Entscheidungsfreiheit und Strafgesetz Die deutsche Strafrechtsdogmatik im Anschluss an die gesetzgeberischen Entscheidungen geht davon aus, dass eine Tat vorwerfbar ist, wenn der Täter nicht schuldunfähig war, nicht in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hat und kein Entschuldigungsgrund eingreift. Zentrale Entschuldigungsgründe sind die Notwehrüberschreitung bei asthenischem 31

Saß FS Lampe, 2003, 197 f. Dazu Schroth in: Vossenkuhl u. a. (Hrsg.), Ecce Homo! Menschenbild – Menschenbilder, 2009, S. 93. 32

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Affekt, der entschuldigende Notstand, die entschuldigende Pflichtenkollision, aber auch das Handeln aufgrund eines für verbindlich gehaltenen rechtswidrigen Befehls, etwa § 51 Wehrstrafgesetzbuch. Angesichts der Kriterien, die es erlauben, Schuld auszuschließen, drängen sich zwei Fragen auf: Einmal stellt sich die Frage – der hier nicht näher nachgegangen werden soll – ob sich die Entschuldigungsgründe auf den Gedanken der Vorwerfbarkeit reduzieren lassen. Zweifel ergeben sich daraus, dass ja der Täter, der etwa eine Gefahr für seinen Körper oder gar sein Leben abwendet, durch kriminelles Tun durchaus in der Lage ist, anders handeln zu können. Roxin geht zu Recht davon aus, dass die Idee des Anders-Handeln-Könnens, die zur Begründung der Vorwerfbarkeit verwendet wird, den entschuldigenden Notstand, aber auch den entschuldigenden Notwehrexzess, nicht trägt.33 Diese entschuldigenden Konstellationen entschuldigen nicht aufgrund von Entscheidungsunfreiheit, sondern aufgrund fehlender Nützlichkeit der Bestrafung in diesen Fällen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Schuldunfähigkeit eine angemessene Regelung gefunden hat. Generell schuldfähig sind Bürger ab dem 18. Lebensjahr. Schuldunfähig sind Personen dann, wenn ein biologisch-psychologischer Anknüpfungsbefund gegeben ist, also etwa eine krankhafte seelische Störung, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn oder eine schwere andere seelische Abartigkeit, die dazu geführt hat, dass der Täter bei Begehung der Tat das Unrecht der Tat nicht eingesehen hat oder unfähig war, nach dieser Einsicht zu handeln. Beide Ebenen (biologischer Anknüpfungspunkt und hieraus resultierende Einsichts- und Steuerungsunfähigkeit) müssen jeweils getrennt geprüft werden. Diese engen gesetzlichen Voraussetzungen haben zur Folge, dass die Anwendbarkeit des § 20 StGB sehr selten ist. 2003 wurde § 20 StGB nur bei 0,09 % aller Abgeurteilten angewendet. Am häufigsten wird noch exkulpiert bei den Delikten gegen das Leben; diese werden gefolgt von den gemeingefährlichen Straftaten und den Sexualdelikten. Bei Eigentums- und Vermögensdelikten kommt eine Exkulpation nahezu nicht vor.34 Die überwiegende Auffassung in der Strafrechtswissenschaft sieht es nicht als unproblematisch an, dass, was die Vorwerfbarkeit einer Tat angeht, gesetzlich verordnete, von der Strafrechtsdogmatik akzeptierte Denkverbote existieren. Das Strafrechtssystem lässt die Frage, ob der Täter hätte anders handeln können, nur eingeschränkt zu. Nur wenn der Täter schwachsinnig ist, er unter einer krankhaft seelischen Störung leidet, bei ihm eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung oder eine andere seelische Abartigkeit feststellbar ist, wird die Frage, ob er hätte anders handeln können, relevant. 33 34

Roxin AT I § 19 Rn. 56 f. Vgl. LK-Schöch § 20 Rn. 1 ff, 7 ff.

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Obwohl die herrschende Strafrechtsdogmatik an der Notwendigkeit von Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit festhält, ist es angesichts einer familiären Konfliktlage oder angesichts einer Ausweglosigkeit, die durch einen drohenden wirtschaftlichen Ruin veranlasst war und zu einer zwanghaften Tat geführt hat, nicht möglich zu prüfen, ob ein Täter hätte anders handeln können. Mit Recht sagen Ellscheid und Hassemer, dass das Strafrecht keine Kategorien zur Verfügung stellt, mit denen so gefragt werden kann. Drohender wirtschaftlicher Ruin oder familiäre Konfliktlage begründen keine krankhafte seelische Störung, keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung und auch sonst keinen biologischen Befund im Sinne einer Exkulpation gemäß § 20 StGB.35 Dies zeigt, dass es der Gesetzgeber mit der Idee der Vorwerfbarkeit nicht ernst meint. Wer als Voraussetzung der Vorwerfbarkeit die Entscheidungsfreiheit des Täters ansieht,36 kann einer Einschränkung der Prüfung dieses Anders-Handeln-Könnens dahingehend, dass ihm ein biologischer Befund vorausgehen muss, nicht zustimmen. Die Idee der Vorwerfbarkeit einer Straftat existiert im Strafrecht nur als unangemessene Fiktion. Das Festhalten an der Fiktion hat eine gesellschaftliche Dimension. Existiert die Kriminalität als freie Tat und stellt die freie Tat die gesellschaftliche Ordnung in Frage, so bleibt als Möglichkeit die Negation einer solchen Negation – die Negation des individuellen Bösen. So ist es möglich, einen klaren Trennungsstrich zwischen Gesellschaft und Verbrecher zu ziehen. Das gesellschaftliche System als solches muss sich durch Erfahrung von kriminellen Handlungen nicht ändern. Theodor W. Adorno hat in seiner „Negativen Dialektik“ dies schon polemisierend, aber im Ergebnis richtig, zum Ausdruck gebracht: Die intelligible Freiheit des Individuums wird gepriesen, damit man die empirischen (Individuen) hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit der Aussicht auf metaphysisch gerechtfertigte Strafe besser an der Kandare halten kann.37

V. Der funktionale Schuldbegriff Bedeutenden Einfluss in der Strafrechtswissenschaft hat der funktionale Schuldbegriff, der sich durch den Versuch auszeichnet, ohne die Idee des Anders-Handeln-Könnens auszukommen. Diesen funktionalen Schuldbegriff hat insbesondere Jakobs im Anschluss an Luhmann entwickelt.38 Hiernach erhält der Schuldbegriff seinen Inhalt unter dem Aspekt der General35

Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 274 f. So Burkhardt in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1998, S. 83. 37 Adorno Negative Dialektik, 1966, S. 212. 38 Jakobs Schuld und Prävention, 1976, S. 24 ff. 36

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prävention.39 Unter Generalprävention versteht Jakobs die Stabilisierung derjenigen Erwartung, deren Enttäuschungsfestigkeit jede Ordnung zu ihrem Erhalt braucht.40 Die Regelung der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (§ 20 StGB) sowie die Regelungen zu den Entschuldigungsgründen werden durch Jakobs unter dem Gesichtspunkt der generalpräventiven Bedürfnisse erklärt. Gegen diesen Schuldbegriff wird eingewandt, dass Schuld, wenn sie aus generalpräventiven Bedürfnissen bestimmt wird, ihren limitierenden Charakter verliert. Dies ist nicht von der Hand zu weisen. Weiter spricht gegen den funktionalen Schuldbegriff, dass der Zusammenhang zwischen der Legitimität einer Norm und der Schuld des Normbrechers verloren geht.41 Die Garantie des Erhalts einer Ordnung bezieht sich auf jede Ordnung, nicht auf die richtige Ordnung. Zudem fehlt bei einem funktionalen Schuldverständnis der notwendige Zusammenhang von Strafe und Freiheit, auf den nunmehr eingegangen werden soll. Auch wirkt das Schuldprinzip nicht mehr begrenzend. Dies zeigt sich auch etwa daran, dass nach der funktionalen Schuldtheorie der Rückfall ein Indiz für höhere Schuld ist, weil der Täter nicht nur einmal Rechtsuntreue zeigt, sondern die Erwartungshaltung der Gesellschaft auf Rechtstreue wiederholt enttäuscht.42 Unter wertrationalen Gesichtspunkten ist dies problematisch. Rückfall ist ein zusätzliches Indiz für nur partielle Ansprechbarkeit durch Normen, nicht jedoch für erhöhte Schuld.

VI. Strafe und Freiheit Lässt man die Idee fallen, dass Strafe als Reaktion auf vorwerfbares Fehlverhalten zu verstehen ist, so muss Strafe von einem Anspruch des Staates her gedacht werden, der gegenüber jedem einzelnen Rechtsgenossen begründet erhoben, vom Gesetz festgelegt und sanktionsbewehrt ist.43 Dieser Anspruch ist gerichtet auf ein Verhalten jedes Bürgers, das sich in den vom Gesetz abgesteckten Freiheitsräumen hält und die rechtlich geschützten Interessen anderer nicht verletzt. Wird der Grund der strafrechtlichen Haftung in dieser Richtung gedacht, so verliert der strafrechtliche Sollensanspruch nicht seine sittliche Begründung. Der sittliche Anspruch des Strafrechts muss nicht individualethisch mit der Ahndung persönlicher Schuld 39

Vgl. auch Neumann/Schroth (Fn. 1) S. 53; Roxin AT I § 19 Rn. 33 ff. Jakobs (Fn. 38) S. 24 ff. 41 Kindhäuser AT § 21 Rn. 8; ders. FS Hassemer, 2010, 770 ff. 42 Dieser Zusammenhang wird vom diskursiven Schuldbegriff, auf den hier nicht eingegangen werden kann, dargestellt. Vgl. dazu Kindhäuser AT § 21 Rn. 9; ders. FS Hassemer, 2010, 761 ff. 43 So Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 280. 40

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begründet werden.44 Er kann sich auch darauf stützen, dass durch den Schutz von Rechtsgütern mittels Strafdrohung und Strafverhängung Freiheit überhaupt erst ermöglicht wird. Die Existenzberechtigung des Strafrechts liegt zentral im Schutz von Freiheitsräumen, der ohne die Ahndung von Freiheitsverletzungen mit Strafe nicht zu gewährleisten wäre. Strafe im Gegensatz zu der Rechtsfolge Maßregel hat den Sinn, symbolisch den Normgeltungsschaden, der durch den Straftäter bei einer Straftat eintritt, auszugleichen. Sie ist aber auch nur legitim, wenn zur Sicherung der Freiheit Strafe einerseits geeignet und andererseits erforderlich ist. Begreift man Strafe als Anspruch, den jeder an den anderen hat und welchen der Staat für jeden durchsetzt, und nicht als Schuldausgleich, so gewinnt Strafrecht eine angemessene Nüchternheit.45 Das Strafrecht zielt dann auch in seiner Theorie auf den Schutz und Ausgleich von zentralen Interessen. Trotzdem lässt sich an der Idee der Notwendigkeit von Schuld festhalten.46 Dies freilich in einem ganz anderen Sinne als dem, wenn man strafrechtliche Schuld als Vorwerfbarkeit versteht. Schuld kann nämlich auch verstanden werden als Verfehlung einer Pflicht, deren Erfüllung von jedem Bürger erwartet wird, soweit er als Normadressat angesehen werden kann.47 Normadressat ist er so lange, als er jedenfalls als Subjekt angesehen wird, das Normen in Frage stellen und damit einen Normgeltungsschaden verursachen kann. Dieser ist mit Strafe auszugleichen. Als Normadressat darf er Normen nicht durch Normbruch in Frage stellen. Normen dürfen ausschließlich in einer von der Rechtsordnung vorgesehen Weise in Frage gestellt werden.48 Normadressat ist der Einzelne, solange er, was sich empirisch feststellen lässt, durch strafrechtliche Tatbestände ansprechbar ist.49

VII. Begrenzung von Strafe bei Nicht-Ansprechbarkeit und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Das Schuldprinzip, die Idee also, Schuld setze Strafe im Sinne von Vorwerfbarkeit voraus, wird vielfach damit verteidigt, dass Strafe, Strafdrohung und Strafverhängung begrenzt werden müssen. Nur wenn der Täter Strafe verdient, darf Strafe angeordnet werden, nur soweit Strafe verdient ist, darf sie verhängt werden. Bei Coing wird formuliert, aus dem allgemeinen 44

Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 280. Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 280. 46 Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 279. 47 Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 279. 48 Kindhäuser FS Hassemer, 2010, 771 f. 49 Roxin AT I § 19 Rn. 36 ff; siehe auch weiter unten. 45

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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit leite sich ab, dass keine Strafe außer Verhältnis zur Größe der sittlichen Schuld und zum erstrebten Zweck stehen dürfe.50 Unangemessen ist die Unterstellung, dass sittliche Schuld festgestellt werden könne. Richtig an dieser Aussage ist, dass Strafe begrenzt werden muss. Wird Strafe nicht begrenzt, so droht die Gefahr maßloser Eingriffe gerade in die Sphäre der kleinen Rückfalltäter und sonstigen gewohnheitsmäßigen Kleinkriminellen. Die Frage ist damit, wie Strafe begrenzt werden kann. Versteht man Strafe, anders als Coing, nicht von der Vorwerfbarkeit her, sondern konzipiert sie ausgehend von der Nützlichkeit, so muss die Frage aufgeworfen werden, wann Strafe nicht mehr verhängt werden darf. Roxin sieht die Grenze zu Recht in der „Nicht-Ansprechbarkeit“ durch Normen.51 Minimalvoraussetzung der Verhängung von Strafe, die ihre Berechtigung aus ihrer Nützlichkeit erfährt, ist, dass der Normbrecher durch Normen bei der Tat überhaupt ansprechbar ist. Schuldhaftes Handeln, das Strafe erlaubt, setzt voraus, dass der Täter durch Normen angesprochen werden kann. Schuld ist „unrechtes Handeln [i. S. d. Strafgesetzbuches] trotz normativer Ansprechbarkeit“52. Damit erklärt Roxin, dass die Schuld eines Täters einerseits bejaht werden kann, wenn der Täter „bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert war […], wenn die (sei es freie, sei es determinierte) psychische Steuerungsmöglichkeit, die dem gesunden Erwachsenen in den meisten Situationen gegeben ist, im konkreten Fall vorhanden war“53. Andererseits ist Schuld und damit die Strafmöglichkeit zu verneinen, wenn eine Ansprechbarkeit durch Normen nicht mehr existiert. Der Einsatz des Strafrechts ist – so der Jubilar zu Recht – „dort unnötig und unangemessen, wo die Annahme, dass ein Mensch durch das Gesetz motiviert werden kann, nach seiner geistigen und seelischen Beschaffenheit von vornherein nicht begründet ist. So verhält es sich bei geistig oder seelisch Kranken und in ihrer Motivationsfähigkeit schwer gestörten ebenso wie bei unreifen Menschen […]. Übertreten sie das Gesetz, so wird keine soziale Erwartung enttäuscht und das allgemeine Rechtsbewusstsein nicht erschüttert. Niemand wird zur Nachahmung angereizt, weil die Normgeltung in den Augen der Öffentlichkeit durch solche Taten nicht gemindert wird“54.

50

Coing Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 277. Roxin ZStW 96 (1984), 652; ders. AT I § 19 Rn. 36 ff. 52 Roxin AT I § 19 Rn. 36. 53 Roxin AT I § 19 Rn. 36. 54 Roxin ZStW 96 (1984), 652; ders. AT I § 19 Rn. 47. 51

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Dieser grundsätzlichen Begrenzung von Strafe ist zuzustimmen, da nur Personen, die normativ ansprechbar sind, vom Appell eines strafrechtlichen Tatbestandes erreicht werden können. Sind Täter durch Normen nicht ansprechbar, kann Strafe von der Struktur betrachtet nicht nützlich sein. Die Ansprechbarkeit durch Normen ist ein empirischer Befund und kann empirisch überprüft werden. Die Annahme der Ansprechbarkeit durch Normen bedeutet nicht, dass der Täter Entscheidungsfreiheit hat, sondern nur, dass er bei normativer Ansprechbarkeit behandelt wird wie ein freier Mensch.55 Diese Annahme der Entscheidungsfreiheit ist eine normative Setzung, zu der der Gesetzgeber berechtigt ist, da es bei normativer Ansprechbarkeit dem Selbstverständnis des Menschen entspricht, als frei angesehen zu werden.56 Diese Setzung verschafft auch Freiheit, indem sie Kompetenzen eröffnet. Sie erlaubt es, auch im Strafrecht als Rechtsgutsinhaber auf strafrechtlichen Schutz individueller Rechtsgüter zu verzichten und ist damit ein Schutzschild gegen Bevormundung. Von Bürgern, die durch Normen ansprechbar sind, tritt auch bei der Verletzung von Normen ein Normgeltungsschaden ein, der durch Strafe kompensiert werden sollte. Umgekehrt tritt der Normgeltungsschaden bei Normverstößen von Bürgern, denen die Kompetenz fehlt, sich an Normen zu orientieren, nicht ein.57 Deshalb ist auch nach dem Bewusstsein der Bevölkerung bei Kindern, Jugendlichen ohne die erforderliche Reife und partiell steuerungsunfähigen Kranken Kriminalstrafe nicht erforderlich. § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit regelt, ist zur Charakterisierung derjenigen, die keinen Normgeltungsschaden veranlassen können, zu eng. Einerseits sollten nicht nur biologisch-medizinische Befunde den Richter dazu veranlassen, die Ansprechbarkeit durch Normen zu prüfen. Auch tiefe Lebenskrisen können die Ansprechbarkeit durch Normen aufheben. Andererseits ist die Rechtsprechung in der Interpretation des § 20 StGB zu restriktiv. Die Rechtsprechung ist etwa nicht dazu bereit, in Suchtfällen eine Exkulpation überhaupt in Betracht zu ziehen. Süchtige sind aber nur in einem begrenzten Rahmen durch Normen ansprechbar. Sie sollten deshalb nicht als frei angesehen werden. Bedauerlich ist, dass auch die herrschende Meinung in der Psychiatrie Sucht nicht als Krankheit anerkennt, sondern allenfalls als Symptom für eine psychopathologische Auffälligkeit.58 Ähnliches gilt auch für die Annahme einer Affekttat. Auch mit der Annahme eines Affektes, der einen pathologischen Befund begründet, wird restriktiv umgegangen. Es werden eine Vorgeschichte verlangt und eine Tatanlauf55

Roxin AT I § 19 Rn. 36 ff. Kritisch Schünemann FS Lampe, 2003, 547 f. 57 Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 132. 58 Vgl. bei LK-Schöch § 20 Rn. 161 f. m. w. N. 56

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zeit, eine Ausgangssituation mit Tatbereitschaft, eine psychopathologische Disposition, ein elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen, etc.59 Zahlreiche Kriterien schließen die Annahme eines tiefgreifenden Affektes aus, etwa der zielgerichtete Ablauf der Tatgestaltung, die detailreiche Erinnerung, etc.60 Dies ist viel zu eng, wenn man die Ansprechbarkeit eines Täters als Minimalvoraussetzung der Verhängung von Strafe ansieht. Wenig angemessen ist auch, dass die Rechtsprechung bei einem tiefgreifenden Affekt keine Schuldunfähigkeit annimmt, wenn und soweit den Täter ein Verschulden an der Entstehung des Affektes trifft. Dies ist mit dem Kriterium, dass Täter durch Normen ansprechbar sein müssen, nicht kompatibel.61 Weiter sind Strafdrohung, Strafe und Strafverhängung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu begrenzen. Es gibt bei der Begrenzung von Strafe über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Besonderheit. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt nicht nur die Zielverfolgung bei der Verhängung von Strafe – also etwa die Notwendigkeit der Resozialisierung – insoweit, als Strafe zur Zielverfolgung geeignet und erforderlich sein und in einem angemessenen Verhältnis zum Anlass von Strafe stehen muss. Vielmehr sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch die Rechte und berechtigten Interessen des Straftäters begrenzend zu berücksichtigen. Freiheit und Eigentum des einzelnen Straftäters müssen im Verhältnis zu den vorgegebenen kriminalpolitischen Zielsetzungen wie etwa der Rehabilitierung der Norm, der Herstellung von Rechtsfrieden und der Resozialisierung gesehen werden. Es ist notwendig, die gegenläufigen Interessen und die Ziele einer Optimierung zuzuführen.62 Ein schonender Ausgleich der gegensätzlichen Interessen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ist erforderlich.63 Die Interessen des Straftäters gerade im Hinblick auf Freiheit und Eigentum dürfen nicht völlig unter den Tisch fallen, sondern müssen Berücksichtigung finden, auch wenn kriminalpolitische Ziele verfolgt werden. Zu berücksichtigen sind immer auch Nebenwirkungen, die mit Strafe verbunden sind. Je mehr schädliche Folgen die Strafverhängung hat, umso geringer sind Zielsetzungen wie Abschreckungswirkung, Herstellung von Rechtsfrieden etc. zu gewichten. Beispielsweise ist heute nachgewiesen, dass bei kurzfristigen Freiheitsstrafen die schädlichen Nebenwirkungen die nützlichen Effekte überwiegen. Das Ziel muss es deshalb sein, 59

Vgl. bei LK-Schöch § 20 Rn. 134 im Anschluss an Saß Affektdelikte, Nervenarzt, 1983, S. 557 m. w. N. 60 LK-Schöch § 20 Rn. 135 m. w. N. 61 Vgl. dazu Schroth in: Philipps/Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 109 ff. 62 BVerfGE 81, 278 (292). 63 So richtig Ellscheid/Hassemer (Fn. 15) S. 281; weiter etwa Jarras/Pieroth-Jarras Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 52.

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kurzfristige Freiheitsstrafen zu vermeiden. Auch kurzfristige Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt werden, sollten nicht verhängt werden. Ein Rückfall des Täters bzw. ein Verstoß gegen Bewährungsauflagen führt zum Vollzug der unerwünschten kurzfristigen Freiheitsstrafe und kann damit schädliche Folgen herbeiführen. Als Alternativen bieten sich Geldstrafen an. Der Gesetzgeber ist zudem gehalten, sich neuartige Strafen zu überlegen. Dies geschieht etwa, indem kriminalpolitisch zu Recht diskutiert wird, ob das Fahrverbot auch als Hauptstrafe verhängt werden kann. Die Inanspruchnahme eines Täters sollte auch insoweit limitiert sein, als die Bestrafung nicht belastender sein darf, als wenn der Täter frei handeln würde und das Verdienen einer Strafe den Rechtsanwendenden leiten würde. Begrenzend müssen also Fallgestaltungen wirken, in denen die Vorwerfbarkeit, bei unterstellter Fähigkeit anders handeln zu können, als gering zu bewerten ist. Dazu zählen die Fälle, in denen das Unrecht nicht gravierend ist (Bagatelldelikte), auch wenn diese als Rückfalltaten begangen werden und sich dadurch zeigt, dass der Täter sozialisierungsbedürftig ist. Hier verdient ein Täter, wenn man ihn sich als frei vorstellt, keine hohe Strafe, da das Strafmaß im Verhältnis zum Anlass der Strafe stehen muss. Dies gilt auch, wenn der Täter durch die Tat bereits mit bestraft wurde (Bsp.: Eine Mutter überfährt ihr Kind fahrlässig). Einer Mutter, die eine solche Straftat begeht, verdient keine hohe Strafe, da sie eine poena naturalis erfahren hat. Auch ein Täter, der Reue zeigt, ein Geständnis ablegt und dem Opfer eine sekundäre Viktimisierung erspart, die durch die Hauptverhandlung im Strafprozess stattfinden kann, verdient einen Strafnachlass.64 Das Strafgesetzbuch entlastet den Täter zu Recht von Verantwortlichkeit beim unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Dieser muss schuldausschließend wirken. Dies ist unter dem Aspekt der Resozialisierung betrachtet problematisch, da sich aus dem fehlenden Unrechtsbewusstsein eine Notwendigkeit zur Resozialisierung ergeben kann. Das gleiche gilt hinsichtlich der generalpräventiven Wirkung der Strafe. Unter dem Aspekt der positiven Generalprävention ist die Entschuldigung im Falle des unvermeidbaren Verbotsirrtums geradezu dysfunktional.65 Neumann sagt zu Recht, jeder auf einen Verbotsirrtum gestützte Freispruch schwächt indirekt die Geltungskraft der entsprechenden Norm, weil er inzident das Eingeständnis mangelnder Evidenz der Norm enthält.66 Jedoch muss in den Fällen des unvermeidbaren Verbotsirrtums eine Exkulpation erfolgen. Dies gilt nicht nur, weil der Täter hier Strafe nicht verdient, sondern ergibt sich 64

Die Tatsache, dass ein Täter unfrei ist, kann leicht dazu führen, dass er als Eingriffsobjekt, beispielsweise zur Resozialisierung, erachtet wird. 65 NK-Neumann § 17 Rn. 5. 66 NK-Neumann § 17 Rn. 5.

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zwangsläufig, wenn man fehlende Schuld mit Nicht-Ansprechbarkeit erläutert. Wer eine Norm nicht kennt und auch bei Gewissensanspannung nicht kennen kann, kann auch durch die Norm nicht angesprochen werden. Dass § 17 StGB in der strafrechtlichen Praxis keinerlei Relevanz hat, zeigt, dass es die strafrechtliche Praxis mit dem Gedanken der Ansprechbarkeit durch Normen nicht ernst nimmt. Gerade in Gesellschaften, die multikulturell sind, kommen Verbotsirrtümer vor und diese sind, gerade bei Personen, die aus anderen Kulturen stammen und noch nicht voll integriert sind, oftmals nicht zu vermeiden. Auch hier muss der Gedanke der fehlenden Ansprechbarkeit durch Normen ernst genommen werden. Auch für Personen, die in einer Kultur integriert sind, können Verbotsirrtümer unvermeidbar sein. Dies ist insbesondere in Fällen denkbar, in denen sich Rechtsregeln neu bilden und bis zum Tatzeitpunkt eine Rechtslage unklar ist. Die Ansprechbarkeit durch Normen setzt eine hinreichend klare und präzise Rechtslage voraus. Betrachtet man § 17 StGB unter dem Gesichtspunkt der Ansprechbarkeit, so ist auch die dogmatische Regel, dass § 17 StGB bei Unrechtszweifeln nicht eingreift, problematisch. Hat ein Täter nur Unrechtszweifel, so ist jedenfalls die Ansprechbarkeit nicht mehr umfassend gewährleistet.

Normative Ansprechbarkeit als Schuldelement ANDREAS HOYER

A. Hinführung zum Thema In persönlicher Hinsicht habe ich das unverschämte Glück genossen, über die Jahrzehnte hinweg gleich viermal bei einem Abendessen direkt neben oder doch zumindest am selben Tisch wie Claus Roxin und seine Frau gesessen zu haben: in Basel 1993 als frischgebackener Privatdozent bei meiner ersten Strafrechtslehrertagung, 1996 in Regensburg als noch immer ziemlich grünschnäbeliger Strafrechtsprofessor, 2009 auf Teneriffa anlässlich einer dort stattfindenden international besetzten Strafrechtskonferenz und schließlich 2010 in Kiel bei der Antrittsvorlesung seines Schülers (und meines Kollegen) Manfred Heinrich. Jede dieser Begegnungen bleibt mir unvergesslich, obwohl oder gerade weil wir uns dabei ganz überwiegend nicht über fachliche Fragen unterhalten haben (sondern z. B. über Karl May). Lediglich eines dieser Treffen ereignete sich im Anschluss an einen Vortrag von Claus Roxin, nämlich das in Regensburg, wo er über Inhalt und Funktion des Schuldbegriffs referierte und ich im brechend vollen Hörsaal zwischen Hunderten Studierenden saß und ebenso andächtig wie diese seinen Ausführungen lauschte. Natürlich wäre es ungebührlich gewesen, das anschließende stimmungsvolle Abendessen dazu zu missbrauchen, bleierne Fachdiskussionen anzuzetteln, nagende Zweifel anzumelden oder gar nörgelnde Distanz zum gerade Verkündeten erkennen zu lassen. Nun aber, 15 Jahre später und längst von der bierseligen Oberpfalz in den kühlen Kieler Küstennebel abgetaucht, möchte ich an das damals Gehörte, für Regensburger Verhältnisse: Unerhörte anknüpfen, das mich selbst – kontinuierlich über die Jahre hinweg – zu einer gewaltigen Modifikation meiner bis dato eingenommenen Position zur Bedeutung des Schuldbegriffs veranlasst hat. Dass ich Claus Roxin dennoch auch heute (noch) nicht in jeder Beziehung zustimmen möchte und werde, ist Ehrensache, erübrigte sich doch sonst der folgende Beitrag in wissenschaftlicher Hinsicht.

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Andreas Hoyer

B. Roxins gemischt empirisch-normativer Schuldbegriff Das Unerhörte am von Roxin entwickelten Schuldbegriff besteht meines Erachtens weniger in dessen Inhalt als in dessen Funktion. Diese Funktion besteht nämlich allein darin, ein „Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“1 gegen die Verfolgung der gemeinwohlbezogen „präventiven Ziele des Staates“2 zu bilden. Schuld fungiere somit als „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“, ohne dass es bei fehlender Schuld noch irgendeiner Abwägung dieses Umstands gegen etwa trotzdem auf dem Spiel stehende präventive Strafziele bedürfe. Umgekehrt sei es aber „mit dem staatsvertraglichen Denkmodell, das der parlamentarischen Demokratie zugrunde liegt, nicht zu vereinbaren“,3 dass der Staat um des Schuldausgleichs willen bestrafe. Mit Hilfe der ihm übertragenen Staatsgewalt solle der Staat „den Einzelnen vor Eingriffen in seine Freiheitssphäre bewahren und ihm ein Leben in Frieden und Wohlfahrt ermöglichen“, 4 nicht aber anstreben, „die metaphysische Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen“.5 Strafe dürfe also „nicht zum Ausgleich der Schuld, sondern nur zu präventiven Zwecken verhängt werden“.6 Daraus ergibt sich, dass auch eine Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe bis hin zum völligen Absehen von Strafe nicht nur zulässig ist,7 sondern sogar geboten, soweit es nicht mehr aus präventiven Gründen der Strafe bedarf.8 Mit dieser allein straflimitierenden Funktion der Schuld begründet Roxin auch, weshalb das Strafrecht überhaupt zu der „normativen Setzung“9 befugt sei, dass „Schuld“ grundsätzlich menschenmöglich sei und lediglich im Einzelfall aufgrund von persönlichen oder situativen Besonderheiten auch entfallen könne. „Denn die Alternative zur Schuldstrafe ist nicht Sanktionslosigkeit, sondern die Maßregel“,10 also eine ungehemmte Verfolgung präventiver Ziele, dergegenüber das Schuldprinzip sich als „freiheitsverbürgende Annahme“11 auswirke. Insbesondere den Grundsätzen der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit könne deswegen der „Befehl“ an die Staatsgewalt entnommen werden: „Ihr sollt den Bürger als freien, verantwortungsfähigen 1

Roxin AT I § 19 Rn. 53. Roxin AT I § 19 Rn. 49. 3 Roxin ZStW 96 (1984), 644. 4 Roxin ZStW 96 (1984), 644 f. 5 Roxin AT I § 3 Rn. 8. 6 Roxin ZStW 96 (1984), 653 f. 7 Roxin AT I § 3 Rn. 59. 8 Roxin AT I § 3 Rn. 60 a. E.; ders. ZStW 96 (1984), 657. 9 Roxin ZStW 96 (1984), 650. 10 Roxin ZStW 96 (1984), 651. 11 Roxin AT I § 19 Rn. 49. 2

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Menschen behandeln“12 – ein Befehl, aufgrund dessen das „Strafrecht von der Willensfreiheit ausgehen muss, obwohl sie nicht exakt beweisbar ist“.13 Ein sittlicher Vorwurf gegen den von Verfassungs wegen als frei zu behandelnden Täter lasse sich auf diese Weise zwar nicht begründen, wohl aber ein Schutz gegen die stärkeren Freiheitseingriffe, die aufgrund eines reinen Präventionsrechts gegen ihn möglich wären.14 In dubio pro reo muss deswegen im Falle eines rechtswidrigen Verhaltens nicht etwa von fehlender, sondern von bestehender Schuld ausgegangen werden, insbesondere also auch von Willensfreiheit im Sinne der geistigen und seelischen „Möglichkeit zu rechtmäßigem Verhalten“.15 Lediglich dort, wo die „Annahme, dass ein Mensch durch das Gesetz motiviert werden kann, nach seiner geistigen und seelischen Beschaffenheit von vornherein nicht begründet ist“,16 könne nicht diesem eindeutigen Befund zuwider dennoch unbeirrt Willensfreiheit „normativ zugeschrieben“17 werden. Dessen bedürfe es aber in derartigen Fällen auch nicht, da „jeder sieht und akzeptiert …, dass der Täter selbst durch eine Bestrafung nicht zu rechtstreuem Verhalten veranlasst werden könnte“ und deshalb „der Einsatz des Strafrechts dort unnötig und unangemessen“18 sei. Die mit dem Schuldurteil vollzogene normative Zuschreibung von Willensfreiheit dürfe also nicht jeglichen empirischen Fundaments entbehren. „Mit den Mitteln der Psychologie und der Psychiatrie empirisch festgestellt werden“ könne immerhin, ob „der Täter im Augenblick der Tat grundsätzlich normativ ansprechbar war“,19 also „die prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung“20 besessen habe. „Mit wissenschaftlich-empirischen Mitteln nicht möglich zu beweisen“,21 sei demgegenüber die Hypothese, dass „in der konkreten Entscheidungslage der Täter sich tatsächlich hätte anders motivieren können“.22 Dass das Strafrecht von der Richtigkeit dieser Hypothese ausgehe, beruhe somit einerseits auf einem empirischen „Befund“, nämlich der tatsächlich erwiesenen normativen Ansprechbarkeit, andererseits jedoch auf einer normativen Zuschreibung, die aber immerhin auf dem besagten empirisch festgestellten Fundament aufbauen könne.23 Roxin zufolge ist „Schuld“ somit 12

Roxin ZStW 96 (1984), 650. Roxin AT I § 19 Rn. 41. 14 Roxin AT I § 19 Rn. 46. 15 Roxin AT I § 19 Rn. 46. 16 Roxin ZStW 96 (1984), 652. 17 Roxin AT I § 19 Rn. 46. 18 Roxin ZStW 96 (1984), 652. 19 Roxin ZStW 96 (1984), 653. 20 Roxin AT I § 19 Rn. 46; ders. SchwZStR 104 (1987), 369. 21 Roxin SchwZStR 104 (1987), 356. 22 Roxin ZStW 96 (1984), 653. 23 Roxin AT I § 19 Rn. 46. 13

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aus zwei Elementen zusammengesetzt und demgemäß als „gemischt empirisch-normativer Begriff“24 aufzufassen.

C. Normative Ansprechbarkeit als empirische Realität unabhängig von Willensfreiheit Entsprechend seinem zusammengesetzten Charakter kann der Roxin’sche Schuldbegriff zwangsläufig nur dadurch auf seine strafrechtliche Angemessenheit hin überprüft werden, dass er gedanklich zunächst wieder in seine beiden Elemente zerlegt wird und dann jedes einzelne Element, empirisches ebenso wie normatives, für sich gesehen und analysiert wird. Als empirisches Element setzt Roxin für „Schuld“ voraus, dass „der Täter im Augenblick der Tat grundsätzlich normativ ansprechbar war“. 25 Es geht also um die Ansprechbarkeit erstens des individuellen Täters26 und nicht irgendeiner geistig oder seelisch mehr oder weniger ähnlich beschaffenen, realen oder konstruierten Vergleichsperson. Es geht zweitens um die Ansprechbarkeit bei Ausführung der versuchsbegründenden Tathandlung und nicht zu irgendeinem Zeitpunkt vorher oder nachher. Es geht drittens um die Ansprechbarkeit konkret „in der Tatsituation“,27 wie Roxin in seiner (ablehnenden) Stellungnahme zur Möglichkeit einer in der Vergangenheit aufgebauten Lebensführungs- oder Lebensentscheidungsschuld klarstellt. Es muss sich viertens um eine Ansprechbarkeit speziell durch die Verhaltensnorm handeln, die der Täter mit seiner Tat verletzt hat, da sonst Unrecht und Schuld nicht kongruent zueinander sein könnten. Die Norm, auf die der Täter hätte ansprechen können, muss also gerade eine solche sein, bei deren Einhaltung die unrechtsbegründende Tatbestandsverwirklichung ausgeblieben wäre – nur auf diese Weise kann „Einzeltatschuld“28 im Roxin’schen Sinne zustande kommen. Um „normativ ansprechbar“ zu sein, muss der Täter Roxin zufolge die „Fähigkeit zur Selbststeuerung“29 im Sinne der Norm aufgewiesen haben, was wiederum zwei psychische Teilfähigkeiten voraussetzt: die Fähigkeit des Täters, sein eigenes Verhalten entsprechend seinem zuvor gebildeten Willen steuern zu können (Steuerbarkeit der Willensbetätigung), und die Fähigkeit desselben Täters, seine eigene Willensbildung durch die in der Tatsituation einschlägige Verhaltensnorm steuern zu können (Steuerbarkeit 24

Roxin SchwZStR 104 (1987), 369. Roxin ZStW 96 (1984), 652. 26 Roxin AT I § 19 Rn. 21. 27 Roxin AT I § 19 Rn. 62. 28 Roxin AT I § 19 Rn. 63. 29 Roxin AT I § 19 Rn. 46; ders. SchwZStR 104 (1987), 369. 25

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der Willensbildung). Eine Steuerbarkeit der Willensbildung durch eine Norm setzt wiederum zweierlei voraus, nämlich erstens die Fähigkeit des Täters zu erkennen, dass überhaupt eine Verhaltensnorm für die konkrete Tatsituation einschlägig ist und welches konkrete Tatverhalten sie von ihm verlangt (Einsichtsvermögen 30), sowie zweitens die Fähigkeit, diese Erkenntnis bei der eigenen Willensbildung auch als Motiv für eine normgemäße Entscheidung im Hinblick auf das künftig vorzunehmende Verhalten (mit) zu berücksichtigen (Motivationsfähigkeit31). Normative „Ansprechbarkeit“ umfasst also sowohl die Offenheit dafür, sich durch die Norm geistig und seelisch ansprechen zu lassen, als auch die Offenheit dafür, in seinem willensgeleiteten Verhalten auf die Norm anzusprechen. Mir scheint, dass Roxin der bisher geleisteten Interpretation seines Kriteriums der „normativen Ansprechbarkeit“ uneingeschränkt zustimmen können müsste. Mit der forensischen Feststellung, dass eine derartige normative Ansprechbarkeit des Täters im konkreten Einzelfall gegeben war, soll andererseits über dessen Willensfreiheit nach Roxin „noch nichts gesagt“32 sein. Dass normative Ansprechbarkeit und Willensfreiheit durchaus voneinander unterscheidbar sind, beweist Roxin, indem er jeden voll zurechnungsfähigen Leser seines Buches als Zeugen aufruft: Obwohl sich diese alle zumindest „in den Normallagen des Lebens“ zu Recht als normativ ansprechbar erlebten, könne damit noch nicht die Willensfreiheit dieser Leser als dokumentiert gelten.33 Möglicherweise sei der Leser stattdessen auch einfach nur dazu determiniert gewesen, sich in der betreffenden „Normallage des Lebens“ durch die Norm ansprechen zu lassen und auf sie anzusprechen. In der Frage der Willensfreiheit glaubt sich Roxin also jedes Bekenntnisses (außer des zum Agnostizismus34) enthalten zu können – und trotzdem „grundsätzlich“ von normativer Ansprechbarkeit ausgehen zu dürfen. Es geht im Rahmen der Schuldfeststellung aber nicht darum, ob normative Ansprechbarkeit und fehlende Willensfreiheit sich im Falle rechtstreuen Verhaltens miteinander vereinbaren lassen, sondern darum, ob dies bei rechtswidrigem Verhalten möglich ist. Denn was auch immer unter „Schuld“ zu verstehen ist, so setzt sie jedenfalls als notwendige Grundlage zunächst ein rechtswidriges Verhalten voraus,35 bei dessen Vornahme dann darüber hinaus auch noch gewisse weitere (im Einzelnen streitige) Elemente erfüllt sein müssen. Eine normative Ansprechbarkeit, der kein „unrechtes

30

Roxin AT I § 19 Rn. 38. Roxin ZStW 96 (1984), 652. 32 Roxin AT I § 19 Rn. 38. 33 Roxin AT I § 19 Rn. 38. 34 Roxin AT I § 19 Rn. 37. 35 Roxin AT I § 19 Rn. 3. 31

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Handeln“36 des normativ Ansprechbaren zugrunde liegt, vermag erst recht keine Schuld zu begründen. Hat der Täter nun aber ein rechtswidriges Verhalten verwirklicht, so steht damit zugleich unumstößlich fest, dass er sich durch die Norm tatsächlich nicht zu rechtmäßigem Verhalten hat ansprechen lassen.

D. Willensfreiheit als Ergebnis einer normativen Zuschreibung Dass jemand hypothetisch durch eine Norm ansprechbar gewesen wäre, der tatsächlich erwiesenermaßen nicht von ihr angesprochen worden ist, lässt sich m. E. allenfalls auf der Basis unterstellter Willensfreiheit behaupten. Denn dem betreffenden Tatbeteiligten wird damit die Fähigkeit zu einer andersgerichteten Willensbildung oder -betätigung attestiert, als er sie tatsächlich psychisch durchlaufen und durchlebt hat. Ein Determinist könnte das wirkliche Bestehen einer solchen Differenz zwischen individuell möglicher und praktisch vollzogener Willensbildung und -betätigung niemals zugestehen, so dass dafür entgegen Roxin37 eben doch auf das unbeweisbare Dogma jedenfalls grundsätzlich vorhandener Willensfreiheit zurückgegriffen werden müsste. Zwar könnte eine solche Willensfreiheit trotz ihrer empirischen Unerweislichkeit und damit u. U. auch kontrafaktisch „normativ zugeschrieben“ werden. Anders als von Roxin gewollt,38 haben wir es dann aber nicht mehr mit einem gemischt empirisch-normativen, sondern mit einem rein normativen Schuldbegriff ohne empirisches Fundament zu tun. An die Stelle der von Roxin empfohlenen Zuschreibung von Willensfreiheit auf der Basis und in den Grenzen empirisch festgestellter normativer Ansprechbarkeit des Täters tritt dann eine von jeglichem empirischen Fundament losgelöste Zuschreibung, die sich allein an den vom Gesetzgeber verfolgten Strafzwecken orientiert und darin allein durch den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt wird.39 Die straflimitierende Funktion, deretwegen Roxin seinen gemischt empirisch-normativen Schuldbegriff entworfen hat,40 könnte ein solcher rein normativer Schuldbegriff zumindest nicht mit derselben Wirksamkeit erfüllen.41 Denn während ein empirisch rückgekoppelter Schuldbegriff als dysfunktional wirkender „Sand im Getriebe“ der Kriminalpolitik unübersteig-

36

Roxin AT I § 19 Rn. 36. Roxin AT I § 19 Rn. 39. 38 Roxin AT I § 19 Rn. 46. 39 So insbesondere Jakobs AT 17/21, 17/22 a. E. und 17/29. 40 Roxin SchwZStR 104 (1987), 358. 41 Roxin ZStW 96 (1984), 646. 37

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bare Schranken setzte,42 wäre ein selbst bereits ausschließlich kriminalpolitischen Zwecksetzungen verpflichteter Schuldbegriff hierzu nicht in der Lage. Und auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eröffnet lediglich die Möglichkeit zur Abwägung zwischen dem individuellen Freiheitsinteresse des Täters und gesamtgesellschaftlichen Präventionsinteressen, 43 garantiert aber gerade kein abwägungsfestes Freiheitsareal gegenüber staatlichen Eingriffen. Um eine derartige Entfesselung der Kriminalpolitik zu vermeiden, fordert Roxin ausdrücklich dazu auf, den Schuldbegriff „zu einem empirisch überprüfbaren Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“44 zu machen. Die normative Zuschreibung von Willensfreiheit müsse deshalb „in der gesellschaftlichen Realität fundiert“ sein und nicht „als etwas Beliebiges“ vollzogen werden.45 Die von Roxin als empirisches Element vorgeschlagene „normative Ansprechbarkeit“ kann diese Fundierung so nicht leisten, da sie selbst bereits Willensfreiheit beim tatsächlich nicht von der verletzten Norm angesprochenen Rechtsbrecher voraussetzt. Wenn Willensfreiheit aber (erst) das Ergebnis einer empirisch fundierten normativen Setzung darstellen soll, dann vermag sie diese normative Setzung nicht zugleich ihrerseits empirisch zu begründen.

E. Willensfreiheit als gesellschaftliche Realität Es ließe sich stattdessen aber möglicherweise an ein anderes empirisches Fundament für die Willensfreiheit denken, etwa an die von Roxin beschworene „gesellschaftliche Realität“,46 dass „das unbefangene Selbstverständnis des normalen Menschen auf diesem Freiheitsbewusstsein beruht und … eine sinnvolle Ordnung des menschlichen Soziallebens ohne die wechselseitige Zubilligung von Freiheit nicht möglich ist“.47 In ähnlicher Weise rechnet Roxins Schüler Bernd Schünemann das Überzeugtsein von menschlicher Willensfreiheit zu jener „elementaren Struktur unserer gesellschaftlichen Kommunikation“, hinter die man „überhaupt nicht zurückgehen kann, solange diese Sprachstrukturen unsere Gesellschaft beherrschen“.48 Schünemanns Schlussfolgerung, deswegen stehe die „Freiheit eines normalen Men42

Roxin AT I § 3 Rn. 51 f.; ders. SchwZStR 104 (1987), 367. Roxin SchwZStR 104 (1987), 367. 44 Roxin AT I § 19 Rn. 53. 45 Roxin AT I § 19 Rn. 42. 46 Roxin AT I § 19 Rn. 42. 47 Roxin SchwZStR 104 (1987), 369. 48 Schünemann Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 164, 166. 43

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schen, sich in einer normalen Situation … rechtskonform zu verhalten, in der Tat als gesellschaftliche Realität fest“,49 überschätzt allerdings wohl die realitätskonstituierende Bedeutung bloßer Kommunikationsstrukuren. Mäße man sprachlichen Usancen tatsächlich eine solche Bedeutung bei, müsste man konsequenterweise auch heute noch trotz Kopernikus der gesellschaftlichen Verbindlichkeit des naturwissenschaftlich längst widerlegten, sprachlich aber lebendig gebliebenen ptolemäisch-geozentrischen Weltbildes huldigen.50 Das weitverbreitete Vorhandensein eines subjektiven Freiheitsbewusstseins mag selbstverständlicher und vom Einzelnen gar nicht mehr hinterfragbarer Teil der kulturellen Identität einer ganzen Gesellschaft sein. Dass innerhalb einer Kultur alle „normalen Menschen“ dieses Freiheitsbewusstsein subjektiv empfinden51 und deswegen auch alle anderen von ihnen als hinreichend „normal“ eingeschätzten Menschen für frei erachten, ist aber noch nicht geeignet, das objektive Bestehen von Willensfreiheit empirisch zu untermauern und dadurch Strafe zu legitimieren. Es könnte vielmehr im Sinne von Friedrich Nietzsche auch umgekehrt so sein, dass das gesellschaftliche Bedürfnis, Verantwortung zuzuschreiben und Strafe zu legitimieren, erst dazu geführt hat, dass die Lehre vom freien Willen in die kulturelle Identität der betreffenden Gesellschaft einging: „Die Lehre vom (freien) Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, d.h. des Schuldig-finden-Wollens … Die Menschen werden frei gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können“.52 Nicht die „gesellschaftliche Realität“ eines freien Willens soll also Schuld dartun und Strafe legitimieren, sondern die bezweckte Straflegitimation verhilft erst dem zum Schuldig-findenKönnen benötigten freien Willen zur „gesellschaftlichen Realität“. Ein empirisches Fundament für die Lehre vom freien Willen gibt ein derartig entstandenes strafinteressengeleitetes Menschenbild jedenfalls nicht ab. Gerade wenn im Sinne Roxins mit dem Schuldprinzip ein „Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“53 errichtet werden soll, dann erscheint dafür ein aufgrund gesellschaftlicher Strafbedürfnisse zustande gekommener und der Entwicklung dieser Strafbedürfnisse entsprechend folglich auch wandelbarer „common sense“ über Bestehen und Reichweite menschlicher Willensfreiheit denkbar ungeeignet. Vergleichsweise dazu bietet Roxins Bezugnahme auf eine empirisch feststellbare normative Ansprechbarkeit dem Schuldprinzip jedenfalls deutlich mehr Halt. Die Schwä49

Schünemann FS Lampe, 2003, 547 f. Vgl. die Wendungen „die Sonne scheint auf die Erde herab“, „die Sterne betreten ihre Himmelsbahn“, „der Mond ist aufgegangen“; dazu Hoyer Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann, 1997, S. 118 f. 51 So Roxin SchwZStR 104 (1987), 369. 52 Nietzsche Götzendämmerung, 1955, S. 977. 53 Roxin AT I § 19 Rn. 53. 50

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che dieses Ansatzes besteht demgegenüber, wie ausgeführt wurde, 54 lediglich darin, dass einem deterministischen Weltbild gemäß jeder Täter sich gerade durch sein rechtswidriges Verhalten selbst nachträglich als normativ unansprechbar erweist und deshalb auf der Grundlage von Roxins gemischt empirisch-normativem Schuldbegriff eigentlich nicht bestraft werden dürfte. Wenn aber das deterministische Weltbild, wie Roxin eingesteht,55 empirisch zumindest derzeit nicht widerlegt werden kann, dann kann umgekehrt die normative Ansprechbarkeit eines dennoch rechtswidrig Handelnden empirisch zumindest derzeit nicht belegt werden. Sie kann allenfalls einem deterministischen Weltbild entgegen vermutet werden, doch taugt eine bloße Vermutung, d. h. eine empirisch nicht als wahr belegbare Hypothese, eben auch nicht als Baumaterial zu dem erstrebten „empirisch überprüfbaren Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“. 56 Legte man eine deterministische Weltsicht zugrunde, so erwiese sich als schuldfähig nur derjenige, der sich durch die Norm zu rechtmäßigem Verhalten bewegen lässt, mangels Unrechts aber gerade keine Schuld auf sich lädt. Umgekehrt beweist jeder rechtswidrig Handelnde gerade durch seine rechtswidrige Handlung, dass es ihm an normativer Ansprechbarkeit und damit Schuldfähigkeit zur Tatzeit gefehlt hat. Einem Strafrecht auf der Basis des Schuldprinzips bliebe bei einem solchen Schuldverständnis letztlich überhaupt kein Anwendungsfeld mehr, die Selbstabschaffung des Strafrechts wäre vollzogen und einem schrankenlosen Maßregelrecht „Tür und Tor“ eröffnet.

F. Normative Ansprechbarkeit aus ex ante-Sicht I. Beurteilungszeitpunkt Meines Erachtens lässt sich derartigen nicht nur für den Strafrechtler, sondern vor allem auch für den Täter wenig erfreulichen Konsequenzen nur dadurch ausweichen, dass „Schuld“ jedenfalls unter bestimmten Umständen auch dann noch angenommen werden kann, wenn der Täter sich durch sein eigenes rechtswidriges Verhalten als normativ nicht ansprechbar erwiesen hat. Maßgebend für das Schuldurteil darf dann nur eben nicht die normative Ansprechbarkeit des Täters aus der ex post-Sicht nach Vornahme seines rechtswidrigen Verhaltens sein, sondern muss stattdessen die ex ante-Sicht aus der Perspektive eines sachverständigen Beurteilers zu dem Zeitpunkt sein, zu dem die Norm den Täter spätestens hätte ansprechen müssen, um noch Einfluss auf dessen Entscheidung für oder gegen das später vor54

Vgl. unter C. Roxin ZStW 96 (1984), 643. 56 Roxin AT I § 19 Rn. 53. 55

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genommene rechtswidrige Verhalten nehmen zu können. Wenn man nun in naturwissenschaftlicher Hinsicht der Auffassung ist, dass Menschen grundsätzlich die Fähigkeit besitzen, einmal gefasste Entschlüsse zu einem rechtswidrigen Verhalten bis zu dem Zeitpunkt wieder aufzugeben, in dem sie unmittelbar zu dessen Ausführung ansetzen, dann wäre die logische Sekunde vor dem Überschreiten der Versuchsschwelle der maßgebliche Zeitpunkt für die ex ante-Beurteilung der normativen Ansprechbarkeit. Vertritt man naturwissenschaftlich dagegen eher die Ansicht, bereits mit der unbewusstneuronalen Entwicklung eines sog. „Bereitschaftspotentials“57 seien der dieses nur nachvollziehende bewusste Verhaltensentschluss und dessen praktische Umsetzung strikt determiniert, so käme es auf den unmittelbar der Herausbildung dieses Bereitschaftspotentials vorangehenden Augenblick an. Abzustellen ist jedenfalls auf einen Beurteilungszeitpunkt, von dem aus sich nach damaligem Stand der Naturwissenschaften nicht generell ausschließen ließ, dass die Verhaltensnorm noch Einfluss auf die menschliche Willensbildung in Bezug auf von ihr erfasstes Verhalten ausüben kann. Denn immer dann, wenn ein derartiger Einfluss der Verhaltensnorm auf die -entscheidung ex ante zumindest möglich erscheint, ist es zwecks Durchsetzung der Verhaltensnorm auch sinnvoll, mit Hilfe der Strafnorm den Versuch zu unternehmen, auf die betreffende Verhaltensentscheidung Einfluss zu nehmen. Die Strafnorm muss deshalb jedem Täter Strafe androhen und dadurch seine Verhaltensentscheidung im Sinne verhaltensnormgerechten Verhaltens zu beeinflussen suchen, bei dem eine derartige Beeinflussbarkeit zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Verhaltensentscheidung tatsächlich fällt, immerhin nicht von vornherein ausscheidet. Nur auf diese Weise lässt sich ein Maximum an Verhaltensbeeinflussung durch die -norm und damit auch ein Maximum an Schutz für das durch die Verhaltensnorm umhegte Rechtsgut erreichen. Es bestehen übrigens Anhaltspunkte dafür, dass Roxin sein Kriterium der normativen Ansprechbarkeit genau in einem solchen durch eine ex anteBetrachtung geprägten Sinne meint: So stellt Roxin ausdrücklich fest, dass der „Einsatz des Strafrechts dort unnötig und unangemessen“ sei, „wo die Annahme, dass ein Mensch durch das Gesetz motiviert werden kann, nach seiner geistigen und seelischen Beschaffenheit von vornherein nicht begründet ist“.58 Eine Strafnorm, die Menschen für eine von ihnen begangene Verhaltensnormverletzung mit Strafe bedrohte, obwohl „von vornherein“ ersichtlich ist, dass sie durch die Verhaltensnorm nicht ansprechbar sind, müsste tatsächlich der verfassungsrechtlichen Legitimität entbehren. Denn 57 Vgl. dazu Libet Haben wir einen freien Willen?, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 272, 277, 280. 58 Roxin ZStW 96 (1984), 652.

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mit dem Erlass der Strafnorm (und nicht erst mit der Bestrafung) verbindet sich ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, der über den mit der Verhaltensnorm bereits verübten Eingriff an Intensität noch hinausgeht und deswegen selbstständig rechtfertigungsbedürftig ist. Eine derartige Rechtfertigung kann bereits darin liegen, dass die Strafnorm zu einer verbesserten Befolgungsquote in Bezug auf die Verhaltensnorm konkret-individuell immerhin beitragen könnte. Soweit aber diese Hoffnung „von vornherein nicht begründet“ erscheint, d. h. in „hoffnungslosen Fällen“, kann keine Norm, die ohne Rücksicht darauf unbeirrt Strafe androht, insoweit noch einen Beitrag zur Effektuierung der Verhaltensnorm leisten.

II. Verhaltens- und Strafnorm Bereits die Verhaltensnorm vermag in solchen hoffnungslosen Fällen keine verhaltenssteuernde Wirkung zu entfalten, ohne dass dies allerdings ihre Legitimität infrage stellt. Denn die Schuldhaftigkeit einer Verhaltensnormverletzung kann aus normlogischen Gründen nicht zu den Voraussetzungen einer Verhaltensnormverletzung gehören, ohne in Aporien zu verfallen.59 Differenzierungen zu treffen, die sich innerhalb der Verhaltensnorm nicht treffen lassen, kann aber auch das Verfassungsrecht nicht fordern. Wohl aber ist eine Differenzierung zwischen schuldhaften und schuldlosen Verhaltensnormverletzungen innerhalb des Tatbestands der Strafnorm möglich und kann deswegen auch verfassungsrechtlich geboten sein, soweit der „Einsatz des Strafrechts“ sonst „unnötig und unangemessen“ ist.60 „Unnötig“ im Sinne von „nicht erforderlich“ ist der „Einsatz des Strafrechts“ aber dort, wo er unzweifelhaft nichts zur Verhaltensnormbefolgung beitragen kann oder wo die Verhaltensnorm unzweifelhaft nichts zum Rechtsgüterschutz beitragen kann. „Unangemessen“ im Sinne von „unverhältnismäßig“ ist der „Einsatz des Strafrechts“ dort, wo der mit ihm verbundenen Freiheitseinschränkung schon aus der ex ante-Sicht nur eine vergleichsweise geringe Verbesserung der Normbefolgungsbereitschaft sowie des Rechtsgüterschutzes gegenübersteht. „Bei geistig oder seelisch kranken und in ihrer Motivationsfähigkeit schwer gestörten ebenso wie bei unreifen Menschen“ ist Roxin zufolge „von vornherein“ nicht zu erwarten, dass sie normativ ansprechbar sein könnten61 – ihr Verhalten erfüllt also zwar den Tatbestand der Verhaltensnorm, mangels insoweit bestehender Schuld aber nicht den Tatbestand der Straf59

A. Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 129, 141 f, 282; Hoyer (Fn. 50) S. 87. 60 Roxin ZStW 96 (1984), 652. 61 Roxin ZStW 96 (1984), 652.

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norm. Anders verhält es sich dagegen bei Menschen, die aus der ex anteSicht normativ durchaus ansprechbar erscheinen, bei denen dann allerdings ihre Tat ex post beweist, dass sie dem Schein zum Trotz offenbar von Anfang an nicht normativ ansprechbar waren (so ein Determinist) bzw. sich ihrer Fähigkeit zum Trotz offenbar nicht normativ ansprechen lassen wollten (so ein Indeterminist). Hier ändert die nachträgliche Kenntniserlangung in Bezug auf die normative Ansprechbarkeit des Täters (so ein Determinist) bzw. in Bezug auf dessen Bereitschaft, sich normativ ansprechen zu lassen (so ein Indeterminist), nichts daran, dass es zwecks Stabilisierung der Verhaltensnorm und mittelbar zwecks Rechtsgüterschutzes sinnvoll war, die Verhaltensnormverletzung vor deren Stattfinden mit Strafe zu bedrohen. Für einen Indeterministen ergibt sich die Legitimität der Strafnorm daraus, dass seiner Ansicht nach eine Fähigkeit des Täters, sich durch die Verhaltensnorm ansprechen zu lassen, zur Tatzeit wirklich bestand und also tunlichst durch die Strafnorm auch gestärkt werden musste. Für den Deterministen ergibt sich die Legitimität der Strafnorm daraus, dass die Fähigkeit des Täters, sich durch die Verhaltensnorm ansprechen zu lassen, zur Tatzeit nicht eindeutig als defizitär erkennbar war, so dass ihr Bestehen einkalkuliert und die Bereitschaft, ggf. von ihr Gebrauch zu machen, durch die Strafnorm gestärkt zu werden verdiente. Immer wenn angesichts der beim individuellen Täter zur konkreten Tatzeit feststellbaren Konstellation innerer und äußerer Umstände ex ante nicht ersichtlich ist, weshalb es an normativer Ansprechbarkeit durch die Verhaltensnorm fehlen sollte, gibt es auch für einen Deterministen gute Gründe, immerhin den Versuch zu unternehmen, den Täter mittels der Strafnorm auch zur Nutzung seiner potentiell vorhandenen normativen Ansprechbarkeit zu bewegen. Wird der Verhaltensnormverstoß dann tatsächlich begangen, so erweist dies allerdings in den Augen des Deterministen unwiderleglich, dass die normative Ansprechbarkeit des Täters von Anfang an nicht gegeben war. Vom Standpunkt der Strafnorm, die auf den Täter einzuwirken versuchen musste, bevor er die Tat beging, war es jedoch ungeachtet der späteren Entwicklung sinnvoll, von der zur Tatzeit möglich erscheinenden normativen Ansprechbarkeit des Täters auszugehen und deren normentsprechenden Einsatz durch gegenläufige Strafandrohungen zu unterstützen. Denselben ex ante-Standpunkt nimmt die Strafnorm beispielsweise auch ein, wenn sie ein unerlaubt riskantes Verhalten als abstraktes Gefährdungsdelikt pönalisiert und dabei von der nachträglich gewonnenen Erkenntnis absieht, dass angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalles gar keine Rechtsgutsverletzung infolge des Tatverhaltens eintreten konnte.62 Auch dass jeder ex post betrachtet noch so untaugliche Verbrechensversuch straf62

Vgl. Roxin AT I § 11 Rn. 160.

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bar bleibt, beruht letztlich auf der ex ante-Gefährlichkeit des Tatverhaltens unter Zugrundelegung der Umstände und Gesetzmäßigkeiten, die sich der Täter subjektiv zur Tatzeit vorgestellt hat.63 Jeweils knüpft die Strafnorm also Sanktionen an Verstöße gegen eine Verhaltensnorm, weil eine derartige Sanktionsbewehrung ex ante betrachtet verbesserte Aussichten darauf eröffnet, dass unmittelbar die Verhaltensnorm und mittelbar das von dieser geschützte Rechtsgut intakt bleiben.

III. Strafandrohungs- und Bestrafungsnorm Noch nicht auf der Ebene der Straf(androhungs)norm, sondern allenfalls und erst auf der Ebene der Bestrafungsnorm, die sich an die staatlichen Strafverfolgungsorgane wendet und deren jeweilige Aufgabe bei der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs regelt, könnte der Umstand eine Rolle spielen, dass der ex ante betrachtet normativ ansprechbare Täter sich durch seine Tat ex post (für einen Deterministen) als normativ unansprechbar erwiesen hat. Während die Straf(androhungs)norm sich aus einer ex ante-Perspektive an potentielle Täter wenden muss, um überhaupt deren Verhaltensentscheidungen beeinflussen zu können, vermag die Bestrafungsbzw. die Strafverfolgungsnorm einen ex post-Standpunkt relativ zu der begangenen Straftat einzunehmen, da sie nicht mehr die längst getroffene Verhaltensentscheidung des Täters, sondern die künftige der Strafverfolgungsorgane beeinflussen will. Im Unterschied zur Strafnorm, die den staatlichen Strafanspruch im Außenverhältnis gegenüber dem Täter begründet, betrifft die Bestrafungsnorm das Innenverhältnis zwischen dem Staat und seinen mit der Verfolgung jenes Strafanspruchs betrauten Organwaltern. Zwar bedarf es für eine derartige Verfolgung zunächst der Existenz eines staatlichen Strafanspruchs, also auch der ex ante bestehenden normativen Ansprechbarkeit des Täters durch die Verhaltensnorm, wie sie (neben einem Verstoß gegen diese) von der Strafnorm vorausgesetzt wurde. Als weiteres Tatbestandsmerkmal der Bestrafungsnorm muss aber zwingend die präventive Zweckmäßigkeit einer etwaigen Bestrafung hinzutreten, wie gerade Roxin wieder gezeigt hat: „Der Gedanke, man könne ein Übel (die Straftat) durch Hinzufügung eines weiteren Übels (des Strafleidens) ausgleichen oder aufheben, ist nur einem Glauben zugänglich, auf den der Staat niemanden verpflichten darf, seit er seine Gewalt nicht mehr von Gott, sondern vom Volke ableitet … Der moderne Staat hat kein Recht, aufgrund philosophischer oder religiöser Auffassungen in die Freiheit seiner Bürger einzugreifen“.64 Daraus ergibt sich, dass der „Zweck der Strafe nur präventiver 63 64

MK-Herzberg § 22 Rn. 5 f. Roxin AT I § 3 Rn. 8 und 48.

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Art sein kann“, wobei „Spezial- und Generalprävention als Strafzwecke nebeneinander stehen müssen“.65 Unter generalpräventivem Blickwinkel kann die Bestrafung eines (nach deterministischer Überzeugung: nur) ex ante normativ ansprechbaren Täters aber durchaus sinnvoll erscheinen. Denn indem der Staat trotz der ex post (durch die Tat) zutage getretenen normativen Unansprechbarkeit des Täters auf die Durchsetzung seines Strafanspruchs nicht verzichtet, untermauert er die Glaubwürdigkeit der Straf(androhungs)norm und damit deren Präventionswirkung gegenüber allen künftigen potentiellen Tätern, die nicht nur ex ante, sondern auch ex post normativ ansprechbar wären. Es können also zwar nur ex post betrachtet normativ unansprechbare Täter bestraft werden, doch verspricht dies generalpräventiven Gewinn gerade gegenüber potentiell normativ ansprechbaren. Spezialpräventiv lässt sich die Bestrafung eines ex post (für den Deterministen) als normativ unansprechbar erwiesenen Täters allerdings nur legitimieren, wenn die Bestrafung zugleich auch der Wiederherstellung seiner normativen Ansprechbarkeit dienen soll. Auch bei deterministischer Weltsicht bleibt es immerhin grundsätzlich möglich, eine in der Vergangenheit defizitäre normative Ansprechbarkeit durch spezialpräventiv zweckmäßige Bestrafung zu stärken, sei es nun positiv durch „Resozialisierung“ oder auch negativ durch wirksamere Abschreckung des Täters. Ein sittlicher Vorwurf gegen den als zur Tatzeit normativ unansprechbar erwiesenen Täter lässt sich auf deterministischer Grundlage zwar nicht erheben. Der von Roxin ins Zentrum gerückten straflimitierenden Funktion eines zu entwickelnden Schuldbegriffs wäre aber Genüge getan, ohne irgendwelche Bekenntnisse für oder gegen das prinzipielle Bestehen menschlicher Willensfreiheit abgeben zu müssen.66 Ob Roxin das hier entworfene Schuldverständnis deswegen inhaltlich zu teilen vermag, wage ich nicht abschließend zu beurteilen. Dass aber jedenfalls ich es Roxins damaligem, oben erinnertem67 Regensburger Vortrag zur Funktion des Schuldbegriffs verdanke, weiß ich ganz gewiss.

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Roxin AT I § 3 Rn. 37. So auch Roxin AT I § 19 Rn. 41 a. E. 67 Vgl. unter A. 66

Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins REINHARD MERKEL

I. Ausgangsfragen Die Frage nach den Voraussetzungen der Schuldfähigkeit eines Täters ist ein Ewigkeitsthema des Strafrechts. Das ist wenig überraschend; denn in ihrem Kern wirft sie das Problem der Willensfreiheit auf, und dieses gehört seinerseits zu den Ewigkeitsthemen der Philosophie, ja alles grundsätzlichen Fragens des Menschen nach sich selbst.1 Kann ein Schuldvorwurf nur dem gemacht werden, der einen „freien Willen“ hat? Hat einen freien Willen nur, wer jeweils auch anders handeln könnte, als er es tut? Wie ließe sich ein solches Andershandelnkönnen für den Einzelfall einer rechtswidrigen Tat klären? Und was bedeutete es für die Schuldfrage, wenn das nicht möglich wäre? Sind dies alles begriffliche, empirische, metaphysische oder normative Fragen? Oder nur abstrakte Titel für eine Vielzahl konkreterer Fragen (und welcher) aus jeder dieser Sphären? Claus Roxin bekennt sich, wie heute wohl die Mehrheit der Strafrechtswissenschaftler, in der Grundsatzfrage der Willensfreiheit zum Agnostizismus, freilich zu einem aufgeklärten, überlegten, nicht einfach desinteressiert abwinkenden Agnostizismus.2 Versteht man, wie es Roxin im Einklang mit dem allgemeinen Sprachverständnis und, soweit ich sehe, der gesamten Strafrechtswissenschaft tut, „Willensfreiheit“ bei (oder zu) einem konkreten Handlungsentschluss allein als die Möglichkeit des Handelnden, sich ceteris paribus auch anders zu entscheiden, nämlich sein Handeln zu unterlassen bzw. etwas anderes zu tun, dann gibt es für diesen agnostischen Standpunkt gute Gründe. Deren wichtigste habe ich anderswo zu klären versucht.3 Von 1 Manche Philosophen halten es für das meisterörterte und meistumstrittene in der Geschichte der abendländischen Philosophie; s. Mackie Ethik, 1983, S. 311 f, Anm.; Matson A New History of Philosophy, Vol I, 1987, S. 158. 2 S. Roxin AT I § 19 Rn. 37, sowie zu den Gründen v. a. Rn. 20 ff. 3 Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008. Diese Klärung ist nicht primär Sache der empirischen Wissenschaften, sondern der Philosophie; freilich darf sich diese dabei keine ontologischen Bekenntnisse oder Selbstverpflichtungen erlauben, welche den unstreitigen

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ihnen soll deshalb im Folgenden nicht die Rede sein. Erörtern will ich vielmehr zwei auf der Hand liegende Anschlussfragen. Erstens: Wenn die agnostische Prämisse zusammen mit dem Prinzip „in dubio pro reo“ es ausschließt, wie Roxin mit Recht anmerkt4, die Schuldfähigkeit eines Täters auf den Vorwurf zu gründen, er hätte „bei Begehung der Tat“ anders handeln und seine Tat unterlassen können: welche andere Eigenschaft des Täters als eine so definierte Willensfreiheit käme dann als zentrales Kriterium seiner Schuldfähigkeit in Betracht? Zweitens: Wäre ein solches anderes Kriterium mit dem Wortlaut des § 20 StGB vereinbar? Und wichtiger: mit den Geboten des verfassungsrechtlich garantierten Schuldprinzips5, dessen konstitutive Elemente – grob: Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – die Vorschrift nach (fast) einhelliger Auffassung exemplarisch zum Ausdruck bringt?6 Die Antworten Roxins auf beide Fragen sind wohlbekannt. Zur ersten: Nicht das Andershandelnkönnen eines Täters bei Begehung der Tat begründe seine Schuldfähigkeit, sondern seine „normative Ansprechbarkeit“. Damit werde nicht etwa eine „unbeweisbare Hypothese gefordert, sondern [ein] erfahrungswissenschaftlicher Befund“. Lasse sich dieser im konkreten Fall feststellen, so dürfe der Richter bzw. der strafende Staat – „ohne dies im Sinne der Willensfreiheit beweisen zu können und zu wollen“ – gleichwohl von der Fähigkeit des Täters ausgehen, sich normgemäß zu verhalten. Das besage nicht, der Täter habe tatsächlich anders handeln können, „was wir eben nicht wissen können“, sondern nur, „dass er bei intakter Steuerungsfähigkeit und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit als frei behandelt wird“. Mit diesem nach der Einsichtsfähigkeit zweiten Element der Schuldbestimmung werde die Freiheitsannahme also postuliert: als „normative Setzung“.7 Hierauf gründet Roxin auch seine Auskunft zur zweiten der oben gestellten Anschlussfragen, der nach der Vereinbarkeit einer solchen Konzeption mit § 20 StGB. Nach dieser Norm wie nach dem Schuldprinzip selbst müsse das Strafrecht „von der Willensfreiheit ausgehen [...], obwohl sie nicht exakt beweisbar ist“.8 Den Anforderungen, die sich daraus für die Schuldfähigkeit ergäben, genüge der dargelegte „gemischt empirisch-normative“ Schuldbegriff auf die bestmögliche Weise: indem er eine feststellbare Tatsache (den psychologischen Befund der „normativen Ansprechbarkeit“) mit Grundsätzen der heutigen Physik widersprechen. Doch die Prämissen im Streit um die Willensfreiheit í deterministische bzw. indeterministische Grundüberzeugungen í sind keine empirisch überprüfbaren, sondern metaphysische Hypothesen (S. 20, 116). 4 Roxin AT I § 19 Rn. 21 (a. E.); dazu auch Merkel (Fn. 3) S. 115 ff. 5 Zur einschlägigen Judikatur des BVerfG H.A. Wolff AöR 124 (1999), 55. 6 Zu dem einschränkenden „fast“ s. das nachfolgende Kapitel II zur Lehre Herzbergs. 7 Alle Zitate Roxin AT I § 19 Rn. 36, 37; grdl. ders. ZStW 96 (1984), 641, 643, 650 f. 8 Roxin AT I § 19 Rn. 41.

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einer Zuschreibung (der unausweichlich vorauszusetzenden Freiheit zum Anderswollen bzw. Andershandeln) verbinde. Damit nehme er, sagt Roxin, mit Blick auf § 20 StGB „vom herkömmlichen Begriff des ‚Andershandelnkönnens’ doch alles auf, was forensisch greifbar ist“.9 Zwei Rückfragen drängen sich auf: Was genau bedeutet „normative Ansprechbarkeit“? Und zweitens: Genügt diese dem Schuldprinzip und § 20 StGB wirklich schon deshalb, weil sie dem „Andershandelnkönnen“, ohne es jemals zu erreichen, doch so nahe wie möglich kommt und daher kurzerhand als sein Surrogat genommen werden kann? Anders gefragt: Lässt sich die eingestandenermaßen unaufhebbare Lücke zwischen einem solchen Surrogat und jenem freien Willen zum Andershandeln, von dem nach Roxin „das Strafrecht ausgehen muss“, tatsächlich einfach per „Zuschreibung“ schließen? Beiden Fragen will ich im Folgenden nachgehen. Für das Schuldfähigkeitskriterium des Andershandelnkönnens werde ich dabei der Abkürzung halber gelegentlich das Akronym „PAM“ verwenden – für „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“, nämlich eines Täters in seinem Wollen und Handeln beim Begehen seiner Tat.10

II. Ein prinzipieller Einwand: Rolf D. Herzbergs deterministische Lehre von der Charakterschuld Aber vielleicht sind beide Fragen schon grundsätzlich verfehlt, weil ihre Prämisse falsch ist: die Behauptung, das strafrechtliche Schuldprinzip und § 20 StGB setzten für die Schuldfähigkeit eines Täters unabdingbar PAM voraus. Bestritten hat dies jüngst Herzberg in einer scharfsinnigen, höchst anregenden Schrift.11 Ich verkürze deren Gedankenvielfalt hier auf zwei Grundannahmen. Die erste ist Herzbergs Bekenntnis zu einem universalen Determinismus: Alle Vorgänge der Welt, das menschliche Handeln eingeschlossen, unterlägen einem strikten Schema kausaler Notwendigkeit. Daraus folge, dass sich kein Mensch, schuldfähig oder nicht, bei irgendeiner seiner Handlungen jemals anders entscheiden könne, als er sich tatsächlich entscheidet.12 Was sich hier zunächst öffnet, ist ein weites Mienenfeld ungeklärter philosophischer Streitfragen. Weder gibt es einen Konsens darüber, was „Determinismus“ heißt (in der einschlägigen Diskussion finden sich Dutzende von Bedeutungen etwa physikalischer, logischer, psychologi9

Roxin AT I Rn. 46. Das entspricht dem in der philosophischen Debatte gebräuchlichen Kürzel „PAP“ („principle of alternative possibilities“); Präzisierungen des Prinzips bei Merkel (Fn. 3) S. 16 ff. 11 Herzberg Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010. 12 Herzberg (Fn. 11) S. 1 ff, passim; nur diese Freiheit (i. S. von PAM) hält Herzberg mit der h. L. für wirkliche Willensfreiheit, alles andere für faule philosophische Ausreden (S. 65 f). 10

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scher, metaphysischer und theologischer Provenienz), noch darüber, was an all diesen Konzeptionen empirisch überprüfbar ist und was lediglich metaphysische Hypothese. Und nahezu sämtliche dieser Probleme kehren, mutatis mutandis, wieder in den Debatten zur Kausalität bzw. zum Problem des sog. universalen Kausalgesetzes (Kausalprinzips), der These einer strikten „kausalen Notwendigkeit“ in der Abfolge aller Begebenheiten der Welt.13 Alles das lasse ich, wie der Autor auch, beiseite; stattdessen setze ich eine knappe, für unsere Zwecke hinreichende Umschreibung von „Determinismus“ in der von Herzberg gemeinten Variante voraus. Danach gab und gibt es seit dem Urknall von jeder Raum-Zeit-Stelle aus stets nur eine einzige physikalisch mögliche Zukunft: Was immer geschieht, ist das einzige, was geschehen kann. Die Linien, die sämtliche Weltzustände in der Zeit miteinander verbinden, sind dabei die einer naturgesetzlich verstandenen Kausalität. Es ist offensichtlich, dass ein so verstandener Determinismus Willensfreiheit im Sinne von PAM ausschließt.14 Ob das eine überzeugende Weltsicht ist, kann offenbleiben. Widerlegbar ist sie nicht.15 Schon deswegen muss sie von einem Agnostiker wie Roxin (und dem Verfasser dieser Zeilen) als möglicherweise richtig akzeptiert werden. Auf ihrer Grundlage schlägt Herzberg eine von der gängigen Deutung radikal abweichende Auslegung des § 20 StGB vor. Dessen Merkmal der Steuerungsunfähigkeit, das „2. Stockwerk“ der Schuldunfähigkeitsfeststellung16, dürfe nicht so verstanden werden, wie es Literatur und Rspr. fast einhellig tun, nämlich so:

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Zu einigen dieser Fragen Merkel FS Puppe, 2011, 151 ff. Heute dürften freilich nur noch wenige Philosophen oder Physiker einen solchen universalen Determinismus (sogar zwischen geistigen und physischen Ereignissen!) akzeptieren. Herzberg spricht, im Anschluss an Schopenhauers „Preisschrift über die Freiheit des Willens“ (und sachlich an Kant), mehrmals vom „Kausalgesetz“ als „notwendiger Denkform“ (Fn. 11 S. 7, 31 u. ö.). Aber eine (selbst „notwendige“) „Denkform“ ist, kantianisch gesprochen, eine bloße Verstandeskategorie; über die Ontologie der Welt, die objektive Realität eines universalen Kausalprinzips, besagt sie nichts. 14 Nicht aber das subjektive Erleben der eigenen Entscheidung als „frei“. Den Grund dafür sieht Herzberg (S. 37 ff) in dem, was er „kleine Willensfreiheit“ nennt: der (erlebten) Freiheit eines Handelnden, sich genau so zu entscheiden, wie er es tut, und eben nicht anders (im Sinne von PAM). Manchen Philosophen (und Strafrechtlern) genügt schon dies, um den Handelnden „eben darum [als] in praktischer Rücksicht wirklich frei“ zu beurteilen und hierauf Schuldvorwurf und Strafe zu gründen (Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 448). Das ist freilich unhaltbar; zur Kritik dieser und diverser weiterer, weder homogener noch konsistenter Auffassungen Kants zur Willensfreiheit Merkel (Fn. 3) S. 51 ff, 118 ff. 15 Beweisbar freilich auch nicht, und wissenschaftlich schon gar nicht (s. o. Fn. 3 und 13). 16 Das erste Element dieses „2. Stockwerks“ (Einsichtsunfähigkeit) wirft im Kontext der Frage nach der Willensfreiheit keine Probleme auf und bleibt deshalb hier außer Betracht.

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Sinn § 20f(alsch): „Schuldunfähig ist ein Täter genau deshalb, weil er nicht anders handeln kann (was zudem auf einer ‚krankhaften seelischen Störung’ usw. beruhen muss).“ Denn für einen konsequenten Deterministen wie Herzberg kann niemand jemals anders handeln, als er handelt; das Nichtandershandelnkönnen kommt daher als Kriterium der Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und -unfähigkeit nicht in Frage. Diese deterministische Prämisse werde von § 20 StGB keineswegs, wie allgemein angenommen wird, negiert, sondern im Gegenteil anerkannt und vorausgesetzt. Zu lesen sei die Vorschrift daher so: Sinn § 20k(orrekt): „Schuldunfähig ist nur der Täter, der gerade wegen seiner ‚krankhaften seelischen Störung (usw.)’ so handelt, wie er handelt – und nicht etwa, wie ein normaler Straftäter, wegen seines schlechten Charakters, seiner Gier, seiner Bosheit oder irgendeines anderen, vom ‚1. (biologischen) Stockwerk’ des § 20 nicht erfassten Motivs. Dass er dabei nicht anders handeln kann, ist ohne Bedeutung, denn das kann ein Handelnder nie; entscheidend ist allein die motiverzeugende pathologische Ursache dafür.“17 Mit dem Schuldprinzip kollidiere das nicht. Denn der Schuldvorwurf hänge entgegen der landläufigen Annahme, die dies irrig e contrario dem § 20 StGB entnehme, keineswegs ab von der Willensfreiheit im Sinne von PAM. Vielmehr müsse man ihn von dieser verfehlten Prämisse abtrennen und den Begründungszusammenhang zwischen beiden „nicht nur in Frage stellen, sondern mit Entschiedenheit zerbrechen“. Deshalb könne auch Roxins Lehre, die Willensfreiheit müsse „normativ gesetzt“ werden, „nur verwirren“; da hier nichts zu setzen sei, postuliere sie etwas „für die Schuldfrage Belangloses“.18 Das ist eine mögliche, mit dem Wortlaut des § 20 StGB ohne weiteres verträgliche Auslegung. Sie hat den Vorzug, das Problem der Willensfreiheit, wenn nicht zu lösen, so doch als ewig umstrittene Grundlage der Schuld ad acta zu legen.19 Ich selbst habe an anderer Stelle diese Deutung des § 20 StGB als jedenfalls wortlautverträglich erwogen, aber aus sachlichen Gründen verworfen, weil sie „ein evidentes und schwer lösbares Ge17

Zu dieser knappen Zusammenfassung seiner Lehre s. Herzberg (Fn. 11) S. 1 f, 62 ff. Herzberg (Fn. 11) S. 87. 19 Sie macht als einzige § 20 StGB gänzlich friktionsfrei und buchstabengetreu anwendbar: mit dem oben skizzierten „Sinn § 20k“. Damit werden alle Zwänge der h. M. obsolet, die Lücke zwischen dem behaupteten Erfordernis „Willensfreiheit“ und der Unmöglichkeit seines Nachweises mit irgendwelchen Konstruktionen (z. B. Roxins „normativer Setzung“) zu überbrücken. 18

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rechtigkeitsproblem“ erzeuge.20 Herzberg tadelt diese Ablehnung.21 Sein wichtigstes Argument dafür ist, neben seiner deterministischen Prämisse, der Verweis auf eine fundamentale soziale Praxis der Zuschreibung von Lob und Tadel für Handlungen von Personen. Sie sei nicht nur ein Faktum unserer Lebenswelt, sondern entspreche auch unseren zweifelsfreien normativen Intuitionen, nämlich diesen: (1.) Zwischen den Voraussetzungen für Lob und Dank einerseits und für Schuld und Tadel andererseits bestehe eine normative Symmetrie: „Die böse Tat, der Tadel, der Schuldvorwurf und die Bestrafung haben die gute Tat, das Lob, den Dank und die Belohnung zu positiven Gegenstücken.“22 Und (2.): Das Lob für eine gute Tat hänge ganz offensichtlich nicht von der Willens- oder Entscheidungsfreiheit ab; auch der strengste Determinist halte ein solches Lob für richtig und geboten. Wer das verneinen wollte, müsste z. B. einen Retter, der ohne jedes Nachdenken, nur seinem unmittelbaren Antrieb folgend, unter Einsatz seines eigenen Lebens das eines bedrohten Anderen vor dem Tod bewahrt habe, darüber belehren, dass er dafür „weder Lob noch Dank verdiene“; denn „die Tat sei ihm nicht zuzurechnen; er könne ja nichts dafür, sei unausweichlich dazu gezwungen gewesen“. Eine solche Belehrung, sagt Herzberg mit Recht, „wäre Unfug. Kein Mensch fände sie richtig, wir alle wissen es besser.“ Nicht bloß obwohl, sondern gerade weil der Beweggrund des Retters für diesen zwingend gewesen sei, loben und bewundern wir ihn für die Tat, die als von seinem Charakter determinierte ganz fraglos seine gewesen sei.23 Wegen der Symmetrie zwischen den Bedingungen für Lob und Tadel müsse aber für den Schuldvorwurf das Gleiche gelten: „Wenn uns nun [im Retterfall] die die Zurechnung verneinende Folgerung so offensichtlich ad absurdum führt, dann bleibt nur, in umgekehrter Richtung die Konsequenz zu ziehen.“ So wenig wie für das Lob der guten habe für Tadel und Bestrafung der bösen Tat eine Freiheit des Täterwillens im Sinne von PAM irgendeine Bedeutung. Lediglich die Fähigkeit des Handelnden, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, sei für beide Reaktionsweisen vorausgesetzt; denn nur mit ihr sei er tauglicher Normadressat. Und nur hierauf, auf die Einsichtsfähigkeit, passe Roxins Konzept der 20

Merkel (Fn. 3) S. 113, Fn. 176. Herzberg (Fn.. 11) S. 107. Richtig ist Herzbergs Hinweis, die gängige Annahme, das Gesetz setze für die Schuldfähigkeit eines Täters dessen Andershandelnkönnen voraus, sei keineswegs e contrario aus § 20 StGB abzuleiten. Setzt man, wie Herzberg, die oben als „Sinn § 20k“ bezeichnete Deutung der Vorschrift voraus, dann ist dieser Umkehrschluss sogar „offensichtlich falsch“ (Fn. 11). Setzt man aber mit der herrschenden (und meiner eigenen) Auffassung den obigen „Sinn § 20f“ voraus, dann ist der Umkehrschluss freilich ebenso offensichtlich richtig. Zur Frage, welche der beiden Deutungen vorzugswürdig ist, s. den weiteren Text. 22 Herzberg (Fn. 11) S. 90. 23 Herzberg (Fn. 11) S. 91. 21

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„normativen Ansprechbarkeit“ (während es für die angeblich erforderliche Steuerungsfähigkeit zum Andershandeln so sinnlos sei wie diese selbst). Sei diese kognitive Bedingung konkret erfüllt, dann hätten Tadel und Schuldvorwurf, nicht anders als Lob und Dank, in Wahrheit zuletzt den Charakter des Handelnden zum Gegenstand. Und genau darin gründe ihre Legitimität, auch und gerade in einer determinierten Welt ohne freien Willen:24 Wer man als Person in seiner „Wesensbeschaffenheit“ (geworden) sei, der sei man nun einmal; dafür habe man stets einzustehen, für Defekte im Sinn des § 20 StGB dagegen grundsätzlich nicht.25 Gegen diese Lehre gibt es, bei aller Suggestivität ihrer Beweisführung, gewichtige Einwände. Unbestreitbar erscheint mir allerdings zunächst Herzbergs Annahme, dass niemand, auch kein Determinist, der bei Verstand ist, das Lob für eine gute Tat mit dem Argument ablehnen würde, sie sei für den Handelnden rebus sic stantibus unvermeidbar gewesen. Wenn Luther seine Rede vor dem Wormser Reichstag mit dem Ausruf beschließt „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“, dann bewundern wir ihn für seinen Mut und seine Unbeugsamkeit, gerade weil wir seinen Satz in dessen Buchstäblichkeit ernst nehmen, also nicht obwohl, sondern weil, ja wohl nur weil der Redner tatsächlich „nicht anders“ konnte. Man erwäge nur umgekehrt die Vorstellung, Luther wäre ein windiger Charakter gewesen und seine Stellungnahme vor Kaiser und Fürsten daher ex ante ganz unbestimmt (indeterminiert), weshalb ihr letzter Satz mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch gegenteilig hätte ausfallen können, nämlich als Widerruf seiner Lehren. Die Kulturgeschichte hätte ihm Lob und Bewunderung für sein „Ich kann nicht anders“ gerade im Wissen darum, dass er sehr wohl und genauso gut anders gekonnt hätte, vermutlich vorenthalten, und man kann nur sagen: mit Recht. Dennoch glaube ich nicht, dass sich mit einer völligen Ablösung des Schuldvorwurfs von der Willensfreiheit (im Sinne von PAM) das Problem einer Legitimation der Schuldstrafe ohne einen dunklen Rest normativen Unbehagens lösen lässt.26 An zwei prinzipiellen Einwänden gegen Herzbergs Lehre möchte ich das zeigen.

24 Herzberg (Fn. 11) S. 92; Herzbergs philosophischer Gewährsmann für die Charakterschuldlehre ist Schopenhauer (Fn. 13); genauer zur „Charakterschuld“ unten, sub. II. 2. 25 Herzberg (Fn. 11) S. 114 sowie zusammenfassend S. 125. 26 In meinem Buch (Fn. 3, S. 136) spreche ich von einer „dunkel bleibenden Grenze“ unseres Bemühens um eine Rechtfertigung der Schuldstrafe; das kritisiert Herzberg (Fn.11, S. 105 f und 68 ff), aus seiner Sicht konsequent, als grundlos. Der Kritik liegt freilich auch ein Missverständnis zugrunde (s. dazu unten, zu und in Fn. 67).

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1. Symmetrie zwischen Lob und Tadel? Nicht einleuchtend finde ich schon die Annahme, die personalen Bedingungen für Lob und Dank seien denen für Tadel und Strafe analog (symmetrisch). Als einzigen Beleg seiner gewiss richtigen Behauptung, niemand würde dem im Wortsinne bedenkenlosen Lebensretter unter Hinweis auf dessen Determiniertsein Lob und Dank verweigern, führt Herzberg eine universal geteilte Intuition an („Wir alle wissen es besser“), und das mag ja ausreichen. Aber genau deshalb hätte er zögern sollen, mit seiner Symmetriebehauptung die doch vermutlich ebenfalls universale Intuition zu verdrängen, wonach zwischen „Es war für ihn ganz unvermeidbar, das fremde Leben zu retten, aber wir danken ihm dafür“ und „Es war für ihn ganz unvermeidbar, das fremde Leben zu vernichten, aber wir bestrafen ihn dafür“ ein normativ gewichtiger Unterschied besteht. Die Symmetrieannahme erwächst aus einer Betrachtung, die nur den Handelnden, seine Tat und deren motivationale Grundlagen in den Blick nimmt, daraus die Zurechenbarkeit der Tat ableitet – und nun allein damit die anschließende Reaktion von Lob und Dank bzw. Tadel und Strafe legitimiert. Aber Strafe verletzt. Auch mit Blick auf diesen spezifischen Eingriffscharakter (und nicht nur auf persönliches Verdienstsein) muss sie legitimiert werden; eben seinetwegen bedarf sie einer zureichenden Begründung. Lob und Dank tun das nicht; sie begünstigen. Deshalb bedürfen sie zu ihrer Legitimation nicht nur keiner zureichenden, sondern überhaupt keiner Begründung. Schon dies erweist Herzbergs Symmetrieprinzip als wenig plausibel. Betrachtete der strikt deterministische Beurteiler einer selbstlosen Lebensrettung allein den Handelnden, dessen Tat und ihre motivationalen Grundlagen, und sagte sich dabei: „Er konnte, genau bedacht, nichts dafür, dass er ein Leben gerettet hat; im Sinne einer rein persönlich begründeten Letztverantwortung verdient hat er das Lob daher nicht“, so wäre diese Überlegung keineswegs „Unfug“, sondern richtig und konsequent. Unfug und grob schlechtes Benehmen wäre es freilich, deswegen den Dank ostentativ zu verweigern. Denn davon würde eine profunde Regel des sozialen Lebens verletzt, die (gerade für den Deterministen) zahlreiche andere gute Gründe für sich hat als den eines absoluten persönlichen Verdientseins des Danks an den Retter – Gründe anthropologischer, soziologischer, psychologischer, ja evolutionsbiologischer Art.27 Das genaue normative Gewicht dieser Gründe kann offenbleiben; denn für Lob und Dank braucht man gar keine. Ganz anders für Tadel, Schuldvorwurf, Strafe. Nimmt man als Determinist (oder Agnostiker) an, ein Straftäter habe bei Tatbegehung (möglicher27

Es dürfte für soziale Gruppen ein Selektionsvorteil sein, über solche Regeln des Lobens und Dankens ein zwischenmenschliches Klima kooperativer Freundlichkeit zu begünstigen.

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weise) nicht anders handeln, seine Tat nicht vermeiden können, dann konstatiert man zugleich, dass der Täter in einem robust plausiblen Sinn für sein Tun „nichts konnte“. Ist das aber so, dann verdient er im oben apostrophierten Sinn einer rein personal begründeten „absoluten Letztverantwortung“ die Strafe nicht. Was damit gesagt sein soll, erschließt sich am besten, wenn man nach der Begründbarkeit einer Schuldzurechnung nur mit Blick auf den Täter fragt, also losgelöst (eben „absolut“) von allen sozialen Notwendigkeiten. Dabei ist die religiöse Erzählung von Himmel und Hölle zur Veranschaulichung hilfreich.28 „Absolute Letztverantwortung“ heißt: Die Behauptung, es wäre in bestimmten Fällen gerecht, wenn jemand für seine weltlichen Taten ins Feuer ewiger Verdammnis geschickt würde, hat nach unseren Begriffen einen klaren, normativ plausiblen Sinn. (Um diesen zu verstehen, bedarf es ersichtlich keines Glaubens an Himmel und Hölle.) Ich behaupte nun: Unter der Prämisse eines strikten kosmologischen Determinismus hätte diese Annahme keinen normativ verständlichen Sinn. Stets könnte der arme Sünder zu dem göttlichen Richter sagen: Warum bestrafst du mich für etwas, das allein die von dir geschaffene Welt aus mir gemacht hat – für mich unausweichlich und unvermeidbar? Nach unseren normativen Begriffen wäre die Ratlosigkeit dieser Frage gut begründet, die Behauptung einer rein persönlich verdienten Verdammnis ohne fassbaren Sinn. Zur Legitimation von Schuldvorwurf und Strafe bedarf es somit offenbar noch anderer als bloß täter-interner Grundlagen, solcher außerhalb seiner Person und seiner Eigenschaften zur Tatzeit. Gründe dieser Art gibt es sehr wohl (und ich komme darauf zurück). Aber es sind eben täter-externe Gründe, solche der gesellschaftlichen Normverteidigung, und daher zuletzt utilitaristischer Provenienz. Das wirft besondere Legitimationsprobleme auf. Mit dem Verweis auf eine normative Parallele zwischen der Zurechnung von Lob und Dank für gute und der von Schuld und Strafe für böse Taten sind sie weder zu umgehen noch zu lösen. Denn diese Parallele gibt es nicht. Dass wir den Dank für eine determinierte (unvermeidbare) gute Tat ganz zu Recht problemlos finden, ändert nichts daran, dass uns die Vorstellung, eine unvermeidbar determinierte böse Tat werde als schuldhaft verurteilt und bestraft, zumindest Unbehagen verschafft.

2. Charakter, Krankheit und Schuldvorwurf Das materielle Fundament für Herzbergs Symmetrie-These ist seine Annahme, Schuldvorwurf und Strafe seien trotz fehlender Willensfreiheit deshalb berechtigt, weil (außerhalb des § 19 StGB und der in § 20 StGB genannten Defektzustände) das Motiv einer Tat nichts anderes sei als 28

Dieses Illustrationsbeispiel aus G. Strawson Philosophical Studies 75, 1994, S. 5, 9 f.

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Ausdruck des Charakters eines Handelnden. Für seinen Charakter müsse man aber einstehen, weil man nun einmal der sei, der man ist – eben die Person mit diesem Charakter. Als was, so mag man fragen, wolle, ja könne man denn sonst genommen werden, wenn nicht als eben der, der man ist? Mit dem Tatschuldprinzip des Strafrechts kollidiere das nicht; bestraft werde stets nur die konkrete Tat. Aber dass trotz deren (möglicherweise) vollständigen Determiniertseins der auf sie bezogene Schuldvorwurf ohne Rest legitimierbar sei, erkläre sich überzeugend mit ihrer Herkunft aus dem Charakter des Täters.29 Ich glaube nicht, dass sich unser Problem so lösen lässt. Wenn die Determinismus-Prämisse stimmt und daher in einem handfesten Sinne niemand etwas für seine Handlungen kann, dann erst recht nicht für den Charakter, der unvermeidbar deren Motive erzeugt und sich in ihnen manifestiert.30 Gewiss ist (jedenfalls bei nicht mental kranken Personen) die Entwicklung des eigenen Charakters in erheblichem Maß eine Art „Selbstschöpfung“. Denn dieser wird auch, ja vornehmlich durch die unzähligen eigenen Handlungen und deren Folgen geformt, die das Leben eines Menschen begleiten und gestalten: von dessen Anfängen als vollständig abhängiges Wesen zu einer, wenn nicht willensfreien, so doch in bestimmtem (anderen) Sinne autonomen Person. Doch wird auch dadurch niemand zur letztverantwortlichen causa sui. Der britische Philosoph Galen Strawson formuliert das plastisch: „’Charakter ist Schicksal: Dein Charakter determiniert dein Schicksal. Deshalb ist radikale Freiheit ausgeschlossen’, sagen Heraklit, Novalis, George Eliot u. a. ‚Nicht so schnell’, sagen die Sartreaner: ‚Der Charakter mag das Schicksal determinieren, aber Charakter ist Wahl! Er ist zuletzt Produkt eigenen Wählens [nämlich der Motive für zahllose eigene Handlungen]; in diesem Sinne wählt man auch den eigenen Charakter. Radikale Freiheit ist also möglich.’ ‚Vielleicht ist Charakter Wahl’ erwidern die [Anderen], aber Wahl ist Charakter: Dieser determiniert jedes Mal, wie und was gewählt wird, selbst die Wahl des Charakters. Und Charakter ist Schicksal. Also ist radikale Freiheit am Ende unmöglich.“31 29 Vgl. Herzberg (Fn. 11), S. 95 ff, 113 ff, der sich dabei v. a. auf Schopenhauers „Preisschrift“ (s. Fn. 13) als philosophische Quelle stützt; so schon Engisch Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 1963, S. 14, 46 ff. Die Grundlagen sind freilich viel älter; s. Aristoteles Nikomachische Ethik, III/2., systematisch erstmals bei Hume Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, VIII/2.Teil. 30 Ebenso Roxin AT I § 19 Rn. 29; Arth. Kaufmann Das Schuldprinzip, 1976, S. 279. 31 G. Strawson The Bounds of Freedom, in: Kane (Ed.), The Oxford Handbook of Free Will, 2002, S. 449; „radikale Freiheit“ ist das Pendant zur oben apostrophierten „absoluten Letztverantwortlichkeit“. Zur Gegenposition, die bestimmte charakterformende Handlungen für frei

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Das heißt nicht, dass Personen ihren Charakter nicht willentlich verändern könnten; in vielerlei Hinsichten können sie das selbstverständlich. Es heißt nur, dass sie ihn nicht durch Handlungen verändern können, für die sie (im obigen Sinne) „letztverantwortlich“ wären, die also einen Schuldvorwurf allein mit Blick auf die handelnde Person zu begründen vermöchten. Den Freiheitsmangel hebt Herzberg selbst hervor. Den Schuldvorwurf hält er gleichwohl für legitim und sieht sich dabei im Einklang mit dem Gesetz. Nicht ein „Nichtandershandelnkönnen“, sondern allein die in § 20 StGB genannten mentalen Defekte seien gesetzliches Kriterium der Schuldunfähigkeit.32 Die Charakterschuldlehre erkläre das plausibel: Krankheiten oder Behinderungen seien ersichtlich keine Charaktereigenschaften, sondern persönlichkeitsextern, ein böses Schicksal. Für so etwas habe man, anders als für Charaktermängel, nicht einzustehen. Ein Gerechtigkeitsproblem sieht Herzberg hierin nicht, auch wenn er als Determinist nicht leugnen könnte und gewiss nicht würde, dass man für den eigenen Charakter so wenig kann wie für eine „krankhafte seelische Störung usw.“.33 Unbeschadet der Gerechtigkeitsfrage (die mir keineswegs obsolet erscheint), glaube ich nicht, dass § 20 StGB sinnvoll so zu deuten ist. Der abstrakte Grund ist dieser: Da die strikt deterministische Auslegung des § 20 StGB das Nichtandershandelnkönnen als Kriterium der Schuldunfähigkeit streicht, kennt sie als mögliche Exkulpationsgründe nichts anderes als die in § 20 StGB genannten mentalen Defekte. Motive anderen Ursprungs müssen dann eo ipso als schuldbegründend gelten und als nicht dem Defektbereich entstammende ausnahmslos dem Charakter zugeschlagen werden.34 Die wechselseitig exklusive Abgrenzung „Krankheit vs. Charakter“ ist aber bei weitem zu grob, um der Unterscheidung „schuldunfähig vs. schuldfähig“ eine tragfähige Grundlage zu geben. Sie schließt einerseits zu viel in § 20 StGB ein, andererseits zu viel aus ihm aus. Denn erstens sind manche kriminellen Motive weder krankhaft noch charakterbedingt, haben vielmehr eine vollständig charakter-externe Ursache, begründen daher keinen Charakterschuld-Vorwurf und kommen – trotz Fehlens eines krankhaften Defekts i. S. von § 20 StGB – als exkulpierend in Betracht. Und zweitens gibt es Tatmotive, die ausschließlich krankheits-, also nicht im Mindesten charakterbedingt sind und dennoch keine Exkulpation erlauben.

und verantwortlichkeitsbegründend hält, Kane The Significance of Free Will, 1996, S. 60 ff; zur Kritik hieran Merkel (Fn. 3) S. 74 ff. 32 S. o. zu und in Fn. 17 („Sinn § 20f“ vs. „Sinn § 20k“). 33 Herzberg (Fn. 11) S. 108 (gegen Merkel [Fn. 3] S. 113); s. hierzu auch u. Fn. 42. 34 Konsequent verwirft Herzberg (Fn. 11) S. 116 f, deshalb die „schwere andere [nichtkrankhafte] seelische Abartigkeit in § 20 StGB als legislativen Missgriff und widersprüchliche Regeldurchbrechung“.

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Einige konkrete Beispiele mögen das illustrieren – als erstes ein von Herzberg selbst für seine Auslegung des § 20 StGB herangezogener Fall, über den ich vor einiger Zeit berichtet habe: der eines amerikanischen Lehrers, der nach Jahrzehnten gesetzestreuen Lebens plötzlich hemmungslos pädophilen Neigungen nachgab. Als deren zweifelsfreie Ursache wurde ein Hirntumor diagnostiziert, mit dessen operativer Entfernung die unheilvollen sexuellen Neigungen schlagartig wieder verschwanden.35 Meiner Vermutung, die meisten deutschen Strafgerichte würden eine so entstandene Pädophilie wohl ohne jedes Räsonieren über deren Beherrschbarkeit als Exkulpationsgrund nehmen, habe ich die Frage nachgeschoben, was eigentlich (1.) einen tumorbedingten von einem lebensgeschichtlich entstandenen Hirnzustand, der jeweils zur Pädophilie disponiert, prinzipiell unterscheide, und wie sich (2.), falls es einen solchen Unterschied nicht gebe (was mir evident erscheint), die unterschiedliche strafrechtliche Behandlung beider Fälle sub specie Schuldfähigkeit begründen lasse. Die Erklärung, antwortet Herzberg, liege „auf der Hand“: Auszugehen sei von der Unfähigkeit beider Täter, „sich zu zügeln“. „Doch nur beim ersten beruht sie, wie es § 20 StGB voraussetzt, auf einer krankhaften (tumorbedingten) seelischen Störung. Beim zweiten hat sie keinen exkulpierenden Grund.“ Hier sei sie Folge einer „Triebanomalie“, die nicht entschuldige, „so mächtig“ sie auch sein möge.36 Aber warum sollte ein und derselbe Grad an Pädophilie einmal eine „krankhafte seelische Störung“ sein, das andere Mal dagegen nicht, je nachdem, ob ihm die Ursache X oder die Ursache Y zugrunde liegt? Der Tumor als Ursache ist freilich krankhaft, aber gewiss keine „seelische Störung“. Wie könnte das Krankhafte der körperlichen Ursache sich der genuin nichtkrankhaften mentalen Folge mitteilen und sie zu einer „krankhaften seelischen“ machen? Herzberg liest, sieht man genauer hin, „krankhaft“ in § 20 StGB als „krankheitsbedingt“. Das ist sub specie Charakterschuld nur konsequent, ja geradezu geboten. Denn krankheitsbedingte Zustände sind nun einmal nicht dem Charakter anzulasten; und wenn man die strikte Dichotomie „entweder Krankheit oder Charakter“ propagiert, bleibt nichts anderes übrig, als „krankheitsbedingte“ mit „krankhaften“ Zuständen gleichzusetzen. Aber „krankhaft“ ist nicht dasselbe wie „krankheitsbedingt“. Es bedeutet „mit (eigenem) Krankheitswert“, nicht dagegen „von Krankheit verursacht“. Und im Gesetz steht nur „krankhaft“. Ob Pädophilie eine 35

S. Merkel (Fn. 3) S. 105 ff; Originalquelle: Burns/Swerdlow Archives of Neurology 60, 2003, S. 437 ff. Die Kausalität des Hirntumors stand auch deshalb außer Zweifel, weil ein Jahr nach seiner erster Entfernung und dem damit verbundenen Verschwinden der Pädophilie, beide, Tumor wie Pädophilie, rezidiviert waren – und eine zweite Operation erneut mit dem Tumor auch die verirrten sexuellen Neigungen beseitigte. 36 Herzberg (Fn. 11) S. 109.

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„krankhafte seelische Störung“ ist oder nicht, ist also allein mit Blick auf den pädophilen Zustand selbst, nicht aber auf seine ggf. krankhafte Ursache zu entscheiden. Mit dieser unrichtigen Gleichsetzung führt nun, meine ich, die Charakterschuldlehre zugleich auf einem Irrweg zu falschen Lösungen. Weder sind alle krankhaften seelischen Störungen krankheitsbedingt, noch sind umgekehrt alle krankheitsbedingten seelischen Störungen krankhaft. Ursachen geben ihre Eigenschaften ja nicht notwendig an ihre Folgen weiter, und körperliche Ursachen an ihre seelischen Folgen erst recht nicht. Das von einer entstellenden Hautkrankheit verursachte Schamgefühl eines jungen Mädchens ist selber weder entstellend noch krankhaft, wie übertrieben und „unnormal“ es auch sein mag. Und als Beispiel eines Schuldproblems: Den früher stets freundlichen und hilfsbereiten Herrn A lässt ein schwerer, dauernder, nicht-therapierbarer Migräneschmerz zum hasserfüllten Misanthropen werden; deshalb begeht er eine Gewalttat. Soll er allein wegen dieser krankhaften Ursache nach § 20 StGB exkulpiert werden? So eindeutig charakterfern die Quelle seines Tatmotivs ist: das allein entschuldigt ihn nicht; „krankhaft“ im Sinne der Norm ist Misanthropie nicht. Die deterministische/charakterschuldorientierte Lesart des § 20 StGB muss das bestreiten und A exkulpieren. Denn sie hat kein Kriterium mehr, diesen Fall von solchen mit sicher exkulpierenden Krankheitsbedingungen zu unterscheiden. Ein Andershandelnkönnen des A scheidet als solches Kriterium a limine aus. Ebenfalls verfehlt muss ihr aber Roxins moderatere Frage erscheinen, ob A, und zwar im Hinblick auch auf seine Steuerungsfähigkeit, immerhin „normativ ansprechbar“ gewesen sei. Denn wenn sein Nichtandershandelnkönnen feststeht, dann ist die Frage, ob er im Hinblick auf ein Andershandeln im konkreten Fall „normativ ansprechbar“ gewesen sei, tatsächlich „belanglos“.37 Nun mag man freilich die Notbremse ziehen und sagen, As Charakter sei eben durch den Schmerz ein anderer geworden: der eines Misanthropen. Aber das hilft nicht. Denn dieses Argument gilt natürlich für die tumorbedingte Pädophilie ganz genauso, und im Übrigen für jeden anderen krankheitsbedingten mentalen Zustand auch. Nun wird man solche Fälle vielleicht lebensfremd finden und die an ihnen erprobten Argumente haarspalterisch und überflüssig. Aber mit Unrecht. Längst zeichnet sich ab, dass Sachverhalte dieser Art auf die strafrechtliche Schuldlehre zukommen werden. Verschiedene neuartige Methoden der Gehirnintervention zu therapeutischen Zwecken werfen zunehmend Probleme unerwarteter mentaler Nebenwirkungen auf, die manchmal kriminogen sind. Betrachten wir vier exemplarische Fälle: (1.) den Parkinson-Patienten P1, dem im Wege einer sog. Deep Brain Stimulation (DBS) ein „Hirn37

So Herzberg (Fn. 11) S. 87 (s. o. zu Fn. 18).

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schrittmacher“ implantiert wird, welcher hypersexuelle Antriebe und entsprechende Übergriffe des P1 verursacht; (2.) den Patienten P2, der als Folge seiner Hirnstimulation ihm vorher wesensfremde Ausbrüche impulsiven Jähzorns erleidet und deshalb Gewalttaten begeht38; (3.) den liebevollen, aber schwermütigen Familienvater F, der von seinem Arzt das Antidepressivum „Prozac“ erhält und infolge dieser Medikation seine Frau, seine Tochter und eine Enkelin tötet39; und schließlich (4.) den ehedem stets freundlichen Tumorpatienten T, in dessen Gehirn die erforderliche Operation irreversible neuronale Folgen hinterlässt, die zwar seine kognitiven und sonstigen lebenspraktischen Fähigkeiten nicht berühren, aber seine emotionalen und motivationalen Eigenschaften nachhaltig verändern und ihn zu einem aggressiven Gewalttäter machen. Keine der kriminogenen Veränderungen an diesen Menschen ist charakterbedingt. Sollen sie schon deshalb ausnahmslos exkulpieren? Aber keine ist auch einfach krankheitsbedingt; direkt sind sie ja – nachgerade im Gegenteil – alle therapiebedingt gewesen. Soll jeweils schon das die Schuldfähigkeit der Täter gewährleisten? Freilich mag man, unter Verweis auf die Transitivität von Kausalrelationen, sagen: Da die Therapiemaßnahmen selbst krankheitsbedingt waren, sind es mittelbar auch ihre Verhaltensfolgen. Nun, dann erneut: Sollten diese schon deshalb exkulpiert werden? Die richtige Antwort auf alle drei Fragen ist, das erscheint mir offensichtlich, ein nachdrückliches „nein“.

3. Übergang: Tatmotive jenseits von Krankheit und Charakter Zweierlei drängt sich als Konsequenz auf: Erstens bestätigen die Beispiele meine obige Behauptung, dass die Dichotomie „Krankheit oder Charakter“ als materielle Grundlage der Schuld(un)fähigkeits-Bestimmung zu grob ist. Innerhalb wie außerhalb beider Bereiche brauchen wir weitere Differenzierungsmöglichkeiten und für diese ein sachliches Kriterium jenseits von Krankheit und Charakter. Denn mit diesen beiden sind zwar mögliche Quellen, aber damit noch kein zwingender materieller Grund der Schuld(un)fähigkeit benannt. Und zweitens: genau hierfür ist der vierte in § 20 StGB 38 Beide Nebenfolgen der DBS, Triebanomalien wie Gewalttätigkeit, sind inzwischen als mögliche, wenn auch seltene Risiken des Verfahrens dokumentiert; s. Romito et al. Movement Disorders 17, 2002, S. 1371 ff; Frank et al. Science 318, 2007, S. 1309 ff; Appleby et al. Movement Disorders 22, 2007, S. 1722 ff. 39 Nach einem berühmten Fall in den USA; dazu Barondes Better Than Prozac, 2003, S. 135 ff; im wirklichen Fall tötete sich der Täter zuletzt selbst; die Kausalität des Medikaments wurde im Zivilprozess der Erben gegen den Pharma-Hersteller festgestellt. In Amerika haben Fälle wie dieser bereits den Begriff „Prozac Defence“ (zugunsten der Schuldunfähigkeit solcher Täter) entstehen lassen; s. dazu Bublitz/Merkel Bioethics 23, 2009, S. 360 ff.

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genannte exkulpierende Zustand, die „schwere andere seelische Abartigkeit“, unentbehrlich: als gesetzlicher Ankerpunkt für jenes zusätzlich notwendige Sachkriterium.40 Herzberg bezeichnet – aus seiner Charakterschuld-Perspektive konsequent – das Merkmal in Sinn und Funktion als verfehlt, als „Regeldurchbrechung“ ohne „innere Berechtigung“.41 Aber der Tadel spricht gerade in seiner Schlüssigkeit ebenfalls gegen seine Prämisse: die charakterschuldbezogene Deutung der Norm.42 Was genau wäre jenes erforderliche Unterscheidungskriterium jenseits von Krankheit und Charakter? Nach der gängigen Auslegung des § 20 StGB und dem daraus gezogenen e-contrario-Schluss ist es die (Un)Fähigkeit des Täters, im Tatzeitpunkt „nach seiner Einsicht“ in das Verbotene seines Tuns zu handeln, also anders, als er es tut. Dieses Kriterium taugt in seiner Wörtlichkeit nichts: Das ist das (wiewohl umstrittene) Resultat der Diskussion um die Willensfreiheit im Sinne von PAM.43 Hier kann man Herzberg nur nachdrücklich zustimmen. Ob ein Täter im Moment seines Ansetzens zur Tat unter identischen Außen- und Innenweltbedingungen (einschließlich seines Gehirnzustands) anders hätte handeln können, ist eine Frage, deren Antwort wir nicht nur „nicht wissen können“ (Roxin), sondern die auf der Grundlage unserer heutigen Weltauffassung keinen vernünftigen Sinn hat.44 Freilich führt die ersatzlose Streichung des Andershandelnkönnens als Merkmal der Schuldfähigkeit in die oben dargelegten Dilemmata der Alternative „Krankheit oder Charakter“. Nicht schon und nur Krankheit schließt Schuld aus, und nicht schon und nur der Charakter begründet sie. Der Schuldvorwurf für eine wie auch immer bedingte Handlung setzt vielmehr 40

Die Kritik an der antiquierten Formulierung des Merkmals kann hier dahinstehen. Herzberg (Fn. 11) S. 116 f. 42 Sie lädt der Norm, das ist nun deutlich, zwei Gerechtigkeitsprobleme auf: (1.) das (von Herzberg freilich bestrittene) Unbehagen, die Schuldfähigkeit bei zwei gleichermaßen determinierten Tätern ungleich beurteilen zu sollen, weil das Motiv des einen seiner Krankheit, das des anderen seinem (genauso determinierten) Charakter entstammt. Und (2.) das Unbehagen, zwar krankheitsbedingte (charakterfremde) Motive als exkulpierend anzuerkennen, nicht aber andere Motivursachen, die für den Täter genauso charakterfremd und verhängnisvoll sind (z. B. buchstäblich mörderische Nebenwirkungen von „Prozac“). 43 Aus der unendlichen Literaturflut zur philosophischen Debatte s. die Nachweise bei Merkel (Fn. 3, S. 7 - 109, naturgemäß nicht annähernd vollständig); zum Strafrecht außer den bisher Genannten insbes. MüKo-Streng § 20 Rn. 51 ff. 44 Der Verweis auf unsere Weltauffassung macht diesen Satz nicht etwa zu einem primär empirischen (s. o. Fn. 3)! Vielmehr: die anerkannten Naturgesetze ziehen den zulässigen ontologischen Selbstverpflichtungen der philosophischen Analyse nur gewisse Grenzen. Verneint man einen starken Leib-Seele-Dualismus, also die Möglichkeit mentaler Vorgänge ohne jede physiologische Grundlage (und daran geht heute schwerlich ein vernünftiger Weg vorbei), dann wird die Behauptung, ein Handelnder hätte sich trotz Gegebenseins sämtlicher physiologischen Bedingungen für seinen Entschluss zur Handlung X auch zu Y entschließen können, nicht bloß unplausibel, sondern inkohärent; sie führt in einen infiniten Regress. 41

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voraus, dem Handelnden eine bestimmte Art von Autonomie zuzuschreiben – eine Autonomie, die mit dem untauglichen Begriff einer Freiheit zum Andershandeln freilich nichts zu tun hat. Was sie bezeichnet, ist vielmehr ein hinreichendes Maß an (sei es determinierter) Fähigkeit zur motivationalen und also normativen Selbstkontrolle. Das ist eine sehr abstrakte Formel. Sie dient mir zunächst nur als Pendant zu Roxins Begriff der „normativen Ansprechbarkeit“.45 So vage und abstrakt auch dieser ist: ich meine, er ist ein plausibler Titel und der richtige Ausgangspunkt für die weitere Klärung der Probleme. Was der sog. Steuerungsunfähigkeit in § 20 StGB einen rationalen Sinn (freilich nicht den der Gesetzformulierung) gibt46, ist somit das Fehlen dieser „Ansprechbarkeit“. Was genau besagt das?

III. Normative Ansprechbarkeit 1. Dispositionalität Besagt es überhaupt etwas anderes als „Fehlen der Willensfreiheit“ im Sinn eines Anderswollenkönnens? Das bestreitet Frister. Er versteht unter „normativ ansprechbar“ plausiblerweise, dass der Täter im Tatzeitpunkt eben für ein anderes Handeln als das verbotene „ansprechbar“ gewesen sein müsse. Dann gebe es aber keinen relevanten Unterschied zum untauglichen Kriterium der „Willensfreiheit“; „normative Ansprechbarkeit“ sei nur eine „Umformulierung des Problems“. So wenig entschieden werden könne, ob ein Täter seinen Antrieb zur Tat nicht unterdrücken konnte oder nicht wollte, so wenig sei entscheidbar, ob er sich insofern nicht ansprechen lassen wollte oder nicht angesprochen werden konnte.47 Die Kritik beruht auf einem Missverständnis, das allerdings von der ungeklärten Dunkelheit des Kriteriums begünstigt wird. „Ansprechbar“ ist, was Frister auch deutlich sieht, ein sog. Dispositionsprädikat (wie „löslich“, „zerbrechlich“, „biegsam“ u. ä.). Solche Begriffe werfen zahlreiche umstrittene Probleme auf. Über einige ihrer trivialen Grundcharakteristika gibt es aber einen weitreichenden Konsens.48 Zu diesen gehört, dass Dispositionen zwar echte (intrinsische) Eigenschaften ihrer jeweiligen Inhaber sind, sich 45

Die Formel geht, worauf Roxin hinweist, zurück auf Noll FS H. Mayer, 1966, 225, und steht in der Tradition des von Franz v.Liszt geprägten Begriffs „normale Bestimmbarkeit durch Motive“. 46 Auf dieses Wortlautproblem komme ich unten, sub. III. 4., zurück. 47 Frister MschrKrim 1994, 316, 318; ders. Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 118 ff. 48 S. etwa Heil From an Ontological Point of View, 2003, S. 85 f; Fara Dispositions, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/dispositions. (m. w. N.).

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aber am bequemsten dadurch explizieren lassen, dass man eine (oder mehrere) ihrer potentiellen Manifestationen demonstriert, die ihrerseits statt der dispositionellen nur noch sog. „kategorische“ Eigenschaften aufweisen. Was es z. B. bedeutet, dass Zucker löslich und Glas zerbrechlich ist, zeigt sich regelmäßig sofort, wenn man dieses auf den Boden und jenen in Flüssigkeit wirft. Ein Unterschied im Grad ihres Wirklich-Seins besteht zwischen dispositionellen und kategorischen Eigenschaften übrigens nicht: Die Zerbrechlichkeit des Glases vor dessen Bodensturz war nicht weniger, nur (auf eine schwer durchschaubare Weise) anders real als sein Zerbrechen und die Bruchstücke nach seinem Fall.49 Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit der „normativen Ansprechbarbarkeit“? Der Begriff kann, und insofern hat Frister recht, nicht anders expliziert werden als mit der Erläuterung, sein dispositionelles Element manifestiere sich in bestimmten Situationen als tatsächliches normadäquates Verstehen und Reagieren des Inhabers der Disposition. Irrig ist aber Fristers beiläufige Annahme, diese Situation des Sichmanifestierens müsse eben die der konkreten rechtswidrigen Tat sein.50 In ihr hat sich die „Ansprechbarkeit“ gerade nicht manifestiert; und die Behauptung, sie hätte sich unter vollkommen identischen Weltbedingungen manifestieren können, ist sinnlos, wie Frister richtig anmerkt. Aber das bestreitet Roxin ja nicht; er erklärt lediglich, ein wenig moderater, die Behauptung für prinzipiell nicht verifizierbar. Doch macht deren Sinnlosigkeit keineswegs auch die ganz andere Behauptung sinnlos, der Täter habe im Moment seiner Tat gleichwohl die dispositionelle Eigenschaft der „normativen Ansprechbarkeit“ gehabt, und diese manifestiere sich in bestimmten (anderen!) Situationen sehr wohl als wirkliches normtreues Verhalten. Um das an der oben erwähnten Disposition der Zerbrechlichkeit zu illustrieren: Lässt man ein Glas auf den Boden fallen und es zerbricht dabei wider Erwarten nicht, sondern erst beim zweiten Fallenlassen, dann kann man völlig konsistent das Folgende sagen: (1.) Das Glas war bei seinem ersten Fall auf den Boden zerbrechlich; (2.) es ist aber dabei nicht zerbrochen, und die Behauptung, unter absolut (bis ins letzte Atom der involvierten Materie) identischen Weltbedingungen hätte es aber zerbrechen können, ist gänzlich sinnlos; (3.) dennoch war es auch beim ersten Fall zerbrechlich; das hat (4.) die anschließende Manifestation dieser Disposition beim zweiten Fall hinreichend deutlich gemacht. In genau demselben Sinn kann man sagen: (1.) Der Täter war beim Begehen seiner Tat normativ ansprechbar, hatte also die Disposition, in bestimmten Situationen tatsächlich normadäquat zu reagieren; (2.) in der Tatsituati49 Der Philosoph N. Goodman spricht von der „vergleichsweise ätherischen“ Existenzform dispositioneller Eigenschaften; s. ders. Tatsache, Fiktion, Voraussage, 1975, S. 59. 50 Vgl. Frister MschrKrim 1994, 318:.(„auf die Begehung der Tat [!] gerichteter Antrieb“).

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on hat er aber nicht normadäquat reagiert, und die Behauptung, er hätte es unter absolut identischen Innen- und Außenweltbedingungen gleichwohl gekonnt, ist sinnlos; (3.) dennoch war er auch in dieser Tatsituation normativ ansprechbar, wie (4.) allerlei sonstige Situationen seines bisherigen Lebens hinreichend deutlich machen. Nichts daran ist inkohärent. Gewiss gibt es keinen Zwang, Dispositionsbegriffe in eben diesem Sinn zu deuten; aber er ist ihr weitaus plausibelster. Wer unbedingt will, mag ja sagen: Das Glas war beim ersten Fall, so wie dieser in sämtlichen mikrophysikalischen Einzelheiten nun einmal tatsächlich vonstatten ging, wenn man’s ganz genau nimmt, nicht zerbrechlich. Aber das wäre eine sehr missliche Semantik. Sie schlösse beiläufig auch die Möglichkeit aus, von Gläsern, die unbehelligt an ihrem Platz in der Vitrine stehen, zu sagen, sie seien zerbrechlich. Roxin hat also Recht51: Selbst der strenge Determinist kann ohne Selbstwiderspruch akzeptieren, dass ein rechtswidrig handelnder, willensunfreier Täter auch im Moment seiner determinierten Tatbegehung „normativ ansprechbar“ und in diesem Sinn hinreichend autonom gewesen sein kann. Zwar ist diese Disposition, mit Nelson Goodmans Wort, eine etwas „ätherische“, aber dennoch eine vollkommen reale, intrinsische Eigenschaft ihres Inhabers. Noch immer nicht klar ist freilich, was sie genau besagt.

2. Die Grundelemente: Rezeptivität und Reaktivität Auf der Hand liegt, dass der Täter nicht für irgendeine, sondern für die richtige Norm „ansprechbar“ sein muss: die konkrete des Strafrechts, die er gebrochen hat. Und ebenfalls offensichtlich ist, dass er nicht nur zum passiven Objekt eines Angesprochenwerdens disponiert sein muss (was man ja etwa auch dem Kölner Dom bescheinigen mag, an den hin man etwas sprechen kann). In seiner Bedeutung für die Schuldfähigkeit enthält der Begriff vielmehr zwei konstitutive Elemente, die man anschaulich „Rezeptivität“ und „Reaktivität“ nennen kann.52 Der Handelnde muss zunächst rezeptiv (sensitiv) für den Sinn des Normbefehls unter den konkreten Umständen der Handlungssituation sein. Das gehört in der Sache primär zum Erfordernis der Einsichtsfähigkeit, wie es (e contrario) dem § 20 StGB zu entnehmen ist. Es setzt, meine ich, mindestens dreierlei voraus: Erstens ein Minimum an kognitivem Realismus des Täters in seiner Wahrnehmung und Beurteilung der Handlungssituation. Zweitens seine Fähigkeit, die tatsächlichen Elemente dieser Situation als Anwendungsbedingungen des Normbefehls zu 51

Roxin AT I § 19 Rn. 37. Auch die philosophische Diskussion zur (moralischen) Verantwortlichkeit unterscheidet diese beiden Elemente; s. statt vieler Fischer/Ravizza Responsibility and Control. A Theory of Moral Responsibility, 1998, S. 62 ff. 52

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identifizieren, also seine Wahrnehmung mit dem Inhalt der Norm zu verbinden. Und drittens ein hinreichendes und konsistentes Verständnis für den Rang der Norm in der Hierarchie des Systems von Rechten und Pflichten unserer Rechtsordnung. Alle drei Erfordernisse seien knapp erläutert. Zum ersten: Hinreichend rezeptiv (oder sensitiv) für die Tatsachen seiner Handlungssituation ist ein Täter regelmäßig schon dann, wenn er diejenigen ihrer Elemente zutreffend wahrnimmt, die maßgeblich sind für die normative Beurteilung seiner konkreten Tat. Andere Umstände dieser Situation mag er durchaus verkennen, ggf. sogar ad absurdum. Wer etwa glaubt, er sei der wiedergeborene Napoleon oder der leibhaftige Messias oder er handle zur Abwehr der drohenden Attacke eines „Katzenkönigs“ auf die Menschheit, ist nicht schon deshalb schuldunfähig, sofern er nur im Übrigen realistisch wahrnimmt, dass er zum Töten, Rauben oder Stehlen ansetzt.53 Was ebenfalls zu dem für die Rezeptivität des Täters vorausgesetzten Maß an kognitivem Realismus gehört, ist seine grosso modo realistische Selbstwahrnehmung als Handelnder, und das heißt als der (wodurch immer motivierte) Urheber seiner Entschlüsse und seines Tuns. Daran fehlt es z. B., wenn er sich subjektiv im Wollen und Handeln als ausschließlich fremdgesteuert durch Andere erlebt, wie es nicht selten bei Schizophrenen der Fall ist. Hinreichend tatsachen-sensitiv ist ein Handelnder, zweitens, nur dann, wenn er diejenigen Bestandteile der Handlungssituation, welche den (dann ignorierten) Normbefehl anwendbar machen, zutreffend identifizieren und in eben dieser Funktion begreifen kann. Also beispielsweise, wenn er versteht, dass der Schlag, zu dem er ausholt, eine andere Person verletzen wird, was grundsätzlich nicht sein soll, oder dass ein ins Wasser gefallenes Kind ertrinken wird, falls man ihm nicht hilft, was ebenfalls nicht sein soll, etc. Schließlich muss, drittens, der Täter die von solchen Umständen evozierte Norm in ihrem Gewicht halbwegs konsistent in das System der allgemein verbindlichen Pflichten einordnen können. Wer zutreffend annimmt, dass man unbeteiligte Dritte auch zur Lebensrettung Anderer nicht töten darf, und sich grundsätzlich auch daran hält, ist insofern ohne weiteres normativ ansprechbar. Glaubt er aber außerdem, dieses Verbot der Rettungstötung werde für ihn immer dann zwingend aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt, wenn ein entsprechender Befehl der Erzengel an ihn ergehe, so handelt er, falls er eine solche Befehlslage annimmt und genau deshalb tötet, nicht etwa im Verbotsirrtum. Vielmehr ist er in einer seine Schuldfähigkeit ausschließenden (oder doch vermindernden) Weise normativ nicht an-

53 Freilich ist der Glaube, Napoleons Wiedergänger oder der Retter der Menschheit vor dem Katzenkönig zu sein, regelmäßig ein gravierendes Indiz dafür, dass es an anderen Bedingungen der Schuldfähigkeit als der einer ausreichenden Tatsachen-Rezeptivität fehlen dürfte.

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sprechbar.54 Denn immer wenn er ein entsprechendes Gebot der Erzengel, das zu befolgen ihm möglich ist, zu vernehmen meint, ist er nicht einmal dispositionell fähig, den Gehorsam zu verweigern und die fremdnützige Opferung eines Menschenlebens zu unterlassen. Nicht schon, dass er an Befehle von Erzengeln glaubt, hebt seine Schuldfähigkeit auf. Aber dass er hinter solchen Befehlen das rechtliche Tötungsverbot ausnahmslos zurücktreten lässt, also dessen Bedeutung nicht konsistent begreift, schließt in diesen Situationen seine hinreichende Rezeptivität für die Brücke zwischen Sachlage und Normbefehl aus – und damit seine „normative Ansprechbarkeit“. Hat er in einer solchen Lage mit sich selbst und irgendwelchen Zweifeln immerhin zu ringen, so bleibt er, wenngleich vermindert, schuldfähig.55 Hier wird das zweite konzeptuelle Element der „normativen Ansprechbarkeit“ neben dem bisher skizzierten der Rezeptivität sichtbar: das einer bestimmten Reaktivität. „Ansprechbar“ im hier gemeinten Sinn ist man ersichtlich nicht schon dann, wenn man versteht, dass und womit man angesprochen wird, sondern erst dann, wenn man grundsätzlich auch in der Lage ist, auf diese „Ansprache“ adäquat zu reagieren. In diesem Sinne ist ein Täter nur dann hinreichend autonom, nämlich hinreichend fähig zur motivationalen Selbstkontrolle gegenüber seinen Impulsen zum rechtswidrigen Handeln, wenn er zudem über ein bestimmtes Maß an Fähigkeit zur richtigen Reaktion auf den Normbefehl verfügt. Dazu gehört mehr, als den von der Norm ausgehenden Nötigungsdruck zu kennen oder zu fühlen und sich ihm regelmäßig beugen zu können. Auf diese Weise ansprechbar und reaktiv gehorsamsfähig ist auch ein gut dressierter Hund. Erforderlich ist ein wenigstens grundsätzliches Verständnis dessen, was es bedeutet, Adressat einer Pflicht zu sein. Hierfür bedarf es zwar nicht, wie Kant meinte, eines Bewusstseins des Sittengesetzes als eines „Factums“ der reinen praktischen Vernunft.56 Wohl aber muss der Handelnde sich selbst als jemanden begreifen können, der für den Fall des Sich-Hinwegsetzens über den konkreten Normbefehl fairerweise – nämlich im Einklang mit der allgemein geltenden Normenordnung – zum Ziel einer sanktionierenden Reaktion gemacht werden kann. Dann versteht er, was es besagt, dass ein bestimmtes Handeln für ihn gesollt oder verboten ist. Dieses Element der Reaktivität kann mit dem der oben dargelegten Rezeptivität in mancherlei Zusammenhängen stehen. Wer etwa sein eigenes Tun subjektiv als von „Aliens“ ferngesteuert erfährt, ist einerseits nicht hinreichend sensitiv gegenüber den Tatsachen, und andererseits genau deshalb regelmä54

Das war übrigens ungefähr die Sichtweise des unmittelbaren Täters im „Katzenkönigsfall“; s. die ausführliche Darstellung bei Merkel Die Zeit, Nr. 39 (23.9.1988), S. 11 ff. 55 Wie der Täter im Katzenkönig-Fall, dem daher auch § 21 StGB zugebilligt wurde. 56 Kant Kritik der praktischen Vernunft, § 7, AA Bd. V, 1908, S. 31.

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ßig auch nicht hinreichend reaktiv gegenüber dem Normbefehl. Denn als potentiellen Adressaten einer fairen Sanktion für sein Verhalten kann er sich schwerlich verstehen, wenn er dieses allein als mechanischen Vollzug eines fremden Willens erlebt. Das genau macht ihn schuldunfähig.

3. Schuldfähigkeit trotz schicksalhafter Kausalgeschichte des Tatentschlusses? Wenn „normative Ansprechbarkeit“ eine bestimmte Fähigkeit zur motivationalen Selbstkontrolle bezeichnet und diese der Ausdruck einer bestimmten Form von Autonomie ist, dann liegt die Frage nahe: Muss sich eine solche Kontrollmöglichkeit nicht auch auf die unmittelbare kausale Vorgeschichte des mentalen Zustands eines Handelnden im Tatzeitpunkt erstrecken, eines Zustands, der ja nicht nur die „normative Ansprechbarkeit“ realisiert, sondern auch das Tatmotiv und zuletzt den Tatentschluss umfasst? Ist es nicht unfair, für die Frage der Schuldfähigkeit des Täters allein seine aktuelle normative Ansprechbarkeit in den Blick zu nehmen, nicht aber die Entstehungsgeschichte seines Tatmotivs? „Normativ ansprechbar“ ist ja eine zweistellige Relation: Man ist ansprechbar (1.) für eine Norm und (2.) im Hinblick auf ein bestimmtes Handlungsmotiv. Je drängender das Motiv auf den Täter wirkt, desto weniger mag seine normative Ansprechbarkeit dagegen ausrichten können. Wenn die Entstehung des Motivs naturkausal, z. B. krankheitsbedingt programmiert, also für den Täter schicksalhaft unvermeidlich war, muss sie dann nicht neben seiner Kontrollfähigkeit (Ansprechbarkeit) zur Tatzeit berücksichtigt werden? Man erinnere sich an die oben gegen die Charakterschuldlehre angeführten Fälle krankheits- bzw. therapiebedingter Tatmotive: den allein durch einen Hirntumor erzeugten Trieb zum pädophilen Übergriff oder das ausschließlich als mörderische Nebenwirkung eines Psychopharmakons entstandene Tötungsmotiv.57 Soll die Frage der Schuldfähigkeit eines solchen Täter davon unberührt bleiben, dass ohne den bösartigen organischen Kausalverlauf das ihm vollständig charakterfremde Tatmotiv schon nicht hätte entstehen, geschweige denn seine normative Ansprechbarkeit hätte überwältigen können? In der moralphilosophischen Diskussion zu Freiheit und Verantwortlichkeit ist die Frage seit langem umstritten.58 Die ethischen Intuitionen dazu 57

S. o. zu und in Fn. 35 und 39. Nämlich unter Philosophen, die Verantwortlichkeit nicht auf ein Andershandelnkönnen, sondern auf ein hinreichendes Maß an dispositioneller Autonomie gründen (in der Philosophie die deutlich h. M); exemplarisch Frankfurt J. of Philosophy 66, 1969, S. 829: für einen „strukturalistischen“, die Vorgeschichte des Motivs ignorierenden Begriff dispositioneller Autonomie; dagegen Fischer/Ravizza (Fn. 52): für einen „historistischen“, die kausale Vorgeschichte in Grenzen berücksichtigenden Begriff; zu dieser Debatte eingehend Bublitz/Merkel (Fn. 39). 58

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sind auch alles andere als deutlich. Wer nachweislich nur wegen eines Tumors zum Pädophilen oder allein wegen eines Psychopharmakons zum Totschläger geworden ist, für dessen Schuldlosigkeit sprechen gewichtige Gründe: Ein Motiv zur verbotenen Tat, das stark genug war, seine „normative Ansprechbarkeit“ zu überwältigen, konnte nur ein böses, für ihn nicht beeinflussbares Schicksal in ihm entstehen lassen; sein eigener Charakter wäre dazu nicht in der Lage gewesen, wie sein gesamtes vorheriges Leben als rechtstreuer Bürger und guter Familienvater zeigt.59 Für dieses ihm schicksalhaft aufgezwungene Motiv, so könnte man sagen, muss er daher als normativ nicht ansprechbar beurteilt werden. Begreift man die Schuldfrage allein als die Aufgabe zu klären, was ein Täter höchstpersönlich verdient, und für das ethische Schuldproblem mag das ja der primäre Gegenstand sein, so ist eine solche Verteidigung nicht leicht zu widerlegen. Die Antwort des Strafrechts muss dennoch anders lauten. Wie immer unverdient, schicksalhaft, ja tragisch ein krankheits- oder unfallbedingtes Tatmotiv entstanden sein mag: stets bleibt der davon getriebene (potentielle) Täter Adressat eines rechtlichen Verbots, das vor allem dem Schutz Anderer dient und nicht nur der Beurteilung seines eigenen Verhaltens. Man betrachte den berühmten Fall des amerikanischen Eisenbahnarbeiters Phineas Gage.60 Bei einem Arbeitsunfall im Jahr 1848 trieb ihm eine Explosion einen drei Zentimeter dicken Eisenstab wie ein Geschoss schräg von unten durch den Wangenknochen, den präfrontalen Cortex und den gesamten Schädel. Gage überlebte wie durch ein Wunder, war aber danach – bei im wesentlichen gleichen kognitiven Fähigkeiten – charakterlich radikal verändert: Zuvor ein beliebter, freundlicher, ehrbarer Mann, war er jähzornig, achtlos gegenüber seinen Mitmenschen und gewalttätig geworden. Die Straftaten, die er deshalb beging, wären in seinem vorherigen authentischen Charakterzustand nicht denkbar gewesen; schon die Motive dazu hätten in ihm nicht entstehen können.61 Nach unseren heutigen Begriffen hebt das seine rechtliche Schuldfähigkeit gleichwohl nicht auf. Seine normative Ansprechbarkeit, wenn man so will: die mentalen Ressourcen zur Kontrolle seiner Handlungsmotive, gab es (dispositionell) nach wie vor; nur diese Motive selbst waren neu, unverschuldet und nicht selten stärker als sein Hemmungsvermögen. Doch müssen Motive, die das Produkt eines schicksalhaft aufgezwungenen Persönlichkeitswandels sind, nicht anders als solche, die einem biographisch gewordenen Charakter entstammen, den vor59 Genau dies waren in den beiden erwähnten amerikanischen Fällen die Täter vor ihrer motiverzeugenden Erkrankung bzw. deren Therapie; s. o. zu und in Fn. 35 und 39. 60 Aus neurophysiologischer Sicht dazu Damasio et al. Science 164, 1994, S. 1102; umfassend Macmillan An Odd Kind of Fame: Stories of Phineas Gage, 2000. 61 Das heißt natürlich beiläufig, dass schlechterdings niemand gegen eine solche Fehlentwicklung des eigenen Ichs gefeit ist, nicht mehr jedenfalls als gegen solche Verletzungen.

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handenen dispositionellen Fähigkeiten zur Selbstkontrolle unterworfen werden. Gewiss ist Phineas Gage vom Schicksal sozusagen zweifach misshandelt worden: mit einer schweren Verletzung seines Kopfes und mit einer folgenschweren Verformung seines Charakters. In solchen Fällen werden moralische Vorwürfe sinnlos, ja pharisäerhaft. Aber der strafrechtliche Schuldvorwurf kann dennoch nicht schon deshalb entfallen.

4. Vereinbarkeit dieser Konzeption mit § 20 StGB? Die Antwort lautet: nein. Nicht nur ist das Fehlen der normativen Ansprechbarkeit im hier erläuterten Sinn etwas anderes als die Unfähigkeit, im Tatzeitpunkt anders (nämlich nach der eigenen Unrechtseinsicht) zu handeln. Es sollte auch nicht – und dies ist der einzige Punkt, in dem ich Roxins Darlegungen nicht zustimmen möchte – als etwas aufgefasst werden, das dem „herkömmlichen Begriff des Andershandelnkönnens“, wie er üblicherweise e contrario dem § 20 StGB entnommen wird, doch so nahe wie möglich komme und eben hieraus seine Rechtfertigung als Kriterium der Schuldfähigkeit beziehe.62 Die Feststellung eines Andershandelnkönnens im Zeitpunkt des Ansetzens zur Tat ist nicht nur kein erreichbares, es ist kein sinnvolles Ziel zur Klärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Als einer doppelten, nämlich faktischen wie normativen Fata Morgana sollten wir ihm keine Reverenz erweisen. Dem Vorwurf, ein gesetzliches Merkmal des Schuldausschlusses werde zu Lasten des Täters enger gefasst als im Normwortlaut ausgewiesen63, könnte man im Übrigen ohnehin nicht mit der Versicherung entgehen, man nähere sich ihm immerhin so weit wie möglich. Was sich de lege lata aus einem solchen Befund ergibt, lasse ich hier offen.64 Auch wenn die hier vertretene Ablehnung des Kriteriums der Schuldunfähigkeit, wie es § 20 StGB derzeit formuliert, zu schwierigen Fragen nach ihren positivrechtlichen Konsequenzen führt, berührt das die Legitimität der Kritik natürlich nicht. Die richtige Lösung wäre, § 20 StGB zu ändern. Das Merkmal des Nichtandershandelnkönnens, das seit eh und je nur scheinbar als Entscheidungskriterium, in Wahrheit aber als leere Begründungsschablone gehandhabt 62

Roxin AT I § 19 Rn. 46. Ob freilich die so bewirkte Ausweitung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit zuletzt wirklich zu Lasten der Täter ausschlägt, ist eine schwierige und viel erörterte Frage; eindrucksvoll verneinend Roxin ZStW 96 (1984), 651; s. dazu auch Merkel (Fn. 3), S. 122 f. 64 Also etwa, ob er zu dem Urteil führen müsste, § 20 StGB sei verfassungswidrig (wie Herzberg, [Fn. 11] S. 108, mir vorhält), oder wegen Art. 103 Abs. 2 GG eher zu dem entsprechenden Verdikt über eine gerichtliche Praxis, die dem von Roxin (und mir) bejahten Kriterium folgte und Schuldunfähigkeit nicht, wie § 20 StGB, bereits an ein Nichtandershandelnkönnen, sondern erst an die normative Nichtansprechbarkeit bände. 63

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Reinhard Merkel

wird65, sollte gestrichen und durch das Roxinsche Kriterium der normativen Ansprechbarkeit ersetzt werden. Dabei mag die knappe sprachliche Eleganz der heutigen Gesetzesnorm schwer oder gar nicht erreichbar sein. Das darf einer sachlich richtigen Lösung aber nicht im Wege stehen. Die Grundfassung des Paragraphen könnte ungefähr so lauten: „(1) Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, ...[etc.] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen, oder für das Verbot dieses Unrechts normativ nicht hinreichend ansprechbar erscheint. (2) Als nicht hinreichend ansprechbar im Sinn des Absatzes 1 gilt, wer...“ – und hier wäre nun knapp der sachliche Gehalt der oben skizzierten Elemente einer hinreichenden Rezeptivität und Reaktivität des Täters festzuhalten. Das wäre, meine ich, auch die einzig ehrliche Lösung. Mit ihr würde der Gesetzgeber deutlich machen, was als Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit allenfalls zu haben ist – schuldmetaphysisch wie empirisch und strafrechtspraktisch – und was eben nicht: Nicht die Fähigkeit zum Andershandeln im Zeitpunkt der Tat, wohl aber eine bestimmte Form von Autonomie, eine hinreichende (dispositionelle) Fähigkeit zur Handlungskontrolle, die selbstverständlich auch in einer determinierten Welt möglich ist.

IV. Koda Und dennoch bliebe ein dunkler Rest. Auch ihn sollten wir nicht leugnen. Im Alltagsverständnis des Begriffs meinen wir mit Schuld eben das, was der BGH in dem berühmten Beschluss seines Großen Senats vom März 1952 als Kriterium auch der strafrechtlichen Verantwortlichkeit festhält: höchstpersönliche Vorwerfbarkeit.66 Das setzt ein Dafürkönnen im Sinne jener oben skizzierten Letztverantwortung voraus, die Vorwürfe gegen den Einzelnen sogar vor und von seinem ewigen Richter plausibel machte. Eine solche Letztverantwortung ist in einer unreinen Welt aus Endlichkeit und Empirie nicht möglich, sie als rechtliches Maß zu postulieren verfehlt, sie dem Einzelnen zuzuschreiben ungerecht. Das schließt ein vernünftiges strafrechtliches Schuldkonzept nicht aus, und keine der Schuldlehren unserer Wissenschaft zeigt das überzeugender als die des verehrten Jubilars. Aber es bedeutet auch, dass Menschen für etwas verantwortlich gemacht und bestraft werden, für das sie im strikten Sinne (vielleicht) nichts konnten. Diese unaufhebbare Differenz zwischen echtem persönlichen Dafürkönnen und einer zur Schuldfähigkeit hinreichenden Autonomie decken wir 65 66

ff.

Ebenso Frister Strafrecht AT 18/10. BGHSt 2, 194 (200); zur Schuldlehre des BGH Neumann in: BGH-FG IV (2000), S. 83

Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit

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seit eh und je zuletzt mit dem klandestinen Rekurs auf die unumgänglichen Notwendigkeiten der Verteidigung unserer Normenordnung. Ihn sollten wir uns ebenfalls deutlich machen. Er macht das Schuldprinzip nicht illegitim, aber er wirft jenen nicht vollständig aufhellbaren Schatten, den Gustav Radbruch mit seinem berühmten Satz vom „schlechten Gewissen“ des Strafrichters gemeint hat.67 Das ist keine Mahnung an den einzelnen Richter; nichts ist selbstverständlicher, als dass er kein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Es ist ein allegorischer Appell an das ganze Strafrechtssystem, sich dieser letzten dunklen Grenze seiner Begründungsmöglichkeiten bewusst zu bleiben. Und nicht anders deute ich Claus Roxins Mahnung, die Prinzipien irdischer Strafgerechtigkeit nicht mit einer unbeglaubigten Metaphysik von Vergeltung und sittlichem Vorwurf zu belasten.68 Nicht nur, aber auch deshalb ist seine eigene Schuldkonzeption vorbildlich.

67 Dazu Merkel (Fn. 3) S. 136. Hier missversteht mich Herzberg (Fn. 11, S. 68 ff), wenn er mir vorhält, ich hielte (1.) Willensfreiheit und daher eigentlich auch Schuld für unbegründbar, zugleich aber (2.) das Schuldprinzip für notwendig, weswegen ich (3.) die Strafrichter aufforderte, ihrer Tätigkeit „mit schlechtem Gewissen“ nachzugehen. Das wäre freilich ein seltsames Postulat í etwa so: „Ihr macht zwar alles falsch, aber macht nur weiter, bloß schämt euch ein bisschen dafür.“ Zu dem von mir tatsächlich Gemeinten s. die obigen Ausführungen. 68 Roxin AT I § 19 Rn. 46 a. E.

Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar? Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche TONIO WALTER

I. Claus Roxin ragt aus den deutschen Strafrechtslehrern heraus, und es darf hier auf sich beruhen, was manch älterer Kollege denken mag: dass dieser Satz doch auch auf ihn selbst passe und lediglich die Art und Weise des Herausragens – vielleicht – eine andere sei. Fragt man deutsche Juristen, die nicht strafrechtlich tätig sind, oder ausländische Juristen, welche Namen sie mit dem deutschen Strafrecht verbinden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, den Namen Roxins zu hören, größer als jede andere. Das lässt sich mit handfesten Zahlen untermauern, von denen ich vermute, dass sie in dieser Festschrift nicht ungenannt bleiben: die Zahl der Ehrendoktorwürden, der Auszeichnungen, die Länge der Publikationsliste. Wenn es ihn für Juristen gäbe, dürfte auch der Impact-Faktor Roxins alle Konkurrenten schlagen. Wichtiger als jeder quantitative Befund ist aber der qualitative, und ihn möchte ich in diesem Beitrag mit einem Beispiel belegen, das mich bei der Arbeit an meiner Habilitationsschrift beeindruckt hat und Ausgangspunkt eigener Überlegungen geworden ist. Ich rede von Roxins verbrechenssystematischer Kategorie der „Verantwortlichkeit“, genauer von jenen Vorschriften, die er unter dieser Überschrift den Normen zur Schuld nachordnet; ein wichtiges Beispiel ist § 35. Mit ihm nähern wir uns auch der Überschrift dieses Beitrages – und einem Beleg dafür, dass verbrechenssystematische Fragen nicht ein oft perhorresziertes Glasperlenspiel sind, sondern darüber entscheiden können, ob sich jemand strafbar gemacht hat. Denn für die Regelungen, die Roxin der „Verantwortlichkeit“ zuordnet, will er § 35 Abs. 2 analog anwenden. Ähnliches steht am Ende meiner Überlegungen, von denen ich auch, aber nicht allein aufgrund dieser Verwandtschaft hoffe, dass sie das Interesse des Jubilars finden.

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II. 1. Atmosphärisches „Die Eigenständigkeit dieser Regelungs- und Vorschriftengruppe hat als erster Roxin erkannt und ihr eine neue Systemkategorie zugewiesen, die ‚Verantwortlichkeit’. Diese Leistung steht für sich […].“ So steht es in meiner Habilitationsschrift1, und das meine ich noch immer. Gleichwohl hat sich Kuhlen in seiner Rezension dieser Schrift mehrfach schützend vor Roxin gestellt und sogar eine „Herablassung“ in dem Satz (an anderer Stelle) gefunden, eine bestimmte Formulierung Roxins sei „unglücklich“, doch habe er recht mit dem, was er sagen wolle.2 Und generell hat Kuhlen – cum grano salis und wenn ich ihn recht verstehe – mehr Demut verlangt. Schon angesichts des objektiven Kräfteverhältnisses Roxin/Walter halte ich diese Intervention nicht für zwingend erforderlich. Ferner halte ich sie für unberechtigt. Aber sie hat mir zu denken gegeben. Dies zumal, da kurz darauf Kühl in einer indirekten Kurzrezension jener Habilitationsschrift ebenfalls Unmut ob deren vermeinter Vehemenz geäußert hat, verbunden mit der Rüge, meine Kommentierung im Leipziger Kommentar „Vor § 13“ (um die es hauptsächlich hätte gehen sollen) enthalte allzu oft das Wort „verfehlt“ – offenbar auch zu starker Tobak. Zu meiner Verteidigung das Folgende. Erstens ist das deutsche Strafrecht ein Gemeinschaftsprojekt, dessen Entwicklung sich weder verbessert noch beschleunigt, wenn die Beteiligten anfangen, wie in Arbeitszeugnissen eine Geheimsprache zu verwenden, die den Betroffenen in Watte packt, nach Konsultation einer Übersetzungshilfe aber doch deutliche Aussagen enthält („zu meiner vollen Zufriedenheit“ = mittelmäßig). Zweitens ist es ein Gebot methodischer Effizienz, klar Stellung zu beziehen und auf Notausgänge zu verzichten. Das hat selbsterzieherische Funktion und dient dem gemeinsamen Fortschritt, denn nur wer angreifbar ist, taugt als Diskussionspartner.3 Nebenbei: Auch aus diesem Grund ist es richtig, dass die Kommentatoren des Leipziger Kommentars ausdrücklich angewiesen sind, alle Streitfragen unmissverständlich zu entscheiden – eine Pflicht, die es mit sich bringt, zahlreiche Ansichten ablehnen zu müssen; und dafür kommt meines Erachtens auch das Wort „verfehlt“ in Betracht (in besagter Kommentierung übrigens in 7 von 210 Randnummern).

1

T. Walter Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 135. Kuhlen ZStW 120 (2008), 146 f. 3 Näher in T. Walter Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2009, S. 209 f unter der Überschrift „Machen Sie sich angreifbar!“. 2

Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar?

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Als Drittes und Letztes möchte ich wiederholen, was mich Leben und Wirken Gustav Radbruchs lehren:4 Dass zur Persönlichkeit des Juristen die Disziplin gehört, streng zwischen einer Ansicht und ihren Vertretern zu trennen und fähig zu sein, eine Ansicht deutlich abzulehnen und die Ablehnung der eigenen Ansicht auszuhalten, ohne dass man die Achtung und das Wohlwollen gegenüber der Person des Kontrahenten aufgibt. Allerdings trifft zu, was Wolfgang Gast mit stillem Seufzen festgestellt hat: dass unser Erkenntnisinteresse „selten härtere Belastungsproben“ persönlicher Art übersteht.5 Es mag sein, dass ich diesen Punkt manchmal allzu normativ vernachlässigt habe. Claus Roxins Erkenntnisinteresse scheint indes auch harte Belastungsproben zu vertragen, denn er hat bislang noch jede fachliche Kritik souverän zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Und für alle, die je auf die Idee gekommen sind, in einer Äußerung von mir „Herablassung“ ihm gegenüber auszumachen, darf ich an dieser Stelle – welche wäre besser geeignet – zu Protokoll geben: Es ist das AT-Lehrbuch Claus Roxins, das ich für jede Frage des Allgemeinen Teils zur Hand nehme; sein Lehrbuch, das ich bisher am häufigsten zitiert habe, und zwar überwiegend zustimmend; und es ist sein Lehrbuch, das zu der Handvoll konstanter Leseempfehlungen gehört, die ich meinen Studenten gebe. Es ist mir eine Ehre und Freude, an dieser Festschrift mitzuwirken, und ich bin zuversichtlich, dass ihr Empfänger diesen Beitrag ungeachtet aller sachlichen Differenzen so versteht, wie er gemeint ist: als herzlichen Glückwunsch!

2. Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit Roxin lehrt, dass den verbrechenssystematischen Kategorien von Tatbestand und Rechtswidrigkeit gedanklich die Kategorie der „Verantwortlichkeit“ folge. Sie habe zwei Teile: Vorschriften zur Schuld sowie solche, die es erlaubten, trotz Schuld auf Strafe zu verzichten, weil sie präventiv nicht erforderlich sei.6 Als Vorschriften zur Schuld betrachtet Roxin die §§ 20, 21 und § 17. Hierzu passend definiert er Schuld in Anlehnung an Noll als „unrechtes Verhalten trotz normativer Ansprechbarkeit“7. Diese Definition 4

Vgl. das Editorial „Von der Persönlichkeit des Juristen“ in Heft 12/2009 der JA, das zu Radbruchs 60. Todestag erschienen ist. 5 Gast Juristische Rhetorik, 2006, Rn. 446. 6 Roxin AT I § 19 Rn. 1 ff, § 20 Rn. 50, § 22 Rn. 1 ff, 134 ff, § 23 Rn. 16 ff, je m. w. N. Als Grundlegung sind insbesondere zu erwähnen die Beiträge in der FS Henkel, 1974, 171, und in der FS Bockelmann, 1979, 279. Nachweise zu zustimmenden Autoren bei Roxin AT I § 19 Rn. 5 mit Fn. 7 (Amelung, Hoyer, Lackner, Rudolphi, Schneider, Schünemann, Weber). Zustimmend auch Neumann ZStW 99 (1987), 570 f; Wolter GA 1996, 212 ff. 7 Roxin AT I § 19 Rn. 3, 9, 36 ff. Bei Noll „Entscheidung gegen die strafrechtliche Norm trotz normativer Ansprechbarkeit“, in: FS H. Mayer, 1966, 220, 233.

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betrachtet Roxin grundsätzlich als „durchaus präventionsfrei“8, und das heißt zugleich: als nicht funktional, zu diesem Begriff später mehr. Gleichzeitig sieht er indes in den „normativen Randzonen“ der Schuldunfähigkeit (§ 20) Raum für präventive Erwägungen, etwa bei der Frage, ob bereits ein hochgradiger Affekt zuzubilligen sei; und auch sein Plädoyer für die „weiche“ Schuldtheorie – Vermeidbarkeit nach § 17 = Fahrlässigkeit – begründet er damit, dass für die Prävention eine Strafe nicht mehr erforderlich sei, wenn der Handelnde ohne Fahrlässigkeit (nach den üblichen Maßstäben) angenommen hatte, sich rechtmäßig zu verhalten.9 Habe jemand in diesem Sinne schuldhaft gehandelt, könne jedoch noch seine Verantwortlichkeit entfallen aufgrund von Regelungen, die in der gängigen Begrifflichkeit Entschuldigungsgründe hießen, zum Teil auch persönliche Strafaufhebungs- oder -ausschließungsgründe. Im Einzelnen nennt Roxin – als geschriebene Regelungen des Allgemeinen Teils: §§ 19, 24, 33, 35; – als ungeschriebene Regelungen des Allgemeinen Teils: die Gewissenstat, zivilen Ungehorsam (jeweils in engen Grenzen) und die Gefahrengemeinschaft (als Unterfall des übergesetzlichen Notstands); – als Regelungen des Besonderen Teils: § 139 Abs. 3 S. 1, § 173 Abs. 3, § 258 Abs. 5 und 6. Gemeinsam sei all diesen Regelungen, dass der Verzicht auf Strafe von deren Zweck her zu erklären sei. Als Strafzweck betrachtet Roxin ausschließlich Spezial- und Generalprävention. Am Hauptbeispiel der Regelungen zur Verantwortlichkeit, § 35, verdeutlicht: „Da in den Fällen des § 35 I 1 eine Motivationswirkung der Norm zwar nicht unmöglich ist, wegen der außergewöhnlichen Umstände aber auch bei Androhung von Strafe nicht häufig zu erwarten wäre, da ferner ein generalpräventives Bedürfnis zur Abschreckung anderer wegen der Seltenheit dieser Situationen kaum besteht, und da die Täter solcher Taten auch spezialpräventiver Einwirkung nicht bedürfen, wäre eine Bestrafung des Normübertreters kriminalpolitisch unangemessen.“10 Begriffsbestimmungen, die sich am Strafzweck ausrichten, nennt man „funktional“; denn eine Funktion ist die Abhängigkeit zwischen zwei Werten gemäß einer festen Regel, und der definierte Begriff steht im Dienste des Strafzwecks, hat also mit Blick auf diesen Zweck eine Funktion. Daher lässt sich Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit als Anwendungsfall des Funktionalismus bezeichnen; einer dogmatischen Strömung, die in den 8

Roxin AT I § 19 Rn. 9. Roxin AT I § 19 Rn. 57; FS Bockelmann, 1979, 292 f. 10 Roxin AT I § 22 Rn. 6. 9

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letzten Jahrzehnten stärker geworden ist und sowohl die allgemeine Lehre vom Verbrechen erfasst hat als auch einzelne dogmatische Diskussionen.11 Die Rechtsprechung hat dem Funktionalismus allerdings bislang die kalte Schulter gezeigt. Roxin versteht seine Kategorie der Verantwortlichkeit nicht nur als geschlossenere und überzeugendere Erklärung dafür, dass die genannten Regelungen eine Strafe verhindern. Er zieht daraus auch einen dogmatischen Schluss, und zwar dass § 35 Abs. 2 analog anzuwenden sei, wenn der Handelnde die „sachlichen Voraussetzungen des Verantwortungsausschlusses“ irrig annehme.12 Dies schreibt er zumindest für die Regelungen im Besonderen Teil, die er der Kategorie der Verantwortlichkeit zuordnet (siehe oben), unter der Überschrift „Die dogmatische Behandlung dieser Fälle“ und mit der Begründung, dass jene Behandlung „den für diese Kategorie maßgebenden Regeln folgen“ müsse. Folglich rechnet er § 35 Abs. 2 zu diesen maßgebenden Regeln. Die dogmengeschichtliche Vollständigkeit gebietet zu erwähnen, dass schon Maurach die §§ 33, 35 und den rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehl zu einer besonderen Kategorie der „Tatverantwortung“ zusammengefasst hat.13 Sie weicht aber von der Lehre Roxins sowohl in ihrer Begründung ab als auch in den Folgerungen und dem verbrechenssystematischen Standort (vor der Schuld).14

3. Lob und Kritik der Lehre von der Verantwortlichkeit a) Ich erinnere mich noch daran, wie ich dachte: „Endlich schreibt das mal einer!“ Ich hatte gerade als Habilitand jene Passagen in Roxins Lehrbuch gelesen, in denen er feststellt, dass die landläufig so betitelten „Entschuldigungsgründe“ mit der Schuld nichts zu tun haben; jedenfalls dann nicht, wenn man sich von ihr einen konsistenten Begriff machen will, also einen, der frei ist von inneren Widersprüchen.15 Zu dieser Erkenntnis kann man von zwei Seiten gelangen. Zum einen muss scheitern, wer versucht, ein gemeinsames begriffliches Dach – eine gemeinsame Definition, Ratio – für alle Regelungen zu finden, in denen das Gesetz oder die ganz herrschende

11

Vgl. Jakobs ZStW 107 (1995), 843; Lüderssen ZStW 107 (1995), 877; Neumann ZStW 99 (1987), 568 ff (Funktionalismus als „Normativierung“); Philipps/Scholler (Hrsg.) Jenseits des Funktionalismus, 1989; Weidemann AnwBl. 1999, 621. Überblick, Kritik und weitere Nachweise auch bei LK-T. Walter Vor § 13 Rn. 7, 27, 172 ff. 12 Roxin AT I § 22 Rn. 140. 13 Maurach Schuld und Verantwortung, 1948, S. 36 ff. 14 Vgl. Roxin AT I § 19 Rn. 58 ff; T. Walter (Fn. 1) S. 109 ff. 15 Roxin AT I § 7 Rn. 71, § 19 Rn. 3 ff.

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Meinung (§ 33!) die „Schuld“ des Täters ausschließt.16 Insbesondere scheitert, wer als ein solches Dach das Andershandelnkönnen verwenden will, das der Große Senat in seiner Entscheidung zum Verbotsirrtum als „inneren Grund des Schuldvorwurfs“ bezeichnet hat.17 Denn jenseits von § 20 kann der Täter anders handeln, jenseits von § 17 weiß er auch, was das Recht von ihm will, und wenn er dann gleichwohl in einer Lage nach § 35 straffrei bleibt, muss das andere Gründe haben. Zwar hat Roxin diese Einsicht schon in der Festschrift für Bockelmann bescheiden als „nicht neu“ bezeichnet18 und lag sie auch Maurachs Lehre von der Tatverantwortung zugrunde, siehe oben. Aber so folgerichtig, umfassend und geschlossen wie Roxin hat sie vor ihm keiner ausgearbeitet. Nur das logisch zwingende Gegenstück zu jener Einsicht und eigentlich bloß andere Worte liegen in dem Befund, dass die vorgesetzlichen Begriffe von der Schuld, die sich Philosophen und Juristen machen, stets nur auf Teile des Gesetzeswortlauts und der herrschenden Meinung zu den „Entschuldigungsgründen“ passen. Es schließen sich zwei Fragen an, erstens: Welche Teile des Gesetzes betreffen tatsächlich die Schuld? Zweitens: Worum, wenn nicht um die Schuld, geht es in jenen Regelungen, die zwar von der Schuld sprechen oder ihr ganz mehrheitlich zugeordnet werden, aber sie inhaltlich nicht betreffen? Die erste Frage ist geeignet, einen Widerstand zu provozieren, der sich eben schon angesichts der Rede von „vorgesetzlichen“ Begriffen von der Schuld geregt haben mag: Im Strafrecht binde der Wortlaut des Gesetzes seinen Interpreten. Und es sei für die Praxis wenig hilfreich, in der Dogmatik andere Begriffe oder die Begriffe anders zu verwenden als im Gesetz. Sage das Gesetz ausdrücklich, dieses oder jenes schließe die Schuld aus, so sei das von Gesetzes wegen Teil der Definition des Schuldbegriffs. Berechtigt wäre solcher Widerstand, wenn jemand versuchte, mit einem Abschied von der Terminologie des Gesetzes zu Ergebnissen zu kommen, die sonst ausgeschlossen wären und die den Rechtsunterworfenen belasteten; als Strafe, wo sonst Straffreiheit einträte, oder als irgendein anderer staatlicher Eingriff. Denn das wäre ein Verstoß gegen das Analogieverbot. Dergleichen versucht aber niemand. Im Gegenteil wendet namentlich Roxin die entlastenden Regelungen, um die es geht, etwa § 35, großzügig an, und ich selbst tue das auch.19 Ferner kann das Gesetz zwar jedweden Begriff nach Belieben definieren. Das ist jedoch keine Gewähr dafür, dass solche Definitionen stets frei von inneren Widersprüchen wären. Und gerade bei 16

Siehe schon Roxin FS Henkel, 1974, 175 ff. BGHSt (GS) 2, 194 (200). 18 Roxin FS Bockelmann, 1979, 282. 19 T. Walter (Fn. 1) S. 135 ff. 17

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vorrechtlich stark gebrauchten und zudem abstrakten Begriffen sind parallel wissenschaftliche Eigendefinitionen nötig, wenn sie einen Systematisierungsgewinn erbringen. Als Eideshelfer sei Roxin zitiert: „Dass der Gesetzgeber die Unterscheidung von Schuld und Verantwortlichkeit noch nicht kannte, darf uns nicht hindern, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch diese der Sache entsprechende terminologische Differenzierung vorzunehmen; so wenig etwa auch der Umstand, dass § 33 nur sagt, der Täter werde ‚nicht bestraft’, die Interpretation dieser Bestimmung als eines Falles ausgeschlossener Verantwortung beeinflussen kann.“20 Es bleiben die Fragen, was Schuld sei und welcher Gedanke jene Regelungen regiere, die von der „Schuld“ sprechen oder ihr zugerechnet werden, aber etwas anderes meinen. Was Schuld sei, ist zugleich die schwierigste und wichtigste Frage des Strafrechts. In den Worten Bindings: Für das Strafrecht „gibt es nun keinen Gegenstand, der an Bedeutung auch nur entfernt an die Schuld heranreichte“21. In den Worten Roxins: „Die Schuld ist ein ewiges Thema des Strafrechts und sein eigentliches Hauptproblem.“22 Was für das Polizeirecht der Begriff der Gefahr ist, das ist für das Strafrecht jener der Schuld. Es ist hier nicht möglich, diesen Begriff voll zu entfalten und nur annähernd all denen gerecht zu werden, die sich mit ihm befasst haben. Glücklicherweise ist das auch nicht nötig. Zum einen gibt Roxin in seinem Lehrbuch einen profunden, auch dogmengeschichtlichen Überblick.23 Zum anderen gibt es eine knappe Definition der Schuld, mit der wir uns an dieser Stelle behelfen können, ohne dass sich der Streit um den Begriff auf die folgenden Ausführungen auswirkte; denn diese Ausführungen berühren die streitigen Punkte nicht. Jene Definition ist die des Großen Senats in seiner Entscheidung zum Verbotsirrtum: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.“24 Warum gerade diese Definition? Einmal hat sich ihr unser Jubilar in der Festschrift für Henkel angeschlossen,25 was mir ungeachtet dessen bedenkenswert erscheint, dass er diesen Ansatz später weiterentwickelt hat (siehe 20

Roxin AT I § 19 Rn. 8; siehe auch schon ders. FS Henkel, 1974, 184 in Fn. 55. Binding Die Schuld im deutschen Strafrecht, 1919, S. 1. 22 Roxin FS Bockelmann, 1979, 279. 23 Roxin AT I § 19 Rn. 1 ff. 24 BGHSt (GS) 2, 194 (200). 25 Roxin FS Henkel, 1974, 181. 21

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oben). Zum zweiten ist es die Definition des Bundesgerichtshofes und betrachte ich dieses Gericht nicht nur formal als hohe Instanz. Drittens halte ich jene Definition für richtig und abschließend.26 Mit Recht wird man sofort rufen: Was ist mit der (unbewussten) Fahrlässigkeit? Was mit dem vermeidbaren Verbotsirrtum? Für die Antworten verweise ich erneut.27 Das schadet hier nicht, denn im Folgenden bleiben die Fahrlässigkeit und der Verbotsirrtum außen vor. Damit zur zweiten Hauptfrage: Was, wenn nicht ein Mangel an Schuld, steht hinter den Regelungen, die wie § 35 ihren Worten nach – oder in der gängigen Auslegung, siehe § 33 – die Schuld ausschließen, obwohl der Täter um das Unrecht seines Tuns weiß und auch steuerungsfähig ist (das heißt sich für das Unrecht entscheidet, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können)? Die Frage führt uns zu den Einwänden gegen Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit: b) Als erstes ist festzuhalten, welche Schwäche die funktionale Begründung nicht hat: Sie ist weder von vornherein unplausibel noch in sich widersprüchlich. Vielmehr ist sie eine zulässige Deutung des geltenden Rechts. Aber im Detail gibt es dann doch einiges, das mich nicht überzeugt. Und als Ganzes hat der Funktionalismus die Schwäche, dass man ihn zwar widerspruchsfrei postulieren, aber ohne Empirie nicht begründen kann, ohne in einen Begründungszirkel zu geraten. Zum ersten: Mir leuchtet es zum Beispiel nicht ein, dass einerseits nur die, andererseits jede Notstandstat zugunsten des Personenkreises, den § 35 nennt, „in der Öffentlichkeit so viel Verständnis findet, dass eine gesetzgeberische Nachsicht generalpräventiv vertretbar erscheint“28. Findet in der Öffentlichkeit Verständnis, wer zugunsten eines verhassten Angehörigen einen Unschuldigen tötet, weil er sich eine Erbeinsetzung erhofft? Der Fall wird nach herrschender Ansicht von § 35 erfasst.29 Und findet in der Öffentlichkeit wirklich kein Verständnis, wer zugunsten einer Frau, die er liebt, die ihm aber (noch) nicht im Sinne des § 35 nahesteht, einen anderen in höchster Not befristet der Freiheit beraubt – was § 35 nicht erfasst? Ähnliche Einwände hat schon Bernsmann erhoben.30 Ihnen entgegnet Roxin, es seien Spekulationen über präventive Bedürfnisse innerhalb oder außerhalb des Anwendungsbereichs von § 35 ohne Belang, denn diese Bedürfnisse habe das Gesetz in § 35 verbindlich niedergelegt.31 Doch damit 26

T. Walter (Fn. 1) S. 116 ff. T. Walter (Fn. 1) S. 128 ff, 307 ff, 389 ff, 410 ff, 438 ff. 28 Roxin AT I § 22 Rn. 30. 29 Anderer Ansicht Jescheck/Weigend § 44 II 2 (S. 483); Schönke/Schröder-Perron § 35 Rn. 16; T. Walter (Fn. 1) S. 138 f. 30 Bernsmann „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 215 ff. 31 Roxin AT I § 22 Rn. 13. 27

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kommen wir zum zweiten Kritikpunkt, dem Begründungszirkel. Er lautet wie folgt: In welchen Fällen gewährt § 35 Straffreiheit? In denen, die präventiv keine Strafe erfordern. Welche Fälle sind das? Die in § 35 erfassten. Das wiederholt sich dann mutatis mutandis bei allen anderen Ausschlüssen der „Verantwortlichkeit“ und generell in jeder funktionalen Argumentation.32 Denn bislang zeichnen sich die funktional inspirierten Autoren von dem Erfordernis frei, empirisch zu belegen, wie Strafe präventiv wirke. Kaum verwunderlich, denn vor allem für die Generalprävention ist in den Worten unseres Jubilars noch immer festzuhalten, „dass wir über die generalpräventive Wirkung der Normen überhaupt wenig Gesichertes wissen“33. Entsprechendes gilt für die Strafen. Dann ist aber in meinen Augen das Vorhaben allzu ambitioniert, eine ganze Normenriege – oder gar das Verbrechenssystem – mit präventiven Bedürfnissen zu begründen und auszulegen. Stratenwerth/Kuhlen sprechen in diesem Zusammenhang von einer Argumentation mit „Alltagstheorien“ und von „Behauptungen rein spekulativer Natur“34. Noch einmal und um unseren Jubilar versöhnlich zu stimmen: Vielleicht haben er und die seinen, die Funktionalisten, auf ganzer Linie recht. Doch wissen können wir das nicht. Zwar stimme ich ihm darin zu, dass wir es auch nicht zu wissen brauchen. Doch diese Zustimmung hat einen anderen Grund.

4. Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche a) Als negative (Teil-)Definition ist für diese Regeln festzuhalten, dass sie jenseits von Unrecht und Schuld stehen. Das gilt für Roxins Modell, in dem sie eine Untergruppe der Vorschriften zur Verantwortlichkeit sind. Und es gilt auch für das von mir so genannte postfinalistische Verbrechenssystem, in dem sie eine Untergruppe der „Opportunitätsregeln“ sind. Kuhlen vermutet, die Bezeichnung „postfinalistisch“ sei gewählt, um „am dogmengeschichtlich begründeten Prestige des Finalismus [zu] partizipieren“. Ferner hält er „Präfinalismus“ für sachlich nicht weniger plausibel und meint, angesichts der „wirklich ausgearbeiteten Konzeptionen“ etwa unseres Jubilars zeige die Bezeichnung einen „eigentümlichen Optimismus“.35 Letzteres stimmt, ich bin von Natur aus eigentümlich optimistisch. Dass ich am Prestige des Finalismus partizipieren wolle, stimmt nicht, denn in meinen Augen hat er keines; darüber kann sich ein Leser meiner Habilitations32

Vgl. T. Walter (Fn. 1) S. 113 f, 135 ff; LK-T. Walter Vor § 13 Rn. 7, 27, 172 ff. Roxin FS Bockelmann, 1979, 300. 34 Stratenwerth/Kuhlen AT § 10 Rn. 7, 101. 35 Kuhlen ZStW 120 (2008), 148. 33

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schrift aber kaum im Unklaren befinden. Die Vorsilbe „post“ hat ständiger deutscher Sprachkonvention folgend rein zeitliche (temporale) Bedeutung. Und dass meine Vorschläge nicht die einzigen am Markt sind, ist mir allerdings bewusst. Als postfinalistisches System habe ich sie allein deshalb zu bezeichnen gewagt, weil dieser Name noch nicht vergeben war und es mir für die Sachlichkeit der Diskussion im Zweifel förderlich erschien, eine gegenstandsbezogene Bezeichnung zu finden statt den Vorschlägen nur den eigenen Namen mit auf den Weg zu geben. Es ist hier weder nötig noch möglich, das postfinalistische System vollständig darzustellen.36 Nicht einmal dessen Kategorie der Opportunitätsregeln bedarf vertiefter Erörterung. Es genügt festzuhalten, dass sie – wie Roxins „Verantwortlichkeit“ – den Begriffen von Unrecht und Schuld gedanklich (und in der gutachterlichen Prüfung) nachgeordnet ist; denn weder ändern sie die Verhaltensanforderungen, die das Recht aufstellt, noch ändern sie etwas an der Verantwortung derjenigen, die diesen Anforderungen nicht genügen, obwohl sie deren Inhalt kennen und steuerungsfähig sind. Aber sie sorgt dafür, dass manche vom Strafrecht nicht zu dieser Verantwortung gezogen werden. Seltener enthält sie umgekehrt zusätzliche Bedingungen, unter denen dies erst möglich wird; das sind die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, die ich allerdings im Kernstrafrecht auf zwei beschränken möchte (§ 140a, § 283 Abs. 6). Im Blickpunkt stehen hier Regelungen, die innerhalb der Opportunitätsregeln eine geschlossene Untergruppe bilden: b) Als positive (Teil-)Definition gilt für sie, dass ihre Ratio legis Nachsicht mit menschlicher Schwäche ist. Vielfach taucht in Abhandlungen zu den Entschuldigungsgründen die Formulierung auf, es werde „Nachsicht“ geübt mit der „Schwäche“ des Täters, auch bei Roxin.37 Ich meine, dass diese Wortwahl nicht bloß ungefähr und alltagssprachlich passt, sondern die Ratio legis richtig und vollständig trifft. Und es sei hier sogleich die Liste der Vorschriften im Kernstrafrecht zusammengestellt, die einschlägig sind: – § 33 (Überschreitung der Notwehr) – § 35 (Entschuldigender Notstand) – § 139 Abs. 3 S. 1 (Nichtanzeige der Straftaten Angehöriger) – § 157 Abs. 1 (Falschaussage als Selbst- oder Angehörigenbegünstigung) – § 157 Abs. 2 (Uneidliche Falschaussage eines Eidesunmündigen) – § 173 Abs. 3 (Inzesttäter jünger als 18 Jahre) – § 174 Abs. 4 (Verhalten des sexuell missbrauchten Schutzbefohlenen macht Unrecht gering)

36 37

Zusammenfassung in T. Walter (Fn. 1) S. 196 ff. Roxin AT I § 22 Rn. 6; FS Henkel, 1974, 190.

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– § 182 Abs. 6 (früher 4) (Verhalten des sexuell missbrauchten Jugendlichen macht Unrecht gering) – § 199 (Beleidigter hatte Täter ebenfalls beleidigt = gereizt) – § 213 (Opfer hatte Täter beleidigt oder misshandelt = gereizt) – § 218 Abs. 3 (Schwangere [= unmittelbar Betroffene] als Täterin) – § 218a Abs. 4 S. 2 (Schwangere war als [Mit-]Täterin in „besonderer Bedrängnis“) – § 258 Abs. 5 (Strafvereitelung als [auch] Selbstbegünstigung) – § 258 Abs. 6 (Strafvereitelung zugunsten Angehöriger) – ungeschriebene Regeln zur Gewissenstat, zur Unzumutbarkeit (Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte: Leinenfänger-Fall38 und ähnliches) und zum übergesetzlichen „entschuldigenden“ Notstand (der Streit um die Grenzen dieser entlastenden Regeln bleibt hier ausgeklammert). Man sieht, dass vieles mit Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit übereinstimmt, aber nicht alles. Und man sieht, dass plötzlich Vorschriften zusammenfinden, deren verbrechenssystematische Behandlung in Rechtsprechung und Schrifttum bisher als, gelinde gesagt, wenig einheitlich zu bezeichnen ist. Das wiederum ermöglicht es, die Irrtumsdogmatik zu straffen, unten c. Zuvor noch ein Wort zur Ratio legis. Auch insoweit muss ich mich auf Zusammenfassendes beschränken.39 Diese Ratio legis setzt voraus, dass der Mensch innerlich so frei entscheidet, wie er sich äußerlich frei von A nach B bewegt. Wie es aber äußerlich ein Unterschied ist, ob jemand auf freiem Feld spaziert oder mit einer Bleiweste behängt bis zum Bauch im Morast steht, so ist es auch innerlich ein Unterschied, ob er beim Einkauf zwischen einer blauen und einer schwarzen Hose wählt – oder ob er in einem Großfeuer um sein Leben kämpft und entscheiden muss, ob er selbst ersticken solle oder diejenigen, die er auf der Flucht umrennt. Auch in solchen Extremsituationen hat der Mensch das innere Potential, dem Ruf des Rechts zu gehorchen (und sonst müsste das Recht diesen Ruf unterdrücken). Es gibt immer wieder Menschen, die das beweisen. Aber es sind wenige, und diese Disziplin kostet Kraft; Kraft, die nicht jeder aufzubringen willens und in der Lage ist. Und daher gibt es zwar viele Verhaltensanforderungen des Rechts, deren Erfüllung die meisten für sich auch für 38

RGSt 30, 25. Desweiteren BGH NStZ 1984, 164; OLG Frankfurt VRS 41, 35; Jakobs AT 20/35 ff; Roxin AT I § 24 Rn. 122 ff; Wessels/Beulke AT Rn. 451, 739; T. Walter (Fn. 1) S. 153 ff. Ablehnend für die unechten Unterlassungsdelikte Jescheck/Weigend § 59 VIII 3 (S. 635). 39 Vgl. T. Walter (Fn. 1) S. 136 ff und zur Willensfreiheit meine Sicht in FS Schroeder, 2006, 131 ff; selbstverständlich gibt es zu ihr breitere, tiefere und auch neuere Arbeiten, siehe etwa Duttge u. a. (Hrsg.) Das Ich und sein Gehirn, 2009; Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008; Streng FS Jakobs, 2007, 675 ff.

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die Zukunft zusichern können: dass sie unter normalen Umständen nicht in fremde Häuser einbrechen und niemanden niederstechen werden und so fort. Es gibt aber auch Verhaltensanforderungen, von denen niemand im Vorhinein garantieren kann, dass er sie erfüllen werde; etwa die Forderung, auch in eigener Lebensgefahr die Hände von Unschuldigen zu lassen. Dies aber, eine solche Garantie geben zu können, ist nach meiner Überzeugung – ja, mehr ist es nicht – die Voraussetzung dafür, dass ein Richter und mit ihm die Gemeinschaft, für die er spricht, über einem Angeklagten den Stab brechen dürfen. Und deshalb hat das Gesetz zwingend schon im materiellen Recht für Straffreiheit zu sorgen, wo es an dieser Voraussetzung fehlt. Dabei darf und muss es typisieren; die Balance zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit ist das Ziel. Vor diesem Hintergrund mag man jetzt noch einmal die Liste oben in Augenschein nehmen. Zweierlei fällt auf. Zum einen ist als Rechtsfolge offenbar nicht nur Straffreiheit denkbar, wie sie § 35 anordnet. Sondern es kann auch sein, dass ein Absehen von Strafe ermöglicht wird, als Beispiel § 157 Abs. 1, dass der Täter für „straffrei“ zu erklären ist (wohl nur noch in § 199) und dass die Strafe lediglich einem milderen Strafrahmen zu entnehmen ist, als Beispiel § 213.40 Diese Unterschiede sind grundsätzlich legitim, denn es kann auch die Sicherheit unterschiedlich groß sein, mit der ein durchschnittlicher Rechtsunterworfener eigene Normtreue in der fraglichen Lage vorab zusagen könnte. Ob die Lex lata insoweit kriminalpolitisch überzeugt, ist eine zweite Frage. Sie kann ich hier nicht mehr erörtern. Unter dem Strich steht mein Wunsch nach einer Vereinfachung. — Zweitens fällt bei erneuter Lektüre der Vorschriftenliste auf, dass § 35 Abs. 2 unmöglich auf alle Vorschriften in gleicher Weise angewendet werden kann: c) Was Roxin zu § 35 Abs. 2 schreibt, ist oben unter 2 referiert. Hervorgehoben sei zunächst der systematische Gewinn dieser Erkenntnis. Diese aufrichtige Anerkennung nimmt keinen Schaden, wenn im Detail Fragen offenbleiben: Soll § 35 Abs. 2 wirklich auch für § 173 Abs. 3 analog gelten mit der Folge, dass selbst der über 18-Jährige straffrei bleibt, wenn er sich irrig für jünger hält (etwa weil die evangelikalen Eltern einen falschen Geburtstag behaupten, um die voreheliche Empfängnis zu kaschieren)? Soll, verallgemeinernd gefragt, tatsächlich jedes Tatbestandsmerkmal der Regelungen zur „Verantwortlichkeit“ dem § 35 Abs. 2 unterworfen sein? Und liegen eigentlich die Voraussetzungen einer Analogie vor? Ich beginne mit dieser letzten Frage und komme damit zu einer Unzulänglichkeit dieses Beitrages. Zwar ist die erste Voraussetzung einer Analogie klar erfüllt, da § 35 Abs. 2 sich auslegungsfest allein auf § 35 Abs. 1 bezieht und somit für alle anderen der oben aufgelisteten Regelungen zu40

Zu den unterschiedlichen Folgen T. Walter (Fn. 1) S. 206 f.

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nächst eine „Regelungslücke“ besteht. Doch die zweite, ungleich wichtigere Voraussetzung ist weniger klar, und zwar ob diese Lücke auch „planwidrig“ sei. Insoweit habe ich mich an anderer Stelle methodisch festgelegt und bleibe dabei: Der „Plan“ in diesem Sinne kann nur der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des aktuellen Gesetzgebers sein, unseres Souveräns.41 Für ihn ist der Wille des historischen Gesetzgebers ein Indiz, aber nicht mehr (Gegenbeispiel: § 216 und die Sterbehilfe nach den neuen §§ 1901a ff BGB)42. Und nun muss ich zugeben, nicht mehr die Zeit gehabt zu haben, für die aufgelisteten Regelungen die Materialien zu sichten. Grund war ausnahmsweise nicht mein selbstorganisatorisches Defizit, sondern höhere Gewalt. Leider geht es beim Blick in die Materialien nicht bloß um eine Formalie und um lückenlose Fußnoten; auch wenn ich oben schon geschrieben habe, dass die Ratio legis jener Regelungen durchweg die gleiche sei. Denn diese Ratio legis ist nur jene, die sich dem Betrachter der Normen, mir jedenfalls aufdrängt – und unserem Souverän gefällt es zuweilen, etwas zu wollen, was systematisch Unsinn ist, das heißt zur Regelung eigentlich nicht passt. Und das hat man dann zu beachten, so schwer es fällt. Diese kleine Blamage vorausgeschickt, erlaube ich mir nun gleichwohl, etwas zur analogen Anwendbarkeit des § 35 Abs. 2 zu schreiben, indem ich annehme – eigentümlich optimistisch, wie ich bin –, dass der Gesetzgeber das Gemeinsame der Regelungen zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche erkennt und sich stimmige Antworten auf die Irrtumsfragen wünscht. Sie lauten wie folgt: Irrtumsresistent sind alle rein subjektiv formulierten Regelungen. Das sind Regelungen, die nur eine bestimmte Vorstellung oder Absicht des Täters voraussetzen. Ein Beispiel ist § 258 Abs. 5: die Absicht, neben der Bestrafung eines anderen auch die eigene zu vereiteln. Jetzt kommt es allein auf das Motiv des Täters an. Wie irrig die Annahmen sind, die es hervorrufen, ist belanglos. Jede andere Sicht wäre ein Verstoß gegen das Analogieverbot. Irrtumsresistent sind ferner Regelungen, die allein einen äußeren Tatbestand verlangen. Ob sie das tun – oder der Handelnde von diesem Tatbestand wissen muss –, ist eine Auslegungsfrage. Zu bejahen ist sie nach zutreffender herrschender Meinung etwa für § 173 Abs. 3 und § 157 Abs. 2.43 Irrtumsresistent sind drittens solche Merkmale innerhalb einer Regelung, die nach ihrer Natur Irrtümern unzugänglich sind. Das sind Merkmale zu bestimmten geistig-seelischen Formen menschlicher Schwäche, etwa der 41

T. Walter (Fn. 3) S. 213 ff, 232 ff. Dazu Rosenau FS Rissing-van Saan, 2011, 547; Verrel NStZ 2010, 671; T. Walter ZIS 2011, 76. 43 Vgl. T. Walter (Fn. 1) S. 351 m. w. N. 42

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asthenische Affekt in § 33: Über eigene Affekte irrt man sich nicht. (Und falls doch, so wäre dies nach dem Normzweck genauso ohne Belang wie hinsichtlich solcher Merkmale, die allein objektiv vorliegen müssen.) Irrtumsresistent sind schließlich auch diejenigen Merkmale unserer Regelungen, die nicht für eine menschliche Schwäche stehen, also nicht zu deren Ursachen gehören. Solche Merkmale können geschrieben und ungeschrieben sein. In § 35 Abs. 1 stehen alle Merkmale für die Situation, welche die Tat verständlich macht (oder weniger verständlich: Satz 2), daher kann sich Abs. 2 auch auf alle diese Merkmale beziehen.44 Anders ist es zum Beispiel hinsichtlich des Verhaltens eines Schutzbefohlenen, an dem sich daraufhin der Schutzverpflichtete sexuell vergeht (§ 174 Abs. 4; entsprechend § 182 Abs. 6 [früher 4]). Denn bei zutreffender Auslegung dieser Bestimmung ergibt sich, dass ein Absehen von Strafe nur möglich ist, wenn der Schutzbefohlene vollverantwortlich handelt, so dass die Vermutung des Gesetzes widerlegt wird, er wäre nicht einwilligungsfähig.45 Nur unter dieser Voraussetzung ist es angängig, das sexuelle Tabu für das Verhältnis von Schutzbefohlenem und Schutzpflichtigem zu lockern. Vergleichbare Erwägungen sind auch in anderen Fällen mit Blick auf das Opfer möglich. Als weiteres Beispiel der sogenannte übergesetzliche entschuldigende Notstand, der meines Erachtens nur entlasten kann, wenn das Opfer jedenfalls eine minimale Mitverantwortung trägt.46 In beiden Fällen tritt die Mitverantwortung beziehungsweise Vollverantwortlichkeit neben die Umstände, welche die Tat als Ergebnis menschlicher Schwäche verständlich machen. Und daher ist in beiden Fällen kein noch so intensiver Irrtum fähig, das Fehlen der Mitverantwortung beziehungsweise Vollverantwortlichkeit zu kompensieren. — Dass unsere Regelungen auch Merkmale haben, die weder Ursache noch Ausdruck menschlicher Schwäche sind, ist legislativ zulässig. Denn eine Pflicht, für Straffreiheit zu sorgen, hat der Normgeber nur, soweit es ganz überwiegend unwahrscheinlich ist, dass die Rechtsunterworfenen die Kraft haben, den Verhaltensanforderungen des Rechts zu genügen. In allen anderen Fällen sind zusätzliche kriminalpolitische Erwägungen legitim. Anwendbar ist § 35 Abs. 2 also nur auf Merkmale, welche die Ursachen einer menschlichen Schwäche bezeichnen, und deshalb nicht nur als äußerer Tatbestand (objektiv) vorliegen müssen, sondern sich in der Vorstellung des Handelnden zu spiegeln haben. Neben § 35 Abs. 1 sind unproblematische Kandidaten die Angehörigeneigenschaft des Begünstigten in § 139 Abs. 3 44 Zu den denkbaren Irrtumskonstellationen und zu dem Streit, wie Irrtümer über zumutbarkeitsbegründende Umstände zu behandeln seien, Hardtung ZStW 108 (1996), 26 ff; T. Walter (Fn. 1) S. 328 ff. 45 LK-Hörnle § 174 Rn. 70 m. w. N.; T. Walter (Fn. 1) S. 204. 46 Näher T. Walter (Fn. 1) S. 143 ff, 148.

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S. 1 und § 258 Abs. 6 sowie die Umstände, die zu einer „besonderen Bedrängnis“ der Schwangeren im Sinne des § 218a Abs. 4 S. 2 führen oder zur Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten.47 Natürlich führt diese Dogmatik zu weiteren Detailfragen. Zunächst sind schon ohne Rücksicht auf Irrtümer einige Regelungen zur menschlichen Schwäche mit Unsicherheiten behaftet. Bereits § 35 Abs. 1 stellt vor Auslegungsfragen, und besonders gilt dies für alle Regelungen praeter legem (Gewissenstat, Unzumutbarkeit bei Fahrlässigkeit und beim Unterlassen, übergesetzlicher Notstand). Das sind allerdings keine neuen Probleme. Neu kann lediglich die Frage sein, welche Merkmale einer entlastenden Regelung für die Ursache der menschlichen Schwäche stehen und welche sich anderen kriminalpolitischen Erwägungen verdanken und dann irrtumsresistent sind. Diese Frage halte ich aber für beantwortbar. Und dass sie auftauchen kann, schmälert nicht den Gewinn, der mit dem Grundsatz verbunden ist, dass § 35 Abs. 2 anwendbar wird.

III. Claus Roxin wird am Ende dieses Beitrages möglicherweise schmunzeln und sagen, dass er seine funktionale Deutung der Regelungen zur „Verantwortlichkeit“ bestätigt sehe. Er könne zwar keine empirischen Belege beibringen; ich aber auch nicht. Und es sei vielleicht richtig, dass die hier behandelten Regelungen Nachsicht mit menschlicher Schwäche übten. Das sei aber lediglich die Vorstufe zu der Einsicht, dass es dann an einem präventiven Bedürfnis fehle. Wo die Öffentlichkeit Verständnis für den Täter habe, sei generalpräventiv nichts zu veranlassen. Und wo jemand bewusst der eigenen inneren Schwäche zum Opfer falle, also mit schlechtem Gewissen sündige, habe man auch spezialpräventiv nichts zu tun, zumindest nicht in den geregelten Fällen. Doch schon dies letzte scheint mir nicht so klar zu sein wie die schlichtere, zugegeben kürzer greifende Erklärung der Ratio legis, die ich hier zugrundegelegt habe. Und auch die Plausibilitätszweifel an einzelnen funktionalen Erklärungen der fraglichen Normen räumt ein solcher integrierender Gedanke nicht aus (vgl. oben unter II 3 b). Dennoch bin ich trotz aller „Urteilsfreude“ (Kuhlen) durchaus ein Freund integrierender Gedanken – solange dabei nur am Ende mehr Rechtssicherheit und Gerechtigkeit steht. Ihnen hat Claus Roxin bis heute mit einem Leben und einem Werk gedient, die vor allem staunen lassen; und die näher zu würdigen andere deutlich kompetenter sind als ich. Nur eine persönliche Beo47

Vgl. die Nachweise in Fn. 38.

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bachtung sei am Schluss gestattet: Die geistige Brillanz Roxins erkennt jeder, der seine Schriften liest. Aber wenn man ihn als Person erlebt, dann begegnet einem darüber hinaus nicht nur ein begnadeter Redner, sondern auch ein Mensch mit viel Humor und Selbstironie. Ich wünsche ihm und dem deutschen Strafrecht, dass er noch mindestens zwei weitere Festschriften bekommt.

Conduct that the Actor Should Realize Creates a Substantial and Unreasonable Risk Anmerkungen aus der Ferne zum Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts WALTER GROPP

A. Section 939.25 of the Wisconsin Statutes Die Überschrift zu diesem Beitrag ist Chapter 939, „Crimes – General Provisions“ der Wisconsin Statutes entnommen. Section 939.25 legt fest, was unter criminal negligence bei Tötung und Körperverletzung zu verstehen ist. Ungekürzt lautet Sec. 939.25 (1): „In this section, ‚criminal negligence‘ means ordinary negligence to a high degree, consisting of conduct that the actor should realize creates a substantial and unreasonable risk of death or great bodily harm to another …“ Section 939.25 ist vor dem Hintergrund des vom American Law Institute am 24. Mai 1962 verabschiedeten Model Penal Code1 (MPC) zu sehen. Der MPC übt großen Einfluss auf das Strafrecht der Vereinigten Staaten aus und hat der weit überwiegenden Anzahl der Staaten als Vorbild bei der Umgestaltung ihres Strafrechts gedient.2 In Part I. General Provisions, Article 2, Section 2.02 General Requirements of Culpability, Subsection (2) Kinds of Culpability, (d) Negligently Defined des MPC heißt es: „A person acts negligently with respect to a material element of an offense when he should be aware of a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct. The risk must be of such a nature and degree that the actor’s failure to perceive it, considering the nature and purpose of his conduct and the circumstances known to him, involves a gross

Herrn stud. iur. Dennis Horrer danke ich für tatkräftige Mithilfe bei der Sichtung, Sammlung und Übersendung des Materials. 1 American Law Institute, Model Penal Code, Official Draft and Explanatory Notes, Complete Text of Model Penal Code as Adopted at the 1962 Annual Meeting of The American Law Institute at Washington D.C., May 24, 1962, Philadelphia, PA. The American Law Institute, 1985. 2 Vgl. Dubber Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, S. 16.

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deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation.“ Die beiden amerikanischen provisions sind mir sozusagen „in den Schoß gefallen“, als ich während meines Forschungssemesters im fall-term 2010 an der Law School der University of Wisconsin/Madison, der Partner-Law School des Gießener Fachbereichs Rechtswissenschaft, an einer Einführung in das deutsche Strafrecht in englischer Sprache gearbeitet habe. Ich besuchte, gewissermaßen als Johannes Pfeiffer aus der Feuerzangenbowle, die Vorlesung „Substantive Criminal Law“ meines Kollegen und Freundes Walter Dickey, um mit der Anwendung der legal terms besser vertraut zu werden. Ende September kam Dickey auf negligence zu sprechen. Ich beschloss daraufhin, das Kapitel „Negligence“ meiner Einführung zeitgleich zu bearbeiten. Dabei fiel mir – aus der Ferne – auf, dass sich unsere deutschen Überlegungen zur Fahrlässigkeit trotz oder vielleicht auch gerade wegen zahlreicher überaus gedankenreicher und anspruchsvollster Beiträge etwas im Kreis bewegen, gewissermaßen in einer selbst verschuldeten „Falle“ stecken, eine Falle, in die uns unsere türkischen Kollegen 2004 freundschaftlich gefolgt sind.3 Weil unser verehrter Jubilar zu denjenigen Strafrechtslehrern zählt, die gerade auch im Bereich der Fahrlässigkeit kreativ nach Aus-Wegen suchen und weil Claus Roxin wie kaum ein anderer bereit ist, die Sache aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, hoffe ich, ihm mit den folgenden Zeilen eine Freude zu bereiten. Meine Gedanken zur Fahrlässigkeit sind durchaus kritisch. Was seine eigenen Lehren angeht, betreffen die Kontroversen freilich eher Randfragen. Insoweit vertraue ich auf seine grenzenlose Güte und Nachsicht, die ich als „junger Kollege“ stets erfahren durfte. Zu meinem eigenen Schutz muss ich ergänzen, dass der folgende Beitrag nicht strafrechtsvergleichender Natur ist. Dazu reichen weder der vom Herausgeber zur Verfügung gestellte Raum noch meine bruchstückhaften Kenntnisse des amerikanischen Strafrechts aus. Es ist ein Beitrag zum deutschen Strafrecht, bei dem amerikanisches Strafrecht illustrierend und inspirierend „angetippt“ wird. Aber auch die Überlegungen zum deutschen Strafrecht müssen notgedrungen holzschnittartig und zum Teil fast thesenhaft bleiben, obwohl mittlerweile fast jeder Quadratzentimeter des dogmatischen Terrains zum fahrlässigen Erfolgsdelikt heftig umkämpft ist. Aber gerade deshalb schien mir der Blick aus der Ferne wichtig, weil so weniger die Gefahr besteht, sich in Einzelheiten zu verlieren. Aber selbst aus der Distanz kann kein komplettes Bild gezeichnet werden. Die folgenden Ausfüh3 Vgl. Artikel 22 Abs. 2 des neuen türkischen StGB vom 26. 9. 2004: Fahrlässig ist ein Verhalten, bei dem der im gesetzlichen Tatbestand bezeichnete Erfolg durch eine Sorgfaltspflichtverletzung verwirklicht wird.

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rungen beschränken sich vielmehr auf einige wenige der neuralgischen Punkte innerhalb der Diskussion zur Fahrlässigkeit: die Verletzung einer Sorgfaltspflicht (B.), den Sorgfaltsmaßstab (C.), die Schaffung einer Gefahr (D.) und die Einführung subjektiver Elemente der Tatbestandsmäßigkeit auf der ersten Stufe des Aufbaus des Fahrlässigkeitsdelikts (E.).

B. Die „Verletzung“ einer Sorgfalts-„Pflicht“ I. Die „Verletzung“ der Sorgfalts-„Pflicht“ als Kern des Fahrlässigkeitsdelikts? Die in Deutschland überwiegend vertretene und von der Rechtsprechung praktizierte Auffassung beschreibt den Unwert des fahrlässigen Erfolgsdelikts als die unvorsätzliche Verursachung eines objektiv vorhersehbaren und vermeidbaren Erfolgs durch die Verletzung einer Sorgfaltspflicht. 4 „Als Trägerin des Handlungsunwerts … ist die objektive Pflichtwidrigkeit Element des Tatbestandes.“5 Die Verletzung einer Sorgfaltspflicht, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Eingang in die strafrechtliche Diskussion fand, 6 wird auch als „Kern“ des Fahrlässigkeitsdelikts bezeichnet.7 „Hoffähig“ wurde der Terminus durch § 18 E 1962, dessen Absatz 1 lautet: „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer Acht läßt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und fähig ist, und deshalb nicht erkennt, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht.“ Die Aufnahme der Sorgfaltspflichtverletzung geschah mit dem guten Willen, die Tatbestandsmäßigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts erst dort beginnen zu lassen, wo der Täter ein gesellschaftlich nicht mehr tolerables Risiko eingeht.8 Das Fatale an der Formulierung der h. M. ist aber die Aufnahme der „Verletzung der Pflicht“ bzw. ihrer „Außer-Acht-Lassung“ in die Tatbestandsmäßigkeit der strafbaren Handlung. „Pflicht“ bedeutet die Gebundenheit an ein Gebot,9 eine Norm. Ohne Prüfung der Rechtswidrigkeit kann darüber aber nicht entschieden werden. Die Aufnahme der „Verletzung“ einer „Pflicht“ in die Tatbestandsmäßigkeit bedeutet damit das Ende des dreigliedrigen Verbrechensaufbaus. Denn dessen Sinn liegt gerade darin, die Tatbestandsmäßigkeit von Wertungen möglichst frei zu halten und diese der

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Vgl. Lackner/Kühl § 15 Rn. 36 ff. Lackner/Kühl § 15 Rn. 38. 6 Vgl. die Nachweise bei Schroeder JZ 1989, 776. 7 Vgl. Schaffstein FS Welzel 1974, 558. 8 Vgl. Schünemann GS Meurer, 2002, 40. 9 Hruschka Strafrecht, Anhang II, S. 416. 5

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Rechtswidrigkeit vorzubehalten.10 In der Tatbestandsmäßigkeit wird beschrieben, in der Rechtswidrigkeit bewertet. Dass das nur „im Prinzip“ gilt und nicht lupenrein durchzuhalten ist, zeigen etwa die normativen Tatbestandsmerkmale. Trotz dieser Einschränkung will die Einführung der Verletzung oder Außerachtlassung von Pflichten als Elemente der Tatbestandsmäßigkeit mit dem dreistufigen Verbrechenssystem aus Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit nicht so recht zusammen passen. Dass die Postulierung einer Sorgfaltspflicht als Tatbestandselement der Fahrlässigkeit auch normtheoretisch nicht stimmt, beginnt sich – gerade auch mit Unterstützung des Jubilars – durchzusetzen:11 Der Bademeister ist nicht bereits bei Strafe verpflichtet, sorgfältig die Szene zu beobachten, sondern nur, ertrinkende Badegäste zu retten.12 Die Systemwidrigkeit der Formulierung von Pflichtverletzungen auf Tatbestandsebene zeigt sich in aller Schärfe, wenn Rechtfertigungsgründe eingreifen. Denn wenn der im rechtfertigenden Notstand Handelnde seine Sorgfalts-„Pflicht“ im überwiegenden Interesse „verletzen“ „durfte“, dann schrumpft diese zunächst auf der ersten Prüfungsstufe als „verletzt“ erachtete „Pflicht“ auf der zweiten Stufe ex post zur „formalen“ „Pflicht“13 – es sei denn, man verneint die Pflichtverletzung im Hinblick auf die Rechtfertigung bereits innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit und schafft so den dreigliedrigen Verbrechensaufbau ab. Es gibt somit gute Gründe für einen Verzicht auf den Terminus „Sorgfaltspflichtverletzung“ auf der Stufe der Tatbestandsmäßigkeit.

II. Unterlassungspflichten, Handlungspflichten und der Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Pflichten im Umweltstrafrecht Aber widerspricht nicht die Anerkennung von strafrechtlich bewehrten Unterlassungs-, Handlungs- und verwaltungsrechtlichen Pflichten dem soeben erzielten Ergebnis? Unterlassungs- und Handlungspflichten („Du sollst nicht töten“, §§ 211 ff; „Du sollst bei Unglücksfällen Hilfe leisten“, § 323a) bilden die normative Grundlage der Begehungs- und der echten Unterlassungsdelikte und sind nicht Elemente der Tatbestandsmäßigkeit.14 Die unechten Unter10 Vgl. Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, insb. §§ 13 ff S. 110 ff, 145; Gropp AT § 6 Rn. 10 ff; Jescheck/Weigend AT § 22 II 1 m. w. N. 11 Vgl. Gropp AT § 12 Rn. 67 m. w. N. 12 Vgl. Hruschka Strafrecht, Anhang II, S. 418. 13 Zu den Problemen um Rechtfertigungsbereich auch Mitsch JuS 2001, 110; Stratenwerth/ Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 35 m. w. N. 14 Vgl. Schroeder JZ 1989, 777 li. Sp.

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lassungsdelikte setzen zwar eine besondere Verpflichtung des Täters zum Handeln voraus. Aber auch über sie wird nicht innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit entschieden. Dort werden nur die tatsächlichen Voraussetzungen geprüft, aus denen sich die Handlungspflicht in der Regel ergibt, d. h. die Garantenstellung. Ob im konkreten Fall eine Verpflichtung zum Handeln vorlag, ergibt sich erst aus der Prüfung der Rechtswidrigkeit.15 Ein Blick auf manche Umweltstraftatbestände könnte allerdings Zweifel an der These wecken, dass Pflichtverletzungen nicht Elemente der Tatbestandsmäßigkeit sein können. Denn dort ist ganz ungeschützt davon die Rede, dass der Täter nur bestraft werden kann, wenn er „unter (z. T. grober) Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ handelt.16 § 330d Nr. 4 StGB definiert die verwaltungsrechtliche Pflicht als eine Pflicht, „die sich aus einer Rechtsvorschrift, einer gerichtlichen Entscheidung, einem vollziehbaren Verwaltungsakt … ergibt und dem Schutz vor Gefahren oder schädlichen Einwirkungen auf die Umwelt … dient.“ Die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten reduziert als zusätzliches Element innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit den strafbaren Bereich fahrlässiger Umweltdelikte.17 Nicht jede fahrlässige Beeinträchtigung eines Umweltmediums soll strafbar sein, sondern nur eine solche unter „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“.18 Betroffen sind z. B. Vorschriften zum Transport von Gefahrgütern, aber auch sonstige „normale“ Vorschriften der StVO.19 Während das Merkmal „unbefugt“ als Element der Rechtswidrigkeit (Rechtfertigung als Folge der Genehmigung) verstanden wird,20 bildet die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten ein Tatbestandsmerkmal.21 „Eine Rechtfertigung der Tat auf Grund allgemeiner Rechtfertigungsgründe … scheidet, da schon der Tatbestand die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten voraussetzt, in der Regel, aber nicht notwendig aus. Abs. 1 [zu § 325 StGB, d. Verf.] beschreibt selbständige Unrechtstypen, die dadurch eingeschränkt sind, dass sie den verwaltungsrechtlichen Verbotsbereich nicht überschreiten. Das ändert aber nichts daran, dass sie im Übrigen [d. h. soweit der verwaltungsrechtliche Verbotsbereich betroffen ist, d. Verf.] der Prüfung auf Rechtfertigungsgründe unterliegen.“22 Kommt es z. B. auf Grund überhöhter Geschwindigkeit als Verstoß gegen eine verwaltungsrechtliche Pflicht aus der 15

Näher Gropp AT § 11 Rn. 11. Vgl. §§ 324a, 325 I, 325a, 326 III; §§ 325 II, 328 III StGB. 17 Vgl. Rengier FS Boujong, 1996, 791. 18 Vgl. Kloepfer/Vierhaus Umweltstrafrecht, S. 20. 19 Anschaulich Rengier FS Boujong, 1996, 801 ff. 20 Vgl. Breuer JZ 1994, 1084 li. Sp.; Lackner/Kühl § 324 Rn. 8; MüKo-Schmitz Vor § 324 Rn. 32. 21 Vgl. Breuer JZ 1994, 1084 li. Sp.; MüKo-Schmitz Vor § 324 Rn. 32. 22 Lackner/Kühl § 325 Rn. 17. 16

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StVO zu einer Bodenverunreinigung nach § 324a I, III StGB (ein LKW verliert einen Teil seiner gefährlichen Ladung in einer Kurve), die aber über § 34 StGB – wie auch immer – gerechtfertigt ist, dann entsteht das unter I. aufgezeigte Dilemma: die innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit festgestellte Verletzung der Pflicht zur Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit wird innerhalb der Prüfung der Rechtswidrigkeit gerechtfertigt: der LKW-Fahrer hat die StVO nur „generell“ „verletzt“, weil er konkret schneller fahren durfte. Das Problem liegt hier in der verbrechenssystematisch unüberlegten Formulierung der betroffenen Umwelttatbestände. Anstatt der „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ hätte man z. B. die Formulierung „Nichteinhaltung verwaltungsrechtlicher Standards“, etwa durch Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, wählen können. Die Nichteinhaltung eines solchen Standards kann über § 34 StGB gerechtfertigt sein, die Rechtfertigung der „Verletzung einer Pflicht“ ist hingegen ein Widerspruch in sich selbst, weil im Falle der Rechtfertigung eine Verletzung der Pflicht von vornherein nicht vorgelegen haben kann.

C. Falling Short of a Standard Es geht auch anders. Sowohl Section 2.02 (2) (d) MPC23 als auch Section 939.25 der Wisconsin Statutes kommen ohne die „Verletzung einer Sorgfaltsplicht“ aus und stellen stattdessen auf die deviation from a standard ab, wobei dieses Merkmal im Strafrecht Wisconsins in den Gesetzestext von Section 939.25 hineingelesen wird. Um fahrlässig zu handeln, muss der Täter hinter diesem Standard zurückbleiben – „he has to fall short of the standard“24. Auch in der deutschen Lehre ist der Begriff des „Standards“ keineswegs unbekannt.25 Umstritten ist nur, wie der Standard, an dem das Verhalten des Täters gemessen wird, gebildet werden soll.

I. Zurückbleiben hinter dem „Community Standard“ Im amerikanischen Strafrecht wird das Verhalten des Täters an einem allgemeinen Maßstab, dem sog. community standard gemessen.26 Der MPC nennt einen „standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation.“ Dies erinnert sehr an jene deutsche Formel von den Verkehrsgepflogenheiten der gewissenhaften und verständigen Angehörigen 23

S. o. unter A. Vgl. Fletcher Basic Concepts of Criminal Law, 1998, S. 119. 25 Vgl. z. B. Maiwald FS Jescheck, 1985, 411. 26 Vgl. Fletcher (Fn. 24) S. 119. 24

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des Verkehrskreises.27 Und auch soweit unter deutschen Autoren von einem Standard die Rede ist, bildet dieser eher einen allgemeinen Maßstab.28

II. Zurückbleiben hinter einem täterbezogenen Standard Jedoch ist es durchaus erwägenswert, über einen täterbezogenen Standard nachzudenken. Freilich kann hier nicht der Täter derjenige sein, der den Standard subjektiv festsetzt,29 sondern es geht um einen objektiven Standard, der aber auf die individuellen Verhältnisse des Täters bezogen ist – eine Situation, die bezüglich des Vorsatzes beim Vorsatzdelikt nicht bezweifelt wird. Was für den Vorsatz das individuelle Wissen ist (kognitives Element), ist für die Fahrlässigkeit die individuelle Fähigkeit, die Gefahr zu erkennen.30 „Was ,vorhersehbar‘ ist, hängt davon ab, an wessen Fähigkeit zur Risikovoraussicht man anknüpft.“31 Eine personale Unrechtslehre hat nicht nur beim Vorsatzdelikt sondern auch beim Fahrlässigkeitsdelikt an die persönlichen Fähigkeiten des Täters anzuknüpfen – und zwar bereits auf der Ebene des Unrechts. Schon die Tatbestandsmäßigkeit setzt daher die Nichterfüllung eines nach den individuellen Fähigkeiten des Täters zu bestimmenden Standards voraus.32 Der Täter, der den ihm individuell möglichen Standard nicht erfüllt, handelt fahrlässig. Was für ihn möglich ist, steht nicht in seinem Belieben. Wer nach seinen individuellen Fähigkeiten erkennen kann, dass er einer Aufgabe nicht gewachsen ist, diese aber dennoch übernimmt, handelt fahrlässig, 33 denn für die sog. Übernahmefahrlässigkeit genügt es, wenn der Täter fähig ist, seine Unfähigkeit zu durchschauen.34 Wer sein Gefahr schaffendes Verhalten nicht erkennen kann, handelt nicht fahrlässig und damit auch nicht tatbestandsmäßig. Aus der Verneinung dieser Tatbestandsmäßigkeit wird nicht selten geschlossen, dass der unterdurchschnittlich befähigte Täter rechtmäßig handele35 und Dritte der von ihm verursachten Gefahr schutz- und wehrlos ausgeliefert seien. Jedoch ist 27 Vgl. Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben § 15 Rn. 135 m. w. N.; Jescheck/Weigend AT § 55 I 2 b; Wessels/Beulke AT Rn. 669. 28 Vgl. Maiwald FS Jescheck, 1985, 411 „Wer denjenigen Standard nicht überschreitet, der als zulässige Gefährdung allgemein akzeptiert ist, handelt nicht sorgfaltswidrig.“ 29 So aber wohl die Befürchtungen bei Ida FS Hirsch, 1999, 234. 30 Vgl. Weigend FS Gössel, 2002, 134. 31 Weigend FS Gössel, 2002, 139. 32 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 15; Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 354.; Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 15. 33 Anders z. B. Q26 272: eine Übernahmefahrlässigkeit setze einen objektiven Maßstab voraus. 34 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 23. 35 Vgl. Roxin AT I § 24 Rn. 59; Weigend FS Gössel, 2002, 140 f.

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der Schluss von der mangelnden Tatbestandsmäßigkeit auf die Rechtmäßigkeit nicht zwingend.36 Und selbst in den Fällen, in denen das Handeln des Täters nicht mehr die Qualität eines rechtswidrigen Angriffs im Sinne von § 32 StGB aufweist, kann es doch eine Gefahr darstellen, deren man sich nach den Regeln des defensiven Notstands erwehren darf und deren Auswirkungen zu Schadensersatz führen können.37 Aus der Perspektive einer personalen Unrechtslehre ist der maßgebliche Standard somit das, was man von dem Täter nach seinen Fähigkeiten und in seiner Situation vernünftigerweise erwarten darf und was der Täter nach seinen Fähigkeiten in der konkreten Situation auch als von ihm erwartet erkennen kann. Darüber entscheidet der Richter, nicht der Täter.

D. Creating a Substantial and Unreasonable Risk I. Sorgfaltspflichtverletzung, Nichterreichen des individuell möglichen Standards und Schaffung einer Gefahr Die Beziehung zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Risiko wird nicht selten in der Weise beschrieben, dass der Täter des Fahrlässigkeitsdelikts mit der „Verletzung“ der Sorgfalts-„Pflicht“ den Bereich des „erlaubten“ Risikos verlassen und ein „unerlaubtes“ Risiko geschaffen habe.38 Die Sorgfaltsregeln präzisierten das Maß des „erlaubten“ Risikos. 39 Die Tatbestandsmäßigkeit setze eine über das erlaubte Maß hinausgehende Gefährdung tatbestandlich geschützter Interessen voraus.40 Dann hätte die Einführung einer Gefahr als Element fahrlässigen Verhaltens neben der Verletzung der Sorgfaltspflicht keine Daseinsberechtigung. Denn schon mit der Verletzung der Sorgfaltspflicht wäre das Vorliegen der Gefahr implizit zu bejahen. Nichts anderes würde gelten, wenn man die Verletzung der Sorgfaltspflicht durch die Schaffung einer nicht mehr tolerierten Gefahr ersetzt.41 Nun hat sich aber in Abschnitt C. ergeben, dass die Verletzung der Sorgfaltspflicht auf Tatbestandsebene wertfrei als Nichterreichen eines für den Täter erreichbaren Standards zu verstehen und zu beschreiben ist. Es fragt sich daher, ob schon mit dem Nichterreichen des Standards die erhöhte Gefahr geschaffen ist oder ob die Gefahrschaffung neben dem Zurückblei36

Vgl. Stratenwerth FS Jescheck, 1985, 293. Vgl. Weigend FS Gössel, 2002, 143. 38 Vgl. Rengier FS Boujong, 1996, 791; Roxin AT I § 24 Rn. 6. 39 Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 20. 40 Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 25. 41 Vgl. Gropp AT § 12 Rn. 66 sowie Schmidhäuser FS Schaffstein, 1975, 132 ff; Roxin AT I § 24 Rn. 12. 37

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ben hinter dem erreichbaren Standard als Kriterium eine eigene Rolle spielen kann. Letzteres ist der Fall. Denn es gibt Konstellationen, in denen der Täter zwar hinter dem ihm möglichen Standard zurückbleibt, eine Gefahr aber dennoch nicht entsteht bzw. sich die entstehende Gefahr nicht im Erfolg niederschlägt. Man kann zunächst an das von Oehler gebildete Beispiel des unaufmerksamen Flugzeugführers denken, dem für die Landung ein falscher Kurs vorgegeben wird, der diese Information aber in Folge Unaufmerksamkeit überhört und so den richtigen Kurs steuert. 42 Trotz Nichterreichens des Standards fehlt eine Gefahrschaffung. In den Fällen, in denen die Zurechnung objektiv ausgeschlossen ist, fehlt die erforderliche Kongruenz zwischen dem Nichterreichen des Standards, der Schaffung einer Gefahr und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs. Zwar liegen zunächst die Nichterfüllung des Standards und eine daraus resultierende Gefahr vor, es fehlt aber eine spezifische Verknüpfung zwischen dieser Gefahr und dem kausal herbeigeführten Erfolg. Mit der fehlenden Realisierung der Gefahr im Erfolg wird der Grund für den Ausschluss der Zurechnung genauer bezeichnet.43 Auch hier spielt die Gefahr neben dem Nichterreichen des Standards eine selbständige Rolle. Es würde nicht genügen, nur auf die Verfehlung des Standards abzustellen. Beide, die Nichterfüllung des Standards und die Gefahrschaffung, sind somit notwenige Voraussetzungen des Fahrlässigkeitsunwertes und -unrechts. Die Nichterfüllung des Standards und die Gefahrschaffung können zusammenfallen, sie sind aber nicht identisch. Man kann daher die Sorgfaltspflichtverletzung der h. M. auch nicht durch die Schaffung des Risikos ersetzen, weil eine Risikoschaffung trotz Erfüllens des Standards zur Begründung von Fahrlässigkeit ebenfalls nicht ausreicht. Die Risikoschaffung muss sich vielmehr aus dem Nichterreichen des tätermöglichen Standards ergeben und auf der Risikoschaffung muss der tatbestandliche Erfolg beruhen.

II. „Unerlaubte“ Gefahr? Section 2.02 (2) (d) MPC beschreibt die Gefahr als substantial and unjustifiable, Section 939.25 (1) der Wisconsin Statutes als substantial and unreasonable. Claus Roxin nennt die Gefahr „unerlaubt“. Auf meine Bedenken, dass man darin schon eine vorweggenommene Bewertung sehen könnte, die der Prüfung der Rechtswidrigkeit vorenthalten werden sollte, hat Claus Roxin erwidert, dass dies im Sinne einer „typischen tatbestands-

42 43

Vgl. Oehler FS Eb. Schmidt, 1961, 240. Vgl. Roxin AT I § 24 Rn. 11.

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mäßigen“ Unerlaubtheit zu verstehen sei.44 Vielleicht könnte man auch von einer „generellen“ Unerlaubtheit sprechen, die dann im konkreten Fall u. U. innerhalb der Rechtswidrigkeit zu verneinen wäre. In der Sache sind wir uns wohl einig. Es hat sogar den Anschein, als erhalte die Formulierung „unerlaubte Gefahr“ Rückendeckung durch den MPC – unjustifiable – und die Wisconsin Statutes – unreasonable, zu verstehen im Sinne einer Abwägung von Nutzen und Risiko.45 Jedoch gilt es hier zu beachten, dass die amerikanischen legal terms nicht unmittelbar und unbesehen auf das deutsche Verbrechenssystem übertragen werden können. Im deutschen Strafrecht gehen wir im Prinzip von einer Trennung zwischen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit als Prüfungsstufen der strafbaren Handlung aus. Fletcher46 weist demgegenüber darauf hin, dass die Kriterien von Rechtfertigung und Entschuldigung im MPC bereits im Begriff der Fahrlässigkeit enthalten sind. Dann ist es konsequent, bereits den der Fahrlässigkeit zu Grunde liegenden Gefahrbegriff mit Rechtfertigungselementen anzureichern. Aus deutscher Perspektive hat die „Unerlaubtheit“ der Gefahr hingegen einen anderen argumentativen Hintergrund, der bereits kurz angesprochen wurde: Man ging davon aus, dass in der sog. Risikogesellschaft nicht jede Schaffung einer Gefahr und darauf beruhende Verursachung eines Erfolgs zur Strafbarkeit aus dem Fahrlässigkeitsdelikt führen sollte. Fahrlässigkeit sollte vielmehr erst von einer Schwelle an tatbestandsmäßig sein, wo der Bereich des „erlaubten Risikos“ endet. Sobald die Schwelle des erlaubten Risikos überschritten sei, sei das geschaffene Risiko nicht mehr „erlaubt“, sondern „unerlaubt“.47 Den wunden Punkt bildet aber schon das „erlaubte“ Risiko: Denn selbst wenn ein Risiko unterhalb der Grenze der Tatbestandsmäßigkeit liegt, weil es gesellschaftlich toleriert wird, bedeutet das nicht unbedingt, dass es „erlaubt“ ist, dass man es – angesichts der Einheit der Rechtsordnung – in jeder Hinsicht eingehen „darf“ und der von dem Risiko Betroffene es ertragen muss. „Nicht tatbestandsmäßig“ bedeutet nicht notwendig „erlaubt“ und „tatbestandsmäßig“ bedeutet dementsprechend nicht notwendig „unerlaubt“.48 Man hat den Eindruck, dass die missverständliche Terminologie vom „erlaubten Risiko“ auch bei den Überlegungen zur Frage des Abschusses von durch Terroristen entführten Flugzeugen (Stichwort: „Luftsicherheitsge44

Roxin AT I § 24 Rn. 10 mit Fn. 15. Vgl. LaFave Principles of Criminal Law, 2003, S. 178. 46 (Fn. 24) S. 128. 47 Vgl. Hirsch FS Lampe, 2003, 532; Schünemann GS Meurer, 2002, 40. 48 Vgl. zu dieser Problematik bereits Stratenwerth FS Jescheck, 1985, 293 f. 45

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setz“49) eine unheilvolle Rolle im Hintergrund gespielt haben könnte: Man könnte argumentieren, dass ein entführtes Flugzeug nicht abgeschossen werden dürfe im Hinblick darauf, dass die entführten Passagiere im Rahmen einer „erlaubten Gefahr“, d. h. rechtmäßig, gehandelt hätten, indem sie den Flug veranlasst haben. Man vergisst dabei wohl aber, dass die unglücklichen Passagiere Dritte (die Menschen am Boden) gefährden und dass letztere die im Sinne nur eines Tatbestandsausschlusses „erlaubte“ Gefahr keineswegs ertragen müssen, sondern sie abwenden dürfen, und der Staat ihnen dabei helfen darf, wenn nicht sogar muss. Soweit das erlaubte Risiko nicht wirklich erlaubt ist, sondern nur nicht tatbestandsmäßig ist, muss man Handlungen in seinem Rahmen als Betroffener eben nicht ertragen. Umgekehrt bedeutet die Tatbestandsmäßigkeit des Handelns im „unerlaubten“ Risiko nicht unbedingt, dass dieses Handeln auch unerlaubt i. S. v. „rechtswidrig“ ist. Die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit der Gefahr und damit verbundene Abwägungserfordernisse sind daher eine Frage der Rechtswidrigkeit – im Interesse einer optimalen Wertungsfreiheit innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit. Gerade auch im Interesse einer besseren Verständlichkeit für ausländische Leser sei daher auf die missverständliche „(Un)Erlaubtheit“ der Gefahr als Element der Tatbestandsmäßigkeit verzichtet und einer wertneutralen Formulierung der Vorzug gegeben.

III. Substantial Risk Fruchtbar erscheint hier das Erfordernis eines substantial risk, abhängig von der hohen Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts und der Natur und dem Ausmaß des drohenden Schadens.50 Der tatbestandsspezifische Unwert des Fahrlässigkeitsdelikts besteht danach darin, dass der Täter einen ihm möglichen Standard nicht erfüllt und dadurch eine substantielle Gefahr schafft, die sich im Erfolg widerspiegelt.51 Diese Gefahr ist so „typischerweise unerlaubt“ wie jedes die Tatbestandsmäßigkeit begründende Element typischerweise unerlaubt ist. Damit entbehrt die Unerlaubtheit einer Funktion als Kriterium.

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Vgl. zum Ganzen BVerfGE 115, 118 ff; Gropp GA 2006, 284 ff; Rogall NStZ 2008, 1 ff jew. m. w. N. 50 Vgl. Remington/Dickey/Schultz Substantive Criminal Law, Cases and Materials, 2005, S. 255, LaFave (Fn. 45) S. 178; aber auch Roxin AT I § 24 Rn. 39. 51 Vgl. hierzu auch das „Merkmalsprofil der strafrechtlich relevanten Fahrlässigkeit“ bei Duttge (Fn. 32) S. 437 f.

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E. Subjektive Elemente der Tatbestandsmäßigkeit einer fahrlässigen Handlung und Mental State I. Unbewusste Fahrlässigkeit und personale Unrechtslehre Auch die Frage der Anerkennung eines subjektiven Tatbestandes – oder genauer: subjektiver Elemente der Tatbestandsmäßigkeit einer fahrlässigen Handlung – hat inzwischen eine gewisse Tradition. Am weitesten hat sich hier Struensee mit anspruchsvollen Beiträgen nach vorne gewagt.52 Während subjektive Elemente im Bereich der bewussten Fahrlässigkeit akzeptabel erscheinen, stoßen sie hinsichtlich der unbewussten Fahrlässigkeit eher auf Zurückhaltung.53 Dieses Zögern ist damit zu erklären, dass man – gewissermaßen in Parallele zum Vorsatzdelikt – als Voraussetzung subjektiver Elemente der Tatbestandsmäßigkeit eine Art psychische Beziehung des Täters zu den objektiven Elementen der Tatbestandsmäßigkeit verlangt:54 Im MPC und in den Wisconsin Statutes heißt diese Beziehung „mental state“. Man versteht darunter ein Bewusstsein des Täters bezüglich der fraglichen Elemente und nimmt an, dass dieses Bewusstsein beim Vorsatz und bei der bewussten Fahrlässigkeit gegeben ist, nicht aber bei der unbewussten. Im Strafecht Wisconsins spielt diese Bewusstseinsgrenze eine sehr entscheidende Rolle als Grenze zwischen einfacher Fahrlässigkeit (negligence) und grober Fahrlässigkeit bis hin zur Leichtfertigkeit (recklessness). Diese Grenze ist deshalb so entscheidend, weil im Bereich der Tötungsdelikte die mit bewusster Fahrlässigkeit (recklessly) begangene Tötung als first-degree reckless homicide ähnlich schwerwiegend beurteilt wird wie first-degree intentional homicide, während die fahrlässige Tötung nur in besonderen Fällen und wesentlich milder bestraft wird.55 Weil MPC und Wisconsin Statutes eine personale Unrechtslehre nicht kennen, spielen sich diese Überlegungen im Bereich der Schuldhaftigkeit der strafbaren Handlung ab – vergleichbar mit dem psychologischen, vom Vorsatz dominierten, Schuldbegriff der kausalen Handlungslehre.56 Es fragt sich nun, ob eine von personalem Unrecht mitgeprägte Tatbestandsmäßigkeit dem Einbringen von subjektiven Elementen unbewusster Fahrlässigkeit entgegensteht. Dies ist nicht zwingend. Schon jetzt sind per52

JZ 1987, 53 ff, 541 ff. Roxin AT I § 24 Rn. 74. 54 Roxin AT I § 24 Rn. 73, 75; Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 32. 55 Vgl. Wisconsin Statutes Sec. 940.01, 940.02 und 940.05, 940.06 (intentional/reckless homicide) einerseits und 940.07, 940.08, 940.10 (homicide resulting from negligent control of vicious animal, negligent handling of dangerous weapon, negligent operation of a vehicle) andererseits. 56 Vgl. Gropp AT § 3 Rn. 60. 53

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sonale Elemente der Tatbestandsmäßigkeit anerkannt, die ein entsprechendes Bewusstsein des Täters nicht verlangen. Denken wir z. B. an sog. Gesinnungsmerkmale wie etwa die Rücksichtslosigkeit in § 315c StGB.57 Rücksichtslosigkeit ist eine geistige Haltung, ein täterbezogenes Merkmal, dessen sich der Täter nicht bewusst zu sein braucht, er muss es nur tragen. Gleiches gilt für täterbezogene Mordmerkmale wie Habgier oder Mordlust. Warum sollen dann Merkmale wie Unbekümmertheit oder Gedankenlosigkeit als Basis für einfache Fahrlässigkeit nicht täterbezogene Merkmale fahrlässigen personalen Unrechts sein können?

II. Subjektive Elemente fahrlässigen Unrechts Dass sich eine bewusste Befassung mit dem Zurückbleiben hinter dem möglichen Standard und einer dadurch hervorgerufenen Gefahr als subjektives Element einer Tatbestandsmäßigkeit bei bewusster Fahrlässigkeit formulieren lässt, wurde bereits kurz erwähnt.58 Im Übrigen sind subjektive Elemente bereits innerhalb des täterbezogenen Sorgfaltsmaßstabes bzw. Standards berücksichtigt und geben keinen Anlass, eine subjektive Tatbestandsmäßigkeit zu formulieren.59 Ein Merkmal, das durch den täterbezogenen Standard nicht abgedeckt wird und hier nur am Rande zur Sprache gekommen ist, ist jedoch die Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung durch den Täter. Der täterbezogene Sorgfaltsmaßstab zeigt nur an, was der Täter leisten kann. Der Täter muss aber auch erkennen können, welche Folgen das Zurückbleiben hinter dem ihm möglichen Sorgfaltsstandard zeitigen kann.60 Dabei ist zuzugeben, dass auch die individuelle Vorhersehbarkeit als bloß individuelle Fähigkeit eine psychische Beziehung im Sinne eines Bewusstseins nicht voraussetzt. Auf der anderen Seite bedarf aber auch die individuelle Fähigkeit, vorherzusehen, einer Begründung. Diese Fähigkeit muss mit einem Lebenssachverhalt in Verbindung gebracht werden. Der Nachweis, dass der Täter hätte vorhersehen können, setzt voraus, dass der Täter die Umstände kannte, die ihn bei Einsatz seiner Fähigkeiten in die Lage versetzt hätten, die Entstehung der Gefahr und ihre Auswirkungen zu erkennen. Die Kenntnis dieser Umstände ist die gesuchte psychische Beziehung.61 57

Vgl. Jakobs AT 8. Abschn. Rn. 93 ff. Vgl. oben E.I, vgl. auch Mitsch JuS 2001, 107 f m. w. N. 59 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen AT 4. Kap. Rn. 30. 60 Vgl. Duttge (Fn. 32) S. 493; Frister AT 12. Kap. Rn.7 f; Jakobs Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 69; ders. AT 9. Abschn. Rn. 13. 61 Zustimmend Mitsch JuS 2001, 107 f m. w. N.; vgl. auch Frister AT 12. Kap. Rn. 8: individuelle Erkennbarkeit als „hypothetischer psychischer Sachverhalt“; Jakobs (Fn. 60 – Stu58

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III. Spiegelung der subjektiven Elemente innerhalb der Schuldhaftigkeit Beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt wird dem Täter innerhalb der Schuldhaftigkeit der strafbaren Handlung vorgeworfen, dass er den Erfolg vorsätzlich herbeigeführt hat – sog. Vorsatz-Schuld.62 Beim fahrlässigen Erfolgsdelikt gilt nichts Anderes: Dem Täter wird zum Vorwurf gemacht, dass er hinter dem ihm möglichen Standard zurückgeblieben ist und dadurch eine substantielle Gefahr verursacht hat, auf der der Erfolg beruht. Dieser Vorwurf wird erhoben, weil der Täter auf Grund der ihm bekannten Umstände die Entstehung dieser Gefahr und den daraus resultierenden Erfolg hätte erkennen können (Fahrlässigkeit als Schuldform).

F. Zusammenfassung Zu den objektiven Elementen der Tatbestandsmäßigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts zählen: – das Zurückbleiben des Täters hinter einem Standard, den er erfüllen könnte; – eine dadurch hervorgerufene substantielle Gefahr, abhängig von der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts und der Art und dem Ausmaß des drohenden Schadens. Zu den subjektiven Elementen der Tatbestandsmäßigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts zählen: – bei bewusster Fahrlässigkeit: das Vertrauen des Täters auf das Ausbleiben des Erfolgs trotz Erkennens der Möglichkeit des Schadenseintritts; – bei unbewusster Fahrlässigkeit: die Vorhersehbarkeit des Schadenseintritts durch den Täter auf Grund seiner Kenntnis der entsprechenden Umstände. Ob der Täter die Gefahr unerlaubt hervorgerufen hat, ist eine Frage der Rechtswidrigkeit. Innerhalb der Schuldhaftigkeit fahrlässigen Verhaltens wird dem Täter vorgeworfen, dass er hinter dem ihm möglichen Standard zurückgeblieben ist und dadurch eine substantielle Gefahr hervorgerufen hat, obwohl er die Möglichkeit des Schadenseintritts erkannt hat bzw. den Schadenseintritt auf Grund seiner Kenntnis der entsprechenden Umstände hätte vorhersehen können (Fahrlässigkeit als Schuldform). dien) S. 69: „die Erkennbarkeit des Erfolgseintritts als psychische Voraussetzung der Vermeidbarkeit“; Struensee JZ 1987, 60: Kenntnis eines tatbestandsrelevanten Ausschnitts von den Bedingungen des eingetretenen Erfolgs. 62 Gropp AT § 4 Rn. 53a, § 7 Rn. 13.

Strafrecht ohne Straftäter GEORGE P. FLETCHER

Die deutsche Strafrechtslehre und das deutsche StGB von 1975 folgten beide demselben grundlegenden Muster: Zunächst wird die Täterschaft definiert, danach die Teilnahme, für die im Unterschied zur Täterschaft nur eine um bis zu 25% gemildert Strafe vorgesehen ist. Claus Roxins Theorie der Tatherrschaft ist zu recht berühmt dafür, dass sie in der Debatte zwischen objektivem und subjektivem Ansatz der Täterschaft für eine klare und überzeugende Richtung gesorgt hat.

I. Die „Lubanga“-Entscheidung des IStGH 1. Abkehr von der Theorie des „joint criminal enterprise“ Das jüngste Zeugnis des Ruhms des Geehrten im Bereich der Tatherrschaft ist die Entscheidung der Pre-Trial Chamber des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Lubanga Fall1. Das Gericht macht sich neben den Theorien einiger weniger anderer deutscher und US-amerikanischer Autoren vor allem die Lehre Roxins zu eigen, um den schädlichen Einfluss der Theorie des „joint criminal enterprise“ des Jugoslawien-Tribunals zu überwinden. Diese Theorie hatte – ähnlich wie die stark umstrittene Theorie der „Pinkerton liability“ im Common Law – zur Folge, dass die Unterscheidung zwischen Tätern und Teilnehmern verwischt wurde. Sie behandelte alle Beteiligten des kriminellen Unterfangens als Täter. Dass diese Theorie überwunden wurde, ist zweifellos eine begrüßenswerte Entwicklung in der Rechtsprechung des IStGH, die ich bereits als Rückkehr eines neuen Gerichts zu einer alten Dogmatik an anderer Stelle gelobt habe.2

1 Situation in the Democratic Republic of the Congo in the Case of The Prosecutor vs Thomas Lubanga Dylio, Decision on the confirmation of charges, 29.01.2007, ICC-01/04-01/06. 2 Fletcher J Int Criminal Justice 9 (2011), 179 ff.

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George P. Fletcher

2. Anleihe der „vicarious liability“ Der IStGH ist aber in seiner Entscheidung nicht nur zu den traditionellen Kategorien der Tatbeteiligung zurückgekehrt. Er hat vielmehr zugleich eine verwirrende Argumentation in die Debatte eingeführt, die uns nachdenklich stimmen sollte: Er gelangte nämlich zur Täterschaft über die Prämisse, dass die wechselseitige Zurechnung gemeinsam handelnder Krimineller auf dem Prinzip der sog. „vicarious liability“ beruhte. Diese Bemerkung hat insbesondere für Juristen aus dem Common Law eine merkwürdige Konnotation, weil sie eine nicht vorhandene Gleichsetzung von Geschäftsherrn und Gehilfen in sich trägt. Diese Figur ist im Vertragsrecht weit verbreitet und erklärt dort, warum der Geschäftsherr durch die Handlungen seines Gehilfen gebunden ist. „Qui facit per alia facit per se“ – diese Maxime bringt das Phänomen der fiktiven Gleichsetzung beider Personen zum Ausdruck. Die Figur der Haftung für Gehilfen ist nützlich für die Rechtsgeschäftslehre, aber es gibt keinen Grund, sie in das Strafrecht zu integrieren. Zwar erklärt das Common law den Geschäftsherrn grundsätzlich für alle von seinem Verrichtungsgehilfen begangenen Delikte für verantwortlich und benutzt dazu ebenfalls die Fiktion einer Identität zwischen beiden Personen. Dieser Ansatz, der im Vertragsrecht sehr sinnvoll ist, wird vom deutschen BGB in dessen § 831 für das Recht der unerlaubten Handlung jedoch aus guten Gründen nicht angewandt. Wenn aber schon das Deliktsrecht den Gedanken ablehnt, dann sollte das Strafrecht ihn ebenfalls zurückweisen. Zugegeben, es ist nicht leicht, die gemeinsame Tatbegehung zu erklären. Wie ist es möglich, jemanden als Täter zu verurteilen, der nur einen Teil einer Straftat und nicht alle seiner Elemente verwirklicht? Wenn zwei Angreifer ein unschuldiges Opfer attackieren, indem einer dessen Arme festhält und der andere mit den Fäusten auf ihn einschlägt, sind sie als Mittäter verantwortlich. Darüber gibt es kaum Streit. Die einzige Frage ist, wie man diese Verantwortlichkeit erklären kann, ohne so wie der IStGH der Idee der „vicarious liability“ zu verfallen.

II. Gedanken über „kollektives Handeln“ 1. Problem der fehlenden normativen Gruppenverantwortlichkeit Das Problem, so glaube ich, liegt darin, dass wir es nicht geschafft haben, eine Theorie der kollektiven Handlung im Strafrecht zu entwickeln. Wir denken Gruppen nicht als Einheiten, die handeln, sondern als eine Mehrzahl von Tätern. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das Strafrecht ist auf die individuelle Verantwortlichkeit der natürlichen Person zugeschnitten. Auch wenn manche Rechtsordnungen die strafrechtliche Verantwortlichkeit von

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Gesellschaften und juristischen Personen kennen, lehnt sie das deutsche Recht ausdrücklich ab. Diese Aussage ist schwer mit der Tatsache zu vereinbaren, dass in der Realität häufig eine Gruppe als ein einheitlicher Täter wirkt. Der Text des Römischen Statuts widerspricht ebenfalls der kategorialen Ablehnung kollektiver Verantwortlichkeit: In der Liste der Kriegsverbrechen des Artikel 8 Abs. 2 findet sich eine Reihe von Straftaten, die nur von als Kollektiv handelnden Gruppen begangen werden können. Hier sind einige Beispiele: v) Nötigung eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften einer feindlichen Macht; vi) vorsätzlicher Entzug des Rechts eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person auf ein unparteiisches ordentliches Gerichtsverfahren; vii) rechtswidrige Vertreibung oder Überführung oder rechtswidrige Gefangenhaltung; viii) Geiselnahme. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie ein einzelnes Individuum diese Verbrechen als Täter begehen können soll. Vielmehr braucht es eine Gruppe von miteinander kooperierenden Menschen, um zum Beispiel einen Kriegsgefangenen zum Dienst in einer fremden Armee zu nötigen oder ihm ein ordentliches Gerichtsverfahren vorzuenthalten. Sogar die Deportation der Zivilbevölkerung verlangt die Zusammenarbeit eines Netzwerks von Beteiligten. Denn eine einzelne Person allein wäre schon physisch außer Stande, dieses Verbrechen zu begehen. Unabhängig davon würde aber selbst dann, wenn eine einzelne Person einen Gefangenen aus dessen Land verbringen könnte, diese Handlung juristisch keine „Vertreibung“ oder „Deportation“ darstellen. In allen vier genannten Vorschriften wird nämlich vorausgesetzt, dass eine Gruppe von Menschen zusammenwirkt, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Man könnte natürlich daran denken, die in Artikel 28 des Römischen Statuts verankerte Figur der Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber fruchtbar zu machen, um einer Person, die von einer Gruppe begangenen Verbrechen im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 v) bis viii) des Statuts zuzurechnen. Eine derartige Zurechnung setzt aber nach dem Text des Statuts voraus, dass die Truppe, für die der Befehlshaber innerhalb einer Befehlskette verantwortlich ist, die Verbrechen begeht. Das bedeutet, dass eine vom Befehlshaber verschiedene Person zum Beispiel einem Kriegsgefangenen

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ein ordentliches Gerichtsverfahren vorenthalten muss. Dies führt uns jedoch zu unserer ursprünglichen Frage zurück: Kann eine einzelne Person überhaupt diesen Tatbestand erfüllen? Die Antwort lautet: Nein.

2. Das Verständnis für „kollektives Handeln“ Das Recht der Kriegsverbrechen stellt uns vor eine Herausforderung, weil wir nicht auf die hergebrachten Kategorien von Täter und Teilnehmer rekurrieren können, sondern das allgemeine Verständnis der kollektiven Handlung auf das Strafrecht übertragen müssen. In der Philosophie wurde dem Konzept der kollektiven Handlung bemerkenswerte Aufmerksamkeit gewidmet, die allerdings nicht gleichermaßen auf das Strafrecht ausstrahlte. John Searle etwa hat sehr deutlich gemacht, dass zwei Personen, die miteinander spazieren gehen oder Mittag essen, nicht als Herr und Gehilfe handeln, sondern als ein einheitliches Ganzes. Dasselbe gilt offensichtlich von einer Gruppe, die Kriegsgefangene nötigt, in einer fremden Armee Militärdienst zu leisten, oder diesen ein ordentliches Gerichtsverfahren vorenthält oder Zivilisten deportiert bzw. Geiseln nimmt. Um kollektive Handlungen zu verstehen, sollten wir darüber nicht im Sinne einer Anwendung der „vicarious liability“ denken, das heißt, wir sollten nicht versuchen, einer Person die Handlungen einer anderen zuzuschreiben. Nehmen wir als Beispiel das Vorenthalten eines unparteiischen ordentlichen Gerichtsverfahrens gegenüber einem Kriegsgefangenen. Viele verschiedene Individuen spielen dabei eine Rolle – der Staatsanwalt, die Richter, die Verteidiger und die das unfaire Verfahren regelnden Politiker. Dennoch wäre es schief zu sagen, dass der Staatsanwalt „der Gehilfe“ des Richters oder der Verteidigung sei, und umgekehrt. Wenn wir daran anknüpfen, strafrechtliche Verantwortung unter Rückgriff auf die Figur der Geschäftsherrenhaftung zu rechtfertigen, so bin ich mir nicht sicher, was wir jedem der Beteiligten zuschreiben müssen, um sagen zu können, dass sie gemeinsam dem Angeklagten ein ordentliches Gerichtsverfahren vorenthalten haben. In diesem Zusammenhang offenbart sich schließlich ein konzeptioneller Bruch zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Teil des Römischen Statuts: Der Besondere Teil setzt, soweit er die Kriegsverbrechen betrifft, eine Form kollektiver Handlung voraus, die nicht näher definiert oder erklärt wird. Der Allgemeine Teil hingegen ignoriert das Problem der kollektiven Handlung vollständig und tut so, als ob die Lehre von Täterschaft und Teilnahme alle nötigen Instrumente an die Hand gebe, um strafrechtliche Verantwortlichkeit für diese Verbrechen zu begründen. Es gibt mindestens zwei Gründe für diesen konzeptionellen Bruch:

Strafrecht ohne Straftäter

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Der erste liegt in der Geschichte des Römischen Statuts. Es geht auf die Haager und die Genfer Konventionen zurück, welche sich fast ausschließlich mit der Verantwortlichkeit von Staaten für die genannten Verbrechen beschäftigten. Wer von Staatenverantwortlichkeit spricht, braucht sich mit individuellen Taten nicht zu befassen. So kann der Staat etwa verantwortlich gemacht werden für eine Wirtschaftskrise, für die unterlassene Hochwasservorsorge, für den schlechten Zustand von Parks sowie für alle anderen Missstände, denen nur durch kollektive Handlungen abgeholfen werden kann. Daher verwundert es nicht, dass die Dritte Genfer Konvention die Staaten für die in Artikel 8 des Römischen Statuts genannten Verbrechen verantwortlich erklärt. Der zweite Grund besteht darin, dass uns das Konzept von Krieg per se in den Bereich der kollektiven Handlung verweist. Jede Art von Krieg ist eine kollektive Handlung. Von Edward Said – zu Lebzeiten berühmt als Literaturwissenschaftler und palästinensischer Aktivist – wird erzählt, er habe an der Grenze zwischen Jordanien und Israel gestanden und Steine als „Kriegserklärung“ geworfen. Ich habe mich darüber stets amüsiert, weil Said als Einzelperson niemals irgendjemandem den Krieg erklären könnte. Krieg braucht und glorifiziert zugleich kollektive Handlung. Das lässt sich an der Art erkennen, wie die Figur der Notwehr auf das Verhältnis zwischen Staaten angewandt wird. Nehmen wir an, zwei Staaten liegen geographisch nebeneinander. Jeder von ihnen hat einen nördlichen und einen südlichen Teil. Wenn der südliche Teil von A den Süden von B angreift, kann der Norden von B gegen den Norden von A Notwehr üben. Das macht nur dann Sinn, wenn wir uns A und B jeweils als Einheiten vorstellen, die wie natürliche Personen angegriffen werden und hierauf reagieren können. Das Verständnis von Krieg als kollektive Handlung führt dazu, dass unter normalen Umständen strafbare Taten im Krieg erlaubt sind. Beispielsweise sind die rücksichtslose Tötung anderer Menschen oder die mutwillige Zerstörung fremden Eigentums im zivilen Leben verboten, aber im Krieg erlaubt. Dies lässt sich einzig und allein mit der Annahme erklären, dass der Einzelne, welcher diese Taten begeht, der kollektiven Identität der im Krieg befindlichen militärischen Gruppe, der er angehört, untergeordnet ist. Das war Rosseaus Verständnis von Kriegsführung und es macht dann Sinn, wenn wir das Paradox der kollektiven Legitimierung individueller Kriminalität anerkennen wollen. Wenn das Individuum im Kollektiv verschwindet, dann wird die Zulässigkeit militärischen Handelns verständlich. Aber wenn dies so ist, wie können wir dann das Konzept der Kriegsverbrechen verstehen? Die gesamte Liste des Artikels 8 Abs. 2 des Römischen Statuts wird dann mit einem Mal suspekt. Wie kann das Individuum zuerst im Kollektiv verschwinden und dann plötzlich wieder aus ihm auf-

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George P. Fletcher

tauchen? Ist das nicht eine Abfolge von Zaubertricks, bei der der Zuschauer langsam den Glauben verliert?

III. Fazit Wir stehen vor keinem geringen Rätsel. Wir haben versucht, das Phänomen der kollektiven Handlung zu verstehen, indem wir die üblichen Figuren der Täterschaft und Teilnahme verwandt haben. Es ist genau dieses Paradox, welches den IStGH dazu verleitet hat, sich von der Gehilfenhaftung des Vertragsrechts inspirieren zu lassen. Vielleicht ist es besser, die Suche nach den Tätern ganz aufzugeben und stattdessen anzuerkennen, dass wir bei allen kollektiven Handlungen höchstens Teilnehmer finden können. Sie sind – wie immer – gegenseitig kooperierende Teilnehmer. Dies erinnert mich an eine Lehre im Vertragsrecht des Common law, mit deren Hilfe begründet wird, warum Personen, die ein wohltätiges Geschenk versprechen, an ihr Versprechen gebunden sind, als ob jeder von ihnen eine Gegenleistung erhalten hätte. Denn eigentlich ist eine Gegenleistung unabdingbare Voraussetzung der Bindung an eine Willenserklärung im Common law. Das Argument für diese Lehre lautet, dass sich die Schenker letztlich alle untereinander eine Gegenleistung gegeben haben. Dasselbe scheint auch für die kollektive strafrechtliche Handlung zu gelten. Niemand ist Täter, weil wir das Verbrechen nicht als Tat einer einzelnen Person denken können. Jeder ist vielmehr Teilnehmer des anderen. Das scheint zwar paradox. Aber in einem Bereich, in dem wir versuchen müssen, kollektive Handlungen an ein System individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit anzupassen, können wir vielleicht keine bessere Erklärung finden.

Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach 50 Jahren BERND SCHÜNEMANN

I. Der Siegeszug der „Organisationsherrschaft“ als Speerspitze der Tatherrschaftsdoktrin Es ist jetzt fast ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Claus Roxin mit seiner Monographie über „Täterschaft und Tatherrschaft“1 jenes „Meisterwerk“ vorgelegt hat, das wie „kein anderes die deutschen, die europäischen und die internationalen Strafrechtslehren beeinflusst hat“2. Was sie in den letzten zwei Jahrzehnten zum Ankerpunkt einer weltumspannenden Judikatur und der darüber geführten strafrechtsdogmatischen Diskussion gemacht hat, ist beim Erscheinen der 1. Auflage 1963 eher auf leisen Sohlen dahergekommen: Die „Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate“ findet sich darin auf S. 242-252, also auf 10 Seiten von insgesamt fast 6003. Nachdem sich die Aufmerksamkeit für diese neue dogmatische Figur über 20 Jahre lang auf den akademischen Bereich beschränkt hatte4, ist sie durch vier große Schübe in einen Brennpunkt der nationalen und internationalen Strafrechtspraxis gerückt worden. Nach dem Sturz der südamerikanischen Diktaturen wurde schon Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts von der argentinischen Corte Suprema die Figur der Tatherrschaft durch Steuerung eines organisatorischen Machtapparats ausdrücklich anerkannt5, und vor zwei Jahren hat die Corte Suprema Perus in dem spektakulären Fujimori-Fall in ihrem Urteil vom 7. April 2009 in einer tief dringenden und selbst 1

Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963; 8. Aufl. 2006. Rotsch ZIS 2008, 263. 3 Die weitere Diskussion stützte sich deshalb auch meist auf die ausführlichere Entwicklung dieser Rechtsfigur in dem Aufsatz von Roxin „Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate“, GA 1963, 193 ff. 4 In Deutschland „nahm die Rechtsprechung 25 Jahre lang von der neuen Konzeption keine Notiz, obwohl sie bei der Aburteilung von NS-Gewaltverbrechen hätte hilfreich sein können“, siehe Roxin AT II § 25 Rn. 108. 5 Wobei allerdings im Ergebnis nur eine sog. notwendige Teilnahme bejaht worden ist, siehe Ambos GA 1998, 237 f; Roxin AT II § 25 Rn. 109. 2

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die in Deutschland gewohnte Intensität der Entscheidungsbegründungen noch in den Schatten stellenden Weise die „mittelbare Täterschaft kraft Willensherrschaft in organisatorischen Machtapparaten“ ausgelotet und zur Grundlage der Verurteilung genommen6. Die nächste Schubkraft hat das Völkerstrafrecht entwickelt in Gestalt der Rechtsprechung der ad-hocTribunale und des Internationalen Strafgerichtshofes sowie der Regelung in Art. 25 Nr. 3 a des Rom-Statuts, wo ausdrücklich die Begehung der Straftat „durch eine andere Person, ohne Rücksicht darauf, ob die andere Person strafrechtlich verantwortlich ist“, als eine Form der strafrechtlichen Verantwortlichkeit anerkannt worden ist.7 Auf diesen Bereich des zu verbrecherischen Zwecken eingesetzten Staatsapparats, der den eigentlichen Anlass für die Entwicklung der ganzen Rechtsfigur gebildet hat8, hätte sich auch der 5. Strafsenat des BGH in seiner Grundsatzentscheidung zur „Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR“9 beschränken können. Aber stattdessen hat er die von dem Bedürfnis, den an den Schalthebeln eines Unrechtsregimes Sitzenden nicht „billiger“ davon kommen zu lassen als die Schergen des Systems, ausgehende Schubkraft dazu benutzt, um den Begriff der Organisationsherrschaft möglichst weit zu fassen und außer „mafiaähnlich organisierten Verbrechen“10 auch „unternehmerische oder geschäftsähnliche Organisationsstrukturen“11 einzubeziehen. Was sich in der Lederspray-Entscheidung als eine Entgrenzung des Handlungsbegriffs angedeutet hatte12, ist damit in Form eines gezielt eingesetzten13 obiter dictum als mittelbare Täterschaft qua Organisationsherrschaft auf den gesamten „Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen“14 vollendet worden.

6

In Rn. 723 ff der umfangreichen Entscheidung, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ZIS 2009, 622 ff. Rezensionen von Rotsch, Ambos, Roxin, Schroeder, Jakobs, Herzberg u. a. in ZIS 2009, 549 ff; Ambos JIntCrimJ 2011, 137. 7 Wobei die einzelnen Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft durch Organisationsherrschaft hierdurch naturgemäß nicht geklärt worden sind, siehe dazu Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2002, S. 568 ff, 590 ff; ders. Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 25 ff. 8 So deutlich Roxin (Fn. 1) S. 250 unter Hinzufügung der einen „Staat im Staat“ bildenden Verbrecherorganisation. 9 BGHSt 40, 218 ff. 10 BGHSt 40, 237. 11 BGHSt 40, 236. 12 BGHSt 37, 106 (114) und dazu Schünemann in: BGH-Festgabe Wissenschaft Band 4, 2001, 621, 623 ff. 13 Siehe die Schilderung bei Nack GA 2006, 342 ff. 14 BGHSt 40, 237.

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II. Und die Frage der Überdehnung 1. Dass eine dogmatische Theorie nicht nur intensive Diskussionen in der Fachwelt auslöst, sondern nach Jahrzehnten über die deutschen Grenzen hinaus die höchstrichterliche Rechtsprechung prägt, markiert einen seltenen und herausragenden Erfolg der Rechtsdogmatik in einem Zeitalter, in dem sich die Rechtsprechung aus dem durch Überfeinerung und durch eine Überfülle an Konstruktionen gekennzeichneten Angebot der Rechtsdogmatik in der je nach dem gewünschten Ergebnis passenden Weise wie in einem „Gemischtwarenladen“ zu bedienen gelernt hat15. Völlig zu Recht hat Claus Roxin deshalb mit Genugtuung feststellen können, dass „meine Arbeiten zur Organisationsherrschaft“ vom Obersten Strafgerichtshof Perus in seinem Fujimori-Urteil „umfassend ausgewertet werden“ und sich dieser „auf die letzte Fassung der von mir entwickelten Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft stützt“16. Auf den ersten Blick wirkt es deshalb überraschend, dass Roxin sich dennoch in den letzten Jahren immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema der Organisationsherrschaft gedrängt gefühlt hat17. Doch wird bei einer genaueren Analyse von Judikatur und Literatur deutlich, dass er hierbei von der Sorge geleitet wird, seine strafrechtsdogmatische Schöpfung werde gerade durch ihre spektakuläre Karriere in der Rechtspraxis ihrer dogmatischen Trennschärfe beraubt und in ein Passepartout nach dem Muster der alten Animus-Theorie verwandelt. Selbst die der Konzeption Roxins am stärksten zugeneigte Fujimori-Entscheidung des Obersten Peruanischen Strafgerichtshofes kombiniert diese nämlich in einer analytisch schwer trennbaren Weise mit der im gedanklichen Ansatz grundsätzlich abweichenden Konzeption Schroeders, die die mittelbare Täterschaft (nur) von der unbedingten Tatbereitschaft des Vordermannes abhängig macht18, und bei dem Eingang von Roxins Schöpfung in die Judikatur des BGH muss man wegen deren Entgrenzung in Richtung auf Wirtschaftsunternehmen fast von einem Pyrrhussieg sprechen. 2. Dadurch ist nicht nur die Diskussion um die begrifflichen Merkmale der Organisationsherrschaft wieder voll entbrannt, sondern sogar die überwältigende Vorherrschaft der ganzen Tatherrschaftsdoktrin in der Straf15

Dazu Schünemann FS Roxin, 2001, 1, 6. Roxin ZIS 2009, 565. 17 In: FS Grünwald, 1999, 549; Amelung (Hrsg.) Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates pp. 2000, S. 55 f.; BGH-Festgabe Wissenschaft, 2001, 177, 190 ff; NJW-Sonderheft für Schäfer, 2002, 52; AT II § 25 Rn. 105 ff; (Fn. 1) S. 704 ff.; FS Schroeder, 2006, 387 (= ZIS 2006, 293); SchwZStr 125 (2007), 1; ZIS 2009, 565 ff; FS Krey, 2010, S. 449. 18 Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 168; JR 1995, 177; ZIS 2009, 569 ff; ähnlich das von Heinrich Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 273 ff vorgeschlagene Kriterium der „organisationstypischen Tatgeneigtheit“. 16

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rechtsdogmatik ins Wanken geraten, indem sie in den allerneuesten, bis zu den Fundamentalfragen vordringenden Monographien von Haas und Rotsch verworfen und durch eine Rückkehr zu zivilistischen Konstruktionen bzw. dem Einheitstäterbegriff ersetzt wird. Nachfolgend möchte ich mich kurz mit der Entgrenzung der dogmatischen Figur der Organisationsherrschaft durch den BGH und der „neuen Unübersichtlichkeit“ der hierfür vorauszusetzenden Kriterien sowie anschließend etwas ausführlicher mit der brandneuen Totalkritik an der Tatherrschaftsdoktrin auseinandersetzen. Zuvor möchte ich wenigstens andeuten, dass der gegenwärtige Stand der Täterschaftsdogmatik ein exemplarisches Feld auch für wissens- und entscheidungssoziologische Analysen liefert: Dass die Tatherrschaftslehre unmittelbar nach ihrem größten Triumph in ihren Fundamenten angegriffen und die Rückkehr zu vormodernen Täterschaftsparadigmen propagiert wird, könnte hinter dem von mir apostrophierten „Peter-Prinzip in der Strafrechtsdogmatik“19, der zufolge jede Theorie bei immer feinerer Durchbildung über ihre Leistungsfähigkeit hinauswächst, eine historische Zirkelhaftigkeit der rechtsdogmatischen Paradigmenbildung aufweisen, indem nach Naturalismus, Neukantianismus, Finalismus und Funktionalismus20 nunmehr das Pendel wieder zu den vor dem Siegeszug des Naturalismus im 19. Jahrhundert unternommenen Abgrenzungsversuchen zurückschlägt21. Und das Manöver der Rechtsprechung, sich sowohl bei Roxins als auch bei Schroeders Konzeption zu bedienen und sodann die ursprünglich für Terrorregimes ersonnene Figur der Organisationsherrschaft auf Wirtschaftsunternehmen bis hin zu Arztpraxen und Anwaltskanzleien hin auszudehnen22, lädt über meine vordergründige Charakterisierung als eines „an keine logische Konsequenz gebundenen Schmetterlings, [der] auf das nächste dogmatische Gewächs hinüberflattern und sich damit dem ordnenden Zugriff der Rechtswissenschaft immer wieder entziehen kann“23, zu einer memetischen,

19

Schünemann/Greco GA 2006, 777, 780. Zu dieser Epochenbildung Schünemann Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1, 19 ff; Roxin AT I § 7 Rn. 12 ff. Zum Neukantianismus ausf. Ziemann Neukantianisches Strafrechtsdenken, 2009. 21 Zwar ist diese Einordnung der aktuellen Fundamentalkritik an der Tatherrschaftsdoktrin, die von Haas und Rotsch entwickelt worden ist, nur unter Inkaufnahme einer erheblichen Vergröberung möglich, doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass jedenfalls der Ausgangspunkt von Haas in den individualisierenden Kausalitätstheorien und in der letztlich auf die kantianische Philosophie zurückweisenden Figur des Rechtsverhältnisses zwischen Subjekten liegt, während Rotsch selbst seinen Ausgangspunkt in der Einheitstäterdiskussion des 19. Jahrhunderts nimmt, näher unten VI. 22 Eingehende Darstellung bei Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 372 ff. 23 In: FS Roxin, 2001, 1, 6. 20

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d.h. der Evolutionsbiologie nachempfundenen24 Erklärung der Karriere rechtsdogmatischer Figuren ein: Dass Roxin 1963 den Ausdruck „organisatorischer Machtapparat“ und nicht den nach Extension und Intension seiner Schöpfung eigentlich passgenaueren Ausdruck „terroristisches Zwangsregime“25 benutzt hat, hat die Übernahme durch die BGH-Rechtsprechung entscheidend begünstigt, weil dadurch die Entgrenzung unter Denaturierung von Roxins Schöpfung zur Anwendung im gesamten Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit ohne Veränderung der sprachlichen Oberflächenstruktur vonstatten gehen konnte.

III. Die Ausweitung der mittelbaren Täterschaft auf Leitungsorgane in Wirtschaftsunternehmen durch die Rechtsprechung 1. Die innerhalb weniger Jahre fest etablierte Rechtsprechung des BGH zur „mittelbaren Täterschaft bei unternehmerischer Betätigung“26 ist bereits in ihrer Keimzelle, dem Urteil zur Verantwortlichkeit des Nationalen Verteidigungsrates der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten vom 26.7.1994, durch die Zauberformel der „Auslösung regelhafter Abläufe durch Ausnützung von durch Organisationsstrukturen bestimmten Rahmenbedingungen“27 vollständig ausgeprägt worden. Obwohl der BGH in dieser „Gründungsurkunde“ der neueren Judikatur den Ausdruck „Tatherrschaft“ dreimal benutzt, hat er sich in der Sache von Roxins Tatherrschaftskonzeption gelöst, indem er auf jede Überlegenheit in der Steuerungsmacht des Hintermannes verzichtet (die bei Roxin durch die Kriterien der Fungibilität des Vordermannes und der Rechtsgelöstheit des Machtapparates erhalten bleibt und von mir im Bild der „Tatherrschaftsstufen“ ausgedrückt worden ist28) und sich mit der bloßen, dem Hintermann 24

Dazu grdl. Dawkins The Selfish Gene, 1976; ferner Wegener Memetik, 2001; Philipps in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, 2002, S. 319 ff. 25 Denn Roxin hat in Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 1) S. 250, das mordende staatliche Regime als „praktisch bedeutsamsten Fall“ sowie als „zweite Hauptform“ Verbrecherbanden u. ä. mit einem „vom Wechsel der Mitglieder unabhängigen Bestand“ (S. 251) bezeichnet, die ohne einen internen Zwangscharakter schwerlich existieren können. 26 BGH JR 2004, 246; BGHSt 48, 331 (342); 49, 147 (163); BGH NStZ 2008, 89; 2009, 437; Übersicht über die Rechtsprechung bei Rotsch (Fn. 22) S. 376 ff. Zur Kritik zuletzt Heinrich FS Krey, 2010, 147 m. z. w. N. 27 BGHSt 40, 218 (238). 28 LK-Schünemann § 25 Rn. 65; Schünemann in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349, 362 ff; ders. FS Schroeder, 2006, 401 ff.

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bekannten unbedingten Tatbereitschaft des Vordermannes im Sinne Schroeders begnügt. Das zeigt sich unmissverständlich durch die letzte in BGHSt 40, 237 angeführte Fallgruppe der (wahrheitsgemäßen) Denunziation zwecks Auslösung der Verfolgung des Denunzierten durch einen „rechtswidrig handelnden Staatsapparat“: Während die Annahme einer mittelbaren Täterschaft in dem sog. Dohna-Fall29 richtigerweise darauf gestützt werden kann, dass der Täter das Opfer (!) als unvorsätzliches Werkzeug der eigenen Vernichtung benutzt, besitzt der Denunziant keinerlei überlegene Steuerungsmöglichkeit. 2. Letzten Endes bleibt also in der Täterschaftskonzeption des BGH nur das Wissen des Hintermannes um die Tatbereitschaft des Vordermannes bzw. der Vorderleute übrig. Dass das jedoch keine ausreichende Basis liefert, folgt sowohl aus dem Gesetz als auch aus einem kriminalpolitischen argumentum ad absurdum: Indem § 30 Abs. 2 StGB die Annahme des Erbietens, ein Verbrechen zu begehen, der versuchten Anstiftung gleichstellt, wird die dem Gesetz zugrunde liegende Vorstellung deutlich, dass das bloße Wissen um die Tatbereitschaft eines anderen keine Täterschaft begründen kann. Andernfalls müsste auch, worauf Rotsch30 mit Recht hingewiesen hat, die (in zwischenmenschlichen Beziehungen häufig anzutreffende) bloße Gehorsamsbereitschaft des Vordermannes den Hintermann zum Täter machen, womit aber gerade diejenigen Anstiftungsformen aus § 26 StGB herausgenommen würden, die die darin angeordnete Gleichstellung mit dem Strafrahmen des Täters allein vertretbar erscheinen lassen31. Vollends widersinnig wird die Konstruktion der mittelbaren Täterschaft durch unternehmerische Tätigkeit auf der Konkurrenzebene, wo der BGH nunmehr anerkannt hat, dass nur eine Tathandlung vorliegt, wenn der Tatbeitrag lediglich in der Leitung und Organisation der Gesellschaft bestand.32 Nimmt man dagegen eine „bloße“ Beteiligung durch Unterlassen an33, so ist man nicht daran gehindert, bezüglich jeder selbständigen Haupttat eine selbstän29

Wiedergegeben bei Schroeder Der Täter hinter dem Täter, S. 145 ff; Rotsch ZStW 112 (2000), 518, 523 Fn. 31. Es geht darum, dass jemand seinen Feind in einen terroristischen Hinterhalt schickt (die literarisch berühmteste Fassung dieses Motivs findet sich übrigens bei Graham Greene Der stille Amerikaner, 1955), der eigentlich für ihn selbst bestimmt war. Anders als Schroeder Der Täter hinter dem Täter, S. 152 sehe ich den Grund für die mittelbare Täterschaft hier nicht in der Ausnutzung der Tatbereitschaft des im Hinterhalt liegenden Terroristen, sondern (außer in der Auslösung von dessen error in persona, der aber bei Graham Greene nicht gegeben ist) in der manipulativen Steuerung des arglosen Opfers, ähnlich wie wenn man jemandem ein vergiftetes Getränk reicht und dann einen Toast ausbringt. 30 ZStW 112 (2000), 525 f. 31 Näher und mit Nachweisen LK-Schünemann § 26 Rn. 14. 32 BGH NStZ 2008, 353 m. w. N.; ebenso bereits in der Basisentscheidung BGHSt 40, 218 (238 f); Fischer Vor § 52 Rn. 34 f. 33 So Roxin AT II § 25 Rn. 137.

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dige Beteiligung anzunehmen, so dass dann auch für den Unternehmensleiter ebenso wie für die Vorderleute die kriminalpolitisch angemessene Realkonkurrenz gemäß § 53 StGB Platz greift34. Wegen dieser fatalen Konsequenz, dass der mittelbare Täter auf der Konkurrenzebene gegenüber den Ausführungsorganen privilegiert wird, dürfte damit die prima facie scheinbar für den BGH sprechende kriminalpolitische Bewertung letztlich zu Lasten seiner Konstruktion ausschlagen: Die richterrechtliche Schaffung der neuartigen Rechtsfigur „mittelbare Täterschaft des Unternehmensleiters bei aller mit seinem Wissen aus dem Unternehmen heraus begangenen Straftaten“ ebnet die dogmatisch vom Gesetz eindeutig gezogenen Grenzen zwischen der Unterlassungstat des Geschäftsherrn als Garanten und dem Begehungsdelikt in weder dogmatisch noch kriminalpolitisch überzeugender Weise ein. Sie bedeutet deshalb keine Fortentwicklung, sondern eine Denaturierung der von Claus Roxin entwickelten Tatherrschaftsdoktrin und sollte wieder zurückgenommen werden.

IV. Unklarheiten über die begrifflichen Merkmale der Organisationsherrschaft 1. Die von der Rechtsprechung des BGH vorgenommene Ausweitung der Organisationsherrschaft ist dadurch begünstigt worden, dass die Konturierung dieser Rechtsfigur zu einem klassifikatorischen Begriff nicht geringe Schwierigkeiten bereitet und dementsprechend nicht nur umstritten geblieben ist, sondern auch Claus Roxin zu mehreren Modifizierungen gedrängt hat. Die beiden ursprünglichen Säulen wurden von der Rechtsgelöstheit des Machtapparates und der Fungibilität der Ausführungsorgane gebildet. Schroeders entgegengesetztes Kriterium der Tatbereitschaft des Ausführungsorgans ist in der Rechtsprechung ohne klare Unterscheidung zwischen Alternativität oder Kumulativität hinzugefügt und auch von Roxin als zunächst selbständiges, neuerdings aber nur noch unselbständiges (indizielles) Kriterium in seine Konzeption eingebaut worden35. Das Kriterium der Rechtsgelöstheit, das ursprünglich im Sinne einer die Fundamente einer gerechten staatlichen Ordnung leugnenden Zwangsgewalt gemeint gewesen sein dürfte36, ist von Roxin mittlerweile dahin ausgedehnt worden, dass es nur noch auf die Rechtsgelöstheit bezüglich der speziellen Deliktskategorie

34

LK-Rissing-van Saan Vor § 52 Rn. 85 m. w. N. FS Schroeder, 2006, 397 f; SchwZStr 125 (2007), 15 f; ZIS 2009, 567. 36 Das zeigen die Beispiele der nationalsozialistischen Mordmaschinerie und der Mafiaorganisation. 35

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ankomme37, woran Rotsch die Kritik geknüpft hat, dass das Merkmal dadurch zirkulär werde38. Unerschütterlich festgehalten hat Roxin dagegen am Kriterium der Fungibilität des Ausführungsorgans, auch wenn das zu auf den ersten Blick wenig einleuchtenden Differenzierungen zwingt: Etwa wenn die Mordabteilung eines Geheimdienstes unliebsame Staatsoberhäupter entweder mit vergifteten Zigarren39 oder mit Pistolenschüssen beiseite zu räumen pflegt, so wäre der Geheimdienstchef bei einer nur von einem Spezialisten ausführbaren Vergiftungsaktion lediglich Anstifter, bei einer Erschießungsaktion hingegen mittelbarer Täter, obwohl sich die Unersetzlichkeit eines Giftexperten, wenn er dem strukturellen Zwang im Machtapparat40 ebenso nachgibt wie der Todesschütze, im konkreten Tatgeschehen nicht mehr auswirkt. 2. Diese nicht zu leugnenden Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Rechtsfigur41 beweisen aber meiner Meinung nach nicht deren Untauglichkeit, sondern sind nur ein Beleg für ihre methodologische Struktur als Typus, wie er für alle grundlegenden Zurechnungsfiguren unabweisbar ist, weil die Vorstellung eines klassifikatorischen Begriffs für sprachliche Instrumente dieser Abstraktionsstufe eine Illusion ist42. Rechtsgelöstheit, strukturelle Zwangsausübung, Fungibilität und fraglose Ausführungsbereitschaft sind dementsprechend quantitativ abstufbare Züge des Typus „Organisationsherrschaft“, der auch dann noch erfüllt ist, wenn einige Züge stärker, andere schwächer ausgeprägt sind, sofern nur ein deutlich hohes Gesamtniveau der Merkmalsausprägungen vorliegt43. Übrigens findet sich 37

FS Schroeder, 2006, 396; SchwZStR 125 (2007), 12 f. Rotsch ZStW 112 (2000), 534; Herzberg ZIS 2009, 577. 39 Ein derartiger Versuch soll vom CIA gegen Fidel Castro unternommen worden sein. 40 Worunter ich die mit der Rechtsgelöstheit implizierte und deshalb auch von den Ausführungsorganen als Druck empfundene Allgegenwart von Gewalt verstehe. Hierin liegt m. E. der entscheidende Unterschied zum Wirtschaftsunternehmen, s. LK-Schünemann § 25 Rn. 130 ff. 41 Die namentlich Rotsch in zahlreichen Abhandlungen zum Gegenstand der Kritik genommen hat, zuletzt in „Einheitstäterschaft“ (Fn. 22) S. 322 ff. 42 Zum Typus allgemein siehe Puppe GS Arm. Kaufmann, 1989, 15, 25 ff; Kuhlen ARSPBeiheft 45 (1992), 101 (119 ff); Schünemann FS Hirsch, 1999, 363 ff; FS Otto, 2007, 795 f; zur Tatherrschaft als Typus LK-Schünemann § 25 Rn. 38 ff; FS Schroeder, 2006, 409 ff. Für den Fahrlässigkeitsbegriff umfassend ausgeführt von Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001; MüKo-Duttge § 15 Rn. 126 ff. 43 Man sollte sogar noch eine weitere (quantitativ abstufbare) Ausprägung hinzufügen, die ich die „Steuerungsabhängigkeit“ nennen und mit der ich die Notwendigkeit bezeichnen möchte, in einem System hochgradiger Arbeitsteilung die verschiedenen Beiträge durch Leitungsmaßnahmen so zu koordinieren, dass das Gesamtergebnis der Rechtsgutsverletzung, das jedem einzelnen Ausführungsorgan nicht erreichbar wäre, möglich gemacht wird – entsprechend der in der Umgangssprache ausgeformten Vorstellung vom „Schreibtischtäter“, der die verschiedenen einzelnen Beiträge in einer Weise koordiniert, die einerseits unverzichtbar ist und andererseits nur ihm zu Gebote steht. Auf der Ebene der Mittäterschaft kann die Leistung des Dirigen38

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diese methodologische Struktur bei genauer Betrachtung auch bei den Standardfiguren der mittelbaren Täterschaft, etwa bei der Benutzung eines im entschuldigenden Notstand gemäß § 35 StGB handelnden Werkzeuges44: Die Feinabgrenzung, wann es dem Ausführungsorgan entsprechend Abs. 1 Satz 2 zuzumuten war, die Gefahr hinzunehmen, ist letztlich ebenfalls von verschiedenen quantitativ abstufbaren Kriterien abhängig.

V. Die neueste Grundsatzkritik von Haas an der Tatherrschaftslehre In dem knappen halben Jahrhundert seit dem Erscheinen der 1. Auflage von „Täterschaft und Tatherrschaft“ hat es immer wieder umfassende oder partielle Angriffe auf Roxins Tatherrschaftskonzeption gegeben, die dieser von Auflage zu Auflage postwendend zurückgewiesen hat45. Aber kein Angreifer hat in so prinzipieller Weise die Fundamente der Tatherrschaftslehre in Frage gestellt wie jüngst Haas (und kurz darauf Rotsch, auf den ich anschließend eingehen werde). Haas rügt vor allem die mangelnde materielle Fundierung der Tatherrschaftslehre46, deren Integration in die Unrechtslehre bis heute nicht gelungen sei47. Ein im Anschluss an Herzberg48 vorgebrachter zentraler Kritikpunkt lautet, das Täterkriterium der Tatherrschaft – ein Überbleibsel des Naturalismus49 und der finalen Handlungslehre50 – werde gelegentlich faktisch verstanden (so, wenn die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate mit dem Argument der größeren Erfolgswahrscheinlichkeit der Tatbegehung durch Indienstnahme eines solchen Apparats begründet werde), aber gelegentlich auch normativ, etwa wenn bei der mittelbaren Täterschaft kraft Nötigung auf § 35 StGB zurückgegriffen werde. „Die Tatherrschaftslehre oszilliert in durchaus inkohärenter und rational nicht

ten bei der Aufführung einer Symphonie als Vergleich dienen: Obwohl dieser als einziger kein Instrument in der Hand hält, mit dem er Töne produziert, hängt die Hervorbringung des Tonkunstwerks wesentlich von seiner Koordinierungsleistung ab, die andererseits bei Kammermusik verzichtbar ist. 44 Vgl. nur Roxin AT II § 25 Rn. 47 ff. 45 Roxin (Fn. 1) S. 662 ff. 46 Haas Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 23 ff; ähnlich bereits ders. ZStW 119 (2007), 519 ff. 47 Haas (Fn. 46) S. 23. 48 In: Amelung (Hrsg.) Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates pp. 2000, S. 33 ff, 46 f. 49 Haas beruft sich u.a. auf Jakobs AT § 21, 23 f; FS Lampe, 2003, 575. 50 Haas (Fn. 46) S. 24.

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nachvollziehbarer Weise zwischen Normativität und Faktizität“51, weshalb Tatherrschaft letztlich kein Begriff, sondern „lediglich ein Leitprinzip“ sei52. Deshalb frage es sich, ob der Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme (scil. im Sinne der Tatherrschaftslehre) überhaupt ein bindendes allgemeines axiologisches Prinzip zugrunde liege oder ob es sich nicht nur um eine variable, zur mehr oder weniger beliebigen Disposition des Gesetzgebers stehende, gleichsam nominelle Grenze handele, die nur noch durch von Fall zu Fall ungeklärte Topoi und damit zufällig und unvorhersehbar gezogen werde; ob mit der von mir vorgenommenen Rekonstruktion als Typusbegriff und der zugehörigen Theorie der Tatherrschaftsstufen das Problem gelöst werde, sei mehr als fraglich53. 2. Was Haas hier an Kritikpunkten und rhetorischen Fragen vorbringt, geht aber sowohl methodisch als auch inhaltlich von (teilweise unausgesprochenen) falschen Prämissen aus und bietet deshalb eine willkommene Gelegenheit, die in der Tatherrschaftsdoktrin für die Begehungsgemeindelikte sachlogisch zutreffend konkretisierte allgemeine normative Struktur der Täterschaft im Strafrecht ebenso vor den Missverständnissen der Kritik zu bewahren wie das allgemeine Verhältnis von Normativität und Faktizität im Recht. a) Den Ankerpunkt für alle vom Gesetzgeber in § 25 StGB umschriebenen Formen der Täterschaft bildet deren unbestrittener Kernbereich, nämlich die (im formell-objektiven Täterbegriff verabsolutierte) Ausführung der im jeweiligen Tatbestand umschriebenen Handlung mit eigener Hand. Damit auch die anderen Täterschaftsformen als Manifestationen des in der unmittelbaren Alleintäterschaft seine fundamentale Inkarnation findenden Prinzips begriffen werden können, muss nach der Zweck-Mittel-Relation gefragt werden, für die die Tatbestandshandlung des Alleintäters die völlig unbestrittene und unbestreitbare sachlogische Struktur abgibt: Der Zweck des Strafrechts besteht in der Bewahrung der (im jeweiligen Tatbestand ausgewählten) Rechtsgüter54, das Mittel besteht in der Adressierung von strafbewehrten Verboten an diejenigen Personen, die (in der Figur des Alleintäters) die für die Rechtsgüterverletzung oder -gefährdung (den Eintritt des strafrechtlichen Erfolges) maßgebliche Handlung vornehmen bzw. (all51

Haas (Fn. 46) S. 26. In dieser Kritik ausdrücklich zust. Kindhäser GA 2010, 542. Haas (Fn. 46) S. 32, 39 (auch gegen Schünemann Schroeder-FS, 2006, 409 ff). 53 Haas (Fn. 46) S. 39 mit Fn. 148 und 149. 54 Für diesen rechtstheoretischen Begriff des Rechtsguts spielt es keine Rolle, ob die Zurückweisung der Begrenzung der Strafgesetzgebung durch einen verfassungsunmittelbaren Rechtsgutsbegriff in der Inzestentscheidung BVerfGE 120, 224 (241 ff) zu überzeugen vermag (dagegen die durchschlagende Kritik in der Rezension von Roxin StV 2009, 544 ff), denn ohne den „systemimmanenten“ Rechtsgutsbegriff kommt auch diese Entscheidung nicht aus, sondern benutzt ihn permanent selbst zur Analyse des Inzesttatbestandes, BVerfGE 120, 243 ff. 52

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gemein) die die für den strafrechtlichen Erfolg maßgebliche Entscheidung treffen. Weil die anderen in § 25 StGB aufgeführten Täterschaftsformen mit der im Kernbereich der strafrechtlichen Zweck-Mittel-Relation stehenden Alleintäterschaft eine hinreichende Ähnlichkeit aufweisen müssen55, damit die identische Rechtsfolge legitimiert werden kann, ist die Inhaberschaft der maßgeblichen Entscheidungsposition = die Herrschaft über den Grund des (strafrechtlichen) Erfolges die aus dem Zweck des Strafrechts folgende und durch die originäre Inkarnation der Alleintäterschaft verifizierte sachlogische Struktur der Täterschaft. Die weiteren Täterschafsformen bei Erfolgsdelikten (mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft beim Begehungsdelikt, Täterschaft beim unechten Unterlassungsdelikt, Täterschaft beim Sonderdelikt und zu guter Letzt bei den eigenhändigen Delikten) müssen unter dieser leitenden Hinsicht der Handlungsherrschaft des Alleintäters so weitgehend gleichkommen, dass einerseits die tatsächlichen Unterschiede nicht mehr ins Gewicht fallen und andererseits der Abstand von der vom Gesetzgeber als Mitwirkung ohne gleichgewichtige eigene Herrschaft erst akzessorisch in die Strafbarkeit einbezogenen Teilnahme deutlich größer ist56. Um diese Vergleichbarkeit (= ausreichende Ähnlichkeit) in den ausschlaggebenden Hinsichten prüfen und beurteilen zu können, ist natürlich als erstes eine sorgfältige Analyse des „empirischen Sachgehalts“ geboten. Darin mit Haas in offenbar pejorativ gemeintem Sinne ein Überbleibsel des Naturalismus bzw. der finalen Handlungslehre zu sehen, wäre nur dann ein beachtlicher Einwand, wenn das Ergebnis dieser Analyse nicht mehr an den Anforderungen des dem StGB zugrunde liegenden Täterschaftsprinzips gemessen würde – aber genau diese Vernetzung von empirischem Sachgehalt und rechtlicher Wertung wird von der von Roxin für den Tatherrschaftsbegriff i. e. S. (der Begehungsgemeindelikte) entfalteten und von mir auf weitere Deliktsformen erstreckten Herrschaftstheorie im Unterschied zu ihren im 55 In der vom Gesetz vorgegebenen rechtlichen Gleichstellung dieser Täterschaftsformen eine „rechtliche Fiktion“ sehen zu wollen, wie es Haas (Fn. 46) S. 47 ff und Kindhäuser tun (GA 2010, 543), ist in meinen Augen ein befremdliches Missverständnis des Verhältnisses von Faktizität und Normativität (= von umgangssprachlichen Begriffen und Rechtsbegriffen). Der Rechtsbegriff „Töten“ in § 212 StGB meint „in Tatherrschaft den Tod herbeiführen“. Der umgangssprachliche Begriff des „Tötens mit eigener Hand“ liegt (individuelle Zurechenbarkeit vorausgesetzt) im umgangssprachlichen Bedeutungskern des Terminus „Töten“, die Manipulation eines fremden Suizids durch Irreführung im Bedeutungshof. Wenn letztere unter dem Leitaspekt der „maßgeblichen Entscheidung“ (= Herrschaft) als mittelbare Täterschaft qualifiziert und unter § 212 subsumiert wird, wird nicht irgendetwas „fingiert“ (d. h. eine nicht existierende Tatsache kontrafaktisch unterstellt), sondern die Gleichwertigkeit für ein rechtsgüterschützendes Strafrecht festgestellt. 56 Hierzu näher meine allgemeinen Überlegungen in LK-Schünemann § 25 Rn. 38 ff; für die Unterlassungsdelikte Rn. 40 f; für die Sonderdelikte Rn. 42 ff; für die eigenhändigen Delikte Rn. 45 ff.

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Schrifttum propagierten Rivalen57 durchweg geleistet. Am Beispiel meiner Theorie des unechten Unterlassungsdelikts, die die in § 13 StGB geforderte Entsprechung des Unterlassens zum Begehen in der (bei der Begehung durch die Handlung usurpierten, bei der unechten Unterlassung bereits zuvor prästabilierten) Herrschaft über das zur Rechtsgutsverletzung führende Geschehen findet58: Die sinnfällige, in der Rechtsprechung von Anfang an implizit wiederzufindende und auch von der h. M. als solche anerkannte Unterscheidung von Beschützer- und Überwachungsgarantenstellungen59 wird erst im (gut neukantianisch gesprochen) wertbeziehenden Verfahren unter der leitenden Hinsicht des Täterschaftsprinzips der Herrschaft als Systematisierung der rechtlich relevanten Herrschaftsformen instruktiv – man erlebt förmlich die Evidenz, den einen Pitbullterrier ausführenden Hundehalter und das ein Baby spazieren fahrende Kindermädchen, die den Hund nicht zurückpfeifen bzw. das Baby nicht hochnehmen und es dadurch vom Terrier beißen lassen, genau so als Täter einer Körperverletzung zu bestrafen, wie wenn sie es selbst gebissen hätten60. b) Dass Roxin bei der mittelbaren Täterschaft der Begehungsdelikte zur Begründung der Tatherrschaft des Hintermannes im Ausgangspunkt auf das Verantwortungsprinzip zurückgegriffen hat61, ist als Ermittlung einer hin57

Bei denen man von einer „Theorie“ im strengen Sinn nur sprechen kann, wenn sie – wie etwa durchweg bei Günther Jakobs – aus einheitlichen Grundprinzipien entwickelt werden, nicht aber, wenn es – wie bei dem willkürlichen Eklektizismus der Garantenstellungen beim unechten Unterlassungsdelikt in der Standardliteratur, der einfach ein Sammelsurium von inkohärenten Garanstellungen aneinander reiht (beispielhaft Schönke/Schröder-Stree/Bosch § 13 Rn. 17 ff, wo zuvor jedes verbindende Prinzip ausdrücklich abgelehnt worden ist) – nur um eine historisierende Fortschleppung von Judikaten geht, deren ehedem „geglaubte“ dogmatische Basis längst widerlegt ist, an die sich eine einer eigenen Theorie entratende (und deshalb die Aufgabe der Rechtswissenschaft gewissermaßen nur grimassierende) „Dogmatik“ aber faute de mieux zu klammern versucht. 58 Grdl. Grund u. Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229 ff, 236, jetzt auf Spanisch Fundamentos y límites de los delitos de omisión impropia, übersetzt v. Cuello Contreras, 2009; LK § 25 Rn. 41; zuletzt in FS Amelung, 2009, 303, 312 ff; zust. Roxin AT II § 32 Rn. 17 ff. 59 Arm. Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 282 ff; Androulakis Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 205 ff; Jescheck/Weigend AT § 59 IV 2; Wessels/Beulke AT Rn. 716; w. N. bei Roxin AT II § 32 Rn. 6. 60 Diese Aufgliederung in Beschützer- und Aufsichtsgarantenstellungen, die eine derartige Fülle an Wirklichkeitssubstanz abbildet und systematisiert, wird allerdings bei Schönke/Schröder-Stree/Bosch § 13 Rn. 9, als „substanzlos“ hingestellt, was nicht nur im Ausdruck grotesk danebengreift, sondern auch wenig später in Rn. 15 die Obhutsherrschaft, etwa eines Kindermädchens über den ihr anvertrauten Säugling, mit der Erfolgsabwendungsmöglichkeit des quivis ex populo i. S. der hypothetischen Kausalität verwechselt. 61 Danach hat Willensherrschaft inne, wer „auf einen anderen derart einwirkt, dass dieser von Gesetzes wegen der Verantwortung ledig wird“, wobei Letzteres anhand von § 52 a. F. (nunmehr § 35) StGB bestimmt wird, Roxin (Fn. 1) S. 148; ders. AT II § 25 Rn. 48 m. w. N.

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reichenden Bedingung völlig überzeugend, denn wenn das Gesetz den Vordermann als strafrechtlich nicht verantwortlich qualifiziert, ist das ein zwingender Beweis dafür, dass der Hintermann die für das Recht maßgebliche Entscheidung trifft und also die Tatherrschaft besitzt. Damit ist aber keinesfalls ausgesagt, dass die hinreichende Bedingung auch eine notwendige ist, so dass die für weitere Konstellationen vorgenommene Prüfung, ob neben einem für den Erfolg bereits verantwortlich zu machenden Täter auch noch eine andere Person eine vergleichbare Herrschaft ausübt und deshalb ebenfalls als Täter zu qualifizieren ist, entgegen dem völlig überzogenen Vorwurf von Haas weder „inkohärent“ noch „rational nicht nachvollziehbar“, sondern geradezu logisch zwingend ist. Bei der Mittäterschaft hat das Gesetz eine solche Doppelverantwortlichkeit in § 25 Abs. 2 StGB selbst anerkannt, im Verhältnis von Begehungstäter und dem Täter eines unechten Unterlassungsdelikts muss sie jedenfalls prima facie in Betracht gezogen werden, und auch bei der Figur der Nebentäterschaft stößt eine solche Konstellation ganz allgemein auf Zustimmung62. Wenn Haas meint, dass hierbei die Grenze „zufällig und unvorhersehbar gezogen werde“, diskreditiert das in Wahrheit nicht etwa die Tatherrschaftslehre, sondern das eigene Verständnis von der Methode, wie eine Konkretisierung derartiger Allgemeinbegriffe (sprich: Typusbegriffe) überhaupt nur gelingen kann. Natürlich ist der Rechtsanwender dort, wo der Gesetzgeber klar feststellbare eigene Entscheidungen getroffen hat (beispielsweise ob auch Notsituationen von Angehörigen überhaupt zu einer Entschuldigung nach § 35 StGB und damit zu einem Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen können), an diese Entscheidung gebunden, ohne dass diese Vorentscheidung aber „zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers“ stünde, denn auch der Gesetzgeber muss hierbei mit vernünftigen Gründen diejenigen Parameter suchen, die für den Eintritt des strafrechtlichen Erfolges ausschlaggebend sind (wieder am Beispiel des § 35 StGB: der böse Wille des Handelnden oder die Notsituation, was im letzteren Fall denjenigen zum Täter macht, der die Notsituation beherrscht). c) Hieraus folgt, dass jenseits der für die mittelbare Täterschaft des Hintermanns hinreichenden Bedingung, die das Verantwortungsprinzip angibt, besonders starke Analogien gefunden werden müssen, um eine Ausnahme von der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung, Hinter- und Nebenmänner regelmäßig nur als Teilnehmer über das Akzessorietätsprinzip mitverantwortlich zu machen, zu legitimieren: Die normative Freiheit des Vordermannes schließt es in der Regel aus, dem Hintermann die Herrschaft über den Grund des Erfolges zuzusprechen. Dass die ausreichende Beherr62 Hierzu Roxin AT II § 25 Rn. 265 f und ausf. Murmann Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993.

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schung durch den Vordermann dem Hintermann nach dem Modell der Tatherrschaftsstufen dennoch eine für Täterschaft ebenfalls ausreichende Herrschaft überlässt, muss deshalb argumentativ schlüssig abgesichert werden können, was in den Fällen der Organisationsherrschaft in strukturell auf Gewalt gegründeten organisatorischen Machtapparaten deshalb möglich erscheint, weil der Beherrscher dieses Apparats eine Steuerungsmacht besitzt, die mit derjenigen eines Anstifters schlechterdings nicht verglichen werden kann, sondern ihn sogar zum eigentlichen, den Vordermann klar überragenden Herrn des Geschehens macht. Ein anderes Beispiel bildet die Täuschung über das Motiv zum Suizid, weil es hier um eine erlaubte Handlung geht, für die (anders als beim Delikt) allein der freie Wille des Handelnden den „Grund des Erfolges“ bildet63. Dass also bei der Konkretisierung der Tatherrschaft nicht etwa inkohärente, sondern einander ergänzende normative und empirische Argumentationen miteinander verknüpft werden, stellt geradezu den Normalfall der Konkretisierung von Typusbegriffen dar. Übrigens hat eine derartige Methode bereits Roxin im Jahre 1963 vorgeschwebt, auch wenn er sie zu einer Zeit, als die sprachphilosophische Entschlüsselung des Typusbegriffs noch nicht gelungen war, mit dem intuitiv in dieselbe Richtung weisenden „konkret-allgemeinen Begriff“ im Sinne Hegels umschrieben hat64. Nachdem nunmehr arrivierte methodologische Untersuchungen hierzu vorliegen, führt die von Haas vertretene Forderung nach der Bildung eines klassifikatorischen Begriffs gewissermaßen in die methodologische Steinzeit der Begriffsjurisprudenz zurück und kann deshalb das Herrschaftskonzept nicht ernsthaft erschüttern. 3. Noch weniger gelingt dies anderen mit fundamentaler Zielrichtung vorgetragenen Attacken wie etwa den Behauptungen, der Herrschaftstheorie fehle das normative Fundament65, oder der Meinung von Haas, die Tatherrschaft bezeichne nur eine größere Tätergefährlichkeit und werde zu einer von der Tat losgelösten Eigenschaft des Täters, womit sie sehr nahe an der subjektiven Theorie und dem Gesinnungsstrafrecht lande66. Die sogar logisch stringente Verbindung der Herrschaftstheorie mit der teleologischen Grundlage des gesamten Strafrechts besteht, wie schon erwähnt, darin, dass das Strafrecht seine Verbote an diejenigen Personen adressiert, die die maßgebliche Entscheidung über den Eintritt der Rechtsgutsverletzung fällen können, eben an diejenigen, die die Herrschaft über den Grund des Erfolges ausüben. Und das ist nicht etwa eine im Innern des Täters liegende Eigenschaft, sondern betrifft das objektive Verhältnis des Täters zum Rechtsgut 63

Siehe dazu bereits LK-Schünemann § 25 Rn. 107. Roxin (Fn. 1) S. 528 ff. 65 Haas (Fn. 46) S. 23 ff. 66 Haas (Fn. 46) S. 42 f. 64

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und zu seiner Gefährdung, so dass die auf eine angebliche Nähe zur subjektiven Theorie gegründete Kritik abwegig ist. 4. Stattdessen für die mittelbare Täterschaft die gemeinrechtliche Doktrin vom Mandat wiederzubeleben, wie es Haas in einer bewundernswert akribischen Aufarbeitung der strafrechtlichen Dogmengeschichte seit Ulpian versucht67, bedeutet geradezu, einen Anschlag auf die gesamte moderne Entwicklung des Strafrechts aus der Grundidee des Rechtsgüterschutzes durch Generalprävention zu unternehmen: Dass die Strafrechtsdogmatik Jahrhunderte lang (und auch heute noch im Common Law und im angloamerikanischen Strafprozess) eine Kümmerfigur am Rande des Zivilrechts bildete68, kann für die heutige Strafrechtswissenschaft, die die besondere Teleologik des Strafrechts als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz und dessen besondere Legitimationsbedürftigkeit69 ernst nimmt, nicht mehr als ernst zu nehmendes Vorbild dienen. Und zu guter Letzt kann eine vermeintliche Schwäche der Herrschaftsdoktrin, dass sie nämlich bei ihrer ersten umfassenden Entfaltung durch Roxin in ihrer Reichweite unterschätzt worden sein dürfte, sogar in eine Stärke umgemünzt werden. Die ursprüngliche Konstruktion Roxins, wonach neben den Herrschaftsdelikten noch zwei weitere Deliktskategorien (mit entsprechend speziellen Kriterien der Täterschaft) in Gestalt der Pflichtdelikte und der eigenhändigen Delikte zu unterscheiden seien70, erweist sich nämlich nach dem zwischenzeitlich erreichten Stand der Dogmatik als eine den Bereich des Herrschaftsprinzips unnötig einschränkende Verabsolutierung der von Roxin zutreffend herausgearbeiteten Besonderheiten spezifischer Deliktskategorien. Bei den unechten Unterlassungsdelikten erwächst die Täterstellung nicht, wie es Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgrund der damals noch herrschenden

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Haas (Fn. 46) S. 86 ff. Was sich bei Haas übrigens auch anderweitig findet, nämlich in seiner Unrechtslehre, die er aus der Störung eines Rechtsverhältnisses zwischen zwei Personen gewinnen und dadurch ebenfalls zivilistisch verankern will (Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 54 ff, mit dem Plädoyer für eine strenge „Abhängigkeit des Strafrechts von der materialen Grundstruktur der Privatrechtsordnung“). 69 Das Strafrecht trennt den Bürger vom Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig gehaltenen Kreatur, und kann deshalb nicht durch zivilistische Konstruktionen legitimiert werden. 70 Wobei zu den Pflichtdelikten ursprünglich auch die unechten Unterlassungs- und die Fahrlässigkeitsdelikte gezählt wurden, s. Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963, S. 459 ff, 527 ff. Die Fahrlässigkeitsdelikte sind bereits ab der 3. Auflage (1975) herausgenommen worden, bei den unechten Unterlassungsdelikten hat sich Roxin AT II § 32 Rn. 17 ff der Herrschaftstheorie angeschlossen. 68

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formellen Rechtspflichttheorie71 den Anschein hatte, aus der Verletzung einer außerstrafrechtlichen formellen Rechtspflicht, sondern – wie Roxin mittlerweile anerkannt hat – aus einer spezifischen Herrschaftsform neben der durch die eigene Handlung vermittelten Geschehensbeherrschung, nämlich in Gestalt der schon vorher bestehenden Herrschaft über eine Gefahrenquelle oder über die Hilflosigkeit des Opfers72. Nichts anderes gilt für die verbleibenden Sonderdelikte, bei denen es sich durchweg um sog. Garantensonderdelikte handelt, bei denen die Täterqualifikation also auf einer Garantenstellung ebenso wie bei den unechten Unterlassungsdelikten beruht73. Ähnliches gilt schließlich auch für die eigenhändigen Delikte, bei denen es sich um Herrschaftsdelikte handelt, bei denen der Gesetzgeber aus bestimmten kriminalpolitischen Gründen die Täterschaft auf solche Personen beschränkt hat, die sich in einer spezifischen Schlüsselstellung zum durch den Tatbestand verfolgten kriminalpolitischen Interesse befinden und deren wichtigste Gruppe deshalb ebenfalls in Garantensonderdelikten besteht74.

VI. Die Kritik von Rotsch 1. Mit den vorstehenden Überlegungen ist schon ein guter Teil von Rotschs Kritik an der Tatherrschaft mit erledigt worden, denn auch Rotsch erklärt den Bezugspunkt der Tatherrschaft für völlig beliebig, sieht in diesem Kriterium keinerlei eigenständige Wertmaßstäbe, weil darin normative mit faktischen Begründungansätzen nahezu beliebig vermischt würden75, und will ihr stattdessen die allgemeine Lehre der objektiven Zurechnung subintellegieren, die die starren Kategorien von Täterschaft und Teilnahme auflösen und somit obsolet machen würde76. Im übrigen könnte man sich von Rotschs Bemühungen schon leicht deshalb distanzieren, weil seine zusammenfassende „Erkenntnis, dass eine Täterlehre, die an der Differenzierung in unterschiedliche Beteiligungsformen fast schon wider bessere Erkenntnis festhalte, weder den Anforderungen an ein rechtsstaatlich71

RGSt 66, 71; 69, 321 (323); BGHSt 19, 167 (168); v. Hippel Deutsches Strafrecht Bd. II, 1930, S. 161 ff; umfassend zur Dogmengeschichte dieser Lehre Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 218 ff; ders. ZStW 96 (1984) 287, 289 ff. 72 Roxin AT II § 32 Rn. 17 ff; zur hartnäckigen Verwechselung des hierfür maßgeblichen Herrschaftsbegriffs mit der (hypothetischen) Kausalität, die aber nicht einmal bei der Tatherrschaft i. e. S. das Entscheidende ist, zuletzt Schönke/Schröder-Stree/Bosch § 13 Rn. 15. 73 LK-Schünemann § 25 Rn. 42 f; Chen Das Garantensonderdelikt, 2006, S. 172 ff. 74 Siehe Schünemann FS Jung, 2007, 881, 886 ff; LK-Schünemann § 25 Rn. 45 ff, 51. 75 Rotsch (Fn. 22) S. 332. 76 Rotsch (Fn. 22) S. 421.

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liberales noch an ein im guten Sinne des Wortes modernes und gesamteuropäisches Strafrecht gewachsen“ sei77, als dogmatische These de lege lata nicht nachvollziehbar ist, weil ja unser Strafgesetzbuch nun einmal in den §§ 25-27 das Gegenteil anordnet und ein „gesamteuropäisches Strafrecht“ fürwahr in demjenigen „nebligen Sumpf“ der Zukunft verborgen ist, dessen Apostrophierung für die Theorie der Einheitstäterschaft durch Volk von Rotsch zurückgewiesen worden ist78. Aber selbst wenn man Rotsch auf seinem Weg zu einer Art naturrechtlicher Strafrechtsdogmatik zu folgen versucht, also versucht, die ganze Frage de lege ferenda zu traktieren und „die traditionellen Beteiligungsstrukturen vollständig aufzuheben“79, führt das von ihm für die Abgrenzung der Strafbarkeit angebotene Kriterium der „Nähe zwischen Verursachungsakt und Verursachungseffekt“ (S. 486), das er in terminologischer Anlehnung an Jakobs als „strafunrechtsrelevante Zuständigkeit“ bezeichnet (S. 470), aus dem „nebligen Sumpf“ nicht heraus, sondern teils darin im Kreis herum, teils immer tiefer hinein. a) Die Kreiselbewegung ergibt sich daraus, dass Rotsch statt auf das Herrschaftsprinzip auf die Regeln der objektiven Zurechnung des Erfolges abstellen will80. Dadurch wird aber etwas relativ Bekanntes (die immerhin im Ansatzpunkt in § 25 StGB vom Gesetz gebildeten Zurechnungsformen und die in einem halben Jahrhundert von der Tatherrschaftsdogmatik dazu entwickelten konkreten Regeln) durch etwas im Ausgangspunkt Unbekanntes ersetzt (die allgemeine Idee der objektiven Zurechnung, die im Gesetz weder ausgesprochen noch ausdifferenziert ist und die deshalb erst seit rund 40 Jahren mit nach wie vor höchst kontroversen Resultaten vor allem für die Fahrlässigkeitsdelikte entwickelt werden muss81). Es bildet ja gerade den dogmatischen Vorzug der Vorsatzdelikte, dass hier in Gestalt der vom Gesetz gebildeten Beteiligungskategorien und der dazu entwickelten dogmatischen Figuren eine differenzierte Landkarte der Zurechnung zur Verfügung steht, die bei den Fahrlässigkeitsdelikten erst mühsam geschaffen werden muss. b) An der Stelle, wo Rotsch selbst konkret wird, kommt er zu verfehlten Lösungen, die ungewollt die sachliche Angemessenheit des Herrschaftsprinzips und des dem StGB zugrunde liegenden Beteiligungssystems bewei77

Rotsch (Fn. 22) S. 481 f. Rotsch (Fn. 22) S. 482. 79 Rotsch (Fn. 22) S. 482. 80 Rotsch (Fn. 22) S. 292 f. 81 Als Initialzündung habe ich in GA 1999, 207, 212 den Beitrag von Roxin FS Honig, 1970, 170 ff bezeichnet. Schroeder hat auf die schon davor angestellten, eigenständigen Bemühungen um eine Entfaltung der Zurechnungslehre aufmerksam gemacht (Der Blitz als Mordinstrument, 2009, S. 39 ff), denen allerdings nicht die von Roxins Initialzündung ausgehende Resonanz beschieden war. 78

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sen, nämlich bei den Sonderdelikten, deren Analyse Rotsch als Beleg für die Richtigkeit seiner Konzeption anführt82. Vorauszuschicken ist, dass Rotsch bei den Sonderdelikten allein von der älteren Auffassung Roxins ausgeht, wonach es eine eigene Täterschaftskategorie der Verletzung einer außerstrafrechtlichen Sonderpflicht gebe, die sowohl für die unechten Unterlassungsdelikte als auch für einen großen Teil der Sonderdelikte zuträfe83, ohne auf die von mir entwickelte, die systematische Einheitlichkeit der Täterlehre wiederherstellende Kategorie der Garantensonderdelikte84, die Roxin mittlerweile jedenfalls für die unechten Unterlassungsdelikte übernommen hat85, zu berücksichtigen. Dasselbe gilt übrigens auch für die eigenhändigen Delikte, von denen Rotsch nur feststellt, dass sie nach überwiegender Auffassung aus dem Fokus einer (jeden) differenzierenden Beteiligungsformenlehre herausfielen86, ohne deren von mir entwickelte Einfügung in die Tatherrschaftslehre87 zu erwähnen. Aber von dieser Verkürzung seiner Tatherrschaftskritik durch Außerachtlassung der Weiterentwicklung, die sie mittlerweile erfahren hat, ganz abgesehen, machen Rotschs eigene Lösungen bei den Garantensonderdelikten deutlich, dass die wichtigen und kriminalpolitisch weisen Differenzierungen des Gesetzgebers bei ihm im Einheitsbrei der „strafunrechtsrelevanten Zuständigkeit“ aufgelöst werden: Rotsch kritisiert die aus dem geltenden Beteiligungssystem folgende Beschränkung der Strafbarkeit des extranen Hintermannes auf die Strafbarkeit wegen Anstiftung zu einer tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Haupttat des intranen Vordermannes88 mit dem Argument, dass der nicht qualifizierte Hintermann auch bei einem vorsatzlos handelnden qualifizierten Vordermann „für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges mittelbar zuständig“ bleibe, wenn er selbst nicht irre und deshalb den Mangel des Vordermanns „kompensiere“89. Dabei wird aber verkannt, dass der Gesetzgeber das Rechtsgut bei den Garantensonderdelikten nur gegenüber einer tatbestandsmäßigen Handlung des Garanten schützen will, weil es gegenüber Außenstehenden eines strafrechtlichen Schutzes entweder nicht würdig oder nicht bedürftig ist. Beispielhaft kann auf Ausspähungsakte Dritter bezüglich der aus viktimodogmatischen Gründen allein gegenüber den 82

Rotsch (Fn. 22) S. 486 i. V. m. 470 ff. Rotsch (Fn. 22) S. 351 f. 84 Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 92 ff, 138 ff; GA 1986, 331 ff; eine Zusammenfassung findet sich bei LK-Schünemann § 14 Rn. 12 ff, § 25 Rn. 42. 85 Roxin AT II, § 32 Rn. 17 ff. 86 Rotsch (Fn. 22) S. 352 f. 87 FS Jung, 2007, 881, 886 ff; LK § 25 Rn. 51 f. 88 RGSt 63, 315; BGHSt 4, 355 (359); BGH StV 1995, 71 f; Schönke/SchröderCramer/Heine § 25 Rn. 44; Roxin AT II § 25 Rn. 271 ff. 89 S. 475 am Beispiel einer Anstiftung zu § 331 StGB. 83

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Garanten des § 203 StGB geschützten Privatgeheimnissen hingewiesen werden90. Für das von Rotsch selbst zitierte Beispiel der Bestechung gilt nichts anderes, denn wenn ein Beamter von seiner Amtsstellung nichts weiß und deshalb Geschenke annimmt, wird das Rechtsgut der §§ 331 f StGB überhaupt nicht tangiert.

VII. Resultat Damit hat sich ergeben, dass gerade die Generalangriffe, die jüngst Haas und Rotsch gegen die Tatherrschaftsdoktrin geführt haben, ungewollt deren Richtigkeit und Lebensfähigkeit noch weiter bestätigt haben. Gleichzeitig weiß sich jeder Strafrechtsdogmatiker, der an diesem dogmatischen Gebäude weiterarbeitet, um eine vorgebliche Schrumpfung seines Fundaments ebenso wie schädliche Wucherungen abzuweisen, auf den titanenhaften wissenschaftlichen Schultern von Claus Roxin. Wer wie ich vor fast einem halben Jahrhundert von ihm die Regeln der Baukunst gelernt hat, wird nicht nur im Rückblick ein unauslöschliches Gefühl der Dankbarkeit empfinden und immer wissen, dass die bis heute bewahrte Weltgeltung der deutschen Strafrechtswissenschaft nicht auf finanzstarken Einrichtungen und ihren vollmundigen Programmen, sondern wesentlich auf ebendiesen Schultern ruht.

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Welzel Das Deutsche Strafrecht, S. 113; LK-Schünemann Vor § 26 Rn. 21, § 203 Rn. 159 u. allg. Rn. 16 f.

Verdirbt die Organisationsherrschaft die Tatherrschaftslehre? MANUEL A. ABANTO VÁSQUEZ

Der Jubilar hat eine Täterschaftslehre mitgestaltet, die weit über die deutschen Grenzen hinaus Anwendung gefunden hat.1 Auch wenn, wie er selbst mit Bescheidenheit betont,2 anderen wie u. a. Lobe, Welzel und Gallas die Urheberschaft der Grundidee zustehen mag, kann er zweifellos als Vater der modernen und ausgearbeiteten Fassung der Tatherrschaftslehre gelten.3 Allerdings wird diese Lehre seit einigen Jahren von vielen Seiten hart kritisiert. Zu den Kritikern zählen nicht nur radikale Normativisten,4 selten gewordene Vertreter der subjektiven oder objektiven Theorien5 oder Vertreter sonstiger Lehren.6 Selbst unter denen, die der Tatherrschaftslehre im Prinzip freundlich gesinnt sind, mehren sich die kritischen Stimmen angesichts der 1 Insb. durch seine Monographie „Täterschaft und Tatherrschaft“ (T u. T), die in Deutschland bereits in der 8. Aufl. 2006, erschienen ist. Die spanische Fassung („Autoría y dominio del hecho“, 2000) hat die Lehre und Rechtsprechung in Spanien und Lateinamerika stark beeinflusst; siehe u. a. Zaffaroni/Alagia/Slokar Derecho Penal. Parte general, 2000, § 52 II S. 742; Hurtado Pozo Derecho Penal Parte general, § 20 IV Rn. 2194 ff, 2197 f. Zum spanischen Strafrecht zuletzt Cuello Contreras in: Salazar Sánchez (Hrsg.), Dogmática actual de la autoría y la participación criminal, 2007, S. 209 ff; für Portugal s. de Figueiredo Dias FS Rodríguez Mourullo, 2005, 347 (dort insb. Fn. 13), 357. 2 Roxin BGH-FGW, 2000, Bd. IV, 178 f, 182; ders. AT II § 25 Rn. 30 ff. 3 I. d. S. siehe nur Schönke/Schröder-Heine vor §§ 25 ff Rn. 63; LK-Schünemann § 25 Rn. 10. Im Ausland s. de Figueiredo Dias (Fn. 1) S. 348; Cuello Contreras (Fn. 1) S. 216 f. 4 So bei Jakobs und seinen Schülern. Für sie soll bei den Allgemeindelikten der Begriff der „verbindenden Arbeitsteilung“ maßgebend sein; vgl. Jakobs FS Lampe, 2003, 561 ff. 5 S. die Nachw. für Deutschland bei Roxin T u. T (Fn. 1) § 44; LK-Schünemann § 25 ff Rn. 3 ff, 17 ff; Schönke/Schröder-Heine vor § 25 Rn. 51 ff; Rengier AT § 41 Rn. 4 ff; Fischer vor § 25 Rn. 2 ff. Im spanischsprachigen Strafrecht überlebt die formal objektive Theorie in Spanien, dazu Cuello Contreras (Fn. 1) S. 211 f, während in Lateinamerika fast einhellig die Tatherrschaftslehre vertreten wird; s. dazu Hurtado Pozo (Fn. 1) § 20 Rn. 2185 ff; Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 1) § 52 S. 740 ff. 6 Z. B. hatte der verstorbene chilenische Prof. Juan Bustos zuletzt vorgeschlagen, eine „Einheitstäterschaftslehre“ unter dem Gesichtspunkt der „tatsächlichen Fähigkeit zur Beeinträchtigung des Rechtsgutes“ zu konstruieren; siehe FS Gimbernat, Bd. 1, 2008, 733. Eine Darstellung anderer deutscher Neukonzeptionen s. bei Roxin AT II § 25 Rn. 37 und LK-Schünemann § 25 Rn. 12 ff.

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zahlreichen Schwierigkeiten bei der Handhabung der Theorie – vor allem, wenn es um Fälle von Sonderdelikten, um die Mitwirkung von Unternehmen oder um sog. „Machtapparate“ geht. Kann man also von einer Krise oder gar von einem „Abschied“ von der der Tatherrschaftslehre reden? Und deckt gerade der Fall der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate die Unzulänglichkeiten dieser Lehre auf? Im Folgenden werde ich mich mit diesen Fragen auseinandersetzen und dabei kurz auf die peruanische Entwicklung der letzten Jahre eingehen.

I. Voraussetzungen der Tatherrschaftslehre Nach Roxins Tatherrschaftslehre wird Täterschaft durch Tatherrschaft begründet.7 Diese „Tatherrschaft“ obliege demjenigen, der „durch seinen maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen als Schlüsselfigur, als Zentralgestalt erscheint“.8 Aus diesem leitenden Maßstab würden sich im Einklag mit der Gesetzesbeschreibung (§ 25 Abs. 1) drei verschiedene Formen der Täterschaft ergeben. Je nachdem, was für eine Herrschaft ausgeübt wird, erscheine eine bestimmte Täterschaftform: die Handlungsherrschaft begründe die unmittelbare Täterschaft, die Willensherrschaft die mittelbare Täterschaft und die funktionelle Tatherrschaft die Mittäterschaft. Die herrschende deutsche Lehre erkennt diese Folgerungen an,9 weist aber im Detail beachtliche Unterschiede auf. Vereinfachend könnte man von einer „strengen“ und einer „gemäßigten“ Tatherrschaftslehre sprechen, je nachdem, wie viel an objektiv feststellbarer „Herrschaft“ beim Tatmittler verlangt wird. Die Unterscheidung ist zwar bei der Mittäterschaft entstanden,10 beschreibt aber auch die aktuelle Lage der Diskussion bei der mittelbaren Täterschaft: Während einige die Willensherrschaft „streng“ als eine tatsächliche Herrschaft über den Tatmittler auffassen, beziehen andere wie Roxin diese Herrschaft lediglich auf den Erfolg11 und erscheinen dabei als „gemäßigt“ in Bezug auf diese Willensherrschaft. Insbesondere zeigen sich diese Unterschiede und ihre Folgen im Fall der Organisationsherrschaft: Ist der Befehl eines Hintermannes zur Tatausführung noch (mittelbare) Täterschaft, weil wegen des Bestehens eines (rechtsgelösten) Machtapparates die

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Roxin AT II § 25 Rn. 38 ff, 45 ff, 188 ff. Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 27. 9 S. Nachweise bei LK-Schünemann § 25 Rn. 11; Schönke/Schröder-Heine vor §§ 25 ff Rn. 62 und Roxin AT II § 25 Fn. 31. 10 Dort verlangen die Vertreter der „strengen“ Auffassung wie Roxin eine objektive Mitwirkung im Ausführungsstadium. Vgl. m. w. N. Rengier AT § 41 Rn. 18 ff. 11 Roxin AT II § 25 Rn. 45 f. 8

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Ausführung durch irgendeinen Vordermann garantiert ist, und bedeutet dies tatsächlich (Willens-) Herrschaft?

II. Der „Täter hinter dem Täter“ und der „Schreibtischtäter“ 1. Die Ausgangsfälle Zwei Fälle veranschaulichen die Problematik besonders eindringlich: der Katzenkönigs-Fall aus dem Jahr 1988 (BGHSt 35, 347) und der Mauerschützen-Fall aus dem Jahr 1994 (BGHSt 40, 218). Im erstgenannten Fall hatte sich die als mittelbare Täterin Verurteilte eines sich im vermeidbaren, von der Täterin verursachten Verbotsirrtum befindlichen Tatmittlers bedient, um die Frau ihres ehemaliges Freundes zu töten, was aber misslang. Da der Vordermann (der Ausführende) als Täter zweifellos feststand und sonst keine Mittäterschaftsvoraussetzungen vorlagen, wäre für den Hintermann bei „strenger“ Handhabung der Willensherrschaft grundsätzlich nur eine Bestrafung wegen Anstiftung in Frage gekommen. Der BGH meinte aber, dass auch der Hintermann (die Frau) Täter(in) sei, weil er den Irrenden „bei wertender Betrachtung“ der Umstände des konkreten Einzelfalles (Art und Tragweite des Irrtums, Intensität der Einwirkung des Hintermannes) als Werkzeug benutzt habe.12 Mit dieser Entscheidung distanzierte sich der BGH von der Auffassung, der zufolge die Täterschaft des Ausführenden als Ausfluss des „Verantwortungsprinzips“ stets die des Hintermannes ausschließe.13 Gleichwohl hat der BGH durch dieses neue Verständnis keine neue Kategorie der mittelbaren Täterschaft unter Ausnutzung eines vermeidbaren Verbotsirrtums (wie von Roxin und der h. L. plädiert14) eingeführt, sondern sich vorbehalten, unter Würdigung der genannten Umstände im Einzelfall mittelbare Täterschaft zu bejahen.15 Auch wenn diese Einschränkung kritisiert wurde, hat die h. L. die Kernaussage der Entscheidung gelobt: Aus Sicht der psychologischen Struktur der Herrschaftsbeziehung zwischen Hintermann und Vordermann bestehe eine tatsächliche „Herrschaft“, wenn der Hintermann durch Hervorrufung eines vermeidbaren (oder unvermeidbaren) Verbotsirrtums das Geschehen „gewollt auslöst und steuert“; das „Verantwortungsprinzip“ sei hier unbrauchbar.16 Damit hält man sich immer noch streng an die Willensherr12

BGHSt 35, 347 (353 f). BGHSt 35, 353. 14 LK-Schünemann § 25 Rn. 91 f m. w. N. 15 BGHSt 35, 353 f. 16 Roxin AT II § 25 Rn. 79 ff; LK-Schünemann § 25 Rn. 89 ff, 91. S. a. weitere Nachw. bei Schönke/Schröder-Heine § 25 Rn. 21, 38. 13

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schaft. Es besteht eine direkte Einwirkung des Hintermannes auf den Vordermann, denn dieser „beseitigt die (i. d. R. entscheidenden) Hemmungen, die von der Verbotskenntnis und selbst schon vom Verbotszweifel ausgehen und beherrscht psychologisch gesehen das Geschehen beim vermeidbaren Irrtum um keinen Deut weniger als beim unvermeidbaren.“17 Beim Verbotsirrtum des Ausführenden hat das Recht also „seinen motivierenden Einfluss auf den Vordermann verloren, er ist anfällig zur Begehung einer Straftat, und der Hintermann gewinnt bei Ausnutzung dieses Defizits Herrschaft.“18 Der zweite Fall ist problematischer und wurde erst in den letzten Jahren praxisrelevant.19 Nach dem Mauerfall ging es 1994 um die Strafbarkeit von Mitgliedern des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates sowie Grenzsoldaten der ehemaligen DDR. Die hohen Beamten hatten den Soldaten einen „Schießbefehl“ erteilt, um „Republikflucht“ zu verhindern; erstere wurden dann als mittelbare und die Grenzsoldaten als unmittelbare Täter wegen der Tötungen verurteilt.20 Allerdings beruft sich der BGH ausdrücklich auf ein Merkmal der Lehre von Friedrich-Christian Schroeder („unbedingte Bereitschaft des Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen“) und auf „den umfassenden Willen zur Täterschaft“.21 Der Sache nach aber ist der BGH durchaus Roxins Gedankengang gefolgt: ein Hintermann, der durch Ausnutzung eines Machtapparates die Ausführung eines Befehls sichert.22 Die Vermischung beider Lehren hat in der Folgezeit für Spekulationen gesorgt, bis ein BGH-Richter zuletzt erklärte, das Gericht wollte bewusst den Begriff Organisationsherrschaft für dessen Anwendung auf andere Fälle der Wirtschaftskriminalität offen lassen.23 Tatsache ist, dass diese Entscheidung, die sogar als Schaffung einer eigenständigen Form der mittelbaren Täterschaft interpretiert werden kann,24 zwei verschiedene Auffassungen von mittelbarer Täterschaft vermischt. Bei Schroeders Lehre des „Täters hinter dem Täter“ geht es im Allgemeinen um die mittelbare Täterschaft eines Hintermannes, der sich eines zur Tatausführung bereiten Vordermannes bedient, wie z. B. eines sich in einem unbeachtlichen error in persona befindlichen Ausführenden (Dohna-Fall!). Für Roxin steht die Bestrafung 17

Roxin AT II § 25 Rn. 82. Schönke/Schröder-Heine § 25 Rn. 38 m. w. N. 19 Der BGH hatte bis dahin die von Roxin 1963 begründete Lehre der mittelbaren Täterschaft kraft Machtapparate ignoriert, vgl. LK-Schünemann § 25 Rn. 124. Zur Entwicklung der Lehre s. Roxin FS Schroeder, 2006, 387 ff; zuletzt auch ders. FS Krey, 2010, 449 f. 20 BGHSt 40, 218 ff. 21 Vgl. Schroeder JR 1995, 179; Roxin FS Schroeder, 2006, 388 ff; LK-Schünemann § 25 Rn. 124. 22 BGHSt 40, 236. Vgl. dazu Roxin FS Schroeder, 2006, 385, 388 f. 23 Siehe Roxin ZStrR 2007, 17 m. w. N.; Rotsch ZIS 2009, 550 linke Spalte. 24 Rotsch ZIS 2008, 3. 18

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von im Rahmen eines rechtgelösten Machtapparates agierenden Hintermännern im Mittelpunkt, wobei gerade die Struktur des Machtapparates eine Beherrschung des Erfolges garantieren soll. Bei Schroeder also geht es vor allem um die Mikrokriminalität, während Roxins Interesse nur der Makrokriminalität gilt, also die Kriminalität von staatlichen, terroristischen oder mafiaähnlichen Apparaten.25 Im Unterschied zu Roxin scheint Schroeders Lösung zunächst durch das Merkmal Ausnutzung der Tatbereitschaft noch eine (umstrittene) Art „Willensherrschaft“ zu verlangen.26 Ob diese Lehre in reiner Form auch auf Befehlshaber von Machtstrukturen angewandt werden kann,27 ist fraglich, würde aber in diesem Fall auf eine Annäherung beider Lehren (Tatbereitschaft dank eines funktionierenden Machtapparates) hinsteuern.28 Beide Rechtsprechungsfälle29 spiegeln den Kern der Diskussion wider: Wie weit darf man den Tatherrschafts- bzw. Willensherrschaftsbegriff auslegen, um noch von mittelbarer Täterschaft sprechen zu können?

2. Eingrenzung des Problemfalles Dass die „Tatherrschaft“ nicht immer Täterschaft begründen kann, weil manchmal bereits der Tatbestand von etwas anderem als einer „Herrschaft“, z. B. von einem besonderen Merkmal des Täters (Sonder- bzw. Pflichtdelikte) abhängt, ist mittlerweile gängige Lehre. Roxin selbst hatte das schon in der ersten Auflage seiner Pionierarbeit erkannt und deswegen zwischen Herrschafts- und Pflichtdelikten unterschieden.30 Ob und inwieweit diese Unterscheidung gerechtfertigt ist,31 habe ich andernorts behandelt32 und stellt meines Erachtens auch nicht die Tatherrschaftslehre in Frage.33 Ande25 Vgl. Rotsch ZIS 2009, 551. S. auch Roxin AT II § 25 Rn. 138; ders. T u. T § 24 I a. E. Zum berühmten Dohna-Fall, der für Roxin ebenfalls einen Fall der mittelbaren Täterschaft bildet siehe Roxin AT II § 25 Rn. 102 ff; vgl. auch Schroeder JR 1995, 178, linke Spalte. 26 Schroeder Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 145 ff; ders. ZIS 2009, 569. 27 Wie von Schroeder zuletzt postuliert, ZIS 2009, 569 rechte Spalte. 28 S. zur „Annäherung“ Schroeder ZIS 2009, 569 ff; Roxin FS Schroeder, 2006, 397. Roxin hat aber neuerdings die Annäherung (die ohnehin nur in der Eingliederung der Tatbereitschaft als viertes Merkmal innerhalb seiner Konstruktion bestand) durch die Aussage relativiert, dass sich diese Tatbereitschaft sowieso aus den anderen drei Grundpfeilern ergeben würde, s. FS Krey, 2010, 462 ff. Zur Diskussion beider Lehren s. Schroeder JR 1995, 177 f. 29 S. andere Fallbeispiele bei Schönke/Schröder-Heine § 25 Rn. 25 ff, 38; LK-Schünemann § 25 Rn. 124 f. 30 Siehe Roxin AT II § 25 Rn. 267 ff; ders. T u. T (Fn. 1) § 34 I, VII. 31 Diese Lehre hat in letzter Zeit viele Anhänger gefunden. Siehe m. w. N. Roxin AT II § 25 Rn. 270 Fn. 352; LK-Schünemann § 25 Rn. 44 Fn. 76; Schönke/Schröder-Heine vor §§ 25 ff Rn. 84. 32 Abanto Vásquez Revista Penal (Spanien) N° 14 (2004), 3 ff m. w. N. 33 Zum Stand der Diskussion s. LK-Schünemann § 25 Rn. 44 a. E. Fn. 76.

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re Konstellationen, in denen mittelbare Täterschaft vorliegen könnte, obwohl der Ausführende vorsätzlich (aber z. B. nicht absichtlich wie vom Tatbestand verlangt) oder entgegen der irrigen Vorstellung des Hintermannes ohne Vorsatz handelt, usw.,34 sind für unsere Problematik ebenfalls nicht relevant. Andererseits ruft die übermäßige Ausdehnung der mittelbaren Täterschaft durch die neuere BGH-Rechtsprechung fast übereinstimmende Kritik hervor;35 diese Kritik soll daher an dieser Stelle auch nicht weiter verfolgt werden. Dazu nur so viel: Die erweiterte Auffassung (also ohne das Erfordernis der Rechtgelöstheit), die zwecks Erfassung der Unternehmenskriminalität vom BGH schon im „Mauerschützenfall“ angedeutet wurde,36 führt bei einem an sich schon extensiven Verständnis des „Herrschaftsbegriffes“ notwendigerweise zu Rechtsunsicherheit und Willkür.37 Brisant ist aber schon die „gemäßigte“ Ausdehnung der mittelbaren Täterschaft auf Hintermänner, die – wie in den oben geschilderten BGHEntscheidungen – keinerlei Ausführungshandlung vornehmen. Auch wenn heutzutage die Lehre der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate sehr verbreitet, wenn nicht sogar herrschend38 ist, erscheint es angezeigt, diese Lehre auf ihre Kohärenz unter Achtung strafrechtlicher Grundprinzipien zu prüfen.

3. Kritik an der Lehre und „organisierte Machtapparate“ Zusammengefasst könnte die von einigen Anhängern der Tatherrschaftslehre geübte Kritik so lauten: Durch die Doktrin der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate wird der Begriff der Willensherrschaft so stark überstrapaziert, dass gegen Grundprinzipien wie das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßen wird. Galt die Willensherrschaft anfangs noch als 34

Dazu Roxin AT II § 25 Rn. 153 ff, 158 ff. Siehe dazu u. a. Schönke/Schröder-Heine § 25 Rn. 25b; Roxin AT II § 25 Rn. 129 ff; ders. BGH-FGW, 2000, 192 f; ders. SchwZStrR 2007, 17 ff; LK-Schünemann § 25 Rn. 130 f; Krey/Nuys FS Amelung, 2009, 203 ff; Zieschang FS Otto, 2007, 505 ff, 511. 36 BGHSt 40, 218 (237): „Auch das Problem der Verantwortlichkeit beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen lässt sich so lösen“. Diese Rechtsprechung wurde in der Folgezeit tatsächlich angewandt und sogar auf nichtkommerzielle Organisationen übertragen; s. dazu LKSchünemann § 25 Rn. 125 m. w. N. 37 Dabei helfen auch nicht weitere Korrekturen wie die vom BGH ständig gestellten Anforderungen (Vorhandensein von Organisationsstrukturen mit „regelhaften Abläufen“, Ausnutzung von unbedingter Tatbereitschaft des unmittelbar Handelnden und Wille des Hintermanns, dass seine Anordnung den Erfolg als Ergebnis hat); siehe u. a. BGH NStZ 1998, 568; 2008, 90; StV 2000, 19; wistra 2004, 264; BGHSt 48, 331 (342). 38 S. Nachw. bei Schönke/Schröder-Heine § 25 Rn. 25a; LK-Schünemann § 25 Rn. 126 Fn. 281, 282. 35

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eine direkte „Herrschaft“ über den Willen des Ausführenden, die durch Zwang oder Irrtum erreicht wird, so wird jetzt etwas völlig anderes als Herrschaftsgrundlage dazwischengeschaltet: der Machtapparat als Instrument. In der Tat: Wenn man den Gesetzestext so interpretiert, dass der vom mittelbaren Täter benutzte „andere“ ein Mensch sein soll, dann würde man ihn durch die Lehre Roxins sehr weit, vielleicht sogar viel zu weit fassen. Es ginge jetzt – pointiert gesagt – um die „mittelbare“ (durch den Apparat vermittelte) Willensherrschaft eines unkonkreten (weil austauschbaren) Tatausführenden. Sollte das Instrument aber, wie Roxin zuletzt nochmals betont hat,39 nicht der Mensch, sondern der Apparat sein, dann fragt man sich, was von der Willensherrschaft über das Werkzeug (den Menschen) übrig bleibt, es sei denn, um bei dieser Logik zu bleiben, dem Apparat wird ein eigener Wille zuerkannt. Deswegen meinen die Gegner, die Bejahung einer mittelbaren Täterschaft wäre in diesem Kontext nicht nur de lege lata unzulässig, sondern wegen des Vorhandenseins anderer denkbaren Lösungen (vor allem Anstiftung oder Mittäterschaft) auch nicht erforderlich.40 Darüber hinaus würde dieser Rückgriff die Tatherrschaftslehre wegen des Verlustes an Rechtssicherheit und Gesetzesstreue schwächen.41 Die Kritiker meinen, bei der mittelbaren Täterschaft müsse das Verantwortungsprinzip beachtet werden; eine eigenverantwortliche Durchführung der Straftat würde also die Täterschaft des Hintermannes stets ausschließen.42 Im diskutierten Fall liege aber keine echte Herrschaft des Hintermannes vor: Der Ausführende würde sich freiverantwortlich für die Tatausführung entscheiden. Das Regressverbot sei hier anwendbar, so dass durch Bejahung einer von einem freien Subjekt begangenen Tat des Vordermannes die Täterschaftskausalität von Beiträgen des Hintermannes auszuschließen sei.43 Andere Kritikpunkte lägen in der mangelnden Gerechtigkeit der Ergebnisse der Lehre der Organisationsherrschaft (Gleichbehandlung aller 39

Roxin FS Krey, 2010, 457. So geben Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 1) § 53, S. 748 zu, dass diese Lehre zwar durchaus kompatibel mit dem argentinischen Recht wäre, und der Anstifter-Bestimmende unzweifelhaft mehr als ein einfacher Anstifter sein soll. Besser sei aber die Mittäterschaft oder eine Beihilfe ersten Grades, weil auf diese Weise der Beitrag der Ausführenden nicht überschattet wird, dessen Vernachlässigung die Gefahr einer politisch motivierten und durchsetzbaren Straflosigkeit darstelle. 41 Siehe nur Krey/Nuys FS Amelung, 2009, 214. 42 Krey/Nuys FS Amelung, 2009, 214 ff; auch de Figueiredo Dias (Fn. 1) S. 354, 358; Rotsch NStZ 2005, 16. 43 So z. B. Köhler AT Kap. 9 II 2.2; im Anschluss daran Donna in: Salazar (Hrsg.), Dogmática actual de la autoría y la participación criminal, 2007, S. 281 f. Er will diese Lehre aber doch noch dort verwenden, wo der Rechtstaat nicht mehr funktioniert, Donna in: Salazar (Fn. 43) S. 283 a. E. 40

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Schreibtischtäter trotz Verschiedenartigkeit ihrer Beiträge),44 und in der vermeintlichen Unbestimmtheit und Willkür der Voraussetzungen einer so verstandenen mittelbaren Täterschaft.45

III. Einfluss der Tatherrschaftslehre und internationale bzw. peruanische Rechtsprechung In der kontinentaleuropäisch geprägten Strafrechtslehre bzw. Rechtsprechung vieler Länder dominiert seit Jahren die Tatherrschaftslehre.46 Und auch wenn sie für die einzige Lehre gehalten wird, die sowohl dem Tenor des Gesetzes als auch vielen Abgrenzungsproblemen von Täterschaft und Teilnahme am besten gerecht wird, wird auch nicht verkannt, dass sie alleine nicht hinreicht und durch andere Konzeptionen ergänzt werden muss, wenn es um Sonder-, Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte geht.47 Dasselbe gilt auch für die Lehre der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate;48 sowohl internationale49 als auch nationale50 Strafgerichte haben sich bei der Beurteilung bekannter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch den staatlichen Apparat auf sie berufen. Das wur-

44 Gimbernat Ordeig Autor y cómplice en Derecho Penal, 1966, S. 176 ff. De lege lata könnten diese Leute aber nur als Anstifter verurteilt werden, da es keine Beteiligungsregeln für diese gravierenden Fälle Menschenrechtsverbrechen gibt. 45 Vor allem erscheine der Begriff „Machtapparat“ an sich als viel zu undeutlich und würde dem Richter freie Hand zu ihrer Festlegung überlassen; s. Herzberg ZIS 2009, 576 ff. 46 Siehe die Nachweisen bei Fn. 5. Zum kolumbianischen Recht s. a. Fernández Fernández Derecho Penal Parte general, 4. Aufl. 2010, S. 568, 573; zum spanischen Strafrecht, Muñoz Conde/García Arán Derecho penal. Parte general, 6. Aufl. 2004, S. 635 f. 47 Vgl. Muñoz Conde/García Arán (Fn. 46) S. 436; Fernández Fernández (Fn. 46) S. 568 f; Hurtado Pozo (Fn. 1) Rn. 2197; die Eigenheiten des argentinischen StGB betonend s. a. Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 1) S. 744. 48 Zur ausländischen Doktrin s. Nachw. bei Roxin AT II § 25 Rn. 112 Fn. 139; zur Doktrin in spanischsprachigen Ländern s. a. LK-Schünemann § 25 Rn. 126 Fn. 280. 49 Siehe Nachw. bei LK-Schünemann § 25 Rn. 126 Fn. 281; Roxin AT II § 25 Rn. 112 Fn. 140. 50 Die argentinische Judikatur befasste sich 1985-1986 mit dieser Lehre. In der ersten Instanz wurde sie zur Begründung der Straftäterschaft von ehemaligen Mitgliedern der Militärjunta herangezogen. Nach Einlegung der Berufung hat aber der Oberste Gerichtshof die Lehre mit der Begründung verworfen, die Täterschaft des Ausführenden würde die des Hintermannes ausschließen und immer Mitwirkung an der Ausführung voraussetzen. Anstatt dessen wurde eine Beihilfe ersten Grades bejaht; vgl. Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 1) § 53 S. 747 f m. w. N.; kritisch und eingehend Donna (Fn. 44) S. 268 ff m. w. N. Dazu auch m. Nachw. Roxin AT II § 25 Rn. 109; ders. FS Krey, 2010, 451.

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de zum Teil in der deutschen Lehre gefeiert,51 zum Teil aber auch mit gewisser Besorgnis zur Kenntnis genommen.52 International hat vor allem der „Fall Katanga“ des Internationalen Strafgerichthofes (IStGH) für Aufsehen gesorgt,53 weil dort ausdrücklich auf Roxins Lehre Bezug genommen und auf seine Werke verwiesen wurde.54 Auch wenn die Argumentation des IStGH sich wenig auf eine systematischen und teleologische Auslegung des Statuts stützte und sich eher auf Nachweise von bekannten europäischen, insb. deutschen Autoren beschränkte,55 war sie im Ergebnis richtig.56 Aber es ist nicht bei dieser bahnbrechenden Entscheidung des IStGH geblieben. Nach und nach zeichnet sich sogar eine Weiterentwicklung der Lehre ab, weil unter den Begriff der „indirect coperpetration“ sowohl eine „mittelbare Mittäterschaft“ als auch eine (erweiterte) „mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft“ fallen kann.57 So wurde im Al Bashir-Fall dem sudanesischen Expräsidenten vorgeworfen, zusammen mit den Streitkräften, Polizei und verschiedenen Gremien, einen Plan entworfen und ausgeführt zu haben, um die Rebellengruppen zu unterdrücken und zu zerschlagen.58 Hierin können zwei Formen der „indirekten täterschaftlichen Begehung“ gesehen werden:59 eine „mittelbare Mittäterschaft“, weil ein Mittäter (der Expräsident) seinen plangemäßen Tatbeitrag durch einen von ihm beherrschten Tatmittler erbracht hat, oder eine „mittelbare Täterschaft in Mittäterschaft“, weil die Tatherrschaft über die Tatmittler gemeinsam von vielen Personen (dem Expräsidenten, den Generälen, usw.) ausgeübt wurde.60 Auch die peruanische Lehre61 und Rechtsprechung haben die Tatherrschaftslehre übernommen.62 Die peruanische Lehre vertritt zudem ganz 51

LK-Schünemann § 25 Rn. 126 m. w. N. Zuletzt Satzger FS Volk, 2009, 649 ff. 53 The Prosecutor vs Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui; ICC-01/04-01/07 176/226 vom 30.09.2008 (226 Seiten). 54 ICC (Fn. 54) Rn. 496 ff, 511 ff. 55 Vgl. Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 854 f. 56 Vgl. Satzger FS Volk, 2009, 662. 57 Dazu weitgehend Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 849 ff. 58 ICC vom 4.3.2009, Rn. 214 ff. 59 Im Statut des IStGH (IStGH-Statut) ist ein abgestuftes Beteiligungsmodell vorgesehen, das unter vielen Beteiligungsformen eine der deutschen mittelbaren Täterschaft entsprechende beinhaltet: Die Begehung durch einen anderen, und es wird weiter präzisiert: „gleichviel, ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist“, Art. 25 Abs. 3 a) Alt. 3 IStGH-Statut. 60 Vgl. Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 862 f. 61 Siehe u. a. Hurtado Pozo (Fn. 1) § 20 IV Rn. 2194 ff, insb. Rn. 2197; Villavicencio Terreros Derecho Penal Parte general, 2006, § 67 Rn. 1020 ff; Peña Cabrera Tratado de Derecho penal. Estudio programático de la parte general 3. Aufl. 1997, S. 336; Prado Saldarriaga Derecho penal, jueces y jurisprudencia, 1999, S. 145 ff; Pariona Arana Autoría mediata por organización, 2007, S. 22 ff. 52

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überwiegend die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate63 und verlangt meist dieselben Anwendungsvoraussetzungen,64 die auch Roxin fordert, nämlich das Vorhandensein eines vertikal organisierten Machtapparates, die Rechtsgelöstheit des Machtapparates und die Fungibilität der vollziehenden Personen.65 In der peruanischen Rechtsprechung hat diese letzte Lehre eine wichtige Rolle bei der Beurteilung zahlreicher Straftaten der extrem korrupten und menschenrechtsfeindlichen FujimoriRegierungszeit (1990 bis 2000) gespielt. Und dies fing nicht erst 2009 mit der international bekanntesten und dort genannten Fujimori-Entscheidung (genauer: „Barrios Altos-La Cantuta“ oder „Fujimori II“-Fall66) an. Vielmehr hatte sie interessante und durchaus spektakuläre Vorgänger.67 Zum ersten Mal wurde die Lehre 2006 korrekt68 angewandt, als der Corte Superior (der Oberste Gerichtshof) den ehemaligen allmächtigen Berater Fuji62 Vgl. nur bei Prado Saldarriaga (Fn. 62) S. 145 ff. Weitere Nachw. zur peruanischen Rechtsprechung bei Abanto Vasquez Strafbare Mitwirkung von Führungspersonen in Straftätergruppen und Netzwerken, Bericht Peru, Bd. 2. (wird demnächst zusammen mit anderen Länderberichten vom MPI für ausländisches und internationales Strafrecht veröffentlicht). 63 Besonders deutlich und ausführlich s. Pariona Arana (Fn. 62) S. 26 ff, 94 ff, 110 ff; Castillo Alva in: Jaén Vallejo/Reyna Alfaro (Hrsg.), S. 581 ff; Meini Méndez El dominio de la organización, 2008, S. 21 ff; Villavicencio Terreros (Fn. 62) S. 478 ff, Rn. 1058 ff. Unter besonderer Hervorhebung des internationalen Strafrechts, s. a. Montoya in Quinteros (Hrsg.), Judicialización de violaciones de derechos humanos, PUCP, 2010, S. 89 ff. 64 Vgl. Pariona Arana (Fn. 62) S. 48 ff, 94 ff; Castillo Alva (Fn. 64) S. 605 ff; Villavicencio Terreros (Fn. 62) S. 478 ff. Zum Vergleich siehe die letzte Fassung der Lehre Roxins FS Krey, 2010, 449 ff. 65 Einzelne Autoren wollen auch die mittelbare Täterschaft in (Groß-)Unternehmen anhand dieser Lehre ermöglichen; vgl. mit Nachw. Castillo Alva (Fn. 64) S. 618 ff, 628 f; Meini Méndez (Fn. 64) unter Anwendung des zusätzlichen Merkmals „Ausnutzung der unbedingten Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen”, S. 68, 186 ff, 196 f. 66 Die erste Verurteilung Fujimoris (also im „Fujimori I-Fall”) erfolgte am 11.12.2007 (Az. 13-03) wegen Anstiftung zur Amtsanmaßung durch einen Untersuchungsrichter des Corte Suprema. Auch dort wurde die Anwendung der Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate in Erwägung gezogen aber letztlich verworfen. Die 2. Sonderstrafkammer des Corte Suprema bestätigte am 10.04.2008 (Entscheidung 17-2008, Az. AV-1303) diese Entscheidung. Dazu ausführlich die Kommentare von Pariona Arana (Fn. 62) S. 101 ff; s. auch Abanto Vásquez Bericht Peru (Fn. 63) C 2 a) a. E. 67 Auch die chilenische Auslieferungsentscheidung der 2. Strafkammer des chilenischen Corte Suprema vom 21.09.2007; s. dort insb. die Urteilsbegründung 97 IX über den Fall Barrios Altos-La Cantuta, wo die Lehre Roxins ausdrücklich erwähnt wird; vgl. http://www.historico.pj.gob.pe/CorteSuprema/spe/index.asp?codigo=7326&opcion=detalle_do cumento 68 Zwar hatte der Corte Suprema schon im Jahre 2000 Bezug auf diese Lehre genommen, die Umsetzung war jedoch äußerst zweifelhaft: in einem vergleichsweise deutlichen Fall von Anstiftung zu einem Mord durch Hineinziehen von Killern sahen die Richter irrtümlicherweise einen Fall der mittelbaren Täterschaft des Hintermannes kraft organisatorischer Machtapparate. S. Strafkammer, Entscheidung vom 16.03.2000, N° 5049-99 (San Román-Juliaca).

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moris, Vladimiro Montesinos, und viele ihm unterstehende Beamte und Generäle u. a. wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 317 per. StGB) und Waffenhandel (§ 279 per. StGB) verurteilte, weil sie Kriegswaffen von ausländischen Waffenhändlern gekauft und an kolumbianische Guerilla-Kämpfer weiterveräußert hatten (die Entscheidung wurde deshalb allgemein als „FARC-Fall“ bekannt).69 Etwas härter fiel die Entscheidung des peruanischen Obersten Gerichtshofs aus, als er einen Monat später die Rädelsführer und Mitglieder der blutrünstigen terroristischen Gruppe „Sendero Luminoso“ (Leuchtenden Pfad), Abimael Guzmán und andere, wegen Mordes, Bildung einer kriminellen Vereinigung und anderer Straftaten verurteilte.70 Die zweite Fujimori-Entscheidung (in Peru als Barrios Altos-La CantutaFall bekannt) befasste sich dann eingehender mit der Lehre der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate.71 Der Sache nach ging es dabei um die Zurechnung von schweren Straftaten (Mord, Körperverletzung, Menschenraub), die durch ein staatliches Mordkommando (Grupo Colina) ausgeführt wurde. Fujimori als Präsident und Oberbefehlshaber der Armee (sowie der später in einem separaten Strafverfahren verurteilte Exberater Vladimiro Montesinos) hatte diese Gruppierung zum illegalen Kampf gegen den Terrorismus mit organisiert und eingesetzt. Auf ihre direkten oder indirekten Anordnungen hin wurden Terrorverdächtige entführt und anschließend gefoltert und getötet oder schlichtweg sofort ermordet. Das Echo der internationalen Strafrechtslehre auf diese Entscheidung war beachtlich. Die deutsche elektronische Zeitschrift ZIS hat ein Sonderheft he-

69 Primera Sala Penal Especial (1. Sonderstrafkammer), Corte Superior (Oberster Gerichtshof), Az. 038-2001 vom 21.09.2006, Begründung N° 115 ff, S. 68 ff. 70 Die Entscheidung hatte den bis dahin für Peru außerordentlichen Umfang von 345 Seiten. Die Angeklagten wurden für verschiedene schwerwiegende Terrorakte verantwortlich gemacht (selektive Vernichtung von Personen, Explosionen, Angriffe auf Polizeistationen, Urkundenfälschung usw.), die zum Teil in den zeitlichen Geltungsbereich des früheren peruanischen StGB von 1924 (bis 1990) fielen. Vgl. die Entscheidung der Sala Penal Nacional (Nationale Strafkammer), Az. 560-03 vom 13.10.2006, Urteilsbegründung N° 13, S. 225 ff. Die 2. Übergangsstrafkammer des Corte Suprema hat am 14.12.2007 (Az. 5385-2006-Lima) die Entscheidung des Obergerichtes bestätigt bzw. nicht kassiert; siehe in http://servicios.pj.gob.pe/juris Web/faces/serachSimple.jsp. 71 Die Entscheidung vom 7.4.2009 der Sonderstrafkammer (Sala Penal Especial), Az. N° 102001. In deutscher Sprache s. ZIS 2009, 622 ff; die offizielle und vollständige Fassung in: www.pj.gob.pe/CorteSuprema/spe/index.asp?codigo=10409&opcion=detalle_noticia. Die 1. Übergangsstrafkammer (Sala Penal Transitoria) des Obersten Gerichtshofes hat diese Entscheidung bestätigt. Vgl. Az. 19-01-2009-AV (Lima) vom 30.12.2009 in: www.pj.gob.pe/CorteSuprema/SalasSupremas/SPT/documentos/R.N.%20N%C2%BA%201901-2009-1.V-pdf.

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rausgegeben, das sich speziell mit dieser Entscheidung auseinander setzt72 und in der Roxin selbst die Entscheidung kommentiert.73 Die peruanische Entscheidung hat sich dabei so sehr an der Lehre Roxins orientiert, dass Rotsch, der sonst von dieser Lehre dogmatisch nicht überzeugt ist, gemeint hat, sie stelle „… unter strafrechtsdogmatischen Gesichtspunkten die bislang eindrucksvollste Anerkennung der – modifizierten – Ansicht Roxins zur Organisationsherrschaft“ dar.74 Selbst wenn auch für diesen peruanischen Fall weiterhin verschiedene Lösungen vertreten werden,75 bleibt unbestritten, dass die peruanische Justiz eine durchaus vertretbare Lehre zur Verurteilung einer Person herangezogen hat, um die Verurteilung einer Person zu ermöglichen, die nach kriminalpolitischen Maßstäben als „Täter“ von schwersten Verbrechen bestraft werden sollte.76 Zuletzt hat die 1. Sonderstrafkammer des Obersten Gerichtshofes in einer noch umfangreicheren Entscheidung (829 Seiten!) die übrigen Beteiligten verurteilt.77 Dabei hat sie wieder mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate anderer Hintermänner (des Exberaters Vladimiro Montesinos und etlicher Generäle) und Mittäterschaft der Ausführenden (Mitglieder des Mordkommandos „Grupo Colina“) bei Menschenraub und Mord, sowie Täterschaft aller Verurteilten bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung festgestellt.78

72 S. ZIS 2009, 549-690. Dort ist auch der wissenschaftlich interessanteste Teil der Entscheidung auf Deutsch veröffentlicht (S. 622 ff). 73 Roxin a. a. O., S. 565 ff; S. a. zuletzt ders. FS Krey, 2010, 452, 462 f. 74 Rotsch ZIS 2009, 551 rechte Spalte. 75 Herzberg bejaht eine Anstiftung, s. ZIS 2009, 580 rechte Spalte a. E.; vgl. auch Rotsch ZStW 112 (2000), 518; ders. ZIS 2009, 551 rechte Spalte; Jakobs plädiert im Allgemeinen für Mittäterschaft im Rahmen seiner Lehre von der „verbindenden Arbeitsteilung“ (AT 21/103; ders. FS Lampe, 2003, 561 ff), im Falle Fujimoris aber, der den Sonderstatus eines Beamten innehatte und dessen Handlungen immer Amtshandlungen gewesen seien, sieht er eine Verletzung positiver Pflichten (ein Pflichtdelikt), also eine „Täterschaft“, ZIS 2009, 574. 76 Vgl. Rotsch ZIS 2009, 551 rechte Spalte; Jakobs ZIS 2009, 572; Meini ZIS 2009, 603; Pariona ZIS 2009, 609. 77 Siehe http://historico.pj.gob.pe/intranet/archivos-subidos/sentencia_Exp_28-2001_01-102010.pdf 78 A. a. O., S. 617 f, 660 ff, 840. In einem Fall wurde interessanterweise eine (primäre) Beihilfe zu Straftaten der Mitglieder des organisierten Machtapparates (und Täterschaft bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung) gesehen.

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IV. Notwendigkeit von Korrekturen bzw. neuen Lehren? 1. Grenzen der Täterschaftlehre Trotz der Vorzüge der Tatherrschaftslehre und der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate, wurde deutlich, dass diese Lehre nicht alle Probleme einwandfrei lösen kann, selbst wenn sie im Sinne Roxins nur auf Herrschaftsdelikte beschränkt wird. Dennoch scheint mir die Kritik unberechtigt zu sein und sie bietet auch keine besseren Lösungen. Nicht gerechtfertigt erscheint zunächst der Einwand, der im Verantwortungsprinzip ein unüberwindbares Hindernis zur Bejahung zweier gleichzeitig auftretender Tatherrschaften sieht: die des Hintermannes und die des Ausführenden. Und es ist ebenso ungerechtfertigt, wenn nicht sogar unzutreffend, von Roxin einen Begriff der Tatherrschaft zu verlangen, den er nicht vertritt. Er selbst stellt klar, dass seine Kritiker drei Punkte seiner Lehre missverstanden hätten:79 das Instrument des Hintermannes sei nicht (oder nicht nur) der Ausführende, sondern der Machtapparat; es würden zwei verschiedene Herrschaftsformen auftreten: Handlungsherrschaft beim Tatausführenden und Organisationsherrschaft beim Hintermann; und die tatsächliche Organisationsherrschaft soll positiv und unter Beurteilung aller Umstände aus der Position des Hintermannes heraus abgeleitet werden. Dass zwei Herrschaftsinhaber bei derselben Straftat auftreten können, zeige sich schon beim Nötigungsfall: derjenige, der einen anderen dazu nötigt, eine Straftat zu begehen, hat die „Tatherrschaft“ (ohne bei der Ausführung präsent zu sein), so wie auch der Genötigte die Handlungsherrschaft hat (auch wenn er schließlich exkulpiert wird).80 Im Übrigen weist Roxin auf sein Verständnis der „Tatherrschaft“ hin, die methodologisch einen lebensnahen, „offenen Begriff“ darstellen und sich nicht auf bestimmte Merkmale oder Formeln festlegen soll.81 Das soll wohl auch für den Begriff der „Willensherrschaft“ gelten, bei dem keine direkte Herrschaft über den Willen des Ausführenden gemeint sei, sondern eher eine Beherrschung der Tatbestandverwirklichung, eine Beherrschung des Geschehens, ohne bei der Ausführung Hand anzulegen.82 Und bei dieser Art Beherrschung interessiere nicht, ob aus dem Apparat ein konkret veranlasster Vordermann die Tat auf jeden Fall verwirklicht, sondern dass jemand aus diesem funktionierenden Apparat es im Regelfall tut.83 Es zeigt sich also, dass Roxin die Herr-

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Roxin FS Krey, 2010, 457 ff. Roxin FS Krey, 2010, 457 f. 81 Vgl. Roxin T u. T § 17. 82 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 105. 83 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 114 f. 80

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schaft nicht auf eine konkrete Person bezieht, sondern auf den Erfolg.84 Freilich ginge damit die Gemeinsamkeit mit den anderen Fällen mittelbarer Täterschaft (Willensherrschaft kraft Nötigung und Willensherrschaft kraft Irrtums) verloren, bei denen die Herrschaft tatsächlich auf den Willen des Werkzeugs einwirkt. Die Frage ist nur: braucht man de lege lata diese Gemeinsamkeit? Und sind die Alternativen besser? Bedarf es einer moderneren Lehre, die die alten Lehren ersetzen und zudem die neuen Herausforderungen besser bewältigen soll? Unabhängig von den kriminalpolitischen Vorzügen anderer Lösungen darf zuallererst der gesetzliche Rahmen um des Gesetzlichkeitsprinzips willen nicht vernachlässigt werden. Die meisten kontinentaleuropäisch geprägten Strafgesetzgebungen (u. a. die Deutschlands, Spaniens, Kolumbiens, Perus) enthalten Vorschriften, die ausdrücklich Täterschaft von Teilnahme sowie verschiedene Formen von Täterschaft und Teilnahme unterscheiden. Hätte der Gesetzgeber eine (kausal, normativ oder sonst wie zu erklärende) Einheitstäterschaft gewollt, hätte das Gesetz anders ausgesehen, wie dies z. B. in Italien oder Österreich oder gar im deutschen OWiG der Fall ist. Eine ausschließlich normative Lehre, die alle Beiträge als qualitativ gleichwertig betrachtet und die Unterscheidung nur für die Straffolgen als relevant erachtet,85 würde deswegen schon de lege lata ausscheiden.86 Die subjektive und die formal-objektive Lehre bewegen sich noch innerhalb der gesetzlichen Vorgaben, haben aber so viele praktische Schwierigkeiten, dass sie fast völlig aufgegeben wurden. Aber auch die Konzeptionen, die sich innerhalb der Tatherrschaftslehre bewegen, müssen sich die Kritik gefallen lassen, dass sie manchmal zu weit gehen und gegen die gesetzlichen Vorgaben verstoßen können. Das gilt zunächst für die Mittäterschaftslösung, gegen die Roxin überzeugend vorgetragen hat, bei ihr würden vor allem die Voraussetzungen des gemeinsamen Tatentschlusses und der gemeinschaftlichen Tatausführung fehlen, die gemäß einer gesetzeskonformen Auslegung für die Mittäterschaft notwendig sind.87 Und auch die einfache Anstiftungslösung hat Probleme mit dem 84 Roxin AT II § 25 Rn. 46 spricht von einer „Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate“ bei der der Hintermann „das Geschehen maßgeblich steuern“ würde. 85 So Jakobs (Fn. 4); auch in Peru García Cavero Lecciones de Derecho penal, 2008, S. 561 ff. 86 So z. B. die Kritik an Jakobs Lehre von der „verbindenden Arbeitsteilung“, die für eine Form des extensiven Täterbegriffs und der Einheitstäterschaft gehalten wird und deswegen mit dem Tenor des deutschen StGB zu kollidieren scheint; i. d. S. kritisch LK-Schünemann im Allgemeinen über den Einheitstäterbegriff und den extensiven Täterbegriff, vor § 25 Rn. 5 ff, 11 ff; konkret zur „Rückkehr“ zum extensiven bzw. einheitlichen Täterbegriff LK-Schünemann § 25 Rn. 14 ff; s. a. ders. FS Rodríguez Mourullo, 2005, 981, 983 ff. 87 Roxin FS Krey, 2010, 452 ff; s. auch ders. AT II § 25 Rn. 12 ff; so auch die Kritik Herzbergs: „Will man sich nicht in Widersprüche verstricken, dann darf man die dem Wortsinn

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Gesetzlichkeitsprinzip, weil die Organisationsherrschaft in Wahrheit eine andere Dimension als die im Gesetz geregelte Situation aufweist:88 es würden die Machtverhältnisse innerhalb der Organisation, die eine Anweisungsmacht des Hintermannes und somit eine „Beherrschung“ (des Erfolges) begründen, sowie das im Regelfall vollständige Fehlen eines Kontakts zwischen Hinter- und Vordermann verkannt. Aus dem zuvor Gesagten ist folgender Schluss zu ziehen: wenn das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Beschreibung der (mittelbaren) Täterschaft im nationalen Gesetzestext als Hindernis für die Anwendung der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate gesehen wird, kann nichts anderes für die Anstiftungs- und erst recht für die Mittäterschaftslösung gelten. Für die Akzeptanz einer mittelbaren Täterschaft spricht aber letztlich die kriminalpolitische Notwendigkeit der Verurteilung politisch motivierter Großkrimineller als „Täter“. Dabei sollten allerdings die drei von Roxin geforderten Voraussetzungen so streng wie möglich gehandhabt werden, um doch noch von der Ausnutzung eines „Instrumentes“ reden zu können. Sonstige Fälle (auch wenn sie im Rahmen eines Machtapparates geschähen) sollten als Anstiftung gewertet werden. Die beste Lösung wäre aber eine ausdrückliche Regelung dieser Täterschaftsform.89 Sie erscheint mir für einige Länder, wie Peru, umso notwendiger zu sein, als die recht junge peruanische Rechtsprechung in der Vergangenheit bei der Gesetzesauslegung und der Anwendung von komplizierten Lehren eine vielfach unrühmliche Rolle gespielt hat (ein Beispiel dazu bei Fn. 68!); sie bräuchte also feste und klare normative Leitlinien.

2. Eine neue eigenständige Täterschaftsform als Alternative? Die Lage ist dank bestehender Gesetzestexte in einigen Ländern klarer als zunächst vermutet. In Portugal etwa wird Anstiftung-Bestimmen von Anstiftung-Mitwirken unterschieden, wobei ersterer als Fall der Täterschaft und letzterer als Beihilfe gilt.90 Diese Auffassung fußt auf einem entsprechenden Gesetzesrahmen.91 Auch in Argentinien wird die (ziemlich alte) nächstliegende und sonst immer praktizierte Deutung der Mittäterschaftsvorschrift nicht punktuell gegen eine extensive auswechseln, nur um bestimmte Anstifter als Täter bestrafen zu können“ (ZIS 2009, 580 rechte Spalte). 88 Vgl. Roxin FS Krey, 2010, 455 f; ders. AT II § 25 Rn. 126 ff. 89 So auch Fernández Fernández (Fn. 48) S. 577 f. 90 De Figueiredo Dias (Fn. 1) S. 343. 91 § 26 des portugiesischen StGB sieht, zusätzlich zu den üblichen Täterschaftsfällen, auch denjenigen als Täter an, „wer vorsätzlich eine andere Person zur Tatbegehung bestimmt, die ausgeführt oder deren Ausführung begonnen wird“.

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Vorschrift über Beteiligung dergestalt ausgelegt, dass sie eine Art Täterschaft zulässt, die in einem Anderen-Bestimmen besteht.92 Einige deutsche Autoren halten ebenfalls die portugiesische Lösung für besser und systematisch harmonischer als die Lehre von der Täterschaft kraft organisierter Machtapparate, wenn es darum geht, diejenigen echten Fälle von Täterschaft, die nach den deutschen gesetzlichen Vorgaben eigentlich Anstiftung darstellen würden, doch noch als Täterschaft zu ahnden.93 Sogar de lege lata könnte man die „Anstiftungsvorschrift“ in der Weise auslegen, dass bei ihr ein echtes „Bestimmen“ wie bei den Fällen des „Täters hinter dem Täter“ Platz findet.94 Eine derartige „intellektuelle Urheberschaft“ gab es übrigens bis zum preußischen StGB von 1851 auch in Deutschland.95 Es ist also entscheidend zu fragen, ob das Anstiftung-Bestimmen materiell (und in Portugal sogar schon de lege lata) als eine Täterschaftsform verstanden werden kann.96 Freilich verdient diese Auffassung einer ausführlicheren Auseinandersetzung, die in diesem Rahmen nicht stattfinden kann. Auch für Fälle der Täterschaft von leitenden Personen bei (Groß)Unternehmen scheint eine ausdrückliche Regelung unumgänglich. Wie oben angemerkt, hat die deutsche Rechtsprechung seit dem Mauerschützen-Fall die „mittelbare Täterschaft“ von Geschäftsführern nichtrechtsgelöster Unternehmen durch Bejahung von Organisationsherrschaft Tür und Tor geöffnet. Einige Autoren wollen dieses Ergebnis beibehalten, schlagen aber eine andere Begründung (Mittäterschaft) vor.97 Hier zeigt sich Roxin strenger und, obwohl er ein kriminalpolitisches Bedürfnis darin sieht, „Leitungspersonen, die in ihrem Unternehmen kriminelle Handlungen anregen, fördern oder auch nur zulassen, als Täter zu bestrafen“, lehnt er eine Mittäterschaft ab, weil deren Voraussetzungen nicht gegeben seien. Auch 92

Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 1) § 53 V S. 754 ff. Krey/Nuys FS Amelung, 2009, 211 ff, 223. 94 So kritisiert Köhler das geltende deutsche Recht, das undifferenziert ein einziges „Bestimmen“ bei der Anstiftung vorsehe, das die herrschende deutsche Strafrechtslehre auch nur als „Hervorrufen des fremden Tatentschlusses“ interpretiert. Richtig sei aber die Unterscheidung zwischen (dem echten) „Bestimmen“ eines anderen Entschlusses (also willensbestimmender Anstiftung oder „intellektueller“ Täterschaft bzw. Mittäterschaft) und dem bloßen „Rat geben“ oder der Hilfe zum fremden Entschluss; s. Köhler AT Kap. 9 4.2. 95 Dazu Maiwald FS Schroeder, 2006, 283 ff. Nach Feuerbachs Lehre etwa wurde die Determination eines anderen durch den Urheber kraft vier möglicher Mittel bewirkt: Auftrag, Befehl, Drohung und Rat; siehe sein „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“, § 44, 1. Aufl. 1801 bis 14. Aufl. 1847. 96 Vgl. i. d. S. de Figueiredo (Fn. 1) S. 355 mit Beispielen. 97 LK-Schünemann § 25 Rn. 132 plädiert für eine Täterstrafbarkeit wegen einer „doppelter Mitwirkung von Leitungspersonen“: als Unterlassungsbeteiligter und als aktiver Teilnehmer; zustimmend Muñoz Conde FS Roxin, 2001, 620; ders. Revista Penal N° 6 (2000), 104 ff, 111 ff; ders. Revista Penal N° 9 (2002), 74 ff. Auch Ambos hält diese Voraussetzung für überflüssig, GA 1998, 241 ff. 93

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seine Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate sei wegen Fehlens des Merkmals der Rechtsgelöstheit nicht anwendbar. Er gibt daher einer anderen Lösung den Vorzug: die Einführung einer Sonderregelung über die strafrechtliche Verantwortung der Leitungsebene für Straftaten, die im Unternehmen begangen werden (Pflichtdelikte mit selbständiger Form täterschaftlicher Zurechnung).98

V. Fazit Die Tatherrschaftslehre hat sich im Laufe der Jahre trotz Missdeutungen und Übertreibungen zumindest bei den Begehungs-Gemeindelikten bewährt.99 Die Behandlung von Grenzfällen wird die Lehre wohl eine Weile beschäftigen und möglicherweise ist dabei auch keine Einigkeit zu erzielen. Insbesondere die Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate hat die Gemüter der Lehrgemeinde erhitzt. Der Jubilar hat sich mit seiner Lehre frühzeitig darum bemüht, die geltenden, am Maßstab von Individualstraftätern konzipierten Strafvorschriften für die schlimmsten Verbrechen staatlicher Apparate und ähnlich mächtiger Strukturen anwendbar zu machen, und er hat dabei schon damals nicht verkannt, dass dies den tatsächlichen Charakter der Organisationstat noch nicht genügend würdigen würde.100 Er wollte jedoch durch einen offenen Tatherrschaftsbegriff de lege lata die strafrechtliche Beurteilung von durch Organisationsherrschaft begangenen Straftaten ermöglichen, obwohl diese Fälle üblicherweise in einem Rechtsstaat nicht vorkommen dürfen – aber vorkommen können.101 Dieses Ziel hat er erreicht. Die Praxistauglichkeit seiner Lehre hat sich, wie die dargestellten Entwicklungen der nationalen und internationalen Rechtsprechung beweisen, bewährt.

98 Vgl. Roxin SchwZStrR 125 (2007), 1 ff, unter Verweis auf Vorschläge von Tiedemann und Otto sowie auf die Regelung im Corpus Juris (Art. 13), Roxin SchwZStrR 125 (2007), 21 f; siehe auch Roxin AT II § 25 Rn. 137. 99 Das ist auch die Bewertung Schünemanns gemäß dem geltenden deutschen Recht, vgl. LK-Schünemann § 25 Rn. 32. 100 Vgl. Roxin T u. T § 24 I a. E. VI. 101 Vgl. Roxin T u. T § 24 VI, auch § 17 I.

Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft KAI AMBOS Die von Claus Roxin begründete Organisationsherrschaftslehre1 hat jüngst durch zwei wichtige Entscheidungen universelle Anerkennung erfahren.2 Damit hat sich diese Rechtsfigur zwar noch nicht international durchgesetzt,3 sie ist aber schlagartig ins Rampenlicht der völker(straf)rechtlichen Diskussion zur Begründung der Verantwortlichkeit von Führungstätern für internationale Verbrechen gerückt.4 Als ein zentrales Problem erweist sich 1

Roxin GA 1963, 200 ff; ders. Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 242 ff. Zum einen durch mehrere Vorverfahrensentscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), insbesondere Prosecutor v. Katanga and Ngudjolo Chui Pre-Trial Chamber I, Decision on the confirmation of charges, 30.9.2008 (ICC-01/04-01/07), para. 498, 500 ff (im Folgenden „Katanga-Entscheidung“); ansatzweise schon in Prosecutor v. Bemba, Pre-Trial Chamber III, Arrest warrant decision (ICC-01/05-01/08) 10.6.2008, para. 78 und bestätigt in Prosecutor v. Al Bashir, Pre-Trial Chamber I, Arrest warrant decision, 4.3.2009 (ICC-02/05-01/09), para. 222; alle abrufbar unter www.icc-cpi.int/Menus/ICC/Situations+and +Cases/. Zum anderen durch das Urteil des obersten Gerichtshofs Perus gegen den ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori (Corte Suprema de Justicia de la República del Perú, Sala Penal Especial, Urt. v. 7.4.2009, abrufbar unter http://historico.pj.gob.pe/CorteSuprema/spe/ index.asp?opcion=detalle_noticia&codigo=13036; dt. Übersetzung des relevanten Teils in ZIS 2009, 622 ff [im Folgenden „Fujimori-Urteil“]); bestätigt durch Corte Suprema, Primera Sala Penal Transitoria, Urteil v. 30.12.2009, abrufbar unter http://www.larepublica.pe/03-01-2010/ tribunal-confirmo-la-condena-por-unanimidad; krit. Jakobs ZIS 2009, 574 f, der die (Mit-) Täterschaft Fujimoris über dessen (täterschaftliche) Verletzung seiner positiven Amtspflichten begründet; für Anstiftung Herzberg ZIS 2009, 576 f, 580. Zuletzt ist ein argentinisches Bundesgericht im Verfahren bzgl. des Verschwindenlassens von Person in der Provinz Tucumán Roxins Lehre gefolgt (Urt. v. 23.8.2010, Az. N° 6 - F° 07/209 - T° LI, S. 339 ff, http://www.cij.gov.ar/nota-4772-DDHH--difundieron-fundamentos-de-fallo-que-condeno-aprision-perpetua-a-Menendez-en-Tucuman.html) – Zur Anerkennung der Tatherrschaftslehre vgl. schon Prosecutor v. Lubanga, Pre-Trial Chamber I, Decision on the confirmation of charges, 29.1.2007 (ICC-01/04-01/06), para. 317 ff; zust. Katanga-Entscheidung para. 480 ff. 3 So aber Roxin ZIS 2009, 566, der euphemistisch von der „weitgehenden internationalen Durchsetzung der Rechtsfigur“ spricht; berechtigte Zweifel hingegen bei Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 854 f; Weigend Journal of Int. Criminal Justice 9 (2011), 91, 106. Man wird insbesondere das endgültige Urteil im Katanga-Verfahren abwarten müssen. 4 Vgl. Jessberger/Geneus Journal of Int. Criminal Justice, 6 (2008), 853 ff; Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 849 ff; van der Wilt ZIS 2009, 619 ff; Osiel Making sense of mass atrocity, 2

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dabei die Frage, welcher Begriff der Organisation dieser Lehre eigentlich zugrunde liegt. Roxin ist insoweit jüngst vorgeworfen worden, dass er einen staatsbürokratischen Organisationsbegriff vertrete, der neuen Organisationsformen militärischer Akteure im Rahmen nicht-internationaler bewaffneter Konflikte nicht ausreichend Rechnung trage.5 Ich will in diesem, dem Jubilar in kritischer Verbundenheit gewidmeten Beitrag zeigen, dass diese Kritik in ihrer Pauschalität zwar unzutreffend ist, zugleich aber der Organisationsbegriff in der Tat eine nähere Betrachtung verdient und den Schlüssel für eine Weiterentwicklung und Verselbständigung der Organisationsherrschaftslehre mit Blick auf das gemischt individuell-kollektive Zurechnungsmodell des Völkerstrafrechts6 darstellt.7

I. Wenn man sich zuvor noch einmal den Stand der Organisationsherrschaftslehre im Lichte der erwähnten Rspr. vergegenwärtigt, so kann man sagen, dass sowohl der IStGH8 als auch der peruanische Oberste Gerichtshof9 Roxins Lehre im Wesentlichen übernommen haben, so dass nun also Anordnungsgewalt, Rechtsgelöstheit und Fungibilität auch über Deutschland hinaus als deren konstitutive Voraussetzungen gelten können.10 Freilich sind – neben den noch folgenden Ausführungen zum Organisationsbegriff – folgende Vorbehalte zu machen: Was die Fungibilität angeht, so kommt Roxin seinen Kritikern in zweifacher Hinsicht entgegen.11 Zunächst erkennt er nun zutreffend an, dass bei der Beauftragung eines Spezialisten 2009, S. 92 ff; ders. Ascribing individual liability within a bureaucracy of murder, in: Smeulers (Hrsg.) Collective violence and international criminal justice: an interdisciplinary approach, 2010, S. 107 ff. Vgl. nun das von Werle/Burghardt koordinierte Symposium im Journal of Int. Criminal Justice 9 (2011), 85 ff mit Beiträgen von Weigend, Muñoz-Conde/Olásolo, Ambos, Manacorda/Meloni u. Fletcher sowie der erstmaligen engl. Übersetzung des grdl. Aufsatzes von Roxin aus GA 1963, 193 und von BGHSt 40, 218. 5 Osiel (Fn. 4) S. 97 ff; ders. in: Smeulers (Fn. 4) S. 110 ff. 6 Ambos Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 11. 7 Die mögliche Ausdehnung der Lehre auf Wirtschaftsunternehmen wird dabei ausgeklammert; krit. schon Ambos GA 1998, 239 f; abl. auch Roxin Täterschaft (Fn. 1) S. 715 ff; jüngst M. Heinrich FS Krey 2010, 154 ff, 165 m. w. N.; krit. auch Meini El dominio de la organización en derecho penal, 2008, S. 182 ff. 8 Katanga-Entscheidung para. 512 ff; zusf. Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 855 f. 9 Fujimori-Urteil para. 720 ff = ZIS 2009, 625 ff. 10 Vgl. zuletzt Roxin FS Krey 2010, 458 ff. 11 Hinsichtlich der anderen beiden Voraussetzungen (Anordnungsgewalt, Rechtsgelöstheit) hält er an seiner Ansicht fest, wobei er sich bzgl. der Rechtsgelöstheit (Roxin FS Krey, 2010, 459 mit Fn. 24) nicht mit meiner Duplik in Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2004, S. 606 ff auseinandersetzt.

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(der eben nicht fungibel ist) eher Anstiftung in Betracht kommt.12 Ferner gesteht er zu, dass es Fälle geben kann, in denen der Tatmittler die Tat nicht exekutiert.13 Ein solches „Versagen der Organisation“14 – das Roxin schon bei der Begründung seiner Lehre anerkannt hat15 – führt in seinen Augen freilich nicht zu einer grundsätzlichen Untauglichkeit des Fungibilitätskriteriums,16 sondern nur zu dessen Relativierung17 und Ergänzung durch das – früher von ihm bestrittene18 – Erfordernis der Tatbereitschaft.19 Insoweit erkennt nun auch Roxin – im Anschluss an literarische Stellungnahmen,20 den BGH21 und den peruanischen Obersten Gerichtshof22 – an, dass dieses Kriterium „zur Begründung“ seiner Lehre „heranzuziehen“ sei und die Tatherrschaft des Hintermanns „verstärkt“, es sich aber nicht „um eine selbständige Voraussetzung“ handele, sondern sie aus den drei genannten Voraussetzungen „abzuleiten“ sei, von diesen „getragen“ werde.23 Abgesehen davon, dass die Tatbereitschaft als solche zur Abgrenzung von mittelbarer

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Roxin FS Krey, 2010, 461; früher schon ders. Täterschaft (Fn. 1) S. 714; vgl. ursprünglich F.C. Schroeder Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 168; ders. JR 1995, 178; krit. auch schon Ambos (Fn. 11) S. 596; jüngst M. Heinrich FS Krey, 2010, 159; für Anstiftung auch Morozinis Dogmatik der Organisationsdelikte, 2010, S. 633. 13 Roxin FS Krey, 2010, 461 f; vgl. ursprünglich Herzberg Mittelbare Täterschaft und Anstiftung in formalen Organisationen, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse usw., 2000, S. 37 ff; krit. auch Ambos (Fn. 11) S. 596 ff; jüngst M. Heinrich FS Krey, 2010, 159. 14 Roxin FS Krey, 2010, 462. 15 Roxin GA 1963, 203 ders. Täterschaft (Fn. 1), S. 248: „Mit Verlusten und Ausfällen muss man bei solchen Organisationen immer rechnen, ohne daß der Mechanismus des Apparates dadurch ernstlich beeinträchtigt würde.“ 16 So aber Ambos (Fn. 11) S. 598 ff mit dem Versuch einer normativ-faktischen Begründung. 17 Roxin FS Krey, 2010, 462: Fungibilität könne „in unterschiedlichem Maße (!) ausgebildet sein“, weshalb die Organisationsherrschaft nicht „ausschließlich“ auf sie und die anderen beiden Voraussetzungen gestützt werden könne. 18 Roxin JZ 1995, 51. 19 Vgl. ursprünglich F.C. Schroeder (Fn. 12) S. 152, 158, 167 f; ders. JR 1995, 178; ders. ZIS 2009, 569 ff. 20 Vgl. vor allem M. Heinrich Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 273 ff. 21 BGHSt 40, 218 (237); 40, 307 (316); 45, 270 (296). 22 Fujimori-Urteil para. 740 ff = ZIS 2009, 648, wo allerdings dieses Kriterium als konstitutive vierte Voraussetzung verstanden wird; zust. F.C. Schroeder ZIS 2009, 569 ff. 23 Zuletzt Roxin FS Krey, 2010, 463 f; ders. ZIS 2009, 567; ursprünglich schon ders. Täterschaft (Fn. 1) S. 706 f; ders. FS Schroeder, 2006, 397 f = ZIS 2006, 298 f [als dritte Voraussetzung]; ders. ZStrR 2007, 15 ff; ders. ZIS 2009, 565 (als eine von „vier Voraussetzungen“); zust. A. Pariona Autoría mediata por organización, 2009, S. 57 ff, 84 ff; ders. ZIS 2009, 613 f; ders. in: Ambos/Meini (Hrsg.) La autoría mediata, 2010, S. 246 ff.

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Täterschaft und Anstiftung nicht tauglich ist24 und als innerpsychisches Phänomen nur schwer nachzuweisen ist,25 ist sie mit einem konsequent organisationstheoretischen Verständnis der Organisationsherrschaft – Tatherrschaft als Erfolgssicherheit durch Beherrschung der Organisation als „eigentliche[m] Werkzeug“26 – nicht vereinbar,27 weil sie den Blick von der Organisation auf den – allenfalls indirekt beherrschten28 – Tatmittler lenkt und damit die organisationsspezifische Besonderheit und zugleich Stärke der Organisationsherrschaftslehre relativiert. Natürlich gibt es organisationssoziologisch und -psychologisch bedingte Mechanismen, die die Tatbereitschaft eines im Kollektiv agierenden Täters gegenüber einem Einzeltäter erhöhen,29 doch dabei handelt es sich lediglich um eine „organisationstypische Tatgeneigtheit“30, die gerade die Dominanz der Organisation gegenüber dem Einzelnen betont. Anders ausgedrückt: Die (freiwillige) Zugehö24 So die traditionelle Kritik, vgl. schon Ambos GA 1998, 229 f; jüngst Schlösser Soziale Tatherrschaft, 2004, S. 161 f; M. Heinrich FS Krey, 2010, 164 m. w. N.; krit. auch Herzberg ZIS 2009, 578 f. 25 Vgl. C. García ZIS 2009, 602; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 208; Morozinis (Fn. 12) S. 316. Für ein objektives Verständnis der Tatbereitschaft aber Meini ZIS 2009, 608; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 228 f. 26 Vgl. nur Roxin FS Krey, 2010, 460. Zur Selbständigkeit des Machtapparats grdl. Vest Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 305, 359 ff, 364: organisatorischer Machtapparat als „hoheitliches Verbrechensinstrument“, S. 398: „Eigengewicht des bürokratischen Machtapparats“). Zusammenfassend zu den verschiedenen (kollektivistischen bis individualistischen) Ansichten zur Begründung der Herrschaft Schlösser (Fn. 24) S. 108 f. Krit. jüngst Weigend Journal of Int. Criminal Justice 9 (2011), 91, 109, für den die Beherrschung der Organisation nur einer von mehreren möglichen Faktoren einer Tatherrschaft ist. 27 Treffend Rotsch ZIS 2008, 3; ders. „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 390; ders. ZIS 2009, 551; M. Heinrich FS Krey, 2010, 164. 28 Zutreffend Meini Responsabilidad penal del empresario por los hechos cometidos por sus subordinados, 2003, S. 170; ders. (Fn. 7) S. 112. 29 Für M. Heinrich (Fn. 20) S. 274 u. ders. FS Krey, 2010, 162 hat der Einzelne beim Eintritt in die Organisation seine innere Hemmschwelle und Reflexionsbereitschaft „gewissermaßen zusammen mit Hut und Mantel am Kleiderhaken neben dem Eingang aufgehängt.“ Urban Mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft, 2004, betont das „Eingebundensein in die Organisation“ (S. 165 ff) und sieht einen „innerorganisatorischer Handlungsdruck“ (S. 159) sowie „organisationsbedingte“ bzw. „organisationsbezogene Einflüsse“ (S. 199, 263). Rotsch (Fn. 27) S. 331 spricht von „organisationssoziologisch bedingte[n] Neutralisationsmechanismen“; vgl. auch mit Bsp. Roxin Täterschaft (Fn.1) S. 706 f („organisationsbedingt“); ders. ZStR 2007, 16; ders. ZIS 2009, 567; ders. FS Krey 2010, 463 f; vgl. auch Meini (Fn. 7) S. 116 ff; ders. ZIS 2009, 608; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 228 f, für den aber weitergehend u. a. deshalb die Tatbereitschaft der Organisationsmitglieder für die Begründung der Tatherrschaft entscheidend ist (Meini [Fn. 7] S. 61 ff [68], S. 111 ff [117, 119], S. 180 ff; ders. ZIS 2009, 608; ders. in: Ambos/Meini [Fn. 23] S. 229). 30 M. Heinrich (Fn. 20) S. 274 f, 279; ders. FS Krey, 2010, 163 ff; vgl. auch Rotsch (Fn. 27) S. 331 mit dem zutreffenden Hinweis, dass Roxin Heinrichs Lehre „implementiert“ habe (so auch M. Heinrich FS Krey, 2010, 164 mit Fn. 89); Morozinis (Fn. 12) S. 316 ff.

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rigkeit zur Organisation mag zwar eine erhöhte Tatbereitschaft des einzelnen Mitglieds begründen, die Tatherrschaft gründet sich aber alleine auf – die kollektivistisch zu verstehende – Herrschaft über die Organisation und damit – nur durch diese vermittelt – über deren tatausführende Mitglieder.

II. Wenden wir uns nun aber der hier im Mittelpunkt stehenden Frage des Organisationsbegriffs bei der Organisationsherrschaftslehre zu.31 Osiel wirft Roxin insoweit vor, dass er von einer formalen, streng hierarchischen staatsbürokratischen Organisation im Sinne des Weberschen, an der preußischen Armee orientierten Idealtyps32 ausgehe und damit nicht-staatliche Organisationsformen (para)militärischer Gewalt a limine ausblende.33 Diese Kritik hat einen wahren Kern, sie bedarf aber der Präzisierung. Osiel übersieht zunächst,34 dass Roxin schon bei der Begründung seiner Lehre das Problem nicht-staatlicher, krimineller Organisationen gesehen und sie explizit, wenn auch nur sekundär,35 auf diese – „Untergrundbewegungen, Geheimorganisationen, Verbrecherbanden und ähnliche[r] Zusammenschlüsse“ – angewendet hat.36 Dabei hat sich Roxin aber an keiner Stelle auf Webers organisati-

31 Eine umfassende soziologische Untersuchung des Organisationsbegriffs kann hier schon aus Platzgründen nicht geliefert werden, sie ist für unsere Zwecke auch nicht notwendig, vgl. ausreichend Vest (Fn. 26) S. 309 ff. 32 Weber Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III), 1922, S. 650 ff; ders. 5. rev. Aufl. 1980, S. 551 ff; ders. Studienausgabe 2009, S. 12 ff (Osiel zitiert die englische Übersetzung aus Gerth/Wright Mills From Max Weber: Essays in Sociology, 1946, S. 196 ff). 33 Osiel (Fn. 4) S. 100, S. 114; ders. in: Smeulers (Fn. 4) S. 113, 125. 34 Wohl weil er die Lehre Roxins nur über (zwei) spanische Primärquellen und ansonsten über (spanische) Sekundärquellen rezipiert. Im in Smeulers (Fn. 4) S. 127 ff abgedruckten Literaturverzeichnis finden sich drei Aufsätze Roxins, zwei davon sind spanische Übersetzungen. Osiel zitiert dort zwar auch GA 1963, 193, er ist der deutschen Sprache aber, wie der Verf. aus eigener Anschauung weiß, nicht mächtig und bedient sich bei der Darstellung der Roxinschen Lehre, in reichlich eklektizistischer Weise, vor allem spanischer Sekundärquellen, nämlich Arbeiten der argentinischen Strafrechtler Donna, Lascano und García Vitor (letzeren zitiert er nur mit seinem zweiten Nachnamen „Vitor“, s. Fn. 1 ff in Smeulers). Roxins grundlegendes Werk „Täterschaft und Tatherrschaft“ wird überhaupt nicht, auch nicht in der spanischen Übersetzung, zitiert. 35 Und primär auf staatliche Machtapparate in Form der NS-Gewaltherrschaft, vgl. nur Roxin AT II § 25 Rn. 106; vgl. auch M. Heinrich (Fn. 20) S. 279; ders. FS Krey 2010, 148; Morozinis (Fn. 12) S. 65 m. w. N. in Fn. 231. 36 Roxin GA 1963, 205; vgl. auch LK11-Roxin § 25 Rn. 129 sowie ders. FS Grünwald, 1999, 549 ff (bezogen auf organisierte Kriminalität).

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onssoziologische Betrachtungen gestützt,37 obwohl dieser durchaus – entgegen der auch insoweit ungenauen Lesart Osiels – die Herrschaft der „Herren“ über den „Apparat“ mittels Befehls- und Zwangsgewalt anerkannt,38 diese aber nicht nur auf ein bürokratisches System „rationaler Regeln“, sondern auch auf eine – viel weniger formalisierte – persönliche Autorität oder Charisma zurückführte, wenn er auch das „rational vergesellschaftete Gemeinschaftshandeln“ primär in der „Bürokratie“ typisiert sah.39 Roxin jedenfalls hat mit Blick auf nicht staatliche, kriminelle Organisationen nur bei solchen eine Organisationsherrschaft annehmen wollen, die gleichsam als „Staat im Staate“ agieren40 und unabhängig vom Wechsel ihrer Mitglieder eine gewisse Beständigkeit aufweisen, wo also das einzelne Mitglied als „funktionaler Teil eines größeren, vorausgesetzten Ganzen“ gleichsam mechanisch zur Tatausführung „eingesetzt“ werden könne. 41 Schon damals hat er darauf hingewiesen, dass die damit im Ansatz zum Ausdruck gebrachte Unterscheidung zwischen – hier sog. – „organisationsherrschaftstauglichen“ Organisationen und anderen noch weiterentwickelt werden müsse.42 Roxin selbst hat diese Weiterentwicklung freilich nicht betrieben und würde dies wohl, wollte man ihn dafür kritisieren, mit seinem „offenen“ Verständnis der Tatherrschaft43 erklären, denn danach kann eben auch die Organisationsherrschaftslehre und der ihr zugrunde liegende Organisationsbegriff erst anhand relevanten Fallmaterials einer Konkretisierung zugeführt werden.44 Nun kann man allerdings nicht bestreiten, dass die mangelnde Präzisierung des Organisationsbegriffs zu einer erheblichen Unsicherheit gerade in Fällen führt, in denen, wie im Fall Fujimori, der tatausführende Machtapparat nur aus einer überschaubaren Zahl von Tatmittlern besteht oder es sich, wie im Katanga-Fall, um eine nicht-staatliche, militäri37 Und ebenso wenig „assumes“ Roxin „that superiors … have expressly ordered atrocities, even if there exists no direct evidence at trial to this effect.“ (Osiel [Fn. 4] S. 114; ders. in: Smeulers [Fn. 4] S. 125). 38 Weber (Fn. 32, Studienausgabe) S. 10; dazu auch Vest (Fn. 26) S. 310. 39 Weber (Fn. 32, Studienausgabe) S. 11; vgl. auch Vest (Fn. 26) S. 311 („Machtapparat … in erster Linie der moderne Staat …“, Herv. im Orig.); zu den vorbürokratischen, irrationalen Herrschaftsformen des „Patrimonialismus“, „Feudalismus“ und „Charismatismus“ eingehend Weber (Fn. 32, Studienausgabe) S. 46 ff, 98 ff, 132 ff. 40 Vgl. schon Roxin GA 1963, 205; ders. Täterschaft (Fn. 1) S. 250; LK11-Roxin § 25 Rn. 129. 41 Roxin GA 1963, 206. 42 Ebd. (“Die Abgrenzung noch weiter durchzuführen … ist hier nicht möglich“). 43 Z. B. Roxin Täterschaft (Fn. 1) S. 251 (als „offenem Begriff“); ders. AT II § 25 Rn. 27 (als „leitendem Maßstab“). 44 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 119, wo er auch insoweit darauf hinweist, dass es sich um „kein Patentrezept“, sondern nur „ein Modell“ handele, „dessen konstituierende Elemente im Einzelfall an der Realität überprüft werden müssen.“

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sche Organisation handelt (näher sogleich III.).45 Ich habe deshalb schon früher zur Konkretisierung eine Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen organisatorischen Machtapparaten vorgeschlagen,46 hinsichtlich dieser zwischen einem formellen Machtapparat und einer informellen Gruppe differenziert und nur bei jenem, einer hierarchisch strukturierten Organisation mit einer ausreichend großen Zahl auswechselbarer Tatmittler, eine Organisationsherrschaft im Grundsatz für möglich gehalten.47 Ähnlich erachten andere Autoren, sofern sie sich überhaupt mit nicht-staatlichen, kriminellen Organisationen im hier relevanten Sinne befassen,48 in Anlehnung an die für den staatlichen Unrechtsapparat entwickelten Kriterien nur bei hinreichend großen, hierarchisch strukturierten, staatsähnlichen Verbrecherorganisationen mit gleichsam automatischer Befehlserfüllung – in Abgrenzung von nur lose organisierten, „gewöhnlichen“ Verbrecherbanden – eine Organisationsherrschaft für möglich,49 ohne sich dabei freilich mit dem Begriff der Organisation näher auseinanderzusetzen.50 Tatsächlich entwickelt die ganz h. L. den Organisationsbegriff in Abhängigkeit von Roxins 45 Krit. auch Herzberg ZIS 2009, 577 re. Sp., wonach insoweit die Grenzziehung „nach Zahl, Zeit und Ausmaß“ in das richterliche Belieben gestellt sei. 46 Ambos GA 1998, 235 ff. 47 Ambos GA 1998, 240 f. 48 Zahlreiche Autoren befassen sich a limine nur mit staatlichen Organisationen und Wirtschaftsunternehmen, z. B. Schlösser (Fn. 24) S. 26, 281 ff, 332, der seine Untersuchung auf Staat und Wirtschaftsunternehmen als hierarchisch-lineare Organisation mit formalisierter Binnenstruktur beschränkt. Ebenso etwa Langneff Die Beteiligtenstrafbarkeit von Hintermännern innerhalb von Organisationsstrukturen bei vollverantwortlich handelndem Werkzeug, 2000, S. 73 ff, 108 ff. Andere beschränken sich bei nicht-staatlichen kriminellen Organisation auf die organisierte Kriminalität, z. B. Bolea B. Autoría mediata en derecho penal, 2000, S. 338 sowie die in der folgenden Fußnote genannten Autoren. 49 Vgl. etwa Vest (Fn. 26) S. 312 f (312: „[N]ichtstaatliche organisatorische Machtapparate funktionieren nicht anders als ihr staatliches Vorbild …“; Herv. im Orig.); M. Heinrich (Fn. 20) S. 283: „kriminelle Gebilde mit mafiaähnlichen Organisationsstrukturen“, S. 284: Parallele zu staatlichem Unrechtsapparat insoweit, als „typischerweise auf der einen Seite die Erwartung und auf der anderen die Bereitschaft besteht, sich (auch) dergestalt einzugliedern, daß der hierarchisch Untergeordnete … ihm erteilte Aufträge im Einzelfall kritiklos… ausführt.“, S. 285: „prinzipielle Bereitschaft zur Erledigung von Anordnungen“; Urban (Fn. 29) S. 99 bzgl. organisierter Kriminalität „dem Staatswesen vergleichbare Verhältnisse“ und S. 101 „gewisser Organisationsgrad“, S. 103 bzgl. terroristischen Organisationen „Vergleich mit staatlichem Unrecht“; auch Faraldo C. Responsabilidad penal del dirigente en estructuras jerárquicas, 2003, S. 301 ff. Morozinis (Fn. 12) S. 64 f, 331 f erwähnt zwar nicht-staatliche, kriminelle Organisationen, setzt sie aber hinsichtlich seiner Voraussetzungen der Organisationsherrschaft („rechtsgelöste Fungibilität“, automatische Befehlserfüllung, S. 332) mit staatlichen Organisationen gleich. 50 Lediglich Vest (Fn. 26) S. 308 ff und C. Faraldo (Fn. 49) S. 195 ff behandeln systematisch „organisierte Machtapparate“; ansatzweise auch Urban (Fn. 29) S. 159 ff, der es zutreffend auf die „strukturelle Beschaffenheit des Kollektivs“ ankommt.

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Konzeption des staatlichen Machtapparats, es ist aber fraglich, ob mit einer solchen staatszentrierten Betrachtungsweise moderne nicht-staatliche, kriminelle Organisationen, die zudem häufig im Rahmen asymmetrischer Konflikte51 agieren, angemessen erfasst werden können.

III. Was folgt nun insoweit aus den Entscheidungen des peruanischen Obersten Gerichtshofs und des IStGH? Im Fujimori-Verfahren ging es um Taten eines militärischen Sonderkommando namens „Grupo Colina“, 52 das aus 38 Spezialkräften bestand.53 Colina war in den Armeegeheimdienst SIE (Servicio de Inteligencia del Ejército) integriert, der wiederum der zentralen Führung des Armeegeheimdiensts DINTE (Dirección de Inteligencia del Ejército) untergeordnet war; dieser wiederum unterstand formell dem Armeegeneralstab (Jefatura del Estado Mayor del Ejército, JEMGE), der Teil des Oberkommandos der Streitkräfte (Commando Conjunto de las Fuerzas Armadas) war. Die DINTE erstattete dem nationalen Geheimdienstzentrum SIN (Servicio de Inteligencia Nacional), das als Teil des nationalen Geheimdienstsystems SINA (Sistema de Inteligencia Nacional) alle Geheimdiensttätigkeiten koordinierte und von Fujimoris engstem Berater Vladimiro Montesinos geleitet wurde, Bericht. Unter der Leitung des SIN leistete der SIE Colina logistische Unterstützung zur Durchführung der Spezialoperationen, während die DINTE für die operativen Pläne und die Finanzierung von Colina zuständig war.54 Das Fujimori-Urteil betrifft also zwar den klassischen Fall einer staatlichen Organisationsherrschaft, doch hat sich der eigentliche organisatorische Machtapparat aus der beschriebenen geheim-

51 Diese sind dadurch charakterisiert, dass sich die beteiligten Privaten (de facto Kombattanten, irreguläre Kämpfer) nicht an das humanitäre Völkerrecht, insbesondere den Unterscheidungsgrundsatz, halten und damit für die gegnerischen Kombattanten nicht erkennbar sind (zur Terminologie: MüKo-Ambos, vor §§ 8-12 VStGB Rn. 39 f; Herdegen Völkerrecht, 9. Aufl. 2010, § 56 Rn. 21). 52 Zu Colina Fujimori-Urteil cuestiones de hecho Nr. 83 ff, 181 ff sowie para. 324 ff; vgl. auch Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, La Cantuta v. Peru, Urteil v. 29.11.2006 (Series C No. 162), para. 80 (zit. in Ambos ZIS 2009, 556 li. Sp.). 53 Fujimori-Urteil para. 337. 54 Siehe zu Struktur und Funktionen der Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden FujimoriUrteil cuestiones de hecho Nr. 58 ff, 76 ff sowie para. 275 ff, 301 ff; Vgl. auch C. Caro ZIS 2009, 585 f; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 154 ff; C. García ZIS 2009, 600; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 202; Ambos ZIS 2009, 553.

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dienstlichen Struktur heraus, gleichsam als „Staat im Staate“,55 entwickelt und Colina zu seinem militärischen Exekutivorgan gemacht.56 Genau genommen geht es um mehrere organisatorische Machtapparate – auf der obersten Ebene um das nationale Geheimdienstsystem SINA/SIN, auf mittlerer Ebene um den Armeegeheimdienst DINTE und auf unterster, exekutiver Ebene um das Tötungskommando Colina –, die alle im Dienste des staatlichen Machtapparats um Fujimori-Montesinos standen und in sich sowie im Verhältnis zueinander hierarchisch strukturiert waren. Im IStGH-Verfahren gegen die Milizenführer Katanga und Ngudjolo Chui geht es um die Zurechnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die im Februar 2003 bei einem gemeinsamen Angriff der beiden Milizengruppen der Angeklagten von deren Mitgliedern begangen wurden, wobei die Befehlsstrukturen der beiden Gruppen (aufgrund ethnisch unterschiedlicher Zugehörigkeit ihrer Mitglieder) strikt getrennt waren.57 Die IStGH-Vorverfahrenskammer rechnete den Angeklagten gleichwohl – im Wege einer eigentümlichen Kombination von mittelbarer Täterschaft (Organisationsherrschaft) und Mittäterschaft als mittelbare Mittäterschaft („indirect co-perpetration“),58 – nicht nur die Taten der eigenen Untergebenen, sondern auch die des jeweils anderen zu, weil sie aufgrund eines gemeinsamen Tatplans gehandelt, jeweils wesentliche Tatbeiträge geleistet und gemeinsam das gesamte Angriffsgeschehen kontrolliert hätten.59 Was die Begründung der Organisationsherrschaft angeht, so betont die Kammer die Sicherung der „fast automatischen“ Erfüllung der Anordnungen der Organisationsspitze durch die Fungibilität der Tatmittler, 60 erkennt aber zugleich an, dass „compliance“ auch mittels der Kontrolle des Apparats „through intensive, strict, and violent training regimes“ erreicht werden könne, etwa indem Kinder zwangsrekrutiert und im Rahmen eines solchen Regimes zum Schießen, Plündern, Vergewaltigen und Töten ausge-

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Vgl. schon o. Fn. 40, wo die Metapher freilich für nicht-staatliche, kriminelle Organisationen verwendet wird; in diesem Sinne auch M. Heinrich (Fn. 20) S. 283; C. Faraldo (Fn. 49) S. 301. 56 Zur grds. Anerkennung eines (teil)staatlichen Machtapparats siehe Fujimori-Urteil para. 735, 746; dazu auch C. Caro ZIS 2009, 583 ff; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 150 ff. 57 Katanga-Entscheidung para. 6, 9, 12, 20 ff (Anklage), 519; zusf. Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 858 f. 58 Vgl. Werle/Burghardt FS Maiwald, 2010, 860 ff mit Empfehlung der Übernahme ins deutsche Recht und Abgrenzung zur „mittelbaren Täterschaft in Mittäterschaft“ bei Handeln eines Verbrechenskollektivs (argentinische Militärjunta, Nationaler Verteidigungsrat DDR, Al Bashir-Regierung etc.). 59 Katanga-Entscheidung para. 33 ff (Anklage), 519 ff, 561. 60 Katanga-Entscheidung para. 512: “orders … generally be complied with”, 513: “compliance with his orders”, 514: „secure compliance“, 517: „ensure compliance“;

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bildet würden.61 In casu sei die Erfüllung der Anordnungen der Angeklagten gesichert gewesen, weil ihre Milizen über eine ausreichend große Zahl ersetzbarer Kämpfer verfügten;62 bei solchen Milizen garantiere nämlich die „interchangeability of the lowest level soldiers“, dass eine Anordnung, die von einem Milizionär nicht befolgt würde, von einem anderen exekutiert würde.63 Zudem sei die fast automatische Befehlserfüllung („without asking any questions“) – im Sinne der genannten Alternative zur Fungibilität – auch deshalb garantiert gewesen, weil die Soldaten jung waren, einem brutalen militärischen Trainingsregime unterworfen waren und sich ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe verbunden fühlten.64 Die Katanga-Entscheidung passt also die Roxinschen Kriterien der Organisationsherrschaft insoweit an die eigentümliche Struktur afrikanischer Milizengruppen an, als sie die gleichsam automatische Befehlserfüllung nicht nur durch die Fungibilität der Milizionäre sondern auch durch deren Unterordnung unter ein besonders strenges Trainingsregime und die Einbindung in eine durch informelle, ethnische oder sonstige sozial-familiäre Bindungen charakterisierte Organisation garantiert sieht. Diese Rechtsprechung ist auch für die deutsche Praxis von Relevanz, sieht diese sich doch über §§ 129a, 129b StGB und §§ 6 ff VStGB zunehmend mit der Aburteilung ähnlicher Straftaten konfrontiert.65

IV. Der organisatorische Machtapparat ist – im Sinne der Lampeschen Dichotomie66 – als „verfasstes Unrechtssystem“67 zugleich Teil und Motor des „Systemunrechts“.68 Er steht damit im Mittelpunkt der strafrechtlichen Zurechnung69 und „kollektiviert“ – ganz im Sinne der im Völkerstrafrecht 61

Katanga-Entscheidung para. 518. Bei dem konkreten Angriff um ca. 1000 bzw. 375 (Katanga-Entscheidung para. 545). 63 Katanga-Entscheidung para. 546. 64 Katanga-Entscheidung para. 547. 65 Vgl. nur den U-Haftbeschluss des BGH-Ermittlungsrichters vom 17.6.2010 (AK 3/10 = JZ 2010, 960 mit Anm. Safferling) im Verfahren gegen Ignace Murwanashyaka, den sich in Deutschland aufhaltenden Führer der Hutu-Milizenorganisation „Forces Démocratiques de Libération du Rwanda“ (FDLR), wo allerdings die individuelle Zurechnung auf die Vorgesetztenverantwortlichkeit i. S. v. § 4 VStGB gestützt wird (siehe insoweit NStZ 2010, 581). 66 Lampe ZStW 106 (1994), 683; dazu schon Ambos (Fn. 11) S. 531 ff; Lampe weitgehend folgend Meini (Fn. 7) S. 111; auch C. Faraldo (Fn. 49) S. 269 ff. 67 „Verfasst“, weil es gegenüber dem einfachen Unrechtssystem anonymer und komplex strukturiert ist, vgl. Lampe ZStW 106 (1994), 693 ff. 68 Lampe ZStW 106 (1994), 702 ff. 69 Vgl. schon Fn. 26 ff und Haupttext. 62

Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft

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schon anerkannten doppelten (kollektiv-individualistischen) Zurechnung („Zurechnungsprinzip Gesamttat“)70 – die klassisch individualstrafrechtliche Sichtweise.71 Die Organisationsspitze bedient sich der Funktionalität des Apparats zur Verwirklichung von Systemunrecht, 72 sie handelt vermittelt durch den Apparat zusammen mit den unmittelbaren Tätern zur Verwirklichung des supraindividuellen Organisationsziels, dem sich letztlich alle Organisationsmitglieder unterordnen.73 Das Szenario leuchtet unmittelbar ein bei einem teilstaatlichen Unrechtssystem wie dem peruanischen Geheimdienstsystem mit seinem Exekutionskommando Colina. Wie aber steht es mit nichtstaatlichen Akteuren bewaffneter Konflikte wie den afrikanischen Milizentruppen im Katanga-Verfahren? Auch hier geht die Gleichung „Systemunrecht“ durch „Unrechtssystem“ auf, weil eine afrikanische Miliz als „verfasstes Unrechtssystem“ im Sinne einer kriminellen Vereinigung gelten kann74 und diese „Systemunrecht“ als Organisationsunrecht i. S. d. § 129, 129a, 129b StGB begeht.75 Das sieht offenkundig auch der Ermittlungsrichter beim BGH so:76 Die FDLR ist eine kriminelle oder terroristische Organisation i. S. d. §§ 129, 129a StGB, neben klassischer individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit (in casu aufgrund §§ 4, 7, 8 VStGB) trifft die Mitglieder damit auch eine kollektive Organisationsverantwortlichkeit. Dies alles zeigt, dass die Organisationsherrschaftslehre auf der Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Verantwortlichkeit liegt. Diese nähert sie der in der völkerstrafrechtlichen Rechtsprechung so relevanten systemischen Zurechnungsfigur des joint criminal enterprise an.77 In organisationsstrafrechtlicher Terminologie geht es bei der klassischen Organisationsherrschaftslehre als individualstrafrechtlicher mittelbarer Täterschaft um organisationsdeliktisches Verhalten i. w. S. – im Ge-

70

Grundlegend Dencker Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 116 ff, 124, 125, 127, 138 ff, 160, 250 ff; Vest (Fn. 26) S. 30, 218 f, 246 ff, 303, 397, 399; ders. ZStW 113 (2001), 495; vgl. auch Ambos (Fn. 11) S. 553 f, 614; ders. Internationales Strafrecht § 7 Rn. 11 f, 29. 71 In der Sache ähnlich Schlösser (Fn. 24), wenn er bei grds. individualistischer Orientierung am Tatmittler (S. 109, 169 ff, 359) für eine „Kollektivierung“ der Blickrichtung durch ein sozialbezogenes Herrschafts- und Freiheitsverständnis plädiert (S. 201 ff, 331 ff, 360), wodurch die handelnde Person nicht nur rein individualistisch sondern in ihren sozialen Bezügen gesehen (S. 362) und die Organisation „kraft sozialer Herrschaftsausübung“ beherrscht werde (S. 361). 72 Meini (Fn. 7) S. 116. 73 Meini (Fn. 7) S. 112. 74 Zur Subgruppe der kriminellen Vereinigung Lampe ZStW 106 (1994), 695 ff. 75 Lampe ZStW 106 (1994), 706 f. 76 Fn. 65. 77 Das kann hier nicht vertieft werden, bedarf aber weiterer Überlegungen, zum jce siehe Ambos Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 30 ff m. w. N.

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gensatz zur kollektiven Organisationsverantwortlichkeit als organisationsdeliktisches Verhalten i. e. S.78 Wie muss nun eine solche nicht-staatliche kriminelle Organisation beschaffen sein, um von einer mittelbaren Täterschaft der Führungsspitze kraft Organisationsherrschaft ausgehen zu können? Hier zeigt die völkerstrafrechtliche Praxis zu den schwarzafrikanischen Konflikten zunächst, dass Makrokriminalität sich häufig ungeordnet, außerhalb bürokratischer Organisation ereignet79 und die Kohäsion der paramilitärischen Milizengruppen jenseits formal-bürokratischer Organisation eher auf „weichen“ Faktoren wie Stammeszugehörigkeit sowie sozial-familiären oder faktischen Bindungen beruht.80 Bei gewalttätigeren Gruppen mag auch die Rekrutierung von Kindern und deren ideologische o. a. Indoktrination81 sowie ein besonders strenges Trainingsregime82 zu einer Kultur von Befehl und (blindem) Gehorsam führen.83 Entscheidend ist, dass die Kontrolle über die Tatausführenden auch durch andere Mittel als eine hochformale, streng hierarchische Organisation erreicht werden kann.84 Die streng hierarchische, anonyme 78

Zu dieser Unterscheidung jüngst Morozinis (Fn. 12) S. 25, 332, 630, 644 f. Osiel (Fn. 4) S. 99; ders. in: Smeulers (Fn. 4) S. 112: „episodes of mass atrocity depart conspicuously from the rational orderliness, desanitized precision, and efficiency suggested by the bureaucratic, ‚organization man‘ account.“ (siehe auch ebd. S. 110 f = 122 f). 80 Osiel (Fn. 4) S. 104; ders. in: Smeulers (Fn. 4) S. 116: „effective fighting force whose members are already united by years of the intimate interaction … common tribal affiliation … intangible elements of ‚social capital‘.“ 81 So stellt etwa Allen Trial Justice - The International Criminal Court and the Lord's Resistance Army, 2008, S. 42 fest, dass es eine „key strategy“ der ugandischen Lord's Resistance Army (LRA) gewesen sei, „to abduct young people including children and to educate them to be part of a new society.“ Ferner weist er auf spirituelle Ansätze bei ihrem Führer Kony hin, die sowohl “fear” als auch „respect for his powers“ hervorriefen (S. 42 f). Akhavan Am. J.Int’l L. 99 (2005), 407 betont (ebenfalls bezüglich der LRA) die „dual role of child soldiers as perpetrators and victims“ und die darauf beruhende „command and control“ Kultur sowie die Ausnutzung der „innocence and vulnerability of children in order to transform them into a potent combination of docile subordination and vicious killers.“ 82 Katanga-Entscheidung, hier Fn. 61. 83 Siehe etwa zur „Spiritualität“ von LRA-Führer Kony und der daraus folgenden blinden Gefolgschaft seiner Kämpfer Traylor Eyes on the ICC 6/23, 2009-2010, S. 25: „His followers often believe that these spirits allow Kony to watch current and former LRA members and to predict the future. These claims of divine guidance work to effectively insulate Kony against any possible questioning or criticism. For example, when soldiers, many of them children, are ordered to walk directly into oncoming fire during an attack, those who instead seek cover are accused of questioning Kony, and by extension, the ‚Holy Spirit‘ itself. Such offenses are often punished by mutilation and/or death. When an individual is killed during combat, it is said that he personally angered the Holy Spirit and thus forfeited protection. Such intimidation results in a group of highly motivated and dedicated followers who are more than willing to carry out Kony's often brutal orders.“ 84 Osiel (Fn. 4) S. 114 ; ders. in: Smeulers (Fn. 4) S. 125: „sufficient control ... may arise by means other than a highly formal, rigidly hierarchical organisation.“ 79

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Struktur als klassisches Erklärungsmuster von Organisationsherrschaft in bürokratischen Apparaten ist bei diesen Organisationen durch informelle, „weichere“ Strukturmerkmale zu ersetzen oder doch jedenfalls zu ergänzen.85 Das bedeutet nicht den völligen Wegfall einer hierarchisch-vertikalen Struktur mit klarer Befehlskette, doch beruht die Kontrolle der Tatmittler nicht primär auf der Formalität einer Hierarchie (oder anderen Formalitäten) sondern eher auf den genannten „weicheren“ Faktoren. Zusammengenommen begründen diese Faktoren eine Art „persönlicher“ Autorität des Milizenführers, die die Kontrolle der Organisation und damit ihrer Mitglieder garantiert. „Persönliche“ Autorität bedeutet dabei allerdings nicht notwendigerweise, dass der Führer alle Mitglieder seiner Organisation persönlich kennt oder die Befehlsausführung gar auf einer engen persönlichen Beziehung zwischen diesen und dem Führer beruht. Eine zu starke „Personalisierung“ würde dazu führen, dass der von der Organisationsspitze ausgehende, die Befehlsausführende garantierende repressive Handlungsdruck derart abgeschwächt würde, dass die in dem Anweisungsverhältnis zwischen Organisationsspitze und -mitgliedern gründende Kontrolle nicht mehr existieren würde.86 Das hat Roxin schon 1963 erkannt, als er betonte, dass der Zusammenschluss eines „halben Dutzend asozialer Elemente“ noch keinen „Machtapparat“ begründe, denn die „Gemeinschaft beruht auf den individuellen Beziehungen der Beteiligten untereinander und hat nicht jenen vom Wechsel der Mitglieder unabhängigen Bestand“, den die Organisationsherrschaft voraussetzt.87 Die Organisation muss also jedenfalls derart hierarchisch strukturiert und groß sein, dass der von der Organisationsspitze ausgehende repressive Handlungsdruck in anonymisierter Weise auch an alle Mitglieder (persönlich bekannt oder nicht) mit ausreichendem Nachdruck weitergegeben werden kann.

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Zweifelnd zum Erfordernis einer Hierarchie auch Meini ZIS 2009, 604 f; ders. in: Ambos/Meini (Fn. 23) S. 217 f. 86 Vgl. Urban (Fn. 29) S. 159 ff, 263 f, die neben der Existenz eines nach dem Anweisungsprinzip arbeitenden Machtsystems (näher S. 161 ff: Abgrenzbarkeit der Kompetenz- und Aufgabenbereiche, vertikaler Informationsfluss) mit bestimmter Mindestgröße und deliktsspezifischer Rechtsgelöstheit vor allem auf die „repressive Wirkweise des Systems durch Erzeugung von (latentem) Handlungsdruck und/oder Indoktrination einer bestimmten Ideologie“ abstellt (siehe auch S. 159: „innerorganisatorischer Handlungsdruck“, S. 198: „gezielt repressive Wirkweise des Apparats“). Fehle es an der Mindestgröße, bestehe eine enge persönliche Beziehung zwischen Organisationsspitze und Untergebenen, die den im Rahmen des Anweisungsverhältnisses hierarchisch vermittelten Druck zu stark abschwäche, weshalb bei kleinere Tätergruppen (Banden sowie die meisten Terrororganisationen) eine Organisationsherrschaft abzulehnen sei (S. 177 ff). 87 Roxin GA 1963, 206.

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V. Stellt man die Organisation in den Mittelpunkt der strafrechtlichen Zurechnung, so wirft dies auch ein neues Licht auf die bisher vernachlässigte Frage nach der für eine Organisationsherrschaft notwendigen Mindestposition und -kontrolle innerhalb der Befehlshierarchie. Roxin hat insoweit „unbedenklich“ die Tatherrschaft auf jeden ausgedehnt, der „in einem Organisationsapparat an irgendeiner Stelle in der Weise eingeschaltet ist, dass er untergebenen Personen Befehle erteilen kann“, denn entscheidend sei insoweit alleine, „dass er den ihm unterstellten Teil der Organisation lenken kann“88 bzw. dass er Anordnungen mit „selbständiger Befehlsgewalt“ weitergeben könne.89 Ich habe demgegenüber die Ansicht vertreten, dass nur die Organisationsspitze „eine absolute Herrschaft“ mittels und über den Organisationsapparat ausüben könne, „die Organisationsherrschaft also nur für diejenigen staatlichen Hintermänner zweifelsfrei begründet werden kann, deren Befehlsgewalt und Anordnungen nicht ohne weiteres aufgehoben oder rückgängig gemacht werden können, die also in diesem Sinne ‚störungsfrei‘ herrschen und beherrschen können.“90 Das Fujimori-Urteil folgt auch in dieser Frage Roxin.91 Sofern die Literatur die Problematik überhaupt behandelt, wird ebenfalls im Wesentlichen Roxin gefolgt und die Organisationsherrschaft eines der mittleren Befehlshierarchie angehörigen Täters wie Eichmann mit dessen eigenem Entscheidungsspielraum begründet.92 Dabei wird jedoch nicht erklärt, wie ein solcher Entscheidungsspielraum, der ja immer nur den, von dem betreffenden Befehlsmittler selbständig verwalteten Teil der Organisation betreffen kann, zu einer Herrschaft 88

Roxin GA 1963, 203; ders. Täterschaft (Fn. 1) S. 248. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Aufl. 1994, S. 654. 90 Ambos (Fn. 11) S. 603 f (Herv. im Original). Schon in GA 1998, 238 hatte ich nicht „sehr viel tiefer als bis zum mittleren Beamten à la Eichmann“ gehen wollen; insoweit zust. Urban (Fn. 29) S. 169. 91 Fujimori-Urteil para. 731 Nr. 3 = ZIS 2009, 636 („Daher muss jeder, der aufgrund seiner hierarchischen Stellung die Maschinerie des organisatorischen Machtapparats zum Laufen bringt, als mittelbarer Täter haften.“) und Nr. 4 = ZIS 2009, 637 („ … jeder, der sich in einer besonderen privilegierten Stellung befindet und die Fähigkeit der Befehlserteilung besitzt, als mittelbarer Täter haftet, da seine Anordnungen es erlauben, dass die kriminelle Struktur aktiv bleibt.“). 92 Vgl. Urban (Fn. 29) S. 167 f, 169; auch Langneff (Fn. 48) S. 98 f; C. Faraldo (Fn. 49) S. 203 ff (explizit gegen meine „extrem restriktive“ Ansicht). Missverständlich insoweit Meini (Fn. 7), der einerseits auch Personen unterhalb der Organisationsspitze „Herrschaft über die Organisation“ zugesteht, wenn sie nur einen Teil der unter ihrer Gewalt befindlichen Maschinerie kontrollieren (S. 114), andererseits aber verlangt, dass diese Personen sich das „Funktionieren des Apparats zunutze machen“ können müssen („les permita aprovecharse del funcionamiento del aparato“), weil Organisationherrschaft „reale Herrschaft über den Apparat“ („que realmente exista domino sobre el aparato“) voraussetze (S. 118 f). 89

Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft

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über die gesamte Organisation führen können soll. Stellt man diese aber in das Zentrum der strafrechtlichen Zurechnung und versteht Organisationsherrschaft als Herrschaft über oder durch die (gesamte) Organisation, kann eine Teilherrschaft, wie sie dem mittleren Befehlsempfänger/-geber zukommen mag, zur Begründung von Organisationsherrschaft nicht ausreichen.93 „Teilherrschende“ Beteiligte an Makrokriminalität, die zugleich Befehle empfangen und erteilen, sind damit (allenfalls) Mittäter, das eventuelle Gleichordnungsdefizit mit Blick auf ihre Befehlsempfänger (die u. U. die unmittelbaren Täter sind) ist insoweit eher in Kauf zu nehmen als ihr Herrschaftsdefizit gegenüber der Organisationsspitze, denn dieses verhindert letztlich ihre Beherrschung der (gesamten) Organisation.94 Etwas anderes, nämlich eine Organisationsherrschaft dieser Personen im hier verstandenen Sinne (scil. über die gesamte Organisation), kann sich nur ergeben, wenn wir es mit einem kriminellen Gesamtsystem zu tun haben, innerhalb dessen mehrere Teil- oder Unterorganisationen selbständig tätig werden, die deshalb auch selbständig beherrscht werden können. Beispielhaft: Fujimori und sein Berater Montesinos kontrollieren den gesamten Geheimdienstapparat von SINA/SIN bis herunter zum Tötungskommando Colina, die sektoralen Geheimdienste und die Colina selbst werden aber direkt von anderen Personen kontrolliert, die freilich in letzter Instanz Fujimori verantwortlich sind. Wenn man bei einem solchen Szenario eine der Teilorganisationen des Gesamtsystems als eigenständigen organisatorischen Machtappart klassifiziert, dieser also insbesondere (faktisch) hierarchisch organisiert und groß genug ist, wäre eine mittelbare Täterschaft der Leiter dieses Machtapparats denkbar.

VI. Die kleine Untersuchung hat gezeigt, dass der Organisationsbegriff der Organisationsherrschaftslehre mit Blick auf nicht-staatliche, paramilitärische Gruppen in bewaffneten Konflikten über sein ursprüngliches, formalstaatsbürokratisches Verständnis hinaus erweitert und weiterentwickelt werden muss. Die Beherrschung solcher Gruppen und ihrer Mitglieder beruht in der Regel auf informellen, „weicheren“ Faktoren, die sich aus deren soziokulturellen Handlungsumfeld ergeben. Diese vordergründige Erkenntnis 93 Vgl. schon Vest (Fn. 26) S. 239 („Organisationsherrschaft über den Apparat … lediglich … Führung …“; Herv. im Original). Den Punkt sieht auch Morozinis (Fn. 12) S. 319 mit Fn. 1670, wenn er meiner Ansicht unter der Voraussetzung eines „Zurechnungsprinzips Gesamttat“ grundsätzlich zustimmt. 94 Vgl. schon Ambos (Fn. 11) S. 606.

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führt zu der grundlegenderen Frage zurück, ob das individualistischkollektive Zurechnungsmodell des Völkerstrafrechts95 nicht eine Herauslösung der Organisationsherrschaftslehre aus dem individualistischen Zurechnungsmodell der mittelbaren Täterschaft fordert.96 Dafür spricht die zentrale Rolle, die der Organisation als Teil und Motor des Systemunrechts97 als Bezugspunkt der Zurechnung zukommt. Dem kann man nur durch Anerkennung eines das Individualstrafrecht ergänzenden „kumulativen Organisationsstrafrechts“98 angemessen Rechnung tragen. Claus Roxin kommt das Verdienst zu, diese und viele andere Überlegungen zur angemessenen individualstrafrechtlichen Erfassung makrokriminellen Verhaltens angestoßen zu haben. Er verteidigt seine Lehre bis heute, auch unter Inkaufnahme größter persönlicher Strapazen.99 Dafür verdient er den größten Respekt und man kann dem (internationalen) Strafrecht nur wünschen, dass Claus Roxin seine Entwicklung noch lange aktiv begleiten wird. Ad multos annos!

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Fn. 70 und Haupttext. Vgl. zur Verselbständigung schon Ambos (Fn. 11) S. 615; ders. Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 28; offenlassend Vest (Fn. 26) S. 398. 97 Vgl. Fn. 68 und Haupttext. 98 Vest (Fn. 26) S. 397. 99 So etwa jüngst (Oktober 2010) in Bogotá auf einer großen Konferenz zur mittelbaren Täterschaft, wo er sich aktiv mit den Einwänden gegen seine Lehre auseinandergesetzt hat. 96

Täterschaft und Pflichtverletzung Grundlagen der Pflichtdeliktslehre RAÚL PARIONA

I. Einleitung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Pflichtdeliktslehre vor dem Hintergrund meiner eigenen Konzeption, deren Grundlagen hier dargelegt werden sollen. Wenn ich es wage, ihn in einer überarbeiteten Fassung in eine Festschrift zu Ehren Claus Roxins als bescheidene Gabe einzubringen, so geschieht das aus der Erkenntnis heraus, dass gerade der Jubilar der Gründer dieser Lehre ist. Die hinter der Pflichtdeliktslehre stehende Problematik ist die Bestimmung und Abgrenzung der Beteiligungsformen bei denjenigen Delikten, deren Tatbestandsstruktur eine Sonderpflicht in der Person des Täters voraussetzt, wie das etwa bei den Amts- oder den Unterlassungsdelikten der Fall ist. Die Frage, wer von mehreren an einer solchen Straftat Beteiligten Täter und wer Teilnehmer ist, gestaltet sich umso schwieriger in Fallkonstellationen, in denen ein Intraneus und ein Extraneus zusammenwirken. Wie schon einst Merkel1 im Jahr 1889 und Nagler2 im Jahr 1903 feststellten, ist die Problematik des qualifikationslos dolosen Werkzeugs dabei besonders relevant. Heute wird diese Problematik vor allem am Beispiel des § 266 StGB dargestellt, so etwa, wenn ein Vermögensverwalter (Intraneus) einen Nichtqualifizierten (Extraneus) zum Beiseiteschaffen des ihm anvertrauten Vermögens veranlasst. Eine überzeugende Lösung für die geschilderte Problematik konnte von den herkömmlichen Lehren bislang nicht erbracht werden. Mit der Pflichtdeliktslehre fand sich jedoch erstmals eine Antwort auf diese Fragestellung. Darin liegt auch der wichtigste Beitrag der Pflichtdeliktslehre für die Strafrechtswissenschaft: eine klare Lösung für dieses „ewig“ unlösbare Problem

1

Merkel Lehrbuch des deutschen Strafrechts S. 141. Nagler Die Teilnahme am Sonderverbrechen – Ein Beitrag zur Lehre von der Teilnahme, 1903, S. 69 f. 2

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gefunden zu haben. Die Postulate dieser Lehre sowie ihre Begründung sollen im Folgenden dargelegt werden.

II. Entstehung und Entwicklung der Pflichtdeliktslehre in der Strafrechtswissenschaft Der Gründer der Pflichtdeliktslehre ist Claus Roxin. Im Jahr 1963 entwickelte er in seiner Abhandlung „Täterschaft und Tatherrschaft“ die Pflichtverletzung als weiteres Kriterium zur Bestimmung und Abgrenzung von Täterschaft.3 Der Täter ist – nach der Konzeption Roxins4 – die Zentralgestalt bei der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Handlung. Der Teilnehmer hingegen ist nur eine Randfigur, welche die Tat des Täters durch eine Aufforderung auslöst oder aber durch Hilfeleistung dazu beiträgt. Dabei wird der Oberbegriff der Zentralgestalt durch drei unterschiedliche Kriterien konkretisiert. Zu nennen ist hier zunächst die „Tatherrschaft“ als das bei den meisten Delikten für die Täterschaft entscheidende Kriterium. Zentralgestalt des Deliktsvorgangs ist demnach, wer das zur Deliktsverwirklichung führende Geschehen beherrscht, während der Teilnehmer auf das Geschehen zwar ebenfalls Einfluss nimmt, dessen Ausführung aber nicht maßgeblich gestaltet (Herrschaftsdelikte). Doch gibt es auch Delikte, bei denen immer nur derjenige als Zentralgestalt der Deliktsausführung angesehen werden kann, der den Tatbestand eigenhändig verwirklicht. Entscheidendes Merkmal ist hier folglich die eigenhändige Begehung (eigenhändige Delikte). Schließlich – und das ist vorliegend von besonderer Relevanz – unterscheidet man eine dritte Gruppe von Delikten, bei denen nur derjenige im Zentrum der Tatbestandsverwirklichung steht, der eine besondere, nicht jedermann treffende Pflicht verletzt hat (Pflichtdelikte).5 Nach Roxins Pflichtdeliktstheorie ist bei mehreren Beteiligten derjenige als Zentralgestalt des Geschehens anzusehen, der die ihn treffende vortatbestandliche Pflicht verletzt und auf diese Weise durch Tun oder Unterlassen zum Erfolg beiträgt, wohingegen das Maß des äußeren Anteils am Erfolg oder die Tatherrschaft unwesentlich sind.6 So ist beispielsweise ein Amtsträger, der einen die Amtsträgereigenschaft nicht innehabenden Dritten (Extraneus), dazu veranlasst, den in § 348 Abs. 1 StGB rechtlich missbilligten Erfolg herbeizuführen, trotz fehlender Tatherrschaft Täter einer Falsch3 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1963. Die Arbeit hat eine achte Auflage (2006) erreicht. 4 Vgl. Roxin (Fn. 3) S. 25 ff; ders. AT II § 25 Rn. 10; ders. JZ 1966, 293. 5 Roxin (Fn. 3) S. 352 ff; ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, S. 17; ders. AT II § 25 Rn. 14. 6 Vgl. Roxin AT II § 25 Rn. 268.

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beurkundung im Amt. Täter ist er deshalb, weil er unter Verletzung der ihm obliegenden außerstrafrechtlichen Sonderpflicht die tatbestandlich umschriebene Rechtsgutsverletzung bewirkt hat. Der Extraneus dagegen ist nur Gehilfe des Täters, denn obwohl er die Handlungsherrschaft innehat und nach den Regeln der Tatherrschaft Täter sein müsste, weist er doch keine Sonderpflicht auf.7 Das Hauptmerkmal der Pflichtdeliktslehre Roxins liegt im Wesen der Sonderpflicht. Die hier in Frage stehende täterschaftsbegründende Pflicht bezieht sich seiner Auffassung nach nämlich nicht auf die aus der Strafrechtsnorm entspringende allgemeine Pflicht, „deren Missachtung die im Tatbestand vorgesehene Sanktion auslöst“,8 sondern auf eine besondere Pflicht, die nicht jedermann trifft – eine außerstrafrechtliche Sonderpflicht. Diese Sonderpflichten sind der Strafrechtsnorm logisch vorgelagert und ergeben sich aus anderen Rechtsgebieten, wie etwa den öffentlich-rechtlichen Beamtenpflichten, den standesrechtlichen Schweigegeboten oder den zivilrechtlichen Treueverpflichtungen. Ihr Charakteristikum ist dabei, dass „die Träger dieser Pflichten sich unter den sonstigen Mitwirkenden durch eine besondere Beziehung zum Unrechtsgehalt der Tat auszeichnen und dass der Gesetzgeber sie deshalb allein um dieser Verpflichtung willen als Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens und damit als Täter ansieht.“9 In der Strafrechtswissenschaft hat die Pflichtdeliktslehre inzwischen ihre Etablierung erfahren und ist nun Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Ein bedeutender Teil der Rechtswissenschaft hat sie angenommen und teilweise fortentwickelt. Die Rechtsprechung hingegen verhält sich bei dem Kriterium der Pflichtverletzung ebenso wie bei dem Merkmal der Tatherrschaft: Ausdrücklich wird es zwar nicht von ihr übernommen, jedoch stimmen einige Entscheidungen dem Grundsatz nach mit der Pflichtdeliktslehre überein.10 Trotz der Etablierung der Lehre erfährt diese doch teilweise auch Kritik. So liegt ein wichtiger Einwand gegen die Pflichtdeliktslehre in der Behauptung, dass sich die Heranziehung außerstrafrechtlicher Sonderpflichten zur Begründung der strafrechtlichen Täterschaft als nicht überzeugend erweise.11 Dies zeigt, dass die Fortentwicklung der Pflichtdeliktslehre eine weiterhin zu erfüllende Aufgabe der Strafrechtswissenschaft ist.

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Roxin (Fn. 3) S. 361; ders. AT II § 25 Rn. 271 ff. Roxin (Fn. 3) S. 354; LK11-Roxin § 25 Rn. 37. 9 Roxin (Fn. 3) S. 354. 10 BGHSt 9, 204 (217 f). Roxin bezieht sich auf drei andere Urteile des Bundesgerichtshofs, BGHSt 32, 165 (178); 37, 106; 38, 325. Sie seien eine implizite Bestätigung der Lehre von den Pflichtdelikten, vgl. JZ 1995, 51. 11 LK11-Schünemann § 14 Rn. 17. 8

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III. Die Pflichtdeliktslehre – Die eigene Konzeption In dem vorliegenden Beitrag kann nicht die ganze Problematik der Pflichtdeliktslehre behandelt werden12, hierfür würde der verfügbare Platz auch nicht reichen. Ziel dieses Beitrags ist vielmehr, meine eigene Konzeption der Pflichtdeliktslehre darzustellen und zu begründen. Denn erst von einem eigenen Standpunkt aus betrachtet, lässt sich die Problematik bezüglich ihrer Prämissen, ihrer Reichweite und ihrer dogmatischen Konsequenzen angemessen würdigen. Wie im Folgenden darzulegen sein wird, beruht die Begründung meiner Konzeption von der Pflichtdeliktslehre auf der Grundlage zweier Ideen.

1. Die Verletzung der Sonderpflicht als Kriterium der Täterschaft Die erste Säule meiner Konzeption der Pflichtdeliktslehre basiert auf dem Postulat: die Verletzung der Sonderpflicht begründet die Täterschaft und nicht das Unrecht. Die Pflichtverletzung stellt also das Kriterium schlechthin zur Bestimmung und Abgrenzung der Täterschaft bei Pflichtdelikten dar. Diese Aussage beruht auf der ursprünglichen Auffassung Roxins, wonach die Pflichtverletzung das Täterschaftskriterium sei.13 Diese These ist in der Strafrechtswissenschaft allerdings umstritten. So ist sogar unter den Anhängern der Pflichtdeliktslehre der Standpunkt zu vernehmen, dass die Pflichtverletzung nicht nur die Täterschaft begründe, sondern auch den Strafgrund darstelle.14 Zurechnungsgrund ist nach dieser Auffassung somit die Pflichtverletzung, diese enthält den materiellen Gehalt des Unrechts. Denn die Verletzung einer positiven Institution begründe stets die Strafbarkeit des Täters.15 Überzeugen kann diese Ansicht allerdings schon deswegen nicht, weil die Pflichtdeliktslehre ein Erklärungsmodell der Beteiligungsproblematik darstellt und nicht des Strafgrundes. Das Kriterium „Pflichtverletzung“ ist ein Kriterium, um die Täterschaft zu bestimmen und abzugrenzen. Die Pflichtverletzung begründet also allein die Täterschaft, nicht aber den Strafgrund. Doch selbst auf der Ebene der Unrechtslehre kann dieser Auffassung nicht gefolgt werden, denn die Strafbarkeit erschöpft sich nicht etwa in 12 Dazu im Einzelnen Pariona Täterschaft und Pflichtverletzung – Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der Abgrenzung der Beteiligungsformen bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten, 2010, S. 17 ff. 13 Vgl. Roxin (Fn. 3) S. 385, 739, Fn. 752. 14 In diesem Sinne Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung – Zugleich ein Beitrag zur Einheitlichkeit der Zurechnung bei Tun und Unterlassen, 1999, S. 180 ff, der aus dieser Schlussfolgerung eine Grundlage für seine Auffassung gebildet hat. Vgl. auch Jakobs AT 2/2. 15 Sánchez-Vera (Fn. 14) S. 199.

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einer Norm- oder Pflichtverletzung, sondern hat vielmehr auch einen materiellen Gehalt. Materielle Voraussetzung der Strafbarkeit ist nämlich die Beeinträchtigung des durch die betreffende Norm geschützten Rechtsguts. Der Strafgrund besteht nicht allein in der Verletzung eines Normbefehls, sondern liegt auch – und zwar notwendigerweise – in der Herbeiführung eines sozialen Schadens. Strafrechtliches Unrecht setzt demnach eine Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung voraus. So muss beispielsweise die Rechtsbeugung – entgegen der Auffassung von Jakobs16 – nicht als bloße Pflichtverletzung, sondern auch als Rechtsgutsverletzung verstanden werden. Die Verletzung einer tatbestandsspezifischen Pflicht ist demgegenüber nur ein Merkmal der Täterschaft, und, wie Roxin zutreffend bemerkt, „Anstifter und Gehilfen werden, auch wenn sie keine Richter sind, nach derselben Vorschrift, obgleich milder, bestraft. Das wäre nicht möglich, wenn nicht schon die Rechtsgutsverletzung die Strafbarkeit trüge.“17

2. Die täterschaftsbegründende Pflicht – Strafrechtliche Sonderpflicht Die zweite Säule meiner Konzeption der Pflichtdeliktslehre fundiert auf dem Postulat: Die täterschaftsbegründenden Pflichten sind strafrechtlich und nicht außerstrafrechtlich. Dieses Postulat ist das Resultat der Materialisierung der Lehre von der Eigenständigkeit der strafrechtlichen Begriffsbildung. Hierfür habe ich den Gedanken von der Eigenständigkeit der strafrechtlichen Begriffsbildung auf die Beteiligungslehre übertragen und für die Pflichtdeliktslehre fruchtbar gemacht. Maßgebendes Kriterium zur Bestimmung und Abgrenzung der Beteiligungsformen gemäß der Pflichtdeliktslehre ist die Pflichtverletzung. Jedes Pflichtdelikt setzt eine Pflicht in der Person des Täters voraus, deren Verletzung gerade ihn zum Täter macht. Diese Pflicht erschöpft sich jedoch nicht in der allgemeinen, in jedem Straftatbestand enthaltenen Pflicht, „keine Straftaten zu begehen“ und somit „keine fremden Rechtsgüter zu beeinträchtigen“. Folglich handelt es sich nicht um diejenige Pflicht, deren Verletzung den Strafgrund darstellt, sondern vielmehr um eine andere, eine „besondere“ Pflicht, deren dogmatische Tauglichkeit nur bei bestimmten Tatbeständen und nur im Bereich der Täterschaftslehre erscheint. Roxin hat seit der Entstehung der Pflichtdeliktslehre diese Pflichten als „außerstrafrechtliche Pflichten“ bezeichnet. Sonderpflichten sind seiner Auffassung nach dabei nicht etwa diejenigen, die aus der Strafrechtsnorm entspringen, deren Missachtung also die im Tatbestand vorgesehene Sanktion auslöst, 16 17

Jakobs FS Jakobs, 2003 (Bogotá), 43. Roxin AT I § 2 Rn. 113.

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sondern vielmehr die „außerstrafrechtlichen Pflichten“, etwa die öffentlichrechtlichen Beamtenpflichten oder die zivilrechtlichen Treueverpflichtungen, die für die Tatbestandserfüllung erforderlich seien.18 Täter sei derjenige, der eine dem Tatbestand vorgelagerte außerstrafrechtliche Sonderpflicht verletze. Von dieser Ansicht Roxins weicht die hier vertretene Auffassung der Pflichtdeliktslehre allerdings ab. Täterschaftsbegründende Pflichten sind nach der hier vertretenen Ansicht strafrechtliche Sonderpflichten. Festzuhalten ist daher zunächst, dass es sich nicht um außerrechtliche Pflichten handelt. Diesen Begriff kann man nicht mit außerrechtlichen Strukturen begründen, seien es ontologische, soziale, ethische oder philosophische Strukturen. 19 Allerdings soll dies nicht etwa bedeuten, dass dieser Begriff solche vorrechtlichen Gegebenheiten als Substrat nicht innehabe. Denn gewiss sind die Pflichten auch Ausdruck von sozialen und ethischen Werten und Vorstellungen. Sie haben jedoch keine direkte Bedeutung für die Strafrechtsdogmatik, sondern werden erst relevant, nachdem sie durch die Rechtsordnung anerkannt wurden. 20 Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet bedeutet das folgendes: Den Sonderpflichten liegt als Substrat eine besondere Beziehung zwischen der Person und dem Rechtsgut zugrunde – etwa die Beziehung zwischen Vermögensverwalter und dem ihm anvertrauten Vermögen oder die des Amtsträgers und dem Staat sowie der Allgemeinheit. Diese Beziehung wird durch das Recht auf verschiedene Arten gesichert, indem etwa jeder Regelungsbereich einen anderen besonderen Zweck verfolgt. So findet beispielsweise der Schutz des Vermögens durch das Zivilrecht und das öffentliche Recht auf unterschiedliche Weise statt, ersteres verfolgt als Ziel die Sicherheit des Rechtsverkehrs, letzteres den öffentlichen Sozialfrieden. Die Absicherung dieser Beziehung durch das Strafrecht löst die Entstehung von strafrechtlichen Pflichten aus, deren Zweck und Inhalt der umfassende Schutz des Guts21, unabhängig von außerstrafrechtlichen Erwägungen, ist. Das hier vertretene Postulat zeigt aber auch, dass die Sonderpflichten keinen außerstrafrechtlichen Charakter aufweisen. Die gesellschaftliche Bedeutung der rechtlichen Pflichten, die ihre Grundlage in anderen Rechtsge18

Roxin (Fn. 3) S. 354 ff; LK11-Roxin § 25 Rn. 37. Die ethischen Pflichten begründen keine strafrechtlichen Pflichten, vgl. Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 125; SK-Rudolphi § 13 Rn. 19; Sax JZ 1975, 139; Stratenwerth/Kuhlen AT I § 13 Rn. 37; Kühl AT § 18 Rn. 41; Schönke/Schröder-Stree § 13 Rn. 7; Wessels/Beulke AT Rn. 717. Nach dem BGH haben die rein sittlichen Gebote keine strafrechtliche Relevanz, BGHSt 7, 271; 30, 393. 20 Vgl. Stein Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 209 ff. 21 Andere haben lediglich die Pflicht, dem Gut nicht zu schaden. Der Pflichteninhaber hingegen hat eine „besondere“ Pflicht gegenüber dem Gut, nämlich nicht nur die Pflicht, ihm nicht zu schaden, sondern auch die Pflicht, das Gut zu schützen. 19

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bieten haben, soll damit jedoch nicht negiert werden. Gewiss regeln diese (mit rechtlichen Konsequenzen) die Beziehungen zwischen der Person und dem Gut, eine Verletzung solcher Pflichten zieht jedoch keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich. Erst die Umformung dieser Pflichten durch Straftatbestände begründet ihre Gültigkeit für das Strafrecht. Denn die Strafrechtswissenschaft arbeitet allein mit strafrechtlichen Begriffen. Begriffe hingegen, die ihren Ursprung in anderen Gebieten haben (sei es in einem außerrechtlichen Gebiet, etwa der Physik, oder aber in einem außerstrafrechtlichen Gebiet, beispielsweise dem Zivilrecht), sind für das Strafrecht nur von Bedeutung, wenn sie eine „Anpassung“ an einen strafrechtlichen Begriff, also eine Umformung, erfahren. Termini, wie etwa „Gesetz“, „Kausalität“, „Sache“, „Schaden“, „Institution“, müssen folglich an die Strafrechtslehre angepasst werden, damit sie ein Element des strafrechtlichen Diskurses werden können bzw. damit sie zu strafrechtlichen Begriffen werden.22 Deutlich wird die eigenständige Begriffsbildung des Strafrechts bei dem Begriff der Kausalität. Wie bereits festgestellt, sind nicht die naturwissenschaftlichen Begriffe an sich für das Strafrecht verbindlich, sondern nur diejenigen von ihnen, die einer strafrechtlichen Anpassung unterzogen wurden. So kann sich die Strafrechtswissenschaft für die Feststellung der Kausalität zwar der Ergebnisse der Naturwissenschaften bedienen, letztere können aber gerade für die strafrechtlichen Probleme keine fertigen Lösungen bieten, denn das Problem der Kausalität stellt sich für den Strafrechtler anders dar als für den Physiker.23 Ein gutes Beispiel hierfür ist auch der Begriff der „Sache“.24 Soll etwa der zivilrechtliche Terminus der „Sache“ mit seinem ursprünglichen Inhalt und seiner Bedeutung für das Strafrecht umfassend gelten? Der dogmatisch korrekte Weg führt zu der Erkenntnis, dass das Strafrecht seiner eigenen Begrifflichkeit folgen und dementsprechend eine eigene Definition der „Sache“ bilden muss: „Was unter Sache und körperlicher Sache des näheren zu verstehen sei, kann nur die Auslegung des Strafgesetzes entscheiden“, dies geschehe „unabhängig von den Begriffsbestimmungen der Sache in der Privatrechtsordnung“.25 Bei der Verletzung der körperlichen Integrität eines Tieres beispielsweise handelt es sich strafrechtlich um eine Sachbeschädigung, zivilrechtlich sind Tiere 22 Vgl. Fahl Jura 2005, 274; Graul JuS 2000, 215; Gropp JuS 1999, 1041; Küper JZ 1993, 435; Schlüchter JuS 1993, 19. 23 Puppe ZStW 92 (1980), 864 f. 24 Vgl. Fahl Jura 2005, 274; Fischer § 242 Rn. 3; Graul JuS 2000, 215; Gropp JuS 1999, 1041; Küper BT S. 255; ders. JZ 1993, 435; Otto BT § 40 Rn. 4; Rengier BT I § 2 Rn. 4; Schlüchter JuS 1993, 19; Wessels/Beulke AT Rn. 59; Wessels/Hillenkamp BT II Rn. 15; MKWieck-Noodt § 303 Rn. 8; LK-Wolff § 303 Rn. 3; Arzt/Weber BT § 12 Rn. 12. 25 RGSt 32, 165 (179).

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jedoch „keine Sachen“ (§ 90a BGB). Dennoch gelten sie für das Strafrecht als „Sache“ und fallen daher unter den Tatbestand der Sachbeschädigung (§ 303 StGB)26. Diese markante Eigenständigkeit der strafrechtlichen Begriffsbildung, die die Wissenschaft geprägt hatte 27, wurde 1899 auch vom Reichsgericht gefestigt – dieses stellte fest, dass die strafrechtlichen Begriffe „nur aus dem geltenden Strafgesetze selbst zu entnehmen“ seien.28 Gegenwärtig wird diese Doktrin vom Bundesgerichtshof vertreten: „Der Auffassung, dass dadurch auf zivilrechtlicher Grundlage eine strafrechtlich erhebliche Treuepflicht begründet werde, vermag der Senat nicht zu folgen“, und: „In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass einfache schuldrechtliche Verpflichtungen kein Treueverhältnis im Sinne des § 266 StGB begründen“, denn „es ist nicht der Zweck dieser Vorschrift, die Nichterfüllung oder Verletzung von Leistungs- oder allgemeinen, auf Treu und Glauben beruhenden Schuldnerpflichten schlechthin als Untreue mit Strafe zu bedrohen“29. Die Eigenständigkeit der strafrechtlichen Begriffe lässt sich weiterhin im Rahmen der Diskussion über die Begründung von Garantenpflichten im Bereich der Unterlassungsdelikte belegen. Denn nach der hier vertretenen Auffassung können außerstrafrechtliche Pflichten keine strafrechtlichen Garantenverpflichtungen begründen. Die materiellen Kriterien basieren auf strafrechtlichen Konstruktionen, die den strafrechtlichen Tatbestand als Ausgangspunkt haben. Die Verletzung außerstrafrechtlicher Pflichten löst nicht ohne weiteres strafrechtliche Konsequenzen aus. 30 Beispielsweise ist nicht nachvollziehbar, dass ein „Babysitter“, der seine Aufsichtspflicht verletzt und dadurch den Tod des anvertrauten Kleinkindes nicht verhindert, 26 Die Behandlung von Tieren als Sachen beruht nicht auf dem Gedanken, dass hier (ausnahmsweise) eine Analogie vorliegt (NK-Kindhäuser § 242 Rn. 7); auch die zivilrechtliche Anordnung nach § 90a BGB ist hierfür unerheblich (vgl. Lackner/Kühl § 242 Rn. 2), denn das Strafrecht bildet seine eigenen Begriffe, vgl. weiterhin Fahl Jura 2005, 274. Küper BT S. 255 bemerkt dazu: Nach dem BGB sind Tiere keine Sache. Im Strafrecht hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass Tiere als „körperliche Gegenstände“ weiterhin Sachen sind: Eigenständigkeit des strafrechtlichen Sachbegriffs; Geltung des § 90a BGB nur für das bürgerliche Recht. 27 Vgl. nur Faust Zur möglichen Untreuestrafbarkeit im Zusammenhang mit Parteispenden, 2006, S. 68; Stratenwerth/Kuhlen AT I § 13 Rn. 22; Fahl Jura 2005, 274; Dießner Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei familiärer Kindeswohlgefährdung, 2008, S. 213; Gropp JuS 1999, 1041; Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 336; Nikolaus JA 2005, 609. 28 RGSt 32, 165 (179). 29 BGHSt 28, 23. Ferner BGHSt 1, 186 (188); 22, 190 (191); 5, 187; 6, 314 (317). 30 Grünewald Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht?, 2001, S. 124 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT I § 13 Rn. 24; NK-Wohlers § 13 Rn. 31; Otto/Brammsen Jura 1985, 532 ff; LK-Weigend § 13 Rn. 21; Wessels/Beulke AT § 17 Rn. 717; Sangenstedt Garantenstellung und Garantenpflicht von Amtsträgern, 1989, S. 181 ff.

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nur deshalb straflos bleiben soll, weil der zwischen ihm und den Eltern geschlossene Betreuungsvertrag aus einem formalen Grund zivilrechtlich nichtig war.31 Dieser Lösungsansatz wäre nur dann vertretbar, wenn man für die Begründung der Täterschaft auch solche Sonderpflichten berücksichtigen würde, die außerhalb des Strafrechts existieren. Zur Begründung einer von anderen Rechtsgebieten unabhängigen täterschaftsbegründenden Sonderpflicht ist jedoch eine eigenständige – strafrechtliche – Begriffsbildung erforderlich, damit die im Betreuungsbeispiel erwähnte zivilrechtliche Nichtigkeit des Vertrages für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aufsichtsperson unberücksichtigt bleiben kann. Zivilrechtliche Pflichten beruhen nämlich auf besonderen sozial- oder wirtschaftspolitischen Erwägungen und eignen sich deshalb nicht zur Übertragung ins Strafrecht. 32 Damit bleibt also folgendes festzuhalten: Das Strafrecht ist in der begrifflichen Festlegung der ihm unterfallenden Sonderpflichten autonom. Begriffe anderer Rechtsgebiete, und damit auch Pflichten, unterfallen dem Strafrecht nicht unmittelbar. Strafrechtliche Pflichten, und zwar auch nur täterschaftsbegründende Pflichten, können allein aus Strafvorschriften entstehen. Dies gilt auch für den Bereich der Unterlassungsdelikte. Folglich sind die Erfolgsabwendungspflichten strafrechtliche Pflichten, denn die Verletzung bloßer zivilrechtlicher Vertragspflichten genügt keineswegs, um strafrechtliche Folgen zu begründen. Für die Bestimmung zivilrechtlicher Pflichten kann die Rücksichtnahme auf die zivilrechtliche Rechtssicherheit oder den Rechtsverkehr von Relevanz sein, für das Strafrecht bleiben diese jedoch außer Betracht.33 Die Rechtspflichten anderer Regelungsbereiche sind folglich nicht auf das Strafrecht automatisch ausdehnbar.34 Vielmehr können nur die strafrechtlichen Pflichten, also diejenigen, die durch Auslegung strafrechtlicher Vorschriften entstanden sind, auch strafrechtliche Relevanz besitzen. Diejenigen Pflichten, die die Strafbarkeit (neben der Rechtsgutsbeeinträchtigung) begründen, aber auch diejenigen, die die Täterschaft bestimmen – genauer: deren Verletzung nicht die Strafbarkeit sondern die Täterschaft begründet –, sind dementsprechend strafrechtlich.

31 NK-Wohlers § 13 Rn. 31; LK-Weigend § 13 Rn. 21; ferner Böhm Garantenpflichten aus familiären Beziehungen – Zur Deutung des § 13 Abs. 1 StGB als Blankettvorschrift, 2006, S. 51 ff; Seibert Die Garantenpflichten beim Betrug, 2007, S. 123 ff. 32 Grünewald (Fn. 30) S. 124 ff; Dießner (Fn. 27) S. 213; v. Coelln Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt – Die Emanzipation der Garantenstellung von einzelnen Fallgruppen, 2007, S. 90; Faust (Fn. 27) S. 68. 33 Faust (Fn. 27) S. 68; Stratenwerth/Kuhlen AT I § 13 Rn. 22. 34 Herzberg (Fn. 27) S. 336; ferner Nikolaus JA 2005, 609; Dießner (Fn. 27) S. 213.

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IV. Die Etablierung eines neuen Täterbegriffs Die Weiterentwicklung der Pflichtdeliktslehre anhand dieser beiden Ideen hat ein konsistentes Modell der Pflichtdeliktslehre zum Resultat. Dieses Modell führt einen neuen Täterbegriff ein: Pflichtdelikte sind diejenigen Delikte, bei denen die Zentralgestalt des kriminellen Geschehens derjenige ist, der in einer Pflichtenstellung steht und dabei die strafrechtliche Sonderpflicht verletzt. Dieser Täterbegriff trägt Entscheidendes zur dogmatischen Erklärung der Problematik der Bestimmung und Abgrenzung der Beteiligungsformen bei denjenigen Tatbeständen bei, die eine Pflichtenstellung in der Person des Täters voraussetzen (Begehungs- und Unterlassungspflichtdelikte). Wenn etwa ein Richter einen Dritten damit beauftragt, von einer der Prozessparteien als Gegenleistung für eine für sie „günstige“ Entscheidung einen vermögenswerten Vorteil zu fordern, so hat er nicht die Tatherrschaft über das deliktische Geschehen inne. Dies hat hier vielmehr nur der Dritte, denn er allein entscheidet, auf welche Weise er die Forderung geltend macht, etwa durch ein persönliches Gespräch mit der Partei, mittels eines Briefes oder Telefonanrufs bzw. auf eine sonstige Weise. Auch die Durchführung der Vermögensverschiebung liegt allein in seinen Händen. Dennoch kann der Dritte nicht Täter des begangenen Deliktes (Bestechlichkeit gemäß § 332 StGB) sein. Denn obwohl er die Tatherrschaft innehat, ist er nicht Träger der Sonderpflicht – Gewährleistung der Richtigkeit der Amtsführung und damit Schutz vor der Käuflichkeit von Diensthandlungen und vor Befangenheit der Bediensteten35 – und kann diese folglich auch nicht verletzen. Der Richter dagegen hat an der Tatherrschaft keinen Anteil, doch ist gerade er die Zentralgestalt des deliktischen Geschehens, da er als Träger der genannten Sonderpflicht diese verletzt hat. Täter ist in diesem Sachverhalt somit allein der Richter, der Dritte hingegen lediglich ein Gehilfe. Das oben angeführte Beispiel belegt, dass es zur Bestimmung der Täterschaft bei Pflichtdelikten auf die Tatherrschaft nicht ankommt, die Täterschaft wird ausschließlich mit der Verletzung der Sonderpflicht begründet. Denn obwohl der Richter keine Tatherrschaft innehat, ist er allein der Täter, der Dritte dagegen nur ein Gehilfe. Die Konstellationen der Beteiligung der Sonderverpflichteten begrenzen sich jedoch nicht nur auf eine Beteiligung ohne Tatherrschaft, vielmehr gibt es auch Fallgruppen, bei denen der Sonderpflichtige die Tatherrschaft innehat und gleichzeitig die Sonderpflicht verletzt. Als Beispiel ist hier der Fall des Vermögensverwalters zu nennen, welcher zusammen mit einem Extraneus das anvertraute Vermögen schä35 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald BT II § 79 Rn. 9; Gössel/Dölling BT I § 75 Rn. 1 ff, 20 ff; MK-Korte § 332 Rn. 2 ff; Arzt/Weber BT § 49 Rn. 1 ff, 16 ff.

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digt, indem beide das Vermögen (aktiv) in die eigene Tasche fließen lassen (§ 266 StGB). Hier hat der Sonderpflichtige nicht nur die (Mit-)Herrschaft über das deliktische Geschehen inne, er verletzt zugleich auch die rechtliche Sonderpflicht, deren Träger er ebenfalls ist. Dennoch wird die Täterschaft auch in diesem Fall allein durch das Kriterium der Pflichtverletzung begründet. Auch hier ist somit der Vermögensverwalter als Träger der Sonderpflicht der Täter, der Extraneus bloßer Gehilfe. Folge des neuen Täterbegriffs ist demnach, dass die Bestimmung der Täterschaft bei Pflichtdelikten allein durch das Kriterium der Pflichtverletzung erfolgt, gänzlich ohne Bedeutung für die Bestimmung der Täterschaft ist dagegen, ob der Verpflichtete die Tatherrschaft inne hat oder nicht. Die Etablierung der Verletzung der strafrechtlichen Sonderpflicht als neues Kriterium zur Bestimmung der Täterschaft hat ebenfalls zur Folge, dass die Form der Tatbegehung an Bedeutung verliert. Beispielsweise ist der für einen Gefangenen zuständige Polizist immer Täter, ganz gleichgültig, ob er den Gefangenen selbst körperlich verletzt oder ob er nur untätig dabei zusieht, wie ein anderer dies tut. Die Bedeutungslosigkeit der Begehungsform wird im Schrifttum als wichtiges Merkmal der Pflichtdelikte anerkannt.36 Dieser Beitrag stellt, wenn er konsequent zu Ende gedacht werden würde, tatsächlich eine Ablösung von der alten, an phänotypischen Kriterien orientierten Differenzierung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten durch eine neue Unterscheidung zwischen Handlungs- und Pflichtdelikten, die sich in weitergehender Weise an normativen Kriterien orientiert, dar.37 Aus der vorgenommenen Charakterisierung des neuen Täterbegriffs lässt sich auch eine weitere Schlussfolgerung ziehen, nämlich, dass die Kategorie der Pflichtdelikte eine andere als die der (bloßen) Sonderdelikte ist.38 Beide Kategorien haben verschiedene Inhalte und verschiedene Funktionen. Die Pflichtdelikte werden in Bezug auf die rechtliche Sonderpflicht des Täters definiert: Die Sonderpflicht spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Täterschaft, denn die Verletzung der Sonderpflicht (etwa der Vermögensfürsorgepflicht) stellt gerade das Kriterium der Täterschaft dar. So sind beispielsweise die Untreue (§ 266 StGB) und die Bestechlichkeit 36 Schönke/Schröder27-Cramer/Heine § 25 Rn. 5, 78; Volk FS Tröndle, 1989, 224; Jakobs AT 7/70; Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht – Zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Pflichtdelikten, 2004, S. 99; Sánchez-Vera (Fn. 14) S. 150; Lesch Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 131 ff. 37 Witteck (Fn. 36) S. 99; Dreher GA 1971, 218. 38 Die Unterscheidung zwischen „Pflichtdelikten“ und „Sonderdelikten“ wird in der Literatur vorgenommen, wenn auch nicht immer mit gleicher Begründung und auch nicht mit gleichem Geltungsbereich, vgl. Roxin (Fn. 3) S. 353 f; Jakobs AT 23/24 f. Zustimmend auch Witteck (Fn. 36) S. 100 f; Sánchez-Vera (Fn. 14) S. 36 f.

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(§ 332 StGB) Pflichtdelikte, denn die Täterschaft setzt bei diesen Tatbeständen eine rechtliche Sonderpflicht der Handelnden voraus, deren Verletzung die Täterschaft begründet. Der Begriff „Sonderdelikte“ bezieht sich hingegen auf ein bestimmtes Merkmal (wie etwa Amtsträger, Arzt, Notar, Gefangene u. a.), das (nur) die Bestimmung des Täterkreises ermöglicht,39 dieses Merkmal stellt jedoch in der Regel kein täterschaftsbestimmendes Kriterium dar. Beispielsweise bestimmt das Merkmal „Amtsträger“ bei § 332 StGB allein den Kreis von möglichen Tätern40 und folglich die Normadressaten: Nur diejenigen Personen, die dieses Merkmal aufweisen, können als Täter des jeweiligen Tatbestandes in Frage kommen. Das Merkmal „Amtsträger“ an sich ist jedoch kein Täterkriterium, denn es sagt bei der Beteiligung mehrerer an dem Pflichtdelikt nichts darüber aus, wer Täter und wer lediglich Teilnehmer ist. Um den Kern der Täterschaft zu erreichen, muss somit eine vertiefte Prüfung erfolgen. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, auch die Ansicht41 zu würdigen, wonach es keinen Unterschied zwischen Herrschafts- und Pflichtdelikten gebe, da beide Deliktsgruppen eine Normwidrigkeit voraussetzen. In diese Richtung geht die Auffassung von Maurach/Gössel: Die Normen mit ihrem Sollensanspruch begründen Pflichten zur Achtung der jeweiligen Rechtgüter; jede Normwidrigkeit sei deshalb zugleich eine Pflichtwidrigkeit. Straftaten seien folglich ausnahmslos pflichtwidrige Handlungen. Von dieser Auffassung ausgehend stellen sie Folgendes fest: „Der Unterschied zwischen Herrschafts- und Pflichtdelikten (Roxin) oder zwischen Organisations- und Pflichtdelikten (Jakobs) kann deshalb nicht anerkannt werden – und ebenso wenig können die daraus für die Täterschaftslehre gezogenen Konsequenzen bejaht werden.“ 42 In ähnliche Richtung geht auch Stein43. Er vertritt die Ansicht, dass, wenn der Zweck der Verhaltensnormen stets und ausschließlich im Rechtgüterschutz liege, die 39 Das wird in der Literatur anerkannt, vgl. nur Kraatz Die fahrlässige Mittäterschaft – Ein Beitrag zur strafrechtlichen Zurechnungslehre auf der Grundlage eines finalen Handlungsbegriffs, 2006, S. 206, der ausdrücklich erklärt: „Die den Sonderdeliktscharakter ausmachenden Anforderungen dienen also nur einer der Tatbestandsmäßigkeit geschuldeten gesetzgeberisch gewollten Eingrenzung möglicher Täter“; Kemme Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 484 f, der darlegt, dass die Sonderdelikte den Kreis der möglichen Täter eingrenzen. 40 Vgl. LK-Walter Vor § 13 Rn. 58; Otto AT § 4 Rn. 18; Fischer § 331 Rn. 4. Ferner betont Munz Haushaltsuntreue – Die zweckwidrige Verwendung öffentlicher Mittel als strafbare Untreue gemäß § 266 StGB, 2001, S. 57 f, in Bezug auf § 266 StGB: Der Tatbestand zeichnet sich dadurch aus, dass die im Gesetz umschriebene Eigenschaft des Handlungssubjekts „den Täterkreis begrenzt“. 41 Maurach/Gössel/Zipf AT II § 42 Rn. 10 f; Stein (Fn. 20) S. 210 f; Otto Jura 1987, 257. 42 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf AT II § 42 Rn. 10 f. 43 Stein (Fn. 20) S. 210 f.

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„Pflichtverletzung“ nichts anderes sei als der Angriff auf ein konkretes Rechtsgutsobjekt. Dann könne sich aber die Pflichtverletzung, die dem Intraneus eines Sonderdelikts zur Last fällt, nicht von derjenigen unterscheiden, die der Täter oder Teilnehmer eines Allgemeindelikts begeht.44 Diese These von der „Gleichartigkeit der Pflichten“ ist jedoch abzulehnen. Gewiss ist zwar jedes Delikt (sowohl ein Herrschafts- als auch ein Pflichtdelikt) Ausdruck von (allgemeiner) Normwidrigkeit. Jedoch sind die Pflichten, die den strafrechtlichen Normen entspringen, nicht immer gleichartig. Die Ansicht, die dieser Abhandlung zugrunde liegt, beruht gerade auf einer grundlegenden Unterscheidung zwischen einerseits solchen Pflichten, die einen Haftungsgrund darstellen, und andererseits solchen, die nur die Täterschaft begründen. Nur letztere gehören zu der Kategorie der (strafrechtlichen) „Sonderpflichten“ der Pflichtdeliktslehre. Zwar bedeutet die Begehung eines jeden Delikts eine Norm- und zugleich auch eine Pflichtwidrigkeit, jedoch ergibt sich die Pflichtverletzung nicht immer aus der Verletzung von Pflichten derselben Art, auch hat sie nicht immer die gleiche Bedeutung. Die allgemeine Pflichtwidrigkeit beruht vielmehr auf der Verletzung der allgemeinen Norm, „fremde Rechtsgüter nicht zu beeinträchtigen“. Diese Pflicht gilt für alle Delikte. Ihre Verletzung begründet gleichfalls (neben der notwendigen Rechtsgutsbeeinträchtigung) das strafrechtliche Unrecht, weswegen sie besser als Normwidrigkeit zu bezeichnen ist. Die spezielle Pflichtwidrigkeit hat ihre Grundlage jedoch in der Verletzung von Sonderpflichten – Pflichten also, die gerade nicht jedermann treffen. Diese Sonderpflichten sind dementsprechend auch nicht in allen, sondern nur in manchen Straftatbeständen, wie etwa in den §§ 266, 332 StGB, enthalten. Ihre Verletzung begründet nicht das Unrecht, sondern allein die Täterschaft, weswegen für diese nicht die Bezeichnung als Normwidrigkeit, sondern als Sonderpflichtverletzung adäquat ist.

V. Schlusswort Ziel dieser Abhandlung war es, die Grundlagen meiner eigenen Konzeption der Pflichtdeliktslehre aufzuzeigen. Begründet wurde diese anhand zweier Ideen: Zum einen dem Gedanken, wonach die Verletzung der Sonderpflicht nur die Täterschaft begründet, nicht hingegen das Unrecht, und zum anderen der Konzeption, wonach die täterschaftsbegründenden Pflichten strafrechtlich sind. Die erste Idee zieht die Schlussfolgerung nach sich, dass diejenige Auffassung, die in der Pflichtverletzung nicht nur die Be44

Stein (Fn. 20) S. 210 behauptet sogar, dass sich diese Pflichtverletzung von der Pflichtverletzung des externen Teilnehmers am Sonderdelikt ebenso wenig unterscheidet.

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gründung der Täterschaft sieht, sondern die Begründung des Unrechts überhaupt, nicht realisierbar ist. Festgestellt wurde auch, dass sich sogar auf der Ebene der Unrechtslehre die Strafbarkeit nicht in einer Norm- oder Pflichtverletzung erschöpft, sondern dass ihr vielmehr auch ein materieller Gehalt innewohnt, denn die materielle Voraussetzung der Strafbarkeit ist die Beeinträchtigung des durch die betreffende Norm geschützten Rechtsguts. Die zweite Idee führt zu dem Ergebnis, dass es sich bei den täterschaftsbegründenden Pflichten zunächst nicht um außerrechtliche Pflichten handelt. Dies zeigt aber auch, dass die Sonderpflichten keinen außerstrafrechtlichen Charakter aufweisen. Vielmehr sind diese Pflichten strafrechtlich, denn sie sind im Straftatbestand enthalten. Somit konnte auch der Einwand einer illegitimen Heranziehung außerstrafrechtlicher Sonderpflichten zur Begründung der strafrechtlichen Täterschaft entkräftet werden. Die Konjunktion dieser Ideen materialisiert sich in der vorgenommenen Weiterentwicklung der Pflichtdeliktslehre und damit in der Begründung eines neuen Täterbegriffes. Täter ist nunmehr derjenige, dem eine Sonderpflicht obliegt und der diese strafrechtliche Sonderpflicht verletzt; Teilnehmer hingegen ist derjenige, der an der Straftat beteiligt ist ohne eine solche Sonderpflicht innezuhaben. Diese neue Ausprägung der Pflichtdeliktslehre trägt Entscheidendes zur dogmatischen Erklärung der Problematik der Abgrenzung der Beteiligungsformen bei denjenigen Tatbeständen bei, die eine Pflichtenstellung in der Person des Täters voraussetzen (Begehungs- und Unterlassungspflichtdelikte). Damit sei diese Abhandlung abgeschlossen, die ich Claus Roxin mit den herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag widme! Fünf Jahre lang war Roxin ein hervorragender Magister- und Doktorvater für mich, ein Lehrer in menschlicher Hinsicht wird er stets bleiben! Ad multos annos!

Mehrfache Beihilfe MICHAEL HEGHMANNS

I. Einführung in die Thematik In einen ersten intensiveren Kontakt mit dem großen wissenschaftlichen Werk des verehrten Jubilars geriet ich angesichts einer Korruptionssache, die ich Anfang der neunziger Jahre – zu jener Zeit als Staatsanwalt – zu bearbeiten hatte und wo es zunächst so schien, als hätte einer der Beschuldigten zweimal zu derselben Haupttat Beihilfe geleistet. Die Lektüre von Roxins kategorischer Auffassung in der damals aktuellen 11. Auflage des Leipziger Kommentars, wegen der Akzessorietät der Beihilfe könne zu einer Haupttat auch nur einmal Beihilfe geleistet werden,1 ließ bei mir Fragen offen, um deren Beantwortung ich freilich seinerzeit herumkam, weil in dem besagten Verfahren die erste der beiden Hilfeleistungen am Ende nicht nachzuweisen war. Erst etliche Jahre später wurde ich an die Thematik erinnert, als mir – inzwischen zum Hochschullehrer ernannt – die ehrenvolle Aufgabe zufiel, die Erstauflage des zweiten Bandes von Roxins großem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil zu besprechen,2 und ich in diesem Zusammenhang erneut seine dort ausführlicher begründete Stellungnahme3 las. Da eine Rezension selbstverständlich keinen Rahmen für eine inhaltliche Stellungnahme zu Detailfragen bot, nahm ich mir vor, bei anderer Gelegenheit eine eigene Position zur Thematik mehrfacher Beihilfe zu erarbeiten. Wie bei so vielem blieb es auch insoweit bis heute beim Vorsatz. Wegen dieser Vorgeschichte lag es indes nahe, die Einladung zur Beteiligung an dieser zweiten Festschrift zu Ehren Roxins zu der lange aufgeschobenen näheren Befassung mit der Frage zu nutzen, ob tatsächlich kein Weg an der Einheit der Beihilfe zu einer Haupttat vorbei führt. Idealtypisch leistet ein Gehilfe einen Beitrag zu einer Haupttat. Weniger häufig, aber keineswegs selten kommt auch ein Gehilfenbeitrag zu mehreren Haupttaten vor, indem der Gehilfe beispielsweise die Tatwaffe für mehrere geplante Überfälle zur Verfügung stellt. Für diesen Fall wird heute 1

LK-Roxin11. Aufl. § 27 Rn. 54; ebenso bereits in der 10. Aufl. (1978) § 27 Rn. 36. Heghmanns GA 2004, 615. 3 Roxin AT II § 26 Rn. 285. 2

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unbestritten eine tateinheitliche Beihilfe zu den verschiedenen Haupttaten angenommen.4 Insbesondere bei Tatbeständen, die von vorneherein auf eine längere Ausführung angelegt sind (z. B. die Dauerdelikte) oder häufiger mit einer komplexeren Tatbegehung einhergehen (z.B. die Untreue, die Steuerhinterziehung und das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln), begegnen uns aber auch mehrfache Beihilfeakte zu derselben Haupttat. Eine solche Fallgestaltung lag, um die (aus anderen Gründen5) wohl bekannteste Entscheidung zu nennen, BGHSt 46, 107 zu Grunde: Ein Bankmitarbeiter hatte durch mehrere, voneinander unabhängige und jeweils mit neuem Tatentschluss vorgenommene Geldtransferunterstützungen die Hinterziehung von Einkommenssteuern in einem einzigen Veranlagungszeitraum bzw. in derselben Einkommenssteuererklärung des betreffenden Bankkunden ermöglicht. Vorstellbar sind ähnliche Fallgestaltungen aber auch im Rahmen der Alltagskriminalität: Wer für einen Einbruchsdiebstahl zunächst den Plan des Einstiegsobjekts liefert und später noch das Einbruchswerkzeug, der hat tatsächlich zweimal die Haupttat gefördert. In solchen Konstellationen scheint das Grundprinzip der Teilnahme, nämlich ihre Akzessorietät zur Haupttat, mit den Regeln zu Ideal- und Realkonkurrenz, die prinzipiell auch für die Beihilfe gelten, in Konflikt zu geraten. Entsprechend gegensätzlich sind die Lösungsvorschläge im Schrifttum, das inzwischen mehrheitlich dem verehrten Jubilar folgend aus der Natur der Beihilfe als akzessorischem Rechtsgutsangriff ableitet, einem einzigen Rechtsgutsangriff qua Haupttat könne zwingend auch nur eine einzige Beihilfestrafbarkeit entsprechen.6 Demgegenüber sieht sich eine früher zahlenmäßig ebenbürtige Auffassung inzwischen in die Defensive gedrängt. Sie hält, sofern Gehilfenbeiträge zu derselben Haupttat von jeweils neuen Tatentschlüssen getragen werden, eine Tatmehrheit von Beihilfehandlungen immerhin für möglich, freilich ohne das Akzessorietätsargument ernsthaft anzugehen.7 Überlagert also die Akzessorietät die Regeln zu Tateinheit und 4

BGHSt 40, 374 (377); LK-Schünemann § 27 Rn. 65 f; LK-Rissing-van Saan vor § 52 Rn. 83; Schönke/Schröder-Cramer/Heine § 27 Rn. 36/37; SK-Hoyer § 27 Rn. 38; SKSamson/Günther § 52 Rn. 21; Roxin AT II § 26 Rn. 285; Jescheck/Weigend AT § 64 IV 3. 5 Primär ging es in BGHSt 46, 107 um die Frage der Beihilfe durch berufs- oder sozialadäquates Verhalten, die sog. „neutralen“ Beihilfehandlungen. 6 Roxin AT II § 26 Rn. 285; LK-Roxin11. Aufl. § 27 Rn. 54, insoweit unverändert übernommen in LK-Schünemann12. Aufl. § 27 Rn. 67; LK-Rissing-van Saan vor § 52 Rn. 83; SK-Hoyer § 27 Rn. 38; Fischer § 27 Rn. 31a; MüKo-Joecks § 27 Rn. 101; Kindhäuser LPK § 53 Rn. 30; Satzger/Schmitt/Widmaier-Murmann § 27 Rn. 14; BeckOK-Kudlich § 27 Rn. 22; Baumann/Weber/Mitsch AT § 31 Rn. 41 f; Rengier AT § 56 Rn. 81; Schmidhäuser Lehrbuch AT Rn. 18/22; ebenso mit anderer Begründung NK-Puppe § 52 Rn. 20. 7 Vgl. Jescheck/Weigend AT § 64 IV 3; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT 2 § 54 Rn. 52; Schönke/Schröder-Cramer/Heine, § 27 Rn. 38; SK-Samson/Günther § 52 Rn. 21; Lackner/Kühl, § 27 Rn. 11 i. V. mit § 26 Rn. 10.

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-mehrheit? Und ist es tatsächlich undenkbar, ein mehrfaches Gehilfenunrecht zu konstruieren? Wie heute im Schrifttum, so hat auch die Rechtsprechung dazu sehr unterschiedliche Positionen eingenommen.

II. Die Entwicklung in der Rechtsprechung Mittlerweile erscheint die Rechtsprechung freilich fest gefügt. In der – soweit ersichtlich – aktuellsten einschlägigen Entscheidung heißt es nur noch lapidar und ohne Belege: „Da nur eine Haupttat … vorliegt, stellen die Beihilfehandlungen des Angeklagten S. … auch nur eine Tat der Beihilfe dar.“8 Besagte Beihilfehandlungen beschreibt die Entscheidung als zweimaliges Bestellen von Rauschgift im Auftrag des Haupttäters, der eines Handeltreibens schuldig war. Verfolgt man den Weg der Rechtsprechung indes zurück, so stößt man auf eine sehr wechselvolle Geschichte. Anfänglich beherrschte die Rspr. ein striktes, uns in dieser Form heute fremdes, formales Akzessorietätsdenken, das die Zahl der Teilnahmehandlungen ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Teilnehmeraktivitäten an die rechtliche Einordnung der Haupttat(en) band. In RGSt 4, 95 hatte sich daher ein Lieferant minderwertiger Uhren, die der Haupttäter sodann betrügerisch veräußerte, entsprechend der Anzahl von drei Betrugstaten seines Abnehmers der Beihilfe in drei tatmehrheitlichen Fällen schuldig gemacht: „Eine einheitliche, als eine Handlung sich darstellende Beihilfe zu mehreren selbständigen Handlungen läßt sich nun aber nach der accessorischen Natur der Beihilfe nicht annehmen und zwar selbst dann nicht, wenn sich die Beihilfe nach ihrer Beschaffenheit als ein Thätigkeitsakt darstellt, wenn also z. B. in vorliegender Sache die 3 Uhren, in deren Verkauf drei betrügerische Handlungen gesehen sind, aus e ine r Sendung herrühren sollten“.9 Folgerichtig hielt es RGSt 11, 37 für ausgeschlossen, dass zu einem einzigen Abtreibungsversuch mehrfach Hilfe geleistet werden konnte, weil „die geleistete Beihilfe ihren strafrechtlichen Charakter erst durch die That des Thäters erhält und die strafrechtliche Natur der Hauptthat für die rechtliche Beurteilung der Beihilfehandlung entscheidend ist. Dies hat aber auch zu gelten hinsichtlich der Frage, ob eine einheitliche Beihilfeleistung oder eine Mehrheit von Beihilfeleistungen vorliegt.“10 Diese Sichtweise beherrschte die Rechtsprechung unverändert über mehr als fünfzig Jahre hinweg.11 Erst im Jahre 1935 vollzog RGSt 70, 26 eine 8

BGH StV 2010, 684 f. RGSt 4, 95 (97 f), Sperrung im Original. 10 RGSt 11, 37 (38). 11 Vgl. RGSt 11, 56 (59); 54, 164 (165); RGSt 3, 684. 9

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Kehrtwendung. Die Entscheidung lehnte eine strikte Akzessorietätsbindung ab und nahm beim Zusammenfallen der Anstiftung zu mehreren Haupttaten in einem einzigen Anstiftungsakt nicht mehr Tatmehrheit, sondern Tateinheit an. Die recht ausführliche Begründung stellt – zeitgenössischer Terminologie folgend – eine „natürliche Betrachtungsweise“ in den Vordergrund, wonach nicht einzusehen sei, dass die Grundsätze von Tateinheit und -mehrheit nicht in gleicher Weise für Anstiftungs- und Beihilfehandlungen gelten sollten.12 Schließlich seien diese Teilnahmehandlungen ebenso „strafbare Handlungen“ i. S. der Überschrift über dem 5. Abschnitt des ersten Teils des StGB (a. F.).13 Die Entscheidung hielt daher ersichtlich eine Mehrheit von Beihilfehandlungen zu derselben Haupttat für möglich, wenngleich ihr Erkenntnisinteresse primär der gewissermaßen umgekehrten Fallgruppe einer einheitlichen Teilnahme an mehreren Haupttaten galt und sie daher einen entsprechenden Rechtssatz nicht explizit formulierte. Nach dem Kriege führte zunächst das OLG Celle diese neue Rechtsprechung anlässlich der Beihilfe zu einem Verbrechen nach der (bis 1949 geltenden) Kriegswirtschaftsverordnung14 fort. Der Angeklagte hatte bei einer Schwarzschlachtung durch den Haupttäter mittels des Verkaufs eines Rindes und, nachdem der Haupttäter mit dem Schlachten nicht zu Recht kam, auf dessen erneute Bitte auch dabei geholfen. Soweit die zweite Hilfeleistung auf einem neuen Tatentschluss beruhte, käme, so der Senat, eine zweite selbstständig strafbare Beihilfe in Betracht.15 Auch der BGH, der erst einige Zeit später Gelegenheit erhielt, sich zu der Frage zu äußern, blieb bis in die 90er Jahre hinein auf der Linie von RGSt 70, 26. So befand der 3. Senat noch 1991 anlässlich eines Verfahrens wegen Beihilfe zur Untreue bei Unklarheit darüber, ob eine oder mehrere Haupttaten vorlagen, dass „die Frage, ob Tatmehrheit, Tateinheit oder eine fortgesetzte Tat vorliegt, … für jeden Täter und Teilnehmer voneinander unabhängig und selbständig zu prüfen [ist]. Sie hängt beim Gehilfen von dem mehr oder weniger engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang der Einzelhandlungen und vor allem von seinem Vorsatz ab. Mehrere Hilfeleistungen zu einer Haupttat können, müssen aber nicht notwendig in Fortsetzungszusammenhang stehen…“.16

12

RGSt 70, 26 (28); fortgeführt von RGSt 70, 334 (335); 344 (349 f); 385 (388 f). RGSt 70, 26 (29). Besagte Überschrift lautete: „Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen“; in dem Abschnitt (§§ 73-79 StGB a. F.) befanden sich u. a. die Bestimmungen zu Tateinheit (§ 73 StGB a. F.) und Tatmehrheit (§ 74 StGB a. F.). 14 Kriegswirtschaftsverordnung vom 4.9.1939, RGBl. I S. 1609, berichtigt S. 1700. 15 OLG Celle Hannoversche Rechtspflege 1947, 51. 16 BGH NStZ 1991, 489 f; mit offenbar identischer Begründung schon BGH bei Holtz MDR 1978, 803, zur Beihilfe zur Steuerhinterziehung. 13

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Eine Trendwende brachte das Jahr 1999, in dem zunächst eine Entscheidung des 1. Senats zur Beihilfe zu einem einzelnen Waffendelikt erging. Sie griff erstmals wieder auf das Akzessorietätsargument zurück, verstand dieses jetzt aber nicht formal, sondern lenkte den Blick mit einer – freilich sehr kurzen – Bemerkung auf den materiellen Unrechtsgehalt der Beihilfe: „Mehrere Beihilfehandlungen zu einer Tat eines Täters rechtfertigen nämlich grundsätzlich nur die Annahme einer Beihilfe, da sich das Unrecht des Gehilfen nur aus dem Unrecht der Rechtsgutsverletzung der einmalig begangenen Haupttat ableiten läßt…“. Dann allerdings folgt eine deutliche Einschränkung: „Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – ein enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen den Einzelhandlungen [der Beihilfe] besteht…“17 Dabei berief sich der Senat auf die zitierte Entscheidung des 3. Senats aus dem Jahre 1991,18 die zwar tatsächlich eine einheitliche Beihilfe im Falle des nahen Zusammenhangs angenommen, sie aber ebenso entschieden bei dessen Fehlen abgelehnt hatte, wie sie der 1. Senat jetzt „grundsätzlich“ behauptete. Nahezu gleichzeitig mit dieser etwas widersprüchlichen Äußerung erging eine Entscheidung des 4. Senats, die sich auf die Kommentierung von Roxin im Leipziger Kommentar bezog. Es müssten „wegen der Akzessorietät der Beihilfe mehrere (natürliche, an sich selbständige) Beihilfehandlungen auch dann zu einer Tat im Rechtssinne zusammengefaßt werden, wenn dies … bei den Taten des B [Anm.: der Haupttäter], zu denen die Angeklagte Beihilfe geleistet hat, der Fall ist…“19 Die schlichte Bezugnahme auf die Akzessorietät prägte die Rspr. in der Folgezeit bis heute.20 Die bekannteste Entscheidung (des 5. Senats) war eingangs bereits erwähnt worden. In ihr heißt es – nach den viel bekannteren, im Mittelpunkt stehenden Ausführungen zur sog. neutralen Beihilfe durch berufstypisches Verhalten – unter Berufung auf die zitierte Entscheidung des 1. Senats21: „Rechtsfehlerfrei ist auch die Annahme jeweils einer einheitlichen Beihilfe des Angeklagten, … weil sich die Beihilfehandlungen jeweils auf dieselben Haupttaten bezogen haben. Mehrere Beihilfehandlungen zu einer Tat rechtfertigen nämlich grundsätzlich lediglich die Annahme einer Beihilfe, da sich das Unrecht des Gehilfen nur aus dem Unrecht der Rechtsgutsverletzung der Haupttat … ableiten läßt…“22 17

Beide Zitate: BGH NStZ 1999, 514. BGH NStZ 1991, 489. 19 BGH NStZ 1999, 451. 20 Vgl. neben der eingangs zitierten Entscheidung (Fn. 8) noch BGH NStZ 2002, 211; BGH NStZ-RR 2007, 59; BGH NStZ 2008, 471; BHG NStZ-RR 2008, 386; BGHR StGB § 27 Abs. 1 Konkurrenzen 2. 21 BGH NStZ 1999, 513. 22 BGHSt 46, 107 (116); Anm. Jäger wistra 2000, 346. 18

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Interessant ist, dass sich der Wandel in der Rechtsprechung des BGH anders vollzog, als in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das in RGSt 70, 26 seiner inhaltlichen Umkehr eine gründliche deduktive Ableitung voranstellte. Eine solche lässt der BGH vermissen. Er gibt vor, stets allein im Einzelfall zu entscheiden, was sich in den Relativierungen „grundsätzlich“ oder „jedenfalls dann, wenn“ niederschlägt. So lobenswert das im Hinblick auf den jeweiligen Entscheidungsauftrag sein mag, so verheerend ist es, wenn nachfolgende Entscheidungen diese Selbsteinschränkung voraufgegangener Judikate ignorieren und deren Einzelfallsubstrat als Axiom missverstehen. So kann sich der 1.Senat23 auf die (an sich genau gegenteilige) Entscheidung des 3. Senats24 berufen, während seine Beschränkung „jedenfalls dann, wenn … ein enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen den Einzelhandlungen besteht“25 in den folgenden Entscheidungen schlicht unterschlagen wird. Soweit eine Begründung des Wandels zu erkennen ist, lässt sich zudem keine eigenständige Argumentation erkennen. Vielmehr erscheint der Schwenk als ein Verdienst der Argumentationskraft des verehrten Jubilars, dessen Kommentierung die maßgebenden Entscheidungen des 1. und des 4. Senat zitieren, ohne sie weiter in Frage zu stellen.

III. Akzessorietät und Unrecht der Beihilfe 1. Beihilfe als Risikosteigerung Die These, ein Gehilfe könne selbst bei mehrmaligem Tätigwerden das Unrecht der Beihilfe dennoch nur einmalig verwirklichen, beruht, wie es Roxin prägnant formuliert, auf der Annahme, auch der Gehilfe greife „über die Person des Täters (also in akzessorischer Weise) das Rechtsgut nur durch eine Tat an.“26 Der Rechtsgutsangriff des Gehilfen besteht nach dieser Konstruktion aus demjenigen (einmaligen) des Täters, den er durch seinen Beitrag oder seine Beiträge fördert. Gleichwohl soll es sich beim Unrecht der Beihilfe um kein allein aus dem Täterunrecht abgeleitetes Unrecht handeln. Vielmehr stelle sich „die Mitwirkung an der Tätertat gleichzeitig als eigener Rechtsgutsangriff des Teilnehmers“27 dar. Dieser zweite Aspekt eines (jedenfalls auch) eigenen Rechtsgutsangriffs ist schon deshalb notwendig, weil die Strafe des Gehilfen nur ihrem Rahmen nach aus der Haupttat abgeleitet werden kann, aber ansonsten von der 23

BGH NStZ 1999, 514. BGH NStZ 1991, 489. 25 Beide Zitate: BGH NStZ 1999, 514. 26 Roxin AT II § 26 Rn. 285. 27 Roxin AT II § 26 Rn. 11. 24

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von Fall zu Fall unterschiedlichen Energie des Gehilfen und der Effektivität seiner Unterstützung abhängen muss. Sein Unrecht und seine Schuld sind demzufolge prinzipiell quantifizierbar. Weitgehende Einigkeit besteht heute außerdem darin, das Handeln des Gehilfen (jedenfalls) als Risikosteigerung für das von der Haupttat bedrohte Rechtsgut zu begreifen28 und ihn unter anderem danach zu bestrafen, ein wie hohes unerlaubtes Risiko er für dieses Rechtsgut setzt. Dass es sich dabei um keine originäre Risikobegründung (wie es bei der Anstiftung der Fall wäre), sondern um eine Risikosteigerung handelt, beruht auf dem Umstand, dass der Gehilfe auf einen zur Tat schon entschlossenen und damit für das Rechtsgut bereits riskanten Täter trifft. Sein Gehilfenbeitrag (z.B. das Tatwerkzeug zu liefern) steigert das Haupttatrisiko, begründet es aber nicht. Insofern ist es jedenfalls einleuchtend, wenn die Bestrafbarkeit dieser Risikosteigerung nach dem Akzessorietätsprinzip des § 27 Abs. 1 StGB davon abhängt, ob es überhaupt zu einem Rechtsgutsangriff durch den Haupttäter kommt. Fällt dieser Angriff aus, weil sich etwa der Täter eines Besseren besinnt, so hätte der (potenzielle) Helfer zwar (unerlaubt) ein Risiko gesteigert. Diese Risikosteigerung hätte sich aber letztlich nicht in einem Rechtsgutsangriff realisiert und bedürfte daher keiner Strafe. Man könnte also die Haupttatbegehung (ob als versuchter oder als gelungener, vollendeter Rechtsgutsangriff) als Vollendungsvoraussetzung, als eine Art Erfolg der Beihilfehandlung begreifen. Bleibt die Haupttat aus, so ist der Gehilfe straflos; einen Beihilfeversuch bestraft das Gesetz grundsätzlich nicht.29 Aus diesen Überlegungen folgt allerdings noch nicht, dass die beschriebene Risikosteigerung stets als Einheit anzusehen und zu bewerten wäre. Ihre prinzipielle Quantifizierbarkeit wurde bereits erwähnt, und es handelt sich zudem um eine prinzipiell teilbare Größe. Das folgt schon aus der Erwägung, dass an der Stelle eines mehrfach tätigen Gehilfen es ebenso gut mehrere nacheinander agierende Personen übernehmen könnten, den Haupttäter zu unterstützen. Deren Einzelbeiträge wären selbstverständlich je für sich vollwertige Beihilfehandlungen und deswegen Gegenstand getrennter Unrechtsbewertungen. Warum dies anders sein sollte, wenn sie in einer Hand zusammentreffen, bedarf von daher einer anderen Begründung.

28

LK-Schünemann § 27 Rn. 5 f; Jescheck/Weigend AT § 64 III 2 c; BeckOK-Kudlich § 27 Rn. 6; SK-Hoyer § 27 Rn. 23; Otto AT § 22 Rn. 53; Murmann JuS 1999, 550 ff; Heghmanns GA 2000, 477. 29 Anders z. B. bei tatbestandlich vertypten Beihilfehandlungen, etwa der versuchten Absatzhilfe nach § 259 Abs. 1, 3 StGB, wo jedenfalls das gesetzliche Programm eine strafbare versuchte Hilfeleistung kennt.

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2. Mehrfache Risikosteigerungen in vergleichbaren Konstellationen Mit dem Akzessorietätsgedanken verbindet sich eine Ausrichtung der wertenden Betrachtung auf die Risikoverwirklichung in Gestalt der Haupttat. Vergleichbare Gestaltungen finden wir auch bei einigen weiteren, aber nicht allen strafrechtlich relevanten Gefahrensteigerungen. Man denke etwa daran, dass ein bestehendes Risiko (z.B. das Risiko, als Verkehrsteilnehmer sein Leben zu verlieren) durch mehrere Sorgfaltsverstöße eines Fahrzeugführers kumulativ erhöht wird, indem dieser beispielsweise die Bremsen seines Fahrzeuges nicht ordnungsgemäß in Stand halten lässt und dann betrunken fährt, wodurch es im Zusammenspiel von verlängerter Reaktionszeit und verlängertem Bremsweg zum tödlichen Unfall kommt. Da die Bestrafung nach § 222 StGB an den (einen) Tod als Erfolg anknüpft, kann es hier allerdings auch nur zu einmaliger Verurteilung wegen Fahrlässiger Tötung kommen. Anders läge es hingegen, dächte man sich mehrere Risikosteigerungen durch sukzessive Straßenverkehrsgefährdungen, etwa zum Nachteil eines Beifahrers durch zu schnelles Fahren, falsches Überholen usw. Hier hätte niemand Bedenken, den Fahrer wegen mehrfacher Verstöße gegen § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bestrafen, da unabhängig vom weiteren Verlauf bereits jede konkrete Gefährdung für sich tatbestandlich erfasst wird. Die unterschiedliche Bewertung hängt natürlich von der entsprechenden Deliktskonstruktion ab. Indes verbirgt sich hinter dieser trivialen Feststellung auch ein materieller Grund: Während die kumulativ auf einen Erfolg hinführenden Gefährdungssteigerungen im Fall des betrunkenen Autofahrers isoliert betrachtet im Hinblick auf einen Erfolg bedeutungslos blieben und nur zusammen wirken konnten, erfolgen die einzelnen Gefährdungssteigerungen nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB unabhängig voneinander und enthalten daher unbeeinflusst von einer Risikoverwirklichung bereits eigenständiges Unrecht. Strukturell eng verwandt sind der Beihilfe die tatbestandlich vertypten Gehilfenhandlungen. Ihre Betrachtung zu Vergleichszwecken erweist sich freilich als wenig aufschlussreich, was daran liegen mag, dass die Thematik mehrfacher Beiträge dort offenbar noch nicht als Problem erkannt worden ist. Beispielsweise scheinen keine ernsthaften Zweifel daran zu bestehen, dass eine Begünstigung (das sog. auxilium post delictum, § 257 StGB) hinsichtlich desselben Vortatvorteils durchaus mehrfach verwirklicht werden kann,30 etwa durch mehrmaliges Verstecken der Beute gegenüber Rückgewinnungsversuchen. In gleicher Weise werden mehrere Strafvereitelungshandlungen zu Gunsten desselben Vortäters im Hinblick auf dieselbe 30

LK-Ruß § 257 Rn. 28; Schönke/Schröder-Stree § 257 Rn. 39.

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drohende Bestrafung (z.B. zunächst Fluchthilfe und sodann das Verschaffen eines Alibis) als tatmehrheitliche Nachtathilfen angesehen.31 Allein bei der Hehlereialternative der Absatzhilfe wird gelegentlich eine einheitliche Tat angenommen, wenn der Helfer die Beute nacheinander mehreren potenziellen Abnehmern anbietet.32 Hier legt allerdings die verwendete Konstruktion einer Bewertungseinheit den Verdacht nahe, dass weniger die Nähe zur Beihilfe des § 27 StGB als vielmehr zum Handeltreiben i. S. von § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG zu dieser abweichenden Sachbehandlung motiviert hat. Ohnehin liegt dem geschilderten Tatbild offensichtlich die Annahme eines einheitlichen Willensentschlusses zu Grunde,33 der auch im Falle einer Beihilfe nach § 27 StGB wohl unbestritten zur Annahme einheitlicher Hilfeleistung führen müsste.

3. Beihilfe und Zurechnung des Haupttaterfolges Eine einheitliche Behandlung von Haupttatunterstützungen im weiteren Sinne ist folglich nicht zu erkennen. Zudem haben die bisherigen Überlegungen zu zeigen versucht, warum sich aus dem Unrecht der Beihilfe als Risikosteigerung keine grundsätzlichen Hindernisse für eine mehrmals strafbare Beihilfe ableiten lassen. Damit stellt sich nun die Frage, ob der Umstand, dass nur eine einzige Haupttat gefördert wird, im Hinblick auf die Abhängigkeit der Beihilfestrafbarkeit von dieser Haupttatbegehung zu einer einheitlichen Bewertung der Gesamtheit aller entsprechenden Beiträge eines Gehilfen zwingt. Als maßgebender Grund für eine solche einheitliche Beihilfebewertung drängt sich die Erwägung auf, dass dem Gehilfen jedenfalls auch der Erfolg der Haupttat zugerechnet wird, zu der er beiträgt.34 Würde er wegen seiner mehrfachen Gehilfentätigkeit getrennt abgeurteilt, so drohte als Konsequenz eine unzulässige mehrfache Zurechnung desselben Erfolges. Es erscheint aber zweifelhaft, ob die Annahme einer Erfolgszurechnung als materialer Grund der Beihilfebestrafung überhaupt trägt. Denn tatsächlich handelt es sich bei der Haupttat und ihrem Erfolg nicht um einen ohne Weiteres zurechenbaren Erfolg der Beihilfe. Immerhin ist es der eigenverantwortlich handelnde Haupttäter, der das Rechtsgut schlussendlich angreift. Eine Zurechnung dieses vor allem fremdverursachten Erfolges gegenüber dem Gehilfen ist bei Lichte betrachtet freilich ausgeschlossen. Um dies zu veran31

LK-Ruß § 258 Rn. 42; Schönke/Schröder-Stree § 258 Rn. 42. Schönke/Schröder-Stree § 259 Rn. 64. 33 Vgl. LK-Ruß § 259 Rn. 46; Maurach/Schröder/Maiwald BT 1 § 39 Rn. 49, die beide ohne Einschränkungen eine Tatmehrheit mehrerer Hehlereihandlungen bei neuem Tatentschluss für möglich halten, selbst wenn jeweils dieselbe Sache Tatobjekt ist. 34 Roxin AT II § 26 Rn. 9. 32

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schaulichen, halte man die Fälle dagegen, in welchen die objektive Zurechnung des Erfolges eines täterschaftlichen Angriffs auf Grund späteren vorsätzlichen Dazwischentretens eines Dritten ausgeschlossen ist.35 Wenngleich ein solches Dazwischentreten Dritter keineswegs immer zum Zurechnungsausschluss führt, so wird dies jedenfalls stets dann angenommen, wenn bestimmte Tatumstände vorliegen, wie sie nun gerade typischerweise in den parallelen Gehilfenfällen zu finden sind: Der erste (Gehilfen-)Angriff auf das Rechtsgut war anders motiviert (keine Verletzungs-, sondern nur Gefährdungsintention) als der folgende Haupttatangriff, und der dazwischen tretende (Haupt-)Täter baut allenfalls in begrenztem Umfang auf der durch die vorherige Gehilfenhandlung geschaffenen Lage auf, die typischerweise noch zu keiner konkreten Gefährdung des Haupttatrechtsgutes geführt hat. Sofern man nämlich mit der h. M. für eine Beihilfe keine Kausalität i. S. einer Unabdingbarkeit für die Haupttatbegehung verlangt, sondern eine Tatförderung als ausreichend erachtet,36 wird zwar regelmäßig eine Kausalität des Gehilfenbeitrages für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt vorliegen, dieser Verursachungsbeitrag aber im Vergleich zum Beitrag des Haupttäters von deutlich untergeordnetem Gewicht sein. Wenn aber unter ansonsten vergleichbaren Bedingungen schon einem Vorgehen in tatherrschaftlicher Stellung der durch einen später Handelnden verursachte Erfolg nicht zugerechnet wird (und der zuerst Handelnde nur wegen des andersartigen Versuchsunrechts belangt wird), so muss das erst Recht für einen zuvor handelnden Gehilfen ohne jede Herrschaft über die eigentliche Tatbegehung gelten. Ihm kann dann genauso wenig der Haupttaterfolg zugerechnet werden.

4. Die Akzessorietät der Beihilfe Zugerechnet wird dem Gehilfen also nicht der Erfolg der Haupttat und ebenso wenig, dass er diesen Erfolg wollte (denn insoweit beschränkt sich das Gesetz auf eine Versuchsstrafbarkeit des Täters und mit Abstrichen – in den Fällen des § 30 Abs. 1 StGB – des Anstifters). Ihm kann also tatsächlich nur die Gefahrschaffung durch seine Tätigkeit vorgeworfen werden, und zwar unabhängig davon, ob diese sich tatsächlich als konkret gefährlich erweist. Die in § 27 Abs. 1 StGB beschriebene Abhängigkeit von der Haupttatbegehung darf daher nicht als akzessorische Unrechtsbegründung 35

Vgl. dazu Rengier AT § 13 Rn. 87 ff; Kühl AT § 4 Rn. 83 ff. Vgl. dazu Roxin AT II § 26 Rn. 184 ff m. w. N., der zutreffend jede Tatförderung, wie sie die Rspr. genügen lässt, als kausalen Beitrag für die Haupttatbegehung in ihrer konkreten Gestalt ansieht, aber keine Unersetzbarkeit des Helfenden als Beihilfevoraussetzung ansieht. Der zuweilen aufflackernde Streit zwischen h. L. und Rspr. kreist daher wohl um ein Scheinproblem (Roxin AT II § 26 Rn. 187). 36

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angesehen werden. Sie kann stattdessen zum einen auf Strafwürdigkeitserwägungen zurückgeführt werden: Eine verbotene Gefahrsteigerung für den geplanten Rechtsgutsangriff eines anderen gilt nur dann als strafbedürftig, wenn es tatsächlich zu einem solchen Angriff kommt. Andernfalls stört sie in keiner Weise den Rechtsfrieden und bedarf daher auch keiner Sanktion. Zum anderen hat sich die Strafe des Gehilfen gemäß § 27 Abs. 2 StGB nach derjenigen des Täters zu richten. Aber diese sachlich richtige Abhängigkeit steht dem soeben entworfenen Konzept keineswegs entgegen. Schließlich bleibt es dabei, dass dem Gehilfen deshalb eine Gefahrsteigerung angelastet wird, weil er durch seine betätigte Solidarität mit dem Haupttäter die Erfolgsaussichten seines Angriffs erhöht hat. Das Unrecht einer solchen Gefahrsteigerung lässt sich aber selbstverständlich nur mit Blick auf das bemessen, was der Haupttäter ausweislich seiner darauf folgenden Handlung tatsächlich angegriffen hat (und was der Gehilfe ausweislich seines Gehilfenvorsatzes unterstützen wollte). Art und Ausmaß der Haupttat bleiben also bestimmend für das jeweilige Gehilfenunrecht. Darin erschöpft sich dann allerdings auch das Potenzial der Akzessorietät, soweit es um die Konstituierung der Beihilfestrafe geht; eine Zurechnung der Haupttat und ihres Erfolges gebietet sie nicht.

IV. Konsequenzen für mehrmaliges Tätigwerden des Gehilfen Durch die Absage an die Zurechnung der Haupttat und des Haupttaterfolges steht einer mehrfachen Bestrafung mehrerer Beihilfen zu derselben Tat kein Hindernis mehr entgegen. Während der Haupttaterfolg ebenso unteilbar ist wie die gleichfalls nur einmal mögliche Anstiftung, kann eine Gefahrensteigerung durch eine Unterstützungshandlung in mehreren, voneinander trennbaren Schritten geschehen und dementsprechend auch mehrfacher strafrechtlicher Bewertung zugänglich sein. Der wiederholte Verstoß gegen die Verbotsnorm des § 27 Abs. 1 StGB stellt deshalb einen Fall von „mehreren Gesetzesverletzungen“ i. S. des dritten Titels im dritten Abschnitt des StGB dar. Die §§ 52 ff. StGB liefern damit die Regeln dafür, wie mehrfaches Tätigwerden eines Gehilfen einzuordnen ist. Unter den entsprechenden Voraussetzungen, insbesondere zeitlicher Trennbarkeit und mehrfachen Gehilfenentschlusses, können sie deshalb durchaus tatmehrheitlich begangen werden, selbst wenn sie dieselbe Haupttat fördern. Folgende Tatkonstellationen sind dabei zu unterscheiden: – Der Gehilfe leistet auf Grund einheitlichen Entschlusses in zeitlich/räumlichem Näheverhältnis mehrere Unterstützungsbeiträge zu derselben Haupttat. Hier könnte man qua tatbestandlicher Handlungseinheit zu einer einzigen Beihilfe gelangen.

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– Der Gehilfe ist von vorneherein entschlossen, durch mehrere, zeitlich/räumlich trennbare Beiträge dieselbe Haupttat zu fördern. Auch hier wäre es auf Grund der abstrakten Beschreibung der Unterstützung in § 27 StGB als „Hilfe“ möglich, die einzelnen Unterstützungsakte als zusammengehörende Teile einer einheitlichen Hilfeleistung zu erfassen, die durch den gemeinsamen Tatentschluss zur tatbestandlichen Handlungseinheit verknüpft werden. – Die Notwendigkeit zu einer weiteren Hilfeleistung ergibt sich erst nach Abschluss der ersten Unterstützung. Auf Grund des zwangsläufig neu gefassten, zweiten Unterstützungsentschlusses läge hier eine zweite Beihilfe zu derselben Haupttat vor, weshalb realkonkurrierende Beihilfehandlungen anzunehmen wären. – Der Gehilfe weiß nicht, dass er mehrfach zu derselben Haupttat Hilfe leistet, sondern geht irrig von mehreren Haupttaten aus. Hier wäre danach zu entscheiden, ob die Unterstützungshandlungen auch bei nur einer einzigen gedachten Haupttat in Realkonkurrenz zueinander stünden. Wäre dies der Fall, stellte sich der Irrtum des Gehilfen als unerhebliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf dar, weil die Bewertung des Unrechtsgehalts der Beihilfe nicht entscheidend von der Zahl der Haupttaten, sondern von deren Qualität und dem Unrechtsgehalt der Beihilfehandlungen abhängt. Wäre hingegen bei nur einer gedachten Haupttat tatbestandliche Handlungseinheit der Gehilfenbeiträge anzunehmen, dann wäre die gewollte zweite Tatunterstützung strukturell als straflose versuchte Beihilfe anzusehen und der Gehilfe nur wegen einer Beihilfe zu der tatsächlich vorliegenden Haupttat zu bestrafen. – Der Gehilfe denkt, er unterstütze durch mehrere Handlungen dieselbe Tat, während der Täter in Wahrheit zwei zwar gleichwertige, sonst aber voneinander unabhängige Haupttaten begeht. Läge hier im Falle nur einer Haupttat dennoch tatmehrheitliche Beihilfe vor, so wäre der Irrtum erneut unbeachtlich und der Gehilfe wegen Beihilfe in zwei Fällen strafbar. Wären dagegen die Unterstützungshandlungen bei einer einzigen gedachten Haupttat auch nur als eine Beihilfe anzusehen, dann fehlte dem Gehilfen der Vorsatz für die objektiv geleistete Hilfe zu der weiteren Tat, weswegen er allein wegen Beihilfe zu der von ihm erkannten Tat zu bestrafen wäre. Nicht aus dem Prinzip der Akzessorietät, wohl aber aus der Logik der Unrechtsbegründung für den Gehilfen folgt ferner, dass die bei einer ggf. notwendigen Gesamtstrafenbildung festzusetzende Sanktion nicht höher ausfallen darf, als sie gegen den Täter möglich wäre. Die von § 54 StGB ermöglichte Überschreitung des Strafrahmen von § 27 Abs. 2 StGB darf also allenfalls bis zum Erreichen des Haupttatstrafrahmens ausgenutzt werden, will man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, eine im konkreten Fall schuldunangemessene Gesamtstrafe gebildet zu haben.

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Letztendlich gelten damit für die Beihilfe kaum andere Regeln als für isoliert strafbare Handlungen auch. Die (limitierte) Akzessorietät der Beihilfe macht ihre Strafbarkeit zwar von einer Haupttatbegehung abhängig. Das Akzessorietätsprinzip begrenzt aber nicht die Zahl möglicher Beihilfen, weil es keine Zurechnung des Haupttaterfolges beinhaltet. Was dem Gehilfen zuzurechnen bleibt, ist die Erhöhung des Risikos, dass der Haupttäter den Haupttaterfolg verursacht. Dieses Risiko aber kann mehrfach unerlaubt gesteigert und solche Steigerungen können dann auch folgerichtig je für sich sanktioniert werden. Wenngleich ich damit eine Position vertrete, die (ich möchte ergänzen: ausnahmsweise) derjenigen des verehrten Jubilars widerspricht, so hoffe ich doch voller Zuversicht, dass darunter unsere gegenseitige Wertschätzung nicht leiden wird. Ich freue mich jedenfalls auf seine kritische Entgegnung, falls er meine Zeilen überhaupt einer solchen für würdig erachtet.

Berufsbedingtes Vorschubleisten? HANS KUDLICH

I. Hinführung und Fragestellung Claus Roxin ist seit vielen Jahrzehnten Vorreiter, wenn es darum geht, neue dogmatische Probleme aufzuspüren und zu lösen – jedenfalls aber häufig Vordenker für eine herrschende Lehre und (selten genug in der Strafrechtswissenschaft!) mitunter auch für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Beispielhaft genannt werden können hier etwa sein grundlegender Beitrag in der Honig Festschrift,1 der von Schünemann nicht ohne Grund als „Geburtsstunde“ der modernen Lehre von der objektiven Zurechnung bezeichnet wird,2 die Abhandlung zum einige Jahre vorher entschiedenen „Radfahrer-Fall“3 des BGH aus dem Jahr 1962,4 der die Dogmatik des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs näher entfaltet (und zugleich grundlegend zur Risikoerhöhungslehre ist), ein wegweisender Aufsatz zum fehlgeschlagenen Versuch,5 der als Rechtsfigur einige Jahre später in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenfalls Anerkennung gefunden hat6 sowie natürlich die Lehre von der Organisationsherrschaft, welche vom BGH in der Entscheidung zum nationalen Verteidigungsrat der ehemaligen DDR aufgegriffen worden ist.7 In besonderem Maße gilt dies auch für das Problem der „Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen“ (um die Problematik mit dem Titel der vom Jubilar betreuten Dissertation von Marcus Wohlleben zu bezeichnen). Es handelt sich hierbei zwar um kein Problem, das Roxin „entdeckt“ hätte; vielmehr lässt es sich in der Wissenschaft schon bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausschnitt des Problemkreises „Über das Zusammen1

Vgl. Roxin FS Richard M. Honig, 1970, 133 ff. Vgl. Schünemann GA 1999, 212; zur älteren Dogmengeschichte der Zurechnungslehre vgl. etwa Hruschka ZStW 96 (1984), 661 ff. 3 Vgl. BGHSt 11, 1 (7). 4 Vgl. ZStW 74 (1962), 411, 430 ff. 5 Vgl. JuS 1981, 1 ff. 6 Vgl. grundlegend insbesondere BGHSt 33, 395 sowie BGHSt 34, 53. 7 Vgl. BGHSt 40, 218, (233 ff), dort unter Verweise auf Roxins Kommentierung im Leipziger Kommentar. 2

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treffen mehrerer Schuldigen bey einem Verbrechen und deren Strafbarkeit“ bei Kitka8 bzw. bis in die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts9 zurückverfolgen.10 Auch die neuere Diskussion ab den späten 1970er Jahren wurde ursprünglich nicht vom Jubilar, sondern insbesondere von Jakobs in einer Abhandlung zum Regressverbot11 sowie dann rund zehn Jahre später zunächst von Schuhmann in seiner Habilitationsschrift über strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen (1986) sowie von Frisch in einem langen Abschnitt seiner Monographie über Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges (1988)12 maßgeblich angestoßen. Der Jubilar selbst nahm sich vertieft dann „erst“ – dafür aber, wie die Weiterentwicklung zeigen sollte, umso wirkmächtiger! – in drei Festschriftenbeiträgen ab den späten 1980er Jahren der Problematik an.13 Wie wirkmächtig Roxins Überlegungen hier sein sollten, wurde um die Jahrtausendwende deutlich, als der BGH in mehreren Entscheidungen seinen Standpunkt zur „neutralen Beihilfe“ entwickelte (genauer muss man wohl sagen: „auswarf“14) und sich dabei im Wesentlichen an den Roxin’schen Differenzierungen bis hin in die Terminologie orientierte.15 Dabei soll nun freilich zunächst und auch im Folgenden vorrangig nicht interessieren, ob diese Differenzierungen des BGH16 und damit auch des Jubilars17 in 8

Kitka Über das Zusammentreffen usw., 1840, S. 62 (Terzerole-Fall). Vgl. bereits RGSt 37, 321; ferner RGSt 39, 44; 56, 168; 60, 6; 75, 112; zu dieser Rechtsprechung vgl. Rackow Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 282 ff sowie knapp auch Kudlich Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 138 ff. 10 Zu den Anfängen der Diskussion vgl. auch Rackow (Fn. 9) S. 19 f; zur „Geschichte“ der sog. neutralen Handlungen vgl. auch Schneider NStZ 2004, 312 ff. 11 Vgl. Jakobs ZStW 89 (1977), 1 ff. 12 Dort vor allem S. 230 ff. 13 Vgl. Roxin FS Tröndle, 1989, 177 ff (hier insbesondere zur Fahrlässigkeitshaftung); ders. FS Stree/Wessels 1993, 365 ff, sowie ders. FS Miyazawa, 1995, 501 ff. 14 Zur Kritik an der wenig begründeten Statuierung einer Lösung u. a. mit Hilfe des „Einstiegs“ über ein obiter dictum vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 130, 135 ff. 15 Vgl. BGH NStZ 2000, 34; BGHSt 46, 107 m. Anm. Jäger wistra 2000, 344; Kudlich JZ 2000, 1178; Lesch JR 2001, 338; Samson/Schillhorn wistra 2001, 1; BGH NStZ 2001, 364 m. Anm. Kudlich JuS 2002, 751; zu dieser Entwicklung und zur Übernahme des Roxin’schen Modells vgl. auch Kudlich (Fn. 9) S. 127 ff; Rackow (Fn. 9) S. 311 ff. 16 Zustimmend etwa (die Anmerkungen des damaligen Wissenschaftlichen Mitarbeiters am BGH) Jäger wistra 2000, 345 („richtungweisende“ Entscheidung); Münchner Kommentar zum StGB-Joecks, Bd. 1 2003, § 27 Rn. 68 ff.; (naheliegend auch) Roxin Strafrecht AT II § 26 Rn 224, 251 ff; kritisch dagegen etwa Lesch JR 2001, 382 ff; Rackow (Fn. 9) S. 317 ff; Samson/Schillhorn wistra 2001, 1 ff; vgl. auch Kudlich (Fn. 9) S. 136 f sowie ders. JZ 2000, 1178 ff. 17 Zur kritischen Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten von Roxins Ansicht vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 123 ff. 9

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allen Details überzeugen, sondern es interessiert vielmehr die Reichweite der vorrangig für die „neutrale Beihilfe“ entwickelten Idee(n). Dass „Neutralität“18 oder spezieller auch die „Berufsbedingtheit“ des Verhaltens nicht notwendig nur für die Beihilfe, sondern auch für andere Begehungsformen eine Rolle spielen könnte, wurde schon andernorts betont.19 Ganz konkret soll es in diesem Beitrag hier um eine bisher noch nicht in diesem Kontext behandelte „vertatbestandlichte“ Beihilfeform bei einem Delikt gehen, das in dieser Form erst seit 2005 im StGB zu finden ist und das – obwohl die ersten größeren Kommentierungen vorliegen20 – jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der „Neutralität“ bzw. „Berufsbedingtheit“ noch nicht vertieft untersucht worden ist: Die Förderung des Menschenhandels nach § 233a StGB.

II. Täterschaftliches „Vorschubleisten“ nach § 233a StGB § 233a StGB (Förderung des Menschenhandels) droht eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren demjenigen an, der „einem Menschenhandel nach § 232 oder § 23321 Vorschub leistet, indem er eine andere Person anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt“. Die Vorschrift, welche ihre Wurzel in Art. 1 des „Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels“22 hat, knüpft damit an die §§ 232, 233 StGB an und bildet zu diesen eine frühzeitig ansetzende (im 18 Zum Versuch, eine Handlungsbeschreibung als „neutral“ im Gegensatz zu „kontextabhängig“ zu entwickeln vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 172 ff; kritisch Rackow (Fn. 9) S. 38 ff. 19 Vgl. zu den von ihm sog. „Fallgruppen unverdächtiger Täterschaft“ die Darstellung bei Rackow (Fn. 9) S. 367 ff; knapper Kudlich (Fn. 9) S. 33 ff (Fallgruppen berufsbedingter Strafbarkeitsrisiken) sowie 443 ff (Lösungsregeln für vorsätzliche Beteiligungsformen allgemein); zur Frage nach einer „neutralen Anstiftung“ vgl. auch ders. FS Tiedemann, 2008, 221 ff. 20 Vgl. insbesondere die schon im Jahr 2006 erschienene Großkommentierung von Renzikowski im Münchener Kommentar zum StGB (als Nachtrag in Band 4); ferner auch die Kommentierungen von Wolters im Systematischen Kommentar sowie nunmehr von Böse im Nomos Kommentar. Die Kommentierung im Leipziger Kommentar durch den Verfasser wird voraussichtlich im Jahr 2011 erscheinen. 21 Entgegen der etwas missverständlichen Überschrift geht es in beiden Vorschriften nicht um den „Handel mit Menschen“, sondern grob gesprochen um die Veranlassung eines anderen unter Ausnutzung von dessen Zwangslage bzw. Hilflosigkeit, der Prostitution nachzugehen bzw. ausbeuterische sexuelle Handlungen vorzunehmen (§ 232 StGB) bzw. darum, das Opfer unter den gleichen Umständen in Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft oder aber zur Ausübung einer Beschäftigung zu extrem ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu bringen (§ 233 StGB). 22 ABl. EG Nr. L 203 vom 1.8.2002. Dort werden verschiedene Förderungshandlungen im Vorfeld der Ausbeutung der Sexualität bzw. der Arbeitskraft aufgezählt und das Erfordernis einer selbständigen Strafbarkeit dieser Vorfeldhandlungen angeordnet.

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untechnischen Sinn) Teilnahmehandlung (sowie nach umstrittener Ansicht auch eine umfassende, d. h. auch den späteren Haupttäter selbst betreffende Vorbereitungshandlung23), die in Fällen von Bedeutung ist, in denen entweder die Haupttat nicht bis ins Versuchsstadium gelangt und daher eine Teilnahme nach allgemeinen Regeln nicht möglich ist, oder aber die Beihilfehandlung selbst im Versuchsstadium stecken bleibt und daher (arg. e contrario § 30 I StGB) nicht strafbar ist.24 Objektiv (und nicht nur als subjektive Absicht formuliert) ist bei allen Handlungen erforderlich, dass durch sie einem Menschenhandel nach §§ 232, 233 StGB Vorschub geleistet wird. Dieser Begriff ist als solcher weit zu verstehen und gleicht insoweit dem Hilfeleisten in § 27 StGB. Verbreitet wird er mit dem Schaffen günstiger Bedingungen für den Menschenhandel umschrieben,25 wobei im Unterschied zum akzessorisch ausgestalteten Beihilfetatbestand gerade nicht erforderlich ist, dass es tatsächlich zu einer Tat nach §§ 232 bzw. 233 StGB (und sei es auch nur im Versuchsstadium) kommt. Die Vorschrift umfasst – insoweit in Anlehnung an die Aufzählung im Rahmenbeschluss – anders als § 27 StGB nicht jede Förderung (bzw. konkreter: nicht jedes Vorschubleisten), sondern nur ein Vorschubleisten durch abschließend aufgezählte Verhaltensweisen, die sich auf eine „andere Person“ beziehen müssen.26 In der Literatur wird die Frage nach einer etwaigen „Neutralität“ – und das soll hier insbesondere heißen: nach der „Berufsbedingtheit“ des tatbestandlichen Verhaltens – soweit ersichtlich noch nicht thematisiert. Dabei liegt indes nahe, dass insbesondere die Tathandlungen des „Beförderns“ (d. h. des Transportierens des späteren Tatopfers von einem an einen anderen Ort durch den Täter selbst) sowie des „Beherbergens“ (d. h. des Gewährens einer Unterkunft – vom Hotelzimmer bis zum Wohnwagen) ohne weiteres auch in Ausübung eines Berufs vorstellbar sind – ganz plakativ: durch den Inhaber eines kleinen Gasthofes, der den „Menschenhändler“ zusammen mit seinen beiden Opfern gegen die übliche Bezahlung auf der Durchreise eine Nacht übernachten lässt, oder durch den Zugführer eines Nahverkehrszuges, der das Opfer vom Hauptstadtbahnhof in die Provinz „transportiert“, wo es in einem „Dorfbordell“ der Prostitution nachgehen soll. Bei der Prüfung, ob in Fällen einer solchen Berufsbedingtheit ähnliche 23 Dafür etwa NK-Böse § 233a Rn. 1; MüKo-Renzikowski § 233a Rn. 9; SK/StGB-Wolters § 233a Rn. 1; Satzger/Schmitt/Widmaier-Wolters § 233a Rn. 1; a. A. Schönke/Schröder-Eisele § 233a Rn. 2; Fischer § 233a Rn. 2. 24 Vgl. nur Fischer § 233a Rn. 2; MüKo-Renzikowski § 233a Rn. 9; NK-Böse § 233a Rn. 1; Sch/Sch-Eisele § 233a Rn. 2. 25 Vgl. NK-Böse § 233a Rn. 2; MüKo-Renzikowski § 233a Rn. 9. 26 Gemeint ist hiermit wohl nur die Person, die Opfer der späteren Tat nach §§ 232 bzw. 233 StGB werden soll. Der Transport des späteren Täters o.ä. ist damit nicht erfasst.

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Zurechnungskorrektive greifen, wie sie für die neutrale Beihilfe diskutiert und überwiegend bejaht werden, sind vor allem zwei Fragen zu beantworten: Zum einen diejenige, ob die für die Beihilfe entwickelten Zurechnungskorrektive generell auch bei täterschaftlichem Handeln vorstellbar sind (sogleich III); zum anderen diejenige, ob unabhängig davon für den speziellen Fall des § 233a StGB Besonderheiten gelten könnten (unten IV).

III. Zentrale Wertungen der Zurechnungskorrektive bei der „neutralen Beihilfe“ und grundsätzliche Übertragbarkeit auf täterschaftliches Verhalten 1. Für die „klassische“ und wohl auch typische Konstellation einer „neutralen“ bzw. „berufsbedingten“ Beteiligung einer Straftat in Gestalt der „neutralen Beihilfe“ werden ganz überwiegend Zurechnungskorrektive gefordert, welche die konturlose „Förderung“ der Haupttat jedenfalls in Verbindung mit einem nur bedingten Vorsatz nicht in eine Konstellation für eine Strafbarkeit genügen lassen wollen.27 Die Anknüpfungspunkte für diese Strafbarkeitsrestriktionen bzw. Zurechnungskorrektive finden sich – je nach Ansatz – auf verschiedenen Ebenen, insbesondere im objektiven bzw. subjektiven Tatbestand (bzw. teilweise auch als gemischte Modelle), seltener auf der Rechtsfertigungsebene.28 Mit dieser Einordnung in verschiedene Prüfungsstufen des Deliktsaufbaus29 ist freilich noch nicht entschieden, welches die wesentlichen Wertungen sind, die hinter den (auf den verschiedenen Prüfungsstufen verorteten) Lösungs-Schlagworten30 oder auch nur hinsichtlich der in den verschiedenen Lösungsansätzen immer wieder auftauchenden Grundfragen31 steckten. Es gilt also – wenn man nicht nur die formell, sondern auch die materiell legitimierte Übertragbarkeit etwaiger Zurechnungskorrektive von der Beihilfedogmatik auch auf täterschaftliche Unterstützungshandlungen begründen möchte – gewissermaßen die rechtlich relevanten Sachgesichtspunkte herauszuarbeiten, die angesichts des hohen Differenzierungsgrades und der Detailverliebtheit der Strafrechtswissenschaft immer wieder „in verschiedener konstruktiver Einkleidung wie-

27 Gegen spezielle Strafbarkeitsrestriktionen aber etwa grds. Beckemper Jura 2001, 163 ff, sowie auch Roxins Schüler Niedermair ZStW 107 (1995), 507 ff. 28 Für einen Überblick zum Meinungsstand vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 74 ff; ausführlich auch Hillenkamp 32 Problem aus dem Strafrecht – Allgemeiner Teil, S. 195 ff (28. Problem). 29 Zum Wert einer solchen Systematisierung der Verbrechensprüfung vgl. anschaulich Roxin AT I § 7 Rn. 37 ff. 30 Systematisierend anhand von diesen etwa auch Rackow (Fn. 9) S. 129 ff. 31 Vgl. zu diesen Kudlich (Fn. 9) S. 161 ff.

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derkehren“.32 Als solche lassen sich insbesondere die Weite oder aber Scharfstellung der zur Beurteilung eingenommenen Perspektive (samt der Argumentationslast für die entsprechende Wahl dieser Perspektive), die Konkurrenz paralleler Bewertungsmaßstäbe sowie ganz zentral die Abwägung zwischen Freiheitseingriff und Rechtsgutserhaltungseignung benennen.33 2. Ein erster Sachgesichtspunkt, der sich durch verschiedene Begründungsmuster bei der Frage nach einem angemessenen Haftungskorrektiv zieht, lässt sich mit dem Schlagwort der jeweils eingestellten „Weite der Perspektive“ umschreiben. Es geht also um die Frage, welche Ergebnisse eines Handelns noch als dieses prägend in die Bewertung mit einbezogen werden. Dieser Gesichtspunkt tritt bei der „neutralen Beihilfe“ nicht nur bei der Grundfrage in den Vordergrund, ob eine „Neutralität“ (in Abgrenzung zu einer „Kontextabhängigkeit“) überhaupt vornormativ bestimmt werden kann,34 sondern wirkt auch für das Verhältnis von Erfolgs- und Handlungsunrecht in der Frage nach, wo beim Eintritt eines deliktisch missbilligten Erfolges die Begründungslast liegt – bei demjenigen, der zusätzlich auch das Vorliegen eines (für die Strafbarkeit erforderlichen) Handlungsunwertes behauptet oder vielleicht eher bei demjenigen, der trotz einer (zumindest bedingt vorsätzlichen) – ggf. mittelbaren – Erfolgsverursachung das Handlungsunrecht leugnet, da etwa eine Fallgruppe der ausgeschlossen objektiven Zurechenbarkeit vorliegen soll. Richtigerweise wird man die Argumentationslast bei demjenigen zu sehen haben, der gegen die gewissermaßen „strafrechtstypische“, die Rechtsgutsverletzung und ihre Verursachung im Zusammenhang sehende, Betrachtungsweise (und damit für eine engere Perspektive) streitet; oder anders gewendet: Unter Berücksichtigung des ganz überwiegend anerkannten Dogmas vom Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts trifft die Begründungslast denjenigen, der gerade die Straflosigkeit einer vermeidbaren Rechtsgutsverletzung behauptet, so dass etwa die Verneinung der objektiven Zurechnung die begründungsbedürftige Ausnahme bei kausal – mittelbar oder auch unmittelbar – hervorgerufenen Erfolgen ist. Was diesen Aspekt, der tendenziell für eine zurückhaltende Anwendung von Zurechnungskorrektiven streitet, angeht, besteht kein ins Gewicht fallender Unterschied zwischen „neutraler Beihilfe“ und vertatbestandlichten Unterstützungsleistungen. Denn die soeben erfolgte Orientierung an der „strafrechtstypischen“, am Rechtsgüterschutzdogma orientierten 32

Vgl. zu dieser Beobachtung bereits Arzt FS Jescheck, Bd. I, 1985, 391, 400. Vgl. hierzu auch bereits Kudlich (Fn. 9) S. 427 ff, mit teils ähnlichen, teils aufgrund der etwas abweichenden Fragestellung auch differierenden Sachgesichtspunkten. 34 Plakativ etwa in der vielfach zustimmend zitierten Aussage von Arzt, wonach „Mordteilnahme (…) nun einmal nicht zur üblichen Geschäftstätigkeit“ gehören könne, vgl. Arzt NStZ 1990, 1, 3. 33

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Betrachtungsweise gilt selbstverständlich für täterschaftlich-tatbestandliches Verhalten (zumindest) in gleicher Weise wie für eine bloße Beihilfe. 3. Der zweite, mit dem soeben genannten Punkt in gewisser Weise zusammenhängende Aspekt betrifft die Konkurrenz zweier paralleler Bewertungsmaßstäbe, die auftritt, wenn ein bestimmtes Verhalten als solches nach rechtlichen oder auch sozialen Normen als „grundsätzlich normal“ erachtet wird, die durch dieses Verhalten verursachte Rechtsgüterverletzung aber als strafrechtlich relevanter Erfolg pönalisiert wird. Soweit es um potentiell verschiedene Bewertungen bei rechtlicher (Strafbarkeit?) und sozialer (Sozialadäquanz?) Betrachtung geht, wird man hier einen Vorrang der rechtlichen Bewertung vor rein sozialen Standards anzunehmen haben, soweit sich nicht spezielle „Einfallstore“ (etwa in Gestalt bestimmter Generalklauseln) für diese sozialen Bewertungen finden. Zwischen potentiell gegenläufigen rechtlichen Bewertungen (etwa bei der Regelung eines bestimmten Verhaltens durch Sondernormen) ist nach allgemeinen Grundsätzen auf den größeren Inhaltsreichtum einer Regelung abzustellen,35 welcher freilich nur im Einzelfall durch die Auslegung der Vorschrift zu ermitteln ist. Auch all diese Überlegungen gelten für ein etwaiges täterschaftlich vertyptes Unterstützungsverhalten in gleicher Weise. Soweit die vorstehenden Aussagen nur allgemeine methodische Regeln wiedergeben (etwa Vorrang der inhaltsreicheren Vorschrift), versteht sich dies von selbst; soweit ein grundsätzlicher Vorrang rechtlicher Normen vor sozialen Normen postuliert wird, muss dies für tatbestandlich vertyptes Verhalten umso mehr gelten, da dieses im Vergleich zur sehr allgemein gehaltenen Beihilfevorschrift regelmäßig inhaltsreicher ist bzw. der sozialschädliche Charakter genau dieses Verhaltens (ohne eine kraft Akzessorietät vermittelte Bezugnahme auf die Haupttat, wie dies bei der Beihilfe erforderlich ist) zum Ausdruck bringt. 4. Zentraler Sachgesichtspunkt freilich in fast allen Konstellationen (und auch zentrales Argument bei den meisten Ansätzen zur Behandlung des Problems) ist die Abwägung zwischen dem Eingriff in die Handlungsfreiheit und der nur eingeschränkten „Rechtsgutserhaltungseignung“ durch eine Pönalisierung neutraler Verhaltensweisen. Verfassungsrechtlich lassen sich diese Sachgesichtspunkte an der allgemeinen Handlungs- bzw. bei berufsbedingten Verhaltensweisen auch bei der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit (Art. 12 GG36) festmachen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch die Pönalisierungen neutraler, d. h. insbesondere durch den Berufs35 Vgl. dazu bereits Sieber FS Roxin, 2001, 1113 ff, insb. 1122 ff; Vogel Juristische Methodik, 1998, § 4 III 5 (S. 63 f). 36 Zu einer „grundrechtsorientierten Auslegung“ des materiellen Strafrechts (auch diesseits der Grenzen „harter Verfassungswidrigkeit“) gerade an diesem Beispiel vgl. allgemein Kudlich JZ 2003, 127 ff.

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träger nicht an die deliktischen Ziele angepasster, Verhaltensweisen die für die Verhältnismäßigkeitsprüfung initiale Eignung zur Erreichung eines legitimen Zwecks (zwar letztlich bei einem großzügigen Maßstab bejaht werden kann,37 aber) schon zweifelhaft ist und aufgrund der geringen Eignung bzw. spiegelbildlich: aufgrund der einfachen Umgehbarkeit durch den Bezug der alltäglichen Leistung bei einem anderen (gutgläubigen) Anbieter leicht in die Gefahr gerät, unverhältnismäßig zu werden.38 In Kategorien der Strafrechtsdogmatik kann das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitseingriff und Rechtsgutserhaltungseignung etwa mit Erwägungen des Vertrauensgrundsatzes und des erlaubten Risikos umschrieben werden, da die vollständige Vermeidung einer Unterstützung fremder deliktischer Pläne auch durch neutrales eigenes Verhalten im Einzelfall zu einer Überforderung des rechtsunterworfenen Bürgers führen kann, der sich grundsätzlich darauf verlassen darf, dass sich im Bereich sozialer Interaktion auch die übrigen Rechtsgenossen legal verhalten, solange er dies tut.39 Dieses Spannungsverhältnis mit seinen verfassungsrechtlichen und strafrechtsdogmatischen Dimensionen gilt leicht einsehbar in exakt gleicher Weise auch für ein täterschaftliches „Vorschubleisten“, da weder die einschlägigen strafrechtsdogmatischen40 noch gar die verfassungsrechtlichen Kategorien speziell in einem unlösbaren Zusammenhang allein mit einer Beihilfe stehen würden. 5. Als Zwischenergebnis lässt sich mithin festhalten, dass die wesentlichen Sachgesichtspunkte, die für ein Zurechungskorrektiv bei neutralen, insbesondere berufsbedingten Unterstützungshandlungen sprechen, für Fälle einer vertypten täterschaftlichen Unterstützung in gleicher Weise gelten wie für die herkömmlicherweise diskutierte „neutrale Beihilfe“. Daher sollten jedenfalls im Ausgangspunkt auch die dafür entwickelten Grundsätze – wie auch immer diese im Detail richtigerweise auszusehen haben – auf das zur Täterschaft erhobene „Vorschubleisten“ in § 233a StGB übertragbar sein, soweit keine außerhalb des Problemkreises der neutralen Unterstützung wurzelnden Aspekte dagegen sprechen (womit freilich im Ergebnis noch nicht ausgemacht ist, dass diese Grundsätze für die hier interessierenden Handlungen regelmäßig zu Strafbarkeitsrestriktionen führen müssten). Diesen Fragen soll im Anschluss nachgegangen werden. 37

Vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 293 f. Vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 296 ff. 39 Zu dieser Erweiterung des Vertrauensgrundsatzes auf grundsätzlich alle Formen der sozialen Interaktion über die klassischen Fallgruppen des Straßenverkehrs und der Arbeitsteilung hinaus vgl. etwa Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 468 ff; Roxin AT I § 24 Rn. 25; Stratenwerth/Kuhlen AT § 15 Rn. 67 a. E. 40 Sowohl der Vertrauensgrundsatz als auch das erlaubte Risiko werden regelmäßig gerade bei täterschaftlicher – wenngleich freilich überwiegend bei fahrlässiger – Begehung diskutiert. 38

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IV. Mögliche Gründe gegen die Anwendung der Lösungsansätze zur neutralen Beihilfe und Grenzen der Privilegierungswirkung 1. Obwohl die tatsächlichen für eine Strafbarkeitseinschränkung sprechenden Sachgesichtspunkte im Wesentlichen übertragbar erscheinen, könnte eine Privilegierung auch berufsbedingter Tathandlungen i. S. des § 233a StGB nach der gesetzgeberischen Wertung deshalb ausgeschlossen sein, da hier nicht wie bei der Beihilfe ein allgemeiner und mehr oder weniger pauschaler Unterstützungstatbestand besteht, sondern die in Frage kommenden Tathandlungen einzeln aufgezählt werden. Was auf den ersten Blick als rein gesetzestechnische Zufälligkeit erscheint,41 könnte sich durchaus auch dogmatisch auswirken. Zum einen scheint ein Katalog von ausgewählten Verbotshandlungen unter dem Gesichtspunkt der Intensität des Freiheitseingriffs (vgl. oben III. 4.) weniger belastend zu sein als das allgemeine und umfassende Unterstützungsverbot durch § 27 StGB; zum anderen könnte man hierin eine explizitere Anordnung des gesetzgeberischen Willens sehen, derartige Verhaltensweisen zu pönalisieren, welche weniger Spielraum für einschränkende Auslegungsversuche eröffnet. Rein tatsächlich freilich ändert dies nichts daran, dass es bei beruflichen „Beherbergern“, Transporteuren etc. i. S. des § 233a StGB in gleicher Weise „solche und solche“ Akteure gibt, d. h. also Personen, die bei der Ausübung der Behandlung allein ihren bereits abstrakt vorentschiedenen neutralen Handlungsplan verwirklichen, und auch solche, die ihre berufliche Handlung in Kenntnis des deliktischen Planes diesen mehr oder weniger angepasst haben. Soweit man ferner auf den verfassungsrechtlichen Aspekt des Eingriffs in die Berufsfreiheit abstellt, wird man kaum behaupten können, dass dieser geringer ausfällt, weil das verbotene berufliche Verhalten in der Strafnorm spezifischer beschrieben ist (und nicht wie bei § 27 StGB in den allgemeinen Begriff des Hilfeleistens einfließt). Zuletzt wäre zumindest auch nicht unmittelbar einsehbar, warum eine gegenüber einem allgemeinen Verbot des Vorschubleistens einschränkende (nämlich auf bestimmte Fallgruppen beschränkte) Gesetzesformulierung im Ergebnis bei berufsbedingten Verhaltensweisen zu einer weitergehenden Strafbarkeit führen sollte. 2. Ferner mag man sich fragen, ob eine entsprechend den Regelungen zur neutralen Beihilfe einschränkende Auslegung des § 233a StGB den europarechtlichen Vorgaben genügt, in welchen Art. 1 des „Rahmenbeschlusses

41 Wirklich „zufällig“ ist der Unterschied aber möglicherweise deswegen nicht, weil schon mit Blick auf Art. 103 II GG und die realistischerweise geringeren Anforderungen gerade im Bereich des Bestimmtheitsgebotes im Allgemeinen Teil (vgl. Jähnke FS BGH [Praxis], 2000, 393 ff; Kudlich [Fn. 9] S. 259 ff) bei einem vertatbestandlichten, täterschaftlichen Handeln eine genauere Handlungsbeschreibung erforderlich sein könnte als bei § 27 StGB.

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zur Bekämpfung des Menschenhandels“42 eine Aufzählung verschiedener Förderungshandlungen im Vorfeld der Ausbeutung der Sexualität bzw. der Arbeitskraft enthält und das Erfordernis einer selbständigen Strafbarkeit dieser Vorfeldhandlungen anordnet. Aber auch eine etwaige europarechtskonforme Auslegung setzt jedenfalls nicht ohne weiteres (und d. h. hier jedenfalls nicht: ohne klare und explizite Hinweise, dass dies gewollt ist) allgemeine Zurechnungsstrukturen außer Kraft. Vielmehr entspricht es gerade der allgemeinen üblichen Regelungstechnik für europarechtlich (etwa durch Rahmenbeschlüsse) fundierte Normen oder Straftatbestände, dass diese zumindest grundsätzlich auch Anwendungsbereich der Regelungen des allgemeinen Strafrechts sind, was für ungeschriebene Grundsätze der allgemeinen Strafrechtsdogmatik (wie etwa diejenigen der objektiven Zurechnung, auf denen die Privilegierung berufsbedingt-neutralen Verhaltens insoweit im Kern beruht) ebenso gelten muss – eine Konstruktion, wie sie im Übrigen etwa auch bei der Umsetzung des Rom-Statuts durch das Völkerstrafgesetzbuch überall dort eingreift, wo keine Sonderregelungen für einen „Allgemeinen Teil des Völkerstrafrechts“ aufgestellt worden sind.43 3. Sprechen mithin auch keine spezifischen strukturellen oder in der Gesetzesgenese liegenden Gründe gegen die Übertragung der Regeln für die „neutrale Beihilfe“ auch auf Fälle eines „neutralen“ täterschaftlichen Vorschubleistens, so ist damit noch nicht ausgemacht, wie bedeutsam die Anwendung dieser Regelungen in den konkret in § 233a StGB beschriebenen Konstellationen für das Ergebnis tatsächlich ist. Im Detail hängt dies wohl auch vom zugrunde gelegten Lösungsmodell für Fälle neutraler Unterstützungshandlungen ab. Schon aus Gründen des Umfangs, aber auch mit Blick auf den Publikationsort dieses Beitrags liegt es nahe, exemplarisch insbesondere auf den gemischt objektiv-subjektiven Ansatz des deliktischen Sinnbezugs im Roxin’schen Sinne als Beispiel zurückzugreifen, zumal dieser über die Rechtsprechung des BGH auch die Rechtspraxis dominiert (vgl. oben). Nur ergänzend wird jeweils auf den eigenen Ansatz des Verfassers zurückgegriffen,44 der vom Roxin’schen Modell in einigen Details abweicht (welche aber – dies sei hier schon vorweggenommen – für die nachfolgenden Überlegungen nicht von großer spezifischer Bedeutung sind). Dem gemischt objektiv-subjektiven Modell entsprechend ist dabei zumindest grob danach zu unterscheiden, ob der Beitragende (bzw. hier: der Vorschub Leistende) mit direktem oder lediglich mit bedingtem Vorsatz 42

ABl. EG Nr. L203 vom 01.08.2002. Vgl. § 2 VStGB sowie dazu Werle Völkerstrafrecht, Rn. 308; vgl. auch zur Anwendung allgemeiner Lehren im Zusammenhang mit Art. 25 IIIc IStGH-Statut selbst Ambos Internationales Strafrecht § 7 Rn. 43, sowie ders. Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, S. 622 ff. 44 Ausführlich ausgearbeitet in Kudlich (Fn. 9) passim; explizit zustimmend etwa Kühl AT § 20 Rn. 222c. 43

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handelt.45 Lehnt man – jenseits hier nicht einschlägiger weiterer Zurechnungskorrektive mittels der Lehre von der objektive Zurechnung – bei direktem Vorsatz (d. h. sicherer Kenntnis) vom deliktischen Plan des Täters unter Verwendung der Leistung des Beitragenden eine Strafbarkeitseinschränkung ab,46 so führt dies auch hier für Fälle der sicheren Kenntnis von der Begehung einer Straftat nach §§ 232, 233 StGB unter Nutzung einer Tathandlung des § 233a StGB stets und unabhängig von der beruflichen Motivation des Vorschub Leistenden zu einer Strafbarkeit. Fordert man dagegen mit Roxin einen „deliktischen Sinnbezug“, so führt auch dies dann zu einer Strafbarkeit, wenn die „als solches“ legale Handlung in Gestalt eines Personentransports oder einer Beherbergung für den Täter (wie vom Vorschub Leistenden erkannt) allein illegalen Zwecken dient;47 dies ist aber beim Transportieren oder Übernachtenlassen von Personen, zu deren Nachteil eine Straftat nach §§ 232, 233 StGB begangen werden soll, ganz regelmäßig ebenfalls der Fall, da etwa die Transport- oder Übernachtungsleistung an dieser konkreten Person durch den Täter regelmäßig gerade nicht auch legal genutzt werden kann48 (so wie dies z. B. bei der Materiallieferung an einen Fabrikanten der Fall ist, wenn dieser mit dem Material sowohl unter Verletzung als auch unter Einhaltung von Umweltschutzvorschriften arbeiten kann49). In Fällen eines bloß bedingten Vorsatzes geht Roxin mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz regelmäßig von einer Straflosigkeit aus, es sei denn, der Haupttäter war „erkennbar tatgeneigt“50. Überträgt man dies auf § 233a StGB, muss also derjenige, der die Tat nach §§ 232, 233 StGB begehen will, für den Vorschub-Leistenden „erkennbar tatgeneigt“ sein. Wann dies im Einzelfall vorliegt, ist letztlich Tatfrage. Wenn man demgegenüber mit dem Verfasser in Fällen des bedingten Vorsatzes verlangt, dass der Unterstützende einen konkreten Anhaltspunkt dafür hat, dass der Haupttäter gera-

45

Vgl. zu dieser Differenzierung noch einmal Roxin AT II § 26 Rn. 221 ff, 241 ff. Vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 448 ff. 47 Vgl. Roxin AT II § 26 Rn. 223 ff. 48 Natürlich könnte theoretisch einmal ein „Menschenhändler“ – gleichsam zur „Wiederherstellung der Arbeitskraft“ seines Opfers – diesem eine Woche Erholungsurlaub in einer Pension „spendieren“. Liegt ein solcher Fall tatsächlich vor, ist das aber nicht erst ein Problem der berufsbedingten Beihilfe, sondern wohl schon nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen kein „Vorschubleisten“. Allgemein könnte man auch sagen: Dadurch, dass die Tathandlungen des § 233a StGB sich jeweils unmittelbar auf das Opfer (Transport des Opfers, Beherbergung des Opfers usw., vgl. auch Fn. 26) beziehen, wird ein „deliktischer Sinnbezug“ i. S. einer nahezu ausschließlich deliktischen Verwendbarkeit in der konkreten Situation öfters anzunehmen sein als bei manch anderer Unterstützungshandlung, die noch unter § 27 StGB fällt. 49 Vgl. Roxin AT II § 26 Rn. 224 ff. 50 Vgl. Roxin AT II § 26 Rn. 241 ff. 46

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de seine berufliche Leistung für die Straftat heranzieht,51 müsste man für den Fall des § 233a StGB fordern, dass der „berufsbedingt Vorschub Leistende“ triftige Anhaltspunkte dafür hat, dass gerade durch seine Handlung (Befördern, Beherbergen etc.) der späteren Straftat Vorschub geleistet wird; auch dies ist Tatfrage, wird aber in den meisten Fällen nicht wesentlich von den Ergebnissen Roxins abweichen, da gerade bei den spezifischen Unterstützungshandlungen des § 233a StGB bei der Zusammenarbeit mit einem „erkennbar tatgeneigten Menschenhändler“ regelmäßig ein triftiger Anlass für die Annahme bestehen wird, dass gerade diese Leistungen auch für die spätere Tat genutzt werden.52 Ein bloßes „allgemeines Misstrauen“ ohne triftige Anhaltspunkte für die Tatgeneigtheit des präsumtiven Menschenhändlers bzw. für die Ausnutzung gerade der beruflichen Leistungen genügt dagegen in beiden Fällen nicht (selbst wenn das Misstrauen so groß ist, dass es isoliert betrachtet im Einzelfall schon die Schwelle zum dolus eventualis überschreiten würde).

V. Fazit Lösungsregeln für das Problem der „neutralen Beihilfe“ können nicht allein beihilfespezifisch gefunden werden, sondern müssen in der allgemeinen Zurechnungsdogmatik fundiert sein. Aus diesem Grund sind die entsprechenden Lösungsmodelle im Grundsatz auch auf Fälle einer täterschaftlich vertypten Unterstützung wie in § 233a StGB anwendbar. In diesem konkreten Fall ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass die Vorschubhandlungen fallgruppenartig spezifiziert und die Strafbarkeit europarechtlich vorgegeben ist. Auch die Anwendung dieser Regelungen – die hier vorrangig an den Lösungsmodellen des Jubilars durchgespielt wurde, welche auch die Rechtsprechung maßgeblich beeinflusst haben – wird bei direktem Vorsatz (d. h. sicherer Kenntnis) von den geplanten Menschenhandels-Taten regelmäßig eine Strafbarkeit des Vorschub Leistenden unberührt lassen. Bei nur bedingt vorsätzlichem Vorschubleisten kommt dagegen eine Straflosigkeit für neutrale, insbesondere berufsbedingte Verhaltensweisen, in Betracht; gerade bei den Tathandlungen des § 233a StGB werden freilich die objektiven Voraussetzungen, die nach einem gemischt objektiv-subjektiven Modell für die Strafbarkeit bei dolus eventualis aufgestellt werden, häufig (und etwa häufiger als in der klassischen Fallgruppe des Warenbezuges) vorliegen.

51 52

Vgl. Kudlich (Fn. 9) S. 458, 460. Hier gelten die Überlegungen aus Fn. 48 mutatis mutandis.

Berufsbedingtes Vorschubleisten?

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Die vorhergehenden Überlegungen zeigen (hoffentlich!), dass die Bemühungen des Jubilars, Lösungen für dogmatische Probleme nicht ad hoc und einzelfallbezogen zu entwickeln, sondern auf allgemeine Zurechnungserwägungen zu fundieren, nicht nur zu einer größeren Überzeugungskraft der konkreten Problemlösung führen, sondern umgekehrt auch eine Übertragung bzw. „Rückspiegelung“ auf andere Fallgruppen erleichtern. In diesem Sinn sei auch diese Abhandlung zur Auslegung einer scheinbar sehr speziellen und exotischen Norm des besonderen Strafrechts in Gestalt von § 233a StGB Claus Roxin als dem Altmeister der allgemeinen Strafrechtsdogmatik zugewidmet.

Anmerkungen zum Irrtum über die Beteiligungsform Die irrige Annahme „tatherrschaftsbegründender Umstände“ als Versuchs-, Teilnahme- und Fahrlässigkeitsproblem WILFRIED KÜPER

I. Das Stichwort „Irrtum über die Beteiligungsform“ (oder „Beteiligungsrolle“) steht für eine Reihe verschiedener Irrtumskonstellationen, die sich – zumindest vordergründig – durch eine Inkongruenz zwischen den objektiv und den subjektiv erfüllten Voraussetzungen des jeweiligen Beteiligtenstatus kennzeichnen. So verhält es sich etwa, wenn der Veranlasser einer Tat („Hintermann“) annimmt, dass der unmittelbar Ausführende („Vordermann“) die Tat – wie erwartet – vorsätzlich begehen werde, während dieser in Wirklichkeit unvorsätzlich handelt. Der Veranlasser ist hier sozusagen „subjektiv Anstifter“ zu einer vorsätzlichen Haupttat und „objektiv mittelbarer Täter“ eines vom Vordermann vorsatzlos begangenen Delikts. Aus diesem Komplex irrtumsbedingter Inkongruenzen soll in dem folgenden Beitrag eine Konstellation – und nur sie – näher betrachtet werden, die Claus Roxin in seinem großen Lehrbuch der „irrtümlichen Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände“ zugeordnet hat1 und die dogmatisch vielleicht die interessanteste, gewiss aber die schwierigste ist. Sie betrifft das spiegelbildliche Gegenstück der zuvor erwähnten Situation: Ein „Hintermann“ geht subjektiv davon aus, dass dem unmittelbar Ausführenden – z. B. wegen eines durch Täuschung bewirkten Tatbestandsirrtums – der Vorsatz fehle; doch begeht der „Vordermann“ die Tat wider Erwarten sogar vorsätzlich. Zur Illustration mag ein vielzitiertes, auch von Roxin verwendetes Lehrbuchbeispiel aus dem Bereich der Tötungsdelikte dienen, das „In-

1

Roxin AT II § 25 Rn. 163 ff.

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Wilfried Küper

jektionsbeispiel“2: Um seine im Krankenhaus stationär behandelte Schwiegermutter S endlich ins Jenseits zu befördern, übergibt Stationsarzt Dr. A der vermeintlich arglosen Krankenschwester K mit der Anweisung zur Injektion eine Spritze, die angeblich ein Beruhigungsmittel, tatsächlich aber ein tödlich wirkendes Gift enthält; K durchschaut dies indessen, lässt sich jedoch nichts anmerken und nimmt – mit letaler Wirkung – die angeordnete Injektion vor. Auch in der Beschränkung auf die Probleme solcher Fallkonstellationen3 enthält unser Thema eine „Expansionstendenz“4, der nachzugeben die Möglichkeiten dieses Beitrags überschreiten würde. Notwendig ist daher eine weitere Begrenzung. Sie orientiert sich an dem Rahmen, in dem das Thema bei unserem Jubilar erörtert wird. Das bedeutet zunächst, dass den Überlegungen das gesetzlich vorgezeichnete „differenzierte Beteiligungsformensystem“ zugrunde gelegt wird. Der thematische Irrtum über die Beteiligungsform wird dabei als Spezialproblem innerhalb dieses Systems begriffen und das System selbst als besonderes, ergänzendes Zurechnungssystem neben den allgemeinen Prinzipien der Erfolgszurechnung verstanden. Von diesen Vorgaben abweichende systematische Entwürfe und Ansätze5 werden außer Betracht gelassen.6 Die weitere Begrenzung bedeutet ferner, dass 2

Hier geringfügig verändert referiert nach Wessels/Beulke AT Rn. 549; das Beispiel geht wohl auf Welzel Das Deutsche Strafrecht S. 102 zurück. 3 Seier JuS 2000, 86 f behandelt einen Teil der Probleme an einem Fall aus dem Bereich des § 278 StGB, also eines Sonderdelikts. Auf diese Variante wird hier ebenso wenig eingegangen wie auf die – für die Problematik ohnehin unerhebliche – Möglichkeit, dass der Erfolg letztlich ausbleibt. – Zu ähnlichen Irrtumsfragen bei der Verleitung zur Falschaussage (§ 160 StGB), die hier ebenfalls nicht thematisiert werden, vgl. die Übersicht bei Jäger BT Rn. 569 ff; Küper BT S. 137 f jeweils m. w. N.; zuletzt Vormbaum FS Maiwald, 2010, 823 ff. 4 Ablesbar an dem inhaltsreichen Beitrag von Bloy ZStW 117 (2005), 8 ff, zur „Bedeutung des Irrtums über die Täterrolle“. 5 Dazu instruktiv Bloy ZStW 117 (2005), 11 ff, 15 ff m. w. N.; Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 578 f, 586 f, 624 ff, analysiert den Irrtum über die Beteiligungsrolle zwar auf der Basis eines „allgemeinen“ Prinzips der Zurechnung (Begründung/Realisierung eines missbilligten Risikos u. s. w.), passt die Wertungen aber den gesetzlichen Anforderungen des differenzierten Beteiligungssystems an. 6 Unlängst hat Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009 (dazu M.-K. Meyer ZIS 2010, 447 ff), das Modell eines „eigenständigen Systems“ vorgelegt, das auf die Differenzierung verschiedener Beteiligungsformen verzichtet. In diesem Konzept soll „die normative Lehre von der objektiven Zurechnung mit ihren flexiblen Zurechungsparametern die starren Kategorien von Täterschaft und Teilnahme auflösen“ (S. 422). An deren Stelle tritt die Unterscheidung von „unmittelbarer“, „mittelbarer“ und „gemischt unmittelbar/mittelbarer Zuständigkeit“ für den Erfolgseintritt bzw. die Rechtsgutsbeeinträchtigung. Bei bisher sog. „mittelbarer Täterschaft“, z. B. im Fall des vorsatzlos handelnden Vordermannes, werde der Hintermann „unmittelbar zuständig“ für dessen Handlung und infolgedessen „mittelbar zuständig“ für die Verwirklichung des Delikts („gemischt unmittelbar/mittelbare Zuständigkeit“, S. 427). Bei traditionell „Anstiftung“ genannter Beteiligung ist der Vordermann „unmittelbar“, der Hin-

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in diesem System die „Tatherrschaft“ als – für die Herrschaftsdelikte – maßgebliches Kriterium der Täterschaft anerkannt wird, andere Täterschaftskonzeptionen somit unberücksichtigt bleiben. Damit ist zugleich der Rahmen bezeichnet, in dem die Diskussion des Themas heute größtenteils stattfindet. Im Übrigen liegt der Schwerpunkt auf den Problemen des Versuchs und der Teilnahme; Fragen der Fahrlässigkeit werden am Ende noch kurz gestreift. Zunächst steht danach der Ausgangspunkt der Überlegungen fest: Der Veranlasser (Hintermann) ist für das vom unmittelbar Ausführenden (Vordermann) vorsätzlich verwirklichte Delikt – nennen wir es „Primärdelikt“ – nicht als mittelbarer Täter verantwortlich, weil ihm insoweit die Tatherrschaft über den Ausführungsakt fehlt. „Eine mittelbare Täterschaft“, schreibt in diesem Sinn Roxin,7 „kann bei solchen Sachverhalten nicht angenommen werden; denn sie setzt eine wirkliche und nicht bloß eingebildete Tatherrschaft voraus.“ Bei diesem Ausgangspunkt bietet die Literatur für die Beurteilung des „Sekundärdelikts“, also der deliktischen Aktivität des Hintermannes, zwei verschiedene Lösungen an, die alternativ oder kumulativ befürwortet werden: eine „Versuchslösung“ und eine „Teilnahmelösung“ (Anstiftungslösung). Roxin verbindet – worauf noch zurückzukommen ist – beide Lösungen miteinander.8

II. 1. Bleiben wir jedoch vorerst bei der „Versuchslösung“. Sie wird oft für so selbstverständlich gehalten, dass sie nicht näher begründet9 und der Schwerpunkt des Themas in einer ergänzenden „Anstiftungslösung“ gesehen wird. Achtet man auf Nuancen, so fällt bei der Beschreibung der (potenziellen) Versuchsstrafbarkeit überdies auf, dass – ausdrücklich oder sinngemäß – teils von einem „in mittelbarer Täterschaft begangenen Versuch“, termann wiederum „mittelbar zuständig“ (S. 428). Probleme des „Irrtums über die Beteiligungsform“ hat Rotsch in seiner auf die Grundlagen des „neuen Systems“ beschränkten Untersuchung nicht erörtert. In seinem Modell läge bei unserer Fallkonstellation in der Person des Hintermannes die „irrige Annahme unmittelbarer Zuständigkeit“ für die Handlung des Vordermannes vor, also ein Befund, aus dem jene „mittelbare Zuständigkeit“ schwerlich abgeleitet werden könnte. Da jedoch auch die „Anstiftung“ – über die „unmittelbare Zuständigkeit“ des Vordermannes – zur „mittelbaren Zuständigkeit“ des Hintermannes führt, wäre der Irrtum über den „Zuständigkeitsmodus“ wohl als unerhebliche Abweichung zu behandeln. Nur: Wäre das nach dem Gesetz dann ein Fall des § 25 Abs. 1, 2. Alt. oder des § 26 StGB? 7 Roxin AT II § 25 Rn. 163. 8 Roxin AT II § 25 Rn. 164 f, 167; ebenso bereits LK11-Roxin § 25 Rn. 146 f. 9 Exemplarisch Frister AT Kap. 28 Rn. 29; Kindhäuser AT § 39 Rn. 63; Rengier AT § 43 Rn. 81 („auf jeden Fall“ Versuch); Wessels/Beulke AT Rn. 549.

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teils wiederum nur von „versuchter mittelbarer Täterschaft“ die Rede ist. Dabei scheinen diese Kennzeichnungen10 vielfach als Synonyma verstanden zu werden und keinen sachlichen Unterschied, geschweige denn eine strafrechtlich relevante Differenz der „Versuche“ zu benennen. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein. Mag nun ein „Versuch in mittelbarer Täterschaft“ oder eine „versuchte mittelbare Täterschaft“ zur Debatte stehen – die Strafbarkeit des „Hintermannes“ wegen eines Versuchs versteht sich jedenfalls nicht von selbst; sie muss begründet werden. Dabei ergibt sich die Begründung nicht schon daraus, dass der Plan des Veranlassers, das „Primärdelikt“ durch Vermittlung einer vorsatzlos handelnden Person mittelbar-täterschaftlich zu begehen, am vorsätzlichen Handeln des vermeintlichen „Werkzeugs“ gescheitert ist. Dieser negative Befund, der lediglich die Nichtvollendung des vom Veranlasser geplanten Delikts ausdrückt, ersetzt die notwendige positive Versuchsbegründung ersichtlich nicht, wie sie das Gesetz in § 22 StGB fordert und auch die Versuchsdogmatik verlangt. Claus Roxin ist einer der wenigen, die sich um eine zumindest knappe Begründung der „Versuchslösung“ bemüht haben,11 wenn er nicht gar der einzige ist.12 Nach seiner Auffassung liegt „ein Versuch vor, wenn die Einwirkung auf das vermeintliche ‘Werkzeug’ nach der Vorstellung des Hintermannes das Stadium der Vorbereitung überschritten hat“; dies sei wiederum der Fall, sobald „der Hintermann das Geschehen aus seiner Einflußsphäre entlassen“ habe.13 Der Autor nimmt damit auf ein Kriterium zur Bestimmung des Versuchsbeginns bei mittelbarer Täterschaft Bezug, das er an anderer Stelle erläutert und „modifizierte Einzellösung“ genannt hat. Maßgebend ist hiernach der Zeit10 Hier eine Auswahl: Bock JA 2007, 600: „mittelbare Täterschaft als Versuch“; Ebert AT S. 199: „Versuch einer mittelbar-täterschaftlichen Tat“; Frisch (Fn. 5) S. 628: „Versuch in mittelbarer Täterschaft“; Gropp AT § 10 Rn. 77: „versuchte Tatbegehung in mittelbarer Täterschaft“; B. Heinrich AT II Rn. 1265: „versuchte mittelbare Täterschaft“; HKGS-Ingelfinger § 25 StGB Rn. 34: „Versuch der mittelbaren Tatbegehung“; Jäger AT Rn. 251b: „versuchte mittelbare Täterschaft“; Kindhäuser AT § 39 Rn. 63: „versuchtes Delikt in mittelbarer Täterschaft“; Krack GS J. Eckert, 2008, 467 f: „versuchte mittelbare Täterschaft/Versuch der mittelbaren Täterschaft“; Kretschmer Jura 2003, 537: „in mittelbarer Täterschaft begangener Versuch“; Krey AT II Rn. 311: „Versuch in mittelbarer Täterschaft“; SK-Hoyer § 25 Rn. 146: „versuchtes mittelbar-täterschaftliches Delikt“; Wessels/Beulke AT Rn. 549: „Versuch mittelbarer Deliktsbegehung“. 11 Roxin AT II § 25 Rn. 164; LK11-Roxin § 25 Rn. 146. 12 Eine Andeutung immerhin bei Kühl AT § 20 Rn. 86: möglicher Versuch „auf dem Boden der sog. Einwirkungstheorie“ (die Kühl selbst aber nicht vertritt [Rn. 9]). Vgl. auch Kretschmer Jura 2003, 537, dessen Begründung aber undurchsichtig bleibt, weil er anscheinend vom unmittelbaren Ansetzen eines „Tatmittlers“ (!) ausgeht. Die Begründung bei LK-Schünemann § 25 Rn. 146 stammt noch aus Roxins Bearbeitung der Vorauflage. 13 Roxin AT II § 25 Rn. 164 – Hervorhebungen, wie generell in diesem Beitrag, nicht im Original.

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punkt der „Entlassung des Geschehens aus dem Herrschaftsbereich des mittelbaren Täters“, oder anders gesagt: „der Versuch beginnt, wenn der Hintermann die Kontrolle über das weitere Geschehen verliert“. 14 Bei der ersten Lektüre irritiert es zunächst, dass hier die Begründung eines Versuchs – in einem Konditionalsatz („wenn“) – mit dem Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft verknüpft und die „Versuchslösung“ aus einer zeitlichen Regel über den Anfang eines mittelbar-täterschaftlichen Versuchs abgeleitet wird. Geht es doch, bei auch von Roxin vorausgesetzter Vollendung des „Primärdelikts“, allem Anschein nach nicht um die notorische Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, wie sie typischerweise zum Problem wird, wenn der präsumtive Tatmittler „noch untätig oder seinerseits vor der Versuchsgrenze stehen geblieben“ ist.15 Es geht vielmehr – nach allem Anschein – allein um die allgemeinere und prinzipielle Frage, wie bei nur irriger Annahme von Tatherrschaft ein Versuch überhaupt sachlich begründet werden kann. Doch dieser Anschein trügt, und die anfängliche Irritation löst sich bei genauerem Zusehen auf. Denn Roxins Überlegung ist nicht nur von ihrem Ausgangspunkt her folgerichtig. Sie ist – mit einem Vorbehalt, der noch zur Sprache kommen wird – auch methodisch richtig: Folgerichtig ist sie, weil mit der Bestimmung des Versuchsbeginns nach dem Maßstab der „Entlassung aus dem Herrschaftsbereich“ ein Versuch in dem so bestimmten Zeitpunkt notwendigerweise (schon) begründet ist, sofern nur, voraussetzungsgemäß, ein auf mittelbar-täterschaftliche Tatbestandsverwirklichung gerichteter „Tatentschluss“ vorliegt.16 Was anschließend geschieht und ob überhaupt noch etwas geschieht, wie sich also das in Aussicht genommene „Werkzeug“ verhält, bleibt demgegenüber gleichgültig. Methodisch richtig ist die auf den Versuchsbeginn bezogene Argumentation Roxins aus einem ähnlichen Grund. Der vorsätzlich handelnde „Vordermann“ fungiert in unseren Irrtumsfällen in keiner Beziehung als beherrschtes „Werkzeug“ des Veranlassers, auch wenn er das Delikt voll14 Roxin AT II § 29 Rn. 230; vgl. auch schon Roxin FS Maurach, 1972, 227 f; ders. JuS 1979, 9 ff. 15 So beschreibt Hillenkamp den Ausgangspunkt der Kontroverse über den Versuchsbeginn, wenn ein unmittelbares Ansetzen des Tatmittlers fehlt (LK-Hillenkamp § 22 Rn. 153). 16 Der „Versuchsbeginn“ bezeichnet nach üblicher Terminologie den Zeitpunkt, in dem die Vorbereitungsphase überschritten und das Versuchsstadium erreicht ist, also die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Versuchs – erstmals – vollständig vorliegen. Entgegen Herzberg (FS Roxin, 2001, 761 ff; MüKo-Herzberg § 22 Rn. 171 ff) handelt es sich dabei nicht um eine bloße „Teilerfüllung“ des Versuchstatbestandes nach bereits abgeschlossener „Vorbereitung“. Eine andere, hier nicht zu diskutierende, Frage ist es, nach welchen Kriterien der Versuch(sbeginn) bestimmt wird. Fordert man für den Versuch mit Herzberg einen sog. „Versuchserfolg“ in der Form, dass nach der Tätervorstellung eine „unmittelbare Gefahr der Tatbestandsverwirklichung“ vorliegt, so „beginnt“ der Versuch erst mit dem Eintritt dieser Gefahr.

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ständig ausführt. Unter dem Gesichtspunkt mittelbarer Täterschaft „zählt“ er als Tatmittler nicht. Die Situation entspricht daher den Konstellationen, in denen ein vom Hintermann mit der Ausführung beauftragter (potenzieller) Tatmittler noch untätig geblieben ist. Ein Versuch des mittelbaren Täters kann dann jedoch nur nach einer „Zeitregel“ begründet werden, die besagt, dass – und wann – dieser Versuch bereits vor der Tätigkeit des Tatmittlers und unabhängig von ihr begonnen hat. Das alles sind freilich nur Klarstellungen. Sie machen aber deutlich, dass die verbreitete „Versuchslösung“ keine Selbstverständlichkeit ist, sondern indirekt mit den Kriterien zusammenhängt, die für den Beginn des Versuchs zugrunde gelegt werden. Damit führt die Konstellation des „Irrtums über herrschaftsbegründende Umstände“ in die unübersichtliche Kontroverse um den sog. „Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft“. Die gesamte Diskussion zu diesem komplexen Fragenkreis 17 kann und soll an dieser Stelle nicht wieder aufgenommen werden. Nur auf einige Konsequenzen im Bereich unseres Themas sei hingewiesen. Verlangt man für den Beginn des Versuchs mit der strengsten Konzeption („Gesamt“- oder „Zurechnungslösung“), dass der Tatmittler selbst eine Handlung vorgenommen hat, die sich als „unmittelbares Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung qualifizieren und in dieser Eigenschaft dem Hintermann zurechnen lässt,18 so kann ein mittelbar-täterschaftlicher Versuch in unseren Fallkonstellationen schlechthin nicht begründet werden;19 ein vom „Hintermann“ beherrschter vorsatzloser „Tatmittler“ fehlt hier völlig.20 Vielfach und nach heute wohl überwiegender Ansicht wird demgegenüber allerdings Roxins Ansatz vor allem in der Weise eingeschränkt, dass aus dem Kontingent des Versuchsbeginns Fälle ausgeschlossen werden, in denen – nach der Vorstellung des Hintermannes – der Tatmittler bis zur Ausführungsphase noch „wesentliche Zwischenschritte“ vornehmen oder sich der Tatvollzug erst in „weiterer Zu-

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Detaillierte Übersicht über die Meinungsvielfalt m. w. N. etwa bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT S. 109 ff; Roxin AT II § 29 Rn. 226 ff; zum eigenen (früheren) Standpunkt Küper JZ 1983, 366 ff. 18 Vgl. zu dieser Auffassung die Nachweise bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem AT S. 110 („strenge Theorie“); NK-Zaczyk § 22 Rn. 30 mit Fn. 49; Roxin AT II § 29 Rn. 228 mit Fn. 236; ferner etwa Haas Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 81 ff; Krack GS J. Eckert, 2008, 469 ff; Kühl FS Küper, 2007, 303 f; neuerdings wieder Lampe GA 2009, 688 f (bei Vergehen). 19 Vgl. SK-Hoyer § 25 Rn. 146 f; das wird verkannt bei Norouzi JuS 2007, 152, der meint, dass die Streitfrage des Versuchsbeginns bei mittelbarer Täterschaft nicht relevant werde; ebenso offenbar Schapiro JA 2005, 620. 20 Die von Krack GS J. Eckert, 2008, 470 f, wieder aufgeworfene „Folgefrage“, ob es insoweit etwa nur auf die Vorstellung des Hintermannes ankommt, darf bei diesem Ausgangspunkt gar nicht mehr gestellt werden!

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kunft“ ereignen soll.21 Nach dieser Ansicht, die sich am Versuch des unmittelbaren Täters orientiert, könnte auch bei irriger Annahme eines tatherrschaftsbegründenden Sachverhalts ein mittelbar-täterschaftlicher Versuch nur bejaht werden, wenn solche Ausschlussgründe in casu fehlen, der „Hintermann“ also eine unverzügliche Aktion des vermeintlichen Werkzeugs erwartet. Im Injektionsbeispiel ließe sich dies allerdings bejahen, so dass es auf die Differenz zum Roxin`schen Ansatz im Ergebnis nicht ankäme. Doch wird es Situationen geben, die anders beschaffen sind. 2. Der beschriebene Zusammenhang der „Versuchslösung“ mit den Kriterien des Versuchsbeginns ist freilich zunächst nur ein negativer in dem Sinn, dass ein mittelbar-täterschaftlicher Versuch ausscheidet, sofern der „Beginn“ eines Versuchs verneint werden muss. Wird der Versuchsbeginn hingegen, wie bei Roxin, nach den Kriterien einer „Einzellösung“ bejaht, so ist damit gleichwohl über die Versuchsstrafbarkeit noch nicht endgültig entschieden. Denn in diesem Fall stellt sich ein weiteres, streng genommen sogar vorrangiges Problem, das in den erwähnten Nuancierungen der Versuchsbeschreibung undeutlich anklingt: das Problem der Möglichkeit einer nur „versuchten“ oder „vermeintlichen“ mittelbaren Täterschaft. Bei irrtümlicher Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände hat der Veranlasser des vorsätzlich ausgeführten „Primärdelikts“ keine Herrschaft über die Ausführung erlangt; der unmittelbare Täter hat ihn von der Tatherrschaft von vornherein ausgeschlossen. Sein „Hintermann“ hat lediglich „versucht“, eigene Tatherrschaft zu begründen, und sich vorgestellt, sie tatsächlich begründet zu haben. Lässt sich diese Konstellation der nur vermeintlichen Herrschaft über ein vermeintliches „Werkzeug“ und damit über eine vermeintliche Tat überhaupt dem Versuch i. S. des § 22 StGB zuordnen? Wird die Frage verneint, dann kann ein solcher „Versuch“ auch nicht „begonnen“ haben. Das Grundsatzproblem der versuchten oder vermeintlichen mittelbaren Täterschaft wird kaum behandelt. Genauer ist darauf bisher ersichtlich nur Bloy in seinem Aufsatz zur „Bedeutung des Irrtums über die Täterrolle“ eingegangen.22 Er soll daher hier ausführlicher zu Wort kommen: Bloy schreibt,23 dass die „Versuchslösung“ zwingend sei, „wenn für die tatherrschaftsbegründenden Merkmale dieselben Regeln gelten wie für die 21 In dieser Richtung etwa LK-Hillenkamp § 22 Rn. 157; NK-Zaczyk § 22 Rn. 30 ff; jeweils m. w. N.; vgl. dazu und zu nahestehenden Auffassungen auch die Hinweise bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT S. 113 f („modifizierte Zwischenaktstheorie“). Nach Wessels/Beulke AT Rn. 614 ist dies inzwischen die „herrschende Meinung“. 22 Bloy ZStW 117 (2005), 24 ff; zur Behandlung der Frage bei Krack GS J. Eckert, 2008, 467 ff, vgl. unten Fn. 24. 23 Bloy ZStW 117 (2005), 24 ff; vgl. dazu ergänzend bereits ders. Die Beteiligungsform als Zurechungstypus im Strafrecht, 1985, S. 191, 255, 265; sowie ders. JR 1992, 493; ders. ZStW 113 (2001), 92 f.

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anderen Tatbestandsmerkmale“. Dies sei aber nicht der Fall. Denn es hätte unannehmbare Konsequenzen, „wenn man den Anwendungsbereich des § 22 StGB auf die Beteiligungsformen erstreckte“. Dann würden nämlich die Vorstufen der Beteiligung „weit über § 30 StGB hinaus“ grundsätzlich unter Strafe gestellt, und § 30 Abs. 1 StGB erschiene als unerklärliche Privilegierung einer „versuchten“ Anstiftung (i. S. der §§ 26, 22, 23 StGB). Doch gehe die Anerkennung eines Versuchs ohnehin an der Sache vorbei; „denn der Teilnehmer begeht weder eine versuchte noch eine vollendete Tat, sondern nimmt an der versuchten oder vollendeten Tat eines anderen teil“. „Genau so wenig“ gebe es eine „versuchte“ oder „vollendete“ mittelbare Täterschaft. Die Kategorien des Versuchs und der Vollendung bezögen sich „überhaupt nicht auf die Formen, in denen jemand an einer Tat beteiligt sein kann, sondern auf die Tat selbst“. Sonst werde der Versuch zu einer „zusätzlichen Erscheinungsform der Beteiligung“, welche „jenseits der §§ 25 ff StGB“ strafrechtliche Verantwortlichkeit begründe. Dies sei jedoch weder mit der strafbarkeitsbegrenzenden Funktion des Täterschafts-/Teilnahme-Systems noch mit der Sonderregelung des § 30 StGB vereinbar. Bloys Fazit lautet: „Hat § 22 StGB folglich allein den täterschaftlich begangenen Versuch zum Gegenstand, nicht auch die ‚versuchte‘ Täterschaft (und Teilnahme), so bedarf es eines tatsächlichen, nicht nur eines scheinbaren Tatmittlers, um einen Versuch in mittelbarer Täterschaft zu begehen. Aus diesem Grunde setzen alle Lösungsvorschläge, die den scheinbaren Tatmittler erst als Problem des Versuchsbeginns … behandeln, an zu später Stelle an.“24 Es ist bemerkenswert, dass Roxin früher selbst eine Auffassung vertreten hat, die in dieselbe Richtung weist. In seiner berühmt gewordenen Monographie über „Täterschaft und Tatherrschaft“ (erstmals 1963) stellte er nach der Erörterung der „Anstiftungslösung“ die Frage, ob aufgrund der Fehlvorstellung des Veranlassers eine „versuchte Täterschaft“ in Betracht komme – womit die „versuchte mittelbare Täterschaft“ gemeint war. Diese Frage, so schrieb er damals,25 werde man jedoch verneinen müssen: „Denn erstens fehlt es, wenn der unmittelbar Ausführende von vornherein alles durch24

Zur Ablehnung einer „versuchten“ mittelbaren Täterschaft gelangt mit anderen Überlegungen neuerdings auch Krack GS J. Eckert, 2008, 468 ff, 472 ff. Er setzt indessen die „Gesamtlösung“ (Zurechnungslösung) bereits als „Prämisse“ voraus (S. 470) und reformuliert sie lediglich unter einem speziellen Aspekt: der „Manifestation des deliktischen Willens“. Krack meint, dass sich bei vorsätzlichem Handeln des vermeintlichen Tatmittlers der „Deliktswille“ bzw. „Tatplan“ des Veranlassers nicht hinreichend „manifestiere“, verlangt für solche Manifestation also offenbar die (zurechenbare) Tätigkeit eines vorsatzlosen Vordermannes. Doch „manifestiert“ der Veranlassende seinen „deliktischen Willen“ schon durch den Einsatz des vermeintlichen „Werkzeugs“. 25 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, S. 273.

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schaut, an einem Anfang täterschaftlicher Ausführung; und zweitens wirkt nur die irrige Annahme von Tatumständen und nicht die sonstiger Täteroder Teilnehmerkriterien strafbegründend – andernfalls müßte die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen schon ohne § 49a [30 n. F.] StGB ein strafbarer Verbrechensversuch sein.“ Was Roxin nunmehr in seinem Lehrbuch dazu sagt, lässt sich als Erwiderung auf solche Einwände (und diejenigen Bloys) lesen. Diese Replik war notwendig, nachdem Roxin zuvor den Versuchsbeginn auf die „Entlassung des Geschehens aus der Einflußsphäre“ des Hintermannes datiert hatte. Denn dies impliziert – wie jede „Einzellösung“ zum Beginn des mittelbar-täterschaftlichen Versuchs – die Anerkennung einer nur „versuchten“ mittelbaren Täterschaft. Dazu schiebt Roxin im Lehrbuch deshalb eine Begründung gleichsam nach, mit der er sich indirekt von seinem früheren Standpunkt distanziert:26 „Daß die irrtümliche Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände zum Versuch führt“ – so heißt es jetzt –, „folgt daraus, daß die Täterschaft (materiell) Tatbestandsverwirklichung ist, so daß versuchte Täterschaft sich als versuchte Tatbestandsverwirklichung darstellt. Es handelt sich dabei um einen Versuch mit untauglichen Mitteln: Der Hintermann will die Tat ‚durch einen anderen‘ (§ 25 I, Alt. 2) begehen, dieser ist aber als ‚Werkzeug‘ ungeeignet, weil er durch seine eigene Täterschaft dem Hintermann eine Tatherrschaft unmöglich macht.“ Man wird indes nicht sagen können, dass hiermit die Bedenken gegen eine nur „versuchte“ mittelbare Täterschaft schon ausgeräumt sind. Der sehr allgemeine Satz, dass (mittelbare) Täterschaft materiell „Tatbestandsverwirklichung“ sei – genauer wohl: Tatbestandsverwirklichung „als Täter“, mit Tatherrschaft –, berechtigt noch nicht dazu, das täterschaftlich-tatherrschaftliche Moment solcher „Tatbestandsverwirklichung“ selbst zum Gegenstand eines Versuchs zu erklären. Diese spezielle Folgerung erlaubt die unspezifische Zuordnung der Täterschaft/Tatherrschaft zur Kategorie der „Tatbestandsverwirklichung“ nicht. Darin ist vielmehr bereits vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre: dass nämlich – in der Formulierung Bloys27 – für die tatherrschaftsbegründenden Umstände dieselben (Versuchs-)Regeln gelten wie für die übrigen objektiven Tatbestandsmerkmale. Diese Regeln betreffen aber jedenfalls primär den Versuch eines schon als Täter qualifizierbaren Beteiligten und nicht die „versuchte Täterschaft“ eines Nicht-Täters. Deshalb führt auch die Analogie zu einem „Versuch mit untauglichen Mitteln“ nicht weiter. Das vermeintliche „Werkzeug“ des Hintermannes, welches ihm durch eigenes vorsätzliches Handeln bereits die 26 27

Roxin AT II § 25 Rn. 165. Vgl. oben im Text bei Fn. 23.

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„Tatherrschaft unmöglich macht“ (Roxin), ist mit dem von einem Täter benutzten untauglichen Tatmittel nicht vergleichbar, weil nur bei Tauglichkeit des „Werkzeugs“ Täterschaft kraft Tatherrschaft überhaupt zustande kommen kann. Die „versuchte“ mittelbare Täterschaft ist kein (täterschaftlicher) Versuch mit untauglichen Mitteln, sondern der „Versuch“ eines für die Tatherrschaft ungeeigneten Beteiligten, eines „untauglichen Täters“. 3. Bloy hat seine Einwände gegen die „Versuchslösung“ von der Teilnahme her entwickelt und sie auf die mittelbare Täterschaft erstreckt, während Roxins ursprünglicher Standpunkt wohl eher von der Intuition inspiriert war, dass auch bei mittelbarer Täterschaft ein „täterschaftlicher Versuch“ notwendig sei, der durch die irrige Annahme von „Täterkriterien“ (im Gegensatz zu „Tatumständen“) nicht begründet werden könne. Nun lässt sich gewiss nicht bestreiten, dass die Teilnahme vom Anwendungsbereich des § 22 StGB ausgeschlossen und der strukturell mögliche „Teilnahmeversuch“ keine Materie dieser Regelung ist. Ob dies so allgemein für täterschaftliche Beteiligungsformen und insbesondere für die mittelbare Täterschaft gilt, ist damit aber noch nicht ausgemacht. Die oft als unproblematisch empfundene „Versuchslösung“ indiziert ebenso wie die verbreitete Anerkennung von „Einzellösungen“ zum Versuchsbeginn immerhin die Vermutung, dass jedenfalls bei mittelbarer Täterschaft anders verfahren werden kann. Geht man dieser Möglichkeit nach, so zeigt sich, dass die Wurzel des Problems in der Struktur mittelbar-täterschaftlicher „Tatherrschaft“ und namentlich in deren Verhältnis zum objektiv-subjektiven Unrechtstatbestand liegt: In einem Kapitel seiner Schrift über „Täterschaft und Tatherrschaft“ hat Roxin die Frage nach der „systematischen Stellung des Tatherrschaftsbegriffs“ u. a. mit dem Tenor erörtert, ob die durch Tatherrschaft bestimmte „Täterschaft ein Problem des objektiven oder des subjektiven Tatbestandes“ sei oder vielleicht sogar als „besondere Erscheinungsform“ des Delikts „außerhalb des gegliederten Systems“ stehe.28 Seine Antwort lautet zunächst, der „Tatherr“ sei ein „notwendiger Bestandteil des Verbrechenssystems“, den man nicht „aus dem Deliktsaufbau herauslösen“ dürfe. Der Täter, so heißt es weiter,29 sei „schon ein Bestandteil der [gesetzlichen] Tatbeschreibung und nicht etwas nachträglich erst Hinzutretendes“; tatbestandsmäßig handle primär nur derjenige, „der als Tatherr der Deliktsverwirklichung erscheint“. Für unseren Zusammenhang aufschlussreicher sind die folgenden Ausführungen, die das Verhältnis zu den „sonstigen objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Unrechtstatbestandes“ betref28 29

Roxin (Fn. 25) S. 327; dort auch das folgende Zitat. Roxin (Fn. 25) S. 328.

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fen.30 Ihnen gegenüber wird nunmehr der Täterschaft – mit den übrigen Beteiligungsformen – eine eigentümliche „Sekundärstellung“ zugewiesen. Zuerst seien nämlich „die objektiven Unrechtsvoraussetzungen zu prüfen“, danach der Vorsatz und sodann die Frage, „ob Täterschaft, Anstiftung oder Beihilfe gegeben ist“.31 Hierbei seien zu Beginn die „objektiven täterschaftlichen Voraussetzungen festzustellen“, wie etwa der Umstand, dass jemand „die Tat durch einen vorsatzlos Handelnden bewirkt hat“; im Anschluss daran sei zu ermitteln, „ob der Veranlassende diese Umstände kannte“: „Ist das alles zu bejahen, so ist der Handelnde Täter des tatbestandlichen Unrechts.“ Im abschließenden Resümee heißt es dann einerseits, dass „der Tatherrschaftsbegriff durch eine bloße, von den sonstigen Unrechtsvoraussetzungen gelöste Zweiteilung in objektive und subjektive Elemente nicht zu erfassen ist“. Allerdings sollen die „äußere Erfüllung der Tatbestandsmerkmale“ und deren „finale Verwirklichung“ in ihrer „Einheit“ erst die „objektive“ Grundlage schaffen, „auf der die Frage nach der Tatherrschaft gestellt werden kann“. Die Tatherrschaft ihrerseits erfordere wiederum „die äußeren herrschaftsbegründenden Voraussetzungen“ und zugleich deren „subjektive Kenntnis“. Diese Elemente bildeten „nur eine auseinandergelegte dialektische Einheit“; falle etwa die Kenntnis fort, so könne man auch von einer „objektiven“ Tatherrschaft nicht mehr sprechen.32 In diesen Ausführungen, die Roxins Tatherrschaftslehre noch heute zugrunde liegen, wird eine Konzeption der „Tatherrschaft“ sichtbar, in der die Voraussetzungen herrschaftsbestimmter Täterschaft zwar in den Unrechtstatbestand einbezogen, aber nicht dessen objektiven und subjektiven Merkmalen unmittelbar zugeordnet werden.33 Vielmehr stellt die „Tatherrschaft“ – auf der Grundlage der übrigen, „eigentlichen“ Tatbestandsmerkmale – einen Sonderkomplex von objektiv-herrschaftsbegründenden Voraussetzungen und subjektiv-korrespondierender Kenntnis dar, der als eigengesetzliche objektiv-subjektive „Sinneinheit“ gleichsam eine „Enklave“ im Tatbestand bildet.34 Im Gefüge dieses quasi-autonomen Sonderkomplexes, der in seinen 30

Roxin (Fn. 25) S. 329 f mit einem Schema zum „tatbestandlichen Unrecht“. Roxin (Fn. 25) S. 330; dort auch das folgende Zitat. 32 Roxin (Fn. 25) S. 330; vgl. auch bereits S. 263 f, 316. 33 Als „grundlegender Mangel“ der Tatherrschaftslehre Roxins gerügt bei Freund AT § 10 Rn. 45: keine „überzeugende Einordnung in den jeweiligen Deliktstatbestand“. Vgl. auch Haas (Fn. 18) S. 40 f, 47: „Etablierung eines imaginären Zwischenbereichs, der weder richtig dem objektiven noch dem subjektiven Tatbestand angehört“. Prinzipiell zustimmend dagegen Bloy (Fn. 23) S. 202 ff; ders. ZStW 117 (2005), 7 f. 34 Haas (Fn. 18) S. 41, spricht von einem „separaten Bestandteil innerhalb des Tatbestandes“. Nach Stein Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 64 f, wird die „Tatherrschaft“ bei Roxin an das tatbestandliche Unrecht „en bloc angehängt“. Stein hat übrigens den 31

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Merkmalen die „Täterschaftlichkeit“ der tatbestandsmäßigen Tat beschreibt, haben objektive und subjektive Herrschaftsmomente, ohne selbst „Tatbestandsmerkmale“ zu sein, insofern gleichen Rang, als auch die „objektive“ Tatherrschaft an die subjektive Kenntnis ihrer objektiven Voraussetzungen – den „Herrschaftswillen“ – gebunden ist. Insbesondere besteht die Funktion der subjektiven Herrschaftskomponente offenbar nur darin, in Verbindung mit dem objektiv-herrschaftsbegründenden Sachverhalt die „objektive“ (reale) Tatherrschaft zu konstituieren; eine darüber hinaus gehende, selbstständige Bedeutung hat sie nicht. Begreift man die Tatherrschaft in dieser Weise als eine Art „Paralleltatbestand“ des übrigen Unrechtstatbestandes, so kann es innerhalb dieses Komplexes einen „Versuch“ so wenig wie einen „Irrtum“ geben und deshalb auch keine „versuchte“ mittelbare Täterschaft. Die Verschränkung der Tatherrschaftselemente in einer „dialektischen Einheit“ lässt Unterscheidungen wie „Versuch“ und „Irrtum“, die jeweils auf der Trennbarkeit und relativen Unabhängigkeit der Elemente beruhen, im Bereich der Täterschaft nicht mehr zu. Deshalb bleibt die sog. „irrige Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände“ dann gleichermaßen eine bloße „façon de parler“ (mit analytischem Wert, aber) ohne dogmatische Relevanz wie umgekehrt die „Verkennung“ dieser Umstände. 4. Ein Weg zur Anerkennung „versuchter“ mittelbarer Täterschaft eröffnet sich erst, wenn die Elemente der Tatherrschaft selbst dem objektiven und subjektiven Tatbestand derart integriert werden, dass die (potenziell) „herrschaftsbegründenden Umstände“ dem objektiven Unrechtstatbestand angehören und deren Kenntnis oder Annahme als „Herrschaftswille“ – Wille zur Ausübung der Tatherrschaft – dem subjektiven Tatbestand eingegliedert wird.35 Eine „dialektische Sinneinheit“ besteht dann nicht (mehr) im Verhältnis der Tatherrschaftselemente zueinander, sondern einerseits zwischen der objektiven Komponente der Tatherrschaft und den übrigen objektiven Tatbestandsmerkmalen, andererseits zwischen dem „Herrschaftswillen“ und dem sonstigen subjektiven Tatbestand. In einem solchen Modell „tatbestandsintegrierter Tatherrschaft“ bezieht sich der subjektive Tatbestand, der mit dem „Herrschaftswillen“ zugleich den Vorsatz zur Konstituierung von Tatherrschaft enthält, auch auf den objektiv-herrschaftsbegründenden Sachverhalt und ermöglicht damit strukturell den „Versuch“ der mittelbaren „Irrtum über die Beteiligungsrolle“ nicht näher behandelt (S. 294 f). Zu dessen Monographie eingehend Küper ZStW 105 (1993), 445 ff; Roxin AT II § 25 Rn. 35 f mit Fn. 41. 35 In dieser Richtung namentlich Maurach/Gössel/Zipf AT II § 47 Rn. 87 ff; vgl. auch Buser Zurechnungsfragen beim mittäterschaftlichen Versuch, 1998, S. 139 f; Küpper GA 1986, 442 f; Stein (Fn. 34) S. 65; sowie die Hinweise bei Bloy (Fn. 23) S. 203 Fn. 46. – Jäger AT Rn. 251a geht offenbar schon als selbstverständlich davon aus, dass sich der Vorsatz des Hintermannes auch auf die „objektiv täterschaftsbegründenden Umstände“ bezieht.

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Täterschaft. Wie bereits angedeutet, wird dieses Modell im Grunde von allen Auffassungen implizit vorausgesetzt, die – auf der Basis der Tatherrschaftslehre – den Beginn des mittelbar-täterschaftlichen Versuchs ohne Zurechnung der Aktivität eines Tatmittlers am Verhalten des Hintermannes orientieren („Einzellösungen“). Auch bei einer so begründbaren „versuchten“ mittelbaren Täterschaft ist freilich zu bedenken, dass der tatherrschaftskonstitutive Sachverhalt nur einen Teil des objektiven Tatbestandes ausmacht, nicht aber schon die Tatbestandsverwirklichung selbst darstellt, auf deren Versuch sich § 22 StGB bezieht. Insoweit handelt es sich gewissermaßen erst um einen „Teilversuch“. In Roxins eleganter Formulierung, dass „versuchte Täterschaft“ materiell „versuchte Tatbestandsverwirklichung“ bedeute,36 wird dieser Gesichtspunkt vernachlässigt. Der „Versuch“, tatherrschaftsbegründende Umstände zu schaffen, oder ein Handeln in irriger Annahme der Existenz dieser Umstände kann daher für sich genommen den Anforderungen eines Versuchs der „Tatbestandsverwirklichung“ i. S. des § 22 StGB schwerlich genügen. Ein solches Verhalten reicht vielmehr nur aus, soweit es zugleich als Versuch begriffen werden kann, den objektiven Tatbestand – mit Tatherrschaft – insgesamt zu verwirklichen. Hierfür wird man jedoch zumindest voraussetzen müssen, dass diese „eigentliche“ Verwirklichung des Tatbestandes aus der Sicht des Veranlassers der Begründung des Herrschaftsverhältnisses unmittelbar folgen soll („restriktive Einzellösung“). Im „Injektionsbeispiel“ wäre dies freilich der Fall, nicht aber in jeder Konstellation der irrtümlichen Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände. Insofern wirft diese Irrtumskonstellation auch wieder ein Licht auf die notorischen Probleme des Versuchsbeginns bei mittelbarer Täterschaft. Die Konstruktion einer nur „versuchten“ mittelbaren Täterschaft – also eines „Versuchs ohne Täter“ – hat dogmatisch ohnehin etwas Befremdliches und sozusagen Unheimliches. Dies verstärkt die Sympathie für die vielfach als überholt betrachtete „Zurechnungslösung“37, die einen solchen Versuch nicht zulässt und damit jedenfalls die klarere Konzeption darstellt, mag sie auch kriminalpolitisch nicht immer befriedigen.

III. 1. Ist somit in Fällen der irrigen Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände die „Versuchslösung“ erheblich problemhaltiger und voraussetzungsreicher, als meist angenommen wird – und nur dies sollte hier gezeigt 36 37

Vgl. Fn. 25. Vgl. Fn. 18.

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werden –, so ist die Problematik der „Anstiftungslösung“ zumindest im Ausgangspunkt leichter zugänglich. Sedes materiae ist nach üblicher Auffassung der Anstiftervorsatz insoweit, als er sich auf die Bestimmung zu einer Haupttat bezieht, die das Gesetz in § 26 StGB als „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ beschreibt: Lässt sich dieser haupttatbezogene Anstiftervorsatz auch dann noch bejahen, wenn der Hintermann den präsumtiven Tatmittler zur Ausführung einer unvorsätzlichen Tat veranlassen will? Die Fragestellung selbst setzt freilich schon voraus, dass objektiv ein „Bestimmen“ (i. S. des § 26 StGB) zur vorsätzlich-rechtswidrigen Haupttat vorliegt und zudem ein auf das „Bestimmen“ zur Tat gerichteter Vorsatz („Bestimmungsvorsatz“) gegeben ist. Bereits diese objektiv-subjektive Voraussetzung der „Anstiftungslösung“ ist aber nicht unproblematisch. Ob sie vorliegt, hängt von den normativen Anforderungen ab, die bei der Anstiftung an das „Bestimmen“ gestellt werden.38 Genügt hierfür die bloß kausale Veranlassung der Haupttat nicht und verlangt man etwa mit Roxin eine kommunikative „Aufforderung“39 oder gar die Ausübung eines „psychischen Drucks“,40 so wird fraglich, ob das auf Vortäuschung einer unvorsätzlichen Tat zielende Verhalten des Hintermannes oder vergleichbare Handlungen überhaupt noch als (vorsätzliches) „Bestimmen“ verstanden werden können.41 Indessen sind dies „allgemeine“ Grundsatzfragen der Anstiftung, die hier nicht nebenbei erörtert werden können. Für die eigentliche Problematik der „Anstiftungslösung“ wird deshalb hypothetisch unterstellt, dass ein anstiftendes „Bestimmen“, einschließlich des entsprechenden „Bestimmungsvorsatzes“, angenommen werden kann. Aus dieser Sicht geht es dann nur noch um den haupttatbezogenen Anstiftervorsatz im dargelegten Sinn.42 Roxin versteht die „Anstiftungslösung“ als notwendige Ergänzung der „Versuchslösung“, um den Veranlasser (Hintermann) qua Teilnahme auch für das vollendete „Primärdelikt“ verantwortlich machen zu können. Er hat

38

Zu den verschiedenen Vorschlägen materialreich NK-Schild § 26 Rn. 5 ff; detaillierte Übersicht auch bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT S. 167 ff; jeweils m. w. N. 39 Roxin AT II § 26 Rn. 59, 74 ff; sowie ders. FS Stree/Wessels, 1993, 376 f. Zum „Bestimmen“ als „sanktionierter Aufforderung“ eindringlich Amelung FS Schroeder, 2006, 163 ff. 40 Koriath FS Maiwald, 2010, 429; NK-Schild § 26 Rn. 6. 41 Vgl. auch die These von Amelung FS Schroeder, 2006, 170, dass die „Angriffsweise“ der mittelbaren Täterschaft in der Anstiftung „keine Entsprechung“ habe. NK-Schild § 26 Rn. 6 rechnet zwar auch die „Täuschung“ zu den Mitteln des „Bestimmens“, aber nur, wenn sie zur Begründung mittelbarer Täterschaft nicht geeignet ist. 42 Dabei wird nicht verkannt, dass zwischen beiden Fragenkreisen ein Zusammenhang besteht. Denn die Vorschläge zur Restriktion des „Bestimmens“ setzen regelmäßig einen Anstiftervorsatz schon voraus, der sich auf die Bestimmung zu einer vorsätzlichen Haupttat bezieht. Verneint man ein „Bestimmen“ i. S. des § 26 StGB, so stellen sich die im Folgenden erörterten Vorsatzfragen auf der Ebene der (dann übrig bleibenden) Beihilfe.

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dazu eine im Ansatz überraschend einfache Begründung vorgeschlagen.43 Zwar sei für die Anstiftung „realiter“ die Bestimmung des Haupttäters zu einer vorsätzlichen Tat erforderlich. Doch folge „nicht zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes“, dass sich der Anstiftervorsatz auch auf den Vorsatz des Haupttäters erstrecken müsse.44 Dagegen sprächen überdies der „Strafgrund der Teilnahme“ und „kriminalpolitische Überlegungen“. Denn ein „akzessorischer Rechtsgutsangriff“ – in Gestalt einer „Mitwirkung ohne Tatherrschaft“ – liege unabhängig davon vor, ob sich der Hintermann den unmittelbar Ausführenden „als vorsätzlich handelnd vorstellt oder nicht“, und ein „Teilnehmerwille“ sei keine Voraussetzung der Teilnahme. Schließlich gebiete auch die „Gerechtigkeit“ eine Bestrafung als Teilnehmer: Es sei nicht einzusehen, „daß ein vorsätzlicher Tatverursacher nur deshalb ggf. straflos sein soll, weil er sich sogar in einer Täterposition wähnte“. – Roxins „Geniestreich“ trägt freilich deutliche Züge einer nicht generalisierbaren „ad-hoc“-Begründung, die sich allzu großzügig über die in § 26 StGB getroffene Vorsatzregelung hinwegsetzt: Gäbe es die vertrackte Konstellation der irrigen Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände nicht, so käme wohl niemand auf den Gedanken, das Kernstück des Anstiftervorsatzes, den Willen zur Veranlassung einer Vorsatztat, als quantité negligeable zu behandeln. Das Gesetz hat in § 26 StGB mit der Festlegung der Haupttat auf eine „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ (und mit der entsprechenden Begrenzung auf Vorsatztaten) auch das Bezugsobjekt des Anstiftervorsatzes eindeutig bezeichnet; dazu gehört nun einmal die „Vorsätzlichkeit“ der vom Anstifter veranlassten rechtswidrigen Tat. Erwägungen zum „Strafgrund der Teilnahme“ und zur „Strafgerechtigkeit“ der Anstiftungslösung vermögen daran nichts zu ändern. Was den Strafgrund betrifft, so lässt sich die Anstiftung, wie die Teilnahme überhaupt, gewiss als akzessorische „Mitwirkung ohne Tatherrschaft“ charakterisieren.45 Doch resultiert aus dem Negativum solcher herrschaftslosen Beteiligung nicht schon per se, sondern nur dann eine Anstiftung i. S. des § 26 StGB, wenn deren gesetzliche Voraussetzungen positiv gegeben sind.46 Dazu gehört aber eben ein subjektiver Anstifter43

Zum Folgenden Roxin AT II § 25 Rn. 167; vgl. auch bereits Roxin (Fn. 25) S. 272; LK11Roxin § 25 Rn. 147. 44 Übereinstimmend Kühl AT § 20 Rn. 87; LK-Schünemann § 25 Rn. 147. Ablehnend aber z. B. Bloy ZStW 117 (2005), 26 f; HKGS-Ingelfinger § 25 StGB Rn. 34; SK-Hoyer § 25 Rn. 145; Frister AT Kap. 28 Rn. 29; Herzberg Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 45. 45 Zur Teilnahme als „sekundärem“ Begriff und als „Mitwirkung ohne Tatherrschaft“ Roxin (Fn. 25) S. 268, 272. 46 Nicht akzeptiert werden kann deshalb für das geltende Recht Roxins These (Fn. 25) S. 272, dass die Teilnahme keine „positiven Voraussetzungen“ habe, sondern „in ihrem Inhalt negativ durch das Fehlen der Täterkriterien bestimmt“ werde. Vgl. auch Bloy ZStW 117

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vorsatz, der voraussetzt, dass sich der Teilnehmer den Täter „als vorsätzlich handelnd vorstellt“. Auch der Hinweis auf die mögliche „Straflosigkeit“ eines Tatverursachers, der sich sogar eine Täterposition zuschreibt, ist kein überzeugendes Argument für die These, dass sich der Vorsatz des Anstifters nicht auf den Haupttätervorsatz beziehen müsse. Abgesehen davon, dass damit die gesetzliche Regelung überspielt würde, bleibt der Hintermann in unseren Konstellationen wegen eines vorsätzlichen Verhaltens nur insoweit „straflos“, als die konkurrierende „Versuchslösung“ nicht eingreift. Die Entscheidung über Strafbarkeit oder Straflosigkeit dessen, der sich irrtümlich für den Täter hält, ist in der Sache ein Problem der versuchten (mittelbaren) Täterschaft und daher auf dieser Ebene zu treffen. – Nicht beachtet ist bei Roxins Ansatz schließlich, dass selbst dann, wenn die Beziehung auf die Vorsätzlichkeit der Haupttat aus dem Anstiftervorsatz eliminiert wird, dessen Bezugsobjekt gleichwohl weiterhin in einer „rechtswidrigen Tat“ besteht, die nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB den „Tatbestand eines Strafgesetzes“ verwirklichen muss. Für einen haupttatbezogenen Anstiftervorsatz wäre damit erforderlich, dass sich der Veranlasser zumindest eine fahrlässig-tatbestandsmäßige Haupttat vorstellt. Diese Vorstellung hat jedoch der Hintermann nicht, wenn er einen Tatmittler zur Begehung einer unvorsätzlichen Tat einsetzen will. Sollte er sie ausnahmsweise einmal haben, würde das nur die Widersprüchlichkeit einer darauf gestützten Anstiftungslösung zeigen: Der Veranlasser wäre wegen Anstiftung zur einer vorsätzlichen Tat strafbar, die er selbst lediglich für fahrlässig gehalten hat. 2. Roxin hat in seinem Lehrbuch – konsequenterweise – nicht mehr auf ein Begründungselement zurückgegriffen, das er in einer früheren Äußerung noch erwähnt hatte: den Gedanken, dass der „Teilnahmevorsatz als ein Minus im Tatherrschaftsbewußtsein enthalten“ sei.47 Dieses Plus-MinusArgument verweist auf eine weiterhin andauernde, im Schrifttum breit dokumentierte, aber etwas inhaltsarme Diskussion um das Verhältnis des „Tatherrschaftswillens“ zum „Anstiftervorsatz“. Der unterschiedlich formulierten Behauptung, dass der Anstiftungsvorsatz vom Willen zur Ausübung der Tatherrschaft als dessen substantielles „Minus“ bzw. als minderes „Unrechtsquantum“ irgendwie „mitumfasst“ sei oder durch das Tatherrschafts-

(2005), 27, der die Notwendigkeit „vollständige[r] Kenntnis des Teilnehmers vom zuzurechnenden Haupttatunrecht“ betont. 47 So noch LK11-Roxin § 25 Rn. 147 a. E. Der Gedanke geht auf Gallas Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 78, 107 zurück. Er stammt aus einer Zeit, als im Gesetz (§ 48 StGB a. F.) ein Hinweis darauf fehlte, dass der Vorsatz des Anstifters eine „vorsätzliche Haupttat“ zum Gegenstand hat.

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bewusstsein kompensiert werden könne,48 steht in dieser Auseinandersetzung die These von der „qualitativen“ Verschiedenheit der subjektiven Intentionen gegenüber, neuerdings auch häufiger der schlichte Hinweis auf die gesetzliche Regelung.49 Ihre eigenwilligste Ausprägung hat die zuerst genannte Auffassung in der Formulierung gefunden, dass der „fehlende Anstiftervorsatz [!]“ durch den weitergehenden, qualitativ schwerer wiegenden [!] Tatherrschaftswillen ersetzt [!]“ werde,50 ihr kriminalpolitisches Leitmotiv in dem Satz: „Wer Täter zu sein glaubt, ist nicht belastet, wenn er nur für die objektiv begangene Anstiftung einzustehen hat.“51 Diese Diskussion sollte möglichst bald beendet werden. Dabei mag es dahingestellt bleiben, ob der „Tatherrschaftswille“ im Verhältnis zum Anstiftervorsatz – der ohnedies nur ein virtuell-gedachter, im Vergleich abstrakt angenommener Vorsatz sein könnte – einen höheren Unrechtsgehalt (Handlungsunwert) aufweist bzw. ein größeres „Unrechtsquantum“ repräsentiert. Diese materielle Quantifizierbarkeit des subjektiven Unrechts würde nichts daran ändern, dass sich der im Gesetz geforderte Vorsatz des Anstifters, den Haupttäter zu einer vorsätzlichen Tat zu bestimmen, und der Wille, einen Tatmittler zur vorsatzlosen Erfolgsherbeiführung einzusetzen, gegenseitig zwingend ausschließen. Die damit gegebene Unvereinbarkeit der „Vorsätze“ ist durch eine materiell-quantifizierende Unrechtsdifferenzierung nach Art einer Minus-Plus-Abstufung oder einer „Erst-recht“-Argumentation nicht überwindbar.52 Es gibt auch keine Regel, die es gestattet, ein fehlendes subjektives Tatbestandsmerkmal von geringerem Unrechtsgehalt durch ein vorhandenes Merkmal mit höherem Unwertgrad zu substituieren – und 48

In dieser Richtung etwa B. Heinrich AT II Rn. 1265; Jescheck/Weigend AT § 62 III 1; Kindhäuser AT § 39 Rn. 62; Kühl AT § 20 Rn. 87; Lackner/Kühl § 25 Rn. 5; Satzger/Schmitt/ Widmaier-Murmann § 25 Rn. 29; Schönke/Schröder-Heine Vorbem. §§ 25 ff Rn. 79; Stratenwerth/Kuhlen AT § 12 Rn. 216; Tenckhoff JuS 1976, 528; Wessels/Beulke AT Rn. 549. 49 Dazu im Einzelnen u. a. Bloy ZStW 117 (2005), 26 ff; Bock JA 2007, 600; HKGSIngelfinger § 25 StGB Rn. 34; Ebert AT S. 199; Frisch (Fn. 5) S. 628 f; Frister AT Kap. 28 Rn. 29; Gropp AT § 10 Rn. 67; Herzberg (Fn. 44) S. 45; Jakobs AT 24/5; Kretschmer Jura 2003, 537; Krey AT II Rn. 311; Heintschel-Heinegg (Hrsg.)-Kudlich § 25 Rn. 38.2; Letzgus Vorstufen der Beteiligung, 1972, S. 30; Maurach/Gössel/Zipf AT II § 48 Rn. 42; MüKo-Joecks § 25 Rn. 139; Norouzi JuS 2007, 152; Rengier AT § 43 Rn. 82; Seier JuS 2000, L 86 f; SKHoyer § 25 Rn. 145. 50 Wessels/Beulke AT Rn. 549. 51 Stratenwerth/Kuhlen AT § 12 Rn. 216. 52 Eine andere Frage ist es, ob beweisrechtlich ein sog. „normativ-ethisches Stufenverhältnis“ angenommen werden kann, wenn sich im Prozess nicht eindeutig klären lässt, ob der Beschuldigte mit dem Willen zum Einsatz eines vorsatzlosen Tatmittlers oder mit dem Vorsatz zur Veranlassung einer vorsätzlichen Haupttat gehandelt hat (Verurteilung wegen Anstiftung nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“?). Zum „normativ-ethischen Stufenverhältnis“ bei Sachverhaltsungewissheit über die Beteiligungsform vgl. etwa LK-Dannecker Anh. § 1 Rn. 92 f; SK-Rudolphi/Wolter Anh. zu § 55 Rn. 20 f; jeweils mit weiteren Hinweisen.

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wenn man sie aufstellen wollte, wäre sie gesetzwidrig. Die These, wer sich irrig für den (mittelbaren) Täter halte, sei „nicht belastet“, wenn er jedenfalls als Anstifter behandelt werde, ist nur eine suggestiv formulierte Variante dieser unzulässigen Regel. Sie übergeht zudem die „Belastung“, die schon darin besteht, dass der Beteiligte wegen Anstiftung strafbar wäre, obwohl dafür die gesetzlich geforderten subjektiven Voraussetzungen fehlen. Rechtstheoretisch betrachtet, hat der auf die Vorsätzlichkeit der Haupttat bezogene Vorsatz des Anstifters die Struktur eines „Klassenbegriffs“ mit scharfer inhaltlicher Begrenzung, nicht diejenige eines steigerungsfähigen „Ordnungsbegriffs“,53 der nur gewisse Mindestvoraussetzungen des subjektiv-tatbestandlichen Unrechts angibt, ohne ein höheres Unrechtsmaß auszuschließen. Ein derart „ordnungsbegrifflich“ konzipierter Anstiftervorsatz, den das Gesetz nicht kennt, wäre jedoch notwendig, um den Willen zur Ausübung der Tatherrschaft einbeziehen zu können.

IV. Die Auffassung, dass der Anstiftervorsatz im Tatherrschaftswillen enthalten oder dadurch ersetzbar sei, führt indes zu einer anderen Frage, die sachlich bereits in den Kontext der „Versuchslösung“ gehört, aber erst nach der Auseinandersetzung mit der „Anstiftungslösung“ genauer gestellt werden kann. Das subjektive Element der auf vorsatzlosem Verhalten des Tatmittlers beruhenden Tatherrschaft – der „Herrschaftswille“ oder das „Tatherrschaftsbewusstsein“ – stellt sich im Blick auf den Adressaten, der zur unvorsätzlichen Tat veranlasst werden soll, als ein spezieller Vorsatz dar: als Vorsatz, den Tatmittler zu einer solchen Tat zu „verleiten“. Die Betätigung dieses Vorsatzes zur Begründung von (vermeintlicher) Tatherrschaft ist ein „Verleitungsversuch“. Glaubt der Hintermann, alle tatherrschafts-begründenden Umstände geschaffen zu haben, so handelt es sich um einen „beendeten“ Versuch der Verleitung; er ist zugleich misslungen („fehlgeschlagen“), wenn die projektierte Tatherrschaft nicht zustande kommt, weil sich der in Aussicht genommene Tatmittler nicht „verleiten“ lässt. Es ist nun bisweilen schon aufgefallen und als korrekturbedürftige Diskrepanz empfunden worden, dass das Gesetz in § 30 Abs. 1 StGB zwar einen Tatbestand 53 Zur Unterscheidung immer noch grundlegend Radbruch Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, 1938; Nachdruck bei Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1967, S. 167 ff; zur neueren rechtstheoretischen Diskussion Morozinis Dogmatische Grundlagen der Organisationsdelikte, 2010, S. 233 ff m. w. N.

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der „versuchten Anstiftung“ normiert, aber keine ausdrückliche Regelung der „versuchten Verleitung“ enthält.54 Wäre es möglich, die Vorschrift auch auf den „Verleitungsversuch“ anzuwenden, so würde bei irriger Annahme tatherrschaftsbegründender Umstände die „Versuchslösung“ beträchtlich erweitert. Soweit es um Verbrechen geht, käme es dann nicht mehr darauf an, ob und inwiefern das Verhalten des Hintermannes als Versuch der „Tatbestandsverwirklichung“ i. S. des § 22 StGB bewertet werden kann; bereits der „Versuch“, den präsumtiven Tatmittler zur Begehung der unvorsätzlichen Tat zu veranlassen, würde für die Versuchsstrafbarkeit nach § 30 Abs. 1 StGB ausreichen. Praktisch liefe dies auf eine Pönalisierung „vorbereiteter“ mittelbarer Täterschaft hinaus. Der Vorschlag, § 30 Abs. 1 StGB, auf den „Verleitungsversuch“ zu erstrecken, ist bisher vereinzelt geblieben.55 Die verbreitete Ablehnung56 entspricht der allgemeinen Auffassung, dass das Gesetz auch in dieser Bestimmung den regulären, „doppelten“ Anstiftervorsatz voraussetzt, der in § 26 StGB verlangt wird.57 Betrachtet man den Begriff „Bestimmen“, wie er in § 30 Abs. 1 StGB als Bezugsobjekt eines Versuchs genannt ist, isoliert und unabhängig von § 26 StGB, so lässt sich freilich auch das „Hervorrufen des Tatentschlusses zu einer vorsatzlosen Tathandlung“ noch als „Bestimmen zur Tatausführung“ deuten und der „Bestimmungsversuch“ darauf beziehen.58 Insofern ist die Erstreckung der Vorschrift auf eine „versuchte“ mittelbare Täterschaft immerhin mit dem Wortlaut des Gesetzes noch verträglich. Doch kollidiert dieses Verständnis bereits auf der Ebene des Wortsinns mit dem Erfordernis, dass sich das „Bestimmen“ auf die „Begehung eines Verbrechens“, also eine Vorsatztat, richten muss. Zu deutlich ist im Übrigen § 30 Abs. 1 StGB als Vorbereitung der Anstiftung konzipiert und das „Bestimmen“ in diesem Kontext als Motivierung zu einer vorsätzlichen Tat i. S. des § 26 StGB gemeint.59 Der Gesetzgeber hat bei der sprachlichen Fassung der „versuchten Anstiftung“ regelungstechnisch lediglich mit Ab54

Vgl. bereits Küper JZ 1983, 372; sowie z. B. Bloy ZStW 117 (2005), 28; Krüger Der Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft, 1994, S. 91 f; SK-Hoyer § 30 Rn. 8 ff; zuletzt wieder Lampe GA 2009, 688 f (der bei Verbrechen aus § 30 Abs. 1 StGB den „Maßstab“ für den Beginn des mittelbar-täterschaftlichen Versuchs ableiten will); vgl. auch Herzberg FS Roxin, 2001, 757; Roxin FS Lackner, 1987, 316. 55 SK-Hoyer § 30 Rn. 9 f (für alle Varianten „versuchter mittelbarer Täterschaft“). 56 So etwa Bloy ZStW 117 (2005), 28; Krüger (Fn. 54) S. 93 f; LK-Schünemann § 30 Rn. 23; MüKo-Joecks § 30 Rn. 12; NK-Zaczyk § 30 Rn. 10; Schönke/Schröder-Heine § 30 Rn. 32; Thalheimer Die Vorfeldstrafbarkeit nach §§ 30, 31 StGB, 2008, S. 59 ff. 57 Statt vieler Lackner/Kühl § 30 Rn. 5; NK-Zaczyk § 30 Rn. 17 ff. 58 SK-Hoyer § 30 Rn. 9. 59 Mit Recht heißt es bei NK-Zaczyk § 30 Rn. 10: „Es wäre kaum zu erklären, dass das Gesetz innerhalb weniger Paragraphen das ‚Bestimmen‘ einmal (§ 26) für die Anstiftung reserviert und dann (§ 30) nicht die Wendung des § 25 Abs. 1, 2. Alt., zumindest andeutet.“

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breviaturen gearbeitet, deren Inhalt aus der Begrifflichkeit des § 26 StGB aufzuschlüsseln ist. Das „Bestimmen“ bedeutet, wie dort, die Bestimmung zu einer „vorsätzlichen rechtswidrigen Tat“, und der „Versuch des Bestimmens“ impliziert den entsprechenden Anstiftervorsatz. Für die „versuchte“ mittelbare Täterschaft bleibt damit weiterhin allein § 22 StGB zuständig.

V. Das Fazit der bisherigen Überlegungen ist unter dem Aspekt der Strafwürdigkeit wenig befriedigend. Obwohl der „Hintermann“ sein Ziel – im „Injektionsbeispiel“ die Tötung eines Menschen – vollständig erreicht hat, ist nicht einmal die Strafbarkeit wegen eines Versuchs zweifelsfrei gesichert; sie ist allenfalls unter den Voraussetzungen einer „restriktiven Einzellösung“ (zum Versuchsbeginn) akzeptabel. Andererseits scheitert eine Erfolgshaftung als Teilnehmer definitiv am Fehlen des hierfür erforderlichen Vorsatzes. Es gibt auch keine dogmatisch valide Möglichkeit, die Differenz zwischen der geplanten Tatausführung in mittelbarer Täterschaft und der objektiv realisierten Anstiftung als „unwesentliche Abweichung“ zu behandeln,60 um auf diese Weise zu einer vollendeten mittelbar-täterschaftlichen Tat oder wenigstens zur Strafbarkeit wegen Anstiftung zu gelangen. Das Resultat wäre entweder eine „mittelbare Täterschaft ohne Tatherrschaft“ oder eine „Anstiftung ohne Anstiftervorsatz“ und zeigt damit die „Wesentlichkeit“ der Abweichung an. Das differenzierte Beteiligungsformensystem lässt im Verhältnis der Beteiligungstypen nur die Subsumtion unter deren gesetzliche Merkmale, aber keine „unerheblichen“ Abweichungen zu.61 Eine Verantwortlichkeit des Veranlassers für den Erfolg ist bei dieser Lage nur begründbar, wenn sein Verhalten trotz des auf mittelbare Tatbegehung gerichteten Vorsatzes („Herrschaftswillens“) als fahrlässig bewertet wird und der vom „Vordermann“ vorsätzlich verursachte Erfolg zugleich dem „Hintermann“ als Ergebnis seines fahrlässigen Verhaltens zugerechnet werden kann. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen, bisher nirgends diskutierten „Fahrlässigkeitslösung“62 wird freilich sozusagen ein ganz anderes Kapitel aufgeschlagen, dessen Inhalt hier zum Abschluss nur grob skizziert, nicht aber genauer entwickelt werden kann:

60

So anscheinend NK-Schild § 25 Rn. 89 i. V. m. Rn. 56. Dass ohnehin keine bloße Abweichung im „Kausalverlauf“ vorliegt, wird bei LK11-Roxin § 25 Rn. 146 mit Recht klargestellt; ebenso Jäger AT Rn. 251b a. E. 61 Gegen den Rückgriff auf eine „Abweichungslehre“ auch Frisch (Fn. 5) S. 578 f, 628 mit Fn. 269. Zur eventuell anderen Beurteilung in einem „Einheitstätersystem“ vgl. oben Fn. 6. 62 Angedeutet bei Frister AT Kap. 28 Rn. 29 a. E.

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Dabei darf von der Erkenntnis der neueren Dogmatik ausgegangen werden, dass sich vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten nicht notwendig ausschließen, vielmehr das vorsätzlich-rechtswidrige Handeln die positiven Grundelemente der Fahrlässigkeit impliziert.63 Auch der vorsätzlich Handelnde verhält sich in dieser Perspektive regelmäßig „sorgfaltswidrig“ und begründet für die Integrität des betroffenen Rechtsgutes ein „unerlaubtes Risiko“; das Fahrlässigkeitsmerkmal der „Voraussehbarkeit des Erfolges“ ist dabei in der tatsächlichen „Voraussicht“ des mit Erfolgsvorsatz Tätigen enthalten. So betrachtet, handelt der vermeintliche mittelbare Täter, der zur Durchführung der Tat einen vorsatzlosen Tatmittler einsetzen will, materiell zugleich fahrlässig: Er geht mit seiner Aktion sorgfaltswidrig das unerlaubte Risiko ein, dass es zur Verwirklichung des Tatbestandes kommt. Die Zurechenbarkeit des Erfolges zu solchem fahrlässigen Verhalten lässt sich dann darauf stützen, dass das vom Veranlasser begründete Risiko der Tatbestandsverwirklichung mit dem im Erfolg realisierten Risiko substantiell identisch ist: Die vom „Hintermann“ zur Erfolgsherbeiführung einsetzte Person führt die Tat genau so aus, wie jener es geplant hat, und für die Verwirklichung des Erfolgsrisikos bleibt es gleichgültig, ob der „Vordermann“ selbst dabei vorsatzlos oder sogar vorsätzlich handelt.64 Auf ein aus dem Vertrauensgrundsatz ableitbares „Verantwortungsprinzip“, das beim sog. „vorsätzlichen Dazwischentreten“ eines anderen die Verantwortlichkeit für den Erfolg primär dem Zweithandelnden zuweist, 65 kann sich der Veranlasser ohnehin nicht berufen, weil er zur Ausführung der Tat bewusst und planmäßig eine „Mittelsperson“ eingeschaltet hat. Akzeptiert man dies, so schließt sich bei unserem Thema gleichsam ein Kreis: Eine deliktische Haftung für den verursachten Erfolg, die über die mittelbare Täterschaft mangels objektiver Tatherrschaft und über die Anstiftung mangels Anstiftervorsatzes nicht erreichbar ist, wird wenigstens im Rahmen der Fahrlässigkeit wiederhergestellt.

63 Vgl. hierzu etwa Freund AT § 7 Rn. 35 ff; Frister AT Kap. 12 Rn. 2 ff; Kahlo FS Küper, 2007, 267 ff; MüKo-Freund Vor §§ 13 ff Rn. 270 ff mit Nachweis in Fn. 228; NK-Puppe Vor §§ 13 ff Rn. 154 mit Nachweis in Fn. 49; vgl. auch bereits Küper Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 49. 64 In gleicher Richtung Frisch (Fn. 5) S. 628 f, der die Frage als Zurechnungsproblem der „Anstiftungslösung“ erörtert. 65 Vgl. zu diesem außerordentlich umstrittenen Problemkreis die detaillierte Übersicht bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT S. 230 ff m. w. N. Zum Standpunkt des Jubilars Roxin AT I § 24 Rn. 26 ff. – Abschluss des Manuskripts: August 2010.

Zum Versuch beim echten Unterlassungsdelikt MIGUEL OLMEDO CARDENETE Prof. Dr. Claus Roxin in Dankbarkeit und Anerkennung gewidmet

1. Einführung Eine umfassende Betrachtung des Versuchs bei Unterlassungsdelikten dreht sich vor allem um die Frage, ob auch bei den echten Unterlassungsdelikten der Versuch in seinen verschiedenen Erscheinungsformenen (unbeendeter, beendeter und untauglicher Versuch) möglich ist. Die sich daraus ergebenden praktischen Folgen sind offensichtlich, 1 da dabei der Geltungsumfang des in Art. 16.1 CP (Código Penal = spanisches Strafgesetzbuch) beschriebenen Tatbestands des Versuchs („tipo de la tentativa“) 2 entweder erweitert oder eingeschränkt würde. Wir beziehen uns dabei auf jene Auslegung desselben, die wir an anderer Stelle bereits bei der Besprechung des Legalitätsprinzips beschrieben haben. Bisher wurde die Frage der unvollkommenen Formen der Ausführung bei Unterlassung vor allem in Bezug auf die unechten Unterlassungsdelikte, d. h. auf die Begehungsdelikte durch Unterlassung, behandelt. Das Vorliegen eines Erfolges, zu dessen Verhinderung der Garant verpflichtet ist, und die Möglichkeit, zwischen dessen materiellem Eintritt und dem diesen nicht hindernden Verhalten phänomenologisch zu unterscheiden, untermauert die Durchführbarkeit einer Aufgliederung des iter criminis und folglich auch 1 Siehe Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959. Der Autor räumt die Bedeutung des Versuchs bei der Auslegung verschiedener Tatbestände der echten Unterlassung ein. Demgegenüber ist argumentiert worden, dass bei den Delikten der bloßen Inaktivität dem Versuch in der Praxis eine geringe Bedeutung zukommt und dieser lediglich für die Rechtswissenschaft von Interesse sei, siehe LK-Hillenkamp Vor § 22 Rn. 102. 2 Dabei wird die These vertreten, dass Art. 16.1 CP einen wirklichen Tatbestand beschreibt, der den Umfang jener Straftaten erweitert, die in den Büchern II und III des CP festgehalten sind. Wir sind mit Mir Puig einer Meinung, wenn er behauptet, dass „es in Wirklichkeit nicht bloß um eine unvollkommene Realisierung eines Tatbestands geht, sondern ebenfalls darum, dass diese ihrerseits andere Tatbestände realisiert“ [unsere Übersetzung], Mir Puig Derecho Penal, PG, 7. Aufl. 2004, S. 326.

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die Bejahung des Versuchs bei dieser Form der strafbaren Unterlassung. Allerdings stellt sich die Frage bei einem echten Unterlassungsdelikt als viel heikler dar, da es in diesem Falle rechtlich irrelevant ist, ob ein Erfolg vorliegt oder nicht. Ebenfalls folgenreich ist die Tatsache, dass bei Unterlassungen bisher oft auf jegliche naturgesetzliche Kausalkette verzichtet worden ist, deren Ergebnis bestimmte Momente aufweist, nach denen der Unterlassende seiner Garantenpflicht nicht nachgekommen sein mag. Im deutschen StGB wurde die Problematik der (Nicht-)Zulässigkeit des Versuchs bei echten Unterlassungsdelikten dadurch entschärft, dass zum Tatbestand des Versuchs bei weniger schweren Straftaten (Vergehen)3 das numerus-clausus-System eingeführt wurde. Bestraft werden diese unvollkommenen Übertretungen nur in Ausnahmefällen.4 Bei jenen echten Unterlassungsdelikten, die womöglich als Paradebeispiele gelten, nämlich bei der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) und bei der Unterlassung der Anzeige einer Straftat, von deren Planung man Kenntnis hat (§ 138 StGB) handelt es sich um Vergehen und ist der Versuch nicht unter Strafe gestellt. Aber trotzdem räumt die deutsche Gesetzgebung auch bei echten Unterlassungsdelikten die Strafbarkeit in gewissen Fällen ein,5 weshalb diese Frage in die rechtswissenschaftliche Diskussion Eingang gefunden hat. Überdies weist Hillenkamp darauf hin, dass dem Versuch auch ohne Versuchsstrafbarkeit Bedeutung zukommt, „da die Anerkennung einer Versuchsphase die

3 § 23 Abs. 1 StGB besagt: „Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt.“ Als Beispiel für ein echtes Unterlassungsdelikt, bei dem der Versuch bestraft wird, ohne dass er vom Gesetzgeber ausdrücklich berücksichtigt worden wäre, wird die Rechtsbeugung durch Unterlassen erwähnt, die im gegenwärtigen § 339 StGB beschrieben wird, siehe Jescheck/Weigend Tratado de Derecho Penal, PG (Übersetzung der 5. dt. Aufl. von Strafrecht AT durch Olmedo Cardenete), 2002, § 60 II 1; s. a. Roxin AT II § 29 Rn. 292; LK-Hillenkamp Vor § 22 Rn. 104. 4 Siehe Roxin AT II § 29 Rn. 292; Wessels/Beulke AT Rn. 740; in diesem Sinne bereits Welzel Derecho Penal Alemán11, PG, (2. Aufl. der Übersetzung von Bustos Ramírez/Yáñez Pérez), 1976, S. 284. Zeitgenössische Autoren führen als Beispiel der Bestrafung des Versuchs eines echten Unterlassungsdelikts im StGB den § 283 Abs. 3 im Verhältnis zu § 283 Abs. 1 Nr. 5 im Rahmen des Bankrotts an. Konkret erfasst der besagte Paragraph in diesem Kontext die Unterlassung der Buchführung, wodurch der Überblick über das Vermögens der Firma erschwert wird. Außerdem wird § 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB erwähnt, der eine Form der Unterlassung des Kreditbetrugs typisiert, siehe Tröndle/Fischer § 22 Rn. 34, sowie das Delikt, eine Gefangenenflucht nicht zu verhindern (§ 120 Abs. 3 StGB), siehe Roxin AT II § 29 Rn. 292. Weitere Beispiele sind zu finden bei NK2-Zaczyk § 22 Rn. 59 Fn. 120; Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 53; eine Darstellung und ein ausführlicher Kommentar über die (vom Autor geleugnete) Möglichkeit einer Versuchsphase in §§ 138, 323c und 339 StGB kann nachgeschlagen werden bei Schaffstein FS Dreher, 1977, 148-159. 5 Vgl. bereits Fn. 4.

Zum Versuch beim echten Unterlassungsdelikt

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Tatvollendung verzögert“6. In Spanien dagegen sieht der CP – anders als bei der Regelung der Fahrlässigkeit – kein geschlossenes System zur Bestrafung des Versuchs beim echten Unterlassungsdelikt vor. Daher bleibt hierzulande die Frage hinsichtlich sämtlicher Voraussetzungen dieser Straftat absolut offen. Das ist auch der Grund, weshalb bei uns die Diskussion zu diesem Thema geführt wird.

2. Ist der Versuch bei echten Unterlassungsdelikten möglich? Eine Diskussion Wie bereits besprochen, dreht sich die Diskussion im Rahmen des deutschen StGB und vor allem des spanischen CP um die Frage, ob unvollkommene Verwirklichungsformen bei den echten Unterlassungsdelikten möglich sind und insbesondere, ob zumindest der unbeendete Versuch zulässig ist. Auf diese Weise stehen auf der einen Seite die Meinungen jener, die leugnen, dass in solchen Fällen überhaupt ein Versuch möglich ist. 7 Normalerweise wird dabei das Argument angeführt, so zum Beispiel von Cobo del Rosal und Vives Antón, dass „das Delikt mit Beginn der Unterlassung der erwarteten Handlung bereits ausgeführt ist“8. Ebenfalls ablehnend äußern sich auch andere Autoren, wie Octavio de Toledo/Huerta Tocildo, wobei sie aber den Zeitpunkt der Ausführung hinausschieben: „Sobald der letzte Augenblick verstrichen ist, in dem der Täter dazu imstande war, seiner gesetzlich vorgegebenen Handlungspflicht nachzukommen, ist die echte Unterlassung ausgeführt; und sollte dieser Augenblick noch nicht gekommen sein, 6 LK-Hillenkamp Vor § 22 Rn. 103. Natürlich ergibt sich diese praktische Folge nicht, wenn man mit Armin Kaufmann verträte, dass einige echte Unterlassungsdelikte wie zum Beispiel die unterlassene Hilfeleistung „Tatbestände des Versuchs“ bilden (nach seinem Ansatz eigentlich umgekehrte Tatbestände) in denen die unvollkommene Begehung ebenfalls erfasst wird, siehe Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 240 ff. 7 Etwas übereilt ist diese Ansicht von Polaino Navarrete als „mehrheitliche Doktrin“ bezeichnet worden, PJ Nr. 72 (03), 84. 8 Siehe Cobo del Rosal/Vives Antón Derecho Penal, PG, 5. Aufl. 1999, S. 730. Diesem negativen Argument wurde widersprochen und behauptet, dass die Unmöglichkeit, einen Versuch bei diesen Verstößen zuzulassen, besser auf der Grundlage begründet sei, dass das Nichts-Tun nicht teilbar ist, das heißt, es wird basierend auf den Schwierigkeiten argumentiert, durch die das typische Verhalten als unterbrochen angesehen wird. Siehe hierzu Sola Reche La llamada „tentativa inidónea“ de delito, 1996, S. 163. Ebenfalls dagegen und unter Anführung ähnlicher Argumente äußert sich im Rahmen des Art. 450 CP Rubio Lara Omisión del deber de impedir determinados delitos o de promover su persecución, 2003, S. 226. Bezüglich dieses letzten Delikts siehe auch Sola Reche La omisión del deber de intervenir para impedir determinados delitos del art. 450 CP, 1999, v. a. S. 103 ff; González Rus Delitos contra la Administración de Justicia (I), in: Cobo del Rosal (Hrsg.) Curso de Derecho Penal Español, PE, Bd. II, 1997, S. 473; ders. in: Cobo del Rosal (Hrsg.) Derecho Penal Español, PE, 2005, S. 947 ff.

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so kann die Person noch rechtzeitig ihrer Pflicht nachkommen, sodass nicht behauptet werden darf, dass sie ihre Pflicht verletzt hätte (oder ‚angefangen hätte, sie zu verletzen‘)“9. An dieser Stelle ist zu beachten, dass ungeachtet dessen, dass die Vertreter beider Auffassungen den Versuch ablehnen, ein Unterschied zwischen ihnen besteht, da Erstere darauf hinarbeiten, diese Delikte als augenblicklich verwirklicht anzusehen, während Letztere die Verwirklichung bis zum letzten Augenblick, in dem der Unterlassende noch seine Pflicht erfüllen kann, hinauszögern. Dabei leugnen Letztere, dass die anfängliche Nichterfüllung durch den Täter den Beginn der „Ausführung“ der Straftat i. S. d. Art. 16.1 CP10 darstelle. Auf diese Frage werden wir im folgenden Abschnitt noch einmal zurückkommen. Im Rahmen der unterlassenen Hilfeleistung sollte man, auch wegen der von ihm eingeführten Nuancen, Rodríguez Mourullo als Autor zitieren, der die Durchführbarkeit des Versuchs in diesem Delikt und der ihr zugeschriebenen augenblicklichen Vollendung in dem Zeitpunkt, in dem die Hilfeleistung schon nutzlos ist, bestreitet. Auf diese Weise bestätigt er, Teilen der italienischen Rechtslehre folgend, beispielsweise, dass der Terminus „Hilfe leisten“ von den Umständen des Falles konkretisiert wird, und nur verfällt, wenn die Hilfe schon unnütz ist. Wenn jemand an einem Menschen in Gefahr vorbeigeht, aber nachher seine Entscheidung ändert, zurückkehrt und noch wirksame Hilfe leistet, muss man, wie gesagt, berücksichtigen, dass er die Hilfe „noch“ im Rahmen der „Dringlichkeit“ leistete, die der konkrete Fall erforderte. Es wäre korrekt zu sagen, dass eine Art von „Abhängigkeitszustand“ besteht, in dem die Hilfeleistung noch möglich und nützlich ist, unabhängig vom Status der „Verspätung“.11 In Wirklichkeit liegt dem, wie schon der Unterscheidung zwischen der These der augenblicklichen Vollendung und der These, die den Vollendendungsmoment bis zum letzten Augenblick hinauszögert, in dem es noch möglich ist, die gesetzlich aufgezwungene Pflicht zu erfüllen, die Frage 9

Octavio de Toledo/Huerta Tocildo Derecho Penal, PG, Bd. II, 1986, S. 320-321. Später Maqueda in: Zugaldía Espinar/Pérez Alonso (Hrsg.), Derecho Penal, PG, 2. Aufl. 2004, S. 822 (dieser Autor stützt die Straffreiheit des Versuchs einer echten Unterlassung auf Gründe, die vom Prinzip der minimalen Intervention abgeleitet sind, S. 823). Gegen den Versuch auch in diesen Fällen Sola Reche Delitos de omisión pura y sistema de Derecho Penal, La Ciencia del Derecho Penal ante el nuevo siglo, Libro-Homenaje al José Cerezo Mir, 2002, 1007; Requejo Conde AP 2001-2°, 538 (diese Autorin akzeptiert nur den untauglichen Versuch, obwohl ihre Stellungnahme zweideutig ist, ebd., Fn. 2). 10 Und es handelt sich nicht nur – und ebenfalls – um den Versuch, auf Grund dessen verstanden werden kann, dass das Delikt vollendet worden ist (siehe Sola Reche (Fn. 8 – Ilamoda) S. 163 f), zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren, sondern es hängt ebenso die Frage davon ab, wann der Beginn zur Ausführung des unterlassenen Verhaltens anzunehmen ist. 11 Rodríguez Mourullo La omisión de socorro en el Código Penal, 1966, S. 275 f, der italienischen Doktrin folgend.

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nach Ablehnung oder Zulassung des Rücktritts zugrunde. Daher bedeutet die Haltung von Octavio/Huerta und Rodríguez Mourullo, dass sie im Grunde anerkennen, dass die schon angefangene Nichterfüllung der Verhaltenspflicht aufgegeben werden kann, sie aber gleichzeitig das Vorhandensein irgendeiner Phase der Tatausführung, die es erlaubte, an einen Versuch dieser Tatbestände zu denken, verneinen. Andererseits existiert demgegenüber die These einer großen Gruppe, ja wohl durchaus der Mehrzahl der Autoren, die die Möglichkeit verteidigt, die unvollkommene Form der Ausführung bei echten Unterlassungsdelikten als möglich zu erachten. Eine klare Verfechterin dieser Strömung in unserem Land ist Farré Trepat. Nach ihr ist es vor allem notwendig, hinsichtlich dieser Fälle im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Vollendung zu differenzieren: „Falls der zum Handeln Berufene nur über eine Gelegenheit verfügt, die ihm auferlegte Aktion auszuführen, wird der vorsätzliche Verzug in der Praxis schon eine vollendete Unterlassung darstellen“. Dagegen „ist der häufigste Fall jedoch jener, in dem der Handlungspflichtige für die Vornahme des ihm aufgegebenen Verhaltens nicht über eine einzige Gelegenheit, sondern über einen bestimmten Zeitraum verfügt … Deshalb befinden wir uns noch im Bereich des Versuchs, solange es für das Subjekt noch die Möglichkeit gibt, die vom Gesetz abverlangte Pflicht zu erfüllen“12. 12 Farré Trepat EPCrim, Bd. XIII (1988-1989), S. 52 f. (Hervorhebung durch Autor). Siehe das Beispiel, das Hillenkamp in der gleichen Richtung vorschlägt: Es existiert auch ein Versuch – im Verhältnis zum typisierten Delikt in § 138 StGB – wenn jemand Kenntnis von einem Bankraub hat und diesen nicht telefonisch anzeigt, obwohl sich die Diebe schon auf dem Weg zur Bank befinden und obwohl der Anruf noch ein paar Minuten später rechtzeitig sein kann, LK-Hillenkamp § 22 Rn. 103. Diese These wurde abgelehnt, weil „dann der Versuch von Unterlassung Verzicht der gleichen ist, was, aufgrund seiner Einmischung ins Versuchskonzept selbst … das Nichtvorhandensein dieser, oder wenigstens, seiner Straflosigkeit sein könnte“, Sola Reche (Fn. 9) S. 164. Doch wir verstehen es so, dass die These von Farré einen echten unterlassenden Versuch möglich macht, weil man bestätigen kann, dass sich diese unvollkommene Form während des Zeitraums erweitert, in dem das Subjekt die Möglichkeit hat, seine Pflicht zu erfüllen, jedoch bevor die genannte Möglichkeit abläuft. Betonend, dass die Durchführbarkeit der unvollkommenen Formen hier von der zeitlichen Dimension der Unterlassung und der Möglichkeit, diese zu messen und zu unterteilen, abhängt Maihofer GA 1958, 298. Den Versuch auch bei den echten Unterlassungsdelikten zugestehend Gómez Benítez Teoría Juridica del Delito, 1984, S. 581 f (mit den Begehungsdelikten vergleichend); Cerezo Mir Curso de Derecho Penal, PG, Band III, 2001, S. 259 f; auch Muñoz Conde/García Arán Derecho Penal, PG, 6. Aufl. 2004, S. 489 (obwohl sie bestätigen, dass „in der Praxis nicht bestraft wird“); Requejo Conde AP 2001-2°, 554. Das emphatischste Ergebnis kommt in diesem Punkt von Polaino Navarrete, für den die Abwesenheit eines Erfolgs in diesen Tatbeständen als kausal-naturalistisches Ergebnis kein ausreichendes Argument für die Negation des Versuchs ist. Ausgehend von einer gefühlsmäßigen Sichtweise auf die Bewertung der Aktion, „existiert und bleibt die Möglichkeit, diesen ausführenden Grad wahrzunehmen … Wenn etwas erlaubt, eingeteilt, bewertet oder gemessen zu werden, ist es nicht die Aktion der Person, sondern die soziale Relevanz dieser Aktion … Nur mit einem System, das nicht die persönlichen Aspekte,

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Als günstig für diese Unterscheidung, soweit es nicht um die häufigeren Fälle des untauglichen Versuchs der unterlassenen Hilfeleistung geht, hat sich in manchen Fällen die Rechtsprechung des TS (Tribunal Constitucional = Verfassungsgericht) gezeigt. Auf diese Weise bestätigte die bekannte Entscheidung STS 20-12-1976 (Ar. 5435), dass nur ein Versuch und nicht ein vollendetes Delikt gegeben war, als der Unterlassende, obwohl er dem Opfer zunächst keine Hilfe leistete und seine Fahrt fortsetzte, von einem ihm folgenden Autofahrer aufgefordert und davon überzeugt wurde, sich um den Verunglückten zu kümmern, und dies dann auch tatsächlich tat, indem er den Verunglückten in ein Gesundheitszentrum brachte.13 In Deutschland geht ein großer Teil der Rechtslehre davon aus, dass die echten Unterlassungsdelikte, abgesehen von den Fällen des untauglichen Versuchs, ab dem Augenblick, in dem man das Gebot der Norm übertritt, welche die ordnungsgemäße Aktion verlangt, verwirklicht werden, so dass – wie Jescheck/Weigend aufzeigen – „jede Verzögerung der gebotenen Handlung … bereits die Vollendung der Tat“ darstellt.14 So wird, obwohl sondern im Wesentlichen die soziale Bedeutung des Unrechts dimensioniert, analysiert und bewertet, kann diese Problematik zu einer plausiblen und angemessenen Lösung kommen“, Polaino Navarrete PJ, Nr. 72 (03), 84 f. Einen allgemeinen Überblick über die Situation in unserer Doktrin bei Cobo del Rosal-Jiménez Díaz Comentarios al Código Penal, Band I, 1999, S. 799 Fn. 77. 13 Die im Urteil zugrunde gelegten Tatsachen zeigen, dass der Angeklagte „sich in die Bahn des von Germán B. gelenkten Motorrads gestellt hat, infolge dessen er einen Zusammenstoß zwischen beiden Fahrzeugen und schwere Verletzungen beim Motorradfahrer verursachte, und dass er, obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkte und sah, dass der Verletzte aufstand, seine Fahrt, nachdem er gezweifelt hatte, fortsetzte, obwohl es kein Hindernis oder keine Gefahr gab, anzuhalten. Er wurde von einem anderen Autofahrer verfolgt, der ihn, als er anhielt, um das verbeulte Blech der rechten Seite seines Fahrzeugs gerade zu biegen, überzeugte, dem Verunglückten zu helfen, worauf der Angeklagte zum Ort des Vorfalls zurückkehrte und den Motorradfahrer zu einem Ort brachte, wo dieser Hilfe bekam.“ Merkwürdigerweise stimmen diese Tatsachen mit dem Beispiel überein, das schon Frank Anfang des 20. Jahrhunderts bezüglich der Möglichkeit der Zulassung eines Versuchs bei den echten Unterlassungsdelikten gestellt hat, siehe Frank Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, 1908, S. 211 (im Übrigen scheinbar der einzig vorstellbare Fall); Maihofer GA 1958, 290 versteht diese Hypothesen als unfreiwilligen Rücktritt (S. 295 f; in diesem letzten Fall, im Beispiel für jemanden, der im ersten Moment die Hilfe unterlässt, sie später aber rechtzeitig aufgrund der Überzeugungsarbeit eines Polizisten leistet). 14 Jescheck/Weigend Tratado de Derecho Penal, PG, Übersetzung der 5. dt. Aufl. (Olmedo Cardenete), 2002, § 60 II 1. Im gleichen Sinn LK-Hillenkamp Vor § 22 Rn. 102; Tröndle/Fischer § 22 Rn. 34; Rath JuS 1999, 35; vorherige Referenzen zu dieser Fragestellung bei Maihofer GA 1958, 290 f. Wirkliche, mit dem Tatbestand verbundene Argumente gebend, d. h. mit der Gefahr für das rechtliche Gut in der Unterlassung verbunden, soll auch die Haltung von Schmidhäuser betont werden, enthalten in den ersten Auflagen seines Buches (in späteren ist sie nicht so ausführlich), für den noch die Möglichkeit existiert, dass der Unterlassende den Eintritt eines konkreten Schadens verhindert, da der Versuch noch nicht angefangen hat, während das Delikt, wenn die besagte Gefahr nicht mehr völlig vermeidbar ist, schon vollendet ist,

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das durch die Unterlassung gesetzte Risiko nicht vollkommen materialisiert worden ist, von einigen deutschen Autoren die These vertreten, es sei die „Verlängerung der Schmerzen ein Grund, der jede Verzögerung der Hilfe als Vollendung der strafbaren Unterlassung erscheinen läßt“; das gleiche Argument würde auch als Grundlage dienen, um sogar die Möglichkeit eines freiwilligen Rücktritts abzulehnen, da, im Falle des körperlichen Schadens, dieser dem Leiden des Opfers durch die Verzögerung der Hilfeleistung nicht gerecht würde.15 Soweit allerdings eine Ausnahme von dieser Regelung besteht, wie dies bei der unterlassenen Verbrechensanzeige (§ 138 StGB) der Fall ist, dann weitet dieser „Tatbestand den Zeitraum für die gebotene Handlung auf den Bereich der ersten Möglichkeit der Anzeige bis zur letzten Gelegenheit, die Anzeige noch rechtzeitig zu erstatten“, aus.16 Bei diesem Delikt, so bestätigt Gössel, „ist ein beendeter Versuch (wie bei der irrtümlichen Vermutung eines nahe bevorstehenden Delikts), als auch ausnahmsweise ein unbeendeter Versuch denkbar; denken Sie an den Fall einer Verzögerung der Warnung einer bedrohten Person, mit der ursprünglichen Absicht, diese komplett zu unterlassen, aber die nachher rechtzeitig gegeben wird.“17 Ungeachtet der soeben vorgetragenen Meinungen gibt es jedoch auch den Versuch bei den Unterlassungsdelikten behandelnde deutsche Autoren, die von der allgemeinen Durchführbarkeit desselben auch bei der echten Unterlassung, nicht anders, als bei den Begehungsdelikten, ausgehen, obwohl dies nuancierend nur möglich sei, wenn sich „der Entschluss zum Untätigbleiben durch äußere Handlungen in hinreichend erkennbarer Weise manifestiert“18. Auf dieser gleichen Linie bestätigt Köhler etwas ausdrücklicher, siehe Schmidhäuser Lehrbuch AT2 17/25; dem folgend und mit Recht betonend, dass nur die rein formalen Argumente zugunsten der materiellen Tatbestände zu überwinden sind Schaffstein FS Dreher, 1977, 150. 15 Schaffstein FS Dreher, 1977, 153, 155, den Argumenten in BGHSt 14, 213 folgend. 16 LK-Hillenkamp Vor § 22 Rn. 103. 17 Maurach/Gössel/Zipf Derecho Penal, PG, Bd. 2, Übersetzung der 7. dt. Auflage (Bofill Genzsch), 1995, S. 43 Rn. 100. Auch Jescheck/Weigend Tratado de Derecho Penal, PG, Übersetzung der 5. dt. Aufl. (Olmedo Cardenete), 2002, § 60 II 1 erwähnen § 138 StGB als eine Ausnahme vom allgemeinen Kriterium; viel älter Maihofer GA 1958, 292. Gegen den Versuch in diesem Delikt Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 53. 18 Wessels/Beulke AT Rn. 740; SK-StGB-Rudolphi Vor § 13 Rn. 50. Auch Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 53 (obwohl er zugibt, dass „die meisten“ Fälle ein untauglicher oder fehlgeschlagener Versuch sind). Die Forderung von externen Aktionen, eindeutig im Versuch von Unterlassung, hat wahrscheinlich seine Herkunft im Versuch, eine Bestrafung des Subjekts aufgrund einer einfachen inneren Einstellung zu vermeiden („Gesinnungsstrafe“); siehe Schaffstein FS Dreher, 1977, 157 f. Den Versuch akzeptierend, aber der Ansicht, dass er in keinem Fall der echten Unterlassung im numerus clausus-System des § 23 StGB enthalten ist, Schmidhäuser Studienbuch StudB AT 13/24. Viel ältere bibliographische Referenzen, die diese These schon unterstützten, finden sich bei Glaser MSchrKrim 1935, 255 f.

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dass es deshalb entscheidend auf ein Verhalten ankommt, das sich eindeutig durch eine passive Permanenz äußert, die geeignet ist, eine Verschlechterung der Situation des rechtlichen Gutes hervorzurufen. Dies wird nicht der Fall sein, solange die Möglichkeit einer die Verletzung verhindernden Tätigkeit noch fortbesteht, obgleich die anfängliche Passivität ein Beginn in Richtung des Schadens für das rechtliche Gut ist, wie es zum Beispiel beim Verlassen einer hilfsbedürftigen Person der Fall ist.19 Und es sei laut Zaczyk nicht nur die Möglichkeit des untauglichen Versuchs gegeben,20 sondern auch taugliche Versuche seien möglich, da die verlangten Aktionen unterteilt werden können, was „eine Unterscheidung zwischen unmittelbarem Ansetzen und Vollendung“ erlaubt.21 Wir werden nachfolgend auf dem Weg zu einem Ergebnis die Fragestellungen manchen Bereichs der deutschen Rechtslehre aufgreifen, welche die Möglichkeit unvollkommener Formen der Ausführung bei den echten Unterlassungsdelikten einräumt, obwohl man häufig seine ausschließliche Existenz im Rahmen nur des unechten Unterlassungsdelikts verkündet hat.

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Köhler AT S. 467. Er räumt so mit dem allgemeinen Charakter des Versuchs auch den Rücktritt bei diesen Verbrechen ein, sofern sie nicht Unternehmensdelikte sind, Jakobs Derecho Penal, PG2 (übersetzt von Cuello Conteras/Serrano González de Murillo), 1997, S. 1041 Rn. 5. Eine allgemeine Zulassung der unvollkommenen Formen erklärt auch Haft AT S. 236, insofern wir keine Delikte wie in § 323c StGB vorfinden, in denen eine Verzögerung der Pflichtenerfüllung laut ihm die Vollendung der Tatsachen darstellt. 20 Da er in manchem Fall gestützt wurde (siehe Welzel Derecho Penal, PG, S. 284), muss man daran erinnern, dass man in Wirklichkeit ab der orthodoxesten Zweckmäßigkeit – auch im Verhältnis zum unechten Unterlassungsdelikt – seine Existenz nicht in Betracht zieht, sondern, dass es sich eher „um die Unterlassung des Versuchs der Ausführung der angeordneten Aktion handelt“, ebenda. 21 NK-Zaczyk § 22 Rn. 59. Eine differenzierende Haltung nimmt Eser ein, der die Existenz eines Versuchs bei den echten Sonderdelikten gemäß dem hier behandelten Tatbestand der echten Unterlassung akzeptiert. Nach ihm wird, handelt es sich um Delikte der „einfachen Untätigkeit“, nur der untaugliche oder der fehlgeschlagene Versuch in Betracht kommen; handelt es sich hingegen um „Erfolgsdelikte“ als Unterklasse der echten Unterlassung, hält er einen Versuchszustand für möglich und gibt als Beispiele § 120 Abs. 2 StGB an (der das Verhalten des Beamten typisiert, der die Gefangenenflucht nicht verhindert) und die unterlassende Pflichtvergessenheit in § 339 StGB, siehe Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 53. Die Unterscheidung innerhalb der echten Unterlassungsdelikte zwischen Erfolgsdelikten und echten Unterlassungsdelikten wurde schon von Glaser MSchrKrim 1935, 255 benutzt, der auf diese Weise auch auf die echte Unterlassung die Unterscheidung zwischen „schlichten Tätigkeitsdelikten“ und „Erfolgsdelikten“ übertrug. In Wirklichkeit stammt die besagte konzeptionelle Klassifizierung – genau wie Glaser MSchrKrim 1935, 256 ausführt – von Rittler FS Miriky, 1933, 34.

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3. Ist das Konzept des Erfolges den echten Unterlassungsdelikten völlig fremd? Ebenfalls differenziert, jedoch abhängig von der Vielfalt echter Unterlassungsdelikte, gestaltet sich die Ansicht anderer Autoren, die den Versuch in bestimmten Fällen echter Unterlassungsdelikte, die Bezug auf einen Erfolg nehmen, akzeptieren, obwohl die Auswirkungen desselben seitens des Gesetzgebers für die Bestimmung der mehr oder weniger hohen Verantwortung des Unterlassenden nicht berücksichtigt wird. Im Ansatz von Armin Kaufmann werden diese Taten sogar mit dem Bestehen eines Erfolges, den der Täter vermeiden soll, in irgendeiner Form in Verbindung gesetzt. Um die Frage der Zulassung oder der Ablehnung des Versuchs zu klären, unterschied Rittler bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts innerhalb der echten Unterlassungsdelikte zwischen den Delikten der erfolgsbezogenen Unterlassung und den echten Unterlassungsdelikten: In ersteren beschreibe der Tatbestand eine gewisse Art der Passivität und einen Erfolg, der in einem quasi-ursächlichen Verhältnis zu dieser stehe und letztlich verhindert werden müsste. In den letzteren nimmt der Tatbestand dagegen nur auf ein bestimmtes Nichts-Tun als solches Bezug. Daher ist für echte Unterlassungsdelikte von der gleichen Unterscheidung zwischen Erfolgs- und schlichten Tätigkeitsdelikten auszugehen, wie sie bisher lediglich bei Begehungsdelikten gemacht wurde.22 Die Anerkennung von Delikten der erfolgsbezogenen Unterlassung innerhalb der Kategorie der echten Unterlassungsdelikte führt Rittler sogar zu der Behauptung, dass zwischen diesen und den Begehungsdelikten durch Unterlassung (den unechten Unterlassungsdelikten) kein wesentlicher Unterschied bestehe, sondern dass der Unterschied auf die Formulierung begrenzt sei. Wenn der Tatbestand sich nur auf die Herbeiführung eines Erfolges bezieht, handele es sich um ein unechtes Unterlassungsdelikt, sofern der Tatbestand auch die Nicht-Verhinderung desselben beinhaltet; wenn sich der Tatbestand dagegen ausdrücklich auf die Passivität im Rahmen der Erfolgsherbeiführung bezieht, handele es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt.23 Unter den Autoren, die unlängst eine ähnliche Unterscheidung machen, befindet sich auch Roxin. Er geht davon aus, dass der Versuch bei den echten Unterlassungsdelikten sowieso nur eine reduzierte Rolle spielt, da er bei den wichtigsten einschlägigen Tatbeständen von vornherein straffrei bleibt; 22

Rittler FS Miriky, 1933, 34. Auch Glaser nahm die gesagte Unterscheidung an, siehe Glaser MSchrKrim 1935, 255; später im gleichen Sinn auch Welzel Derecho Penal, PG, S. 279. Ebenfalls findet man in der zeitgenössischen spanischen Doktrin Referenzen über echte Unterlassungen, die den Zeitpunkt des Erfolgseintritts zur normativen Referenz hat. Siehe Sola Reche (Fn. 9) S. 999 f, 1003 und 1007. 23 Rittler FS Miriky, 1933, 35.

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da der Versuch bei einigen dieser Tatbestände jedoch doch strafbar ist, komme es für die Billigung eines tauglichen Versuchs auf die Klassifizierung der vorliegenden echten Unterlassung an. 24 Wenn der Tatbestand durch die Unterlassung unabhängig von einem Erfolg zustande kommt, ist ein tauglicher Versuch nicht denkbar, weil hier die Unterlassung als Verstoß gegen den gesetzlichen Befehl schon per se eine vollendete Tat darstellt. „Wenn jemand die geforderte Hilfeleistung unterlässt, ist der Tatbestand des § 323c schon vollendet, so daß der Gesetzgeber mit Recht auf eine Strafdrohung gegen den Versuch verzichtet hat“25. Anders ist es hingegen, wenn das Unterlassungsdelikt einen Erfolg voraussetzt, so wie es bei § 138 StGB im Hinblick auf die Ausführung eines Delikts der Fall ist oder bei § 120 StGB in Bezug auf die Gefangenenflucht. Hier sind die für die unechten Unterlassungsdelikte geltenden Regeln anwendbar. Wenn der Gefängnisbeamte einer Häftlingsflucht gegenüber nicht eingreift, beginnt der Versuch in Übereinstimmung mit § 120 Abs. 1, 2 StGB, sobald er vor dem nahen Ausbruch inaktiv bleibt. Es würde auch einen Versuch darstellen, wenn besagter Beamte, der von der geplanten Flucht Kenntnis hat, mit dem Vorsatz, diese zu ermöglichen, die Einrichtung vorher verlässt, um bei der Flucht, die wenige Stunden später stattfinden soll, nicht vor Ort zu sein.26 Eine Ansicht, die der Verbindung der echten Unterlassungsdelikte mit einem Erfolg noch offener gegenübersteht, ist von Armin Kaufmann vertreten worden. Dieser Autor überprüft zunächst die Lage der rechtswissenschaftlichen Lehre: Es sei fast communis opinio, dass im Allgemeinen in den echten Unterlassungsdelikten, und insbesondere in § 323c StGB,27 bloße Tätigkeitsgebote im Sinne der im Tatbestand beschriebenen Handlung verletzt werden, während den unechten Unterlassungsdelikten Gebote zugrundeliegen, die darauf gerichtet sind, den Erfolg zu verhindern.28 Dieser verbreiteten Meinung gegenüber behauptet Kaufmann, dass es innerhalb der Kategorie der echten Unterlassungsdelikte neben einer großen Zahl von Tatbeständen, die bloß die Unterlassung von Handlungen von ab24 Roxin AT II § 29 Rn. 294. Siehe ebenfalls in der gleichen unterscheidenden Linie Schönke/Schröder-Eser § 22 Rn. 53; LK-Hillenkamp § 22 Rn. 103 f (siehe dort die der Rechtsprechung entnommenen Fälle). 25 Roxin AT II § 29 Rn. 294. 26 Roxin AT II § 29 Rn. 294. Demgegenüber ist Haft AT8 S. 232 der Ansicht, dass der Fall der Nichtanzeige einer Häftlingsflucht seitens des zuständigen Beamten ein Fall des gescheiterten Versuchs eines Begehungsdelikts durch Unterlassen ist. 27 Damals noch § 330c StGB. 28 Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 218. Eine vollständige Kritik zur Unterscheidung, im Allgemeinen, zwischen den Unterlassungen, die gegen eine Pflicht zu Handeln verstoßen, und denjenigen, die eine Pflicht begründen, einen Erfolg zu vermeiden, kann in Silva Sánchez El delito de omision. Concepto y sistema, 1986, S. 289 ff gefunden werden; ihm folgend Sola Reche (Fn. 8) S. 104 Fn. 223.

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straktem Nutzen beschreiben, auch Tatbestände gibt, bei denen auch das Gebot, einen Erfolg zu verhindern oder ihn hervorzubringen, enthalten ist.29 Bezüglich dieser Möglichkeit des Mandats, einen Erfolg zu vermeiden, bestätigt Kaufmann, dass die Norm sogar bei einem Delikt wie dem der unterlassenen Hilfeleistung implizit eine Pflicht enthält, den zu befürchten stehenden Erfolg zu vermeiden: Zu „retten“ – bestätigt der Autor scharfsinnig – ist nicht irgendeine nützliche Tätigkeit als Abstraktum, sondern ist auf eine Gefahrsituation und deshalb auf Vermeidung des drohenden Schadens bezogen. Die Entscheidung des Rettungspflichtigen, zu handeln, könne vernünftigerweise keine andere Bedeutung haben, als die, eine Handlung auszuführen, die den Schaden verhindert oder verringert, das heißt, eine Handlung auszuführen, um den Erfolg zu vermeiden. Auf diese Weise sei auch in § 323c StGB30, nicht anders als bei den unechten Unterlassungsdelikten, Gegenstand des Tatbestands eine (finale) Aktion, um den Erfolg zu vermeiden. Der deutsche Gelehrte schließt: Unter dem Gesichtspunkt des Normgehalts ist die Unterscheidung, die die herrschende Rechtslehre angesichts der verschiedenen Ausgestaltung der Tatbestände der echten und unechten Unterlassungsdelikte vornimmt, also unhaltbar, sowohl im Allgemeinen, wie insbesondere auch im Hinblick auf § 323c StGB.31 Hinsichtlich der Möglichkeit von Tatbeständen innerhalb der echten Unterlassungsdelikte, die einen Erfolg zum Gegenstand haben, führt der besagte Strafrechtler zu § 138 StGB aus, dass „in allen Melde- und Anzeigegeboten die vom Gesetz erstrebte Kenntnis der Behörde ein ‚Erfolg‘, den der Pflichtige herbeiführen soll“ darstellt.32; allerdings, so fährt er fort: „§ 138 I StGB beschränkt die Verpflichtung zum Handeln auf die Anzeige bei der Behörde oder bei dem Bedrohten, ohne jedoch dabei die Beziehung zur Erfolgsabwendung zu lösen; dies ergibt sich aus folgendem: Es muß mit der Anzeige die Tendenz verfolgt werden, das Verbrechen zu verhindern; hie-

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Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 222, 240 f (Fn. 370) und S. 247. Damals noch § 330c StGB. 31 Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 219 f. Siehe auch Fn. 29. Ebenfalls der Ansicht, dass das Delikt der unterlassenen Hilfeleistung ein echtes Unterlassungserfolgsdelikt ist, da es dazu führen soll, die drohende, schädigende Konsequenz zu verhindern, Welzel Derecho Penal, PG, S. 279. In Wirklichkeit kommt Kaufmann im Hinblick auf § 323c StGB (damals § 330c StGB) dazu, dass es sich um einen Versuchstatbestand mit insofern inversem Zeichen handelt, als die gebotene Handlung dazu führen soll, einen Erfolg zu vermeiden, und der Versuch, es zu unterlassen, einen Schaden, der in einer Hilflosigkeitssituation droht, zu vermeiden, schon in den Tatbestand eingegliedert ist; auf diese Weise würde durch § 323c StGB (damals § 330c StGB) ein überzeugender Grund geschaffen, warum der Unterlassende verantwortlich ist, auch wenn der Schaden nicht eingetreten ist oder wenn – den Fall ex post berücksichtigt – keine Möglichkeit existierte, den Schaden zu vermeiden, vgl. Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 241 f. 32 Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 20. 30

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rauf bezieht sich die ‚Rechtzeitigkeit‘. Ist die Verbrechensverhinderung nicht mehr möglich, entfällt die Anzeigepflicht.“33. Nach unserem Dafürhalten weisen uns die Ausführungen von Kaufmann den Weg zu der Möglichkeit, ein gültiges Kriterium zu finden zur Klärung der Frage, ob einige echte Unterlassungsdelikte eine gewisse formale Verbindung mit einem Erfolg haben können. So etwa im Hinblick auf die unterlassene Hilfeleistung gemäß Art. 195 CP, weil, tatsächlich die Nichtvornahme einer Hilfeleistung (erster Abschnitt der Norm) bzw. das Fehlen einer Pflicht, diese vorzunehmen, wenn der Unterlassende sie nicht erbringen kann (zweiter Abschnitt), gesetzlich nicht als Abstraktum bewertet werden können, sondern nur mit Bezug auf das Ziel, den Erfolg eines Personenschadens, der sich in Verletzungen oder im Tod des Opfers, das hilflos aufgefunden und sich in einer offenkundigen und ernsten Gefahr befindet, materialisiert, zu vermeiden. Nichts anderes gilt im Hinblick auf das Delikt, in gewissen Fällen der Begehung von Schwerverbrechen die nächste bzw. gegenwärtige Begehung nicht zu verhindern bzw. nicht anzuzeigen; was der Gesetzgeber als Erfolg der notwendige Handlung in den Blick nimmt, ist, die Begehung des besagten Delikts zu vermeiden. Die Existenz von echten Unterlassungsdelikten, in denen die Norm teleologisch dazu genutzt wird zu erreichen, dass der Bürger den Eintritt eines konkreten Erfolges vermeidet, weitab entfernt von einer Konfiguration dieser Verbrechen als Unternehmensdelikte, in denen die Modalität der unvollkommenen Begehung schon im Tatbestand aufgenommen wäre, ermöglicht die Teilung des iter criminis, wenn wir den Brennpunkt der Aufmerksamkeit vom Handeln nach Vorschrift hin zur verbotenen Unterlassung verschieben. Die verschiedenen zeitlichen Phasen, die das inaktive Verhalten bis zu einem eventuellen Eintritt eines Erfolges, der als solcher dem Täter nicht zugeschrieben wird, durchlaufen kann, liefern nicht wenige Möglichkeiten, um eine Abgrenzung zwischen straflosen vorbereitenden Akten, dem Beginn des Versuchs, seiner Beendigung und schließlich der Vollendung des Unterlassungsdelikts in gewissen Fällen möglich zu machen. Was geschieht, ist, dass, obwohl die Norm teleologisch auf die Vermeidung des Eintretens des schädlichen Vorfalls ausgerichtet ist, der Gesetzgeber diesen nicht immer als typisches Element in die Struktur des Tatbestands einbindet.34 In diesem Sinne wird beispielsweise im Tatbestand der 33

Armin Kaufmann (Fn. 1) S. 233 f. Hier kann also eine angemessene Unterscheidung zwischen solchen echten Unterlassungsdelikten, die irgendwie vom Tatbestand her mit dem Eintritt eines Erfolges verbunden sind, und anderen, in denen dieser Umstand keine Rolle spielt, nur schwer vorgenommen werden, da die Unterscheidung zwischen Pflichten zu handeln und Pflichten, einen Erfolg zu vermeiden, in Wirklichkeit nicht vollkommen richtig ist, siehe Silva Sánchez (Fn. 28) S. 289 ff. Die Wahrheit ist, dass in der gleichen Weise gefragt werden kann, ob die Pflicht, einen Erfolg 34

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unterlassenen Hilfeleistung (Art. 195 CP), obwohl ihm der Wille des Gesetzgebers zugrunde liegt, die Erschwerung der Verletzungen oder den Tod des Opfers zu vermeiden, dieser Erfolg gesetzgebungstechnisch nicht in die Struktur des tatbestandlichen Verstoßes inkorporiert, indem die Unterlassung nicht als Nichtvermeidung des Todes oder der Verschlechterung der Gesundheit des Opfers konfiguriert wird, sondern einfach als ein im Unterlassen der Hilfe sich erschöpfendes Verhalten als solches. Dieser Umstand bildet die Übertretung als ein Delikt von echter Inaktivität aus, da ihm der typische Bezug auf einen Erfolg fehlt. Und dies bedingt, dass die Beendigung des Versuchs in diesem Tatbestand mit der Vollendung des Delikts zusammenfällt und dass die Intervention von Dritten, die den tatbestandlich irrelevanten Erfolg verhindert, oder die Festnahme des Täters, bevor dies geschieht, in jedem Fall dazu führt, dass der Verstoß vollendet worden ist. Anders liegen die Dinge hingegen bei dem Delikt des Art. 450 CP, der Nichtanzeige von Straftaten. Bei diesem geht es nicht nur in der Zielsetzung darum, den Eintritt eines Erfolges (die Ausführung eines Schwerverbrechens) zu vermeiden, sondern der Gesetzgeber entscheidet sich außerdem dafür, den Erfolg als typisches Strukturmerkmal in den Tatbestand zu inkorporieren.35 Die beiden Modalitäten des unterlassenen Verhaltens, die in der besagten Vorschrift enthalten sind, beziehen ausdrücklich den Erfolg, der verhindert werden soll, in die Verwirklichung des zu besorgenden Delikts, mit ein.36 Der Tatbestand hätte auch mittels bloßer Typisierung der Unterlassung als reiner Nichtanzeige der betreffenden Tatsachen ohne weiteren Bezug zur Begehung des anzuzeigenden Delikts formuliert werden können. Der Gesetzgeber entschied sich jedoch dafür, in den Tatbestand den Hinweis auf das Nichtverhindern der Begehung des Delikts (erster Abschnitt) bzw. die Unterlassung der Anzeige jener Begehung mit dem ausdrücklichen Zweck einzugliedern, dass der Staat und seine Organe die Begehung des Delikts verhindern (zweiter Abschnitt).37 Dieser Umstand macht – auch unsere eigene Haltung vorwegnehmend – deutlich, dass der beendete Versuch bei diesem Delikt unterscheidbar von der Vollendung sein kann zu vermeiden, denn etwas anderes darstellt, als die Pflicht zum Handeln, da ein Erfolg nur durch Letzteres vermieden werden kann. Und umgekehrt kann eine Pflicht zu handeln nur verstanden werden mit Blick auf das der Norm unterlegte Mandat zur Vermeidung einer Gefahr oder eines Schadens für ein beschütztes Gut. 35 Dagegen, aber zugebend, dass die Abfassung der Vorschrift zu dieser Interpretation verleiten kann Sola Reche (Fn. 8) S. 103 ff und Fn 223. 36 Analog geschieht dies mit § 138 Abs. 1 StGB, in dem ausdrücklich gefordert wird, dass die Anzeige „rechtzeitig“ getätigt wird. Dies ist in einem Moment, in dem „die Ausführung oder der Erfolg noch vermieden werden kann“. 37 Im Unterschied zur unterlassenen Hilfeleistung, bei der der Tatbestand nicht ausdrücklich fordert, dass die Hilfe zur Verhinderung des Todes oder einer Gesundheitsverschlechterung des Opfers führt.

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und dass keine Vollendung, sondern unbeendeter oder beendeter Versuch vorliegt, wenn der deliktische Plan freiwillig aufgegeben worden ist, tatsächlich umgesetzt wurde oder seine Ausführung durch Dritte vor oder in dem Augenblick ihres Beginns verhindert wurde. 38 An diesem Punkt angekommen, ist man geradezu gezwungen, die folgende Frage zu formulieren: Worin liegt dann die Unterscheidung zwischen den echten Unterlassungsdelikten mit typischem Bezug auf den Erfolg und den Begehungsdelikten durch Unterlassen, also den unechten Unterlassungsdelikten? Angesichts dessen, was uns hier interessiert, genügt es uns, dies aufzuzeigen, denn während der Erfolg in der echten Unterlassung für das Zurechnungsurteil keine Rolle spielt, bedingt er hingegen beim unechten Unterlassungsdelikt unmittelbar die Verantwortung des Unterlassenden. Und so gründet sich bei den ersteren, obwohl der Erfolg in dem beschriebenen Tatbestand inzident enthalten ist, die Verantwortung des Unterlassenden nicht auf der Herbeiführung eines Erfolgs, sondern einfach auf der strafbaren Unterlassung, die besonders typisiert ist.39 Hingegen ist es bei den unechten Unterlassungsdelikten gerade der Erfolg, der von Anfang bis Ende die Verantwortung des Unterlassenden bedingt. Die typische Qualifikation selbst hängt dort ab von dem Erfolg, der nicht vermieden wird, oder um den zu vermeiden hätte gehandelt werden müssen, und nicht von der eigentlich in Rede stehenden Unterlassung als solcher. Bei den echten Unterlassungsdelikten kann die Unterlassung selbst in die Stadien des Versuchs und der Vollendung unterteilt werden, während man bei den Begehungsdelikten durch Unterlassung das Bewirken des Erfolges in solchen Ausführungsgraden anrechnet.

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Dagegen, jedoch von der Schätzung der unvollkommenen Formen im Delikt des Art. 450 CP ausgehend Rubio Lara (Fn. 8) S. 226 (obwohl er nach einer Überarbeitung erkennt, dass die mehrheitliche Rechtslehre ja hier den Versuch zulässt, siehe S. 223); ebenso González Rus Curso II S. 473; ders. in: Derecho Penal Español, PE, S. 950. 39 Und, wie Gibernat Ordeig geschickt ausgeführt hat, ist die Hintergrundunterscheidung zwischen den unechten und echten Unterlassungsdelikten, dass diese Unterlassung bei den ersten die gleiche Behandlung erhält wie eine das Ergebnis verursachende Handlung, während bei den echten Unterlassungsdelikten „nur durch die Unterlassung der eventuelle Erfolg zu dieser zurückgeführt werden kann“, siehe Cobo del Rosal-Gimbernat Ordeig Comentarios al Código Penal, Band I, 1999, S. 412 f.

„Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“ Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten MICHAEL PAWLIK

Nach dem Urteil Roxins1 stellt die Lehre von den Garantenpflichten „das heute noch umstrittenste und dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“ dar. Diese Dunkelheit rührt nicht zuletzt aus einer Verkennung des ursprünglichen Anliegens jener Lehre her. Die Garantendiskussion hat ihre Wurzeln in einer allgemeinen pflichten- und staatstheoretischen Problematik: der Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten und der Frage, inwieweit letztere zum Gegenstand rechtlicher, zumal strafrechtlicher Regelungen gemacht werden dürfen. Erst das „Missgeschick der falschen Fragestellung“2 hat zu ihrer heutigen Verengung auf den Kreis der unechten Unterlassungsdelikte geführt (I.). Demgegenüber wird hier ein System der Garantenpflichten skizziert, das an die ursprüngliche legitimationstheoretische Fragestellung anknüpft: Auf welche Weise lassen sich strafrechtlich relevante Verpflichtungen begründen (II.)?

I. Zur Genealogie der Lehre von den Garantenpflichten 1. Die Auffassung Kants: Negative und positive Pflichten In seinem einflussreichen Naturrechtskompendium unterscheidet Gottfried Achenwall zwei Typen von Rechten und ihnen korrespondierenden Pflichten: „Ein Recht, soweit es mit einer positiven oder affirmativen Verbindlichkeit eines anderen verbunden ist, heißt affirmatives Recht, soweit mit einer negativen, negatives.“3 Den unterschiedlichen Pflichtinhalten korrespondieren Achenwall zufolge unterschiedliche Begehungsformen: Positive Pflichten seien Handlungspflichten, negative Pflichten Unterlassungs1

Roxin AT II § 32 Rn. 2. So – freilich mit gänzlich anderer Zielrichtung – Nagler GS 111 (1938), 1. 3 Achenwall/Pütter Anfangsgründe des Naturrechts, 1750, § 261 (S. 89). 2

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pflichten4. Kant übernimmt diese Parallelisierung von Pflichtenart und Begehungsform. In seiner Lehre von den Pflichten gegen sich selbst, die er im zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten“, der Tugendlehre, entfaltet, unterscheidet Kant negative Pflichten, welche auf die bloße Selbsterhaltung, und positive Pflichten, welche auf die Vervollkommnung seiner selbst gingen5. Die negativen Pflichten seien Unterlassungspflichten (sustine et abstine), die positiven Pflichten seien hingegen Begehungspflichten (viribus concessis utere)6. In der Tugendlehre bleibt die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten systematisch folgenlos. Anders sieht es im Bereich der Rechtslehre aus. Pufendorf7, Christian Wolff8 und, an diesen anknüpfend, das Preußische Allgemeine Landrecht9 nehmen noch unbedenklich eine Rechtspflicht des einzelnen an, zu tun, was die Wohlfahrt des Gemeinwesens befördere. Demgegenüber bezieht sich der kantische Rechtsbegriff, auch insoweit dem Vorbild Achenwalls10 und nicht zuletzt demjenigen Mendelssohns11 folgend, nicht auf „das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des anderen …, sondern lediglich auf die Willkür des anderen.“12 Unter dem Dach eines solchen Rechtsverständnisses ist lediglich für negative Pflichten Raum; Kants Ablehnung eines Notrechts legt ein beredtes Zeugnis dafür ab13. Da negative Pflichten nach der in der Tugendlehre hergestellten Verknüpfung von Pflichtenarten und Begehungsformen durchweg in der Gestalt von Unterlassungspflichten auftreten, scheint dem Recht nach Kants Konzeption die Statuierung von Handlungspflichten prinzipiell verwehrt zu sein. Eine derart formalistische Position hält jedoch nicht einmal Kant selbst durch. Dies zeigt sich etwa an seiner Vertragslehre. Durch den Vertrag erwerbe ich nach Kant „das Versprechen eines anderen“, mir eine bestimmte Leistung zu erbringen14. Indem ich die Handlungsfreiheit des anderen in Besitz neh4

Achenwall/Pütter (Fn. 3) § 261 (S. 89). Kant Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Weischedel, 1977, Bd. 7, S. 551. 6 Kant (Fn. 5) S. 551. 7 Pufendorf Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hrsg. v. Luig, 1994, I/3, § 9 (S. 48); II/18, § 4 (S. 211). 8 Wolff Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, hrsg. v. Hofmann, 2004, § 462 (S. 381). 9 Preuß. ALR Einleitung § 73. 10 Vgl. Achenwall/Pütter (Fn. 3) S. 79 (§ 229). 11 Mendelssohn Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, 1783, S. 36. 12 Kant (Fn. 5) S. 337. 13 Dazu im einzelnen Kühnbach Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007, S. 18 ff; Küper Immanuel Kant und das Brett des Karneades, 1999, S. 6 ff; Pawlik Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 18 ff. 14 Kant (Fn. 5) S. 386. 5

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me, erweitere ich meine eigene Handlungsmächtigkeit, während sich der Freiheitsbereich des Versprechenden entsprechend vermindert15; „ich bin vermögender (locupletior) geworden“16, er hat Vermögen eingebüßt. Wenn der Versprechende den Vertrag bricht, indem er mir die versprochene Leistung vorenthält, fügt er mir somit einen Schaden zu, nicht anders als derjenige, der mir mein Eigentum entwendet17. Die Verpflichtung, geschlossene Verträge zu halten, und die Pflicht, im Falle eines Vertragsbruchs Schadensersatz zu leisten, stehen somit auf derselben Stufe wie die Verpflichtung, fremdes Eigentum zu achten; in beiden Fällen handelt es sich um negative Pflichten. Erfüllt werden diese Verpflichtungen jedoch in der Regel durch positive Handlungen. Ebenso verhält es sich mit der von Kant ausdrücklich anerkannten rechtlichen Verantwortung der Eltern für das Wohl ihrer Kinder18: Mit Unterlassungen lässt sich hier nichts ausrichten, die Eltern müssen vielmehr in mannigfacher Weise aktiv tätig werden. Die Versorgungspflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern ist darüber hinaus auch unvereinbar mit Kants These, als Rechtspflichten kämen lediglich negative Pflichten in Betracht. Einige Zeitgenossen Kants lösen dieses Spannungsverhältnis zu Lasten der Kinder auf und behaupten, diese hätten keinen ursprünglichen Rechtsanspruch auf Unterstützung und Pflege 19. Andere Vertreter eines strikt negativen Rechtsbegriffs nehmen ihre Zuflucht zu der Annahme, dass die Eltern durch den Akt der Beiwohnung einen Vertrag zugunsten des Kindes abgeschlossen hätten20, bzw. zu der Erwägung, dass sie dieses durch Zeugung und Geburt in einen hilflosen Zustand versetzt hätten, aus dem sie ihm hernach heraushelfen müssten21. Den letzteren Gedanken macht sich sogar Kant zu eigen: Die Eltern hätten durch den Akt der Zeugung „eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht“; für diese Tat treffe die Eltern nun die Verbindlichkeit, die betreffende Person, „so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.“22 Auf den ersten Blick hat es zwar den Anschein, als operiere Kant hier der Sache nach mit der Begründungsfigur der Ingerenz und verbleibe damit im Rahmen eines am neminem laedere-Gedanken orientierten Rechtsverständ15

Kersting Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 297. Kant (Fn. 5) S. 386. 17 So ausdrücklich Pufendorf (Fn.7) I/6, § 5 (S. 73). 18 Kant (Fn. 5) S. 393 f. 19 v. Gros Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts, 1829, § 122 Anm. (S. 86 f); Schmid Grundriß des Naturrechts, 1795 (Neudruck 1973), § 202 (S. 90). 20 Mendelssohn (Fn. 11) S. 40. 21 Höpfner Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 1790, § 160 (S. 152); Meister Lehrbuch des Natur-Rechtes, 1808, § 421 (S. 363 ff). 22 Kant (Fn. 5) S. 394. 16

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nisses23. So verstanden, wäre die Überlegung Kants jedoch nicht haltbar. Der Ingerenzgedanke hat zur selbstverständlichen Voraussetzung, dass vor dem Eingriff des Täters ein Subjekt existierte, das sich eines relativ gefahrlosen Daseins erfreute. Das spätere Kind hingegen war vor seiner Zeugung schlechthin inexistent. Sobald es überhaupt als Person existierte, war es hilflos, abhängig und gefährdet. Dadurch, dass sie überhaupt auf die Welt gesetzt werden, verlieren die Kinder also nichts. Eine ausgleichungsfähige Einbuße erleiden sie – einmal geboren – allenfalls dadurch, dass staatliche Stellen es unterlassen, sie in ihre Obhut zu nehmen, weil sie den normativen Vorrang der Eltern respektieren, wie er in Deutschland in Art. 6 Abs. 2 GG festgeschrieben ist. Aber gleichgültig ob die Eltern oder der Staat tätig werden – in beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass das Kind ein vorgängiges Recht auf Fürsorge besitzt. Kants Begründungsansatz erweist sich mithin erst dann als sachgerecht, wenn man ein Recht des Kindes auf positive Zuwendung dem Grunde nach bereits bejaht hat: Wer wäre eher zur Sorge für die hilflosen Kinder berufen als diejenigen, die ihre Entstehung und Geburt zu verantworten haben?24 Aus Kants ursprünglichem Rechtsbegriff aber lassen sich ein solches Recht und die ihm korrespondierende Pflicht gerade nicht ableiten. Die zwei zentralen Thesen Kants – die Annahme einer Parallelität von Pflichtenart und Begehungsform sowie die Beschränkung des Rechtsbereichs auf negative Pflichten – lassen sich somit nicht halten. In einem Punkt aber verdient Kant Zustimmung: Eine spezifische Unterlassungsproblematik existiert für ihn nicht. Sein systematisches Interesse gilt der Frage, welche Pflichten ein Staat zwangsweise, und gar mit den Instrumenten des Strafrechts, durchsetzen darf; das Phänomen des Unterlassens nimmt er lediglich als Folgeproblem dieser pflichtentheoretischen Fragestellung in den Blick. Feuerbach, der heute allgemein – auch von Roxin25 – als Begründer der Garantendogmatik gefeiert wird, ist unglückseligerweise umgekehrt verfahren: Er hat die problematischen Züge der kantischen Lehre weitgehend beibehalten, die zutreffende Einsicht Kants hingegen verdrängt.

2. Die „besonderen Rechtsgründe“ bei Feuerbach In § 24 von Feuerbachs Lehrbuch überlagern sich auf wenigen Zeilen mehrere Argumentationsstränge. Sondert man in ihnen das Unproblematische vom Fragwürdigen, so fällt das Urteil über Feuerbachs Leistung erheblich kritischer aus, als es der üblichen Lesart entspricht. 23

Zur Herkunft der Ingerenz aus dem neminem laedere-Grundsatz siehe unter III.1. NK-Wohlers § 13 Rn. 59; Kühl AT § 18 Rn. 49. 25 Roxin AT II § 32 Rn. 3. 24

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Der Stellung des § 24 in dem Abschnitt über Begriff und Einteilung des Verbrechens entsprechend bemüht sich Feuerbach zunächst darum, die Existenz von Unterlassungsdelikten mit seinem Verbrechensbegriff zu harmonisieren. Da das Verbrechen eine Verletzung fremder Rechte darstelle26, setze das strafbare Unterlassen voraus, dass der Verletzte „ein Recht auf wirkliche Äußerung unserer Tätigkeit“ habe27: ohne Recht keine Rechtsverletzung. Über den Inhalt des Begriffs der Rechtsverletzung sowie über den Zusammenhang von Rechtsbegriff und Begehungsform ist mit diesem Befund freilich noch nichts ausgesagt. In diesen Fragen erweist Feuerbach sich als orthodoxer Kantianer. Mit Kant teilt er zum einen die Auffassung, dass das Recht, zumal das Strafrecht, grundsätzlich auf die Statuierung negativer Pflichten beschränkt sei: Eine verbrecherische Rechtsverletzung begehe, wer die Grenzen seiner eigenen rechtlichen Freiheit überschreite und fremde Freiheit verletze28. Von Kant übernimmt Feuerbach darüber hinaus auch die Gleichsetzung negativer Pflichten mit Unterlassungspflichten. Wenn er in § 2429 apodiktisch formuliert, die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers gehe nur auf Unterlassungen, so ist dies der begehungsformbezogene Reflex einer genuin pflichtentheoretischen Position. Für die Einsicht, dass negative Pflichten sich auch in der Gestalt von Geboten äußern können, ist deshalb bei Feuerbach kein Raum; die „Verbindlichkeit zur Begehung“ ist bei ihm vielmehr in toto außerhalb des ursprünglichnegativen Verpflichtungstyps angesiedelt. Da Feuerbach als Dogmatiker des positiven Rechts derartige Verbindlichkeiten aber auch nicht in Bausch und Bogen verwerfen kann – so weit ist, wie gesehen, nicht einmal Kant gegangen –, begnügt er sich damit, ihre Zulässigkeit vom Vorliegen eines „besonderen Rechtsgrund[es]“ abhängig zu machen30. „Ohne diesen wird man durch Unterlassung kein Verbrecher.“31 Feuerbachs Darlegungen sind somit nur verständlich vor dem Hintergrund einer kantisch-liberalen Rechtspflichtkonzeption32; sie werden jedoch gekleidet in das Gewand einer bereits zu Feuerbachs eigener Zeit überholten Begehungsformenlehre. Eine schwerwiegende Verzeichnung der legitimationstheoretischen Zusammenhänge ist die Folge. So umfassen Feuer26

Feuerbach Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 1847, § 21 (S. 45). 27 Feuerbach (Fn. 26) § 24 (S. 50). 28 Feuerbach (Fn. 26) § 21 (S. 45). 29 Feuerbach (Fn. 26) § 24 (S. 50). 30 Feuerbach (Fn. 26) § 24 (S. 50); in § 49 (S. 93) erwähnt Feuerbach als „besonderen Rechtsgrund“ darüber hinaus noch die „übernommene Amtsverbindlichkeit“. 31 Feuerbach (Fn. 26) § 24 (S. 50). 32 Ebenso Jakobs Strafrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 112.

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bachs „besondere Rechtsgründe“ sowohl negative Pflichten – aus Vertrag – als auch positive Pflichten ganz unterschiedlicher Provenienz und Qualität: einerseits die gesetzlich vorgeschriebenen Anzeige- und Beistandspflichten33, andererseits die Amtspflichten. Auf die Berechtigung dieser positiven Pflichten geht Feuerbach in § 24 mit keinem Wort ein, obgleich sie, wie gesehen, in einem prekären Verhältnis zu dem von ihm vorausgesetzten Rechtsbegriff stehen. Feuerbach gelingt insofern nur eine formale, nicht hingegen eine inhaltliche Integration der Unterlassungsdelikte in seine Verbrechenskonzeption. Stillschweigend ersetzt er die seine philosophischen Zeitgenossen umtreibende Rechtsgrundfrage – welche Pflichten lassen sich im Lichte des Rechtsbegriffs rechtfertigen? – durch eine schlichte Rechtsquellenfrage: Er beschränkt sich darauf, die unterschiedlichen Entstehungsgründe der einzelnen Pflichten zu benennen, geht aber auf deren materielle Dignität nicht ein. Die von Feuerbach begründete Auffassung wird, ergänzt um die Fallgruppen der „besonderen Rechtsverhältnisse“34 und die Ingerenz35, die nachfolgende Unterlassungsdogmatik tiefgreifend prägen. Ihren Geburtsfehler hat diese sogenannte formelle Rechtspflichttheorie freilich niemals abgelegt: Bei ihr handelt es sich um eine nicht einmal in sich überzeugende36 Aneinanderreihung einzelner Pflichtbegründungstatbestände, nicht hingegen um eine systematisch fundierte Pflichtenlehre. Feuerbachs Einfluss auf die weitere strafrechtswissenschaftliche Entwicklung erschöpft sich jedoch nicht in seiner Rolle als Urheber der Rechtspflichttheorien. Mit seiner Verschiebung der leitenden Fragestellung weg von der Pflichten- und hin zu einer Begehungsformenlehre gibt er der gesamten nachfolgenden Diskussion die Richtung vor. Zwar lebt die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten fort in einigen, von Merkel bis Goldschmidt reichenden Versuchen zur Abgrenzung „unechter“ (begehungsgleicher) und „echter“ Unterlassungsdelikte: Im ersten Fall hätten wir es mit einer Ausprägung der negativen Rechtspflicht des non laede zu tun, im zweiten hingegen mit einer reinen obligatio ad faciendum37 – deshalb ständen die echten Unterlassungsdelikte auf einer Stufe mit bloßen

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Einen Überblick über die zur Zeit Feuerbachs geltenden gesetzlichen Handlungspflichten gibt Spangenberg NACrimR 4 (1829), 534 f. 34 Spangenberg NACrimR 4 (1829), 535 ff. 35 Grundlegend Oersted Abhandlungen aus dem Gebiete der Moral- und GesetzgebungsPhilosophie, Bd. 1, 1818, S. 311 und Stübel Ueber die Theilnahme mehrerer Personen an einem Verbrechen, 1828, S. 61. 36 Vgl. nur Roxin AT II § 32 Rn. 10 ff. 37 Vgl. Merkel Zur Lehre von den Grundeintheilungen des Unrechts und seiner Rechtsfolgen, 1867, S. 78 f; Goldschmidt Das Verwaltungsstrafrecht, 1902 (Neudruck 1962), S. 344 Fn. 28, 545.

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Polizeivergehen38. Hauptsächlich aber kreisen die Auseinandersetzungen um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein (scheinbares) Unterlassen als Begehen qualifiziert werden könne. Die Folge ist, dass die Diskussion sich an Fragen von allenfalls sekundärer Bedeutung aufreibt – exemplarisch dafür ist der Streit um die Kausalität der Unterlassung, nach Lizsts Urteil39 „einer der unfruchtbarsten, welche die strafrechtliche Wissenschaft je geführt hat“ –, während sie die ursprünglichen Sachfragen zunehmend aus dem Blick verliert. Angesichts des Scheiterns aller Bemühungen, Unterlassungen zu Begehungen umzudeuten40, macht die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer sich in ihrem Bestreben, den in ihrer prinzipiellen Berechtigung nicht bezweifelten Strafbedürfnissen der Praxis41 Rechnung zu tragen, seit der Jahrhundertwende eine Position zu eigen, die Binding42 mit gewohnter Scharfzüngigkeit als „dogmatischen Pessimismus“ bezeichnet: Die Forderung nach einer Rückführung des Unterlassens auf ein Begehen wird durch eine weichere Deutung ersetzt, der zufolge bereits die materielle Gleichwertigkeit einer Unterlassung mit einer Begehung genügt, um den Begehungstatbestand auf sie anzuwenden. Als maßgebliches Kriterium dieser Gleichwertigkeit gilt das Vorliegen einer besonderen Rechtspflicht43. Ihre abschließende Formulierung erhält diese Auffassung 1938 bei Nagler. Den Inbegriff der Bedingungen, unter denen Passivität als „Handlungsäquivalent“44 erscheint, erblickt Nagler in der Garanteneigenschaft des Unterlassenden45. Dabei geht es ihm einzig und allein darum, ein durch die Fassung der positivrechtlichen Straftatbestände aufgeworfenes Subsumtionsproblem lösen zu helfen. Dass sich dabei bloß um einen Ausschnitt aus einem umfassenderen pflichtentheoretischen Fragenkreis handeln könnte, vermag Nagler sich nicht einmal mehr vorzustellen: Bereits ein Blick auf die Dogmengeschichte genüge, um zu erkennen, „daß, ganz einfach und eigentlich selbstverständlich, lediglich zu prüfen ist, ob … ein passives Verhalten der positiven Tä38

Merkel (Fn. 37) S. 97 f; Goldschmidt (Fn. 37) S. 344 Fn. 28, 545. v. Liszt/Schmidt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1932, S. 128. 40 Umfassend dazu Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 241 ff. 41 So spricht etwa M. E. Mayer AT S. 190 von der „evidenten Unrichtigkeit“ der Auffassung, dass in Ermangelung einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung Unterlassungen generell straflos seien; Nagler GS 111 (1938), 15 bezeichnet diese Ansicht als „praktisch unerträglich“. 42 Binding Die Normen und ihre Übertretung, Bd. II/1, 1914, S. 544. 43 Näher dazu Rudolphi Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 26 ff sowie Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 61 ff. 44 Nagler GS 111 (1938), 69. 45 Nagler GS 111 (1938), 59. 39

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tigkeit, worauf regelmäßig die Fassung der Verbrechenstatbestände hinweist, rechtlich gleichstehe.“46 Nachfolgend soll versucht werden, diese Engführung zu überwinden und die Weite der ursprünglichen Fragestellung wenigstens ansatzweise zurückzugewinnen.

II. System der Garantenpflichten Die Umrisse des gesuchten Systems der Garantenpflichten sind durch die bisherigen Überlegungen weitgehend vorgezeichnet. Die Hauptaufgabe des Rechts, zumal des Strafrechts, besteht darin, es den Bürgern zu ermöglichen, ihr Leben nach eigener Einsicht führen zu können. Dazu müssen sie sich zuvörderst darauf verlassen können, dass die Integrität ihrer Rechtssphäre von anderen Personen respektiert wird. Die strafrechtliche Grunderwartung an einen jeden Bürger, ja die „Grundnorm zwischenmenschlichen Verhaltens“ überhaupt47 geht deshalb dahin, er möge – in der Formulierung Hegels48 – den anderen lassen, wie er ist, das von ihm vorgefundene Integritätsniveau von dessen Rechtskreis also nicht verschlechtern (1.). Jedoch darf das Strafrecht den Bürgern in einem gewissen Umfang auch weitergehende Leistungen abverlangen: Sie müssen – teilweise kraft ihrer allgemeinen Bürgerrolle, teilweise kraft zurechenbar übernommener Sonderrollen – zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Staates sowie zur Gewährleistung anderer unverzichtbarer Realbedingungen personaler Existenz beitragen (2.).

1. Respektierung anderer Personen In einem System rechtlicher Respektierungspflichten ist die einzelne Person „vor Anmaßungen geschützt, nicht aber mit den anderen verbunden.“49 Eine Person schuldet der anderen deshalb lediglich „negative Mitmenschlichkeit“50; sie muss deren Rechtssphäre zwar „wie einen unübertretbaren Zauberkreis achten und sich … insoweit jedes Eingriffs … enthalten“51, braucht ihr aber nicht zu helfen52. „Es liegt im Begriff der (äußeren) Freiheit 46

Nagler GS 111 (1938), 1 f. Stratenwerth ZStW 68 (1956), 44. 48 Hegel Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 3 (Nachschrift Hotho), 1974, S. 194 f. 49 Jakobs FS Arthur Kaufmann, 1993, 461. 50 Kersting Der Markt – das Ende der Geschichte, in: Brieskorn/Wallacher (Hrsg.), Homo oeconomicus: Der Mensch der Zukunft?, 1998, S. 107. 51 F. v. Hippel Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930, S. 11. 52 Jakobs FS Roxin, 2001, 799. 47

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selbst, dass jeder die selbst zu verantwortende oder zufällige Erweiterung oder Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten für sich tragen muss.“53 Es wäre ein grobes Missverständnis, eine solche Formalisierung von Rechtsbeziehungen als inhuman oder gar zynisch abzutun. Im Gegenteil: Nicht nur liegt der „gleichheitsorientierte[n] Moral des Wegsehens“, die in jener Formalisierung zum Ausdruck gelangt, ein „unüberbietbar revolutionärer Ansatz“ zugrunde, weil sie alle Versuche delegitimiert, faktische Überlegenheit in rechtliche Privilegien umzumünzen54. Im Respekt manifestiert sich zudem die Achtung vor der Person des anderen in unmittelbarer Weise – und zwar gerade weil dieser andere „aus der Entfernung gesehen“ wird, „welche der weltliche Raum zwischen uns legt“55. Erst die Zurückdrängung von Solidaritätserwartungen eröffnet dem einzelnen die Chance, sein eigenes Leben zu führen, d. h. die von ihm gewählte Weise der Selbstdarstellung handelnd durchzuhalten56. Diese Unabhängigkeit ließe sich nämlich sonst nicht aufrechterhalten: „Wie käme der Eine denn dazu, immer wieder bei dem Nachbarn einspringen zu müssen, ohne das Recht zu haben, dessen unvernünftige Lebensgestaltung wirksam zu beeinflussen?“57 Die Respektierungspflicht äußert sich primär in Gestalt des Verbots, in fremde Rechtskreise einzugreifen, aber sie erschöpft sich nicht darin. Nach einer plastischen Kennzeichnung Samsons58 bezweckt sie eine „Vereinzelung des Rechtsguts“, das „von den Gefahren der Sozietät [befreit]“ werden soll. Der andere soll nicht schlechter stehen, als er stehen würde, wenn er überhaupt nicht mit mir zusammengetroffen wäre. Zur Abschirmung des anderen von Gefahren sind Neutralisierungsgebote nicht weniger bedeutsam als das Verbot aktiver Schädigungen. Diesen Zusammenhang hat niemand prägnanter zum Ausdruck gebracht als Adolf Merkel. Als letzter der bedeutenden strafrechtlichen Autoren des 19. Jahrhunderts stellt Merkel die pflichtentheoretische Problematik in den Mittelpunkt seiner Ausführungen zu den Unterlassungsdelikten. Mit Kant geht Merkel davon aus, dass „im Verhältnis der Einzelnen zu Einander im Allgemeinen … nur die negative Rechtspflicht begründet“ sei, „in die Sphäre der Andern nicht verletzend einzugreifen.“59 „Urheber verletzender Veränderungen innerhalb der Rechtssphäre des Andern“ sei indessen auch derjenige, welcher durch die 53

Köhler AT S. 282. Vgl. Kersting Internationale Solidarität, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität – Begriff und Problem, 1998, S. 416. 55 H. Arendt Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 1994, S. 238. 56 Dazu näher Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 41 f. 57 E. A. Wolff Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 39. 58 Samson FS Welzel, 1974, 594. 59 Merkel Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, Zweiter Teil, 1899, S. 89. 54

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gefährliche Organisation seines eigenen Rechtsbereichs60 oder die Übernahme einer bestimmten Tätigkeit61 die Integrität der Interessen des anderen von seiner Wirksamkeit abhängig gemacht habe und hernach diese Wirksamkeit nicht entfalte62. Insofern und insoweit, „als wir die Integrität des Andern in zurechenbarer Weise auf die Vornahme der entsprechenden Handlungen gestellt haben“, können uns Merkel zufolge deshalb auch Unterlassungen „für den Eintritt irgend welcher Verletzungen … verantwortlich machen.“63 Die obige Einsicht, dass negative Pflichten positive Handlungsgebote hervorbringen können, findet somit bei Merkel ihre Bestätigung. Die Neutralisierungsverpflichtung ist, obschon sie ihrem Adressaten positive Leistungen abverlangt, unter systematischen Gesichtspunkten deshalb gerade „keine ursprüngliche Pflicht, sondern erhält ihre normative Kraft erst durch die Abwehrrechte der Opfer“64; ihre materielle Haftungsgrundlage findet sie im Respektierungsgebot65. Die Quelle der zu Neutralisierungsbemühungen Anlass gebenden Gefährdung wird häufig ein unerlaubtes Verhalten sein (Kernbereich der Ingerenz). Zwingend ist dies allerdings nicht. Einer Rechtsordnung stehen zwei grundverschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, den Handlungsspielraum der einzelnen Bürger auszugestalten66. Entweder sie schneidet diesen Bereich zur Vermeidung möglicher Schäden von vornherein eng; dann kann sie es sich umgekehrt erlauben, strafrechtliche Haftung streng an ein pflichtwidriges Verhalten zu knüpfen. Oder aber sie räumt dem einzelnen Bürger einen weiten persönlichen Entfaltungsspielraum ein, muss aber zum Ausgleich differenziertere Verantwortungsregeln entwickeln. Unter Freiheitsgesichtspunkten vorzugswürdig – und angesichts der ganz herrschenden weiten Auslegung von Art. 2 Abs. 1 GG auch verfassungsrechtlich

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Siehe die Beispiele in Merkel (Fn. 59) S. 85. Merkel (Fn. 59) S. 81. 62 Merkel (Fn. 59) S. 90. 63 Merkel (Fn. 59) S. 81 f (Hervorhebung im Original). 64 Hoßfeld Tun und Unterlassen, 2007, S. 68. 65 Donner Die Zumutbarkeitsgrenzen der vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikte, 2007, S. 197; Gauger Die Dogmatik der konkludenten Täuschung, 2001, S. 203; Grünewald Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht, 2001, S. 133 f; Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 286; ders. JZ 1986, 988; Jakobs AT 29/29, 38; ders. FG BGH, 2000, 29 f; Jescheck/Weigend AT § 59 IV 4 a; Otto NJW 1974, 532; Pawlik (Fn. 56) S. 184; Perdomo-Torres Garantenpflichten aus Vertrautheit, 2006, S. 162; Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 55, 60 ff, 68 ff; AK-Seelmann § 13 Rn. 49; Stree FS H. Mayer, 1966, 155 f; Timpe Strafmilderungen des Allgemeinen Teils des StGB und das Doppelverwertungsverbot, 1983, S. 187; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 364; NK-Wohlers § 13 Rn. 34. 66 Grundlegend Otto NJW 1974, 533. 61

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geboten – ist die letztgenannte Alternative67 und damit die Einbeziehung qualifiziert gefährlicher rechtmäßiger Gefahrschaffungen in den Anwendungsbereich der Ingerenzverantwortlichkeit68. Im Hinblick auf die Verkehrspflichten ist die Einbeziehung rechtmäßig geschaffener Gefahren ohnehin allgemein anerkannt69. Kraft der Verkehrspflichten obliegt dem einzelnen Bürger die Neutralisierung nicht nur von Verhaltens-, sondern auch von Sachgefahren. „Jeder, der eine bestimmte Kraft entladet, deren Entladung nur dann für die Menschheit ungefährlich ist, wenn sie, einmal entladen, einer ständigen Regulierung unterworfen wird …, der muss sich neben sie stellen, um sie zu mäßigen, zu zähmen, der Menschheit schadlos zu machen.“70 Selbst wenn der Inhaber für den gefährlichen Zustand seiner Sache nichts kann, hat er neutralisierend einzugreifen. Wie § 903 S. 1 BGB exemplarisch zeigt, beinhaltet rechtliche Organisationsfreiheit nicht nur die Befugnis zu Gebrauch und Nutzenziehung, sondern auch (und nicht minder wesentlich) die Befugnis zur Ausschließung anderer Personen. Diesen bleibt nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass der Rechtskreis des anderen sich in einem ungefährlichen Zustand befindet. Wenn eine Lage eingetreten ist, in der jenes Sicherheitsvertrauen enttäuscht zu werden droht, so muss der Rechtskreisinhaber gleichsam den Preis für die Freiheit entrichten, die seine Befugnis zur Ausschließung anderer ihm bislang vermittelt hat. Weil er seine Rechtssphäre anders hätte organisieren können, während den anderen von vornherein die Rechtsmacht dazu fehlte, steht er bei normativer Betrachtung der Gefahr näher als sie. Dem entspricht auf seiner Seite die Zuständigkeit für Maßnahmen der Risikoneutralisierung71. Eine Respektierungspflicht kann sich schließlich auch aus dem Antritt einer Position ergeben, durch die jemand fremde Interessen „von einer Tätigkeit seinerseits in Abhängigkeit gebracht hat“72 (tatsächliche Übernahme). Wenn der andere sich im Vertrauen auf die ausdrücklich oder konkludent erklärte Bereitschaft zu einer Sicherung oder einer Rettung Blößen gegeben hat, die den Bestand seiner Güter in Gefahr bringen, muss der Urheber der 67

Ebenso Timpe (Fn. 65) S. 177. Systematisch naheliegend ist es, den Umfang der ingerenzbegründeten „Gebepflicht“ des Garanten an den Umfang des durch die Situation des Defensivnotstands begründeten „Nehmerechts“ des Bedrohten anzugleichen; näher Pawlik (Fn. 13) S. 316 f Fn. 136; ebenso Jakobs FG BGH, 2000, 47 f; ähnlich Roxin AT II § 32 Rn. 155 ff. 69 Darauf weist zu Recht Timpe (Fn. 65) S. 184 hin. 70 Kohler Studien aus dem Strafrecht, Bd. I, 1890, S. 59. 71 Ebenso Freund AT § 6 Rn. 26 f; Frister AT 22/24; Kühl AT § 18 Rn. 106; Otto AT § 9 Rn. 85; SK-Rudolphi § 13 Rn. 27; LK-Weigend § 13 Rn. 24, 48; Wessels/Beulke AT Rn. 723; NK-Wohlers § 13 Rn. 46. 72 Merkel (Fn. 59) S. 81. 68

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Erklärung kraft des Respektierungsgebots das von ihm zurechenbar bewirkte Schutzdefizit durch eigene Aktivitäten ausgleichen; das ursprüngliche Verletzungsverbot wandelt sich insofern auch für ihn in ein Verhinderungsgebot um73. Es ist das Verbot selbstwidersprüchlichen Verhaltens, das hier zu Lasten des Täters eingreift. Um des gemeinsamen Zwecks eines freiheitsförderlichen Rechtszustandes willen wird diesem die Option abgeschnitten, sich nach Belieben von seiner einmal erklärten Risikoübernahmebereitschaft loszusagen74. Die der Täterperson zugeschriebene Verhaltenskontinuität und Verhaltenskonsistenz verringert das Unsicherheitsmoment, das sozialen Beziehungen innewohnt, und ermöglicht dadurch überhaupt erst soziale Kooperation oberhalb des Niveaus einer Tauschgesellschaft75. Hegel bringt diese Zusammenhänge prägnant auf den Begriff. Kant verankert die Pflicht, abgegebene Versprechen zu halten, als Postulat der reinen Vernunft noch im kategorischen Imperativ 76 und damit letztlich in der Moralität der einzelnen Person77. Darauf mag Hegel nicht bauen. Die Pflicht, das gegebene Wort zu halten, ergebe sich „nicht aus moralischen Gründen, daß ich mir innerlich gleich bleiben, meine Gesinnung, Überzeugung und so fort nicht ändern solle.“ Dies könne ich zwar ändern; „aber mein Wille ist nur als anerkannter da, ich widerspreche nicht nur mir, sondern dem, dass mein Wille anerkannt ist.“78 Die Begründung Hegels lenkt den Blick auf die Wurzel sämtlicher Figuren der Zuständigkeitsbegründung: Sie legen die einzelne Rechtsperson auf die Ermöglichungsbedingungen ihres eigenen rechtlichen Anerkanntseins fest. Aus diesem Grund kann diese Person die ihr auferlegten Zuständigkeiten nicht zurückweisen, ohne sich selbst als Inhaber einer Sphäre rechtlich garantierter Organisationsfreiheit aufzuheben. Pflichterfüllung ist der Preis der Freiheit79.

2. Gewährleistung grundlegender Realbedingungen personaler Existenz Eine selbstbestimmte Lebensführung ist ein höchst voraussetzungsreiches Projekt. Neben stabilen äußeren Verhältnissen, die eine Verfolgung langfristig angelegter Planungen überhaupt erst zulassen, erfordert sie eine ge73 Grundlegend für die neuere Diskussion Stree FS H. Mayer, 1966, 151 ff; ebenso Roxin AT II § 32 Rn. 55. 74 Pawlik (Fn. 56) S. 129; Perdomo-Torres (Fn. 65) S. 174. 75 Luhmann Soziologische Aufklärung 6 (Die Soziologie und der Mensch), 1995, S. 149 ff. 76 Kant (Fn. 5) S. 385. 77 Liebsch Gegebenes Wort oder gelebtes Versprechen, 2008, S. 105. 78 Hegel Jenaer Systementwürfe III, hrsg. v. Horstmann, 1987, S. 211 (Hervorhebung im Original). 79 Jakobs ZStW 117 (2005), 261.

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wisse Grundausstattung mit materiellen Gütern und nicht zuletzt einen beträchtlichen Wissensstand sowie die Fähigkeit zur rationalen Bildung von Präferenzen und deren geordneter Verwirklichung. Ohne physische, psychische und moralische Handlungs- und Selbstmächtigkeit, ohne eine gewisse ökonomische Basissicherheit können die klassischen Bürgerrechte in den Worten Kerstings80 „nicht die Bedeutung gewinnen, die sie nach der Vorstellung des Liberalismus für die Gestaltung autonomer Lebensführung und individueller Selbstwertbildung besitzen.“ Das System der Respektierungspflichten deckt nur einen verhältnismäßig geringen Teil dieser Voraussetzungen ab. Wie Kersting81 über Kants Rechtsbegriff bemerkt, beschränkt es sich darauf, eine „Selbstschutzgemeinschaft der Handlungsmächtigen“ zu konstituieren, ohne aber auf die Ermöglichungsbedingungen dieser Handlungsmächtigkeit einzugehen. Ein solches System vermag, für sich genommen, die Realität personaler Freiheit nicht zu gewährleisten; eine Reihe von überpersonalen, gleichsam infrastrukturellen Rahmenbedingungen muss hinzukommen. Zur deren Erhaltung haben kraft ihrer Mitverantwortlichkeit für den Zustand konkret-realer Freiheitlichkeit, unter dessen Schutz sie leben82, alle Bürger beizutragen. Die entsprechenden Garantenstellungen kann man, in Anlehnung an Seelmann83, „Voraussetzungs-“ oder, mit Jakobs84, institutionell begründete Zuständigkeiten nennen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von dem Pflichtigen nicht nur die Wahrung der Integrität eines vorgegebenen Rechtsbestandes, sondern dessen Erweiterung, nicht lediglich Respektierung, sondern Verbesserung verlangen85. Zahlreiche der in diese Kategorie fallenden Verpflichtungen sind tatbestandlich verselbständigt. Das Spektrum der betreffenden Pflichten reicht von der Steuerpflicht (vgl. § 370 AO) über die Zeugenpflicht (vgl. §§ 153 ff StGB) bis hin zur Pflicht zu einem achtsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen (vgl. §§ 324 ff StGB). Diese Ausprägungen der allgemeinen Bürgerpflicht werden von den herkömmlichen Garantenlehren mit keinem Wort gewürdigt und in einer weit entfernten Schublade des Strafrechtsdenkens, der Rechtsgutslehre, abgelegt. Nach hiesigem Verständnis geht es dagegen in beiden Bereichen, wenngleich auf unterschiedlichen Konkretisierungsebe80

Kersting Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000, S. 394. Kersting (Fn. 15) S. 98. 82 Dazu Pawlik Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 82 ff. 83 Seelmann GA 1989, 256. 84 Jakobs AT 29/28, 57 ff. 85 Freilich ist in dem Gebot der Fürsorge das Verbot von Schädigungen mitenthalten. „Wer positiv zum Aufbau einer gemeinsamen Welt verpflichtet ist und die negative Institution verletzt, verstößt damit zugleich auch gegen die positive Institution“ (Sánchez-Vera [Fn. 65] S. 98 f). 81

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nen, um ein und dieselbe Frage: Wie sind Grund und Grenzen der strafrechtlichen Inanspruchnahme von Bürgern innerhalb einer freiheitlichen Strafrechtsordnung zu bestimmen? Die allgemeinen Bürgerpflichten werden ergänzt durch Garantenpflichten kraft zurechenbar übernommener Sonderrollen. Diese können sich zum einen aus der Übernahme einer Tätigkeit innerhalb der staatlichen Organisation ergeben. Sofern der Staat eine besondere Rechtsmacht über eine Person begründet hat, muss er, repräsentiert durch seine Amtsträger, dafür Sorge tragen, dass dieser Person das dem betreffenden Sonderrechtsverhältnis entsprechende Maß an Schutz und Fürsorge zuteil wird86. Soweit der Kernbereich staatlicher Aufgaben in Rede steht, existierten strafrechtlich relevante Garantenpflichten staatlicher Amtsträger darüber hinaus auch gegenüber solchen Bürgern, die in keinem speziellen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat stehen87. So trifft den Polizeibeamten eine strafrechtlich sanktionierte Pflicht zur Verhinderung von Straftaten88, stellt doch die Erwartung an die Staatsorgane, strafbaren Übergriffen auf Rechtspositionen der Bürger entgegenzutreten, den innersten Kern staatlicher Aufgaben dar 89. Im Unterschied zum Fall der tatsächlichen Übernahme steht diese Pflicht der Amtsträger nicht unter dem Leitgedanken der Kompensation eigenen Gefährdungsverhaltens, sondern unter demjenigen der Mitwirkung an den staatlichen Kernaufgaben Ordnungswahrung und Daseinsvorsorge. Die bei der tatsächlichen Übernahme im Einzelfall zu ermittelnde Preisgabe anderweitigen Schutzes haben die Bürger in ihrem Verhältnis zum Staat nämlich schon durch ihr Sich-Unterstellen unter die Rechtsordnung als solches vollzogen90. Deshalb bestimmen sich die Erwartungen an den Amtsträger ohne Blick auf die zufälligen Bedingungen, die er bei Antritt seiner Position vorfindet; insbesondere kommt es nicht darauf an, ob durch den Antritt der Position ein anderweit bestehender Schutz ausgeschaltet oder verringert wird91. 86

Dies ist unstreitig; vgl. nur Roxin AT II § 32 Rn. 85. Ob die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe zuständigkeitsbegründend in diesem Sinne ist, wird nicht selten umstritten sein (näher Hüwels Fehlerhafter Gesetzesvollzug und strafrechtliche Zurechnung, 1986, S. 145 ff; Jakobs AT 29/76 ff). Diese Unsicherheit spiegelt jedoch in erster Linie die in modernen, nach einem Ausdruck aus der Systemtheorie (Willke Die Ironie des Staates, 1996, S. 216 ff) „polyzentrisch“ verfassten Gesellschaften unvermeidlichen Kontroversen über die Freiheitsbedeutung bestimmter politischer Anliegen und – eng damit verknüpft – über die Funktion des modernen Staates wider. Das Vorhandensein einer „Grauzone“ ergibt sich, so gesehen, primär aus der spezifischen Beschaffenheit des Referenzobjektes der hiesigen Theorie – des der modernen Gesellschaft adäquaten Staates – und stellt keinen Mangel der Theorie selbst dar. 88 BGHSt 38, 388 (389 ff); Roxin AT II § 32 Rn. 93. 89 Waldhoff Staat und Zwang, 2008, S. 53. 90 Pawlik ZStW 111 (1999), 346; ebenso Roxin AT II § 32 Rn. 93. 91 Pawlik ZStW 111 (1999), 348 Fn. 50. 87

„Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“

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Zum anderen kann es Privatpersonen kraft ihres Vorverhaltens obliegen, der Hilflosigkeit eines anderen zu wehren und diesen gegebenenfalls zur Selbständigkeit (zurück) zu führen. Die Verpflichtungen dieses Typs bilden gleichsam den Preis dafür, dass der Staat sich aus dem betreffenden Lebensbereich zurückzieht und – beschränkt durch einen Eingriffsvorbehalt in Fällen offenkundigen Versagens – dessen Autonomie respektiert. Der wichtigste dieser Fälle ist das Eltern-Kind-Verhältnis92. Das Gleiche gilt, wenn mehrere Personen sich (insbesondere durch den Akt der Eheschließung) gegenseitig versprechen, einander im Fall schwerwiegender Risiken beizustehen. Verhältnisse dieser Art weisen eine versicherungsähnliche Struktur auf: Im Unterschied zu der Konstellation der tatsächlichen Übernahme, in der die Rollenverteilung zwischen dem Übernehmer und dem Schutzbedürftigen von vornherein feststeht, ist es hier ungewiss, welcher der Beteiligten gegebenenfalls von einer Hilfeleistung profitieren wird; alle sind sowohl potentiell Begünstigte als auch potentiell Verpflichtete. Vor allem aber geht es in diesen Fällen nicht lediglich um eine Kompensation für einen zuvor innegehabten Sicherheitsstand; Sinn und Zweck der Vereinbarung ist vielmehr eine allen Partnern zugute kommende Verbesserung des bisherigen Sicherheitsniveaus. Derartige Verhältnisse trotzdem anhand der Grundsätze über die Respektierungspflichten zu beurteilen (und sie damit auf eine Verantwortlichkeit für abwehrbereitschaftsentziehendes Vorverhalten zu beschränken)93, würde ihrer normativen Struktur eklatant zuwiderlaufen 94. Eine wirklichkeitssensible Verbrechenslehre kommt vielmehr nicht umhin, ihnen durch eine weiter geschnittene, eigenständige Garantenpflicht Rechnung zu tragen. Damit findet die hiesige Skizze einer aus der Aufgabenbestimmung des Strafrechts abgeleiteten Garantenlehre ihren Abschluss. Auf dem Boden eines freiheitlichen Rechtsverständnisses stehend, sucht sie Prinzipientreue und Praktikabilität zu vereinen. Möchten diese Anliegen ihr das Interesse des verehrten Jubilars zuwenden!

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Die strafrechtliche Verantwortung der Eltern für ihre (minderjährigen) Kinder ist unbestritten; vgl. nur LK-Weigend § 13 Rn. 26; S. Böhm Garantenpflichten aus familiären Beziehungen, 2006, S. 29 ff. 93 So aber im Ergebnis Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rn. 41 f und SK-Rudolphi § 13 Rn. 55 (für die Gefahrengemeinschaft) sowie AK-Seelmann § 13 Rn. 137. 94 Freilich muss das gegenseitige Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis tatsächlich bestehen. Deshalb endet die Garantenpflichtigkeit der Ehegatten füreinander mit der Trennung (BGHSt 48, 301; Roxin AT II § 32 Rn. 50).

III. Besonderer Teil des Strafrechts

„Sträflicher Leichtsinn“ oder strafbarer Betrug? – zur rationalen Kriminalisierung der Lüge – JÜRG-BEAT ACKERMANN

I. Grenzen des Betrugs: Schweiz – Deutschland Der schweizerische Betrug nach Art. 146 chStGB verlangt die arglistige Irreführung.1 Hinter dieser Formulierung steht die Forderung, dass nicht geschützt werden soll, wer „sich mit einem Mindestmass an Aufmerksamkeit selbst hätte schützen“ bzw. „den Irrtum durch ein Minimum an zumutbarer Vorsicht hätte vermeiden können“.2 Relativ leicht überprüfbare Täuschungen begründen in der Schweiz kein Betrugsunrecht3 – Leichtsinnige und Faule werden nicht geschützt.4 Diese Strafbarkeitsbeschränkung infolge Eigenverantwortung des „Opfers“ stößt in Deutschland mitunter auf harsche Ablehnung: „Das hieße ja, dass man straflos da täuschen darf, wo der andere aufpassen sollte.“5 Selbst offensichtlichste Täuschungen (Frischzellen1 Zur teilweise undurchsichtigen Gesetzgebungsgeschichte Bommer/Venetz in: Luminati/Linder (Hrsg.), Gericht und Kodifikation. Einblicke in die Anfänge der Rechtsprechung zum ZGB und zum StGB, 2007, S. 161 ff; ferner Cassani ZStrR 1999, 154 Fn. 12. 2 So jedenfalls die Interpretation des Schweizerischen Bundesgerichts seit BGE 72 IV 128 bzw. 99 IV 78; vgl. auch Hurtado Pozo Droit pénal, Partie spécial, Rn. 1178 f; Stratenwerth/Jenny/Bommer BT I § 15 Rn. 17 m. w. N.; Cassani ZStrR 1999, 155; vgl. auch Corboz Les infractions en droit suisse, Vol. 1, S. 304 Rn. 17. 3 Braun FP 2010, 104, gar aus staatsanwaltlicher Sicht: „Nicht jede beliebige Täuschung im Geschäftsverkehr als strafrechtlich relevant zu qualifizieren, erscheint rechtspolitisch vernünftig, ja geradezu notwendig“. Zur Sozialkonvention bei der Erklärungsdeutung bestimmter Verhaltensweisen bzw. zum Thema Tatsachen vgl. Stratenwerth/Jenny/Bommer BT I § 15 Rn. 7 ff, insbes. Rn. 11 und 14. 4 Krieger FP 2010, 172; Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 7 ff, insbes. Rn. 10; abgeschwächter Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 51; vgl. aber Arzt recht 2000, 114, wonach jener gemäß Art. 146 chStGB keinen Schutz erfährt, der „allzu leichtsinnig auf eine Lüge hereinfällt“. 5 Stuckenberg ZStW 118 (2006), 897 (u. a. gar im Rahmen lausiger Phishing-E-MailFälschungen). A. M. BGHSt 47, 1 (9 f): „Allerdings gehört es nicht zum vom Betrugstatbestand geschützten Rechtsgut, sorglose Menschen gegen die Folgen ihrer eigenen Sorglosigkeit zu schützen“; bemerkenswert auch Beschluss des LG Frankfurt/Main vom 5.3.2009, MMR 2009, 421 (Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens).

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verjüngungskur – angeblich entwickelt von einem Schweizer Schönheitschirurgen – garantiert bereits bei der ersten Anwendung mindestens fünf Jahre Verjüngung, Haarverdoppelung binnen zehn Minuten usw.) sind in Deutschland tatbestandsmäßige Täuschungshandlungen.6 Der strafrechtliche Kulturrelativismus drängt zur Frage, ob sich hinter dieser Normdifferenz kulturelle Unterschiede verbergen? Geht es bei den radikalen Reaktionen aus Deutschland gegen jede Form von Lüge weniger um den Schutz des Vermögens, als um den Schutz einer Geschäftsmoral? Und dies, obwohl es vielleicht ein sicheres moralisches Fundament für solche Urteile nicht gibt. Versteht man in der Schweiz gewisse Formen der Aufschönung beim Anbieter und vor allem der Selbsttäuschung und Illusion beim Kunden – ganz im Sinne von Jean-Paul Sartre – als Ausdruck von individueller Freiheit? Hat diese Freiheit und als Gegenpart die Eigenverantwortung in der Schweiz allgemein einen höheren Stellenwert, weshalb man bestimmte Täuschungsformen gerade nicht als sozialschädlich und damit nicht als strafwürdig auffasst? Hält man deshalb die normative ultima ratio des Strafrechts höher und stellt in einfachen Täuschungsfällen andere, primär zuständige, rechtliche Steuerungsmechanismen in den Vordergrund? Alles Fragen, die in diesem Rahmen unbeantwortet bleiben müssen, ebenso die Frage nach der Legitimität des (derzeit oft erschreckend polemisch eingesetzten) Rückgriffs auf kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz. Zunächst einige Beispiele zur Verdeutlichung des Problems: Weshalb soll sich eine Rechtsanwältin auf Betrug berufen können, die eine einfache Liegenschaft ihrer verstorbenen Eltern im Kanton X zum Verkauf ausschreibt, von einem „Scheich“ als angeblichen Käufer nach Mailand zu einem Treffen eingeladen wird, dort allerdings kein Interesse mehr an der Liegenschaft bekundet wird, sondern statt dessen an einem Bargeldwechselgeschäft Euro gegen Schweizer Franken – bei welchem dann nur Faksimile-Banknoten völlig ungeprüft übergeben werden? Thema ist hier der Rip-Deal.7 Oder weshalb soll ein Geschäftsführer eines mittelgroßen Unternehmens staatlichen Strafrechtsschutz genießen, der mit sogenannten Anlagediamanten als „härteste Währung der Welt“ beworben wird, wenn auch unterlegt mit vagen Geld-zurück-Versprechungen, wenig aussagekräftigen Echtheitszertifikaten und bloß angekündigten und damit völlig unsicheren Rückkaufgarantien zu höherem Kurs – er diese Diamanten aber nicht ein einziges Mal bei Experten prüfen lässt, die (praktisch inexistenten) Marktchancen für Diamanten nie erfragt und dennoch immer mehr Steine hinzukauft? Die Rede 6

Zum Fallrecht Wittig Wirtschaftsstrafrecht § 14 Rn. 16 und 24. Näheres unter http://www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home/aktuell/warnungen/geldwechsel betrug.html (zuletzt besucht am 20.11.2010). 7

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ist von Diamantenbetrug.8 Und weshalb soll die Post strafrechtlich geschützt werden, wenn dem Postangestellten beim Geldbezug im Rahmen der flüchtigen Identitätskontrolle anhand eines Ausweises nicht auffällt, dass es sich beim Vorzeiger nicht um den Berechtigten handelt?9 Was rechtfertigt den Schutz des Liegenschaftenverwalters, der einem Mietantrag mit komplett aus der Luft gegriffenen Angaben ohne jede Überprüfung „vertraut“ und dem völlig mittellosen Antragsteller ein Einfamilienhaus vermietet?10 Wer würde sich nicht – im Sinne einer moralischen Sollensordnung – für das Ende des Lügens aussprechen wollen? Zu gerne wird daher auch im Strafrecht vom belogenen Irrenden und seinem Schaden her argumentiert. Sowohl Art. 146 chStGB als auch § 263 Abs. 1 dStGB machen aber das täuschende Verhalten zur Bedingung für einen darauf beruhenden Irrtum, was umgekehrt ausschließt, die betrugsrelevante Täuschung aus dem Irrtum herzuleiten.11 Kurz: Nicht überall, wo ein Irrtum ist, ist auch eine (arglistige) Täuschung.12 Einige „Opfer“ handeln aus purem Leichtsinn, aus Spielfreude, gekoppelt mit Gier, und gehen dabei ein viel zu hohes wirtschaftliches Risiko ein (ganz oder beinahe unabhängig davon, welche Täuschung dahinter steht), was schon die Frage des Motivationszusammenhangs von Täuschung, Irrtum und Vermögensdisposition aufwirft. Stellt man auch in diesen Fällen allein auf die Lüge ab, reduziert man die Verantwortung weitgehend auf einen moralischen Vorwurf. Rational betrachtet, kann eben gerade beim Betrug ein bestimmt gelagertes Opfermitverschulden den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz ganz ausschließen,13 was in der Schweiz über das zusätzliche Element des arglistigen Täuschens zum Ausdruck gebracht wird. Umgekehrt kann freilich auch nicht jeder, der täuscht und im Regel8 Ähnlich http://www.baden-online.de/news/artikel.phtml?page_id=&db=news_lokales& table=artikel_ortenau&id=14322 (Verteidiger waren der Auffassung, die mit den Anlegern in der Schweiz getätigten Geschäfte seien nach schweizerischem Recht nicht strafbar) (zuletzt besucht am 20.11.2010); http://www.landgericht-baden-baden.de/servlet/PB/menu/1207751/ index.html?ROOT=1175607 (zuletzt besucht am 20.11.2010); http://www.agriedlingen.de/ servlet/PB/menu/1208233/index. html?ROOT=-1 (zuletzt besucht am 20.11.2010). 9 Arglistige Täuschung verneint: Bezirksgericht Zürich vom 4.11.2010 (DG100319), NZZ vom 5.11.2010, Nr. 258, 20. 10 Arglistige Täuschung verneint: BGer 6B_748/2008 vom 16.2.2009 E. 2; ähnlich Urteil SK-Nr. 2006/512 der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 8.3.2007. 11 Für die Schweiz statt vieler Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 14; für Deutschland BGHSt 47, 1 (10); Beschluss des LG Frankfurt/Main vom 5.3.2009, MMR 2009, 421 (Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens); ferner Wittig Wirtschaftsstrafrecht § 14 Rn. 20. 12 Zum richtigen ex-ante- gegenüber dem falschen ex-post-Standpunkt auch Vogel in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 107 Fn. 69. 13 Vgl. auch Arzt MschrKrim 1984, 115 ff.

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fall darauf hofft, dass die Täuschung nicht aufgedeckt wird, als arglistig Täuschender angesehen werden.14 Arglist verlangt mehr als diese Hoffnung. Nachfolgend interessiert nur der Fall des belogenen Leichtsinnigen (bspw. des hochspekulativen Anlegers, des Kreditgebers bei deutlich mangelhafter Liquiditätsprüfung, die kontrollnachlässige Fürsorgebehörde usw.). Der Betrug gegenüber schwächeren, „inferioren“ Geschäftspartnern (bspw. infolge Alters, Behinderung usw.) ist etwas grundlegend anderes, weshalb er hier nur am Rande zur Sprache kommen soll.15

II. Lüge als Realität und Freiheit Der Grundgedanke der eigenverantwortlichen Beschränkung des Betrugs steht auch in der Schweiz nicht völlig außer Zweifel,16 weshalb zunächst immerhin zwei wesentliche Aspekte zu erörtern sind.

1. Täuschung als Gesetz des Marktes (Transaktionskostentheorie) In der Wettbewerbswirtschaft ist es üblich, dass eine Partei überlegenes Wissen besitzt und auch nutzt; die Unternehmen sind heute schon deshalb auf Aufschönung, Verstellung und Blendung angewiesen, weil sich viele Produkte allein über ihre Qualität nicht mehr voneinander abheben. Die ökonomische Transaktionskostentheorie lehrt uns daher zwei Verhaltensannahmen: beschränkte Rationalität und Opportunismus.17 Entsprechend handeln Vertragspartner zunächst infolge kognitiver Aufnahme- und Verarbeitungsgrenzen sowie kommunikativer Probleme im Ergebnis nur unvollkommen rational, obwohl sie (möglicherweise) ein rationales Verhalten anstreben.18 Welche Rationalität aber soll das Betrugsstrafrecht in den subtilen Abgrenzungsbereichen schützen, wenn der Vertragsabschluss irrationale Fundamente hat (die teilweise für rational angesehen werden) und deswegen mangelhafte Produkte gekauft oder zu hohe Preise bezahlt werden? Die Annahme des Opportunismus unterstellt den Akteuren, dass sie sich gegenüber ihren Vertragspartnern strategisch verhalten, also versuchen, ihre Inte14

Vgl. auch Pesch SJZ 1970, 324. Grundlegend dazu Cassani ZStrR 1999, 165 ff. 16 Vgl. nur Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 51. 17 Entwickelt von Nobelpreisträger Oliver E. Williamson (UC Berkeley), vgl. Williamson The Economic Institutions of Capitalism, Firms, Markets, Relational, Contracting, 1985, S. 32: „Organize transactions so as to economize on bounded rationality while simultaneously safeguarding them against the hazards of opportunism. Such a statement supports a different and larger conception of the economic problem than does the imperative ‚Maxime profits!‘“ 18 Vgl. Williamson (Fn. 17) S. 45 f. 15

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ressen durchzusetzen und dabei auch vor List, Tücke und Täuschung nicht zurückschrecken.19 Diese Annahme gilt beim Betrug nach der Ansicht von Arzt und Ellmer teilweise auch für das Opfer, das sich nicht selten selbst an der Grenze der Illegalität bewegt oder diese gar überschreitet.20 Pures Gewinnstreben kann das Opfer auch leichtsinnig machen,21 worauf die Transaktionskostentheorie ebenfalls hinweist. Danach gehören, vereinfacht gesprochen, Täuschungen offenbar zum derzeitigen Wirtschaftssystem, weshalb man sich darauf einigen muss, welches Maß an Täuschung man zulassen will oder vielleicht gar muss, und wer die Kosten für die Vertragsfreiheit (bzw. für die daraus resultierenden Nachteile) einerseits oder jene für die Durchsetzung eines strafrechtlichen Verbots andererseits zu tragen hat. Fraglich ist auch, welche Prävention und Täterermittlung effizienter ist: jene der direkt Betroffenen oder jene der Strafverfolgungsbehörden.22 Hier kommt das „Prinzip der Eigenverantwortung“ ins Spiel. Sollten wir den Lügner und Täuscher nicht vermehrt als Spieler begreifen, der das Spiel der Wirtschaft spielt, dessen Spielregeln primär im Zivil- und Lauterkeitsrecht zu finden sind? Platz für das Strafrecht ist somit nur dort, wo es nicht mehr lediglich um diese Spielregeln geht, da es grundsätzlich nicht Aufgabe des Strafrechts ist, zivilrechtliche Regeln zu verstärken. Verlangt ist darüber hinaus eine gewisse Sozialgefährlichkeit.

2. Täuschung als Gesetz der Konsonanz (Konsonanztheorie) Lüge und Täuschung können Vertrauen vernichten. Beide können aber auch kommunikativ gewollt sein; sie wirken schon bei subtiler Selbsttäuschung regelmäßig bestätigend und können Vertrauen aufbauen und stärken. Dies lehrt uns unter anderem die Konsonanztheorie. So wird namentlich in der Geschäftswelt regelmäßig auf Konsonanz gespielt, d. h. man bestätigt die Position des Gegenübers. Deshalb gilt als Grundregel für den Verkäufer: „(L)oben Sie den Hund des Kunden“.23 Man sollte hinzufügen, „auch wenn es sich um einen schrecklich unerzogenen ‚Köter‘ handelt“. Der Rezipient – hier der Hundehalter – will Konsonanz. Er will seine eigene Position bestätigt erhalten, selbst oder gerade wenn sie auf falscher Selbst19

Vgl. Williamson (Fn. 17) S. 47 ff. Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 59; Ellmer Betrug und Opfermitverantwortung, 1986, S. 269 f; aktuell BGer 6B_446/2010 vom 14.10.2010 E. 8. 21 Thommen ZStrR 2008, 30. 22 Vgl. Arzt MschrKrim 1984, 110 ff; ferner Cassani ZStrR 1999, 174; eingehend Ellmer (Fn. 20) S. 243 ff. 23 Zum Ganzen Gallandi in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, V 1 Rn. 61. Zu Strategien der Lüge und der Verstellung glänzend Eco Tra menzogna e ironia, 1998, S. 1 ff (in toto). 20

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wahrnehmung basiert. Der Käufer belügt zunächst sich selber und will entsprechend belogen werden. Hier spielt wiederum das „Prinzip der Eigenverantwortung“ hinein. Selbstlüge lässt sich als eine Form der Freiheit begreifen, die allerdings auch selbst verantwortet sein will. Dabei geht es nicht um ein Erziehungskonzept.24 Es geht einzig um die Frage, ob die Fremdlüge oder die Selbstlüge den Fall dominiert. Es wäre also übereilt, bei jeder Form der leicht durchschaubaren Täuschung zu sagen, dass sich die vom Täuschenden gesetzte Gefahr realisiert und der Täuschende das Risiko des Irrtums beim „Opfer“ zu tragen hat.25 Es gibt auch das Risiko der Selbstlüge und das Risiko des Leichtsinns, der Selbstüberschätzung oder der Gleichgültigkeit, wobei all diese und ähnliche Formen ineinander übergehen können. Hier geht die Gefahr nicht primär vom Täuschenden, sondern vom Selbsttäuschenden, vom Leichtsinnigen, vom Gleichgültigen aus. Wer zu raschem Geld kommen will (die Rede ist nicht von Notsituationen), gibt sich selbst bei höchst risikoreichen Geschäften gerne einer Art Kontrollillusion hin. Das kann auch für Personen gelten, die sich seit Jahren höchst erfolgreich im Finanzmarkt bewegen, in einer gewissen „Renditeverblendung“ die Gefahren unterschätzen und Geschäfte ohne die nötigen Sicherheiten abschließen. Die Selbstlüge, die Kontrollillusion, der Leichtsinn, die Gleichgültigkeit, der spontane Gewinnkick oder ein Zusammenspiel dieser Faktoren sind mitursächlich für so manches Mittun beim „Betrug“. Der rationale strafrechtliche Umgang mit der Lüge muss also auch von der Tatsache ausgehen, dass hinter einem Irrtum Ursachen der Selbsttäuschung stehen können, weshalb es für ein dogmatisches und kriminalpolitisches Betrugskonzept jedenfalls naheliegt, sowohl die Täuschungsintensität als auch die Selbstschutzmöglichkeiten bzw. die Selbstverantwortung des Opfers einzubeziehen. Zudem macht es die Gemengelage in Vertragsverhandlungen oft schwierig festzustellen, was den Ausschlag für eine Vermögensverfügung gegeben hat bzw. ob diese tatsächlich auf einen Irrtum zurückgeht und nicht etwa auf persönliche Nähe, Sympathie, Konsonanz, Emotionalität, Unkenntnis oder Ahnungslosigkeit.26 Gerade in Fällen leicht durchschaubarer Täuschung ist es offensichtlich, dass andere Faktoren als diese Täuschung den Ausschlag für den Vertragsabschluss gegeben haben, auch wenn sich das über die anderen Faktoren „enttäuschte“ Opfer ex post 24

Kritisch zu diesem Konzept Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 63; auch Arzt recht 2000, 118 (wobei ungeklärt ist, ob die Lerneffekte im Markt und jene im Strafsystem vergleichbar sind); ferner Cassani ZStrR 1999, 174; Thommen ZStrR 2008, 19 f. 25 So aber Paschke Der Insertionsoffertenbetrug – Eine Untersuchung zur Strafbarkeit des Versendens von rechnungsähnlich aufgemachten Vertragsangeboten als Betrug im Sinne des § 263 StGB, 2007, S. 227. 26 Grundlegend Gallandi in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, V 1 Rn. 56 ff.

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nur zu gerne auf dieses Tatsachen-Täuschungsquäntchen berufen will. Die getäuschte Person kann aber auch derart fixiert sein, dass der Anbieter für sie die einzig wahre Informationsquelle darstellt. Wird diese Überzeugungshaltung nachgerade ausgenutzt, dürften wir es mit betrugsrelevanter Verhaltensweise zu tun haben. Glaubt umgekehrt der Täuschende an seine Geschichte (Selbsttäuschung des Täuschenden), geht er selber nicht von einer Täuschung aus, weshalb die Strafbarkeit mangels Vorsatz entfallen muss.27

3. Täuschungsfreibereich Nach dem Gesagten steht außer Zweifel, dass ein absolutes Täuschungsverbot28 systemische und individuelle Freiheiten in unzulässiger Weise beengen würde – es braucht Täuschungsfreibereiche. Die Handlungsfreiheit des Individuums und der Markt wären zu sehr eingeschränkt, wenn jede offensichtlichste Übertreibung, Verstellung oder Schönung als betrugsrelevante Täuschung qualifiziert würde. Zudem wäre das Recht des Einzelnen auf Selbsttäuschung und Illusion zu sehr beschnitten, wenn jede „Fremdlüge“ strafrechtlich untersagt würde.29

III. Erlaubte und verbotene Lüge in der Schweiz 1. Eigenverantwortung als Programm Das liberale und das soziale Prinzip stehen sich in der Schweiz integrativ gegenüber. Die Eigenverantwortung darf nie in Rücksichtslosigkeit ausarten. Und das Recht auf Hilfe setzt stets die vorangehende zumutbare Selbsthilfe voraus.30 In jüngerer Zeit nimmt das Bundesgericht beim Betrug aus27

So wurde gegen den Autor des mehrfach preisgekrönten Buches „Bruchstücke“ keine Anklage erhoben, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass er wirklich davon überzeugt war, in einem Konzentrationslager aufgewachsen zu sein, obwohl dies offenbar nicht der Wahrheit entspricht (siehe http://www.nzz.ch/2002/12/12/zh/newzzd9mmpi8t-12_1.446213. html, zuletzt besucht am 20.11.2010). 28 Zum Betrug als Delikt gegen die Wahrheit in der NS-Zeit Grau Sozialadäquate Geschäftstüchtigkeit oder strafbarer Betrug?, 2009, S. 64 f. 29 Zum erlaubten Verkauf von Illusionen Arzt FS Hirsch, 1999, 447 f; zur vermögensbezogenen Handlungsfreiheit des Täters Wittig Das tatbestandsmäßige Verhalten des Betrugs, 2005, S. 381: Es wäre nicht sachgerecht, „eine betrügerische Täuschung stets dann zu bejahen, wenn die Ausnutzung des Wissensvorsprungs durch den Täter kausal für die Selbstgefährdung oder schädigung des Opfers geworden ist“. 30 Zum Ganzen Mastronardi Verfassungslehre, 2007, Rn. 53 f mit Hinweis auf Art. 6 und Art. 12 BV. Vgl. auch Ehrenzeller-Mastronardi-Schweizer-Vallender-Häberle Die schweizerische Bundesverfassung, 2008, Art. 6 Rn. 10 („Grundwerte-Artikel“): „Art 6 ist ein Mosaikstein im ‚Menschenbild‘ der neuen BV und zugleich ein Stück Selbstverständnis der Schweize-

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drücklich auf die (wirtschaftliche) Eigenverantwortung Bezug31 und setzt damit – zumindest programmatisch – Art. 146 chStGB Grenzen.32

2. Interaktionsparadigma contra Angriffsparadigma Beim Thema Betrug ist nach wie vor das „Angriffsparadigma“ vorherrschend: Der Erstagierende ist der Angreifer und Verantwortliche, der Zweitagierende der Verletzte und zu Schützende.33 Darin liegt wohl ein Teil der Rest-Skepsis des Bundesgerichts gegenüber der Opferselbstverantwortung begründet34. Geschädigte Gläubiger werden indes in ihren Vermögensrechten primär durch das Privatrecht (Art. 28 OR) geschützt, weshalb das Strafrecht nach dem ultima ratio-Prinzip erst dann eingreifen darf, wenn die Allgemeinheit diese Sache nicht mehr nur als Privatsache betrachtet, sondern die Rechtsordnung als solche beeinträchtigt ist. Ferner legen die Ausführungen zur „Lüge als Realität und Freiheit“ (oben Ziff. II.1. und 2.) eine interaktionistische Betrachtung jedes Geschäftsvorgangs nahe, mit der Folge, dass das Recht rational betrachtet gewisse Verantwortungsbereiche des an der Täuschung beteiligten „Opfers“ (Selbstschädigungsdelikt) von der Reichweite des Betrugstatbestands ausnehmen muss.35 Dadurch wird das Opfer aber nicht zum „Täter“ gemacht, 36 es hat nur die außerstrafrechtliche Verantwortung außerstrafrechtlich geltend zu machen. Die Ausdrücke „sträflicher Leichtsinn“, was eine Täterschaft des leichtsinnigen Opfers impliziert, oder „Interaktionsdelikt“,37 was so viel heißen kann, als würden Täter und Opfer interaktiv delinquieren, sind daher missverständlich. Das Strafrecht schützt als fragmentarisches Schutzrecht nur jene, die im risikorischen Eidgenossenschaft“; Aubert-Mahon-Mahon, Petit Commentaire de La Constitution fédérale de la Confédération Suisse, 2003, Art. 6 N 1 ff. 31 BGer 6B_716/2007 vom 29.4.2008 E. 4.3; aufgenommen von BGE 135 IV 79, 81, 83 (15.12.2008); ferner BGer 6B_748/2008 vom 16.2.2009 E. 2.4; BGer 6B_147/2009 vom 9.7.2009 E. 1.6; BGer 6B_46/2010 vom 19.4.2010 E. 4.2; BGer 6B_12/2010 und 6B_18/2010 vom 17.6.2010 E. 7. 32 Einfachgesetzlich via Arglistkriterium, vgl. auch Arzt MschrKrim 1984, 112; Braun FP 2010, 104. Zum Prinzip der Eigenverantwortung beim deutschen Betrugstatbestand Rengier FS Roxin, 2001, 820 ff. 33 Zum Abschied vom „Angriffsparadigma“ trefflich Wittig (Fn. 29) S. 1 ff (in toto), insbes. S. 325; zur Interaktion schon Ellmer (Fn. 20) S. 269 f; implizit, aber klar für das „Angriffsparadigma“ Braun FP 2010, 104 f; Hurtado Pozo Droit pénal, Partie spécial, Rn. 1187; Stuckenberg ZStW 118 (2006), 897; wohl auch Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 63, 67; vgl. demgegenüber Arzt MschrKrim 1984, 108 ff, 112 ff, 115 ff. 34 Zur Skepsis Thommen ZStrR 2008, 27 f. 35 Wittig (Fn. 29) S. 405 f (Zusammenfassung); vgl. auch Cassani ZStrR 1999, 153, 155; deutlich auch Braun FP 2010, 104. 36 Ebenso Thommen ZStrR 2008, 28. 37 Vgl. Thommen ZStrR 2008, 17, 39.

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reichen Geschäftsverkehr eine gewisse Sorgfalt walten lassen (sofern sie dazu in der Lage sind)38 – so will es das verfassungsrechtliche Programm der Eigenverantwortlichkeit. Dass dabei die gleiche Täuschungshandlung (und damit die gleiche „kriminelle Energie“) gegenüber dem einen Geschädigten als Betrugshandlung und gegenüber dem andern als strafrechtlich irrelevant beurteilt werden kann, verunsichert nur jene, die auch beim Betrug am Angriffsparadigma festhalten.39 Verbindet man indes die Eigenverantwortlichkeit mit der Rechtsgleichheit, muss der strafrechtliche Schutz nach Maßgabe der ungleichen Selbstschutzmöglichkeiten ungleich garantiert sein.40 Das so verstandene Interaktionsparadigma zeigt auch, dass beim Betrug das Argument, es gäbe im Strafrecht keine Schuldkompensation41 bzw. die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ließe es nicht zu, gewisse Täuschungen nicht zu berücksichtigen, an der Sache vorbeigehen. Handelt der Täter außerhalb des tatbestandsmäßigen Verantwortungsbereichs, also nach schweizerischem Recht nicht arglistig, setzt er keine tatbestandsmäßige Handlung und damit kein Unrecht, weshalb es auch keine Schuld zu kompensieren gilt.42

3. „Arglist-Modell“ als „Modell der Nicht-Überprüfbarkeit“ Die schweizerische Lehre anerkennt grundsätzlich die viktimodogmatische Deutung des Bundesgerichts von Art. 146 chStGB.43 Regelmäßig bestimmt auch sie die Arglist unter Einbezug des Opfers, teilweise mit ausdrücklichem Rekurs auf die Opfermitverantwortung. 44 Begrifflich wird 38 Vgl. auch Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 7; Cassani ZStrR 1999, 153. 39 So offenbar Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 63, 67; wie hier aber Cassani ZStrR 1999, 154 f; Cimarolli Anlagebetrug, 2000, S. 181 ff; Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 10, wonach die Kritik am Kriterium der Zumutbarkeit der Überprüfung auf einer übertrieben subjektivistischen Betrachtungsweise beruhe. 40 Differenzierend bei Banken als Opfer Thommen ZStrR 2008, 30 f; vgl. aber BGer 6B_12/2010 vom 17.6.2010, E. 7.5.1. 41 So BGE 6S.167/2006, 6S.219/2006 vom 1.2.2007, E. 3.4. 42 Ackermann in: Fellmann/Poledna (Hrsg.), Aktuelle Anwaltspraxis 2007, S. 828 f. 43 Cassani ZStrR 1999, 155 ff; Corboz Les infractions en droit suisse Vol. I S. 304 Rn. 18 ff; Donatsch Strafrecht III S. 199 ff; Hurtado Pozo Droit pénal, Partie spécial, Rn. 1177 ff; Stratenwerth/Jenny/Bommer BT I § 15 Rn. 17 ff; Stratenwerth/Wohlers Art. 146 Rn. 6; Thommen ZStrR 2008, 33 (m. w. H.), 39; Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 7 ff; zu Art. 148 alt-chStGB Schubarth/Albrecht Kommentar zum schweizerischen Strafrecht Art. 148 Rn. 35 ff. 44 Zur Opfermitverantwortung ausdrücklich Donatsch Strafrecht III S. 200 f, 204; Ackermann/D’Addario Di Paolo in: Fellmann/Poledna (Hrsg.), Aktuelle Anwaltspraxis 2009,

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dabei überwiegend mit den Arglist-Fallgruppen gearbeitet,45 die das Bundesgericht vor über 60 Jahren erstmals in den Grundzügen entworfen und seither konsequent weiterentwickelt hat. Die Ausführungen unter Ziff. II dürften die Notwendigkeit einer Einschränkung der strafbaren Täuschung beim Betrug plausibel gemacht haben. Erstaunlich ist allerdings, dass sich gerade das Kriterium der arglistigen Irreführung hierfür so lange halten konnte. Das Geheimnis liegt im bundesgerichtlichen Prüfungsprogramm, welches weitgehend allen früheren und derzeitigen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wird und begrifflich auf einer anpassungsfähigen Definition beruht.46 Arglistige Täuschung wird danach bejaht, wenn dem Geschädigten die Überprüfung (1) nicht möglich, (2) nur mit besonderer Mühe möglich, (3) nicht zumutbar war, (4) wenn der Täuschende das Opfer von der Überprüfung abhält oder (5) der Täter nach den Umständen voraussieht, dass das Opfer nicht überprüfen wird. 47 Das maßgebliche, weitgehend stabile Arglist-Kriterium ist für das Bundesgericht die Nicht-Überprüfbarkeit der Richtigkeit der Angaben der Gegenpartei. Dies galt früher nur für die einfache Lüge, gilt nunmehr aber weitgehend auch für Machenschaften48 und Lügengebäude49. Wer rechtswissenschaftliche Lösungen stets mit höchster Abstraktion, reinstem Prinzipiendenken und strikter Logik gleichsetzt, ist enttäuscht. Von pragmatischem Funktionalismus lässt sich bei der schweizerischen Lösung aber schon deshalb nicht sprechen, weil eine sämtliche arglistige Täuschungsformen (durch kommunikative Einwirkung auf das Opfer, durch Manipulation der Wirklichkeit, durch Unterlassung) umfassende Definition nicht zu leisten ist.50 Ferner erzeugt nur jene Stufe strafrechtsdogmatischer Abstraktion Wirkungskraft, die aussagekräftig ist und zugleich viel EinzelS. 1109; vgl. auch Cassani ZStrR 1999, 155; zum Leitgedanken der Opfermitverantwortung bei restriktiver Tatbestandsauslegung Arzt MschrKrim 1984, 106 ff; zurückhaltender Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 63. 45 Überblick in BGE 135 IV 79 ff. 46 Ausgezeichnete Analyse bei Cassani ZStrR 1999, 174 a. E. 47 Detailliert zur Kasuistik Cassani ZStrR 1999, 155 ff; Thommen ZStrR 2008, 20 ff; Donatsch Strafrecht III S. 199 ff; Hurtado Pozo Droit pénal, Partie spécial, Rn. 1184 f; Stratenwerth/Jenny/Bommer BT I § 15 Rn. 17 ff; Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 7 ff; vgl. auch Ackermann/D’Addario Di Paolo (Fn. 44) S. 1107 ff; Ackermann Aktuelle Anwaltspraxis 2005, S. 650 ff m. w. N.; zum Fallrecht der Überprüfungspflicht der Sozialhilfebehörde (leicht erhältliche Unterlagen, Internetrecherche, Datenschutzproblematik) Krieger FP 2010, 172 f. 48 Vgl. BGE 128 IV 20 f; ferner Humbel Subventionsbetrug, 2008, S. 62; Donatsch Strafrecht III S. 201; differenzierend Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 55. 49 Vgl. BGE 126 IV 171 f. Es genügt die Aufdeckung auch nur einer einzigen Lüge, die zum Zusammenbruch des gesamten Lügengebäudes führt, vgl. Humbel (Fn. 48) S. 62; Ackermann (Fn. 47) S. 655 ff. 50 Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 52.

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fallgerechtigkeit vorweisen kann, was wiederum bedeutet, dass sie von einem mehrheitsfähigen Grundgedanken getragen sein muss. Entsprechend ist die in Lehre und Praxis für die arglistige Täuschung verwendete disjunktive Definition der konjunktiven überlegen, wie Puppe im Sinne einer allgemeinen Regel so trefflich aufzeigt.51 Der merkmalsarme Begriff der arglistigen Täuschung wird mit alternativen Fallgruppen (und mit der Zufügung „oder“) gefasst. Kann in einem konkreten Fall etwa gesagt werden, dass der Täuschende den Geschädigten von einer Überprüfung abhielt, ist die Sache arglistig. Die Prüfung der anderen Alternativen erübrigt sich. Zudem lässt sich eine weitere Gruppe hinzufügen, ohne die bisherigen Alternativen in ihrer Anwendung einzuschränken. Die konjunktive Definition (die „und“-Definition) der arglistigen Täuschung wäre dagegen viel zu unbestimmt bzw. abstrakt, wollte man alle Alternativgruppen integrieren. Die schweizerische Konzeption ist auch inhaltlich durchdacht, weil sie wie kein anderes Modell mit dem Kriterium der Erkennbarkeit bzw. Überprüfbarkeit den Realfaktor des Wissensvorsprungs auf Seiten des Anbieters und der Pflicht zur Information auf Seiten des Abnehmers im wirtschaftlichen Wettbewerb aufnimmt. Damit bildet sie die Gegebenheiten des Geschäftsverkehrs mit den entsprechenden Bereichen von Selbstverantwortung ab und genügt dem strafrechtlichen Subsidiaritätsprinzip.52 Einige Alternativen sind weitgehend deskriptiv und daher recht exakt. Vorab bei den problematischen Wertungsbegriffen der „besonderen Mühe“ und der „Zumutbarkeit“ arbeitet das Bundesgericht – lege artis – mit einem Typusbegriff.53 D. h. in je höherem Maße das abstufbare Merkmal der Täuschungsintensität erfüllt ist, in desto geringerem Maß muss das andere abstufbare Merkmal des Selbstschutzes des Geschädigten erfüllt sein. 54 Eine Entscheidungsanleitung lautet daher: „Je enger die Bindung und je größer der Wissensvorsprung des Täters zum Opfer objektiv sind, desto eher ist eine arglistige Täuschung zu bejahen.“55 Die arglistige Täuschung wird also seitens des Täuschenden durch die Intensität der Täuschungslist, seitens des Geschädigten durch den zumutbaren Selbstschutz zur Erkennung und Überprüfung der Täuschung bestimmt; beide Aspekte beeinflussen sich wechselseitig. So gesehen ist die allgemeine Leitlinie, „je weiter verbreitet und je bekannter eine betrügerische Masche würde, desto strafloser würde sie“, jedenfalls in den Fällen ohne inferiore Opfer nicht paradox, 56 sondern gelun51

Puppe Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 35 ff. Vgl. auch Wismer Das Tatbestandselement der Arglist beim Betrug, 1988, S. 88. 53 Puppe (Fn. 51) S. 38 ff. 54 BGE 135 IV 76 ff; vgl. zum Ganzen auch Ackermann/D’Addario Di Paolo (Fn. 44) S. 1109 f. 55 Wismer (Fn. 52) S. 59. 56 So aber Stuckenberg ZStW 118 (2006), 897. 52

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gener Ausgleich von liberalen und sozialen Prinzipien. Das Bundesgericht macht auch klar, dass ein Täter, der nicht die mangelnden Geisteskräfte, sondern den offensichtlichen Leichtsinn des Opfers zur Irreführung missbrauche, nicht strafwürdiger erscheine als derjenige, der durch eine einfache Lüge zum Ziel gelange – was Straflosigkeit nach sich zieht.57 Thommen58 wies darauf hin, dass das Schweizerische Bundesgericht den momentanen Leichtsinn gerne zu einem Dauerdefekt des Opfers uminterpretiere oder zur Schaffung klarer Verhältnisse die arglistige Täuschung dramatisiere. Zweifellos darf die Wertungsfrage nur am Sachverhalt herausgearbeitet werden. Ein Entscheid wird nicht überzeugender, je einseitiger er ausfällt, sondern je gründlicher er sich in seiner Begründung auch mit den Sachverhaltselementen auseinandersetzt, die gegen das eigene Ergebnis sprechen. Fehlen klare Inferioritäten, sind Indizien gegen Arglist bspw. (1) ein Opening mit ungewöhnlichen Tatobjekten, die nicht begutachtet oder geschätzt werden, (2) besonders nachteilige, überraschende, suspekte Verträge, (3) ein Opfer, das sich nicht umfassend dokumentieren oder informieren lässt, (4) das ausgesprochen fachkompetent ist, (5) das trotz dubioser Umstände sich nicht von Dritten beraten lässt, (6) wenn ein Widerrufsrecht oder Sicherungen fehlen und (7) wenn gar das Loading ungesichert oder ohne jede vorgängige Gewinnrealisierung erfolgt. Das Bundesgericht beurteilt die Ex-ante-Überprüfparkeit (d. h. vor Bestehen eines Irrtums) aus einer individuellen Opferoptik mit dem tiefen Sorgfaltsmaß der Leichtfertigkeit.59 Die Rechtsfrage lautet jeweils: Wäre es der getäuschten Person angesichts aller täuschungsrelevanten Umstände unter Beachtung der grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen möglich gewesen, 57 Vgl. nur BGE 135 IV 80 m. H. auf BGE 99 IV 78; sehr klar auch Cassani ZStrR 1999, 168: „Keine besondere Schutzbedürftigkeit liegt … vor, wenn der Täter die ihm bekannte Leichtsinnigkeit oder Risikofreudigkeit des Opfers oder seine Gewinnsucht und Habgier ausnützt. Bekanntlich sind Menschen dann besonders leicht hinters Licht zu führen, wenn sie selber auf einen schnellen und mühelosen Profit hoffen und dabei womöglich sogar glauben, selber den Täter oder Dritte zu übervorteilen. Das Opferverschulden ist in so gelagerten Fällen dermaßen hoch zu werten, dass im Allgemeinen von Arglist nicht mehr gesprochen werden kann, es sei denn, das Opfer sei nach Wissen des Täters nicht in der Lage gewesen, das von ihm eingegangene Risiko zu erkennen.“ (Hinweise vom Verfasser entfernt); vgl. auch Härri plädoyer 4/1998, 29. 58 Thommen ZStrR 2008, 29 f; zu diesem Vorgehen auch Ackermann (Fn. 42) S. 831; harsche Kritik an den viktimologischen Ansätzen liefert Stuckenberg ZStW 118 (2006), 896 (demgemäß litten die meisten an „theoretischer Unterbestimmtheit und korrespondierender Maßstabsarmut“) mit Hinweis auf Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 52 ff, 124 ff, 148 f und Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 11 f, 62. 59 Cassani ZStrR 1999, 163; Donatsch Strafrecht III S. 199 f; Hurtado Pozo Droit pénal, Partie spécial, Rn. 1180; Krieger FP 2010, 171; vgl. auch Cimarolli (Fn. 39) S. 181 ff; Ackermann (Fn. 47) S. 650 ff.

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durch Überprüfung der Angaben die Täuschung zu erkennen? Somit lässt sich gedanklich an die Fahrlässigkeitsdogmatik60 und an den dortigen Sorgfaltsbegriff anknüpfen. Grundvoraussetzung ist die Erkennbarkeit der Täuschung und die Überprüfbarkeit der Aussage. Dabei ist nicht eine rein objektive (durchschnittlich begabter, vorsichtiger, vernünftiger, erfahrener Dritter), sondern eine (hypothetisch-)individuelle Betrachtung anzustellen (Opfer mit seiner Kenntnis, Fähigkeit, Erfahrung usw.). Mit diesem rechtspolitisch klugen Maßstab sind auch intellektuell oder psychisch schwächere, notleidende oder sozial unterlegene Opfer geschützt.61 Staatsanwaltschaften und Gerichte haben die Inferiorität des konkreten Opfers in jedem Fall detailliert abzuklären bzw. nachzuweisen, denn in Zweifelsfällen gilt in dubio pro reo. Wie beim Fahrlässigkeitsdelikt darf indes die Zuschreibung der Überprüfbarkeit und Erkennbarkeit der Täuschung nicht zu leicht angenommen werden, sonst erscheint die Schutzlosigkeit des Opfers als „Schicksal“, fördert die Solidarisierung mit ihm und lässt den Entscheid als inakzeptabel erscheinen.62 Das heißt also: „Wer am Geschäftsverkehr teilnimmt, darf nicht leichtsinnig, muss aber auch nicht besonders misstrauisch sein“.63 Entsprechend entfällt der strafrechtliche Schutz nicht bei jeder Fahrlässigkeit des Opfers, sondern nur bei Leichtfertigkeit.64 Diese muss freilich nicht ein solches Ausmaß annehmen, dass die Täuschung völlig in den Hintergrund tritt.65 Das Gesetz verlangt vielmehr die arglistige, also die schwer durchschaubare und nicht bloß die einfache Täuschung.66 Im Rahmen einfacher Täuschungen steht das den Täuschungsfreibereich einengende Argument, im Strafrecht gäbe es keine Schuldkompensation, nicht zur Verfügung.67 Die Eigenverantwortlichkeit verlangt bei selbstschädigendem Verhalten vom Opfer vielmehr, dass es sich „vor der Gefährdung oder Beschädigung eigener Güter durch Unachtsamkeit“ selber schützt. 68 Die Ausführungen in Ziff. II. verdeutlichten zudem, dass bspw. in Fällen von Selbsttäuschung, Illusion, Leichtsinn, Gleichgültigkeit oder Faulheit die Eigenverantwortung auch greifen muss, wenn die Täuschung nicht völlig in 60

So schon im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung Ellmer (Fn. 20) S. 284 ff. Cassani ZStrR 1999, 165 ff; Cimarolli (Fn. 39) S. 182. 62 Zum Problem beim Fahrlässigkeitsdelikt Trechsel-Trechsel/Jean-Richard Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 12 Rn. 38 a. E. 63 Trechsel-Trechsel/Crameri Schweizerisches Strafgesetzbuch Art. 146 Rn. 7. A. M. aus deutscher Sicht Stuckenberg ZStW 118 (2006), 897, der freilich den Unterschied zwischen Leichtsinn und permanentem Misstrauen verkennt. 64 Vgl. nur BGer 6B_12/2010 vom 17.6.2010 E. 7.5. 65 A. M. Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 147 Rn. 57, vgl. auch 58, 71. 66 Statt vieler Arzt MschrKrim 1984, 112: „Nicht jede Täuschung, sondern nur eine … schwer durchschaubare, listige Täuschung führt zum Betrug“. 67 Oben Fn. 42; vgl. aber Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 63. 68 Wittig (Fn. 29) S. 381. 61

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den Hintergrund tritt. Und selbst aufwändige, dominante Täuschungen i. S. eigentlicher Lügengebäude oder Machenschaften können anhand klarer Täuschungsanzeichen insgesamt oder anhand einzelner Lügen oder Tricks relativ leicht durchschaut werden. Handelt das Opfer grob fahrlässig, handelt es insoweit eigenverantwortlich, als es sich – sofern zumutbar – für ein gefahrloses Verhalten hätte entscheiden können. Zusammenfassend lauten die Prüfungsschritte bei der Täuschungshandlung nach Art. 146 chStGB wie folgt: (1) Überprüfbarkeit der Richtigkeit der Angaben der Gegenpartei durch das Opfer unter (2) Abwägung von Täuschungsintensität und Opferselbstschutzmöglichkeit (3) auf Basis einer (hypothetisch-)individuellen Opferoptik und der (4) Leichtfertigkeit des Opfers als Sorgfaltsmaß.

IV. Deutsche Entwicklung – Schweizer Rückgewinn? Deutschland rezipiert gelegentlich Entwicklungen aus dem schweizerischen Strafrecht (bspw. die Aufgabe des fortgesetzten Delikts69 oder das Unerfahrenheitskriterium beim Wucher70). Dieser Beitrag gibt Anlass dazu, die deutsche Lehre nach entsprechenden Rezeptionsleistungen beim „Tathandlungsansatz“ bzw. anderen nahen Entwicklungen beim Betrug zu befragen, die möglicherweise den Rest von Irrationalität im Umgang mit der „Betrugslüge“ noch verringern könnten. Trotz oder infolge möglicher Wortlaut- bzw. Wortsinngrenzen von § 263 dStGB wird in der deutschen Lehre mit erheblichem wissenschaftlichen Aufwand um die Einschränkung des Betrugstatbestandes gerungen.71 So 69

Schönke/Schröder-Stree/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 52 ff Rn. 31. Wo nach Schönke/Schröder-Heine § 291 Rn. 25 die Praxis des schweizerischen Bundesgerichts auch Deutschland den Weg weist. 71 Vgl. nur Naucke Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 163 ff; ders. FS Peters 1974, 109 ff; Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 45 ff; R. Hassemer Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, 1981, S. 1 ff; Joecks Zur Vermögensverfügung beim Betrug, 1982, S. 54 ff; Arzt MschrKrim 1984, 112 ff; ders. FS Hirsch 1999, 431 ff; Kurth Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 1984, S. 175 ff, 183 ff, 194 ff; Ellmer (Fn. 20) S. 281 ff, 287 ff; Gonzáles in: Schünemann (Hrsg.) (Fn. 12) S. 115 ff; Petropoulos Die Berücksichtigung des Opferverhaltens beim Betrugstatbestand, 2005, S. 1 ff; Wittig (Fn. 29) S. 205 ff, 331 ff; Lindenau Die Betrugsstrafbarkeit des Versicherungsnehmers aus strafrechtlicher und kriminologischer Sicht, 2005, S. 170 ff; Hanisch Die ignorantia facti im Betrugstatbestand, 2007, S. 1 ff, 228 ff; Paschke (Fn. 25) S. 221 ff; Grau (Fn. 28) S. 130 ff; Peters Betrug 70

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nahm Ellmer die viktimodogmatische Lanze von Arzt72 aus dem Jahre 1984 auf und erarbeitete – nach intensiver und sehr sorgfältiger Analyse der schweizerischen Rechtslage – eine dem schweizerischen Konzept nahe, aber abstraktere Lösung.73 Seine Idee der Quasi-Fahrlässigkeit auf Seiten des „Opfers“ scheiterte allerdings in Deutschland bisher vorab am Wortsinnargument.74 Auch Wittig und Kargl folgten jüngst einem „Tathandlungsansatz“: Wittig75 berücksichtigt in ihrem beeindruckenden Werk zwar das interaktionistische Element und die Eigenverantwortung, bleibt aber recht abstrakt. Als Kontrast dazu lässt Kargl76 nur konkrete Inszenierungen i. S. von Machenschaften als Tathandlungen zu, blendet dabei aber offenbar jede Opferperspektive aus. Dem schweizerischen Konzept am nächsten stehen einige Ansätze über die objektive Zurechnung, wie etwa jener von Harbort77. Sie folgen meist einem interaktionistischen Ansatz mit Eigenverantwortlichkeit des Opfers und basieren auf der Abgrenzung zwischen Fremdschädigung und Opferselbstschädigung. Hierzu hat der Jubilar die grundlegenden Gedanken entworfen und meisterlich weiterentwickelt. In seinen Worten: „Jemand kann einen anderen zu Handlungen veranlassen oder dabei mitwirken, die weit über das normale Maß hinaus gefährlich sind, z. B. A rät dem B zur Überquerung eines Sees bei brüchigem Eis. Wenn der leichtsinnige, die Gefahr aber durchaus überblickende B dabei zu Tode kommt, so stellt sich die Frage, ob A … zur Verantwortung zu ziehen ist.“78 Der Jubilar löst die Frage unter Einbezug der Wertung des Gesetzes, mithin des Schutzzwecks der Norm. Nach deutschem Recht sei die Teilnahme an der vorsätzlichen Selbstverletzung (das Mehr) prinzipiell straflos, weshalb die Mitwirkung an und Steuerhinterziehung trotz Erklärung wahrer Tatsachen, 2010, S. 28 ff; Harbort Die Bedeutung der objektiven Zurechnung beim Betrug, 2010, S. 23 ff. 72 Arzt MschrKrim 1984, 112 ff, der freilich gegen die Abspaltung der Viktimodogmatik von der Strafrechtsdogmatik eintritt. Dazu auch Harbort (Fn. 71) S. 28, der Arzt freilich überinterpretiert, wenn er ihm die generelle Empfehlung für Deutschland unterstellt, den schweizerischen Rechtszustand zu übernehmen. 73 Zum Ganzen Ellmer (Fn. 20) S. 281 ff; darin sieht Wismer (Fn. 52) S. 90 keinen Fortschritt gegenüber der schweizerischen Lösung. 74 Lindenau (Fn. 71) S. 171 f, 176 f bspw. kritisiert die unzulässige teleologische Reduktion und die unbestimmte Grenze der Zumutbarkeit; vgl. auch Harbort (Fn. 71) S. 29 f; Hilgendorf Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, 1998, S. 108 ff; Paschke (Fn. 25) S. 225 ff mit teilweise unzutreffenden Einwänden. 75 Wittig (Fn. 29) S. 381 ff. 76 Kargl ZStW 119 (2007), 263: „eindrucksvolles Büro mietet“, „Scheinpersonal verpflichtet“, „mit einer ausgeliehenen Limousine vorfährt“. 77 Harbort (Fn. 71) S. 63 ff; vgl. auch Rengier FS Roxin, 2001, 820 f m. w. N.; Kurth (Fn. 71) S. 160 ff, 169 ff; zu Neukonzeptionen Kindhäuser ZStW 103 (1991), 415 ff; ders. FS Bemmann, 1997, 354 f; Pawlik (Fn. 58) S. 65 ff, 74 ff. 78 Roxin AT I § 11 Rn. 107.

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einer vorsätzlichen Selbstgefährdung (das Weniger) ebenfalls nicht strafbar sein könne. Überträgt man den Gedanken auf den strafrechtlichen Vermögensschutz und die Wertungen des schweizerischen Rechts, dann ist zunächst klar, dass es jeder Person grundsätzlich gestattet ist, ihr eigenes Vermögen ohne Gegenleistung wegzugeben, weshalb auch die Mitwirkung an einer solchen Handlung selbstredend erlaubt sein muss. Nach dieser Wertentscheidung besteht kein Grund, die Handlungsfreiheit des Getäuschten (z. B. sein Vermögen zu verschenken) einzuschränken, solange er nicht gegen seinen Willen gefährdet wird. Der Jubilar verlangt deshalb ausdrücklich, dass der sich selbst Gefährdende das Risiko der Verletzung im selben Maße überblickt wie der Mitwirkende.79 Harbort80 will den Ansatz von Roxin für den Betrug nutzbar machen. Danach soll die „Täuschung“ des leichtsinnigen Opfers dem „Täuschenden“ nicht zugerechnet werden, wenn das Opfer objektiv – aus Rücksicht auf den reibungslosen Ablauf des Geschäftsverkehrs – zumindest leichtfertig gehandelt hat und subjektiv über das nötige Bewusstsein für die eingegangene Gefahr verfügte. In der Schweiz genügt generell Leichtfertigkeit i. S. von qualifizierter Pflichtwidrigkeit. Das Wissensgefälle zwischen Täter und Opfer ist hier rechtlich nicht mehr relevant, weil das Opfer durch seine Leichtfertigkeit die Möglichkeit verspielt hat, den Wissensvorsprung auszugleichen.81 Entsprechend hat es auch den strafrechtlichen Schutz verspielt. Bewusstsein um die Gefahr ist nicht erforderlich. Harbort hingegen nähert sich von der anderen Seite der Grenze von Quasi-Vorsatz und QuasiFahrlässigkeit und kommt ihr sehr nahe. Danach müssen dem objektiv leichtfertigen „Betrugsopfer“ die Gefahr begründenden wesentlichen Gesichtspunkte bekannt sein. Es müsse von der Verletzungsgefahr so viel wissen, „als dass es nach allgemeinen Maßstäben für (das Opfer) unvernünftig (sei), sich ihr auszusetzen“.82 Aufgrund dieses Zusammenspiels von Bewusstsein und unvernünftigem Eingehen der Gefahr lässt sich von QuasiVorsatz sprechen. Was indessen „nach allgemeinen Maßstäben“ mehr oder weniger „unvernünftig“ ist, lässt sich nicht genau bestimmen, weshalb diesem Ansatz eine gewisse Irrationalität anhaftet. Die schweizerische Konzeption kennt ein ähnliches Problem einzig bei zwei der fünf alternativen Arglist-Fallgruppen. Nach der Theorie der objektiven Zurechnung ist außerdem fraglich, wie zu entscheiden ist, wenn der Leichtsinnige vorbringt, 79 Roxin AT I § 11 Rn. 113; ebenso Eicker recht 2009, 151. Unter Bezugnahme auf den Jubilar BGE 134 IV 153; BGE 134 IV 207 f; BGE 131 IV 9; BGE 125 IV 193 f; BGer 6B_221/2009 etc. vom 2.9.2009 E. 5.3; BGer 6S.91/2007 vom 17.1.2008 E. 4.5; BGer 6P.89/2004 vom 1.10.2004 E. 5. 80 Harbort (Fn. 71) S. 59 f, 68 f. 81 Vgl. auch Ellmer (Fn. 20) S. 285. 82 Harbort (Fn. 71) S. 64 mit Verweis auf die hier zitierte Stelle S. 60.

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er hätte doch Restzweifel an der behaupteten Tatsache gehabt. Wie stark müssen diese sein, dass ein Irrtum verneint werden kann? 83 Zu diesen dogmatischen Schwierigkeiten84 kommen die bei der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit bekannten Beweis- bzw. Zuschreibungsprobleme hinzu, wie folgender Urteilsauszug des Schweizerischen Bundesgerichts verdeutlicht: Wer in der Stellung eines Geschäftsführers nach Art. 158 chStGB (ungetreue Geschäftsbesorgung, ähnlich der deutschen Untreue) „krass pflichtwidrig handelt, indem er unter erkennbar dubiosen Umständen und ohne jegliche Sicherheiten annähernd das gesamte Geschäftsvermögen auf das Privatkonto einer ihm völlig unbekannten Person überweist und dabei wissentlich elementarste Abklärungen zur Person seines Geschäftspartners sowie zum Geschäft selber unterlässt, ist sich … des sehr hohen Risikos einer Schädigung bewusst.“85 Auf das Bewusstsein des Täters nach Art. 158 chStGB (und zugleich des „Täuschungsopfers“) wurde vorliegend im Wesentlichen aus der bloßen Erkennbarkeit suspekter Umstände sowie dem Wissen um bestimmte Geschäftsfaktoren und dem Unterlassen der Überprüfung geschlossen. Genau nach diesen Kriterien muss umgekehrt aber auch die Betrugshaftung des Geschäftspartners entfallen, wenn sich das „Opfer“ eines so hohen Schädigungsrisikos bewusst ist. Allgemein gilt, dass regelmäßig von objektiv risikoreichen Umständen auf das Bewusstsein des „Täuschungsopfers“ geschlossen werden muss, weil sich innere Vorgänge jeder direkten Wahrnehmung durch andere entziehen.86 Damit wird die Sache verallgemeinerungsfähig: Gründe für einen unterschiedlichen Maßstab hinsichtlich des Risikobewusstseins des Täters (und zugleich „Getäuschten“) in diesem Fall und des Risikobewusstseins des selbstschädigenden „Betrugsopfers“ sind nicht ersichtlich: Es geht beide Male um denselben riskanten wirtschaftlichen Vorgang, also um dieselbe Handlung und um dieselbe heikle Abgrenzung von (Quasi-)Vorsatz und (Quasi-)Fahrlässigkeit auf Seiten des Opfers. Da es sich dabei um einen Zuschreibungsprozess handelt, ist der Unterschied zwischen der h. L. in der Schweiz (grobe Fahrlässigkeit) und der Theorie der objektiven Zurechnung (Risikobewusstsein) im Kernbereich gering – zumindest bis hierhin.

83

Grundsätzlich (nicht spezifisch beim Leichtsinnigen) zu diesem Problem Rengier FS Roxin, 2001, 822 f. 84 Zur Abgrenzung von Tätervorsatz und Täterfahrlässigkeit Stratenwerth AT I § 9 Rn. 61, 64 ff. 85 BGer 6B_446/2010 vom 14.10.2010 E. 8.5.4 (Hervorhebung durch Verfasser); zum betrogenen Betrüger Niggli/Wiprächtiger-Arzt Basler Kommentar Art. 146 Rn. 59. 86 Zum vergleichbaren Problem beim „Nachweis“ des Tätervorsatzes Stratenwerth AT I § 9 Rn. 62.

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Auch die von Harbort beim „Leichtgläubigen“ und von Rengier87 beim „Zweifelnden“ vorgeschlagenen dogmatischen Abgrenzungsformeln nach dem „Vernünftigen“ verlangen beim Opfer keinen Nachweis des Bewusstseins um das Risiko, sie ermöglichen vielmehr eine Zuschreibung.88 Doch das Zuschreibungskriterium des „Vernünftigen“ bleibt zu abstrakt, zu offen. Außerdem hat dieses Bewusstseinserfordernis den Mangel, dass gerade ignorante Opfer89 offenbar geschützt werden sollen, was mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit nicht in Einklang zu bringen ist. Das vorgeschlagene Vernunftskonzept fasst zudem die Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit zusammen, verlangt also eine umfassende Entscheidungsund Handlungsfreiheit des Opfers. Denkbar sind aber Konstellationen, wo die Vernunft ein bestimmtes Verhalten des Getäuschten verlangen würde, die betreffende Person aber nicht vernünftig handeln kann.90 Entsprechend verdient die schweizerische Arglist-Lösung den Vorzug. Geschützt wird hier auch das Opfer, das zwar um die „wesentlichen Gesichtspunkte“ weiß, dem aber eine Überprüfung nicht oder nur mit besonderer Mühe möglich (bspw. bei tatsächlichen oder rechtlichen Hindernissen [Berufs- und Amtsgeheimnisse, Schweigepflichten, Datenschutz]; unverhältnismäßigem Aufwand) oder nicht zumutbar war (bspw. bei Zwang, Notlage, [zeitlichem] Druck, Abhängigkeit, einmaliger Unregelmäßigkeit in besonders tiefem Vertrauensverhältnis). Die Zumutbarkeitsprüfung ist eine Interessenabwägung beim Getäuschten, der mit der Hingabe der Vermögenswerte ein Interesse verfolgt, das gegenüber dem Risiko einer Vermögensschädigung erhöht erscheint. Geschützt ist ferner das Opfer, das der Täuschende von der Überprüfung abgehalten hat (in der Regel Machenschaften).

87 Rengier FS Roxin, 2001, 823 will darauf abstellen, „ob die (vom Opfer) täuschungsbedingt noch angenommenen tatsächlichen ‚Rest’-Aussichten auf den Eintritt der behaupteten Wirkung so gering sind, daß sich das Opfer darauf vernünftigerweise nicht mehr einlassen sollte“. 88 Zur Zuschreibung von Tätervorsatz Stratenwerth AT I § 9 Rn. 62; grundlegend Vest Vorsatznachweis und materielles Strafrecht, 1986, S. 93 ff. 89 Davon ist die Nicht-Vorstellung über die Wahrheit oder Unwahrheit der vorgespiegelten Tatsache zu unterscheiden, welche auch keine motivierende Wirkung für die Verfügung haben kann. 90 Das Kriterium des „einsichtigen Motivs“ zur Selbstgefährdung beim Zweifelnden passt hier nicht und ist viel zu vage, vgl. Harbort (Fn. 71) S. 84 ff.

Die objektive Täuschungseignung als Ausprägung der objektiven Zurechnung beim Betrug KARSTEN GAEDE*

I. Einführung Vor allem Claus Roxin verdanken wir die heute weithin anerkannte und im Tatbestand dogmatisierte Erkenntnis, dass die Begründung strafrechtlichen Unrechts über die empirische Kausalität hinaus der objektiven Zurechnung bedarf.1 Mit Hilfe dieser Lehre streben wir danach, als objektives (Erfolgs-)Unrecht nur tatbestandsmäßige Werke des Akteurs, nicht aber auch Zufälle und primär fremd zu verantwortende Folgen zu konturieren.2 Wer dieses Streben auch für den Besonderen Teil und insbesondere für den Betrug geltend macht, kann keinen Entdeckerstatus mehr in Anspruch nehmen.3 Allein: In der Praxis bleiben nennenswerte Folgen aus. Die heutigen Ansätze zu einer objektiven Zurechnung des Betruges sind zwar zahlreich.4 Ihre Vertreter zerstreiten sich aber z. B. über die betrugsspezifische Frage nach einem „Recht auf Wahrheit“5 oder über die Gebotenheit einer Viktimodogmatik.6 Sie zersplittern damit ihr Potential für die Praxis. Ein für

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Der Verfasser ist Juniorprofessor an der Bucerius Law School, Hamburg. Grundlegend Roxin FS Honig, 1970, 133 ff; ders. FS Gallas, 1973, 241 ff. Zum Diskussionsverlauf und zu Vorläufern wie Larenz, Honig und Hardwig m. w. N. F. C. Schroeder FS Androulakis, 2003, 651 ff; Hübner Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, 2004. 2 Roxin AT I § 11 Rn. 1 f (44 ff); Kühl AT § 4 Rn. 36 ff; Wessels/Beulke AT Rn. 154 f, 176 ff. 3 Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999; Rengier FS Roxin, 2001, 811 ff. 4 Zusätzlich z. B. Kurth Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 1984, S. 169 ff; Ellmer Betrug und Opfermitverantwortung, 1986, S. 271 ff; MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 23 f (662 ff); Harbort Die Bedeutung der objektiven Zurechnung beim Betrug, 2010; siehe auch Wittig Das tatbestandsmäßige Verhalten des Betrugs, 2005. 5 Für das „Recht auf Wahrheit“ NK-Kindhäuser § 263 Rn. 51 f (60 ff); Pawlik (Fn. 3) S. 2 ff (65 ff, 103 ff); Frisch FS Herzberg, 2008, 729 (738 ff); gegen diese Lehren Schünemann Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 51 (85 ff); Kargl FS Lüderssen, 2002, 613 ff; Kasiske GA 2009, 360 ff; weithin auch Vogel GS Keller, 2003, 313 (318 ff). 6 Für diese z. B. Amelung GA 1977, 1 (5 ff); Schünemann (Fn. 5) S. 51 (61 ff); R. Hassemer Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, 1981, S. 75 ff (127 ff, 137 ff); Hen1

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den Betrug anschlussfähiges Prüfungsprogramm, das sie sodann konkretisieren kann, findet die Rechtsprechung bislang nicht vor. Und mehr noch: Vehement wird die objektive Zurechnung besonders im Fall des Betruges für irrelevant erklärt.7 Ebenso wird behauptet, dass sie das Gesetz durch eine Übernormativierung missachte.8 Auch hier verbleibt der objektiven Zurechnung deshalb im BT noch immer „ein großes Arbeitsfeld“9. Tatsächlich ist die Zeit reif, den Betrug auch in der Praxis offen nach der Lehre von der objektiven Zurechnung normativ zu durchdringen. Vor allem die jüngeren Entwicklungen zeigen etwa bei der konkludenten Täuschung10 und beim Schaden11, dass normative Extensionsstrategien den Betrug prägen. Eine unbegrenzte Überzeugungskraft ist diesen Strategien zwar nicht zu bescheinigen. Sie belegen aber eines mit Deutlichkeit: Normative Lesarten der Betrugsmerkmale sind längst Praxis. Sie sind, dies wird man angesichts unseres normativen wissenschaftlichen Gegenstandes zur Prämisse nehmen dürfen, auch ohne tragfähige Alternative.12 Es kommt indes darauf an, die normative Deutung des Betruges weder beliebig noch einseitig strafbarkeitsausdehnend vorzunehmen.13 Eine ausgewogene Konzeption muss Platz greifen, die sich weder von der Lebenspraxis der Akteure14 noch vom Gesetz ablöst. In eben diesem Sinne soll mein Beitrag das allgemeine normative Erfordernis der objektiven Zurechnung mit der besonderen gesetzlichen Regelung des Betruges verzahnen. Dazu werden die Ausgangskriterien der objektiven Zurechnung den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des Betruges zugeordnet. Die Bedeutung dieser Kriterien wird gerade für das verhaltensgebundene Delikt unterstrichen. Dies führt vor allem dazu, die objektive Täuschungseignung als Betrugsmerkmal zu formulieren und – soweit es ein Festschriftenbeitrag gestattet – näher zu bestimmen.

nings Teleologische Reduktion des Betrugstatbestandes usw., 2002, S. 130 ff (169 ff, 193 ff); Ellmer (Fn. 4) S. 271 ff; weithin a. A. aber Roxin AT I § 14 Rn. 19 ff. 7 Repräsentativ so vor allem Protzen wistra 2003, 208 (209 ff); Loos/Krack JuS 1995, 204 (207 f); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf BT § 20 Rn. 36. 8 Vor allem gegenüber der Viktimodogmatik Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, 1981; Fischer § 263 Rn. 14; Protzen wistra 2003, 208 (209 ff); eher verhalten auch SSWSatzger § 263 Rn. 10 f (24, 28, 68, 80). 9 Roxin AT I § 11 Rn. 52. 10 BGHSt 51, 165 ff; 54, 69 (121); BGH NJW 2009, 2900 f; Trüg/Habetha JZ 2007, 878 ff. 11 Dazu m. w. N. Saliger FS Samson, 2010, 455 ff wie etwa BGHSt 53, 199 (205); 54, 69 (120, 122 ff); zusf. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 4 (97, 107, 110 ff, 117, 130, 139). 12 MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 15 ff; Saliger/Rönnau/Kirch-Heim NStZ 2007, 361 (362 f); AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 4 (27 ff); a. A. Jahn/Maier JuS 2007, 215 ff. 13 So schon statt vieler zu Recht Pawlik (Fn. 3) S. 1 f: Alternative ist die Systemlosigkeit. 14 AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 4 (28 f); im Kern Vogel GS Keller, 313 (318, 321 f).

Die objektive Täuschungseignung

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II. Die objektive Zurechnung und der gesetzliche Tatbestand 1. Ausgangskriterien der objektiven Zurechnung Wenn wir heute von der objektiven Zurechnung sprechen, treffen wir mit Regelmäßigkeit auf folgende Grundformel: Ein Erfolg ist nur dann objektiv zurechenbar, wenn das für den tatbestandsmäßigen Erfolg kausale Handeln eine unerlaubte Gefahr geschaffen oder erhöht hat (erste Kategorie), die sich in diesem Erfolg realisiert hat (zweite Kategorie).15 Bemerkenswerterweise ist der Lehre von der objektiven Zurechnung mit diesen Ausgangskriterien entgegen kritischer Stimmen16 eine nicht zu unterschätzende Dogmatisierung und Operationalisierung gelungen. Dies wird von der stets nötigen tatbestandsbezogenen Konkretisierung der Kategorien nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Auch wenn sich verschiedene Terminologien und Nuancen finden,17 ist die objektive Zurechnung damit weniger eine kritisch zu beäugende „Superkategorie“ als vielmehr eine erforderliche Plattform, die deliktsunabhängigen und deliktsspezifischen Wertungsgesichtspunkten der Unrechtsbegründung im Tatbestand der Erfolgsdelikte Geltung verschafft.18 Über die erste Kategorie der Gefahrschaffung konkretisiert die objektive Zurechnung zugleich den Handlungsunwert bzw. das tatbestandsmäßige Verhalten.19 Sie offenbart eine zu Recht noch immer verbundene Durchdringung von Handlungs- und Erfolgsunwert: Zunächst muss der mögliche Täter durch sein Verhalten eine unerlaubte Gefahr geschaffen bzw. erhöht haben, die im Hinblick auf die Vermeidung eines tatbestandlichen Erfolges zu bestimmen ist. Nur auf dieser Grundlage kann und muss sodann sinnvoll gefragt werden, ob der phänomenologisch eingetretene Erfolg auch die

15 Wessels/Beulke AT Rn. 179 mit Rn. 182; Kühl AT § 4 Rn. 43, § 3 Rn. 8; Stratenwerth/Kuhlen AT § 8 Rn. 27; Gropp AT § 5 Rn. 42. Bekanntlich gliedert Roxin AT I § 11 Rn. 106 ff Fragen des tatbestandlichen Schutzzwecks als 3. Kategorie aus; zum hier verfolgten integrierten Ansatz Wessels/Beulke AT Rn. 179 f (182, 186); Kühl AT § 4 Rn. 43 ff; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele Vor § 13 Rn. 92 f. 16 Abl. z. B. wieder für eine normative Kausalitätslehre m. w. N. Matt/Renzikowski Vor § 13 Rn. 95 f (98 ff); zuvor z. B. auch Arm. Kaufmann FS Jescheck, Bd. I, 1985, 251 ff; Schumann/Schumann FS Küper, 2007, 543 ff; Kindhäuser GA 2007, 447 ff. 17 Wessels/Beulke AT Rn. 178 f; auflistend m. w. N. Kühl AT § 4 Rn. 43. 18 Jäger Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 7 ff; Schünemann GA 1999, 207 (227); Stratenwerth/Kuhlen AT § 8 Rn. 25 ff; zur Kritik der „Superkategorie“ aber z. B. Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten, 1988, S. 8 (23 ff). 19 Siehe auch Roxin AT I § 10 Rn. 96 f, § 11 Rn. 51; insoweit bestätigend, aber mit gutem Grund für eine alleinige Frage tatbestandsmäßigen Verhaltens Frisch FS Roxin, 213 (231 ff); ders. GA 2003, 719 (733 ff); dafür grundlegend ders. (Fn. 18).

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zweite Kategorie der Gefahrverwirklichung erfüllt und sich damit als Repräsentant des tatbestandlich vertypten Erfolgsunrechts darstellt.20

2. Objektive Zurechnung und gesetzlicher Tatbestand Wenn die objektive Zurechnung für den Besonderen Teil fruchtbar gemacht werden soll, muss eine bedeutsame Vorfrage beantwortet sein: Stehen die allgemeinen Lehren der strafrechtlichen Erfolgszurechnung selbstredend neben den im konkreten Tatbestand des Besonderen Teils ausgeprägten Tatmerkmalen? In diesem Fall wären auch für den Betrug erstens die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale im Wege der Auslegung anzuwenden, um sodann zweitens kumulativ die allgemeinen Erfordernisse der strafrechtlichen Erfolgszurechnung zu prüfen. In letzterem Sinne hält es etwa die jüngere Arbeit von Harbort zur objektiven Zurechnung beim Betrug.21 Harbort plädiert in ihr zunächst dafür, dass sich die von der objektiven Zurechnung zu behandelnden Sachprobleme bzw. Fallkonstellationen nicht durch Auslegungsvorschläge zu den Tatbestandsmerkmalen des Betruges lösen ließen, weil sie unzulässige teleologische Reduktionen darstellen. So sollen z. B. weder der Begriff der Täuschung noch derjenige des Irrtums einer einschränkenden Auslegung zur Umsetzung der objektiven Zurechnung zugänglich sein.22 Nur ein direkter Ansatz über die objektive Zurechnung, der von den Tatmerkmalen des Betruges unabhängig sei, könne normative Eingrenzungen ohne teleologische Reduktionen tragen.23 Ist das Zusammenspiel von besonderen gesetzlichen Tatmerkmalen und allgemeinen Tatbestandslehren damit aber für die objektive Erfolgszurechnung überzeugend aufgearbeitet? Tatsächlich wird man sich gegen eine derart pauschale Spaltung von Allgemeinem und Besonderem Teil verwehren müssen. Die Inhalte der Lehren von der objektiven Erfolgszurechnung können nicht vollständig als jedem Gesetzgeber vorfindliche Axiome ausgegeben werden. Anders als es etwa beim Vorsatz über das Regelungsmodell der §§ 15 ff StGB der Fall ist, hat der Gesetzgeber diese Lehren auch nicht ergänzend in einer vor die Klammer gezogenen Regelung normiert und hierdurch zu eigenständigen Tatmerkmalen erhoben.24 In den allgemeinen Lehren der Erfolgszurechnung drückt sich de lege lata vielmehr allein – aber auch immerhin – das Grundverständnis eines jeden Erfolgsdelikts aus. 20 Für ein zwischen Roxin und Frisch diskutiertes Scheinproblem insoweit sogar Schünemann GA 1999, 207 (216); siehe aber auch Frisch (Fn. 18) S. 44 ff. 21 Harbort (Fn. 4) passim; siehe z. B. auch Kühl AT § 3 Rn. 8: „genuine AT-Materie“. 22 Dazu vor allem Harbort (Fn. 4) S. 29 ff zur Täuschung (S. 69 ff zum Irrtum). 23 Dafür siehe Harbort (Fn. 4) insbesondere S. 37 ff. 24 Nicht zufällig werden sie in Kommentaren „Vor § 13 StGB“ und nicht als Kommentierung einer Norm des AT behandelt, vgl. repräsentativ Fischer Vor § 13 Rn. 18 ff.

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Da das Bewirken von Erfolgen in den Erfolgsdelikten selbst beschrieben wird, ist dieses Grundverständnis schon im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auf eine Interpretation der in den einzelnen Erfolgsdelikten ausgeprägten Tatbestandsmerkmale festgelegt. Das Grundverständnis des Erfolgsdelikts muss sich also primär über die systematisierende Durchdringung des (gesamten)25 positiven strafrechtlichen Rechtsstoffes insbesondere des Besonderen Teils herausbilden. Soweit sich – wie bei der Lehre von der objektiven Zurechnung der Fall – durch diese deliktsübergreifende Interpretation allgemeine Rationalitätsfortschritte26 zu den Erfolgsdelikten herausbilden, sind diese materiell als ein dem Allgemeinen Teil zugehöriges Vorverständnis im Wege der systematischen Auslegung bei der Bestimmung des jeweiligen tatbestandlichen Handlungs- und Erfolgsunrechts zu berücksichtigen.27 Dies kann auf den möglichen Wortsinn eines Tatbestandsmerkmals über den Kontext Einfluss nehmen und möglicherweise deliktsabhängig sogar die Formulierung ungeschriebener Tatbestandsmerkmale zwischen den geschriebenen begünstigen, nicht aber zu einem schlichten Ersatz der Tatbestandsmerkmale durch die objektive Zurechnung führen. Die allgemeinen Lehren der Erfolgszurechnung bleiben damit immer an die konkrete Ausformulierung des jeweils behandelten Erfolgsdelikts zurückgebunden.28 Dies gilt nicht nur in belastender Hinsicht infolge Art. 103 Abs. 2 GG, sondern auch allgemein, weil jeder Rechtsanwender – egal ob er vor Gericht oder im Hörsaal steht – jenseits legitimer Rechtsfortbildung die Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3, 97 GG) zu achten hat. Wenn der Gesetzgeber z. B. Teilmaßstäbe der objektiven Zurechnung innerhalb seines verfassungsrechtlichen Rahmens negiert oder explizite Kriterien der Gefahrschaffung vorgibt, dann kann die objektive Zurechnung nicht beliebig neben bzw. vor die gesetzlichen Tatmerkmale treten. Schon deshalb ist es vorzugswürdig, die objektive Zurechnung stets als Interpretation der konkret geregelten Tatbestandsmerkmale zu begreifen und fortzuentwickeln. Nur so wirkt man dem von ihren Opponenten befürchteten gesetzwidrigen Eigenleben der objektiven Zurechnung von vornherein entgegen. Geboten ist damit die Verzahnung der gesetzlichen Tatmerkmale mit der objektiven Zurechnung. Dem entspricht die heutige Gestalt der objektiven Zurechnung, da sie längst auf das konkret zu interpretierende Delikt Rück25 Tatsächlich dürften die Lehren der Erfolgszurechnung aber primär an eher einfach gestalteten Straftaten wie den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten modelliert worden sein. 26 Als Hauptbeispiel darf heute die Erkenntnis der nicht rein kausalen Unrechtsbegründung gelten, dazu nur m. w. N. Roxin AT I § 7 Rn. 14 ff (§ 10 Rn. 85 ff). 27 So dann letztlich auch Harbort selbst (Fn. 4) S. 50 f. 28 Siehe auch Frisch (Fn. 18) S. 236; weitgehend gegen ein Primat des AT gegenüber dem BT seit langem Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 97 f; zur Diskussion um Ableitungen aus der Viktimodogmatik auch Ellmer (Fn. 4) S. 162 ff (299 f).

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sicht nimmt. Sie tut dies bislang vornehmlich, indem sie Schutzzweckgrenzen einzelner Tatbestände (z. B. der §§ 212, 222, 229 StGB) als Teilerwägungen einbezieht.29 Folglich können sich die Tatbestandsausschlüsse mangels objektiver Zurechnung schon bisher bei einer überzeugend differenzierenden Schutzzweckbestimmung unterscheiden.30 Für sog. verhaltensgebundene Delikte wie den Betrug,31 bei denen der Gesetzgeber die unerlaubte Gefahr (den Handlungsunwert) näher umschrieben hat,32 bedarf die Verzahnung sogar besonderer Beachtung. So ist es zwar richtig, die objektive Zurechnung als allgemeines Verständnisschema auch an den Betrug anzulegen. Etwaige Grenzen seiner Interpretationsfähigkeit können aber nicht durch den „simplen Trick“ der Abspaltung der objektiven Zurechnung von den gesetzlichen Tatmerkmalen „bewältigt werden“.

III. Der Betrug als abschließend vertypte objektive Zurechnung? Lässt nun der Betrug noch Raum für die objektive Zurechnung? Es könnte sein, dass § 263 StGB seit jeher eigene Maßstäbe der Erfolgszurechnung setzt, die allgemeine Lehren verdrängen. Ausgangspunkt der Antwort muss das gesetzlich vertypte Betrugsunrecht sein (1.).33 Auf dieser Grundlage können die Kernargumente gegen eine Anwendung der objektiven Zurechnung auf den Betrug behandelt werden (2.).

1. Betrug als verhaltensgebundenes Vermögensschädigungsdelikt Der Betrug ist als Vermögensdelikt bekanntlich erst im 19. Jahrhundert als strafbarkeitsbegrenzende Konkretisierung entstanden.34 Nach seiner historischen Emanzipation aus dem Falsum, das noch ohne zwingenden Vermögensbezug das „Recht auf Wahrheit“ schützte,35 ist er zu dem Vermögensdelikt des deutschen Strafrechts avanciert. Sein Unrecht liegt in der 29

M. w. N. Roxin AT I § 11 Rn. 47 ff (106 ff); ders. FS Maiwald, 2010, 715 (724 f). Rengier FS Roxin, 811 (820); zum BtMG neben § 222 StGB BGHSt 37, 179 ff; BGH JR 2001, 246 m. zutr. abl. Anm. Renzikowski; MüKo-Duttge § 15 Rn. 152; zur Schutzzweckbestimmung in diesem Fall auch abl. M. w. N. Roxin AT I § 11 Rn. 112. 31 M. w. N. MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 8. 32 Vgl. etwa NK-Wohlers § 13 Rn. 19; krit. MüKo-Freund § 13 Rn. 190 ff. 33 Die folgenden Ausführungen setzen bewusst an der vorherrschenden Betrugslehre an. Insbesondere wird die z. T. verfolgte Anlehnung an die mittelbare Täterschaft nicht übernommen, dafür aber z. B. Kindhäuser FS Bemmann, 1997, 339 ff (352 f); NK-Kindhäuser § 263 Rn. 44 ff. Sie wurde im Schrifttum hinreichend erwidert, m. w. N. Frisch FS Bockelmann, 1979, 646 (651 ff); MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 659; LK-Tiedemann § 263 Rn. 5. 34 M. w. N. Cramer Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 23 ff. 35 M. w. N. z. B. Naucke Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 62 ff. 30

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Schädigung fremden Vermögens, die zur Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils mittels Täuschung unternommen und durch eine irrtumsbedingte Vermögensverfügung realisiert wird.36 Damit schützt der Betrug allein das in Wirtschaftsgütern verkörperte Vermögen, nicht hingegen protegiert er unabhängig davon ein „Recht auf Wahrheit“37 oder die Dispositionsfreiheit des Vermögensinhabers.38 Als abschließenden Erfolg setzt der Betrug eine Vermögensbeschädigung voraus. Der Betrug bezeichnet also ein Verletzungsdelikt. Schon der Wortlaut stellt aber anders als etwa derjenige der Körperverletzung klar, dass dem Betrug nicht jede vorsätzliche Rechtsgutsverletzung unterfällt. Er lässt für den Betrug als verhaltensgebundenes Delikt nur eine qualifizierte Tathandlung genügen, die dem Schädigungserfolg einen besonderen konstitutiven Handlungsunwert kumulativ zur Seite stellt. Der Tatbestand ist zusätzlich anspruchsvoll als Selbstschädigungsdelikt ausgestaltet, bei dem die qualifizierte Tathandlung der Täuschung zunächst zu den Zwischenerfolgen des Irrtums und der nach allgemeiner Meinung vorausgesetzten Vermögensverfügung geführt haben muss.39 Die ungeschriebene Vermögensverfügung wird im Zuge dieses Deliktsverständnisses als notwendiges Bindeglied zwischen den im Wortlaut genannten Merkmalen Irrtum und Vermögensbeschädigung eingefordert. Die als abschließender Erfolg bewirkte Vermögensschädigung ist gemäß § 263 StGB daher nur strafbar, wenn das Opfer hinsichtlich seines Vermögens gegen sich selbst durch eine Überlistung instrumentalisiert wurde.40 Die mit der Unwahrheit operierende erfolgreiche Täuschung ist damit das besondere unrechtskonstituierende Angriffsmittel, das – von Sondertatbeständen abgesehen – überhaupt erst zum Einsatz des Strafrechts gegen Vermögensbeschädigungen im Wirtschaftsleben führt.41 Im subjektiven Tatbestand wird der Betrug durch die Absicht rechtswidriger Bereicherung als Bereicherungs- und Vermögensverschiebungsdelikt

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OLG Karlsruhe JR 1997, 299 (300); AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 1 (7, 50, 65). M. w. N. BGHSt 16, 220 (221); BGH NStZ-RR 2001, 41 f; Vogel GS Keller, 313 (319); in der Sache a. A. NK-Kindhäuser § 263 Rn. 93; Pawlik (Fn. 3) S. 105. 38 BGHSt 16, 220 (221); BGH NJW 1983, 1917; 1991, 2573; MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 1 ff; partiell a. A. NK-Kindhäuser § 263 Rn. 13 ff (38). 39 BGHSt 17, 205 (209); 41, 198 (201 f); Fischer § 263 Rn. 70; Jäger JuS 2010, 762 (763); krit. z. B. aber wieder Pawlik (Fn. 3) S. 235 ff: phänotypischer Hilfsbegriff. 40 KG JR 1986, 469; LK-Lackner § 263 Rn. 75 f; Gauger Die Dogmatik der konkludenten Täuschung, 2001, S. 30 f; AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 50 (65 f, 88 ff); a. A. Hanisch Die ignorantia facti im Betrugstatbestand, 2007, S. 132 ff (148 ff). 41 RGSt 74, 167 ff; LK-Tiedemann Vor § 263 Rn. 22 ff; Gauger (Fn. 40) S. 24 ff. 37

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vervollkommnet:42 Die Tat ist nur verwirklicht, wenn der Täter auf Kosten des Geschädigten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil erstrebt.43

2. Einwände gegen die Anwendung der objektiven Zurechnung a) Vorgebliche und tatsächliche Achtung des Gesetzes Die prinzipiellen Einwände gegen eine naturgemäß auf Einschränkung bedachte objektive Zurechnung44 werden schon und vor allem bei der Täuschungshandlung erhoben. Der Gesetzgeber habe mit der Täuschung einen Zurechnungsgrund geschaffen, der einer Einschränkung nach Wortlaut und Sinn nicht zugänglich sei.45 Dementsprechend soll die klassische Definition der Täuschung, nach der jede beliebige Lüge über Tatsachen genügt, mit der auf die Vorstellung eines anderen Menschen eingewirkt wird, stets ausreichend sein bzw. in ihr stets eine unerlaubte Gefahr liegen.46 Ähnliche Einwände finden sich auch zu denjenigen Einschränkungsbestrebungen, die am Begriff des Irrtums ansetzen.47 Eine solche Immunisierung der Täuschungsdefinition gegen die objektive Zurechnung ist jedoch kurzschlüssig. So richtig es ist, in der Täuschungshandlung eine maßgebliche nähere Beschreibung der tatbestandlichen Gefahrschaffung durch den Gesetzgeber zu erblicken, so falsch ist das Postulat, die Täuschung müsse deshalb weiter per se in jeder beliebigen Lüge über Tatsachen liegen. Damit wird verkannt, dass für verhaltensgebundene Delikte, die schon nach ihrem Wortlaut eine zusätzlich qualifizierte Form der Gefahrschaffung als Grundlage der Erfolgsverwirklichung voraussetzen, erst Recht guter Grund besteht, stets die tatsächliche Schaffung einer qualifizierten unerlaubten Gefahr einzufordern.48 Das, was etwa bei den §§ 212 ff StGB heute fast selbstverständlich ist, kann – wenn doch beim Betrug schon der Gesetzgeber das Gefahrniveau angehoben hat – nicht 42 Grundlegend Merkel Die Lehre vom strafbaren Betruge, Kriminalistische Abhandlungen II, 1867, S. 90 ff; m. w. N. Jäger JuS 2010, 761 (765 f). 43 OLG Köln JR 1970, 468 (469); m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 157 ff. 44 Kühl AT § 4 Rn. 4 f. (36 ff); Jescheck/Weigend AT S. 277 f (286 ff); zur verlagerten Begründungslast krit. Matt/Renzikowski Vor § 13 Rn. 99 f. 45 Hillenkamp (Fn. 8) S. 26 f (133 ff); Protzen wistra 2003, 208 (211); i. E. Ellmer (Fn. 4) S. 162; siehe auch gegen andere Ansätze Harbort (Fn. 4) S. 29 ff. 46 So für die wohl h. M. z. B. Krack List als Tatbestandsmerkmal, 1994, S. 67 ff; Wessels/Hillenkamp BT II Rn. 491 (510); Fischer § 263 Rn. 14. 47 BGHSt 34, 199 (201 f); 49, 275 (301 f); BGH NStZ 2003, 313 (314); SSW-Satzger § 263 Rn. 80 (68); LK-Tiedemann Vor § 263 Rn. 36 ff; NK-Kindhäuser § 263 Rn. 177 f; SK-Hoyer § 263 Rn. 69 ff (74 f); Frisch (Fn. 18) S. 164 f. 48 Zutreffend zusätzliche Verhaltensanforderungen bei verhaltensgebundenen Delikten fordernd m. w. N. MüKo-Freund § 13 Rn. 191 f (195); Fischer § 13 Rn. 47.

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durch ein begriffsjuristisch anmutendes Vertrauen in die bisherigen Definitionsmerkmale der Täuschung ersetzt werden, die noch zu Zeiten eines rein kausalen Unrechtsverständnisses geprägt worden sind. Die besondere Verhaltensbindung des Betruges ist vielmehr über die objektive Zurechnung einzulösen. Für das Gegenteil ist in Wahrheit auch der (historische) Gesetzgeber schwerlich als Zeuge zu benennen. Tatsächlich greifen die heutigen Erwägungen der objektiven Zurechnung die entstehungszeitlichen Legitimationsdiskurse wieder auf, die auch das gesellschaftstypische Vorteilsstreben bereits als für die Rechtsetzung maßgeblichen Aspekt erfasst hatten.49 Schon der für § 263 (R-)StGB vorentscheidende preußische Betrugstatbestand zielte darauf ab, nicht jede Täuschung genügen zu lassen. Auch wenn sein Gesetzgeber eine Beschränkung auf arglistige Täuschungen verworfen hat,50 hat er mit der Einschränkung des Delikts auf Täuschungen über Tatsachen doch immer noch im Gesetz objektiviert, dass er keinen unbegrenzten Schutz vor Täuschungen beabsichtigt.51 Weiterhin sollte nur eine rational taugliche und nicht gesellschaftstypische Irreführung als Be-trug strafbar sein.52 Das Merkmal der Tatsache sollte diesen Gedanken einer qualifizierten Irreführung transportieren und bietet damit im Wortlaut einen gesetzlichen Anhaltspunkt dafür, nicht jede beliebige Lüge zwingend als täuschendes Verhalten i. S. des Betruges zu verstehen. Für Irreführungen über Wertungen stellt dies der Wortlaut trotz ihrer möglichen Kausalität für Vermögensschädigungen explizit klar. Aber auch darüber hinaus hat der Gesetzgeber den Rechtsanwender damit nicht auf einen maximalen Täuschungsbegriff als zwingenden Zurechnungsgrund festgelegt. Vielmehr ist – wie man an der Einfügung der Vermögensverfügung beobachten kann – die bisherige Annahme einer gesetzlichen Auslegungssperre eher eine begründungsbedürftige normative Entscheidung des Rechtsanwenders. Der Blick in die Praxis zeigt sodann, dass sich der Gedanke einer qualifizierten Irreführung auch nicht auf die Forderung nach einer Tatsache als Täuschungsinhalt reduzieren lässt bzw. die Auslegungssperre auch von der 49 Vogel in: Schünemann (Fn. 5), S. 89 ff; Schütz Die Entwicklung des Betrugsbegriffs in der Strafgesetzgebung usw., 1988, S. 190 ff (202 ff); Hennings (Fn. 6) S. 34 ff. 50 M. w. N. Schütz (Fn. 49) S. 179 (199 f): infolge mangelnder Bestimmtheit; Ellmer (Fn. 4), S. 66 f; Amelung GA 1977, 1 (9); LK-Tiedemann Vor § 263 Rn. 16 (36). 51 Instruktiv Hennings (Fn. 6) S. 45 ff (192 f, 218); Hilgendorf Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, 1998, S. 29 ff; Gauger (Fn. 40) S. 92 ff; LK-Tiedemann § 263 Rn. 7: Restriktion durch nähere Kennzeichnung der Tathandlung (Vor § 263 Rn. 16, 36). 52 Vgl. Joecks Zur Vermögensverfügung beim Betrug, 1982, S. 54 ff (81 ff): dem Betrug liegt das Bild eines besonnenen Menschen zugrunde, der Verfügungen auf Tatsachen stützt; SK-Samson § 263 Rn. 3 (67a, 87b); Naucke FS Peters, 1974, 109 (116); Thomma Die Grenzen des Tatsachenbegriffs usw., 2003, S. 50 ff (450 f); Schütz (Fn. 49) S. 186 f (mit S. 199 f); Hennings (Fn. 6) S. 179 ff (218); Frisch FS Bockelmann, 1979, 645 (665 f).

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h. M. nicht ernst genommen wird. Der Gesetzgeber hat das erstrebte, gegenüber historischen Vorläufern eingeschränkte Betrugsverständnis mit dem Wortlaut insoweit nicht abschließend bzw. nicht so genau beschrieben, dass sich eine weitere Auslegung der Täuschung erübrigen würde.53 Der Begriff der Tatsache bezeichnet beweisbare vergangene oder gegenwärtige Verhältnisse, Zustände oder Geschehnisse und ist damit empirisch ausgerichtet.54 Er erweist sich daher als ungeeignet, die vom Gesetzgeber für das Betrugsunrecht normativ vorausgesetzte qualifizierte Irreführung stets zu verbürgen. So betreibt auch die Praxis die Normativierung der Täuschung, indem sie den empirisch ansetzenden Tatsachenbegriff je nach vorzugswürdiger Bewertung normativ auf- oder entlädt: Geht es um übertriebene Werbeaussagen,55 um Rechtsausführungen56 oder um den Austausch von Rechtsanwälten untereinander,57 dann wird die Tatsachenaussage regelmäßig über das Vehikel der normativierenden Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont verneint.58 Wie frühere Untersuchungen dargelegt haben, werden die scheinbar strikt begrifflich subsumierten Merkmale der Täuschung hier auch von der h. M. nach normativen Kriterien gehandhabt und die Täuschung eingeschränkt, wenn dafür überzeugende Gründe bestehen:59 Tatsachenäußerungen werden nicht als solche bewertet. Richtig hat demgegenüber das OLG Koblenz bereits betont, dass zwar z. B. eine Tatsachenbehauptung auch dann vorliegt, wenn ein Rechtsanwalt gegenüber einem Gericht eine bestimmte Entscheidungspraxis behauptet, die für eine bestimmte Rechtsansicht steht. Seiner Äußerung fehlt aber angesichts der Prüfungspflicht des Gerichts die erforderliche objektive Täuschungseignung.60 Die Normativierung der Praxis geht sogar so weit, (innere) Tatsachen zu unterstellen, wenn ein Betrugsschutz angemessen erscheint: Ergeht sich etwa ein Experte unaufrichtig in Werturteilen, wird die Tatsache über

53 Ellmer (Fn. 4) S. 68 ff (77, 289 f, 297 f); Samson JA 1978, 469 (470); Hennings (Fn. 6) S. 179 ff (218); Naucke FS Peters, 1974, 109 (116); enger LK-Tiedemann Vor § 263 Rn. 36. 54 OLG Stuttgart NJW 1979, 2573; m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 14. 55 BGH (Z) NJW 2007, 357 (358 f); BGHSt 48, 331 (344 f); BGH NStZ 2008, 96 (98); Fischer § 263 Rn. 10; SK-Hoyer § 263 Rn. 18; zur noch bestehenden Weite der h. M. aber BGHSt 34, 199 (201 f); dagegen etwa Joecks § 263 Rn. 25. 56 BGHSt 46, 196 (198); BGH NStZ 2002, 144; JR 1958, 106 m. Anm. Schröder; OLG Karlsruhe JZ 2004, 101 f m. krit. Anm. Puppe. 57 So SSW-Satzger § 263 Rn. 20 im Anschluss an OLG Koblenz NJW 2001, 1364. 58 M. w. N. zu alledem AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 14 ff. 59 SK-Samson § 263 Rn. 18 f; LK-Tiedemann § 263 Rn. 13 f; Ellmer (Fn. 4) S. 90 ff; Walter Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 72 f (75); Hilgendorf (Fn. 51) S. 193 ff; m. w. N. Mühlbauer NStZ 2003, 650 (652); siehe auch BGH JR 1958, 106 m. Anm. Schröder; zum Umweg § 261 StPO KG StV 2006, 584 f. 60 Dazu OLG Koblenz NJW 2001, 1364; vgl. für den BGH bereits BGH JR 1958, 106.

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eine – angreifbare – normative Interpretation geschaffen, weil man das Vertrauen auf Experten nicht als irrational bewertet.61 Ähnlichen Entwicklungen begegnen wir bei der konkludenten Täuschung. Bei ihr wird eine falsche Tatsachenäußerung zunehmend normativ hergeleitet.62 Seltener wird sie aber auch aus normativen Erwägungen – zur Not kontrafaktisch – verneint.63 Wenn etwa eine bestimmte Tatsachenerklärung z. B. für den Empfänger irrelevant ist, weil er hinsichtlich der mit ihr verbundenen Vermögensrisiken anderweitig abgesichert ist oder Tatsachen nicht unter seine Prüfungspflichten fallen, wird eine konkludente Täuschung pauschal verneint, mag im empirischen Einzelfall auch eine Täuschung vorgelegen haben.64 So verhält es sich etwa bei Überweisungsverlangen, die einem Bankangestellten nach einer Fehlbuchung vorgelegt werden, soweit der Angestellte nur das formale Bestehen eines nun vorhandenen Guthabens zu prüfen hat.65 Ebenso wird die Täuschung bereits vor dem normativen Hintergrund ausgelegt, dass jedermann seine überlegene Sachkenntnis entsprechend des für unsere Gesellschaft typischen Geschäftssinns66 grundsätzlich ausnutzen darf, um einen Vorteil zu erlangen.67

b) Begründetheit des bisherigen maximalen Schutzes Gegen eine Anwendung der objektiven Zurechnung wird auch ins Feld geführt, dass die auf der Täuschungs- und Irrtumsebene sehr weite deutsche Betrugsstrafbarkeit68 durch den mit ihr geleisteten Schutz Schwacher und durch die Förderung vertrauensvoller Kommunikation wohlbegründet sei.69 61 BGH NStZ 2008, 96 (98); BGHSt 48, 331 (344 ff); SSW-Satzger § 263 Rn. 20; offen Schröder JR 1958, 106 (107); krit. m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 17 ff. 62 BGHSt 51, 165 (169 ff); 54, 69 (121); BGH NJW 2009, 2900 (2901). 63 Zur Vertragsfreiheit m. w. N. OLG München wistra 2010, 37 (38 f); zum Bestehen der Schuld als Risiko des Leistenden BGHSt 39, 392 (398); Pawlik FS Lampe, 2003, 689 (705 f); zur Spätwette BGHSt 16, 120 (121); Kubiciel HRRS 2007, 68 (70 f); dazu schon über die objektive Zurechnung Saliger/Rönnau/Kirch-Heim NStZ 2007, 361 (363 f). 64 BGH NStZ 2002, 144; NStZ-RR 1997, 257 f; OLG Köln StraFo 2007, 299; Fischer § 263 Rn. 25 (87); MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 103 ff. 65 Dazu BGHSt 39, 392 (395 ff). 66 Kühne Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, S. 7 f (64); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf BT § 20 Rn. 7 f (36); NK-Kindhäuser § 263 Rn. 93; Samson JA 1978, 469 (470). 67 BGH NJW 1990, 2005 (2006); OLG Stuttgart NStZ 2003, 554; Kühne (Fn. 66) S. 7 ff; Seelmann NJW 1980, 2545 (2548); MüKo-Hefendehl (Fn. 4) § 263 Rn. 22. 68 Gauger (Fn. 40) S. 169 ff; LK-Tiedemann Vor § 263 Rn. 51 ff, 94; Basualto FS Tiedemann, 2008, 605 ff; differenziert gegenüber dem franz. Recht Walter (Fn. 59) S. 80 ff. 69 So mit Nuancen zur Viktimodogmatik Hillenkamp (Fn. 8) S. 21 ff (29 ff, 34 ff, 45 ff, 85 ff, 138 ff, 159 ff [gegen ihn z. B. Schünemann NStZ 1986, 439 (441 f)]); m. w. N. Roxin AT I § 14 Rn. 19 ff; Frisch (Fn. 18) S. 164 f mit Fn. 49; Hoffmann GA 2003, 610 (615 f).

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Es wird unterstrichen, dass in einem leichtfertigen Handeln des Opfers kein Grund liege, vorsätzliches Handeln des Täters als erlaubt zu betrachten.70 Letzteres ist sicher richtig. Ebenso trägt der Schutz vertrauensvoller Kommunikation prinzipiell dazu bei, (wirtschaftliche) Freiheiten ohne belastende Prüfungsobliegenheiten wahrnehmen zu können. Dies täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die weit ausgelegte Betrugsstrafbarkeit, die heute durch zahlreiche strafbarkeitsausdehnende Normativierungen insbesondere bei der konkludenten Täuschung und durch die Hinnahme der Täuschung durch Unterlassen geprägt ist, in erster Linie in die Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheiten durch Kommunikation gravierend eingreift. Zudem darf der Schutz vertrauensvoller Kommunikation gerade nicht darauf hinauslaufen, das Lügeverbot der Moral unter dem Deckmantel des Betruges als Selbstzweck zu schützen. Auch der Vorsatz des Täters hinsichtlich seines Verhaltens begründet nicht, dass dieses Verhalten im Sinne des Betruges objektiv qualifiziert unerlaubt ist. Ebenso wenig verfängt der sozialpolitische Verweis auf den Schutz Schwacher. Bei der Auslegung des § 263 StGB geht es um die Legitimation einer Kriminalstrafe, die das Gesetz nicht für jede beliebige vorsätzliche Vermögensbeschädigung, sondern nur im Fall eines qualifizierten Handlungs- und Erfolgsunrechts vorgesehen hat.71 Eine sozialpolitische Argumentation, die das Betrugsunrecht unter der Hand mit dem Unrechtstypus des Wuchers vermengt, vermag dieses gesetzliche Ziel nicht zu erreichen. Sie läuft vielmehr auf eine Entgrenzung des Betruges hinaus.72 Würde man entsprechende sozialpolitisch motivierte Argumentationen konsequent zur Grundlage machen, müsste die Täuschung letztlich in jedem kausalen Bewirken eines Irrtums über Tatsachen aufgehen, was der Gesetzgeber unstreitig nicht gemeint hat.73 Die hier befürwortete – zudem mit dem Gesetz zu verzahnende – Interpretation des Betruges mithilfe der objektiven Zurechnung reduziert den strafrechtlichen Schutz Schwacher dagegen schon deshalb nicht im Übermaß, weil Verantwortungszuweisungen zum Getäuschten nicht voraussetzungslos erfolgen, sondern z. B. bei der Ausschlussfallgruppe der eigenverantwortlichen Selbstge-

70 NK-Kindhäuser § 263 Rn. 51 f; schon Merkel (Fn. 42) S. 261 ff, der aber selbst für einen qualifizierten Täuschungsbegriff eintritt, vgl. S. 136 ff, 253 ff, 278 ff, 312 ff; zum kriminologischen Aspekt der gezielten Tat gegen Leichtfertige Joecks § 263 Rn. 49. 71 Dazu z. B. Schünemann FS Faller, 1984, 357 (366 f); Naucke (Fn. 35) S. 69 ff; Vogel, in: Schünemann (Fn. 5), S. 89 (105 ff); Thomma (Fn. 52) S. 50 ff (450 f). 72 Dies kann aktuell am „individuellen Schadenseinschlag“ beobachtet werden, BGHSt 16, 321 (325 ff); 51, 10 (15 ff); 53, 199 ff; m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 133 ff. 73 Zu diesem heutigen Standard BGHSt 47, 1 (5); Fischer § 263 Rn. 21.

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fährdung eine bewusste Risikoentscheidung des Opfers zu seinen Lasten und die Zumutbarkeit eines alternativen Verhaltens voraussetzen.74 Ergänzend darf nicht übersehen werden, dass schon das Europarecht bzw. das europäische Verbraucherleitbild dazu anhält, die Täuschung im Wege der objektiven Zurechnung zu begrenzen.75 Zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 f AEUV) darf die Betrugsstrafbarkeit z. B. bei produktbezogenen Irreführungen entsprechend der heutigen vollharmonisierenden EU-Richtlinien erst dann greifen, wenn ihnen auch ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Verbraucher zum Opfer fallen kann.76 So ist der Betrugsschutz z. B. nach der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken zu begrenzen.77 Dies ist angesichts des Anwendungsvorrangs des Europarechts78 im Wege der europarechtskonformen Auslegung in der Praxis zwingend zu beachten.79 Die objektive Zurechnung kann diese Auslegungsvorgabe insbesondere in Form der hier vorgeschlagenen objektiven Täuschungseignung dogmatisch erfassen. Mehr noch spricht der Gedanke objektiver Zurechnung dafür, keine gespaltene, die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung beeinträchtigende und materiell gleichheitswidrige Betrugsauslegung entstehen zu lassen, die das Betrugsstrafrecht in „national weite“ und „europäisch beschränkte“ Fallgruppen mit divergenten Schutzmaßstäben aufspaltet.80 Dies gilt auch deshalb, weil z. B. mit dem arbeitsrechtlich eingeschränkten Fragerecht sogleich die nächste Fallgruppe einer Integration in die Betrugsauslegung harren würde, die nur bei der Täuschung über die objektive Zurechnung möglich scheint.81

74 Siehe statt vieler z. B. MüKo-Hefendehl Rn. 24 (219 ff); zu den allgemeinen Voraussetzungen anhand der §§ 212 ff, 223 ff StGB eingehend m. w. N. Roxin AT I § 11 Rn. 107 ff (113 ff): kein Wissensvorsprung; siehe insoweit zu § 263 auch Protzen wistra 2003, 208 (210). 75 Hecker Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 46 ff (286 ff); Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (711 ff); SSW-Satzger § 263 Rn. 66 f. 76 EuGH Slg. 1995, I-1923 ff („Mars“); Slg. 2000, I-117 ff („lifting creme“); m. w. N. Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (705 ff); Soyka wistra 2007, 127 (129 f). 77 Vgl. RL v. 11.5.2005, AblEU L 149/22 vom 11.6.2005; näher Soyka wistra 2007, 127 ff; Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (704 f, 711 ff); SSW-Satzger § 263 Rn. 66 (80). 78 BGHSt 37, 168 (174 f); 333 (336 f); m. w. N. Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (701 f). 79 Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (703 ff); Gaede wistra 2008, 184 (186). 80 Dannecker ZStW 117 (2005), 697 (707 ff, 711 ff); Soyka wistra 2007, 127 (131 ff); für Publikumswerbung Hecker (Fn. 75) S. 320 ff; a. A. Wessels/Hillenkamp BT II Rn. 491a. 81 Budde Der Anstellungsbetrug, 2005, S. 40 ff (205 ff, 220 f, 236 f); Pawlik (Fn. 3) S. 161 f; Gauger (Fn. 40) S. 151 ff; z. T. GS-Duttge § 263 Rn. 58.

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IV. Die Gefahrschaffung und Gefahrrealisierung beim Betrug Ist die objektive Zurechnung auf § 263 StGB danach anwendbar und vielmehr für das verhaltensgebundene Delikt im Besonderen geboten, so bleibt doch zu klären, nach welchen Strukturen und praktikablen Maßstäben (dazu vor allem V.) sie beim Betrug greifen sollte. Wie sind also die Ausgangskriterien der objektiven Zurechnung sinnvoll mit der qualifizierenden Beschreibung der gefahrschaffenden Tathandlung und der gestuften Gefahrrealisierung beim Betrug zu verzahnen? Auch in Auseinandersetzung mit anders lautenden Ansätzen ist von Folgendem auszugehen:

1. Qualifizierte Gefahrschaffung Versteht man auch den Betrug im Sinne der objektiven Zurechnung, so muss auch die mit der Täuschung qualifizierte Tathandlung eine unerlaubte Gefahr schaffen. Allein die gesetzliche Tathandlung kann die Ausprägung dieser ersten Kategorie der objektiven Zurechnung darstellen. Infolge der qualifizierten Umschreibung dieser Zurechnungsgrundlage und der Straflosigkeit der Vermögensbeschädigung an sich muss mit ihr eine qualifizierte Gefahr und nicht nur eine irgendwie unerlaubte Gefahr gemeint sein. Um die Schaffung dieser Gefahr in der Praxis des verhaltensgebundenen Delikts adäquat prüfen zu können, ist der Täuschungsbegriff – so wie dies auch die Gerichte bereits vereinzelt (verbal) aufgegriffen haben82 – um die Forderung nach einer objektiven Täuschungseignung zu ergänzen.83 Mit ihr ist sicherzustellen, dass nur eine nach rationalen Maßstäben taugliche, nicht gesellschaftlich akzeptierte und daher hinreichend qualifizierte Irreführung den Betrug verwirklicht. Damit ist nicht mehr jede beliebige Lüge automatisch eine unerlaubte Gefahr i. S. des Betruges (näher V.).

2. Deliktsspezifisch gestufte und qualifizierte Gefahrrealisierung Für die Gefahrrealisierung ist der Blick primär auf die Zwischenerfolge des Irrtums84 und vor allem der Vermögensverfügung zu richten, über die der abschließende Taterfolg der Vermögensbeschädigung vermittelt sein

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OLG Koblenz NJW 2001, 1364; BGH NJW 1995, 539; BGHSt 46, 196 (198 f); 47, 1 (5). I. E. (weithin) OLG Koblenz NJW 2001, 1364; Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 37 ff; Naucke FS Peters, 1974. 109, 118; Ellmer (Fn. 4) S. 271 ff (287 ff); Seier ZStW 102 (1990), 563 (573 f, 576 f, 578 f); Soyka wistra 2007, 127 (132 f); Mühlbauer NStZ 2003, 650 (651 ff); Hilgendorf (Fn. 51) S. 110 ff (185 ff); partiell SSW-Satzger § 263 Rn. 28. 84 Vgl. z. B. Pawlik (Fn. 3) S. 245 ff; Rengier FS Roxin, 2001, 811 ff (820 ff); MüKoHefendehl § 263 Rn. 219 ff; partiell Fischer § 263 Rn. 55. 83

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muss. Zurechnungsfragen können sich auf der Schadensebene nur85 noch – aber auch immerhin – bei Kompensationsproblemen stellen, da mit der Verfügung das Erfolgspotential des Betruges in Gestalt der Vermögensminderung schon feststeht.86 Die bislang für Irrtum und Verfügung nur geforderte Mitursächlichkeit87 der Täuschung ist unzureichend, weil sie die objektive Zurechnung nicht erschöpft. Da der Irrtum schon wegen Art. 103 Abs. 2 GG seines empirisch-psychologischen Gehalts nicht entkleidet werden könnte,88 ist es aber nicht ratsam, die normative objektive Zurechnung über eine neue Begriffsdefinition umzusetzen. Ein Ausweg liegt insbesondere nicht darin, den Irrtum nach kaum formulierbaren und angesichts ihrer Einbettung in eine innere Tatsache besonders schwer zu belegenden hohen Wahrscheinlichkeitsgraden einzuschränken;89 insofern mag weiter genügen, dass das Opfer die vorgetäuschte Tatsache für wahrscheinlich hält.90 Vielmehr muss auch für die Zwischenerfolge des Betruges das allgemeine Erfordernis geprüft werden, ob sich in ihnen die mit der Tathandlung gesetzte Erfolgsgefahr realisiert hat. Dies ist der Fall, wenn sich sowohl im Irrtum als auch in der auf ihm basierenden Verfügung die tatbestandliche Täuschung realisiert.91 Nur dann kann der aus den Zwischenerfolgen herzuleitende Vermögensschaden dem Täter als sein Werk zugerechnet werden. Nach diesem Modell werden etwaige Einschränkungen des Betruges regelmäßig schon über die mangelnde Gefahrschaffung Platz greifen. Es fehlt in den problematischen Fällen oft an einer tatbestandsmäßigen Täuschung, der sich Irrtum und Verfügung zurechnen ließen.92 Dies schließt auch einen entsprechenden Versuch aus.93 Ein Ausschluss der Gefahrrealisierung kommt aber insbesondere bei eigenverantwortlichen Selbstgefährdungen

85 Außer Betracht bleibt das Zurechnungsinstitut des „Dreiecksbetruges“, das eine gesonderte Zurechnungsproblematik betrifft, die sich nur für Selbstschädigungsdelikte stellt. 86 Lackner/Kühl § 263 Rn. 54; Jäger JuS 2010, 761 f. Die auf der Kompensationsebene durchaus vorhandenen Zurechnungsprobleme (z. B. zu hypothetischen Kausalverläufen BGH NStZ 1995, 85 [86]; NJW 2003, 1198 [1200]; Idler JuS 2004, 1037 [1040 f]; knapp AnwaltKGaede § 263 Rn. 94 f [115]) würden den Rahmen des hiesigen Beitrags sprengen. 87 BGHSt 34, 199 (201 f); 47, 1 (6); Fischer § 263 Rn. 87. 88 M. w. N. Walter (Fn. 59) S. 171 ff; AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 51 f. 89 Insoweit schon zutr. BGH NStZ 2003, 313 (314); MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 219; LKLackner § 263 Rn. 79 f; a. A. m. w. N. Krack JR 2003, 384 (385 f). 90 BGHSt 47, 83 (88); LK-Tiedemann § 263 Rn. 84 ff; weit BGH NStZ 2003, 313 (314); zur Grenze der mangelnden Stellungnahme LK-Lackner § 263 Rn. 75 f (81). 91 Vgl. schon RGSt 2, 392 (395 f): Täuschung muss die „wirkliche Ursache“ des Irrtums sein; m. w. N. zur mangelnden Zurechnung der Verfügung Harbort (Fn. 4) S. 81 ff. 92 Mit anderer Reichweite NK-Kindhäuser § 263 Rn. 51; Ellmer (Fn. 4) S. 272 f; Arzt MschrKrim 1984, 105 (112 f); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf BT § 20 Rn. 36 (49a). 93 Dazu etwa Seier ZStW 102 (1990), 563 (573 f, 576 f, 578 f).

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des Opfers in Betracht.94 Davon wird heute im Ergebnis nahezu unstreitig ausgegangen, wenn das vollverantwortlich handelnde Opfer die Wahrheit der vorgespiegelten Tatsache zwar noch für möglich hält, jedoch zumindest eventualvorsätzlich die Lüge des Täuschenden in Kauf nimmt und dennoch verfügt.95 In diesen Fällen ist jedenfalls die den Schaden vorzeichnende Verfügung strafrechtlich nicht das Werk des Täuschenden, sondern dem nicht hinreichend instrumentalisierten Opfer zuzuschreiben. Die Tatbestandsverneinung in diesem „Vorsatzfall“ entspricht den allgemeinen Maßstäben der objektiven Zurechnung, weshalb hier auch oft die Grenze gezogen wird.96 Deliktsspezifisch begründet wird man darüber aber – im Ergebnis mit Ansätzen der Viktimodogmatik – noch hinausgehen müssen. Auch dann, wenn das Opfer etwa erkannt hat, dass ein Schneeballsystem vorliegen kann, es dann aber nach Art eines Spielers sein Glück versucht und deshalb verfügt, ist darin kein Erfolgsunrecht zu erblicken, selbst wenn der Eventualvorsatz des Opfers nicht zu belegen war.97 Dem wird auch hier primär das altbekannte Argument entgegengehalten, dass die Fahrlässigkeit des Opfers den vorsätzlich handelnden Täter, von der Strafzumessung abgesehen, nicht entlasten könne. Auch leichtgläubige Opfer, die Täuschungen Glauben schenken, die bei hinreichend sorgfältiger Prüfung erkennbar gewesen wären, sollen geschützt bleiben.98 Dies übersieht aber zum einen, dass das vorsätzlich verübte Handlungsunrecht des Täters nicht egalisiert wird: Der regelmäßig wegen Versuchs strafbare Täter wird insoweit nicht entlastet.99 Zum anderen wird hier die notwendig deliktsspezifische Ausprägung der objektiven Zurechnung im Hinblick auf das Erfolgsunrecht bzw. ihre erkenntnisfördernde Wirkung für die Durchdringung einzelner Unrechtstypen verkannt. Der mangelnde Beleg des Opfervorsatzes allein verbürgt kein hinreichendes Erfolgsunrecht. Der Gesetzgeber hat die Betrugsstrafbarkeit nicht nur hinsichtlich des Täters verhaltensgebunden ausgestaltet. Er hat vielmehr mit den konstitutiv bedeutsamen Zwischener94 In verschiedenen Kontexten Pawlik (Fn. 3) S. 249 f; Rengier FS Roxin, 2001, 811 (821 ff); Fischer § 263 Rn. 87; GS-Duttge § 263 Rn. 36; Walter (Fn. 59) S. 236 ff; zu weiteren Fällen der mangelnden Gefahrrealisierung Saliger/Rönnau/Kirch-Heim NStZ 2007, 361 (363 f, 367 f); zur sog. Wissenszurechnung AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 62 ff. 95 BGH StV 2002, 132 f; KG StV 2006, 584; MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 24 (218 ff). 96 NK-Kindhäuser § 263 Rn. 178; SK-Hoyer § 263 Rn. 74. 97 Ähnlich i. E. OLG Karlsruhe wistra 2004, 276 (277 f); Rengier FS Roxin, 2001, 811 (821 ff); Naucke FS Peters, 1974, 109 ff; Pawlik (Fn. 3) S. 246 ff; Schünemann (Fn. 5) S. 51 (82 ff); Harbort (Fn. 4) S. 63 ff (84 ff, 192); m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 61. 98 BGHSt 34, 199 (201 f); 49, 275 (301 f); NStZ 2003, 313 (314); BGH NJW 2002, 1643 (1644); OLG Karlsruhe wistra 2004, 276 (277); SSW-Satzger § 263 Rn. 68 (80); LKTiedemann Vor § 263 Rn. 37 ff; NK-Kindhäuser § 263 Rn. 177 f. 99 Amelung GA 1977, 1 (12); Manzano Tiedemann Symp, 1994, S. 213 (220 f, 226); Idler JuS 2004, 1037 (1039); dagegen mit wenig realistischen Bedenken Hillenkamp (Fn. 8) S. 28 f.

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folgen Irrtum und Vermögensverfügung als Voraussetzungen des Erfolgsunrechts zusätzlich eine Instrumentalisierung des Opfers gegen sich selbst infolge der Täuschung gefordert. Dies wird zu gering veranschlagt, wenn auch eine Verfügung ins Blaue hinein, die der „Getäuschte“ mit zumutbarem Selbstschutz wie im Fall des „Spielers“ vermeiden konnte, noch als Vollendungsunrecht behandelt wird, obschon das Opfer hier nicht als instrumentalisiertes Täterwerkzeug erscheint.100 Vielmehr ist deliktsspezifisch begründet bereits von einem Zurechnungsausschluss infolge einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung auszugehen. Anders liegt es aber regelmäßig dann, wenn das Opfer etwa vor dem Hintergrund eines ernsthaften Prozessrisikos nachvollziehbar glaubte, verfügen zu müssen.101

V. Die objektive Täuschungseignung Kommen wir nochmals näher auf die Konturierung der Täuschung über die objektive Täuschungseignung zu sprechen. Ihre Maßstäbe müssen praktikabel gestaltet sein. Sie darf nicht der Kritik verfallen, nach der die objektive Zurechnung ein letztlich maßstabsloses Einfallstor für die kriminalpolitischen Vorstellungen ihrer Anhänger darstellt.102

1. Weitere Exposition: Maßstäbe und Leitbeispiele Da die Verhaltensnorm des Betruges nur darauf abzielt, hinreichend qualifizierte Irreführungen zu vermeiden (III. 2, IV. 1.), muss die objektive Täuschungseignung absichern, dass nur eine nach rationalen Maßstäben taugliche, nicht gesellschaftlich akzeptierte und daher hinreichend qualifizierte Irreführung den Betrug verwirklicht. Zur praktikablen Bestimmung empfiehlt es sich, im Zuge der gebotenen Verzahnung mit der gesetzgeberischen Tatbestandsformulierung und des auslegungsleitenden Rechtsguts von einer widerlegbaren Vermutung der objektiven Täuschungseignung vermögensbezogener falscher Tatsachenäußerungen auszugehen. So wird die besondere gesetzliche Verhaltensbeschreibung in Gestalt in praxi tra100 Vgl. schon Amelung GA 1977, 1 ff; R. Hassemer (Fn. 6) S. 97 f (131 ff, 113 ff, 166 f); Schünemann NStZ 1986, 439 (440 ff); Mühlbauer NStZ 2003, 650 (652 f); i. E. Hennings (Fn. 6) S. 179 ff; Harbort (Fn. 4) S. 84 ff; a. A. m. w. N. Idler JuS 2004, 1037 (1038 f). 101 Ähnlich z. B. schon BGH NStZ 2003, 313 (314 m. Anm. Beckemper/Wegner); Idler JuS 2004, 1037 (1039 f); Harbort (Fn. 4) S. 85 f; a. A. Krack JR 2003, 384 (385 f). Siehe auch zum Prozessbetrug Amelung GA 1977, 1 (16); B. Kretschmer GA 2004, 458 (464 ff). 102 Z. B. Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 93 ff; Hirsch FS Lenckner, 1998, 119 (141); Hilgendorf FS Weber, 2004, 33 ff; Kahlo, FS Küper, 2007, 249 ff.

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dierter Definitionsbestandteile kontinuitätsfördernd aufgegriffen. Die bisherige Definition der Täuschung wird aber von ihrer nur prima facie Bestimmtheit sichernden Absolutheit befreit, die auch die h. M. nicht durchzuhalten weiß (III. 2 a)). Die objektive Täuschungseignung muss danach entfallen, wenn sich eine Irreführung über Tatsachen als erlaubte oder vom Betrugstatbestand mangels Vermögensbezuges nicht untersagte Gefahr darstellt.103 Die objektive Täuschungseignung ist zu verneinen, wenn die Täuschung keinen Vermögensbezug aufweist oder das Recht vom Adressaten einer potentiell irreführenden Kommunikation erwarten durfte, dass er auf diese Kommunikation keine schädigende Verfügung stützt.104 Hierfür spricht neben der gebotenen Legitimation über den Rechtsgutsbezug nicht nur die allgemeine Lehre der objektiven Zurechnung im Verein mit dem hier einschlägigen verhaltensgebundenen Delikt. Zusätzlich sprechen dafür die §§ 253, 240 StGB, die sogar für offene Anfeindungen fordern, dass sie geeignet sind, ein Mindestmaß an Selbstbehauptung des Adressaten zu überwinden.105 Da der Gesetzgeber die Täuschung im Vergleich zum Zwang nicht als strafwürdiger beurteilt, sondern vielmehr nur den Zwang gesondert pönalisiert (§ 240 StGB), ist es auch systematisch geboten, nicht nur für § 253 StGB, sondern auch für die in § 263 StGB über einen Freiheitsangriff vermittelte Vermögensschädigung eine objektive, normative Eignung der Tathandlung vorauszusetzen. Die Umsetzung jener Prüfung kann zunächst auf die im Rahmen der objektiven Zurechnung entwickelten Kriterien106 und auf die bislang zum Betrug verdeckt anerkannten Fallgruppen zurückgreifen. So kann z. B. bei der Werbung aus einem mangelnden rationalen Erklärungsinhalt oder -kontext eine mangelnde qualifizierte Gefahrschaffung abzuleiten sein. Ebenso kann ein erlaubtes Risiko aus verkehrsüblichen oder in Rechtsnormen ausgedrückten Risiko- bzw. Verantwortungszuweisungen zum Adressaten zu folgern sein. Dafür bietet die EG-Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken ein Beispiel (vgl. III 2. b)). Sie begründet für etwaige Irreführungen, denen ein aufmerksamer Verbraucher nicht zum Opfer fallen kann, die rechtliche Erwartung, dass Adressaten auf diese Irreführungen 103 Siehe auch Roxin AT I § 11 Rn. 47 ff (106 ff), der implizit von der Unerlaubtheit der vorsätzlichen Erfolgsbewirkung ausgeht und sodann nach erlaubten Risiken oder Schutzzweckgrenzen des Tatbestandes fragt; Kindhäuser AT § 11 Rn. 5; zum Vermögensbezug schon Roxin FS Klug II, 1983, 303 (312 f); Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 38 ff. 104 Weithin ähnlich schon NK-Kindhäuser § 263 Rn. 75 (78); Hilgendorf (Fn. 51) S. 192 ff (199 ff); Ellmer (Fn. 4) S. 273 (282 ff); vgl. auch Vogel GS Keller, 313 (322 ff). 105 BGHSt 31, 195 (201); BGH NStZ 1982, 287; 1992, 278; Fischer § 240 Rn. 32a; zur Selbstbehauptung Vogel GS Keller, 313 (323 f); Beckemper/Wegner NStZ 2003, 315 f. 106 Siehe z. B. Roxin AT I § 11 Rn. 53 ff, zur Fahrlässigkeit § 24 Rn. 14 ff; Kühl AT § 4 Rn. 46 ff; Harbort (Fn. 4) S. 104 f (122 ff, 174 f).

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keine schädigenden Vermögensverfügungen stützen werden.107 Auch eine falsche Anpreisung als Öko- oder Bio-Produkt wird regelmäßig nur bei der Anknüpfung an ein genormtes Ökolabel und bei der Unterschreitung der ÖkoVO der EU objektive Täuschungseignung aufweisen.108 Stellt eine Arbeitnehmerin auf eine unzulässige Frage ihre Schwangerschaft in Abrede, fehlt dieser Irreführung infolge des einschlägigen Zivilrechts ebenfalls die objektive Täuschungseignung.109 Eine weitere prägende Fallgruppe mangelnder objektiver Täuschungseignung liegt in Täuschungen, die Vermögenseinsätze zu sitten- oder (straf-)rechtswidrigen Zwecken bewirken sollen, da das Recht auch hier erwarten darf (und muss!), dass der Adressat auf die Irreführung keine schädigende Verfügung stützt.110 Die objektive Täuschungseignung kann auch bei sog. bewussten Selbstschädigungen zu verneinen sein. Bei ihnen gibt das mögliche Opfer Vermögen in dem Wissen auf, keinen Vermögenswert als Ausgleich zu erhalten. In diesen Fällen erkennt auch die Rechtsprechung nunmehr zu Recht an, dass nicht jeder Motivirrtum die Betrugsstrafbarkeit auslöst.111 Eine objektive Vermögensminderung liegt aber auch hier vor. Sie kann nur mühsam über Erwägungen der Zweckerreichung hinfort argumentiert werden. Vorzugswürdig ist es, schon das Verhalten selbst, das nur die Gefahr unbeachtlicher Motivirrtümer schafft, nicht als eine objektiv täuschungsgeeignete Irreführung zu bewerten.112 Wenn die Legitimation des § 263 StGB konstitutiv aus dem Schutz des Vermögens vor Täuschungen folgt und kein Schutz vor Täuschungen als Selbstzweck angestrebt ist, muss sich schon die Täuschung hinreichend auf das zu schützende Vermögen beziehen und das Opfer diesbezüglich irreführen. Die objektive Täuschungseignung ist deshalb zu bejahen, wenn der Täter dem Opfer den vermögensschädigenden Charakter seiner Verfügung bzw. des vorgenommenen Geschäfts verschlei-

107 Soyka wistra 2007, 127 (128 ff); Hecker Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 19 ff; siehe auch schon Fn. 75-80. Hierbei wird indes nach den abgeschlossenen Geschäften/bestehenden Informationspflichten zu differenzieren sein. 108 Hecker (Fn. 75) S. 162 ff (288 ff); m. w. N. AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 20. 109 Budde (Fn. 81) S. 40 ff (205 ff); Gauger (Fn. 40) S. 151 ff; Pawlik (Fn. 3) S. 161 f. 110 I. E. wie hier z. B. schon LG Regensburg NStZ-RR 2005, 312 (313); Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 38 (41 ff); Hecker JuS 2001, 228 (231); NK-Kindhäuser § 263 Rn. 342 ff (343); Harbort (Fn. 4) S. 88 ff (103 ff); MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 441; Pawlik (Fn. 3) S. 146 f; zu § 240 StGB vgl. BGH NStZ 1992, 278. Siehe vereinzelt schon RGSt 21, 161 (162). 111 Grundlegend BGH NJW 1992, 2167; AnwaltK-Gaede § 263 Rn. 144 ff. 112 Weithin wie hier Graul FS Brandner, 1996, 801 (813 ff, 828 f); Merz „Bewußte Selbstschädigung“ u. die Betrugsstrafbarkeit usw., 1999, S. 125 ff (135 ff, 195 f über die Dispositionsfreiheit); Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 37 ff; Schmoller JZ 1991, 117 (125 ff); Pawlik (Fn. 3) S. 157 f; Schünemann FS Faller, 1984, 357 (363 f); Harbort (Fn. 4) S. 119 ff (124 ff); siehe auch Roxin FS Klug II, 1983, 303 (312 f): keine Täuschung über ein Liebhaberinteresse.

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ert (unbewusste Selbstschädigung).113 Darüber hinaus ist eine rechtsgutsund damit vermögensbezogene Irreführung des Opfers auch noch zu bejahen, wenn der Täter über die Verwendung täuscht, die der Gegenstand der Vermögensminderung nach der getroffenen Verabredung unmittelbar finden soll (bewusste Selbstschädigung infolge vermögensbezogener Täuschung).114 Auch hierin liegt ein Täuschungsinhalt, der auf das zu schädigende Vermögen gegenständlich bezogen ist. Der Vermögensinhaber gibt seine Rechtsstellung nur formell auf. Ihm wird verschleiert, dass der Vermögenswert tatsächlich nicht über die geschlossene Abrede als gleichsam ausgelagerter Vermögensposten fortwirkt. Nach diesen Maßstäben ist z. B. keine tatbestandsmäßige Täuschung zu bejahen, wenn ein Spender über angebliche Spenden seiner Nachbarn getäuscht wurde. Wer indes nur vorspiegelt, Spenden für Waisen zu sammeln, täuscht vermögensbezogen.

2. Auseinandersetzung mit Einwänden Entsprechend der allgemeinen Diskussion über die Bestimmbarkeit des unerlaubten bzw. erlaubten Risikos dürfte auch gegen den hiesigen Grundmaßstab (reflexartig) der Einwand der Unbestimmtheit erhoben werden.115 Tatsächlich ist das Grundmodell des vorgeschlagenen Maßstabes aber z. B. von der Drohungsalternative des § 240 StGB bereits bekannt, bei der ebenfalls nach der Selbstbehauptung des Kommunikationsadressaten gefragt wird. Dieser Maßstab wird im Rahmen des § 240 StGB zu Recht auch von der Praxis nicht wegen seiner Normativität als praxisuntauglich betrachtet. Vielmehr bietet er die Chance, die bereits existenten und dem Begriff der Tatsache eher notdürftig aufgezwungenen Normativierungen transparenter und damit überzeugender zu handhaben. Die heute zahlreichen Fallgruppen, die auf eine strukturierte normative Verarbeitung drängen, fordern dazu auf, sich dem etwa im Hinblick auf das europäische Recht schwerlich zu leugnenden Wertungsbedarf offen zu stellen. Auch beim Betrug werden mit der objektiven Zurechnung anerkannte oder lang diskutierte Einschränkungsfallgruppen (z. B. Werbeanpreisungen, bewusste Selbstschädigungen etc.), die sich nicht sinnvoll erst auf unwertkompensierende Rechtfertigungsgründe zurückführen lassen, einer gemeinsamen dogmatischen Grundlage zugeführt. Neue Fallgruppen mangelnder objektiver Täuschungseignung sind 113

Schröder NJW 1962, 721 f; MüKo-Hefendehl § 263 Rn. 662 ff. Weithin parallel Graul FS Brandner, 1996, 801 (816 ff); Rengier FS Roxin, 2001, 811 ( 820 f); Rudolphi FS Klug, 1983, 315 (322 ff); Schünemann (Fn. 5) S. 51 (62 f); Harbort (Fn. 4) S. 109 ff (119 ff); Merz (Fn. 112) S. 159 ff (196 f); noch weiter einschr. Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 38 f. 115 Vgl. z. B. Samson JA 1978, 469 (474); Hilgendorf FS Weber, 2004, 33 ff; Hennings (Fn. 6) S. 164 ff; SK-Hoyer § 263 Rn. 72 f; Pawlik (Fn. 3) S. 54 f (226 f). 114

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nach dem hiesigen Maßstab nicht ad hoc, sondern nur auf der Basis einer eingehenden Absicherung anhand des vom Gesetzgeber anerkannten Rechtsguts und des tatbestandlichen Schutzkonzepts zugelassen. Eine Bestimmtheitsvorgabe, die für die Normativierung der Täuschung erst bei einer gleichsam naturgesetzlich präzisierten Definition erfüllt wäre, würde demgegenüber den auch im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG einzubeziehenden normativen Charakter des Rechts übersehen und überdies die allein beschuldigtenschützende Zielrichtung des Bestimmtheitsgebots verkennen.116 Der fortbestehende Wertungs- und Konkretisierungsbedarf ist für sich genommen insoweit kein tragfähiger Einwand, zumal eine flankierende Präzisierungspflicht der Gerichte nun anerkannt ist.117 Soweit abweichend vom hiesigen Ansatz ein „Recht auf Wahrheit“ als Instrument der Normativierung formuliert wird (vgl. I.), sind die Ausgangspunkte in puncto objektiver Zurechnung in vielem parallel. Entsprechende Ausarbeitungen sind ein zusätzlicher Fundus für die Konkretisierung der vorgeschlagenen objektiven Täuschungseignung. Sie können etwa zu der in diesem Beitrag noch unbeantworteten Frage beitragen, ob die Eignung im Hinblick auf den konkreten Adressaten eine – vom Vorsatz aufzufangende – Individualisierung bei Minderfähigkeiten erfahren und damit – problematischerweise – auch Funktionen des Wuchers übernehmen sollte.118 Auch der Umstand, dass die objektive Täuschungseignung Einzelprobleme von Merkmalen wie dem Irrtum oder dem Schaden hin zur Tathandlung verlagert, ist nicht als Entdifferenzierung infolge der objektiven Zurechnung zu beurteilen, die als „riesiger Krake mit zahllosen Tentakeln“119 alles auf sich zieht. Vielmehr liegt darin eine Entwicklung, die in erster Linie verfehlt verorteten Normativierungen den richtigen Ansatzpunkt gibt und Fehlentwicklungen wie die Zweckverfehlungslehre korrigiert.120

VI. Zusammenfassung Die objektive Zurechnung, die Claus Roxin so sehr befördert hat, ist auch für den Betrug eine bedeutsame Erkenntnisquelle. Um diese Erkenntnisquelle nutzbar zu machen, ist besonders für das verhaltensgebundene Delikt 116 Zu den Maßstäben m. w. N. BVerfG NJW 2010, 3209 (3210 f); AnwaltK-Gaede § 1 Rn. 12, 19 ff; siehe auch Pawlik (Fn. 3) S. 1; Frisch FS Roxin, 2001, 213 (221 f) und jüngst Roxin FS Maiwald, 2010, 715 (724 f, 726 f). 117 Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 (3210 f); AnwaltK-Gaede § 1 Rn. 19 ff. 118 Dafür z. B. Ellmer (Fn. 4) S. 271 ff (287 ff); Kurth (Fn. 4) S. 160 ff; Hilgendorf (Fn. 51) S. 192 ff (199 ff); Kubiciel JZ 2010, 422 (424); näher auch Pawlik StV 2003, 297 (300 f). 119 Krit. z. B. Struensee GA 1987, 97 ff; zum Begriff Schünemann GA 1999, 207 (mit 227). 120 M. w. N. Graul FS Brandner, 1996, 801 (806 ff); Mitsch BT II 1 § 7 Rn. 37.

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des Betruges eine Verzahnung mit seiner besonderen tatbestandlichen Beschreibung der Erfolgsverwirklichung geboten. Damit die objektive Zurechnung in der Praxis nicht nur verdeckt und partiell wirken kann, sollte zum Prüfungsprogramm des Betruges in Zukunft insbesondere die objektive Täuschungseignung als deliktsspezifische Ausprägung zählen.

„Das Leben ist wie ein Schneeball“ oder Strafrechtliche Relevanz von enttäuschten Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr OSMAN ISFEN

I. Einleitung Umwälzende Entwicklungen geben bekanntlich Anlass zur kritischen Selbstreflexion. So hat es während der jüngsten Finanzkrise nicht an Mahnungen gefehlt, die Fehler der Vergangenheit dürften nicht wiederholt werden. Da machte beispielsweise der Fall Madoff deutlich, dass ein grenzenlos-naives Vertrauen in das Können eines Finanzjongleurs katastrophal enden kann, wenn keine ausreichenden Aufsichtsmechanismen vorhanden sind, die etwaigen Fehlentwicklungen frühzeitig und effektiv entgegentreten. Die Rede ist von einem „Schneeballsystem“, das Madoff über Jahre aufgebaut und mit fortlaufend frischem Kapital aufrechterhalten habe, bis es schließlich in der Finanzkrise zusammenbrach und einen geschätzten Schaden von 65 Milliarden US-Dollar hinterließ. Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick etwas irritierend, wenn ein anderer Investor, Warren Buffet, laut Forbes-Ranking 2010 drittreichster Mann der Welt mit einem geschätzten Privatvermögen von 47 Milliarden US-Dollar,1 seine mitten in der Finanzkrise erschienene Erfolgsbiografie unter dem Titel „The Snowball“2 präsentiert. Was hat es also auf sich mit der Metapher des „Schneeballs“ im Wirtschaftsverkehr? Nun ist Buffet weit davon entfernt, einem kriminellen Anlagesystem wie dem von Madoff das Wort zu reden. Doch an entsprechenden Stellen wird umso deutlicher, welche Parallelen zwischen solchen betrügerischen Machenschaften und dem Alltagshandeln von Marktakteuren bestehen und wie leicht ein grundsätzlich erlaubtes Verhalten in ein strafbares umschlagen kann. Kurz ausgedrückt: Bei einem auf Gewinnerzielung gerichteten, marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystem orientieren sich alle Betei1

Vgl. hierzu www.manager-magazin.de vom 11.03.2010. Alice Schroeder The Snowball, Warren Buffett and the Business of Life, 2008; in deutscher Sprache erschienen unter dem Titel „Warren Buffet – Das Leben ist wie ein Schneeball“. 2

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ligten an gewissen Zukunftserwartungen, wenn es um Entscheidungen geht, die auf der Grundlage aktueller Parameter getroffen werden müssen. So wie Flugzeuge regelmäßig in der Erwartung überbucht werden, dass einige der gebuchten Passagiere in letzter Minute abspringen werden, so treffen Marktteilnehmer risikobehaftete Dispositionen, die ohne ein Vertrauen auf eine entsprechende positive Entwicklung in der Zukunft nicht (mehr) vertretbar wären. Dazu gehört auch die Antizipation einer Fortdauer bzw. eines Anstiegs des Mittelzuflusses. Müssten beispielsweise Finanzinstitute von heute auf morgen auf die eingeplanten frischen Kundeneinlagen oder Assekuranzen auf die Prämien aus neuen Versicherungsverhältnissen verzichten, gerieten sie finanziell in eine bedrohliche Schieflage, die sogar die Insolvenz zur Folge haben könnte. Insofern ist einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung eine Erwartungshaltung im Sinne einer planerischen und operativen Vorwegnahme eines fortlaufenden bzw. steigenden Zuflusses von im Einzelnen nicht näher bestimmten Einnahmen immanent. Nur das so verstandene „Schneeballsystem“ ist der Gegenstand dieses Beitrags. Außer Betracht bleibt daher das damit verwandte Thema der progressiven Werbung (§ 16 Abs. 2 UWG), das ebenfalls unter dem Stichwort des Schneeballsystems behandelt wird.3 Anhand von Fällen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu jeweils unterschiedlichen Delikten (Betrug bei Kapitalanlagen, Umsatzsteuerhinterziehung, Untreue durch Kreditvergabe) soll nachfolgend untersucht werden, unter welchen Umständen eine enttäuschte Zukunftserwartung strafrechtlich ohne Folgen bleibt, oder aber wann die „Hoffnung auf bessere Zeiten“ allenfalls nur noch strafmildernd wirken kann.4 Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei die Fälle „in der Mitte“, also solche, bei denen anfänglich eine kriminelle Absicht nicht unbedingt vorliegt, aber die handelnden Akteure sich – nicht selten widerwillig – mehr und mehr in Richtung strafrechtsrelevantes Verhalten bewegen, bis in diesem Grenzbereich die Schwelle zum Strafbaren schließlich überschritten wird.

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Vgl. dazu BGHSt 43, 270. Aus steuerlicher Sicht BFH/NV 1996, 743. Des größten Schneeballsystems in dem geschilderten Sinne bedienen sich im Übrigen staatliche Organe mit ihrem Apparat der Sozialfürsorge und der öffentlichen Investitionen/Kreditgewährungen. Das ist freilich ein weites politisch-gesellschaftliches, in aller Regel aber kein strafrechtliches Feld. 4

Enttäuschte Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr

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II. Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung 1. Betrug bei Kapitalanlagen Um eine Abgrenzung zu den hier interessierenden Grenzfällen zu ermöglichen, soll zunächst die klassische Erscheinungsform eines strafbaren Schneeballsystems5 in Erinnerung gerufen werden. Vereinfacht dargestellt geht es dabei um überhöhte, mit den gewöhnlichen Marktmitteln nicht erreichbare Renditeversprechen, die in Wahrheit durch laufende Neueinzahlungen von Anlagekapital bedient werden, bis das System – oft mangels frischen Kapitals – zusammenbricht. Unproblematisch ist in solchen Fällen die Bejahung eines Betrugs,6 soweit das ganze System von Beginn an auf Täuschung der Anleger über die tatsächliche Nichtexistenz des beworbenen Anlagesystems beruht. In solchen Fällen kommt ein Betrug selbst bei absprachegemäßer Rückzahlung der Anlagenanteile in Betracht, wie der Bundesgerichtshof jüngst erneut betont hat7: „Denn auch in diesen Fällen war der von den Investoren für ihre Zahlungen erlangte Gegenanspruch zum Zeitpunkt der Verfügung wirtschaftlich wertlos. Zwar bestand – wie es einem Schneeballsystem immanent ist – für die ersten Anleger eine gewisse Chance, ihr Kapital zurück und selbst die versprochenen Erträge ausbezahlt zu erhalten. Dies beruhte aber nicht auf der Umsetzung des vom Angeklagten vorgegaukelten Anlagemodells oder auch nur dem Versuch hierzu. Vielmehr hing alles vom weiteren ‚Erfolg’ des allein auf Täuschung aufgebauten Systems und vom Eingang weiterer betrügerisch erlangter Gelder ab. Die hierauf basierende Aussicht auf Erfüllung der vom Angeklagten eingegangenen Verpflichtung war nicht, auch nicht teilweise, die versprochene Gegenleistung, sondern ein aliud ohne wirtschaftlichen Wert. Eine auf die Begehung von Straftaten aufgebaute Aussicht auf Vertragserfüllung ist an sich schon wertlos“.8 Vor diesem Hintergrund stellt eine etwaige absprachegemäße Rückzahlung lediglich eine Schadenswiedergutmachung dar, die aber in der Regel nicht strafmildernd berücksichtigt werden kann, da die hierzu verwendeten Mittel ihrerseits wieder betrügerisch erlangt werden.9 Weit problematischer sind jedoch solche Konstellationen, bei denen anfänglich ein realistisches Anlagemodell vertrieben wird, man aber aufgrund 5

Vgl. zu verschiedenen Erscheinungsformen Schorsch Kriminalistik 2007, 236. Zur Strafbarkeit wegen Kapitalanlagebetrugs (§ 264a StGB) und Untreue (§ 266 StGB) siehe Kilian HRRS 2009, 288 f. 7 BGHSt 53, 199 (=NStZ 2009, 330). Dazu Küper JZ 2009, 800; Ransiek/Reichling ZIS 2009, 315; Schlösser NStZ 2009, 663. Um ähnliche Fälle ging es auch in BGH NStZ 1996, 191 sowie NStZ 2000, 376. 8 BGHSt 53, 199, (204 f) mit Bezugnahme auf BGHSt 51, 10 (15 f). Vgl. ferner BGHSt 30, 177 (181); 32, 22 (Warenterminoptionen). 9 BGH NStZ 1996, 191; Fischer § 263 Rn. 78b. 6

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verschiedener Umstände (veränderte Marktlage, Neuausrichtung der Vertriebsstruktur, Profilierung gegenüber der Konkurrenz etc.) dazu übergeht, größere Risiken einzugehen und spekulativere Produkte anzubieten, was im Laufe der Zeit wegen zunehmenden Misserfolgs zum Aufbau eines strafbaren Schneeballsystems führt. Hier ist – nicht zuletzt bei der Bestimmung der strafzumessungsrelevanten Schadenshöhe10 – von besonderer Wichtigkeit, wann das zunächst erlaubte Marktverhalten in Anbetracht enttäuschter Zukunftserwartungen evolutionär in eine strafrechtsrelevante Schädigung der Anleger übergegangen ist. Angesichts der typischerweise fließenden Natur solcher Übergänge führt diese Fragestellung zunächst zu der in den letzten Jahren intensiv diskutierten Problematik einer schadensgleichen Vermögensgefährdung als Schaden im Sinne der §§ 263, 266 StGB bzw. eines möglichen Erfordernisses der Billigung eines eventuellen Endschadens.11 An dieser Stelle ist nicht beabsichtigt, näher auf die diesbezüglichen einzelnen Standpunkte einzugehen.12 Es soll lediglich am Rande festgehalten werden, dass die Konstruktion der schadensgleichen Vermögensgefährdung zwar verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht beanstandet wurde,13 aber innerhalb des Bundesgerichtshofs mittlerweile doch erheblich umstritten ist.14 Allem Anschein nach geht die höchstrichterliche Tendenz dahin, nicht mehr zentral auf die verschiedenen, z. T. nur terminologisch voneinander abgrenzbaren Varianten des Vermögensschadensbegriffs und deren Einschränkungen durch subjektive Elemen-

10 Zur Bedeutung der Schadenshöhe für die Strafzumessung bei Betrug und Untreue Schlösser StV 2008, 550 ff. 11 Neuerlicher Ausgangspunkt der Diskussion war bekanntlich die sog. KantherEntscheidung in BGHSt 51, 100. 12 Ausführlich zu der Problematik MüKo-StGB/Hefendehl § 263 Rn. 532 ff. Aus jüngerer Zeit kritisch Bernsmann GA 2007, 229 f; Schünemann NStZ 2008, 432. 13 BVerfG NStZ 2009, 560. Dazu Fischer StV 2010, 95. Freilich müssen Gerichte, so das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Entscheidung (BVerfG NStZ 2010, 626), einen (Gefährdungs-)Schaden in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise feststellen: „Anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe sind zu berücksichtigen; soweit komplexe wirtschaftliche Analysen vorzunehmen sind, wird die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich sein. Die im Falle der hier vorzunehmenden Bewertung unvermeidlich verbleibenden Prognose- und Beurteilungsspielräume sind durch vorsichtige Schätzung auszufüllen. Im Zweifel muss freigesprochen werden.“ (a.a.O. 630). 14 Eindeutig ablehnend der Erste Senat in BGH NStZ 2008, 457; BGHSt 53, 199 (202), der in solchen Fällen einen endgültigen Vermögensschaden annimmt. Selbst der Zweite Senat, der sich noch in der Kanther-Entscheidung (BGHSt 51, 100) für das Institut der schadensgleichen Vermögensgefährdung stark gemacht hatte, schließt sich in der Siemens-Entscheidung (BGHSt 52, 323) unter insoweitiger Aufgabe seiner erwähnten Rechtsprechung (BGHSt 52, 323 [338]) dieser Perspektive der Betonung eines endgültigen Schadens zumindest für den Fall verdeckter Kassen im Bereich der Privatwirtschaft an.

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te15 abzustellen, sondern die entscheidenden Problempunkte an anderen Stellen, vor allem bei der Schadensfeststellung, zu behandeln und somit auch eine gewisse Entzerrung vorzunehmen.16 Für die vorliegend näher untersuchte Problematik bedeutet dies, dass sich der Blick maßgeblich auf den subjektiven Tatbestand zu richten hat. Bevor die hier interessierenden Grenzfälle näher beleuchtet werden, lohnt sich auch an dieser Stelle zunächst wieder ein Blick darauf, wann nach Ansicht der Rechtsprechung grundsätzlich von einem Betrugsvorsatz auszugehen ist. Insoweit wird festgehalten, dass ein Betrugsvorsatz nicht schon deshalb entfalle, weil „der Täter beabsichtigt, hofft oder glaubt, den endgültigen Schaden abwenden zu können.“17 Ein täterseitiges Vertrauen und Hoffen darauf, „dass aus der Gefährdung letztlich kein Schaden erwachse“, sei unbeachtlich.18 Eine „vage Hoffnung …, die wahrheitswidrig aufgeführten Renditen doch noch zu realisieren bzw. die verbleibenden Gelder so erfolgreich einzusetzen, dass die Verluste langfristig wieder ausgeglichen werden würden“, schließe eine Strafbarkeit wegen Betrugs nicht aus.19 Irrelevant ist es dementsprechend, wenn „der Täter hoffte, es werde letzten Endes alles gut gehen und das Risiko werde sich nicht realisieren“.20 Es überrascht nicht, dass die von der oben zitierten Rechtsprechung verwendeten Begrifflichkeiten zur Bejahung des Betrugsvorsatzes sehr deutlich an die von der klassischen Vorsatzdogmatik bekannte Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit anknüpfen. Denn schließlich geht es auch hier um Fälle „in der Mitte“, d. h. der Schädigungserfolg wird weder angestrebt noch als sicher erkannt. Allerdings verbietet sich eine schematische Übertragung dieser klassischen Maßstäbe auf Wirtschaftsstrafrechtssachverhalte mit ihren vom unternehmerischen Risiko geleiteten Handlungsmotiven der Marktakteure: „Derartige Umschreibungen, die weitgehend für den Bereich der Tötungsdelikte entwickelt worden sind, (können) nicht formelhaft auf Fälle offener, mehrdeutiger Geschehen 15

Generell zur Möglichkeit einer Tatbestandseinschränkung über den Vorsatz im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung siehe BVerfG NJW 2004, 1311 f. 16 Vgl. die in Fn. 13 und Fn. 14 aufgeführten Nachweise. 17 BGH NStZ-RR 2001, 230. Anders soll es jedoch nach Auffassung des Zweiten Senats in der Kanther-Entscheidung, BGHSt 51, 100 (123), für den Fall sein, dass „die Täter angesichts des über fast zwei Jahrzehnte erfolgreich funktionierenden Verschleierungssystems ernsthaft und nicht nur vage (Hervorhebung durch den Verf.) darauf vertrauten, dass die Geheimkonten unentdeckt blieben, und daher bei der Erstellung der falschen Rechenschaftsberichte zwar eine (konkrete) Vermögensgefährdung als notwendige Folge ihres Handelns in Kauf nahmen, eine Realisierung dieser Gefahr jedoch unter allen Umständen vermeiden wollten und keinesfalls billigten“. Zur Ablehnung bzw. Einschränkung dieser Sicht vgl. Fn. 14. 18 BGH NJW 1994, 1746, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 40, 84. 19 OLG Düsseldorf 14 KLs 3/10, Urteil vom 30.06.2010. 20 BGH NStZ 2003, 264.

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angewendet werden“.21 Gerade bei solchen „komplexen und mehrdeutigen Strukturen, wie sie in Wirtschaftsstrafsachen häufig gegeben sind, kann das Wollenselement nicht ausschließlich aus der Perspektive der Schadenswahrscheinlichkeit betrachtet werden. Erforderlich ist vielmehr immer eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls, bei der auch die Motive und die Interessenlage des Täters ebenso zu berücksichtigen sind wie der konkrete Zuschnitt der zu beurteilenden Geschäfte“.22 Es bedarf also einer „wirtschaftsspezifischen“ Konkretisierung der Abgrenzungsmerkmale, die sich – freilich eher sporadisch und stets einzelfallbezogen – auch in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wiederfinden. So setze die Gesamtwürdigung zur Feststellung des Wollenselements „neben einer Feststellung von Krisenanzeichen und ihrer exakten zeitlichen Einordnung auch eine Prüfung (voraus), inwieweit die Investitionsobjekte für die Angeklagten als gewinnbringend erscheinen konnten. Ein entsprechender Schädigungsvorsatz kann nämlich dann zweifelhaft sein, wenn die Angeklagten aufgrund der Marktlage erwarten konnten, ausscheidende Anleger durch neu gewonnene zu ersetzen und jedenfalls in absehbarer Zeit mit den Erträgen aus dem investierten Vermögen die Aufwendungen für das Unternehmen zu decken“.23 Ein vorsätzliches Betrugsverhalten muss ferner zumindest dann näher begründet werden, wenn die innere Einstellung des Täters zu den geschädigten Opfern einen Schädigungsvorsatz eher fernliegend erscheinen lassen kann: „Weiterhin glaubt die Strafkammer dem Angeklagten,24 dass seine Tätigkeit von dem Wunsch einer guten Beratung seiner größtenteils finanzunerfahrenen Kunden getragen war und er diesen deshalb die vermeintlich hochrentierlichen Anlagen empfohlen und ihnen die für ihn fernliegende Möglichkeit des Kapitalverlustes zu ihrem Besten verschwiegen habe. Auch diese Feststellung verträgt sich nicht mit der Annahme, der Angeklagte habe den möglichen Kapitalverlust der Anleger billigend in Kauf genommen“.25

2. Umsatzsteuerverkürzung auf Zeit Um enttäuschte Zukunftserwartung geht es auch in den (Massen-)Fällen einer Umsatzsteuerverkürzung nach §§ 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1 Var. 2, 21

BGHSt 46, 30 (35). BGHSt 48, 331 (347). Ebenso BGH StV 2008, 527. 23 BGHSt 48, 331 (348). 24 Dieser hatte im konkreten Fall selbst 10.000 DM (und sein Vater sogar 100.000 DM) in das betreffende Finanzkonstrukt investiert und verloren: „Dies lässt es nicht ausgeschlossen erscheinen, dass der Angeklagte davon überzeugt war, das Anlagekapital werde ordnungsgemäß zurückgezahlt werden.“, BGH NStZ 2003, 264. 25 BGH NStZ 2003, 264. 22

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3 AO i. V. m. 18 Abs. 1 S. 1 UStG, wenn – oft wegen Liquiditätsmangels – unzutreffende Umsatzsteuervoranmeldungen in der Hoffnung abgegeben werden, bei der endgültigen Umsatzsteuerveranlagung (§ 18 Abs. 3 UStG) den tatsächlich geschuldeten Betrag zahlen zu können. Der Bundesgerichtshof hat in seiner jüngeren Steuerstrafrechtsprechung auch in diesem Bereich26 eine Verschärfung vorgenommen.27 In der betreffenden Entscheidung arbeitet er zunächst ausführlich den jeweils eigenständigen Unrechtsgehalt der falschen Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen einerseits und Umsatzsteuerjahreserklärungen andererseits heraus und weist darauf hin, dass der tatbestandsmäßige Steuerhinterziehungserfolg bei einer falschen Umsatzsteuervoranmeldung unabhängig davon eintritt, ob der Steuerschuldner beabsichtigt, zu einem späteren Zeitpunkt – namentlich in der Umsatzsteuerjahreserklärung – falsche Angaben zu berichtigen bzw. fehlende Angaben nachzuholen, oder ob er durch Abgabe einer entsprechend falschen Umsatzsteuerjahreserklärung eine Steuerverkürzung auf Dauer anstrebt: Im Hinblick auf den Charakter der Steuerhinterziehung als Gefährdungsdelikt28 unterscheide sich bei der Umsatzsteuerhinterziehung die Verkürzung „auf Dauer“ und diejenige „auf Zeit“ nicht im Erfolgs-, sondern – im Hinblick auf das Vorstellungsbild des Täters – nur im Handlungsunrecht.29 Wolle der Täter sich durch unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen lediglich auf Zeit Liquidität verschaffen und habe er vor, im Rahmen der Jahreserklärung zutreffende Angaben zu machen und den sich ergebenden Unterschiedsbetrag im Sinne von § 18 Abs. 4 S. 1 UStG zu entrichten, sei sein Ziel nur eine Schadenswiedergutmachung.30 Hinsichtlich einer etwaigen strafmildernden Wirkung einer solchen Schadenswiedergutmachung sind verschiedene Konstellationen denkbar.31 Vergleichsweise einfach liegt es, wenn der Täter – seinem Tatplan entsprechend – die unrichtigen Angaben in der Jahresumsatzsteuererklärung vollständig berichtigt und die zunächst hinterzogenen Steuern nachzahlt: Hier dürften die Voraussetzungen einer strafbefreienden Selbstanzeige

26 Vgl. ferner zur verschärften Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Steuerstrafrecht BGHSt 53, 71 (Strafzumessung bei Steuerhinterziehung); BGH NJW 2010, 2146 (Anforderungen an eine strafbefreiende Selbstanzeige). 27 BGHSt 53, 221 (=NStZ 2009, 510). Dazu Buse Umsatzsteuer-Rundschau 2010, 325. 28 Vgl. Franzen/Gast/Joecks Steuerstrafrecht § 370 AO Rn. 15. 29 In diesem Sinne hat der Bundesgerichtshof mit dieser Entscheidung (BGHSt 53, 221 [229]) auch Abstand von seiner alten Rechtsprechung (vgl. BGHSt 43, 270 [276]; BGH NStZ 1997, 554) genommen, die den tatbestandsmäßigen Umfang der Steuerverkürzung auf Zeit grundsätzlich auf den Zinsverlust beschränkt hatte. 30 BGHSt 53, 221 (231). 31 Siehe zum Nachfolgenden BGHSt 53, 221 (231 f.).

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gemäß § 371 AO in der Regel gegeben sein.32 Tritt ausnahmsweise keine Straffreiheit ein, ist – freilich erst – im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Täters zu berücksichtigen, dass sein Vorsatz nur auf eine Verkürzung „auf Zeit“ gerichtet war und er den Steuerschaden wiedergutgemacht hat. Ebenso strafmildernd wirkt sich der Umstand aus, dass der Täter zur Verheimlichung seiner Taten auf Geltendmachung der Vorsteuer verzichtet hat.33 Ein ähnlich klares Bild ergibt sich, wenn anfänglich ausreichend Zahlungsmittel für die Entrichtung der Steuern vorhanden waren, denn in solchen Fällen scheidet die Schaffung von Liquidität als Tatmotiv regelmäßig aus, so dass vieles für eine Steuerverkürzung auf Dauer bereits im Stadium der Voranmeldung spricht. Sollte also ein solcher Täter – entgegen seines ursprünglichen Plans – die falschen Voranmeldungen doch korrigieren und entsprechende Nachzahlungen leisten, aber, einerlei aus welchem Grunde, keine Straffreiheit nach § 371 AO erlangen, so könnte ihm im Rahmen der Strafzumessung allein der Umstand des fehlenden Vorsteuerabzugs zu Gute gehalten werden. Problematisch sind wiederum die Fälle „in der Mitte“, in denen es um zunächst tatsächlich beabsichtigte Schadenswiedergutmachung geht, die aber wegen schlechter wirtschaftlicher Entwicklung ausbleibt. Dazu merkt der Bundesgerichtshof an: „Scheitert die vom Täter zunächst beabsichtigte Schadenswiedergutmachung daran, dass es ihm nach einer wahrheitsgemäßen Umsatzsteuerjahreserklärung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich ist, den Unterschiedsbetrag im Sinne von § 18 Abs. 4 S. 1 UStG nachzuentrichten, kommt es ebenfalls zu einer dauerhaften Verkürzung der Steuer. Im Rahmen der Strafzumessung kann dem Täter dann zwar zu Gute gehalten werden, dass er bei der Tatbegehung eine spätere Schadenswiedergutmachung vorhatte. Waren allerdings bereits bestehende finanzielle Schwierigkeiten Motiv für die Abgabe falscher Umsatzsteuervoranmeldungen, relativiert dies die strafmildernde Bedeutung der Wiedergutmachungsabsicht. Denn in solchen Fällen ist die spätere Unmöglichkeit der Entrichtung der vom Unternehmer wie von einem Treuhänder für den Staat verwalteten Umsatzsteuerbeträge regelmäßig vorhersehbar. Die ‚Absicht’ der Wiedergutmachung erweist sich dann als bloße – oft sogar unrealistische – ‚Hoffnung’“.34 32 Vgl. OLG Hamburg NJW 1970, 1386; wistra 1985, 166; Kohlmann Steuerstrafrecht, Stand 39. Lfg. Oktober 2008, § 371 AO Rn. 64.2. 33 BGH wistra 2005, 145. 34 BGHSt 53, 221 (232). Eine insoweit andere Situation will der Bundesgerichtshof dann annehmen, „wenn – was eher selten vorkommen dürfte – die Unmöglichkeit der Schadenswiedergutmachung für den Unternehmer aus einem plötzlichen und unvorhersehbaren Ereignis resultiert“, BGHSt 53, 221 (232).

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3. Untreue durch Kreditvergabe Bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der jüngsten Finanzkrise werden sich Strafgerichte sicherlich intensiver mit der Frage einer Untreuestrafbarkeit bei fehlgeschlagenen Kreditengagements beschäftigen. Diese Geschäfte haben in vielfacher Hinsicht eine Gemeinsamkeit mit Wetten auf künftige Ereignisse, da sie aufgrund von Erfahrungswerten in der Vergangenheit und Momentanaufnahmen zum Zeitpunkt der Kreditgewährung die Entwicklungen in der Zukunft vorwegnehmen. Werden die gewährten Kredite notleidend, so liegt demnach auch in diesen Fällen eine enttäuschte Zukunftserwartung vor, deren strafrechtliche Relevanz zu prüfen ist. Der Bundesgerichtshof hat sich in mehreren Entscheidungen zur Verantwortlichkeit von Entscheidungsträgern bei Banken in Fällen fauler Kredite geäußert. In einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1979 führt er zum Problembereich Vorsatz aus: „Erkennt der Leiter einer Bank die jeweilige gegenwärtige Benachteiligung der Bank als mögliche Folge seines Handelns und nimmt er sie dennoch hin in der Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit später einmal doch noch gut ausgehen werde, so handelt er vorsätzlich. Diese Zukunftserwartung steht einem für die jeweilige Gegenwart vorhandenen bedingten Benachteiligungsvorsatz nicht entgegen, sondern betrifft nur die spätere Nachteilsbeseitigung oder Wiedergutmachung“.35 Diese doch etwas apodiktische Rechtsprechung wurde in späteren Jahren verfeinert, wobei insbesondere der Charakter von Kreditgeschäften als Risikogeschäfte36 betont wurde. Auszugehen sei von der Grundeigenschaft aller Kreditbewilligungen als ihrer Natur nach mit einem Risiko behafteter Geschäfte.37 Erforderlich seien demnach „eingehende Erörterungen“ auch zum subjektiven Tatbestand: Der Entscheidungsträger müsse „eine über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehende Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank erkannt und gebilligt haben. Bei Bankvorständen und Bankmitarbeitern versteht sich das auch bei problematischen Kreditvergaben jedoch nicht von selbst, wenn nicht (bestimmte) Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung vorliegen“.38 Zu beachten sei ebenfalls, dass aufgrund der Weite des objektiven Tatbestands der Untreue besonders strenge Anforderungen an den Nachweis der inneren Tatseite zu stellen seien: „Das gilt vor allem dann, wenn … lediglich bedingter Vorsatz in Betracht kommt und der Täter nicht eigensüchtig gehandelt hat“.39 35

BGH NJW 1979, 1512 mit Verweis auf BGH 1 StR 381/62, Urteil vom 29.1.1962. Grundlegend zu Risikogeschäften Waßmer Untreue bei Risikogeschäften 1996, passim. Ferner instruktiv Hillenkamp NStZ 1981, 161; aus jüngster Zeit Murmann Jura 2010, 561. 37 BGH wistra 1985, 191. 38 BGHSt 46, 30 (34 f). 39 BGH wistra 1987, 137. Ebenso BGH wistra 1997, 301; 2000, 60. 36

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Hinsichtlich des Vorsatzbeweises40 hat der Bundesgerichtshof in einer weiteren Entscheidung die Bedeutung von Pflichtverletzungen im Vorfeld der Kreditgewährung und dem sich anschließenden Stadium der Kreditbeobachtung (vgl. § 18 KWG bzw. dessen Rechtsgedanke41) betont: „Liegt … neben42 einer gravierenden Verletzung der Informations- und Prüfungspflicht bereits eine derart über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehende erkannte höchste Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank vor, so liegt es nahe, dass der Bankleiter die Schädigung der Bank im Sinne einer Vermögensgefährdung auch billigend in Kauf genommen hat. Die Billigung liegt noch näher, wenn das Kreditengagement unbeherrschbar ist. Generell gilt, dass eine Billigung nahezu stets anzunehmen ist, wenn der Bankleiter erkennt, dass die Kreditvergaben die Existenz der Bank aufs Spiel setzen“.43

III. Die Fälle „in der Mitte“ – Annäherungen an eine wirtschaftsspezifische Konkretisierung des Vorsatzes Das Leben mit der stetigen Hoffnung auf eine bessere Zukunft gehört zu den Grundeigenschaften des Menschen, frei nach Schillers „Hoffnung“: Es reden und träumen die Menschen viel Von bessern künftigen Tagen, Nach einem glücklichen goldenen Ziel Sieht man sie rennen und jagen. 40 Zum (Indizien-)Beweis des in den untersuchten Fällen besonders interessierenden dolus eventualis Roxin AT I § 12 Rn. 32 f. Zur Bedeutung der Unterscheidung zwischen den begrifflichen Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes und den Anforderungen, die an seinen Beweis zu stellen sind, BGHSt 46, 30 (35); Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben § 15 Rn. 87-87b. 41 Dazu BGH NJW 1994, 2155: „Nach § 18 KWG ist ein Kreditinstitut verpflichtet, sich … die wirtschaftlichen Verhältnisse, insb. durch Vorlage der Jahresabschlüsse, aber auch von Steuererklärungen u. a., offenlegen zu lassen und den Kredit während der gesamten Laufzeit zu überwachen, um bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse Vorsorge treffen zu können … Die Kreditinstitute sind verpflichtet, sich nachhaltig um die Vorlage entsprechender Jahresabschlüsse bzw. eines Vermögensstatus mit ergänzenden Angaben … zu bemühen und die weitere Kreditgewährung von einer solchen Vorlage abhängig zu machen, den Kredit also zu kündigen, wenn ihnen die Erfüllung ihrer gesetzlichen Verpflichtung durch das Verhalten ihres Kunden unmöglich gemacht wird“. Auf diese zivilrechtlichen Vorgaben bezieht sich auch BGHSt 47, 148 (152). 42 Die Verletzung der Informations- und Prüfungspflicht als solche kann nicht ohne weiteres allein zum Vorsatzbeweis herangezogen werden. Dies geht bereits daraus hervor, dass die Verletzung des § 18 KWG gesondert sanktioniert wird, und zwar als bloße Ordnungswidrigkeit nach § 56 Abs. 2 Nr. 4 KWG. 43 BGHSt 47, 148 (157).

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Die Welt wird alt und wird wieder jung, Doch der Mensch hofft immer Verbesserung! Und was die innere Stimme spricht, Das täuscht die hoffende Seele nicht. Diese menschliche Grundhaltung zeigt sich auch und vor allem im Wirtschaftsleben. Auch dort geht es um Zukunftserwartungen, die sowohl aufgehen als auch enttäuscht werden können. In diesem Risikogeflecht sind die Akteure auf einen gewissen Freiraum angewiesen, in dem sie sich frei entfalten können. Bildlich gesprochen bedarf es einer langen und breiten Fläche, auf der der Schneeball rollen kann, einerlei ob er dann zu einem stattlichen Gebilde wird oder deformiert und letztlich zu einer losen Schneepulveransammlung verkümmert. Der Bundesgerichtshof beschreibt diese Ausgangslage mit dem Begriff „der unternehmerischen Handlungsfreiheit“: Der Geschäftsleitung müsse „ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist. Dazu gehört neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, der jeder Unternehmensleiter, mag er auch noch so verantwortungsbewusst handeln, ausgesetzt ist“.44 In diesem Sinne will das Strafrecht „gesundem Unternehmergeist und kaufmännischem Gewinnstreben (gewiss) nichts in den Weg legen“.45 Wo diese unternehmerische Handlungsfreiheit umschlägt in eine substanzlose Mentalität der Zukunftswette, fängt der Einzugsbereich des Strafrechts an. Sieht man einmal von Tätern ab, die es von Beginn an auf kriminelle Machenschaften abgesehen haben, dürfte es dabei in aller Regel ein evolutionärer Prozess sein, bei dem das vorher erlaubte Wirtschaftshandeln nunmehr mit strafrechtlichen Risiken in Berührung kommt. Angesprochen sind somit die Fälle „in der Mitte“, bei denen die Trennlinie zwischen einem hoffenden Realisten und einem hoffenden Träumer verläuft. Es ist selbstredend nicht möglich, alle risikobehafteten Geschäftsvorgänge nach einem einheitlichen Muster zu behandeln. Dagegen spricht bereits die Eigenheit des jeweiligen Falles mit seinen spezifischen tatsächlichen Gegebenheiten. Hinzu kommt die Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter, die den Beginn des strafrechtlichen Schutzes nach vorne oder nach hinten verlagern können. Auch aus Raumgründen finden sich daher nachfolgend nur umrisshafte Allgemeinsätze nicht abschließenden Umfangs. Wie nicht selten möglich, lassen sich erste Anhaltspunkte für die Grenzziehung zwischen einem strafrechtlich unbedenklichen Risikoeingang und 44 45

BGHZ 135, 244 (253). BGH 1 StR 381/62, Urteil vom 27.11.1962.

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einem sinnentleerten Hoffen auf eine bessere Zukunft zunächst aus dem Gesetz ableiten, so beispielsweise aus § 283 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Danach ist in besonderen Krisenfällen, nämlich bei Überschuldung oder bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit, bei Strafe untersagt, in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise Verlust- oder Spekulationsgeschäfte oder Differenzgeschäfte mit Waren oder Wertpapieren einzugehen. Dahinter steckt der gesetzgeberische Gedanke, dass zum Schutz der Insolvenzmasse vor Schmälerungen der Schuldner nicht „wie ein Spieler ‚alles auf eine Karte setzt’, um den Zusammenbruch doch noch zu vermeiden“.46 In abweichenden Sondersituationen mit erkennbaren Gefahrenlagen, insbesondere in Krisenfällen, wird also generell erhöhte Achtsamkeit hinsichtlich der Risikobewertung verlangt. Schlichtweg verboten sind risikoreiche Wirtschaftsaktivitäten freilich auch in diesen Fällen nicht, denn das erwähnte Verbot des Eingehens von Risikogeschäften steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt des Verstoßes gegen die Grundsätze des ordnungsgemäßen Wirtschaftens: Dies ist wiederum nach vorzugswürdiger Ansicht lediglich bei – aus ex ante-Sicht47 – zweifelsfreier Unvertretbarkeit anzunehmen, weshalb das Eingehen eines der im Tatbestand genannten Geschäftstypen das Unvertretbarkeitsurteil allein nicht tragen kann.48 Dieser Wertung kommt nicht nur bei Auslegung der Insolvenzdelikte eine bedeutende Rolle zu (vgl. § 283 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3, 8, § 283d Abs. 1 StGB, die allesamt auf die Grundsätze des ordnungsgemäßen Wirtschaftens Bezug nehmen), sondern sie ist generell für den Bereich der mit Zukunftsungewissheit behafteten Geschäfte von entscheidender Wichtigkeit, kann ihr doch im Umkehrschluss, d. h. gerade für den „Normalfall“ außerhalb einer Krisensituation, ein besonders großzügiger Vertretbarkeitsmaßstab entnommen werden. Außerhalb solcher gesetzlicher Wertvorgaben lassen sich die gesuchten Abgrenzungskriterien maßgeblich aus der oben skizzierten Rechtsprechung ableiten. Auffallend ist dabei zunächst die Tendenz, die Vollendung der Straftat im Zweifel zu einem frühen Stadium anzunehmen und etwaige „gute Vorsätze“ allenfalls im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen (vollendete Steuerhinterziehung auf Zeit bei unzutreffender Umsatzsteuervoranmeldung; vollendeter Betrug auch bei absprachegemäßer Rückzahlung der Einlagen bei einem Schneeballsystem). Auf dieser strengen 46

Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht Rn. 295. Vgl. Bittmann in: ders. (Hrsg.) Insolvenzstrafrecht § 12 Rn. 85. 48 Dannecker/Knierim/Hagemeiner Insolvenzstrafrecht Rn. 972; Schönke/Schröder-Heine § 283 Rn. 12; MüKo-StGB/Radtke § 283 Rn. 27. A. A. Bittmann (Fn. 47) Rn. 124, der das Vorliegen von „besonderen, quasi rechtfertigenden Umständen“ verlangt, so dass die alleinige Zielsetzung, das Unternehmen mit dem erhofften hohen Gewinn fortführen zu können, nicht ausreichen könne. 47

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Linie liegt dementsprechend auch die Vorgabe, eine strafzumessungsrechtlich berücksichtigungsfähige Schadenswiedergutmachung „sorgfältig“ zu prüfen, da sie „nur in seltenen Fällen“ gegeben sein werde.49 Hinsichtlich der Einzelmerkmale für die Fälle „in der Mitte“ findet sich in der umsatzsteuerstrafrechtlichen Entscheidung des Bundesgerichtshofs eine weiterführende Unterscheidung zwischen der „Absicht“ einer Schadenswiedergutmachung und der „bloßen Hoffnung“ auf eine solche. Verlangt wird offensichtlich eine belastbare, auf konkrete Expektanzen gestützte Prognose, die die Annahme künftiger Einnahmenerzielung, mit der die in Aussicht genommene Schadenswiedergutmachung verwirklicht werden kann, nach gewöhnlichen wirtschaftlichen Erfahrungswerten rechtfertigt. Einer abstrakt bleibenden Erwartung des Inhalts, dass trotz des momentanen finanziellen Engpasses „irgendwie“ eine Verbesserung eintreten werde, kann demgegenüber in aller Regel keine strafmildernde Wirkung zukommen. Ein anderes Einzelmerkmal geht aus den Untreue-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Sachen fehlgeschlagener Kreditengagements hervor: Einhaltung der vorgeschriebenen Informations-, Prüfungs- und Überwachungspflichten. Diese Verhaltensvorgaben gehen von einer typisierten Gefahrerhöhung bei bestimmten Vorgängen aus und verstehen sich als vorbeugende Maßnahmen, ohne deren Beachtung die weite unternehmerische Handlungsfreiheit mit all ihren Chancen und Risiken nicht zugestanden wird. Ihnen kommt eine wichtige Indizfunktion für den Beweis des Vorsatzes zu: Liegt eine Verletzung der vorgeschriebenen Pflichten vor, so erblickt die Rechtsprechung darin tendenziell ein bedeutsames Teilelement für eine Billigung des später eingetretenen Schadens. Schließlich soll als weiteres Einzelmerkmal noch die Komplexität der wirtschaftsstrafrechtlichen Sachverhalte erwähnt werden. Während es beim Beweis des dolus eventualis etwa bei Tötungsdelikten um eine vergleichsweise übersichtlich gelegene Verhaltenssituation geht, die sich bildlich eher mit einer Momentanaufnahme beschreiben lässt, betreffen die hier interessierenden Fälle „in der Mitte“ einen regelmäßig besonders komplexen und dynamischen Vorgang im Wirtschaftsverkehr, der viele unbekannte Parameter aufweist und dessen Beeinflussung durch den Marktteilnehmer vielfach nur sehr eingeschränkt möglich ist. Angesichts der im Grundsatz risikotoleranten Ausrichtung der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung sollte beim Vorsatzbeweis in Wirtschaftsstrafsachen ein tendenziell großzügiger Maßstab zu Gunsten des Angeklagten angelegt und der Zweifelsgrundsatz konsequenter angewendet werden. Mit der Problematik des Vorsatzbeweises ist zum Schluss ein Thema angesprochen, das den verehrten Jubilar – als Meister der Strafrechtsdogmatik 49

BGHSt 53, 221 (230 f).

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war nichts anderes zu erwarten – ebenfalls beschäftigt hat: Normativierung des Vorsatzes.50 Wie Volk beklagt, ist es bei Wirtschaftsstrafsachen „vor allem die Normativierung der subjektiven Merkmale, die der Verteidigung zu schaffen macht. Das wichtigste Instrument, um ein Merkmal ‚beweisbar’ zu machen, ist seine Normativierung. Je weniger Fakten empirisch bewiesen werden müssen, umso leichter lässt sich ein Merkmal durch Wertung und Zuschreibung als ‚gegeben’ darstellen. In Wirtschaftsstrafsachen wird im Regelfall die Kenntnis demjenigen zugeschrieben, der die Kompetenz hat“.51 Damit ist die Frage aufgeworfen, wie viel Normativität der Vorsatz(beweis) verträgt, ohne eine reine Zuschreibung aufgrund generalisierender Vorgaben zu sein. Längst vorbei sind jedenfalls die Zeiten, als die klassische Verbrechenslehre den Vorsatz als ein psychologisches Faktum verstand. So hält Roxin in Übereinstimmung mit der heute herrschenden Auffassung fest, hinsichtlich der Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit gelte es zu erkennen, „dass es sich dabei in letzter Instanz um einen Wertungsakt, eine normative Zuschreibung, handelt“.52 Gemäß seines Grundkonzepts von der Entfaltung des normativen Leitgedankens am konkreten Rechtsstoff53 will Roxin „das Urteil, ob der Täter sich – sei es auch nur notfalls und bedingungsweise – gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat, unter Berücksichtigung aller für seine Einstellung relevanten objektiven und subjektiven Elemente des Tatgeschehens“ fällen.54 Überträgt man diesen zutreffenden Ansatz auf Wirtschaftsstrafrechtssachverhalte, so wäre eine generalisierende Zuschreibung nach dem Grundsatz „Wer die Kompetenz hat, hat auch stets die Kenntnis.“ zweifellos falsch. Gerade bei den Fällen „in der Mitte“, die sich eben nicht als eindeutige Entscheidung gegen das Recht darstellen, bedarf es vielmehr eines soliden Grundstocks an forensisch säuberlich herausgearbeiteten und somit auch empirisch gesicherten Fakten betreffend den Einzelfall mit seinen jeweiligen Eigenheiten. Erst und nur auf dieser Grundlage ist anschließend eine normative Zuschreibung des Vorsatzes möglich. Bedauerlicherweise geht die Praxis, wie Volk kritisiert, nicht selten gerade den umgekehrten Weg, der im übrigen aus prozessualer Sicht den Angeklagten zwingt, sich selbst zu entlasten: Dies kommt letztlich einer faktischen „Beweislastumkehr“ im Strafprozess gleich. 50

„Zur Normativierung des dolus eventualis und zur Lehre von der Vorsatzgefahr“, so der Titel seines Beitrags in FS Rudolphi, 2004, 243. 51 Volk/Volk MAH Wirtschafts- und Steuerstrafsachen § 2 Rn. 81. 52 Roxin (Fn. 40) § 12 Rn. 31. 53 Vgl. Roxin FS Lampe, 2003, 428. 54 Roxin FS Rudolphi, 2004, 257.

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Es ist mir eine große Ehre, zu den Schülern des verehrten Jubilars gehören zu dürfen. Noch mehr ehrt es mich, dass ich ihm mit diesem Beitrag alles Gute für weitere tatkräftige Lebensjahre in bester Gesundheit wünschen darf. Möge er uns alle noch sehr lange erhellen!

Vermögen und Nutzungschance Gedanken zu den Grundlagen des strafrechtlichen Vermögensbegriffes HANS ACHENBACH

I. Die Debatte um den Begriff des Vermögens im Strafrecht schien lange Zeit ein wenig festgefahren und erstarrt in den Positionen des rein juristischen, rein wirtschaftlichen, juristisch-ökonomischen und personalen Begriffsverständnisses. Doch gibt es in der letzten Zeit immer wieder Ansätze zu einer Neuformulierung. So finden wir etwa einen funktionalen Vermögensbegriff1, einen (juristisch-ökonomisch) integrierten Vermögensbegriff2, einen normativ-ökonomischen Vermögensbegriff3, einen wertungskorrigierten wirtschaftlichen Vermögensbegriff4, aber auch eine reformulierte juristische Vermögenslehre5. Die folgenden Ausführungen können keine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen gedankenreichen Modifikationen der tradierten Ansätze oder diesen selbst bieten; dafür steht hier schlicht nicht der nötige Raum zur Verfügung. Ich will vielmehr versuchen, den Blick stärker auf die Grundlagen zurückzulenken, und möchte dabei einen Gedanken vorstellen, der mir seit längerer Zeit vor Augen steht, ohne dass Gelegenheit gewesen oder auch hier gegeben wäre, ihn in allen Anwendungssituationen zu prüfen. Generell scheint mir die Diskussion um den strafrechtlichen Vermögensbegriff in doppelter Weise verengt zu sein: Zum einen beziehen sich viele Äußerungen gerade in der gegenwärtigen Literatur nur oder doch im Wesentlichen auf den Tatbestand des Betruges. Vor allem aber wird oft nicht deutlich geschieden zwischen den begrifflichen Elementen des Vermögens 1 NK-Kindhäuser, § 263 Rn. 35; bei dems. im Lehr- und Praxiskommentar Strafgesetzbuch (LPK-StGB), auch bezeichnet als „funktionale Modifikation des juristisch-ökonomischen Vermögensbegriffs“. 2 LK-Schünemann, § 266 Rn. 134. 3 MüKo-Hefendehl, § 263 Rn. 338. 4 Swoboda NStZ 2005, 478, 480 f. 5 Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 262.

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als solchem und den Anforderungen, die aus dem Erfordernis eines Schadens an diesem Vermögen erwachsen.6 Dieser Charakterzug tritt zudem häufig verborgen auf: Die Eignung zu einer als sinnvoll erachteten Begrenzung des Schadensmerkmals wird schon da mitgedacht, wo vordergründig nur der Begriff des Vermögens den Gegenstand der Erörterungen bildet. Demgegenüber muss die Fragestellung grundsätzlicher ansetzen: x

Ist Vermögen die Zusammenfassung von Einzelgegenständen oder eine Gesamtheit, die nur als eine (darüber hinausgehende) Einheit zutreffend erfasst werden kann? (u. II)

x

Ist Vermögen ein juristisch oder ein faktisch konstituiertes und begrenztes Phänomen? (u. III)

x

Ist ein faktisch konstituierter Vermögensbegriff notwendig auf wirtschaftliche Werte bezogen oder lässt sich ein anderer, vom Recht unabhängiger Ansatz finden? (u. IV)

x

Entscheiden über die Zuordnung des Vermögens zu einem Subjekt rechtliche oder faktische Kriterien? (u. V)

II. In systematischen Übersichten werden häufig die Delikte gegen das „Vermögen als Ganzes“ von denen gegen spezialisierte Vermögenswerte geschieden.7 Damit korrespondiert eine Schadensdefinition, die auf die Verringerung des „Gesamtwerts“ des Vermögens durch die (Betrugs-)Tat abstellt.8 Ein derart „bilanzierendes“ Verständnis sieht das Vermögen als Werteinheit an, die als ein Ganzes gedacht werden müsse.9 Dieser Ansatz stößt indes auf Schwierigkeiten, wenn man ihn ernstlich ausführen will. Denn auch er kann nicht darauf verzichten, das Vermögen in seinen einzel6

Das konstatieren auch etwa Nelles Untreue zum Nachteil von Gesellschaften. Zugleich ein Beitrag zur Struktur des Vermögensbegriffs als Beziehungsbegriff, 1991, S. 341 f; Niggli Das Verhältnis von Eigentum, Vermögen und Schaden nach schweizerischem Strafgesetz, 1992, S. 134 f u. ö. 7 S. etwa Rengier BT I, § 1 Rn. 2 f; Wessels/Hillenkamp BT II Rn. 2 f. 8 RGSt 16, 1 (3); Rengier BT I § 13 Rn. 67; LK-Tiedemann, § 263 Rn. 159 m. w. N. in Fn. 245. 9 Nelles (Fn. 6) S. 335 f spricht hier von Vermögen als Inventar- und Wertsummenbegriff und differenziert demgemäß eine „inventarisierende“ und eine „bilanzierende“ Betrachtung; letztere führt sie zurück auf Adolf Merkel.

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nen Bestandteilen zu erfassen und zu bewerten.10 Dass dabei u. U. Positionen in einem Funktionszusammenhang anders zu bewerten sind als etwa bei der Einzelveräußerung, enthebt uns nicht der Notwendigkeit, diese Einzelpositionen als solche festzustellen.11 Auch die im Rahmen von § 263 StGB entwickelte vermeintliche Gesamtsaldierung zur Schadensermittlung beschränkt sich in Wahrheit doch darauf, die in der jeweiligen Transaktion zuund abfließenden Vermögensbestandteile zu saldieren;12 der unveränderte Rest des Vermögens wird vor und nach der Transaktion ohne Not addiert. Die Abneigung gegen eine „inventarisierende“ Betrachtung des Vermögens als Additionsbegriff geht auf den „verbreiteten Irrtum“13 zurück, sie sei notwendig verbunden mit dem „juristischen“ Verständnis des Vermögensbegriffes i. S. von Binding, d. h. als ausschließliche Zusammenfassung von (Vermögens)Rechten.14 Doch das ist nicht der Fall15 - wie schon daraus erhellt, dass auch Adolf Merkel, der Begründer der „bilanzierenden“ Sichtweise des Vermögens im Sinne eines Wertsummenbegriffs16, ebenfalls nur Rechte als Angriffsobjekte des Betruges anerkannte.17 Das Vermögen muss daher verstanden werden als Inbegriff einzelner Vermögensgegenstände, unabhängig davon, wie wir diese ihrerseits inhaltlich umschreiben.18 Die Redeweise von den Delikten gegen das „Vermögen als Ganzes“ meint denn auch eigentlich etwas Anderes: Die damit bezeichneten Tatbestände enthalten keine Begrenzung auf tatbestandliche Objekte einer bestimmten Art19 - wie die auf fremde Sachen beschränkten Eigentumsdelikte oder wie die Delikte gegen spezialisierte Vermögensgegenstän10

Nelles (Fn. 6) S. 340. Wir kennen diese Berechnungsunterschiede von der Bewertung der zu potentieller Insolvenzmasse gehörenden Gegenstände bei Feststellung der Überschuldung als Krisenmerkmal des Bankrotts, s. dazu nur etwa Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, § 76 Rn. 21, 38 ff; Wegner in Achenbach/Ransiek (Hrsg.) Hdb. Wirtschaftsstrafrecht (HWSt), Kap. VII Abschn. 1 Rn. 27 u. ö. 12 So zu Recht NK-Kindhäuser, § 263 Rn. 37. 13 Nelles (Fn. 6) S. 339. 14 Binding Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, BT I S. 238. 15 Ebenso Gallas FS Eb.Schmidt, 1961, 432 f; Gutmann MDR 1963, 4; Nelles (Fn. 6) S. 339. 16 Adolf Merkel Kriminalistische Abhandlungen, II: Die Lehre vom strafbaren Betruge, 1. Abtheilung: Die Entwicklung des Thatbestandes, 1867, S. 101, 103 ff. 17 Das Gegensatzpaar Additions- und Wertsummenbegriff verwendet Cramer Vermögen und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 38, 113. 18 In diesem Sinne schon Gerland Deutsches Reichsstrafrecht. Ein Lehrbuch, S. 561 f; Hirschberg Der Vermögensbegriff im Strafrecht. Versuch eines Systems der Vermögensdelikte, 1934, S. 318; s. ferner Gutmann MDR 1963, 4 - anders akzentuiert NK-Kindhäuser § 263 Rn. 35, für den die Verfügungsmacht über die Gegenstände das Vermögen ausmacht; dazu u. IV 2. 19 Hirschberg (Fn. 18), S. 284; NK-Kindhäuser § 263 Rn. 37. 11

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de, deren tatbestandliche Objekte sich beschränken auf die einem Aneignungsrecht unterworfenen Tiere und Sachen in § 292 oder die einem Pfandrecht u. Ä. unterliegenden Sachen in § 289 StGB usw. Statt des Vermögens als Ganzen geht es also um Vermögensgegenstände „aller Art“20, um „beliebige Vermögensbestandteile“21 um das „Vermögen schlechthin“22 oder das „Vermögen überhaupt“23,24.

III. 1. Stellt man sich der Frage nach den näheren Eigenschaften der so zusammengefassten Vermögensgegenstände, so stößt man seit Alters her auf den Gegensatz einer juristischen und einer wirtschaftlichen Sichtweise25 und Mischformen davon.26 Zudem gehen dabei die Frage nach den inhaltlichen Qualitäten der Vermögensobjekte und die nach dem Maßstab für ihre Zuordnung zu einem bestimmten Subjekt vielfach durcheinander. Beides ist indes sorgfältig zu trennen. Vor allem aber ist die Fragestellung von der inhaltlichen Fixierung der beschriebenen Art zu lösen. Rudolf Hirschberg hat in seiner Untersuchung des Vermögensbegriffes mit Recht anders angesetzt, indem er dem juristischen einen faktischen Vermögensbegriff gegenüberstellte27. 20

So Schroeder Jura 1987, 114. Blei BT II § 50 I S. 167; Wessels/Hillenkamp BT II Rn. 3. 22 Gerland (Fn. 18) S. 562. 23 So bis 1995 das Schweizerische StGB, s. dazu Niggli (Fn. 6) S. 24 Rn. 41; dens. FS Niklaus Schmid, 2001, 238 f. Zur übereinstimmenden Terminologie von v. Liszt/Schmidt und Meyer-Allfeld s. die Nachw. bei Schroeder Jura 1987, 115. 24 Dagegen sollte man die Redeweise von Vermögensdelikten „im engeren“ oder „weiteren Sinne“ wegen ihres unspezifischen Charakters meiden. So nennt etwa Hirschberg (Fn. 18) S. 284 die Vermögensdelikte ohne Qualifizierung eines Angriffsobjekts solche i. w. S., während Schroeder Jura 1987, 114 hier gerade von Vermögensdelikten i. e. S. spricht (in Maurach/Schroeder/Maiwald BT I § 31 Rn. 7 ff nicht mehr aufgenommen). 25 Doerr Über das Objekt bei den strafbaren Angriffen auf vermögensrechtliche Interessen, 1897, S. 14 f. Ob auch Birkmeyer Ueber das Vermögen im juristischen Sinne. RömischRechtliche Quellenstudien, 1879, hierher gehört, scheint mir allerdings zweifelhaft. Dieser trennt auf S. 290 ff zwar terminologisch erstaunlich modern anmutend zwischen dem Vermögen im rein juristischen und im juristisch-öconomischen Sinn; er versteht aber unter Letzterem das Vermögen „als Inbegriff von öconomische Werte repräsentierenden Rechten“ (S. 295, Hervorhebung nicht im Original). Das dürfte mehr auf der Linie der juristischen Vermögenstheorie i. S. von Adolf Merkel und Karl Binding liegen. Dazu s. näher o. II sowie u. 2) bei und in Fn. 28. 26 In - dogmenhistorisch gesehen - neuerer Zeit ist dazu die personale Vermögenstheorie getreten, s. dazu u. IV 1 c. 27 Hirschberg (Fn. 18) S. 5, 281, 285. 21

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2. Gegen den rein juristischen Vermögensbegriff im Sinne Adolf Merkels und Bindings spricht schon der zirkuläre Charakter seiner Definition. Beide erkennen zwar nur subjektive Rechte als Gegenstand des Vermögens an, beschränken diese aber weiter auf „Vermögensrechte“28. Damit taucht das definiendum (Vermögen) in der Definition selbst wieder auf, ohne dort näher entfaltet zu werden. Im Übrigen grenzt der ausschließliche Ansatz bei dem subjektiven Vollrecht29 Phänomene aus, die der heutigen Strafrechtsdoktrin und -praxis als tauglicher Gegenstand von Vermögensstraftaten erscheinen: den Besitz, die tatsächliche Anwartschaft (Exspektanz), Immaterialgüter einschließlich geschäftlicher Geheimnisse und des Know-how, menschliche Dienstleistungen. Der heute allgemeinen Ablehnung eines rein juristischen, die Gegenstände des Vermögens auf Rechte hoher Dignität beschränkenden Vermögensbegriffs ist daher zuzustimmen.

IV. Damit rollen die Würfel in Richtung einer nicht-juristischen, faktischen Bestimmung der Vermögensgegenstände. 1. a) Die These jedoch, die Bestandteile des Vermögens könnten nur entweder juristischer Natur, also Rechte, oder aber wirtschaftlichen Charakters sein, bedeutet eine Verengung. Dass eine nicht-juristische stets und ausschließlich eine wirtschaftliche Bestimmung der Vermögensobjekte sein müsse, enthält eine ausgesprochene petitio principii. Das Gegensatzpaar in dieser Gestalt soll auf Birkmeyer zurückgehen30 und dürfte durch die Polemik Bindings gegen die der richtigen Erfassung der Vermögensdelikte von Seiten „der Nationalökonomie“ drohende Gefahr verstärkt worden sein.31 Klassisch ist ihre Formulierung in dem berühmten Beschluss der Vereinigten Strafsenate des RG zum Vermögensbegriff vom 14. 12. 191032: „Vermögen ist wirtschaftliche Macht, ist alles das, was für die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Person Wert hat, ist somit ein Inbegriff von Wer-

28

Binding (Fn. 14) S. 238 (einschließlich der Pflichten); Merkel (Fn. 16) S. 99 ff. Zudem in der heute auch zivilistisch überholten Sichtweise des 19. Jhdts., s. dazu Nelles (Fn. 6) S. 357 f u. ö.; Raiser JZ 1961, 465 ff. 30 So E. Buschmann Die Entwicklung des strafrechtlichen Betrugsbegriffs im 19. Jahrhundert, Diss. iur. Rostock 1939, S. 30. S. dazu indes o. Fn. 25. 31 Binding (Fn. 14) S. 239 f. Bekannt die Formulierung ibidem S. 239 Fn. 3: „Die Nationalökonomen sind mit dieser Erweiterung ihres Herrschaftsgebietes natürlich sehr einverstanden, und die gutmütigen Juristen schneiden seit lange die Riemen für Dritte bescheiden und freundlich aus ihrer Haut“. 32 RGSt 44, 230 (233). 29

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ten, oder, da im Systeme der Geldwirtschaft jeder Wert in Geld ausgedrückt werden kann: die Summe der geldwerten Güter einer Person.“ Es mag sein, dass der Vermögensschaden nur unter Rückgriff auf eine im Ansatz objektive Wertbestimmung in der Richtung eines wirtschaftlichen Begriffsverständnisses bestimmt werden kann; doch zwingt das nicht dazu, schon den Begriff des Vermögens als solchen, zumal in systematischem Zusammenhang, durch die „wirtschaftlichen“ Kriterien seines Geld- oder Tauschwerts auszufüllen. Im Kern handelt es sich dabei um eine merkantile Vermögenstheorie. b) Einen Kompromiss bedeutet die in der neueren Literatur vertretene Auffassung, es komme zwar auf den Geldwert der Vermögensgegenstände an, doch brauche dieser nicht konkret zu sein. Statt dessen wird in unterschiedlich nuancierter Weise abgestellt auf den abstrakten Geldwert33, den abstrakten Tauschwert34 oder die Tauschbarkeit35, die zur Definition der Vermögensobjekte als Positionen führt, „die Gegenstand eines Rechtsgeschäfts »Tausch gegen Geld« sein können“36. Hier liegt ein wirtschaftlichmerkantiler Ansatz, der Gedanke eines in Geld ausdrückbaren Wertes der Position, zu Grunde,37 doch wird auf den aktuellen Marktwert zugunsten einer generalisierenden, an der bloßen abstrakten Markteignung orientierten Sichtweise verzichtet. Die Richtigkeit dieser Ansätze entscheidet sich in der Frage nach der Zugehörigkeit nicht geldwerter Sachen zum Vermögen. Dazu zählen nicht nur die Liebesbriefe der verflossenen Freundin, sondern auch etwa die leicht beschädigte Vase, die der Großvater mit einem künstlerisch nicht bedeutenden Bild des Hauses der Familie bemalt hatte, die geliebten, aber schon an Altersbeschwerden leidenden Feld-, Wald- und Wiesenkatzen38 und ähnliche Gegenstände eines „Affektionsinteresses“. Eine konsequente wirtschaftliche Betrachtung muss dergleichen aus dem Kreis der Vermögensgegenstände ausschließen.39 Die vermittelnden Auffassungen müssten mit dem Kriterium der generellen Markteignung wohl differenzieren. Jedenfalls zeigt sich an der Nagelprobe von Anschauungsbei33

NK-Kindhäuser § 263 Rn. 35. Niggli (Fn. 6) S. 124 ff, Rn. 251, 255 ff, insb. 262. 35 Nelles (Fn. 6) S. 382. 36 Nelles (Fn. 6) S. 437 (Hervorhebung nicht im Original). 37 Besonders ausgearbeitet bei Nelles (Fn. 6) S. 375 ff, die ausdrücklich ausführt, ein anderes System (als das des Wirtschaftlichen), das es erlaube, einen Bezugsrahmen für die Definition der Objekte herzustellen, die zum Vermögen gehören können, sei - jedenfalls derzeit - nicht ersichtlich. 38 Im Gegensatz etwa zu verkaufsfähigen Angora- oder Karthäuserkatzen (s. Niggli [Fn. 5] S. 121 Rn. 245). 39 So etwa Arzt/Weber § 11 Rn. 5; SK-Hoyer § 263 Rn. 119, 198, 206. 34

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spielen, dass man hier bei der Generalisierung unterschiedliche Grade von inhaltlicher Anreicherung denken kann: Geht es um die Katze als Haustier generell oder darf ich die Kriterien der Rasse, des Alters und des Gesundheitszustandes einbeziehen, wenn ja, bis zu welchem Konkretisierungsgrad? Muss ich bei der Vase ihre Tauschbarkeit auf einem Flohmarkt berücksichtigen? Darf ich bei Liebesbriefen außer Acht lassen, dass Briefe von Prominenten durchaus gehandelt werden? Wo ist die Untergrenze der Prominenz? c) Diese Unsicherheiten nähren aber Zweifel, ob das Kriterium überhaupt richtig gewählt ist. Aus dieser Ungewissheit führen auch die personalen Vermögenslehren nicht heraus. Harro Otto etwa, der einflussreichste Anhänger dieser Auffassung in der gegenwärtigen Literatur, betont zutreffend die Bedeutung des Gebrauchswerts gegenüber dem (konkreten) Tauschwert einer Sache; er hält jedoch an dem wirtschaftlichen Ausgangspunkt fest, wie deutlich wird, wenn er Vermögen definiert als „wirtschaftliche Potenz des Rechtssubjekts, die auf der Herrschaftsgewalt über Objekte beruht, die die Rechtsgesellschaft als selbständige Objekte des Wirtschaftsverkehrs ansieht“, ohne dass es freilich auf einen Veräußerungswert im Zeitpunkt der Bewertung ankommen soll40,41. Auch Schmidhäuser verbindet den personalen Ansatz mit ökonomischen Elementen; nach seiner Auffassung ist Vermögen „der wirtschaftliche Handlungsspielraum, den der Einzelne aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden geldwerten Mittel hat [...]“.42 Kindhäuser formuliert seinen funktionalen Vermögensbegriff im Ansatz ähnlich, verbindet ihn aber mit dem Topos des abstrakten Geldwerts: Vermögen sei „die Verfügungsmacht einer Person über die (Gesamtheit der) ihr rechtlich zugeordneten übertragbaren (abstrakt geldwerten) Güter“.43 Die darüber hinaus für den personalen Vermögensbegriff in Anspruch genommenen Auffassungen von Bockelmann, Hardwig und Heinitz44 sind im Wesentlichen Schadenslehren, zudem mehr skizzenhaft ausgeführt.

40 Otto Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1979, S. 66 ff, Zitat von S. 68 (Hervorhebungen nicht im Original); wörtlich übereinstimmend ders. BT, § 38 Rn. 7. Daneben verwendet Otto die hochabstrakte Formel vom Vermögen als „personal strukturierte Einheit, die die Entfaltung der Person im gegenständlichen Bereich gewährleistet“ (Struktur S. 69 u. ö.; BT § 38 Rn. 7). 41 Ähnlich formulieren Ottos Schüler. S. nur Geerds Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, 1990, S. 125 ff, insb. 127 f; Labsch Untreue (§ 266 StGB), 1983, S. 324 f; Winkler Der Vermögensbegriff beim Betrug und das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot, 1995, S. 175, 180 ff. 42 Schmidhäuser BT S. 112, 11/1 (Hervorhebungen durch den Verf., H.A.). 43 NK-Kindhäuser § 263 Rn. 35, s. ferner 38. 44 Bockelmann FS Kohlrausch, 1944, 248 ff; ders. JZ 1952, 465; Hardwig GA 1956, 18 ff; Heinitz Anm. zu BGHSt 22, 88, JR 1968, 387 f.

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Die Spannung zwischen dem wirtschaftlichen Ansatz und dem Kriterium des Gebrauchswerts versucht Otto aufzulösen, indem er als Einzelbestandteil des Vermögens die durch die Herrschaftsmacht über ein Gut vermittelte wirtschaftliche Position und als damit gleichbedeutend den „durch diese Position repräsentierte(n) Vermögenswert“ versteht, diesen jedoch subjektiv, d. h. als „Wert für die Vermögensperson“ bestimmen will.45 Damit ist aber - trotz gegenteiliger Beteuerungen - der wirtschaftliche Ansatz in Wahrheit aufgegeben. Was nicht seiner Art nach gegen Geld tauschbar ist, mag seinem Inhaber noch so viel bedeuten, einen wenigstens generellen wirtschaftlichen Wert im Sinne einer Bewertbarkeit auf einem denkbaren Markt46 hat es nicht mehr. 2. Darauf sollte es aber richtigerweise auch gar nicht ankommen. Was ist das für ein erbärmlich verkürztes Verständnis von Vermögen, wenn das, was der Mensch hat, stets nur darauf hin taxiert wird, ob er es noch verkaufen (oder eintauschen) könnte! Und was ist das für ein erbärmliches Strafrecht, das schon im Ansatz alles aus dem Anwendungsbereich seiner Vermögensdelikte ausblendet, was nicht marktfähig ist! Bei überpersonalen Einheiten mag das, jedenfalls sofern sie Subjekte des Wirtschaftsverkehrs sind, berechtigt sein. Aber auch etwa ein eingetragener Verein oder eine rechtsfähige Stiftung haben ihr Vermögen doch nicht primär zum Tauschen gegen Geld, sondern um ihre jeweiligen Zwecke zu erfüllen. Die Besinnung auf die etymologische Wurzel deckt denn auch eine umfassendere Bedeutung des Wortes Vermögen auf. Es leitet sich her von mittelhochdeutsch vermugen oder vermügen (althochdeutsch furimugan), was bedeutete „imstande sein, Kraft haben“.47 Das Vermögen ist also ein Inbegriff dessen, mit dem ein Subjekt etwas vermag, das es in den Stand setzt, sein Leben zu führen, seine Existenzbedingungen zu gestalten. Dem entsprechend formulierte von Savigny 1840:48 „(E)s wird dadurch unmittelbar das Wesen der Sache ausgedrückt, die durch das Daseyn jener Rechte49 uns zuwachsende Macht, das, was wir durch sie auszurichten im Stande sind oder vermögen“. Über 100 Jahre später hat Bockelmann diesen Zusammenhang in die Formel gekleidet: „All das ist Vermögen, dessen der Mensch in der Gemeinschaft bedarf, um so wie seinesgleichen leben, wir-

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Otto Struktur (Fn. 40) S. 66 ff. S. dazu Niggli (Fn. 6) S. 123 Rn. 248. 47 Wahrig Deutsches Wörterbuch, 2006, S. 1579; nahezu gleich lautend Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 2002, S. 955. 48 V. Savigny System des heutigen Römischen Rechts I, 1840, S. 340 Anm. b. 49 D. h. des Eigentums und der Obligationen, s. v. Savigny (Fn. 48) S. 339. 46

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ken und sich entfalten zu können.“50 Nur wird der richtige Gedanke mit der Anknüpfung an Rechten bei von Savigny und der doppelten Beschränkung auf den „Gemeinschafts“bezug und auf wirtschaftliches Handeln, die Bockelmann mit der zitierten Stelle verbindet, doch wieder über seinen zutreffenden Kern hinaus verengt. In der generellen Bezugnahme auf die personale Entfaltung und darin, dass sie den Gebrauchswert zu Lasten des (aktuellen) Tausch- oder Geldwerts des Vermögens in den Vordergrund rückt,51 ist der personalen Vermögenslehre daher im Prinzip zuzustimmen. Indes erscheint die Beschränkung auf den Gebrauchswert zu eng, zudem seine Verknüpfung mit Topoi des „Wirtschaftlichen“ künstlich. 3. Sucht man nach einem neutraleren Ansatz, der die mit dem Vermögen seinem Inhaber vermittelte Potenz treffend erfassen kann, so bietet sich der Topos der Chance an. Nicht der Wert als eine intersubjektive Einschätzung, sondern die objektiv in den Vermögensgegenständen liegenden Nutzungschancen machen das Vermögen aus.52 Dabei wird der Begriff der Nutzung hier mehr faute de mieux und in einem über das engere Verständnis der zivilrechtlichen „Nutzungen“ hinausgehenden Sinne verwendet. Für Sachen erfüllt er sich in den darin vergegenständlichten Gebrauchschancen. Für Rechte ist primär die in ihnen verkörperte Realisierungschance, d. h. die Erwartbarkeit eines dem Inhalt des Rechts entsprechenden Verhaltens der von ihm je betroffenen Personen, also etwa bei Forderungen ein diese erfüllendes Verhalten, bei dinglichen Rechten deren Respektierung etc. Diese Erwartbarkeit vermittelt aber zugleich die Chance, sich der Rechte zu bedienen, sie geltend zu machen, zu übertragen, zu veräußern etc., also wiederum sie zu nutzen.53 Soweit „der Wirtschaftsverkehr“ an dem Erwerb dieser vergegenständlichten Nutzungschancen ein Interesse hat oder ihrer Art nach haben kann, verleihen sie dem Gegenstand als ihrem Träger einen Geldwert oder doch die Eigenschaft der Bewertbarkeit und Tauschbarkeit. Doch liegt darin nur eine sekundäre Konsequenz, die über den eigentlichen Wesenskern des Phänomens hinwegtäuscht.

50 Bockelmann FS Kohlrausch, 1944, 248. Kurz danach findet sich dort allerdings die Aussage, das Ganze seines Vermögens sei „die Gesamtheit dessen, woran und worin die wirtschaftliche Kraft des Menschen erlaubterweise wirkt“ (Hervorhebung nicht im Original). 51 Otto Struktur (Fn. 40) S. 66 f; ders. BT § 38 Rn. 7. 52 Der Deutlichkeit halber würde ich die Schreibweise „Nutzungs’chance“ vorziehen; leider wirkt sie denn doch ein wenig zu manieriert. 53 Nelles kann von ihrem systemtheoretischen Ausgangspunkt ein Recht dagegen nur verstehen als „Symbol - oder [...] Kommunikationsmedium - für die Zuordnung materieller Werte“ (Fn. 5, S. 443, ähnlich S. 444).

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Die Sachen in dem Haushalt eines älteren Ehepaares nach dem Auszug der Kinder etwa werden mit ihrem Geldwert gewiss nicht angemessen erfasst. Aber auch der Charakter der generellen Tauschbarkeit gegen Geld bedeutet nur eine Hilfskonstruktion. Möbel, Heimtextilien und andere Einrichtungsgegenstände zeugen vom Geschmack einer anderen Zeit und weisen erhebliche Gebrauchsspuren auf, die Kleidung ist alles andere als modisch und zudem bequem eingetragen, auch die technischen Geräte haben die vom Handel eingeplante Lebenszeit längst überschritten und tun dennoch ihren Dienst; da finden sich unbeholfen-liebevoll gemalte und gewerkelte Geschenke aus den ersten Lebensjahren der Kinder, Erinnerungsstücke an den Frühling der Ehe, Erbstücke ohne Marktwert und dergleichen mehr. Das alles bildet die gegenständliche Grundlage des alltäglichen Lebens und darin eben, nicht aber in seiner merkantilen Verkaufbarkeit auf wer weiß für einem Markt, liegt seine Bedeutung für seine Inhaber.54 Noch einmal: Ob der Verlust von Gegenständen, die schon ihrer Art nach oder aber aktuell eines wirtschaftlichen Wertes entraten, als Schaden an dem Vermögen beurteilt werden kann, ist hier noch nicht die Frage. Doch bedeutet es eine Verkürzung, wenn auch der Begriff des Vermögens als solchen von vornherein von den Kriterien der Tauschbarkeit und Bewertbarkeit in Geld her interpretiert wird. Jeder Vermögensgegenstand ist vielmehr eine Objektivierung in ihm enthaltener Nutzungschancen, das Vermögen als Inbegriff der Vermögensgegenstände also selbst ein Inbegriff von Nutzungschancen.

V. Mit dem hier befürworteten faktischen Verständnis der Inhalte des Vermögensbegriffes ist noch nicht entschieden, nach welchen Maßstäben sich die Zuordnung der Vermögensgegenstände zu einem Subjekt richtet. Sollen hierüber die Zuweisungskriterien des Privatrechts entscheiden? Soll die Vermögenszugehörigkeit wenigstens ausgeschlossen sein, soweit Nutzungschancen nur unter Verstoß gegen gesetzliche Verbote oder die guten Sitten (§§ 134, 138 BGB) wahrgenommen werden könnten? Oder soll es gar auf eine rein faktische Verfügbarkeit faktisch nutzbarer Positionen ankommen? Es geht hier also um die Fragestellungen, die in der Literatur unter den Stichwörtern der rein wirtschaftlichen Vermögensdoktrin oder der „juristisch-ökonomischen Vermittlungslehren“55 diskutiert werden.

54 55

Im gleichen Sinne Nitschke Die Systematik der Vermögensdelikte, 1934, S. 12 f. Sprachgebrauch im Anschluss an Nagler ZAkDR 1941, 295.

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Allerdings brauchen wir uns im Zusammenhang unserer Fragestellung nicht den Aufgeregtheiten der darum geführten Diskussion im Einzelnen zu stellen, die sich im Wesentlichen mit dem Vermögensschaden beim Betrug beschäftigt. Hier geht es nur um die - freilich mit jener Debatte verbundene - Grundsatzfrage, ob es Zuordnung von Vermögensgegenständen außerhalb rechtlicher Kategorien überhaupt geben kann. Nelles hat im Rahmen einer umfassenden Analyse der Vermögensbegriffe aufgewiesen, dass jenseits rechtlicher Zuordnungskriterien nur dasjenige des besseren faktischen Zugriffs, „also letztlich Macht“ in Betracht kommt.56 Eine sinnvolle Zuordnung von Vermögenspositionen kann sich daraus aber nicht ergeben: Die „Möglichkeit, die Obstbäume des verreisten Nachbarn abzuernten“,57 kann dem dazu Entschlossenen eine faktische Chance, d. h. die Macht, verleihen, seinen Willen gegen den des Eigentümers durchzusetzen; dass der Zweck einer Strafrechtsnorm darin liegen könnte, die Verletzung dieser Chance mit Strafe zu flankieren, wird aber kein Vernünftiger annehmen. Ebenso wenig gehört die Brieftasche des Spaziergängers mitsamt ihrem Inhalt schon deswegen zu dem Vermögen des entgegenkommenden zu einem Raub entschlossenen jungen Mannes, weil dieser wegen bulligen Körperbaues und wendiger Kraft sich ohne besondere Mühen ihren Besitz verschaffen kann. Zuordnung eines Vermögensgegenstandes ist mithin eine Vermittlung von Legitimität seines Innehabens; diese kann aber nur das Recht leisten.58 Dabei liegt es auf der Hand, dass nicht das Strafrecht selbst sich mittels einer „Befreiung vom zivilistischen Denken“59 am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Zweifels ziehen kann. Maßgeblich sind vielmehr prinzipiell die Legitimitätskriterien des Privatrechts als des nun einmal über die Zuordnung von Vermögensgegenständen entscheidenden Teils der Rechtsordnung. Freilich müssen diese nicht notwendig den Charakter der Zuweisung einer von vornherein bestehenden, gegen jedermann wirkenden Herrschaftsposition haben. Wenn Vermögen seinem Gegenstand nach mehr ist als eine

56 Nelles (Fn. 6) S. 311 ff, insb. 363, die im Folgenden darlegt, warum und dass Widersprüchlichkeit (zwischen Macht und Recht) Wesensmerkmal der rein wirtschaftlichen Vermögenstheorie sei (S. 364 ff, Zitat von S. 370). 57 Gallas (Fn. 15) S. 408. 58 Ebenso Gallas wie Fn. 56; Niggli (Fn. 6) S. 105 f, Rn. 207; i. E. auch Nelles (Fn. 6) S. 435 ff, 453 ff. 59 So Titel und Programm der nicht zufällig 1938 veröffentlichten einschlägigen Untersuchung von Bruns (s. dort insbes. die S. 1 ff über die „rechtspolitische Bedingtheit der Fragestellung“).

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Summe subjektiver Rechte, so muss sich dies notwendig auch bei den Kriterien rechtlicher Zuordnung niederschlagen.60 Dies lässt sich am deutlichsten aufzeigen an der menschlichen Dienstleistung als Vermögensbestandteil. Dabei geht es entgegen einer verbreiteten Redeweise nicht um die „Arbeitskraft“ als schlichte generell-abstrakte Fähigkeit, sondern um die bereits konkretisierte Möglichkeit, diese Fähigkeit hier und jetzt zu geistigen oder körperlichen Leistungen einzusetzen.61 Diese konkrete Möglichkeit ist, wie § 611 BGB bestätigt, ihrerseits eine Nutzungschance, die dem Menschen zusteht und deshalb prinzipiell zu seinem Vermögen gehört. Indes zieht das bürgerliche Recht dieser Nutzung Grenzen, indem es in §§ 134 und 138 BGB gesetzwidrigen und sittenwidrigen Rechtsgeschäften und damit auch Dienstverträgen seine Anerkennung verweigert und sie für von vornherein nichtig erklärt.62 Rechtlich zugeordnet wird daher zwar als Ausfluss der Personalität im Allgemeinen die Möglichkeit, die eigene Fähigkeit zu Dienstleistungen konkret zu nutzen, dies aber doch nur bis zu der Grenze der Gesetzwidrigkeit und Sittenwidrigkeit. Nachdem im Jahre 2001 das Prostitutionsgesetz63 die Rechtswirksamkeit von Vereinbarungen über die Vornahme sexueller Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt anerkannt hat (§ 1 ProstG), sind die Widersprüchlichkeiten der strafrechtlichen Behandlung derartiger Dienstleistungen hoffentlich Rechtsgeschichte. Ein weiterhin gültiges Beispiel bildet jedoch der gedungene Mörder: Die Chance zur Nutzung der Fähigkeit, einem Menschen aufzulauern und gezielte Schüsse so auf ihn abzugeben, dass sie seinem Leben ein Ende bereiten, wird dem Vermögen des so Befähigten rechtlich nicht zugeordnet, weil ein Rechtsgeschäft darüber gegen das aus §§ 211, 212 StGB entnehmbare Verbot vorsätzlicher Tötungshandlungen verstößt. Die Möglichkeit derartiger Dienstleistungen gehört ebenso

60

Das Strafrecht muss sich auch insoweit, wie Hirschberg (Fn. 18) S. 323 formuliert hat, „mit einem geringeren Maße zivilistischer Salonfähigkeit begnügen“. 61 So schon LK-Lackner 6. Aufl. 1988, § 263 Rn. 140; ebenso Hefendehl Vermögensgefährdung und Exspektanzen. Das vom Zivilrecht konstituierte und vom Bilanzrecht konkretisierte Herrschaftsprinzip als Grundlage des strafrechtlichen Vermögensbegriffes, 1994, S. 215; Nelles (Fn. 6) S. 440; LK-Tiedemann § 263 Rn. 138 m. w. N. 62 Nach Nelles (Fn. 6) S. 437 wirkt über § 138 BGB das im Grundgesetz verkörperte Wertsystem in das Privatrecht ein und definiert so den Kreis der Positionen, die in unserer Wirtschaftsordnung tauschbar sind. 63 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz ProstG) vom 20.12.2001 (BGBl I S. 3983), dessen Art. 1 nochmals ein derartiges Gesetz enthält.

Vermögen und Nutzungschance

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wenig zum Vermögen wie die des Räubers, sich den Besitz der Brieftasche seines Opfers zu verschaffen.64 Zusammengefasst ergibt sich somit: Die Zuordnung von Nutzungschancen zum Vermögen eines Subjekts folgt nicht aus seiner bloß faktischen Macht zum Zugriff darauf. Zuordnung bedeutet vielmehr Vermittlung von Legitimität; diese können nur Kriterien des Rechts, und zwar des Privatrechts, leisten. Dafür genügt es jedoch, dass das jeweilige Subjekt die faktischen Nutzungschancen ohne Verstoß gegen gesetzliche Verbote oder die guten Sitten, m. a. W. ohne Missbilligung durch die Rechtsordnung wahrzunehmen in der Lage ist. Einer Zuweisung von Herrschaftsmacht gegenüber jedermann im Sinne eines subjektiven Rechts bedarf es nicht.

VI. So weit die Gedanken zu den Grundlagen des strafrechtlichen Vermögensbegriffes, die ich in der hier gebotenen Kürze eher andeuten als ausführen konnte. Namentlich das Phänomen der Nutzung, wie es dem Konzept des Vermögens als Inbegriff von Nutzungschancen zugrunde liegt, bedürfte weitergehender Reflexion und Ausarbeitung, etwa unter dem Aspekt der Individualisierung und Personalisierung; diese haben wir als „Schadenseinschlag“ akzeptiert, müssen aber weiter darüber nachdenken, inwieweit hierin schon Elemente des Vermögensbegriffes als solchen gefunden werden können, wenn man der Verknüpfung des Personalen mit dem Wirtschaftlich-Merkantilen im Sinne der personalen Vermögenslehre nicht zustimmt (o. IV 1 c). Ich bin davon überzeugt, dass die hier vorgetragene Konzeption eine Versöhnung der Zueignungsdelikte mit einem allgemein gültigen Vermögensbegriff herbeiführen könnte. Ob der Gedanke letztlich ein ganzes System der Vermögenslehre zu tragen vermöchte, kann freilich nur der konkrete Diskurs erweisen. Ich widme diese Überlegungen in Dankbarkeit und bleibender Verbundenheit meinem hoch verehrten und zutiefst bewunderten akademischen Lehrer Claus Roxin.65 Als sein Hörer, Doktorand, Assistent und Kollege habe ich immer wieder Impulse erfahren, die Fähigkeit des Denkens von den Grundlagen her zu erproben und zu vertiefen. Mögen ihm noch viele schöne Jahre beschieden sein!

64

Eine andere Frage ist es, ob die Vorauszahlung des Verbrechenslohns bei nur vorgetäuschter Tatbereitschaft einen Vermögensschaden des Auftraggebers begründet; nur damit befasst sich KG NJW 2001, 86. 65 S. auch meine Ausführungen in der FS Roxin, 2001, 1213 und in NJW 2006, 1405.

Absatz und Absatzhilfe im Tatbestand der Hehlerei und die „Formel“ des Bundesgerichtshofs MANFRED MAIWALD

I. Der Streit um den Absatzerfolg Der Tatbestand der Hehlerei – § 259 StGB – enthält bekanntlich zwei Handlungsvarianten, um die vor noch nicht langer Zeit heftig gestritten worden ist. Die Rechtsprechung hat sich immer wieder mit ihnen beschäftigen müssen und in der Literatur hat sich um diese Handlungsvarianten eine lebhafte Diskussion ergeben. Gemeint sind die Handlungsvarianten, dass der Täter der Hehlerei die Sache, die der Vortäter durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, „absetzt“ oder „absetzen hilft“. Der Pulverdampf dieses Streits hat sich inzwischen weitgehend verzogen, aber geklärt wurde die im Streit befindliche Frage nicht. Sie besteht darin, ob das Absetzen oder die Absatzhilfe einen Erfolg voraussetzen, oder ob eine auf Absatz oder auf eine entsprechende Hilfe gerichtete Tätigkeit ausreicht, um die Strafe wegen vollendeter Hehlerei auszulösen. Der Streitpunkt ist eine Erblast, die durch das Gesetzgebungsverfahren entstanden ist, das im Rahmen des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 19741 auch den Tatbestand der Hehlerei gegenüber der zuvor bestehenden Rechtslage erheblich umgestaltete. Nach der zuvor bestehenden Rechtslage bestand die Hehlereihandlung darin, dass der Täter die durch die rechtswidrige Vortat erlangten Sachen „verheimlicht, ankauft, zum Pfande nimmt oder sonst an sich bringt oder zu deren Absicht bei anderen mitwirkt“. Das EGStGB modifizierte diese Tatbestandsfassung dahingehend, dass nunmehr auch als Handlungsbeschreibung das Ankaufen, das sich oder einem Dritten Verschaffen und eben das Absetzen und das Helfen beim Absatz in § 259 StGB enthalten sind.2 Für das „Mitwirken beim Absatz“ gemäß der alten Rechtslage haben in ständiger Rechtsprechung das Reichsgericht und ihm folgend der BGH 1 2

BGBl. I S. 49. Vgl. zum Übergang in der Gesetzesfassung Sturm JZ 1975, 11.

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angenommen, es genüge jede vorbereitende, ausführende oder auch nur helfende Tätigkeit, die dem Zweck des Absatzes der Sache dient, ohne Rücksicht darauf, ob der Absatz tatsächlich gelingt.3 Die Lehre war teilweise anderer Meinung: „Nach richtiger Ansicht muss der Absatz perfekt geworden sein“, schrieb etwa Frank und fügte zur Begründung hinzu: „Denn nur unter dieser Voraussetzung kann man von einer Perpetuierung des rechtswidrig begründeten Zustands sprechen“, überdies gehe dem „Ansichbringen“ nicht das versuchte, sondern nur das vollendete Absetzen parallel.4 Andere Autoren folgten hingegen der Rechtsprechung5 und ließen eine dem Zweck des Absatzes dienende Tätigkeit – ohne Erfolgserfordernis – genügen. Für die durch das EGStGB geschaffene neue Gesetzeslage hat der BGH zunächst geschwankt. Nach anfänglich gegenteiliger Rechtsprechung, die die Variante des „Absetzens“ betraf,6 hat der BGH in der Grundsatzentscheidung BGH 27, 45 für beide Varianten – das Absetzen und die Absatzhilfe – angenommen, dass vollendete Hehlerei auch dann vorliegt, wenn es nicht zum Absatz gekommen ist. Zur Begründung verweist der BGH auf die Gesetzesmaterialien, aus denen hervorgehe, dass der Gesetzgeber durch die Neufassung nur eine Klarstellung habe herbeiführen wollen, nämlich die Klarstellung, dass auch das selbständige, wenn auch zugunsten des Vortäters und mit dessen Einverständnis geschehende Vorgehen des Täters Hehlerei sein könne.7 Nicht aber habe der Gesetzgeber „den gefestigten Stand der Rechtsprechung“ hinsichtlich der zuvor bestehenden Gesetzesfassung verlassen wollen. Kurz: Trotz der Änderung im Gesetzeswortlaut sei eine Änderung der Auslegung, soweit das Erfolgserfordernis in Frage stehe, nicht angebracht. Die Lehre blieb nach wie vor gespalten. Die Mehrzahl der Autoren erklärte allerdings, dass jedenfalls jetzt, nach der Neufassung des § 259 StGB, die Worte „absetzen“ und „absetzen helfen“ den Tatbestand diesbezüglich zum Erfolgsdelikt gemacht hätten. Dabei stellte man in erster Linie auf den Wortsinn der Begriffe „absetzen“ und „absetzen helfen“ ab, die erfolgsbezogen zu verstehen seien.8 Auch der Gedanke der Perpetuierung der rechts3

RG 56, 191; BGH NJW 1955, 351; BGH 22, 206 (207). Frank StGB, 18. Aufl. 1931, § 259 IV 3; im Ergebnis ebenso Binding Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil I, 2. Aufl. 1902, S. 391; Schönke/Schröder StGB, 15. Aufl. 1970, § 259 Rn. 40. 5 Z. B. Maurach BT, 5. Aufl. 1969, S. 373; Mezger-Blei Studienbuch II, 9. Aufl. 1966, S. 174. 6 BGH NJW 1976, 1698. 7 BGH 27, 45 (49) verweist insofern auf BTD VII/550, S. 252 f. 8 Dass das bloße Bemühen um den Absatz jedenfalls in der Alltagssprache nicht als ein Absetzen verstanden wird, zeigt ein einfaches Beispiel: Wenn ich morgens einen Kaufmann 4

Absatz und Absatzhilfe bei der Hehlerei und die „Formel“ des BGH

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widrigen Vermögenslage wird ebenso wie schon bei Frank herangezogen: Die Perpetuierung trete erst ein, wenn – wie beim Sichverschaffen – die Sache tatsächlich vom Vortäter an einen Dritten weitergewandert sei.9 Nur eine Mindermeinung folgt der Rechtsprechung.10

II. Die „Formel“ des Bundesgerichtshofs Der BGH beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, die Notwendigkeit eines Erfolgseintritts für das Absetzen und die Absatzhilfe zu verneinen. Er präzisiert die Definition des Absetzens und der Absatzhilfe vielmehr durch weitere Kriterien. Die vom BGH in ständiger Rechtsprechung verwendete „Formel“ lautet insofern: „Vielmehr genügt zur Vollendung des Deliktes jede – vom Absatzwillen getragene – vorbereitende, ausführende oder helfende Tätigkeit, die geeignet ist, den Vortäter bei seinen Bemühungen um wirtschaftliche Verwertung der ‚bemakelten’ Sache zu unterstützen.“11 Eine Analyse zeigt, dass damit drei Kriterien für das Absetzen und die Absatzhilfe hervorgehoben werden: - Erstens der oben dargestellte Verzicht auf das Erfordernis eines Absatzerfolges. - Zweitens die Annahme einer vollendeten Hehlerei schon im Vorbereitungsstadium des Absatzes. - Drittens eine Einschränkung durch das Erfordernis, die Handlung müsse zur Förderung des Absatzes geeignet sein. Von diesen drei Kriterien soll im Folgenden das schon genugsam erörterte Kriterium des Verzichts auf einen Absatzerfolg außer Betracht bleiben. Es soll vielmehr das zweite Merkmal näher betrachtet werden, das die mögliche Strafbarkeit wegen vollendeter Hehlerei zurückverlagert auf ein ungewöhnlich frühes Stadium der Tatbegehung, nämlich auf das Stadium der Vorbereitungshandlung. Sodann soll das Kriterium der Eignung zur Förderung des Absatzes untersucht werden.

besuche, der mir viele Gegenstände zeigt, die er im Laufe des Tages verkaufen möchte, und ihn abends bei einem erneuten Besuch frage, ob er sie denn auch wirklich abgesetzt habe, so wird er mir wohl kaum bejahend antworten, er habe sie alle abgesetzt, wenn er sich den ganzen Tag nur vergeblich bemüht hat, sie zu verkaufen. 9 Eingehende Darstellung der Argumente bei Küper BT S. 10; weiter Maurach/Schroeder/Maiwald BT I § 39 Rn. 34; NK-Nelles § 259 Rn. 26 ff. 10 Nachweise wieder bei Küper (Fn. 9) S. 10. 11 So BGH 43, 110 (111) mit dem Hinweis auf zahlreiche weitere Entscheidungen.

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III. Strafbarkeit der Vorbereitung des Absatzes Die in der „Formel“ verwendeten Begriffe „vorbereitend“ und „ausführend“ einerseits und „helfend“ andererseits bezeichnen zwei verschiedene kategoriale Aspekte des Täterhandelns. „Helfend“ betrifft im Sinne des Gewichts der Beteiligung und im Gegensatz zum täterschaftlichselbständigen Bewirken des Absatzes diejenige Art des Mitwirkens, die man als – nach den Kategorien der Teilnahme – untergeordnete Beteiligung am Absatz beschreiben kann. Der Begriff nimmt nicht Bezug auf das Stadium, in dem sich die Tätigkeit des Helfenden oder des Vortäters im Hinblick auf die Ausführung des Absatzes befindet. Anders ist es bei den Begriffen „ausführend“ und „vorbereitend“. Bei diesen Begriffen geht es offensichtlich gerade um das Stadium, in dem sich das Handeln des Absetzenden oder dessen Helfers befindet. Es ist zu vermuten, dass der BGH sich an der Begrifflichkeit der Versuchslehre orientiert und mit „vorbereitend“ und „ausführend“ auf deren Unterscheidung zwischen „Vorbereitungshandlung“ einerseits und „Anfang der Ausführung“ andererseits Bezug nehmen möchte: Beide Stadien der Verbrechensbegehung sollen vom Begriff „Absatz“ oder der Hilfe dazu erfasst werden und eine vollendete Hehlerei darstellen. Es ist klar, dass mit der Ausdehnung des Begriffs „Absatz“ auf das Vorbereiten des Absatzes große Schwierigkeiten geschaffen werden, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal im Hinblick auf den zeitlichen Beginn der Strafbarkeit des Absetzenden, zum anderen im Hinblick auf das in neuerer Zeit in das Blickfeld der Dogmatik geratene Phänomen der sog. neutralen Handlungen – wobei beide Schwierigkeiten miteinander verbunden sind.

1. Das Stadium der Absatzvorbereitung als vollendete Hehlerei Was den zeitlichen Beginn der Strafbarkeit betrifft, so betrachte man folgenden Fall, mag er auch zugegebenermaßen konstruiert sein: Ein Kunstdieb K hat ein wertvolles Gemälde gestohlen. Er wendet sich an seinen Freund F, der Beziehungen zu potentiellen Käufern von gestohlenen Kunstgegenständen hat, und bittet diesen, einen Käufer zu „besorgen“. F greift in der Tat zum Kugelschreiber, um mit einem möglichen Käufer schriftlich in Kontakt zu treten. Jedoch ist die Mine des Kugelschreibers leer. F kauft einen neuen Kugelschreiber, geht nach Hause, nimmt an seinem Schreibtisch Platz, zieht das Schreibpapier aus der Schublade, formuliert sein Schreiben, kauft eine Briefmarke, wirft den Brief in den Briefkasten usw. All diese Akte – schon der vergebliche Versuch, mit der leeren Mine zu schreiben – sind Vorbereitungshandlungen für einen Absatz des gestohlenen Gemäldes. Dabei sei aus Gründen der Vereinfachung angenommen, es habe

Absatz und Absatzhilfe bei der Hehlerei und die „Formel“ des BGH

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keine „Zusage“ gegeben, für den Absatz zu sorgen.12 Würde jemand den F dabei beobachten, wie dieser im Laden den neuen Kugelschreiber kauft, so müsste also nach der Logik der „Formel“ des BGH festgehalten werden, dass der Beobachter in diesem Moment jemanden beobachtet, der mit dem Kauf des Kugelschreibers (den er mit „ehrlichem“ Geld bezahlt) soeben in vollendeter Form das Delikt der Hehlerei in Form des Absetzens begangen hat, da F eine der wirtschaftlichen Verwertung des gestohlenen Gemäldes dienende vorbereitende Handlung vorgenommen hat. Nun möchte freilich der BGH selbst solche wenig überzeugenden Ergebnisse nach Möglichkeit vermeiden. Seine Vermeidestrategie hat jedoch zu einer „unklaren und uneinheitlichen Rechtsprechung“13 geführt und lässt die Kriterien, wann eine Vorbereitungshandlung schon als vollendete Hehlerei anzusehen ist und wann nicht, weitgehend im Dunkeln. So soll die bloße Hilfe bei der Vorbereitung künftigen Absatzes – etwa in Form der Lagerung oder Verwahrung von Diebesgut – noch nicht tatbestandsmäßig sein.14 Und die Übernahme der Beute zur Reparatur zwecks späteren Absatzes wurde noch nicht als vollendete Absatzhilfe angesehen; es handle sich nur um einen Versuch.15 Jedenfalls ist in solchen Entscheidungen das Bemühen spürbar, trotz des verbalen Bekenntnisses zu Vorbereitungshandlungen als Akt der vollendeten Hehlerei die Konsequenzen dieser Annahme einzuschränken. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

2. Das Problem der neutralen Handlungen Nicht weniger Probleme bereitet bei der Vorverlagerung der Vollendungsstrafbarkeit das Phänomen der neutralen Handlungen. Damit ist folgendes gemeint: Je weiter man die Handlungen zurückverfolgt, vom Punkt der Vollendung einer Straftat zum Stadium des Anfangs der Ausführung bis schließlich zu den Vorbereitungshandlungen, und je mehr auf diese Weise die Erfolgsnähe „verblasst“, um so weniger ist für einen gedachten objektiven Beobachter erkennbar, dass eine bestimmte Handlung der Begehung einer Straftat dienen soll. Das wird am obigen Beispiel des Kaufs eines Kugelschreibers, um den Brief an den möglichen Abnehmer des Kunstgegenstands schreiben zu können, deutlich: Der im Laden stattfindende Kauf eines Kugelschreibers dürfte per se in einem „objektiven Beobachter“ kaum den Verdacht wachrufen, dass jetzt eine Straftat bevorsteht, und auch der 12 Vollendete Hehlerei durch die Zusage des Transports von Diebesgut zum Umsatzort nimmt an BGH NStZ 1990, 539. 13 Küper (Fn. 9) S. 11; NK-Nelles § 259 Rn. 33. 14 BGH NStZ 1994, 390. 15 BGH NStZ 1994, 396.

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Gang vom Laden nach Hause an den Schreibtisch erscheint einem gedachten „objektiven Beobachter“ vermutlich unverdächtig. Mit dieser Betrachtung ist Bezug genommen auf solche der Begehung von Straftaten dienenden Handlungen, für die Rackow in der Tat die Bezeichnung „unverdächtige Handlungen“ vorzieht, weil dies die Art der gemeinten Neutralität besser zum Ausdruck bringe.16 Doch sollen solche begrifflichen Probleme nicht vertieft werden. Durch das gewählte Beispiel dürfte die hier gemeinte Problematik hinlänglich verdeutlicht sein: Je weiter man bei derartigen Vorbereitungshandlungen zu deren Anfang hin rückwärts schreitet, umso unmöglicher wird es, einen deliktischen Bezug solcher Handlungen zu erkennen. Ob solche neutralen Handlungen, wie im Beispiel der ganz „unverdächtige“ Kauf eines Kugelschreibers, mit dem später ein auf hehlerischen Absatz gerichtetes Schreiben verfasst werden soll, legitimerweise der Strafbarkeit unterfallen können, ist die hier interessierende Frage. Das Phänomen der neutralen Handlungen hat Claus Roxin in einem ganz anderen Zusammenhang näher untersucht, nämlich im Zusammenhang mit der Teilnahmelehre. Hier geht es um die Frage, ob strafbare Beihilfe zu einer Straftat gegeben ist, wenn der „Gehilfe“ seinen Beitrag zur Straftat des Haupttäters durch Handlungen leistet, „wie sie im Alltag – meist im Rahmen normaler Berufsausübung – tausendfältig vorgenommen werden“17. Seine Lösungen haben weitgehend Zustimmung gefunden und sind insbesondere auch von der Rechtsprechung des BGH aufgegriffen worden.18 Doch lassen sich diese Überlegungen auf den hier zu untersuchenden Zusammenhang der dem Absatz dienenden vorbereitenden Hehlereihandlungen nicht übertragen. Denn hier geht es nicht um die Frage der Zurechnung eines Geschehens, das (im Hinblick auf eine Haupttat) als deliktisch feststeht, sondern ganz einfach um die sachgerechte Auslegung von Tatbestandsmerkmalen – des Absetzens und der Absatzhilfe. Wie sehr die Stadien von strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuch durch die Neutralität der vorgenommenen Handlungen geprägt werden, lässt sich am Beispiel der Versuchsregelung im italienischen codice penale zeigen: Gegenüber vielen anderen kontinentaleuropäischen Normen, die die Versuchsstrafbarkeit regeln, weist diese Versuchsregelung die Besonderheit auf, dass sie nicht wie das deutsche StGB den „Anfang der Ausführung“ der Tat oder wie der französische code pénal19 den commencement d`exécution 16

Rackow Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 44 ff. Roxin AT II § 26 Rn. 218. 18 Darstellung im einzelnen bei Rackow (Fn. 16) S. 306 ff. 19 Art. 121-5 c.p. 17

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gegenüber der bloßen Vorbereitungshandlung zum Stadium des Beginns der Strafbarkeit erklärt. Vielmehr hat sich das Täterhandeln von der Vorbereitung zum Versuch nach der italienischen Regelung dann zum strafbaren Handeln verdichtet, wenn die Handlungen des Täters „in eindeutiger Weise“ auf die Begehung einer Straftat „gerichtet sind“20.Vorbereitungshandlungen sind danach also so beschaffen, dass man ihnen ihren Zweck, der Deliktsbegehung zu dienen, noch nicht ansieht. Sie sind (noch) mehrdeutig, können also auch ganz legalen Zwecken dienen, und sind somit im oben dargestellten Sinne neutral. Erst die nicht mehr neutralen Handlungen sollen die Grenze der Strafbarkeit überschreiten. Dass diese auf die Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch zielende Definition des codice penale ihrerseits erhebliche Probleme mit sich bringt, ist klar. Denn der Begriff der Eindeutigkeit (in wörtlicher Übersetzung: Unzweideutigkeit) setzt einen „Beobachter“ voraus, der zum Urteil der Eindeutigkeit gelangt, und für diesen stellt sich die Frage, was er wissen muss oder wissen darf, um zu diesem Urteil zu gelangen. Am Beispiel gezeigt: Schreibt jemand, um zu betrügen, einen Brief mit täuschenden Angaben, so hängt die Eindeutigkeit der Richtung seines Handelns – nämlich das Ziel, einen Betrug zu begehen – u. a. davon ab, ob derjenige, der ihn beim Briefschreiben beobachtet, weiß, dass die Angaben falsch sind. Hinzu kommt die Frage, ob in diesem Beispiel wirklich schon das Schreiben des Briefes und nicht erst dessen Absendung zur Annahme eines Versuchs führen soll – wie dies wohl anzunehmen wäre, würde man auf den Anfang der Ausführung abstellen.

3. Eventualvorsatz im Vorbereitungsstadium Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zum Absetzen und zur Absatzhilfe beim deutschen Tatbestand der Hehlerei zurück, so liegt es demgemäß auf der Hand, dass die „Formel“ des BGH, die die bloße Vorbereitung einer wirtschaftlichen Verwertung der „bemakelten“ Sache als vollendete Hehlerei ansieht, Handlungen für strafbar erklärt, deren Bestrafung höchst fragwürdig erscheint. In subjektiver Hinsicht kommt noch ein Einwand gegen die „Formel“ des BGH hinzu. Die bisher verwendeten Beispiele gingen davon aus, dass die Vorbereitungshandlungen, die dem Absatz dienen sollen – mögen sie eindeutig oder neutral sein – vom Täter in der Absicht vorgenommen werden, die wirtschaftliche Verwertung der „bemakelten“ Sache zu erreichen. Da nun aber ganz allgemein einhellig angenommen wird, dass „gemäß § 15 ... für den subjektiven Tatbestand der Hehlerei Vorsatz erforderlich“, und dass 20

Art. 56: „Chi compie atti idonei, diretti in modo non equivoco a compiere un delitto...“.

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hierfür „bedingter Vorsatz ausreichend“ sei,21 müsste dies auch für die dem Absatz dienenden Vorbereitungshandlungen gelten. Damit wird die „Formel“ des BGH zusätzlich diskreditiert. Man braucht sich nur einmal vorzustellen, dass im obigen Beispiel des Kaufs eines Kugelschreibers, mit dem der auf Absatz gerichtete Brief später geschrieben werden soll, der Kugelschreiber vom Täter nicht mit der Absicht gekauft wird, ihn zu diesem Zweck zu benutzen, sondern dass der Täter nur mit der Möglichkeit rechnet, er werde den Kugelschreiber (auch) zu diesem Zweck verwenden (weil vielleicht kein anderer Kugelschreiber zur Hand ist), und dass der Täter, letzteres „billigend in Kauf nehmend“, den Kugelschreiber gleichwohl kauft. Nach der „Formel“ des BGH hätte der Erwerber des Kugelschreibers, weil er beim Erwerb mit dolus eventualis gehandelt hat, schon mit dem Erwerb vollendete Hehlerei begangen. Da die Hehlerei vollendet ist, kann er auch nicht mehr strafbefreiend zurücktreten, etwa indem er sein Vorhaben, den bewussten auf Absatz gerichteten Brief zu schreiben, einfach aufgibt

4. „Notwehrprobe“ und Teilnahme Und schließlich: Da der Kauf des Kugelschreibers, geschehe er mit dolus directus oder mit dolus eventualis im Hinblick auf den dem Absatz dienenden Brief zwar sachlich eine Vorbereitung des Absatzes, formal aber – nach der „Formel“ des BGH – ein Akt der Verwirklichung des Tatbestands der Hehlerei ist, könnte gegen den Akt des Kaufs des Kugelschreibers Notwehr oder Nothilfe geübt werden. Es müsste danach, um die Vollendung des Delikts der Hehlerei auszuschließen, jeder Dritte im Wege der Nothilfe verhindern dürfen, dass der Kauf des Kugelschreibers vonstatten geht. Das ist nicht nur aus praktischen Gründen recht fernliegend, sondern führt auch zu der Konsequenz, dass die Verhinderung des Kaufs des Kugelschreibers im Wege der Nothilfe ausgeschlossen wäre, wenn der potentielle Käufer glaubhaft versichern würde, er habe es sich anders überlegt – er werde den absatzfördernden Brief nicht mit dem jetzt zu kaufenden Kugelschreiber schreiben, sondern mit dem Kugelschreiber seiner Frau. Weiterhin führt auch die Teilnahmeregelung der §§ 25 ff StGB zu bemerkenswerten Konsequenzen, wenn nach der „Formel“ des BGH schon jede Vorbereitungshandlung bezüglich des Absatzes oder der Hilfe dazu vollendete Hehlerei sein soll. Denn natürlich müsste der Verkäufer des Kugelschreibers im Laden, der den Verwendungszweck des Kugelschreibers auch

21

NK-Nelles § 259 Rn. 34 unter Hinweis auf BGH wistra 1999, 339; BGH wistra 1993, 264; BGH NStZ 1983, 264.

Absatz und Absatzhilfe bei der Hehlerei und die „Formel“ des BGH

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nur für möglich hält, wegen Beihilfe zur Hehlerei bestraft werden.22 Wäre der Käufer des Kugelschreibers nicht als Absetzender, sondern als Helfer beim Absatz einzustufen, so läge demgemäß der Fall vor, dass der Verkäufer bei der Vorbereitungshandlung einer Absatzhilfe Hilfe leistet, was ihn ebenfalls strafbar macht.

IV. Die „Eignung“ zur wirtschaftlichen Verwertung und andere Einschränkungen der „Formel“ 1. Die Problematik des Erfordernisses der „Eignung“ Die Ungereimtheiten und Seltsamkeiten, die bei der konsequenten Anwendung der „Formel“ des BGH entstehen, werden auch nicht etwa dadurch beseitigt, dass man das vom BGH aufgestellte zusätzliche Erfordernis einbezieht, die vorbereitende, ausführende oder helfende Tätigkeit müsse „geeignet“ sein, den Vortäter bei seinen Bemühungen um die wirtschaftliche Verwertung der „bemakelten“ Sache zu unterstützen. Dieses Merkmal der Eignung hat vor allem beim Absatz in der Konstellation zu einer lebhaften Diskussion geführt, dass der Absetzende bei der Übertragung der Sache an einen verdeckten Ermittler der Polizei geriet.23 In der Entscheidung BGH 43, 110 erklärt der BGH dazu zunächst, bei der Beurteilung der Eignung sei nicht auf eine abstrakte Betrachtung abzustellen, entscheidend sei vielmehr, ob im konkreten Fall durch das Bemühen des Hehlers ein Erfolg zu erwarten sei, da sonst eine Perpetuierung der rechtswidrigen Vermögenslage nicht in Frage komme. Sodann kommt er zu dem Schluss, eine solche Erwartung könne bei Absatzverhandlungen mit einem Polizeibeamten nicht angenommen werden. Denn die Bemühungen seien in diesem Fall nicht geeignet, den rechtswidrigen Vermögenszustand aufrechtzuerhalten oder zu vertiefen; sie führten im Gegenteil dazu, dass der rechtmäßige Zustand wiederhergestellt werde. Ob der vom BGH im konkreten Fall gezogene Schluss der mangelnden Eignung zutreffend ist, hängt ganz offenbar davon ab, wie viel jemand, der die vom BGH geforderte „konkrete Betrachtung“ vornimmt, von den Einzelheiten des im Gange befindlichen Verkaufs an den verdeckten Ermittler weiß: Weiß der Betrachter, dass es sich um einen verdeckten Ermittler handelt, so wird er das Unternehmen für „ungeeignet“ halten, weiß er es nicht, 22 Hier nun hätte die oben erwähnte Fragestellung Roxins ihren Anwendungsbereich, ob als Beihilfe wirklich Handlungen strafbar sein sollen, die im Alltag tausendfältig vorgenommen werden und in diesem Sinne neutral sind. 23 BGH NStZ 1990, 539; BGH 43, 110 m. Anm. Krack NStZ 1998, 462; Endriß NStZ 1998, 463; Seelmann JR 1998, 342; Rosenau NStZ 1999, 352.

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so wird er von einer „Eignung“ ausgehen. Die Aussagen des BGH, es schließe der Umstand, dass mit einem verdeckten Ermittler verhandelt worden sei, die Eignung zur Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Vermögenszustands aus, scheint demgegenüber eine Betrachtung ex post zu sein, da die vollkommene Kenntnis des Sachverhalts angenommen wird. Mit Recht weist Seelmann darauf hin, dass mit dem Erfordernis der Eignung zur Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Vermögenszustands, wenn man die Eignung als konkrete Betrachtung versteht, solche Verhaltensweisen aus dem Tatbestand ausgeklammert werden, die materiell einen untauglichen Versuch darstellen. Denn es wird die Gefahr für das durch § 259 StGB geschützte Rechtsgut durch dieses Merkmal zum entscheidenden Kriterium erhoben, ebenso, wie dies bei der Unterscheidung zwischen den Figuren des tauglichen und des untauglichen Versuchs der Fall ist. Für die Unterscheidung zwischen untauglichem und tauglichem Versuch ist aber das Kriterium der Betrachtung ex post kein mögliches Kriterium: Für eine Betrachtung ex post, die gleichsam den Kenntnisstand eines allwissenden Geistes repräsentiert, gibt es nur untaugliche Versuche. Denn ein allwissender Geist hat es per definitionem stets von Anfang an gewusst, dass ein Vorhaben fehlschlagen werde, wenn es tatsächlich nicht zur Vollendung gelangt ist. Deshalb ist für die Beurteilung als „ungeeignet“ ebenso wie für die Beurteilung als „untauglich“ das Wissen eines objektiven Beobachters vorauszusetzen, der den Vorgang ex ante beurteilt.24 Und für diesen Beobachter stellt sich dann die oben angesprochene Frage, welches Wissen bezüglich der objektiv vorhandenen Tatumstände bei ihm vorauszusetzen ist. Dass der BGH im Falle der Verhandlungen mit dem verdeckten Ermittler erklärt, die Absatzbemühungen seien nicht geeignet, den rechtswidrigen Vermögenszustand aufrechtzuerhalten oder zu vertiefen, eben weil es sich um einen verdeckten Ermittler handle, ist also eine petitio principii. Genauso gut hätte der BGH behaupten können, die Absatzbemühungen seien geeignet, den rechtswidrigen Vermögenszustand aufrecht zu erhalten, weil der Umstand, der Verhandlungspartner sei ein verdeckter Ermittler, für einen objektiven Beobachter nicht erkennbar war. Denn ist ein objektiver Beobachter Zeuge eines ernsthaft erscheinenden Verkaufsgesprächs – und die Ernsthaftigkeit ist ja offenbar vom verdeckten Ermittler geschickt und erfolgreich vorgetäuscht worden – so ist es jedenfalls nicht fern liegend, dass er den Schluss zieht, ein Absatz der gestohlenen Kunstgegenstände könne durchaus gelingen. Bei dieser Annahme müsste dann der BGH, wenn er seiner „Formel“ folgt, vollendete Hehlerei annehmen. 24

Zum Versuch vgl. Roxin AT II § 29 Rn. 11: „...ex post erweist sich jeder scheiternde Versuch als ungefährlich...“.

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In einer anderen Entscheidung des BGH, die zeitlich vor dem Fall des verdeckten Ermittlers liegt,25 wird diese Problematik des Begriffs der „Eignung“ deutlich. Nach dem geschilderten Sachverhalt hatte es die Täterin nach entsprechender telefonischer Zusage übernommen, das Diebesgut zum Absatzort zu transportieren. Unterwegs wurde ihr Auto von der Polizei angehalten und die Beute sichergestellt und zwar deshalb, weil die Polizei aufgrund einer Telefonüberwachung von vornherein Kenntnis von diesem Transport erhalten hatte. Die „Förderung“ des Absatzes der Beute durch den Transport und dessen vorherige Zusage war also von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn die Polizei wusste alles. In dieser Entscheidung des BGH müsste nach der Logik des BGH die „Eignung“ zur Förderung des Absatzes ebenso wie beim Verkauf an einen verdeckten Ermittler eigentlich verneint werden, denn es stand fest, dass die Zusage des Transports und der Transport selbst in einer Falle der Polizei enden würden. Jedoch scheint der BGH hier das Problem der „Eignung“ nicht einmal bemerkt zu haben. Es wird mit keinem Wort angesprochen. Es bleibt also festzuhalten, dass mit dem Begriff der Eignung, der die konkrete Gefährdung des durch § 259 StGB geschützten Rechtsguts umschreiben soll, alle Unsicherheiten in den Tatbestand hineingetragen werden, die generell mit dem Begriff der konkreten Gefährdung verbunden sind. Mit der Bezugnahme auf das Kriterium der Beurteilung ex post für die Eignung wird der Begriff selbst wertlos gemacht.

2. Weitere Einschränkungen der „Formel“ Hinzuweisen ist noch auf eine denkbare Einschränkung der „Formel“, die aber der BGH nicht vornimmt: Vorbereitungshandlungen haben es häufig an sich, nicht nur im oben beschriebenen Sinne neutral zu sein; ihr die Straftat fördernder Effekt ist auch nicht selten nur minimal. Man könnte also daran denken, eine Einschränkung der Art vorzunehmen, dass die vorbereitende Handlung für den Absatz immerhin „erheblich“ oder „wesentlich“ sein muß. Im Ausgangsbeispiel des Kaufs eines Kugelschreibers mag es sein, dass dieser Kauf den Absatz letzten Endes „fördert“. Aber natürlich könnte F einen Kugelschreiber ohne weiteres auch in einem anderen Laden oder Kaufhaus erwerben, er könnte sich einen Kugelschreiber leihen usw. Der konkrete Kauf des Kugelschreibers ist also für den Absatz recht unerheblich. Mustert man die vom BGH entschiedenen Fälle durch, so stellt man fest, dass sie Fälle betrafen, in denen die „bemakelte“ Sache erheblich direkter involviert war als im Beispiel des Kugelschreibers. So etwa bei der Frage 25

BGH NStZ 1990, 539.

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Manfred Maiwald

des Transports von Diebesgut26, bei dessen Lagerung27, bei der absatzerleichternden Reparatur28, bei Verkaufsverhandlungen mit einem verdeckten Ermittler29, bei der Zusage des Transports der Beute30 u. dergl. Nicht in allen diesen Fällen hat der BGH vollendete Hehlerei angenommen, in einem von ihnen nur Versuch. Doch kann dies hier auf sich beruhen: Die Aussage, dass Vorbereitungshandlungen mit nur unwesentlichem Förderungseffekt ein vollendeter Absatz gem. § 259 StGB sein könnten, findet sich jedenfalls nicht.31 Andererseits nimmt der BGH aber neben dem Kriterium der Eignung eine weitere Einschränkung seiner „Formel“ vor durch die in BGH NStZ 1994, 396 hervorgehobene Annahme, die bloße Vorbereitung eines späteren Absatzes stelle „nur dann eine vollendete Tat dar, wenn Umstände vorliegen, die – wie z. B. bei der Übernahme in Verkaufskommission –für den Dieb oder den sonstigen Vortäter einen Beginn des Absetzens bedeuten“. Der BGH bezieht sich dabei ausdrücklich auf die noch zur alten Rechtslage ergangenen Entscheidung BGH 2, 135, 137, die zur Interpretation des „Mitwirkens beim Absatz“ erklärt hatte, die bloße Aufbewahrung der Beute mit dem Ziele, die Sache später irgendwo abzusetzen, sei nur eine Vorbereitung des späteren Absatzes und noch kein Mitwirken beim Absatz. Es müssten vielmehr „weitere Umstände hinzutreten“, es sei eine „Tätigkeit erforderlich, die für den Dieb ein Absetzen ist“. Im vorliegenden Fall habe der Angeklagte „nur versprochen, sich um einen Abnehmer bemühen zu wollen, ohne eine dahingehende Tätigkeit zu entfalten“. Und: „Eine Förderung des Absatzes ist noch nicht eingetreten, vorteilhaftere Bedingungen für den Absatz sind nicht geschaffen worden.“ Was das letztere Erfordernis betrifft, es müsse eine Förderung des Absatzes eingetreten sein, so erklärt freilich eine andere Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1990 das genaue Gegenteil. Dort wird ausgeführt: „Danach setzt – entgegen der Meinung des LG –vollendete Hehlerei nicht notwendig voraus, dass ein ‚objektiver Förderungserfolg’ eingetreten ist.“ Und: „Auch soweit in einer Entscheidung des BGH (NJW 1978, 2042) festgestellt wird, der Täter habe, eine die Absatzmöglichkeit fördernde Tätigkeit’ entfaltet, ist 26

BGH NJW 1990, 2897: Eignung bejaht. BGH NStZ 1993, 282: Keine Hehlerei, wenn die Lagerung nur Hilfe für einen künftigen Absatz darstellt. 28 BGH NStZ 1994, 395: Nur Versuch der Hehlerei, wenn die Übernahme zur Reparatur für den Vortäter erst einen Beginn des Absetzens bedeutet. 29 BGH 43, 110: Eignung verneint. 30 BGH NStZ 1990, 539: Ob die Zusage zur Förderung des Absatzes „geeignet“ ist, erörtert der BGH nicht. Vollendete Hehlerei wird bejaht. 31 Dass derartige Handlungen prozessual – schon im Vorfeld – gem. § 153 StPO ausgeschieden werden können, steht natürlich auf einem anderen Blatt. 27

Absatz und Absatzhilfe bei der Hehlerei und die „Formel“ des BGH

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das nicht dahin zu verstehen, dass eine Förderung des Absatzes selbst eingetreten sein muss. Absatzhilfe umfasst vielmehr... jede Tätigkeit, die der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands dient.“32 In weiterem Gegensatz zur obigen Entscheidung BGH 2, 135, 137 wird ausdrücklich hinzugefügt, die „entscheidende Tathandlung“ sei „schon in der (dem späteren Transport) vorausgegangenen Zusage, das Diebesgut zum vorgesehenen Umsatzort zu bringen“, zu sehen.

V. Schlussbemerkung Es hat sich gezeigt, dass die „Formel“ des BGH, die dieser als StandardDefinition für die Begriffe des Absetzens und der Absatzhilfe im Hehlereitatbestand verwendet, weit davon entfernt ist, diese Begriffe in angemessener Weise zu erfassen. Das gilt nicht nur für den Verzicht auf das Erfordernis eines Absatzerfolges – auf den hier nicht näher eingegangen wurde -, sondern auch auf die Ausdehnung auf Vorbereitungshandlungen des Absetzens. Diese Ausdehnung macht es auch nach der Ansicht des BGH notwendig, die „Formel“ durch einschränkende Kriterien zu ergänzen, vor allem durch das Kriterium, die Handlungen müssten „geeignet“ sein, den Vortäter bei der wirtschaftlichen Verwertung der bemakelten Sache zu unterstützen. Aber es wurde gezeigt, dass diese Einschränkungen die Probleme der „Formel“ nicht lösen; sie verschieben sie nur. Man wird dem BGH raten müssen, sich von seiner „Formel“ insoweit zu verabschieden, als sie in die Definition des Absetzens auch die Vorbereitung des Absatzes einbezieht. Auf das problematische Kriterium der Eignung, das die Weite der Formel im Hinblick auf die Vollendung einschränken soll, könnte ebenfalls verzichtet werden, wenn der BGH seine Rechtsprechung aufgibt, nach der das bloße Bemühen um den Absatz, und stelle es nur eine Vorbereitung des Absatzes dar, schon eine vollendete Hehlerei darstellen kann.

32

BGH NStZ 1990, 539.

Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Vortat der Geldwäsche MARK A. ZÖLLER

I. Einführung Der Tatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB) zählt seit seiner Einführung durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.19921 zu den rechtsstaatlich besonders problematischen Bestimmungen des deutschen Strafgesetzbuchs. In nahezu einzigartiger Weise vereinen sich in ihm unterschiedliche gesetzestechnische Mittel zur Ausdehnung der Strafbarkeit, die schon für sich genommen nur schwer zu legitimieren sind. 2 In ihrer Bündelung ist ein Straftatbestand entstanden, der für den Rechtsanwender kaum noch handhabbar ist. 3 Zu Recht wird daher darauf hingewiesen, dass der Aufwand, der sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene beim Entwurf von Arbeitsprogrammen, Konzeptpapieren oder strategischen Analysen zur Effektivitätssteigerungen bei der Kriminalisierung typischer Geldwäschehandlungen betrieben wird, in keinem akzeptablen Verhältnis zu seinem tatsächlichen Ertrag in Gestalt von Verurteilungszahlen steht.4 Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) konnten zwar im Jahr 2009 insgesamt 4.566 Geldwäscheverdachtsfälle erfasst und 3.139 Tatverdächtige ermittelt werden.5 Auch eine Aufklärungsquote von 93,8 % spricht auf den ersten Blick für eine Erfolgsgeschichte. Allerdings ist gerade im Zusammenhang mit Geldwäschefällen von einem enormen Dunkelfeld auszugehen, so dass die Zahl der erfassten Verdachtsfälle faktisch nahezu deckungsgleich mit den ohnehin aufgeklärten Fällen sein dürfte. Ernüch1

BGBl. I S. 1303. Zu denken ist nur an die beständige Ausweitung des Vortatenkataloges, die Verwendung ebenso zentraler wie unklarer Begrifflichkeiten, etwa des „Herrührens“ aus bestimmten Katalogtaten, die vom Gesetzeswortlaut ermöglichte Erfassung berufstypischer Handlungen oder die Einbeziehung der Leichtfertigkeit in § 261 Abs. 5 StGB. 3 Achenbach/Ransiek-Löwe-Krahl HWSt XII Rn. 60 f. 4 Vgl. nur die klare und überzeugende Kritik bei Fischer § 261 Rn. 4a ff. 5 Bundeskriminalamt (Hrsg.) Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, S. 41. 2

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Mark A. Zöller

ternd ist zudem ein Blick in die Strafverfolgungsstatistik. Hier zeigt sich, dass im Jahr 2008 durch deutsche Strafgerichte lediglich 359 Verurteilungen nach § 261 StGB erfolgt sind.6 Stellt man dieser Zahl die insgesamt 9.046 Geldwäscheverdachtsanzeigen gegenüber, die alleine im Jahr 2009 nach § 11 Geldwäschegesetz (GwG) erstattet wurden,7 so scheint offensichtlich, dass die mit der Einführung und späteren Ausweitung des § 261 StGB verfolgten Ziele, insbesondere die Verhinderung des Einschleusens von Vermögensgegenständen aus Organisierter Kriminalität in den legalen Finanz- und Wirtschafskreislauf zum Zwecke der Tarnung8, nicht erreicht werden konnten. Vor diesem Hintergrund ist es leicht nachvollziehbar, wenn sich Staatsanwaltschaft und Gerichte auf ihre Weise darum bemühen, den Zwängen des Legalitätsprinzips und dem politischen Wunsch nach Erfolgen bei der (strafrechtlichen) Bewältigung des Geldwäschephänomens nachzukommen. Dabei lässt sich eine „Doppelstrategie“ beobachten: Zum einen werden in materiell-rechtlicher Hinsicht Ungenauigkeiten des Strafgesetzgebers bei der Schaffung des Vortatenkatalogs in § 261 Abs. 1 S. 2 StGB überspielt, um überhaupt den Anwendungsbereich des Geldwäschetatbestands zu eröffnen. Zum anderen werden in formell-rechtlicher Hinsicht die Anforderungen an den Vortatnachweis in bedenklichem Maße abgesenkt. Insbesondere wenn die Tatobjekte der Geldwäschehandlung aus Auslandstaten herrühren (vgl. § 261 Abs. 8 StGB), scheinen die Standards der Strafprozessordnung außer Kraft gesetzt zu werden. Ein wissenschaftlich bisher wenig beachtetes, von der Strafrechtspraxis aber bereits seit längerem praktiziertes Anwendungsbeispiel für diese Strategien findet sich im Grenzbereich zwischen Staatsschutz- und Wirtschaftsstrafrecht. Konkret geht es um Fälle, in denen von den Strafverfolgungsbehörden Aktivitäten einer kriminellen (§ 129 StGB) oder terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) vermutet, gelegentlich auch schlicht unterstellt werden, deren Existenz oder operatives Geschäft im In- oder Ausland (vgl. § 129b Abs. 1 StGB) zu Vermögenswerten geführt haben soll. Diese seien anschließend – so regelmäßig der Tatvorwurf – in Deutschland i. S. v. § 261 StGB verschleiert worden. Zur Veranschaulichung solcher Sachverhaltskonstellationen mag der folgende Beispielsfall dienen:

6

Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10 Reihe 3 für das Jahr 2008, S. 36. Bundeskriminalamt (Hrsg.), Jahresbericht 2009, Financial Intelligence Unit (FIU) Deutschland, S. 8. 8 Zur Ratio des § 261 StGB BT-Drucks. 12/989, S. 26; BGHSt 50, 347 (354); 53, 205 (209); LK-Schmidt/Krause § 261 Rn. 2; NK-Altenhain § 261 Rn. 7 ff; Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 261 Rn. 2; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 Rn. 11 ff. 7

Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen

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Gegen A, der in der Ukraine geboren und aufgewachsen ist, mittlerweile aber in Deutschland lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wird in Deutschland ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Geldwäsche geführt. Ihm wird vorgeworfen, mit Geldern, die ihm von seinem Bekannten B aus der Ukraine auf sein deutsches Girokonto überwiesen wurden, ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück in Deutschland zum Preis von 500.000 Euro gekauft zu haben. B steht aufgrund internationaler Ermittlungsergebnisse im Verdacht, Kontakte zu einer ukrainischen Gruppierung zu unterhalten, die sich mit kriminellen Aktivitäten wie Schutzgelderpressungen und Auftragsmorden finanziert. Weder für die konkrete Ausgestaltung einer solchen ausländischen kriminellen Vereinigung, beispielsweise ihre Führungs- und Mitgliedsstruktur, noch für einzelne Straftaten dieser ukrainischen Gruppierung gibt es konkrete Belege. Der Immobilienkauf in Deutschland ist demgegenüber durch die entsprechenden Urkunden eindeutig nachgewiesen.

II. Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Geldwäschevortat In solchen Konstellationen stellt sich zunächst die Frage, ob und inwiefern die Beteiligung an kriminellen oder terroristischen Vereinigungen in der Rechtspraxis tatsächlich als Geldwäschevortat in Betracht kommen kann bzw. ob der Gesetzgeber mit der durch den Gesetzeswortlaut nicht näher spezifizierten Einbeziehung der strafbaren Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen in den Vortatkatalog des § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 5 StGB zu pauschal verfahren ist und infolgedessen die faktischen Besonderheiten vereinigungsbezogener Delinquenz außer Acht gelassen hat.

1. Vergehen und Verbrechen von Vereinigungsmitgliedern als Geldwäschevortaten Gemäß § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StGB kommen als taugliche Vortaten der Geldwäsche insbesondere Vergehen nach den §§ 129 und 129a Abs. 3 und 5 StGB sowie von einem Mitglied einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung begangene Vergehen in Betracht.9 In Bezug auf Delinquenz mit Bezug zu kriminellen und terroristischen Vereinigungen wird somit nicht nur die strafbare Beteiligung an einer solchen in- oder ausländischen 9

Die durch das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten v. 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437) bewirkte Einbeziehung von Vergehen nach § 89a StGB in § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StGB soll für die vorliegende Untersuchung außer Betracht bleiben.

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(vgl. § 129b StGB) Vereinigung als Vortat erfasst. Vielmehr können daneben sämtliche Vergehen i. S. von § 12 Abs. 2 StGB als Geldwäschevortat dienen, sofern sie nur von einem Mitglied einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung begangen werden. Dass der Vortäter gerade in seiner Eigenschaft als Mitglied einer solchen Gruppierung handelt, wird durch den insoweit problematischen Gesetzeswortlaut nicht vorausgesetzt.10 Einschränkend wirkt nur die rein praktisch bedingte Notwendigkeit, dass tatsächlich ein Gegenstand existieren muss, der möglicherweise aus dem durch das Vereinigungsmitglied begangenen Vergehen „herrührt“. Ungeachtet der im Detail umstrittenen Bedeutung des Tatbestandsmerkmals „Herrühren“ muss dazu zumindest ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein eines Gegenstandes mit wirtschaftlichem Wert und dem Verhalten des Vortäters zu bejahen sein.11 Dass damit etwa auch das von einem Mafiaangehörigen während seiner „Freizeit“ im Supermarkt unbeobachtet eingesteckte Zigarettenpäckchen zum tauglichen Geldwäscheobjekt wird, obwohl es hier im Gegensatz zu § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StGB an einer gewerbsoder bandenmäßigen Begehungsweise fehlt, erscheint sachlich wenig überzeugend. Um einer uferlosen Ausdehnung des § 261 StGB entgegenzuwirken und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit12 Rechnung zu tragen, wird man daher im Wege einer verfassungskonformen Auslegung folgende Einschränkungen machen müssen: Grundsätzlich muss der Vortäter bei der Begehung des Vergehens in seiner Eigenschaft „als Mitglied“ einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung gehandelt haben. Unabhängig davon wird man zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen bei Vereinigungsmitgliedern aber auch diejenigen Vergehen ausreichen lassen müssen, die ohnehin schon in § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 bis 4 StGB genannt sind. Sofern dort, wie z. B. in § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StGB, zusätzliche Anforderungen bestehen, etwa das Erfordernis der gewerbs- oder bandenmäßigen Begehungsweise beim Diebstahl (§ 242 StGB) oder beim Betrug (§ 263 StGB), ist dann allerdings auch diesen Rechnung zu tragen. Für eine solche einschränkende Auslegung des § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StGB spricht, dass im Zusammenhang mit Straftaten von 10

NK-Altenhain § 261 Rn. 44; Satzger/Schmitt/Widmaier-Jahn § 261 Rn. 26; a. A. Lampe JZ 1994, 127. 11 Zur Kontroverse um den bereits sprachlich problematischen Begriff des „Herrührens“ vgl. nur BGHSt 53, 205 (208 ff); NK-Altenhain § 261 Rn. 24 ff; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 Rn. 45 ff; Voß Die Tatobjekte der Geldwäsche, 2010, S. 31 ff, jew. m. w. N. 12 Zur Subsidiarität des Rechtsgüterschutzes Roxin AT I § 2 Rn. 97 ff; instruktiv zur Aufgabe des Rechtsgüterschutzes bei der Ausbalancierung individueller Freiheitsrechte Roxin ZStW 116 (2004), 929 ff; ders. in: Hefendehl (Hrsg.) Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 135 ff.

Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen

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Mitgliedern krimineller oder terroristischer Vereinigungen die besondere Gefährlichkeit gerade in den gruppendynamischen Prozessen zu sehen ist, die einer fest gefügten, auf die Begehung von Straftaten angelegten Organisation immanent sind.13 Fehlt es an dieser Besonderheit, weil der Täter vollkommen unabhängig von seiner Rolle innerhalb der Vereinigung und deren Gefährdungspotenzial straffällig wird (z. B. weil er aus persönlichem Antrieb in seiner Freizeit alleine ein Päckchen Zigaretten stiehlt), so besteht auch keine Notwendigkeit, die Perpetuierung einer so geschaffenen Vermögenslage durch Nachtaten wie § 261 StGB zu sanktionieren. Hierfür genügt – auch aus rechtspolitischer Sicht – bereits die isolierte Bestrafung der Vortat, im Beispiel also des Zigarettendiebstahls nach § 242 StGB. Wollte man angesichts des offenen Wortlauts jedes von einem Vereinigungsmitglied begangene Vergehen als Geldwäschevortat mit Einbeziehen, würde dies zudem dazu führen, dass die ohnehin schon wenig konkrete Aufgabe der „finanziellen Austrocknung“ krimineller Strukturen als Leitlinie des § 261 StGB weiter in den Hintergrund tritt. Diese Gefahr besteht schon deshalb, weil die Rechtsprechung vom Begriff des „Herrührens“ nicht nur die producta, sondern auch die instrumenta sceleris als erfasst ansieht.14 De facto käme dies einer weitgehenden Abschaffung des Vortatenkatalogs in § 261 Abs. 1 S. 2 StGB gleich. Bereits in der Ursprungsfassung des § 261 StGB aus dem Jahr 1992 waren von einem Mitglied einer kriminellen (nicht: terroristischen) Vereinigung begangene Straftaten als Vortaten erfasst. Beweggrund des Gesetzgebers war, dass Betätigungsfelder der Organisierten Kriminalität vor allem Taten sind, die im Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen, Zuhälterei, Prostitution, illegalem Glücks- und Falschspiel, unerlaubter Arbeitsvermittlung und Beschäftigung, Warenzeichenfälschung, Kapitalanlagebetrug und Diebstahlstaten mit zentraler Beuteverwertung stehen. Werden solche Taten von einer kriminellen Vereinigung begangen, so sollen sie einen besonderen Unrechtsgehalt erhalten, der die Aufnahme in den Katalog der Geldwäschevortaten rechtfertigt. 15 Insofern ging also auch

13

Näher zu den Besonderheiten gruppendynamischer Prozesse im Zusammenhang mit den §§ 129 ff StGB: BGHSt 28, 147 (148); 41, 47 (51); BGH NJW 1992, 1518; 2010, 1979, 1983; LK-Krauß § 129 Rn. 4, 27; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 4; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 3; NK-Ostendorf § 129 Rn. 5; Satzger/Schmitt/Widmaier-Patzak § 129 Rn 6; Schroeder Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 6; Nehring Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland, 2007, S. 420 ff; Zöller Terrorismusstrafrecht – Ein Handbuch, 2009, S. 505 f; Rudolphi FS Bruns, 1978, 320; Gierhake ZIS 2008, 397; Weißer ZStW 121 (2009), 136; Radtke/Steinsiek JR 2010, 108. 14 BGHSt 53, 205; lediglich im Hinblick auf § 334 StGB als Vortat zustimmend Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 261 Rn. 9; a. A. etwa MüKo-Neuheuser § 261 Rn. 44; Fahl JZ 2009, 748; Rettenmaier NJW 2009, 1619. 15 BT-Drucks. 12/3533, S. 12.

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der Gesetzgeber letztlich davon aus, dass nur ein Vereinigungsbezug Vergehen zu tauglichen Geldwäschevortaten machen kann. Sofern Mitglieder einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung Verbrechen i. S. von § 12 Abs. 1 StGB begehen, sind diese bereits über § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB als taugliche Vortaten in den Anwendungsbereich der Geldwäsche einbezogen.16 Auch vereinigungsbezogene Verbrechenstatbestände wie § 129a Abs. 1 und 2 StGB werden auf diese Weise zu potenziellen Geldwäschevortaten.

2. Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung als Geldwäschevortat Präzisierungsbedarf besteht nicht nur hinsichtlich der von Vereinigungsmitgliedern begangenen Vergehen und Verbrechen, sondern auch in Bezug auf die nach den §§ 129 ff StGB strafbare Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung als solche, die nach § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 5 StGB ebenfalls als Geldwäschevortat in Betracht kommt. Diese pauschale Verweisung auf § 129 oder § 129a StGB wird den Besonderheiten der in den §§ 129 ff. StGB normierten Organisationsdelikte nicht gerecht. Entscheidende Hinweise liefern dabei die vier Tatmodalitäten des § 129 Abs. 1 bzw. des § 129a Abs. 1, 2 und 5 StGB. Schließlich ist die Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung nicht in einem allgemeinen, umfassenden Sinne, sondern nur in Gestalt einzelner, gesetzlich konkretisierter Verhaltensweisen mit Strafe bedroht.17 Es macht sich lediglich derjenige strafbar, der eine kriminelle oder terroristische Vereinigung gründet, sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt oder sie unterstützt. Die Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung kann somit nur dann eine taugliche Vortat der Geldwäsche sein und ein Vermögensgegenstand nur dann aus einer solchen Tat herrühren, wenn im Zusammenhang mit der Begehung einer dieser Tatalternativen sowohl bei einer abstraktgenerellen als auch bei einer konkreten Betrachtung im Einzelfall überhaupt vereinigungsbezogene Vermögenswerte existieren können.

16 17

NK-Altenhain § 261 Rn. 44; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 Rn. 43. Zöller JZ 2010, 911.

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a) Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung Unter der Gründung einer Vereinigung ist nach verbreiteter Auffassung das führende und richtungsweisende Mitwirken bei ihrem Zustandekommen zu verstehen.18 Gegenüber dieser missverständlichen Formulierung ist jedoch angesichts der Gesetzessystematik berechtigte Kritik vorgetragen worden. Schließlich sehen die §§ 129 Abs. 5, 129a Abs. 6 StGB eine Strafmilderungsmöglichkeit vor, wenn die jeweilige Mitwirkung „von untergeordneter Bedeutung“ ist. Insofern würde diese Bestimmung entgegen dem eindeutigen Gesetzeswortlaut für das Gründen einer Vereinigung ohne Anwendungsbereich verbleiben, da ein führendes und richtungsweisendes Mitwirken nie von untergeordneter Bedeutung sein kann.19 Hinzu kommt, dass man angesichts des klaren Wortlauts von § 129 Abs. 4 und § 129a Abs. 4 StGB selbst unter „führenden Tätern“ noch einmal im Hinblick auf „Rädelsführer“ differenzieren müsste.20 Zutreffend geht daher der 3. Strafsenat des BGH21 davon aus, dass nur eine wesentliche Förderung der Gründung verlangt sein kann, also ein für das Zustandekommen der Vereinigung weiterführender und richtungsweisender Beitrag. Vor diesem Hintergrund kann auch ein solcher Tatbeitrag, der im Verhältnis zu den Beiträgen anderer Gründer von lediglich untergeordneter Bedeutung ist, dennoch eine weiterführende Wirkung für die Gründung entfalten.22 Die Tatvariante des Gründens ist vollendet, sobald eine funktionsfähige organisatorische Struktur als Erfolg feststellbar ist.23 Ein bloßer Beitritt als „Gründungsmitglied“ erfüllt das Tatbestandsmerkmal jedoch mangels wesentlicher Förderung des Zustandekommens der Vereinigung noch nicht. Andererseits setzt die Gründung nicht notwendig voraus, dass der Täter später auch Mitglied der von ihm gegründeten Vereinigung wird.24 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung (§ 129 Abs. 1 Alt. 1 StGB) schon bei einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise keine taugliche Vortat der Geldwäsche sein kann. Aus einer wesentlichen Mitwirkung beim Zustandekommen einer Vereinigung kann kausal nur eine Organisationsstruktur, nicht aber der Umgang mit oder die Schaffung von Vermögensgegenstän18

BGHSt 27, 325 (327); BGH NJW 1954, 1254; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 54; LK-Krauß § 129 Rn. 100; Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben § 129 Rn. 12a; Lackner/Kühl § 129 Rn. 4; Fröba Die Reichweite des § 129a StGB bei der Bekämpfung des transnationalen islamistischen Terrorismus, 2008, S. 186. 19 SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 14. 20 Fischer § 129 Rn. 23. 21 BGH NStZ-RR 2006, 267. 22 BGH NStZ-RR 2006, 267, 269. 23 Vgl. nur Fischer § 129 Rn. 23. 24 MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 57; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 14.

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den folgen. Die Gründung sorgt dafür, dass die anvisierte Vereinigung überhaupt eine strukturelle Existenz erhält und besitzt als solche keine unmittelbare Vermögensrelevanz. Man kann diesen Gesichtspunkt auch bildlich damit umschreiben, dass der Gründungsakt der Vereinigung lediglich „Leben einhauchen“, diese aber nicht mit Finanzmitteln ausstatten kann.

b) Beteiligung als Mitglied Die Beteiligung als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung setzt voraus, dass sich die betreffende Person unter Eingliederung in die Organisation deren Willen unterordnet und eine Tätigkeit zur Förderung der kriminellen Ziele der Vereinigung entfaltet.25 Diese auf Dauer angelegte, wenn auch zunächst nur einmalige Teilnahme an der Tätigkeit der Organisation muss sich in aktiven Handlungen zur Förderung von Aufbau, Fortdauer oder Tätigkeit der Organisation ausdrücken.26 Im Gegensatz zur Tatvariante des Gründens setzt die mitgliedschaftliche Beteiligung die Mitgliedschaft in der Vereinigung zwangsläufig voraus. Bei der Mitgliedschaft handelt es sich allerdings nur um eine notwendige, nicht jedoch um eine hinreichende Bedingung. Auch wenn schon dadurch die Ziele der Vereinigung gefördert werden, erfüllt der bloße Beitritt noch nicht die Tatbestandsvoraussetzungen, selbst wenn dieser mit einem Transfer von Vermögenswerten, insbesondere der Zahlung von Beiträgen, verbunden ist. Entscheidend ist, dass der Täter die kriminelle Zielsetzung von innen her, funktionsgebunden fördert.27 Rein passive Verhaltensweisen wie die bloße Billigung der von einem „harten Kern“ begangenen Straftaten erfüllen den Begriff der mitgliedschaftlichen Beteiligung schon deshalb nicht, weil dieses Merkmal auf die fördernde Teilnahme am Verbandsleben gerichtet ist.28 Typische Beispiele für eine Beteiligung als Mitglied sind neben der eigentlichen Ausführung von Straftaten das Werben für die Vereinigung als Mitglied,29 die Erledigung von logistischen Aufgaben, das Anmieten konspirativer Wohnungen, das Beschaffen von Hilfsmitteln oder die Durchführung finanzieller Transaktionen.30 Demgegenüber ist die bloße Zahlung von Mitgliedsbeiträgen für 25

BGHSt 18, 296 (299 f); BGH NJW 1960, 1772, 1773; 1966, 310, 312; BGH NStZ 1993, 37, 38; LK-Krauß § 129 Rn. 104; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 59. 26 Vgl. BVerfGE 56, 22 (33); BGHSt 29, 288 (294); BGH NStZ 2002, 328, 330; Fischer § 129 Rn. 24. 27 LPK-Kindhäuser § 129 Rn. 24. 28 Zöller (Fn. 13) S. 530. 29 Vgl. BGHSt 31, 16 (17); MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 65; Schönke/SchröderLenckner/Sternberg-Lieben § 129 Rn. 13. 30 OLG Karlsruhe NJW 1977, 2222, 2223; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 64; LKKrauß § 129 Rn. 110.

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sich genommen noch nicht ausreichend. 31 Zwar wird dadurch im Regelfall die Tätigkeit der Vereinigung gefördert; jedoch kommt auf diese Weise noch nicht zwingend zum Ausdruck, dass eine Beteiligung am Verbandsleben gerade „als Mitglied“, d. h. von innen her erfolgen soll. Vor diesem Hintergrund erscheint es bei einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise nicht von vornherein ausgeschlossen, dass durch Verhaltensweisen, die als mitgliedschaftliche Beteiligung einzustufen sind (§ 129 Abs. 1 Alt. 2, § 129 a Abs. 1 und 2 StGB), inkriminierte Vermögensgegenstände herbeigeführt werden, die einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung zuzuordnen sind. Allerdings zeigt ein genauerer Blick auf diese Tatalternative, dass dies nicht als Regelfall und im Übrigen eher als Nebenfolge entsprechender Verhaltensweisen in Betracht kommen dürfte. Voraussetzung ist hierfür nämlich zweierlei: Erstens, dass das Ziel der jeweiligen Vereinigung tatsächlich in einem allgemeinen Sinne durch eine entsprechende Beteiligung am Verbandsleben in Gestalt des Umgangs mit oder der Schaffung von Vermögenswerten gefördert werden kann und zweitens, dass der Vortäter auch konkret zur Existenz eines vereinigungsbezogenen Vermögensgegenstandes beiträgt. Diese Voraussetzungen sind, wie bereits ausgeführt, durch eine bloße Zahlung von Mitgliedsbeiträgen noch nicht erfüllt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass mögliche Mitglieder eine Vereinigung durch Mitgliedszahlungen unterstützt haben, würde dies alleine somit noch keine Geldwäschevortat begründen. Anders mag dies bei der Ausführung von Vermögensstraftaten (z. B. Diebstählen, Raubüberfällen oder Betrugstaten) i. S. einer allgemeinen „Beschaffungskriminalität“ für Zwecke der Organisation oder bei der Durchführung illegaler, gewinnbringender Finanztransaktionen zu bewerten sein, durch die die Kassen krimineller Vereinigungen gefüllt werden. Insofern wird deutlich, dass eine Strafbarkeit nach den §§ 129 ff StGB – und damit der Nachweis der Begehung einer Vortat zu § 261 StGB – nicht in einem generalisierten und in beliebiger Art und Weise organisationsbezogenen Sinne zu verstehen ist. Vielmehr kann es immer nur darum gehen, ob eine der im Gesetzestext konkret bezeichneten Tatalternativen, etwa die Beteiligung als Mitglied nach § 129 Abs. 1 Alt. 2 bzw. § 129a Abs. 1 oder 2 StGB, erfüllt ist. Und auch diesbezüglich verbieten sich wiederum Pauschalierungen. Dass eine tatverdächtige Person Mitglied einer Gruppierung ist, besagt noch nichts darüber aus, dass er sich an dieser auch „als Mitglied beteiligt“. Vielmehr ist sowohl von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren als auch durch das erkennende Gericht festzustellen, ob ein bestimmtes Verhalten im konkreten Einzelfall die Voraussetzungen dieser 31

LK-Krauß, § 129 Rn. 45; a. A. OLG Karlsruhe NJW 1977, 2222, 2223; Fischer § 129 Rn. 24; vgl. auch Fröba (Fn. 18) S. 191 f.

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Tatalternative erfüllt. Es ist somit nachzuweisen, worin genau die strafbare Beteiligung eines konkreten Vortäters liegt, warum aus diesem konkreten Vortatverhalten ein vermögensrelevanter Gegenstand herrührt und worin dieser besteht. Beispielsweise kann das Vereinigungsmitglied V durch bestimmte Betrugstaten eine bestimmte Summe an illegalen Geldern für eine terroristische Vereinigung erwirtschaftet haben.32 Die §§ 129 ff StGB pönalisieren gerade nicht den Besitz mehr oder minder zweifelhafter Vermögenswerte durch eine Organisation oder deren Mitglieder, sondern abschließend aufgeführte Formen der Mitwirkung an der Struktur der Organisation als solche. Es sind damit konkrete vermögensbezogene Straftaten eines Vereinigungsmitglieds nachzuweisen.

c) Unterstützen Eine kriminelle Vereinigung unterstützt, wer ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer Ziele fördert, ohne selbst Mitglied der Organisation zu sein.33 Solche Unterstützungshandlungen bestehen typischerweise in finanzieller, logistischer und ideologischer Förderung. Nach überwiegend vertretener Auffassung handelt es sich bei dieser Tatvariante um eine zur Täterschaft verselbständigte Form der Beihilfe.34 In struktureller Hinsicht unterscheidet sich das Unterstützen von der mitgliedschaftlichen Beteiligung vor allem dadurch, dass der Täter die Zielsetzungen der Vereinigung nicht von innen, sondern von außerhalb funktionsgebunden fördert. Inhaltlich maßgeblich hierfür ist die Aufrechterhaltung oder Erhöhung des spezifischen Gefährdungspotenzials der Vereinigung.35 Dabei kann sich die Förderung auf die innere Organisation der Vereinigung und deren Zusammenhalt, auf die Erleichterung einzelner von ihr geplanter Straftaten, aber auch allgemein auf die Erhöhung ihrer Aktionsmöglichkeiten oder die Stärkung ihrer kriminellen Zielsetzung richten.36 Eine derartige Unterstützungsleistung muss sich aber als Förderung der Gesamtorganisation und nicht nur der einzelnen

32

Zur Planung einer Betrugsserie zum Nachteil von Lebensversicherungsgesellschaften, die der terroristischen Vereinigung Al-Qaida zu Gute kommen sollte, vgl. BGH NStZ 2010, 44. 33 BGHSt 32, 243 (244); 33, 16 (17); BayObLG StV 1987, 392, 393; LK-Krauß § 129 Rn. 132; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 81; Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben § 129 Rn. 15. 34 BGHSt 20, 89; 29, 101; LK-Krauß § 129 Rn. 132; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 81; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 17; Fischer § 129 Rn. 30; Lackner/Kühl § 129 Rn. 6; Fröba (Fn. 18) S. 192; krit. Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben § 129 Rn. 15; Rudolphi FS Bruns, 1978, 327; Sommer JR 1981, 490; Lampe ZStW 106 (1994), 726; Weißer JZ 2008, 390. 35 SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 17. 36 BGH NJW 2007, 2782, 2783.

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Mitglieder darstellen.37 Eine Vereinigung unterstützt nur derjenige, dessen Hilfe prinzipiell wirksam und für die Organisation zumindest in dem Sinne vorteilhaft ist, dass die Aktionsbereitschaft der Mitglieder verstärkt wird. Konkret bedeutet dies, dass die Unterstützungshandlung für die Existenz des kriminellen Potenzials der Vereinigung mitursächlich sein muss. Nicht erforderlich ist demgegenüber, dass sie auch einen Kausalbeitrag zu einer oder mehreren von der Vereinigung begangenen Straftaten darstellt.38 Auch wenn der überwiegende Teil der von den §§ 129 ff StGB tatbestandlich erfassten Unterstützungsleistungen keine unmittelbare Relevanz zur Schaffung von organisationsbezogenen Vermögenswerten besitzt (z. B. die Bereitstellung von Tatmitteln, die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten, Kraftfahrzeugen oder Telekommunikationsmöglichkeiten oder die Weitergabe von Informationen über die konkreten Verhältnisse an potenziellen Tatorten), sind doch grundsätzlich auch Verhaltensweisen denkbar, die bereits bei abstrakt-genereller Betrachtungsweise zur Folge haben, dass kriminelle Vereinigungen Vermögenswerte erhalten, die sie für die Verfolgung ihrer illegalen Ziele benötigen. Typische Beispiele für in diesem Sinne tatbestandsmäßige Unterstützungsleistungen sind finanzielle Zuwendungen an die Vereinigung oder auch die Durchführung von Geldwäschehandlungen für diese. Allerdings ist zu beachten, dass die Zuwendung von Finanzmitteln („Spenden“) eher im Bereich terroristischer Vereinigungen stattfinden dürften, etwa durch islamische „Wohlfahrtsorganisationen“, als im Bereich krimineller Vereinigungen, die sich regelmäßige durch Straftatbegehung selbst finanzieren und nicht auf Hilfe von außen angewiesen sind. Und Geldwäschehandlungen kommen als Unterstützungshandlungen ihrerseits nur dann in Betracht, wenn bereits Vermögenswerte der kriminellen oder terroristischen Vereinigung vorhanden sind, die dann tatsächlich von einem Unterstützer umgewandelt oder weitergeleitet werden können. Im Rahmen der Prüfung von § 261 StGB ist für den Vortatnachweis somit darzulegen, dass der Vortäter konkrete Unterstützungsleistungen erbracht hat, aus denen wiederum konkrete, geldwäschetaugliche Gegenstände herrühren.

37

MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 81; Rudolphi FS Bruns, 1978, 331 f. Rudolphi FS Bruns, 1978, 330; Beteiligungshandlungen an einzelnen Straftaten einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung sind in diesem Zusammenhang daher zunächst einmal als Beihilfe zu diesen Straftaten erfasst. 38

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d) Werben um Mitglieder oder Unterstützer Das Werben für eine kriminelle Vereinigung steht seit der Reform durch das 34. Strafrechtsänderungsgesetz vom 22.8.200239 nur noch in Gestalt des Werbens um Mitglieder und Unterstützer unter Strafe. Nicht mehr ausreichend sind damit das befürwortende Eintreten für eine Vereinigung, die Rechtfertigung ihrer Ziele oder der aus ihr heraus begangenen Straftaten sowie die Verherrlichung der Ideologie, aus der solche Vereinigungen ihre Tätigkeit legitimieren.40 Eine solche Sympathiewerbung bleibt selbst dann straflos, wenn es durch sie nachweisbar zu einer Erhöhung des Gefährdungspotenzials der Vereinigung gekommen ist. Bei § 129 Abs. 1 Alt. 4 StGB bzw. § 129a Abs. 5 Alt. 2 StGB handelt es sich um ein persönliches Äußerungsdelikt. Erfasst sind insofern ausschließlich Verhaltensweisen von Nichtmitgliedern. Inhaltlicher Gegenstand einer entsprechenden Äußerung ist der Vorschlag, Mitglied oder Unterstützer der Vereinigung zu werden. Dabei muss ein konkreter Organisationsbezug erkennbar sein. 41 Eine bestimmte Form der Äußerung ist nicht erforderlich.42 Bei der Tatvariante des Werbens um Mitglieder oder Unterstützer handelt es sich um ein unechtes Unternehmensdelikt. Seine Vollendung setzt somit keinen Erfolg i. S. einer tatsächlichen Stärkung der Organisation durch Dritte voraus.43 Insofern genügt auch ein erfolgloses Bemühen um die Gewinnung Anderer für die Verwirklichung des Tatbestands. Allerdings ist zur Rechtfertigung der Strafdrohung der §§ 129 ff. StGB zu fordern, dass die Tathandlung nach Art, Inhalt und Adressatenkreis zumindest objektiv geeignet sein muss, Personen zum Beitritt als Mitglied oder zu einem unterstützenden Verhalten zu veranlassen.44 Nach zutreffender Auffassung bezieht sich der Unternehmensdeliktscharakter daher nur auf das Merkmal des „Werbens“ selbst. 45 Tatbestandsmäßig kann ein Werben um Mitglieder oder Unterstützer somit nur dann sein, wenn die Vereinigung, zu der beigetreten oder die unterstützt werden soll, auch tatsächlich existiert. 39

BGBl. I, S. 3390; dazu Zöller (Fn. 13) S. 535 f; Altvater NStZ 2003, 179 ff. BGH NJW 2007, 2782, 2783; zu Beispielen vgl. die Nachw. bei Fischer § 129 Rn. 28. 41 BGH NJW 2007, 2782, 2785; Fischer § 129 Rn. 26; Fröba (Fn. 18) S. 202. 42 MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 76; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 18; a. A. Giehring StV 1983, 296, 302 ff, der ein öffentliches Agieren mit Schriften i. S. des § 11 Abs. 3 StGB und ein Zusammenwirken mit bzw. das Einverständnis der Vereinigung fordert. 43 Dies folgt bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der nicht etwa von einem „Werben von“ oder „Anwerben“, sondern von einem „Werben … um“ spricht; vgl. BGHSt 20, 90; BGH NJW 2007, 2782, 2785; MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 75; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 18a; Fischer § 129 Rn. 29; Lackner/Kühl § 129 Rn. 7; Altvater NStZ 2003, 179. 44 MüKo-Miebach/Schäfer § 129 Rn. 75; SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 18; Fischer § 129 Rn. 29; a. A. Lackner/Kühl § 129 Rn. 7. 45 SK-Rudolphi/Stein § 129 Rn. 18a. 40

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Will man die Werbung um Mitglieder oder Unterstützer einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung als Vortat der Geldwäsche heranziehen, so sprechen hiergegen auf einer abstrakt-generellen Betrachtungsebene zunächst die zur Gründungsalternative vorgetragenen Bedenken entsprechend. Es ist regelmäßig auszuschließen, dass durch derartige Werbemaßnahmen vermögenswerte Vorteile eingesetzt werden oder entstehen, die der Vereinigung zugutekommen. Zum einen setzen die §§ 129 Abs. 1 Alt. 4, 129a Abs. 5 Alt. 2 StGB als unechte Unternehmensdelikte schon grundsätzlich keinen Erfolg i. S. einer (finanziellen) Stärkung der Organisation voraus. Aber selbst im Erfolgsfall führt ein tatbestandliches Handeln lediglich dazu, dass neue „Personalmittel“, nicht jedoch Vermögens- oder Sachmittel, für die Vereinigung gewonnen werden. Die Werbung um Mitglieder oder Unterstützer kann dann von vornherein nicht zu vereinigungsbezogenen Vermögensgegenständen führen, bei denen das für den in § 261 StGB verwendeten Begriff des „Herrührens“ aus der Vortat erforderliche Kausalitätserfordernis nachweisbar wäre.

3. Besonderheiten bei Vortatbegehung im Ausland Die Einhaltung der vorstehend dargestellten Grundsätze ist auch dann erforderlich, wenn es um im Ausland begangene Geldwäschevortaten geht. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 261 Abs. 8 StGB muss es sich beim Tatobjekt der Geldwäsche auch bei Auslandstaten um einen Gegenstand handeln, der aus einer „der in Absatz 1 bezeichneten Taten“ herrührt. Danach muss die Auslandstat den Vortaten des deutschen Geldwäschetatbestandes entsprechen, also die Voraussetzungen einer rechtswidrigen Tat i. S. v. § 261 Abs. 1 S. 2 StGB erfüllen, wenn sie im Inland begangen worden wäre.46 In Bezug auf die §§ 129, 129a StGB bedeutet dies, dass der ausländische Straftatbestand zwar nicht mit der nach deutschem Recht strafbaren Beteiligung an kriminellen oder terroristischen Vereinigungen identisch sein muss. Die im Ausland begangene Vortat hat lediglich am Tatort überhaupt „mit Strafe bedroht“ zu sein. Allerdings muss als zusätzliche Voraussetzung nach § 261 Abs. 8 StGB die ausländische Vortat bei unterstellter, hypothetischer Begehung in Deutschland die Voraussetzungen einer der Tatalternativen der §§ 129 ff StGB erfüllen. Die Tatsache der Vortatbegehung im Ausland entbindet die Strafverfolgungsbehörden mithin nicht von der Pflicht zur Subsumtion unter die Merkmale der korrespondierenden deutschen Straftatbestände, die als (nach deutschem Recht) taugliche Geldwäschevortaten in Betracht kommen. 46

Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 261 Rn. 8; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 StGB Rn. 44; Lütke wistra 2001, 87.

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4. Zwischenergebnis Der lediglich pauschale Verweis auf eine angebliche Straftat nach § 129 oder § 129a StGB reicht für sich genommen nicht aus, um eine geldwäschetaugliche Vortat nach § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 oder 5 StGB zu belegen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass in den §§ 129 ff StGB nicht eine abstrakte Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung unter Strafe gestellt wird, sondern eine der vier konkret und abschließend ausformulierten Tatalternativen erfüllt sein muss. In Bezug auf die Tatalternative des Gründens und des Werbens um Mitglieder oder Unterstützer erscheint es schon auf einer abstrakt-generellen Betrachtungsebene ausgeschlossen, dass Gegenstände im vereinigungsbezogenen Kontext existieren, die kausal aus einer solchen Tat herrühren. Da hier regelmäßig weder vermögenswerte und damit geldwäschetaugliche instrumenta sceleris noch entsprechende producta sceleris existieren, scheiden sie als taugliche Vortaten einer Geldwäsche aus. Bei den Tatalternativen der mitgliedschaftlichen Beteiligung und der Unterstützung lässt sich ein derartiger pauschaler Ausschluss der Vortattauglichkeit nicht begründen. Allerdings werden auch damit keine typischen Verhaltensweisen des Umgangs mit vereinigungsbezogenen Vermögenswerten umschrieben. Insgesamt zeigt sich somit, dass der Gesetzgeber in § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB Verbrechen nach § 129a Abs. 1 und 2 StGB und in § 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StGB Vergehen nach den §§ 129 und 129a Abs. 3 und 5, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB letztlich ohne überzeugenden sachlichen Grund aufgenommen hat. Im Regelfall werden es daher nur sonstige von einem Mitglied einer kriminellen Vereinigung begangene Verbrechen (§ 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB) oder Vergehen (§ 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StGB) sein, aus denen ein Gegenstand „herrührt“. Diese Einschätzung gilt auch für im Ausland begangene Vortaten.

III. Anforderungen an den Vortatnachweis Schon hinsichtlich der Frage, welche Anforderungen generell an den Nachweis von im Inland begangenen Geldwäschevortaten gestellt werden müssen, findet sich teilweise ein rechtsstaatlich bedenkliches Maß an Zurückhaltung. Erklärbar ist dies letztlich nur im Hinblick auf die praktischen Schwierigkeiten für die Ermittlungspersonen47 und das dadurch veranlasste Bestreben, der geltenden Gesetzesfassung des § 261 StGB zumindest einen gewissen praktischen Anwendungsbereich zu verschaffen.

47

Dazu Gradowski/Ziegler Geldwäsche, Gewinnabschöpfung, 1997, S. 25 ff.

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1. Tendenzen zur Lockerung des Vortatnachweises Allgemein konsentierter Ausgangspunkt ist, dass das über den Geldwäschevorwurf entscheidende Gericht – vor dem Hintergrund der §§ 244 Abs. 2, 261 StPO – die Vortat selbst festzustellen48 und den Nachweis zu erbringen hat, dass der Gegenstand aus der Vortat herrührt. Damit hören die Gemeinsamkeiten jedoch schon auf. Nach verbreiteter Auffassung kann von einem echten Vortatnachweis nicht die Rede sein. Vielmehr soll „kein Nachweis einer bestimmten Vortat“ erforderlich sein.49 Nachzuweisen seien lediglich die Tatsachen, aus denen sich in groben Zügen ergebe, dass eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Katalogtat begangen wurde.50 Weder Täter noch Teilnehmer, ebenso wenig der Tatort oder die konkrete Tatmodalität müssten bekannt sein.51 Darüber hinaus sei auch die Zuordnung des Gegenstands zu einer bestimmten Vortat nicht notwendig. Es reiche insofern aus, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststehe, dass der Gegenstand jedenfalls aus (irgend-)einer Katalogtat herrühre.52

2. Kritik Diese Lockerung der Anforderungen an den Nachweis der Vortat bzw. des Herrührens aus der Vortat begegnet unter drei verschiedenen Gesichtspunkten Bedenken: unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung, vor dem Hintergrund des Anklagegrundsatzes und angesichts der Wortlautgrenze des Gesetzes.

a) Unschuldsvermutung und in dubio pro reo Die Unschuldsvermutung gehört zu den grundlegenden Prinzipien des deutschen Strafverfahrens und besagt zur Absicherung eines ergebnisoffenen Verfahrens53, dass jedermann bis zum gerichtlichen Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten hat.54 Dieser Grundsatz ist in der StPO zwar nicht ausdrücklich niedergelegt, folgt jedoch direkt aus Art. 6 Abs. 2 48

MüKo-Neuheuser § 261 Rn. 42; NK-Altenhain § 261 Rn. 48. OLG Karlsruhe NJW 2005, 767, 770; SK-Hoyer § 261 Rn. 9; NK-Altenhain § 261 Rn. 49; Fülbier/Aepfelbach/Langweg-Schröder/Textor Geldwäschegesetz, § 261 StGB Rn. 9; Wessels/Hillenkamp BT/2 Rn. 897; Höreth Die Bekämpfung der Geldwäsche unter Berücksichtigung einschlägiger ausländischer Vorschriften und Erfahrungen, 1996, S. 128. 50 OLG Dresden NStZ 2005, 450. 51 NK-Altenhain § 261 Rn. 49. 52 MüKo-Neuheuser § 261 Rn. 42; NK-Altenhain § 261 Rn. 50; Bernsmann StV 1998, 51; Kreß wistra 1998, 125. 53 HK-Julius StPO Einl. Rn. 25. 54 BVerfGE 35, 311 (320); 74, 350 (371); 82, 106 (114); Kühne Strafprozessrecht Rn. 301. 49

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EMRK. Darüber hinaus findet er seine rechtliche Verankerung im Rechtsstaatsprinzip und im Ermittlungsgrundsatz.55 Da sich die Ausübung der Strafgewalt als staatliche Machtausübung darstellt, bedingt es ein rechtstaatliches Verfahren, dass die Staatsanwaltschaft den Beweis der Schuld des Angeklagten zu führen hat. Der Beweis ist dabei vollumfänglich und zweifelsfrei zu erbringen. Dementsprechend muss sich der Beschuldigte in keiner Weise für deliktische Verdachtsmomente entlasten oder hierzu beitragen.56 Insofern hat der verehrte Jubilar die Unschuldsvermutung überzeugend als Konkretisierung des Übermaßverbotes eingestuft und im Anschluss an Krauß57 mit der folgenden Formel präzisiert: „Was einem in Wahrheit Unschuldigen schlechterdings nicht zugemutet werden kann, darf keinem Verdächtigen vor seiner rechtskräftigen Aburteilung auferlegt werden.“58 Zum „Kernbestand“ der Unschuldsvermutung zählt insbesondere der Grundsatz in dubio pro reo.59 Gelingt es dem Gericht nach Ausschöpfung aller prozessual zulässigen Beweismittel nicht, den Sachverhalt nach seiner Überzeugung zweifelsfrei zu klären, ist danach von der für den Angeklagten günstigeren Möglichkeit auszugehen. Der Staat trägt somit die vollständige Beweislast und die Last des non liquet. Zu beachten ist allerdings stets, dass der Zweifelssatz nur dann gilt, wenn das Prozessgericht auch tatsächlich Zweifel an der Schuld des Täters hat und nicht schon dann, wenn es solche Zweifel vernünftigerweise haben müsste. In seiner praktischen Konsequenz führt er jedoch dazu, dass das Gericht nicht nur den Schuldvorwurf beweisen (Schuldgrundsatz), sondern diesen Beweis auch in prozessordnungsgemäßer Weise führen muss (Rechtsstaatsprinzip).60 Die Unschuldsvermutung und der Grundsatz in dubio pro reo – daran ist gelegentlich zu erinnern (!) – gelten auch im Rahmen von Strafverfahren, in denen der Vorwurf der Geldwäschestrafbarkeit erhoben wird. Dies hat auch der 5. Strafsenat des BGH in seinem Beschluss vom 10.11.1999 61 dem Grunde nach anerkannt, in dem er ausführt: „Nur wenn ohne vernünftige Zweifel angenommen werden kann, daß ein Geldbetrag, von dessen illegaler Erlangung das Gericht überzeugt ist,

55

BVerfGE 35, 311 (320); 74, 350 (371); 82, 106 (114); LR-Kühne Einl. Abschn. J Rn. 74; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 11 Rn. 1; grundsätzlich hierzu SK StPO-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 175 ff; Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 2000. 56 Kühne Strafprozessrecht Rn. 301. 57 In: Müller-Dietz (Hrsg.) Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, 173. 58 Vgl. bereits Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 11 Rn. 4 sowie nunmehr Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 11 Rn. 3. 59 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 11 Rn. 1. 60 Beulke Strafprozessrecht Rn. 25. 61 BGH StV 2000, 67.

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aus einer Katalogtat des § 261 Abs. 1 S. 2 StGB stammt, kann eine Verurteilung wegen Geldwäsche Bestand haben“. Aber das genannte Votum des 5. Strafsenats erschöpft die Problematik noch nicht. Ihm lässt sich lediglich die Aussage entnehmen, dass der Nachweis zu erbringen ist, dass der Gegenstand aus irgendeiner der zahlreichen, im Katalog des § 261 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Taten herrührt.62 Insofern müsste nur das Vorliegen einer Nicht-Katalogtat ausgeschlossen werden. Richtigerweise ist aber auch die Aufklärung der konkreten Umstände der Vortat unverzichtbar.63 Sofern hiergegen angeführt wird, dass die Vortat nicht die angeklagte Tat64 und insofern weniger strenge Anforderungen ausreichend seien, geht dieser Hinweis schon vom Ansatz her fehl. Schließlich stellt die Vortatbegehung unzweifelhaft ein objektives Tatbestandsmerkmal des § 261 StGB dar. Sie gehört somit zu der gesetzlich umschriebenen Straftat hinsichtlich derer ein Schuldnachweis zu erbringen ist. Erfolgt dies nicht, verzichtet man also auf den Nachweis des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einer konkreten Vortat und Tatgegenständen der Geldwäsche, so widerspräche dies dem Schuldprinzip und der Unschuldsvermutung. Man würde einen Beschuldigten dann nicht mehr für das bestrafen, was man ihm mit rechtsstaatlichen Mitteln nachweisen kann, sondern für das, was man ihm an krimineller Energie zutraut.65 Die tatbestandliche Weite des § 261 StGB darf in ihrem Gefährdungspotenzial aber nicht auch noch dadurch erhöht werden, dass man die Anforderungen an den Nachweis von für sich genommen bereits durch ein hohes Maß an Unbestimmtheit geprägten Begriffsmerkmalen noch herabsetzt. Im Gegenteil zwingen schon die niedrigen Voraussetzungen in subjektiver Hinsicht (vgl. § 261 Abs. 5 StGB) zu einer restriktiven Auslegung der objektiven Tatbestandsmerkmale, um dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit, insbesondere der Unverhältnismäßigkeit, zu entgehen.66

b) Anklagegrundsatz Der Verzicht auf das Erfordernis, dass das Tatgericht im Urteil den Nachweis einer bestimmten Vortat führen muss, wäre auch mit dem Anklagegrundsatz nur schwerlich zu vereinbaren.67 Schließlich folgt hieraus, dass 62

Zu weit interpretiert diese Entscheidung daher Lütke wistra 2001, 86. Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 StGB Rn. 81; Lütke wistra 2001, 86. 64 So ausdrücklich NK-Altenhain § 261 Rn. 49. 65 Lütke wistra 2001, 86. 66 Vgl. Satzger/Schmitt/Widmaier-Jahn § 261 Rn. 44; Burr wistra 1995, 255. 67 Satzger/Schmitt/Widmaier-Jahn § 257 Rn. 28; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 StGB Rn. 81. 63

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das Gericht nur über solche Taten befinden darf, die auch von der Staatsanwaltschaft angeklagt wurden.68 Um die vom deutschen Strafverfahrensrecht intendierte Aufgabentrennung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht zu erreichen, sowie um den Verfahrensgegenstand genau zu bestimmen (sog. Umgrenzungsfunktion69), muss die Anklage sowohl in personeller, als auch in sachlicher Hinsicht bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Auch ist mit Blick auf eine effektive Verteidigungsmöglichkeit des Beschuldigten eine genaue Bestimmung des zur Last gelegten Sachverhalts zu fordern (sog. Informationsfunktion70). Nach § 200 Abs. 1 S. 1 StPO hat eine Anklage im Anklagesatz den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen. Dabei muss nicht nur der Sachverhalt als solcher niedergelegt werden, sondern jedes objektive und subjektive Tatbestandsmerkmal des als erfüllt angesehenen Straftatbestands durch eine genaue tatsächliche Angabe von Vorgängen oder Zuständen belegt werden.71 Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift bezieht sich damit bei der Geldwäsche auch auf die jeweilige Vortat als Tatbestandsmerkmal des § 261 StGB. Infolgedessen muss das Tatgericht im Urteil den Nachweis einer bestimmten Vortat führen. Nicht ausreichend ist, dass lediglich diejenigen Tatsachen festgestellt werden, aus denen sich ergibt, dass irgendeine Katalogtat i. S. v. § 261 Abs. 1 S. 2 StGB begangen worden ist.72

c) Wortlaut des § 261 Abs. 1 StGB Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass schon der Wortlaut des § 261 Abs. 1 StGB den Nachweis einer bestimmten Vortat erfordert. In § 261 Abs. 1 S. 1 StGB heißt es ausdrücklich, dass sich die Tat auf einen Gegenstand beziehen muss, „der aus einer in Satz 2 genannten rechtswidrigen Tat herrührt“. Eine „rechtswidrige Tat“ ist aber nach der Legaldefinition des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB nur eine solche, die den Tatbestand eines Strafge68 LR-Kühne Einl. Abschn. I Rn. 9; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 14 Rn. 4 ff; Beulke Strafprozessrecht Rn. 18; Ambos Jura 2008, 586. 69 BGHSt 40, 390 (392); LR-Stuckenberg § 200 Rn. 4; HK-Julius, § 200 Rn. 1; AnwKKirchof, § 200 Rn. 1. 70 BayObLG wistra 1991, 195; LR-Stuckenberg § 200 Rn. 4; HK-Julius StPO § 200 Rn. 1; AnwK-Kirchof § 200 Rn. 1; vgl. auch BVerfGE 64, 135 (147 f); BGHSt 40, 138 (150); 40, 390 (392); 44, 153 (156); OLG Hamm StraFo 2001, 92; OLG Karlsruhe NJW 2005, 767, 770. 71 BGH NJW 1954, 360, 361; NStZ 1984, 133; LR-Stuckenberg § 200 Rn. 16; HK-Julius StPO § 200 Rn. 5; AnwK-Kirchof § 200 Rn. 6. 72 Satzger/Schmitt/Widmaier-Jahn § 257 Rn. 28; Lackner/Kühl § 261 Rn. 4; Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 StGB Rn. 81; Bernsmann StV 1998, 47 ff.

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setzes verwirklicht. Der bloße Verdacht einer Straftat oder auch die Vermutung, dass eine von zahlreichen möglichen, verschiedenen Vortaten begangen worden sein könnte, können daher schon begrifflich nicht ausreichen.73 Eine solche Auslegung wäre mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem darin verankerten Verbot unbestimmter Strafgesetze nicht vereinbar.74

3. Rechtslage bei Auslandsvortaten Die dargestellten Grundsätze für den Nachweis der Vortat bzw. das Herrühren eines Gegenstand aus einer solchen Vortat gelten auch dann, wenn es sich – wie im Ausgangsfall – nach § 261 Abs. 8 StGB um eine geldwäscherelevante Vortat im Ausland handelt. § 261 Abs. 8 StGB stellt lediglich eine Ausdehnung des Schutzbereichs dar, mit der auch die ausländische Rechtspflege angesichts völkerrechtlicher Vorgaben75 in den durch § 261 StGB zu gewährleistenden Rechtsgüterschutz mit einbezogen wird. Auch im Anschluss an eine Auslandstat bleibt die Geldwäsche jedoch eine nach deutschem Strafrecht pönalisierte und nach deutschen Verfahrensmaßstäben zu verfolgenden Straftat. Zwar kommt es für § 261 Abs. 8 StGB auf die Bezeichnung und rechtliche Einordnung der Auslandsvortat nach dem Tatortrecht nicht an. Allerdings muss eine solche Auslandsvortat nach dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut bei einer hypothetischen Betrachtung nach deutschem Strafrecht den Voraussetzungen einer Vortat nach § 261 Abs. 1 StGB entsprechen.76 Daraus folgt, dass auch die Voraussetzungen für den Vortatnachweis denjenigen für inländische Vortaten zu entsprechen haben. Auch wenn es um Auslandstaten als Vortaten einer Geldwäsche geht, ist somit deren konkrete Feststellung durch das den Geldwäschevorwurf prüfende Gericht unerlässlich.77

IV. Fazit In Konstellationen wie dem eingangs skizzierten Beispielsfall setzen rechtsstaatliche Garantien den praktischen Strafverfolgungswünschen im Zusammenhang mit der Geldwäsche somit klare Grenzen. Dass sich der verehrte Jubilar in seinem einzigartigen wissenschaftlichen Werk gerade für die zentralen Garantien des Rechtsstaats stets vehement und mit der nötigen 73

Herzog-Nestler Geldwäschegesetz § 261 StGB Rn. 81; Bernsmann StV 1998, 47. Vgl. Roxin AT I § 5 Rn. 11. 75 Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 261 Rn. 1 m. w. N. 76 Vgl. dazu die Ausführungen unter II. 3. 77 Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 261 Rn. 8; Lütke wistra 2001, 86. 74

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Klarheit und Überzeugungskraft eingesetzt hat, bedarf an dieser Stelle nun wirklich keiner Betonung. Anderenorts täten wir jedoch gut daran, uns gelegentlich hieran zu erinnern.

Schutz der GmbH-internen Willensbildung durch Untreuestrafrecht? FRANK SALIGER

A. Die Bedeutung der Organkassen-Entscheidung für die GmbH-Untreue Claus Roxin hat durch mehrere grundlegende Schriften die deutsche Einwilligungsdogmatik maßgeblich geprägt.1 Dass sich prinzipielle Fragen der Einwilligungsdogmatik auch im Wirtschaftsstrafrecht stellen, zeigt erneut das Urteil des 2. Strafsenats des BGH vom 27.08.20102 für den Fall einer verdeckten Organkasse bei der ehemaligen Trienekens-GmbH.3 Der BGH steckt in dieser Entscheidung die Reichweite der Untreuestrafvorschrift im GmbH-Recht vor allem in zweifacher Hinsicht neu ab.4 Zum einen erkennt

Zugleich Besprechung von BGH Urteil v. 27.08.2010 – Az.: 2 StR 111/09. Der Verfasser ist in dem Verfahren als Verteidiger tätig gewesen. 1 Siehe nur Roxin Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. 1970; ders. FS Welzel, 1974, 447; ders. Die durch Täuschung herbeigeführte Einwilligung im Strafrecht, GS Noll, 1984, 275 und ders. AT I § 13 und § 18 A. 2 BGH NJW 2010, 3458 mit zustimmender Anm. Brand und Vath GWR 2010, 472 sowie teils bzw. vorwiegend kritischer Anm. Hoffmann GmbHR 2010, 1150; Podewils jurisPRHaGesR 11/2010, Anm. 1; Wessing EWiR 2010, 797. 3 In den juristischen Fachzeitschriften wird die Entscheidung überwiegend unter dem Stichwort „’Kriegskasse’ im Ausland“ geführt (vgl. etwa NJW 2010, 3458 und NZG 2010, 1190). Da die „schwarze Kasse“ bzw. das verdeckte Konto im Ausland im Unterschied zu den Fällen Kanther und Siemens allerdings auf Veranlassung des alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführers Trienekens gebildet worden ist, wird im Folgenden von einer Organkasse gesprochen. Vgl. zum Begriff der „schwarzen Kasse“ auch Weimann Die Strafbarkeit der Bildung sog. schwarzer Kassen, 1996, S. 12 f; Hefendehl Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 287; Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger § 266 Rn. 76 mit Unterscheidung zwischen schwarzer Kasse und Schattenkasse; teils abweichend Fischer § 266 Rn. 130 ff und Brammsen/Apel WM 2010, 782. 4 Anders als im Fall Siemens (BGHSt 52, 323 [336 ff]) stützt der 2. Strafsenat angesichts der Besonderheiten der Organkasse die Würdigung der Vermögensverschiebungen als endgültigen Schaden nicht allein auf die Irrelevanz der Absicht, die Mittel zugunsten des Treugebers zu verwenden (verwendungszweckunabhängige Lesart der schwarzen Kasse), sondern auch auf die „konkrete Ausgestaltung der verdeckten Kasse“ (BGH NJW 2010, 3462 Rn. 42 ff; unten B.). Darauf kann in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden; zustimmend insoweit

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er erstmals gesellschaftsrechtliche Loyalitätspflichten des Geschäftsführers gegenüber den anderen Gesellschaftsorganen als untreuetaugliche Pflichten an.5 Zum anderen, und für die Einwilligungsdogmatik von besonderem Interesse, verschärft der BGH die Anforderungen an die Beachtlichkeit eines strafrechtlich relevanten Einverständnisses6 bei der GmbH-Untreue.7 In beiden Erkenntnissen ist die Entscheidung des BGH bedeutsam, weil sie trotz des im Entscheidungszeitpunkt bereits bekannten Beschlusses des BVerfG vom 23.06.20108 den Anwendungsbereich der Untreuestrafvorschrift im GmbH-Recht nicht unerheblich erweitert.9 Der Beitrag verfolgt das Ziel, beide Weiterungen als unvereinbar mit den durch das BVerfG für die Untreue vorgegebenen Auslegungsmaximen zu erweisen. Im Mittel-

Hoffmann GmbHR 2010, 1152; Vath GWR 2010, 472; letztlich wohl auch Brand NJW 2010, 3464. 5 BGH NJW 2010, 3460 Rn. 29 f. Soweit sich der 2. Strafsenat darüber hinaus eingehend mit der Untreuetauglichkeit von Buchführungsvorschriften (§§ 41 GmbHG, 91 AktG, 290 HGB) auseinandersetzt (BGH NJW 2010, 3460 Rn. 31 f; unten B.), sind die Ausführungen zwar bemerkenswert, bleiben aber im Ergebnis im Rahmen der Urteile zu Kanther und Siemens (dem BGH zustimmend insoweit Hoffmann GmbHR 2010, 1151). Das Gleiche gilt für die Qualifizierung der Sorgfaltsgeneralklauseln des § 43 Abs. 1 GmbHG und des § 93 Abs. 1 AktG als untreuetaugliche Pflichten (BGH NJW 2010, 3460 Rn. 27 ff; unten B.), deren Untreuetauglichkeit auch vom BVerfG (NJW 2010, 3217 Rn. 130 u. a. zu § 93 AktG) nicht beanstandet worden ist. Dagegen ist die Annahme einer Verletzung der Legalitätspflicht in Gestalt der Verwerfung profitabler Pflichtverletzungen (BGH NJW 2010, 3460 Rn. 29; vgl. auch BGH NJW 2011, 92 Rn. 37) jedenfalls für den Tatzeitraum Ende 1997/Anfang 1998 gesellschaftsrechtlich fragwürdig; vgl. nur BGHZ 94, 268 m. Anm. Fikentscher/Waibl IPRax 1987, 86; Lutter/Hommelhoff-Kleindiek GmbHG § 43 Rn. 9. 6 Dass das Einverständnis des Treugebers die Handlungsbefugnis des Treunehmers erweitert und deshalb bereits eine Pflichtwidrigkeit und damit die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt, ist heute in der Untreuedogmatik anerkannt (BGHSt 3, 23 [24 f]; 34, 379 [384 ff]; 50, 331 [342]; Fischer § 266 Rn. 29, 90, der von Einwilligung spricht; Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 21; Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger § 266 Rn. 45 m. w. N.). Zur Kontroverse um die Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungs- oder Tatbestandsauschließungsgrund statt aller Roxin AT I § 13 Rn. 2 ff m. w. N., der die Einwilligung als Tatbestandsauschließungsgrund begreift (Rn. 12 ff). 7 BGH NJW 2010, 3461 Rn. 33 ff. Auf die Frage des Einverständnisses bei einer AktG, die der 2. Strafsenat ebenfalls verneint (BGH NJW 2010, 3461 f Rn. 37 ff; kritisch Podewils jurisPR-HaGesR 11/2010, Anm. 1), kann hier nicht eingegangen werden. Bemerkenswert ist, dass der 2. Strafsenat die im neueren Schrifttum zunehmend verneinte Frage, ob den Anteilseignern eine Einwilligungskompetenz zukommt (vgl. nur Rönnau FS Amelung, 2009, 253 ff; Fischer § 266 Rn. 102), offen lässt (BGH NJW 2010, 3461 Rn. 38). 8 BVerfG NJW 2010, 3209 m. Anm. Saliger NJW 2010, 3195; Becker HRRS 2010, 383; Beukelmann NJW-Spezial 2010, 568; Frisch EWiR 2010, 657; Knierim/Smok FD-StrafR 2010, 307157; Kudlich JA 2011, 66; Leplow wistra 2010, 475; Radtke GmbHR 2010, 1121; Strate GWR 2010, 422; Wattenberg/Gehrmann ZBB 2010, 507; Wessing/Krawczyk NZG 2010, 1121. 9 Vgl. auch Bittmann NJW 2011, 96, für den im Trienekens-Urteil anders als im AUB-Urteil des 1. Strafsenats des BGH „die Stabilisierung früherer Ergebnisse“ überwiegt.

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punkt steht dabei die Einverständnisproblematik. Der Beitrag ist Claus Roxin gewidmet, der sich stets für ein liberales, restriktives Strafrecht eingesetzt hat.

B. Sachverhalt und Entscheidungsgründe10 Die beiden Angeklagten waren ehemalige Geschäftsführer von Tochtergesellschaften des Abfallentsorgungsunternehmens Trienekens-GmbH (bzw. ab Dezember 1998 Trienekens-AG). Die Trienekens-GmbH wurde u.a. vertreten durch den alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer und gesondert verfolgten Hellmut Trienekens, der das Unternehmen unabhängig von den jeweiligen Beteiligungsverhältnissen führte und prägte. Die Gesellschaftsanteile der Trienekens-GmbH hielt zu 51% der sog. Stamm Trienekens und zu 49% die RWE Entsorgung GmbH, später umgewandelt in die RWE Umwelt AG. Der Stamm Trienekens setzte sich aus Hellmut Trienekens und seinen drei Töchtern zusammen. Hellmut Trienekens hielt 2/5 der Anteile, die Töchter jeweils 1/5. Trienekens war der einheitliche Vertreter des Trienekens Stamms, der laut Satzung nach freiem Ermessen entscheiden konnte, wie er die Rechte der von ihm vertretenen Gesellschafter wahrnehmen soll, sofern er keine Weisung erhält. Ab etwa 1993 bildete und unterhielt Trienekens bei dem (Briefkasten-) Unternehmen Stenna AG in der Schweiz mit Mitteln der Trienekens-Gruppe eine „verdeckte Kasse“ zur Finanzierung von „nützlichen Aufwendungen“, die nicht „über die Bücher“ laufen sollten. Unter anderem in 1997 und 1998 wies Trienekens die Angeklagten in mehreren Fällen an, Zahlungen in einer Gesamthöhe von über 6 Mio. DM an die Stenna AG zur „Auffüllung der verdeckten Kasse“ zu leisten. Allen Zahlungen wurden fingierte Leistungen ohne wirtschaftlichen Wert auf der Grundlage von Scheinrechnungen unterlegt, an deren Zustandekommen die Angeklagten fördernd mitwirkten. Die zur Stenna AG verschobenen Gelder, deren Verbleib nur zu einem geringen Teil aufgeklärt werden konnte, sollten nach der Vorstellung von Trienekens für „nützliche Aufwendungen“ unkontrolliert zur Verfügung stehen. Von den transferierten Geldern erhielt der Alleinaktionär der Stenna AG ca. 30%. Auch der in den Geldtransfer eingeschaltete Zeuge S erhielt als Provision für seine Dienste 3% der Gelder, wobei er teilweise wahllos quittierte. Die Mit- und Minderheitsgesellschafterin RWE Umwelt AG war wie die übrigen Organe der Trienekens-GmbH über die wahren Hintergründe der Zahlungen an die Stenna AG nicht informiert. 10

Sachverhalt und Entscheidungsgründe werden nur insoweit wiedergegeben, als sie das Geschehen um die Trienekens-GmbH betreffen.

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Der BGH bestätigt die landgerichtlichen Verurteilungen der Angeklagten wegen Beihilfe zur Untreue zum Nachteil der Trienekens-GmbH.11 Eine von Trienekens begangene Haupttat nach § 266 StGB liege vor. Als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer sei Trienekens zur Wahrung der Vermögensinteressen der Trienekens-GmbH verpflichtet gewesen. Diese Vermögensbetreuungspflicht habe Trienekens durch seine Weisungen verletzt, eine „Kriegskasse“ im Ausland einzurichten und zu unterhalten.12 Zur Pflichtverletzung stellt der BGH zunächst fest, dass diese nicht in der Eigenmächtigkeit der durch Trienekens betriebenen Mittelverlagerung im Sinne der Verletzung gesellschaftsrechtlicher Kompetenzvorschriften gelegen hat. Denn Trienekens war als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer nicht dahin beschränkt, dass er eine Zustimmung der (Mit-)Gesellschafter hätte einholen müssen. Eine Vorlagepflicht ergab sich weder aus Gesellschaftsvertrag oder Beschlusslage der Gesellschaftsorgane, noch erreichten die Zahlungen an die Stenna AG einen Umfang, der im Vergleich zum Gesamtumsatz der Trienekens-Gruppe eine Vorlagepflicht unter dem Aspekt eines tiefgreifenden Eingriffs in Mitgliedschafts- und Vermögensrechte der Gesellschafter begründet hätte. Vielmehr habe eine Maßnahme der laufenden Geschäftsführung vorgelegen, die grundsätzlich in die Zuständigkeit des geschäftsführenden Gesellschaftsorgans gefallen sei.13 Trienekens habe aber seine Treuepflicht dadurch verletzt, dass er entgegen der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes (§ 43 Abs. 1 GmbHG) und unter Verstoß gegen das handelsrechtliche Gebot der Vollständigkeit und Richtigkeit der Buchführung (§ 239 Abs. 2 HGB) Vermögensgegenstände durch inhaltlich falsche Buchungsvorgänge aus der Buchhaltung ausgesondert habe, um unter gezielter Umgehung der gesellschaftsinternen Kontrollen und seiner Rechenschaftspflichten über Vermögensbestandteile der Treugeberin nach Maßgabe eigener Zwecksetzung verfügen zu können.14 Insbesondere habe Trienekens gegen seine aus der Sorgfaltsgeneralklausel des § 43 Abs. 1 GmbHG fließenden Pflichten zur Legalität, die die Erfüllung von buchführungs- und steuerrechtlichen Pflichten enthalte, und 11

Der Angeklagte F wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren (davon gelten neun Monate als vollstreckt wegen überlanger Verfahrensdauer), der Angeklagte M zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt (davon gelten acht Monate als vollstreckt wegen überlanger Verfahrensdauer). Der Haupttäter Trienekens ist im März 2010 nach Ablegung eines Teilgeständnisses wegen Untreue zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von rund 1 Mio. Euro nebst einer Bewährungsauflage in gleicher Höhe verurteilt worden. 12 BGH NJW 2010, 3459 Rn. 24 f. 13 BGH NJW 2010, 3459 f Rn. 26. 14 BGH NJW 2010, 3460 Rn. 27.

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zur Loyalität gegenüber den übrigen Gesellschaftsorganen verstoßen.15 Auch sei die Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung nach § 41 GmbHG verletzt worden, wobei die Untreuetauglichkeit dieser Pflicht daraus folge, dass die gesetzlichen Rechnungslegungspflichten zumindest auch dem Schutz der Vermögensinteressen der betroffenen Gesellschaft dienten.16 Nach Ansicht des BGH fehlt es entgegen den Revisionen an einer wirksamen Einwilligung der Treugeberin, die eine Pflichtwidrigkeit hätte ausschließen können. Oberstes Willensorgan der GmbH sei die Gesamtheit der Gesellschafter. Ausdrücklich betont der BGH, dass ein Einverständnis der Gesellschafter auch dann in Betracht kommt, wenn die Vermögensverfügung des Geschäftsführers unter Verstoß gegen Buchführungspflichten erfolgt.17 An einem Einverständnis sämtlicher Gesellschafter fehle es jedoch, weil die RWE Umwelt AG von den Vorgängen schon keine Kenntnis gehabt habe. Soweit das materielle Einverständnis des Mehrheitsgesellschafters in der Person von Trienekens als Vertreter vorgelegen hat, reiche das nicht aus. Zwar könne dahinstehen, ob nur Mehrheitsentscheidungen der Gesellschafter den Tatbestand ausschließen, die im Wege eines förmlichen Beschlusses herbeigeführt worden sind. Voraussetzung der Erteilung eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses durch eine Gesellschaftermehrheit sei aber jedenfalls stets die inhaltliche Befassung auch der Minderheitsgesellschafter mit der Frage der Billigung der betreffenden Pflichtwidrigkeit, die nicht stattgefunden hat.18 Den Vermögensnachteil bejaht der BGH deutlich umfassender als das LG. Dieser sei als endgültiger Vermögensnachteil nicht nur hinsichtlich des beträchtlichen Teils der Zahlungen eingetreten, die als Provisionen und Honorare für die an der „schwarzen Kasse“ Beteiligten abgeflossen sind. Vielmehr liege in der gesamten Höhe des an die Stenna AG überwiesenen Betrages ein endgültiger Schaden.19 Obwohl der BGH hinsichtlich der Schadensbegründung an sein Siemens-Urteil anknüpft, sei diese rechtliche Würdigung auf die Einrichtung und Führung einer verdeckten Kasse durch den alleinvertretungsberechtigten GmbH-Geschäftsführer nicht ohne weiteres übertragbar. Vielmehr beruhe die Würdigung der von Trienekens veranlassten Vermögensverschiebungen als endgültiger Schaden auf der konkreten Ausgestaltung der verdeckten Kasse, wonach die verschobenen Vermögenswerte im Ergebnis ebenfalls dem Zugriff der Treugeberin endgültig entzogen waren.20 Zu dieser Untreue von Trienekens hätten die bei15

BGH NJW 2010, 3460 Rn. 28 ff. BGH NJW 2010, 3460 Rn. 31 f. 17 BGH NJW 2010, 3461 Rn. 35. 18 BGH NJW 2010, 3461 Rn. 36. 19 BGH NJW 2010, 3462 Rn. 40. 20 BGH NJW 2010, 3462 Rn. 41 ff. 16

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den Angeklagten durch ihre Unterstützungshandlungen strafbare Beihilfe geleistet.21

C. Kritische Analyse des Urteils Eine kritische Analyse des Urteils setzt voraus, dass man sich jene Grundsätze des Gebots bestimmter Gesetzesauslegung vergegenwärtigt, die der Zweite Senat des BVerfG unlängst für die Strafrechtsprechung im Allgemeinen wie die Untreuestrafrechtsprechung im Besonderen vorgegeben hat.

I. Das Gebot bestimmter Gesetzesauslegung nach dem Beschluss des BVerfG vom 23.06.2010 Konventionell ist der Ausgangspunkt des Zweiten Senats: Das Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 103 Abs. 2 GG enthält nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und allgemeiner Meinung u.a. für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.22 Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot dienen dabei einerseits der Kompetenzwahrung des Gesetzgebers, andererseits dem Schutz der Voraussehbarkeit von Strafe und damit der Freiheit des Bürgers.23 Während das Analogieverbot jede Rechtsanwendung untersagt, die den möglichen Wortsinn einer gesetzlichen Sanktionsnorm überschreitet, geht das vom Zweiten Senat neu konkretisierte Gebot bestimmter Gesetzesauslegung darüber hinaus, schränkt also auch Auslegungen innerhalb des möglichen Wortsinnes ein. Im Einzelnen legt der Zweite Senat den Strafgerichten folgende Verpflichtungen bei der Auslegung weit gefasster Tatbestände und Tatbestandsmerkmale auf: Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig von diesen mitverwirklicht werden (allgemeines Verschleifungs- und Entgrenzungsverbot von Tatbestandsmerkmalen).24 Gerichte dürfen nicht durch fernliegende Interpretationen oder konturenlose Normverständnisse bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm erhöhen (Rechtsunsicher21

BGH NJW 2010, 3463 Rn. 48 ff. BVerfG NJW 2010, 3210 Rn. 69. 23 BVerfG NJW 2010, 3210 Rn. 70 f. 24 BVerfG NJW 2010, 3211 Rn. 79. 22

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heitsminimierungsgebot bzw. Rechtsunsicherheitserhöhungsverbot).25 Die Rechtsprechung ist bei verhältnismäßig weiten und unscharfen Tatbeständen gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch präzisierende und konkretisierende Auslegung möglichst auszuräumen (Präzisierungsgebot).26 In Fällen, in denen tatbestandlich nur die Möglichkeit der Bestrafung erkennbar ist und erst eine gefestigte Rechtsprechung eine zuverlässige Auslegungsgrundlage schafft, trifft die Rechtsprechung eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Diese kann sich auch in über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes hinausgehenden Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen niederschlagen (Erhöhung der Anforderungen an Rechtsprechungsänderungen).27 Für die Untreue im Besonderen gibt der Zweite Senat konkretisierend vor, dass die Anwendung des Merkmals der Pflichtwidrigkeit auf „klare und deutliche (evidente) Fälle“ zu beschränken ist, „Wertungswidersprüche zur Ausgestaltung spezifischer Sanktionsregelungen zu vermeiden“ sind und der „Charakter des Untreuetatbestands als Vermögensdelikt“ zu bewahren ist (Gebot der Wahrung der Identität der Untreue als Vermögenserfolgsdelikt).28 Zudem muss die Auslegung des Nachteilsmerkmals stets den gesetzgeberischen Willen beachten, dieses Merkmal als selbständiges neben der Pflichtverletzung zu statuieren, und deshalb eine Verschleifung des Nachteilsmerkmals mit dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal dahin verhindern, dass Ersteres in Letzterem aufgeht (untreuespezifisches Verschleifungsverbot).29 Mit dieser Verschärfung der Pflichten im Rahmen des Gebots bestimmter Auslegung der Strafgesetze verbindet der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auch eine erhöhte Prüfungstiefe. So ist das Bundesverfassungsgericht zum einen nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt.30 Stützen die Gerichte ihre Auslegung der Strafnorm auf ein gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals, so prüft das Bundesverfassungsgericht das Bestehen eines solchen gefestigten Verständnisses in vollem Umfang nach.31 Entsprechendes gilt zum anderen, wenn die Strafbarkeit nach einer weit gefassten Norm mittels gefestigter komplexerer Obersätze eingegrenzt wird wie z.B. bei der Bildung von Fallgruppen. Das Bundesverfassungsgericht prüft insoweit, ob die Gerichte bei Anwendung und Auslegung der Strafnorm bei den bislang entwickelten, die Norm konkretisierenden Ober25

BVerfG NJW 2010, 3211 Rn. 81. BVerfG NJW 2010, 3211 Rn. 81. 27 BVerfG NJW 2010, 3211 f Rn. 81. 28 BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 111. 29 BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 113. 30 BVerfG NJW 2010, 3212 Rn. 82. 31 BVerfG NJW 2010, 3212 Rn. 83. 26

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sätzen geblieben sind, gegebenenfalls, ob sie diese im Rahmen der Strafnorm folgerichtig weiterentwickelt und der Würdigung des konkreten Falls zugrunde gelegt haben.32

II. Gesellschaftsrechtliche Loyalitätspflichten als untreuetaugliche Pflichten? Auf dieser Basis ist zu prüfen, ob die vom 2. Strafsenat vorgenommene Qualifizierung der gesellschaftsrechtlichen „Loyalitätspflicht“ des Geschäftsführers als untreuetaugliche Pflichtverletzung33 verfassungsrechtlich haltbar ist. Mit der „Loyalitätspflicht“ gegenüber anderen Gesellschaftsorganen, insbesondere der Pflicht zur Information und Beratung, ist offenkundig die Pflicht der Geschäftsführer einer GmbH zur kollegialen Zusammenarbeit gemeint. Danach sind die Geschäftsführer zu der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns aus § 43 Abs. 1 GmbHG nicht nur bei der Leitung der Gesellschaft, sondern auch bei der Beratung und Information der Gesellschafter und des Aufsichtsrats verpflichtet. Insbesondere haben die Geschäftsführer nach einhelliger Meinung im Gesellschaftsrecht „durch entsprechende Beratung dafür Sorge zu tragen, dass die anderen Gesellschaftsorgane ihren gesellschaftsinternen Zuständigkeiten und den damit verbundenen Pflichten nachkommen können.“34 Diese Pflicht ist nicht zu verwechseln mit der allgemeinen Loyalitäts- bzw. Treuepflicht des Geschäftsführers gegenüber der Gesellschaft.35 Zweifel an der Untreuetauglichkeit der Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit ergeben sich bereits daraus, dass diese Pflicht offensichtlich nur im Verhältnis der Gesellschaftsorgane zueinander besteht, also eine interne Pflicht ist, die den alleinigen Zweck hat, die innergesellschaftliche Zusammenarbeit nach Maßgabe der Kompetenzordnung der GmbH zu organisieren.36 Soweit die Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit damit nicht einmal mittelbar oder faktisch Vermögensinteressen der Gesellschaft dient, genügt sie nicht den Anforderungen an eine untreuetaugliche Pflicht. Denn Min32

BVerfG NJW 2010, 3212 Rn. 83. BGH NJW 2010, 3460 Rn. 29 f. 34 Scholz-Schneider § 43 GmbHG Rn. 142; ferner Raiser/Veil § 32 Rn. 84 i. V. m. § 14 Rn. 83 f und Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 10. 35 Vgl. dazu Scholz-Schneider § 43 GmbHG Rn. 150 ff; Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 12; Raiser/Veil § 32 Rn. 87 i. V. m. § 14 Rn. 91 ff. 36 Vgl. Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack § 35 GmbHG Rn. 53 ff; Raiser/Veil § 32 Rn. 84 i. V. m. § 14 Rn. 83 f. Zum parallelen Problem beim Zweck der Verfahrens- und Einberufungsvorschriften gem. §§ 49 ff GmbHG, die ebenfalls nur Partizipationsinteressen schützen, Hoffmann Untreue und Unternehmensinteresse, 2010, S. 195 f m. w. N. 33

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destvoraussetzung für die Qualifizierung einer außerstrafrechtlichen Pflicht als untreuetauglich ist, dass sie einen hinreichenden Fremdvermögensbezug besitzt, also zumindest mittelbar Vermögensinteressen des Geschäftsherrn schützt.37 In diesem Sinne hat das BVerfG § 18 KWG im Ergebnis mit Recht als Quelle untreuetauglicher Pflichten gewürdigt, weil die Norm „jedenfalls faktisch dem Schutz des Vermögens der Bank“ dient, „unabhängig von der Frage, in wessen Interesse dies letztendlich liegt“.38 Auch der 1. Strafsenat des BGH sieht im AUB-Urteil in Umsetzung der Maßgaben des BVerfG-Beschlusses vom 23.06.201039 eine Normverletzung in der Regel nur (noch) dann als pflichtwidrig im Sinne des § 266 StGB an, wenn die verletzte Rechtsnorm „wenigstens auch, und sei es mittelbar, vermögensschützenden Charakter für das zu betreuende Vermögen hat, mag die Handlung auch nach anderen Normen pflichtwidrig sein und gegebenenfalls Schadensersatzansprüche gegenüber dem Treupflichtigen begründen.“40 Die verfassungsrechtliche Relevanz der Nichterfüllung dieser Voraussetzung eines hinreichenden Fremdvermögensbezugs wird deutlich, wenn man zweierlei berücksichtigt: Zum einen stellt nur diese Anforderung an die Untreuetauglichkeit einer Pflicht sicher, dass der Charakter der Untreue als Vermögensdelikt gewahrt wird, wie es das BVerfG jetzt auch im Beschluss vom Juni 2010 für die Frage der Pflichtverletzung vorgegeben hat.41 Denn der hinreichende Fremdvermögensbezug bewahrt die Untreue vor einer durch ihre außerstrafrechtliche Pflichtenakzessorietät möglichen Inkorporierung von Schutzzwecken, die nicht (mehr) dem Vermögensschutz dienen.42 Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Sanktionierung der Verletzung von nicht vermögensbezogenen internen gesellschaftsrechtlichen Pflichten primäre Aufgabe des Zivilrechts, nicht Aufgabe des Strafrechts als ultima ratio ist.43 Insoweit gewährleistet der Fremdvermögensbezug, dass, wie es das BVerfG fordert, „Wertungswidersprüche zur Ausgestaltung spezifischer Sanktionsregelungen“ vermieden werden.44 Die Untreueuntauglichkeit der gesellschaftsrechtlichen Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit kann entgegen dem 2. Strafsenat des BGH auch 37

Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger § 266 Rn. 32, 83; vgl. auch Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 19a, 21b (sehr weit aber Rn. 37); Rönnau ZStW 119 (2007), 906 f; Hoffmann GmbHR 2010, 1151; Brand NJW 2010, 3463. 38 BVerfG NJW 2010, 3218 Rn. 133. 39 Dazu oben C. I. 40 BGH NJW 2011, 92 Rn. 39 f – m. Anm. Bittmann – unter Bezug auf den Straftatbestand des § 119 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Zur Funktion des Betriebsrats im Kontext der VW-Affäre Zwiehoff FS Puppe, 2011, 1337 ff. 41 Oben C. I. 42 So auch BGH NJW 2011, 92 Rn. 38. 43 Ebenso BGH NJW 2011, 92 Rn. 38. 44 BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 111; dazu auch oben C. I.

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nicht durch die Annahme einer gravierenden Pflichtverletzung kompensiert werden. Zwar will der 2. Strafsenat offenkundig an die Maßgabe des BVerfG anknüpfen, an der Idee der gravierenden Pflichtverletzung jedenfalls dann festzuhalten, wenn die Pflichtverletzung evident ist.45 Aber die Annahme einer gravierenden Pflichtverletzung geht für die Untreue ins Leere, wenn die außerstrafrechtliche Pflicht schon an sich mangels hinreichenden Fremdvermögensbezugs untreueuntauglich ist. Anders formuliert: Die Verletzung einer untreueuntauglichen Pflicht wird nicht dadurch zur Verletzung einer untreuetauglichen, dass sie gravierend ist.46 Zum anderen betritt der 2. Strafsenat mit der isolierten Qualifizierung der Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit als untreuetauglicher Pflicht, soweit ersichtlich, Neuland in der Rechtsprechung zur GmbH-Untreue.47 Insoweit stellt sich dieser Schritt aus den dargelegten Gründen gerade nicht, wie es das BVerfG fordert48, als „folgerichtige Weiterentwicklung“ der bisherigen Obersätze zu den tauglichen Pflichtverletzungen bei der GmbH-Untreue dar.49

III. Einverständnis und Minderheitsgesellschafter Fraglich ist des Weiteren, ob auch die Verneinung einer wirksamen Einwilligung des alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführers und Vertreters der Mehrheitsgesellschafter der Trienkens-GmbH in die Bildung der Organkasse durch den 2. Strafsenat der Prüfung anhand der Vorgaben des BVerfG standhält.

1. Grundsätze zu Einverständnis und Willensbildung in der GmbH Um zu sehen, dass und inwieweit das Urteil des 2. Strafsenats von den bisherigen Obersätzen zum Einverständnis bei der GmbH-Untreue abweicht und dabei den Charakter der Untreue als Vermögensdelikt verformt, ist eine Vergewisserung der gesicherten strafrechtlichen Grundsätze zum Einverständnis sowie der gesellschaftsrechtlichen Grundsätze der Willensbildung 45

BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 112. Vgl. im Ergebnis auch Lichtenwimmer Untreueschutz der GmbH gegen den übereinstimmenden Willen der Gesellschafter?, 2007, S. 129 ff, 138 ff, 156. 47 Vgl. nur BGHSt 34, 379; 35, 333; Achenbach/Ransiek-Seier Hb. WistrafR, Untreue, Rn. 280 ff; LK-Schünemann § 266 Rn. 91 ff, 125; MüKo-Dierlamm § 266 Rn. 133 ff, 151 ff, 233 ff; Lichtenwimmer (Fn. 46); Busch Konzernuntreue, 2004, S. 56 ff, 60 ff, 119 ff; Hoffmann GmbHR 2010, 207 ff. 48 Vgl. BVerfG NJW 2010, 3212 Rn. 83; siehe auch oben C. I. 49 Wie hier im Ergebnis ablehnend auch Hoffmann GmbHR 2010, 1151 und Brand NJW 2010, 3463. A. A. wohl Vath GWR 2010, 472. 46

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in der GmbH erforderlich. Sie bereiten den Boden für die verfassungsrechtliche Zurückweisung der zentralen These des 2. Strafsenats, dass nämlich die Verletzung gesellschaftsrechtlicher Befassungsrechte mit dem Mittel des Untreuestrafrechts zu sanktionieren sei.

a) Gesicherte strafrechtliche Grundsätze Unstreitig ist zunächst, dass das Einverständnis des Vermögensinhabers zum Zeitpunkt der Tat die Handlungsbefugnis des Treunehmers erweitert und daher grundsätzlich die Pflichtwidrigkeit und damit Tatbestandsmäßigkeit seines Handelns ausschließt.50 Unstreitig ist gleichfalls, dass sich die Frage der Einverständnisbefugnis danach richtet, wer Vermögensinhaber ist. Das wiederum beurteilt sich nach den einschlägigen zivil- und öffentlich-rechtlichen Normen51, bei der GmbH also nach den Regeln des GmbHG. Konsens besteht schließlich darüber, dass sich das Einverständnis der GmbH-Gesellschafter im Innenverhältnis grundsätzlich nach Gesellschaftsrecht, also der jeweiligen Satzung der GmbH und dem GmbHG beurteilt.52 Welche Regeln dabei im Einzelnen auf das Untreuestrafrecht übertragen werden sollen, insbesondere wie mit gesellschaftsrechtlichen Formvorschriften zu verfahren ist, war vor der Entscheidung des 2. Strafsenats in Strafrechtsprechung und Strafrechtswissenschaft streitig bzw. nicht abschließend geklärt.

b) Gesicherte gesellschaftsrechtliche Grundsätze der Willensbildung in der GmbH Im Gesellschaftsrecht ist unstreitig, dass die Gesellschaftergesamtheit ihre Befugnisse über die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ ausübt.53 Das GmbHG trifft für die Gesellschafterversammlung bestimmte Regelungen in den §§ 46 ff. Insoweit wird das Organisationsstatut der GmbH gekennzeichnet einerseits durch das Weisungsrecht der Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern gem. § 37 Abs. 1 GmbHG, andererseits

50 BGHSt 3, 23 (24, 25); 34, 379 (384 ff); 49, 147 (157 f); 50, 331 (342); BGH NJW 2000, 155; Fischer § 266 Rn. 90 ff; Lackner/Kühl, § 266 Rn. 20. 51 Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger § 266 Rn. 45; Schramm Untreue und Konsens, 2005, S. 74 ff; Soyka Untreue zum Nachteil von Personengesellschaften, 2008, S. 141 ff. 52 Schramm (Fn. 51) S. 125; Rönnau FS Tiedemann, 2008, 717 ff. 53 BGH GmbHR 2003, 713; Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 32; Raiser/Veil § 31 GmbHG Rn. 2.

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durch die entsprechende Folgepflicht der Geschäftsführer gegenüber den Gesellschaftern.54 Das Weisungsrecht steht nach einhelliger Auffassung nur der Gesellschafterversammlung insgesamt und nicht den einzelnen Gesellschaftern zu. Das gilt selbst dann, wenn der einzelne Gesellschafter Mehrheitsgesellschafter ist und deshalb einen entsprechenden Gesellschafterbeschluss herbeiführen könnte. Der Weisung muss daher ein Gesellschafterbeschluss vorausgehen, wobei einfache Mehrheit gem. § 47 Abs. 1 GmbHG ausreicht. Die einfache Weisung des Mehrheitsgesellschafters genügt nicht.55 Demnach stellt ein Handeln oder Unterlassen des Geschäftsführers im – auch stillschweigenden – Einverständnis mit sämtlichen Gesellschaftern grundsätzlich keine (haftungsbegründende) Pflichtverletzung im Sinne von § 43 Abs. 2 GmbHG dar56, es sei denn, die Weisung ist selbst rechts- oder gesetzwidrig und damit nichtig57 oder unter Missbrauch der Vertretungsmacht erfolgt.58 Das gilt auch für eine Auszahlung von Gesellschaftsvermögen, die bei Einverständnis sämtlicher Gesellschafter keine Pflichtverlet„soweit die zung gegenüber der Gesellschaft begründet59, Dispositionsbefugnis der Gesellschafter gegenüber der GmbH reicht, also die Grenzen der (im Fall der Trienekens-GmbH nicht einschlägigen, F.S.) §§ 30 f., 33, 43 Abs. 3, 64 Abs. 2 GmbHG oder des unabdingbaren Schutzes der GmbH vor existenzvernichtenden Eingriffen nicht berührt werden.“60 Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Notwendigkeit eines Gesellschafterbeschlusses greift für die Einpersonen-Gesellschaft. Bei Weisungen des Alleingesellschafters einer Einpersonen-Gesellschaft bedarf es nach einhelliger Auffassung keines förmlichen Gesellschafterbeschlusses61, insbesondere nicht beim Alleingesellschafter-Geschäftsführer.62 Das gilt auch für den Fall, dass der faktische Geschäftsführer der Gesellschaft aufgrund seiner Personengleichheit mit dem wirtschaftlichen Alleingesellschafter, der in der Gesellschaft letztlich allein weisungsberechtigt ist, praktisch seine eigenen Weisungen ausführt.63 Entsprechend haftet der wirtschaftliche Allein54

Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 37 GmbHG Rn. 17. Scholz-Schneider § 37 GmbHG Rn. 31; Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 37 GmbHG Rn. 17, § 43 GmbHG Rn. 32. 56 BGHZ 142, 92 (95); BGH GmbHR 2003, 713; vgl. auch BGH NJW 1984, 1462. 57 Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 34; Scholz-Schneider § 37 GmbHG Rn. 50, § 43 GmbHG Rn. 122 ff; vgl. auch BGHZ 124, 111 (127) zum Aufsichtsrat bei der AG. 58 OLG Koblenz GmbHR 2003, 1062; auch BGH NJW 1984, 1462. 59 Vgl. auch BGHZ 142, 92 (95). 60 BGH GmbHR 2003, 713; Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 34. 61 BGHZ 119, 257 (261); Scholz-Schneider § 37 GmbHG Rn. 31 Fn. 6; Lutter/HommelhoffKleindiek § 43 GmbHG Rn. 32. 62 BGHZ 119, 257 (261); Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 32. 63 BGHZ 119, 257 (261). 55

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gesellschafter einer GmbH der Gesellschaft grundsätzlich nicht aus Geschäften, die er während seiner Alleinstellung für die GmbH geschlossen hat.64

2. Inhaltliche Befassung und Formfragen Auf Basis dieser unstrittigen Grundsätze von Strafrechtsprechung und Gesellschaftsrecht kann gezeigt werden, dass und warum die Position des 2. Strafsenats verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht standhält. Der 2. Strafsenat ist der Ansicht, dass für ein strafrechtlich beachtliches Einverständnis zumindest die inhaltliche Befassung aller Gesellschafter der GmbH mit dem (Beschluss-)Thema unabdingbar sei, weil die Gesellschaftergesamtheit Trägerin der GmbH ist. Dabei nimmt das Gericht zum einen Bezug auf die referierte h. M. im Gesellschaftsrecht, derzufolge das Weisungsrecht jenseits der Fälle der Ein-Personen-GmbH nur der Gesellschafterversammlung insgesamt, nicht den einzelnen Gesellschaftern, auch nicht dem Mehrheitsgesellschafter zusteht. Zum anderen glaubt der 2. Strafsenat, dahinstehen lassen zu können, ob ein förmlicher Beschluss erforderlich ist oder ein materielles Einverständnis genügt. Dieser strittigen und bis dato nicht abschließend geklärten Frage kann der 2. Strafsenat jedoch in der Sache nicht ausweichen. Denn das Kriterium der inhaltlichen Befassung bezeichnet wie die Frage nach der Erforderlichkeit eines förmlichen Beschlusses einen formalen Aspekt. Der 2. Strafsenat räumt eben dieses indirekt selbst ein, wenn er explizit erklärt, dass ein die Pflichtwidrigkeit ausschließendes Einverständnis der Gesellschafter im Fall der Trienekens-GmbH auch dann in Betracht kommt, wenn die Vermögensverfügung des Geschäftsführers unter Verstoß gegen Buchführungspflichten erfolgt.65 Im Klartext: Hätte die RWE Umwelt AG als Minderheitsgesellschafter der Einrichtung einer „Organkasse“ zugestimmt, dann hätte sich Trienekens auch nach Auffassung des 2. Strafsenats nicht wegen Untreue strafbar gemacht. Wenn aber das Einverständnis aller Gesellschafter einen Buchführungsverstoß materiell rechtfertigt und damit tatbestandslos nach § 266 StGB macht, dann kann das Kriterium der notwendigen inhaltlichen Befassung aller Gesellschafter nur ein formales sein. Damit stellt sich entgegen dem BGH die strittige Frage, ob die Einhaltung gesellschaftsrechtlicher Formvorgaben notwendige Bedingung für die Bildung eines im Rahmen des § 266 beachtlichen Gesellschafterwillens und damit Einverständnisses ist.

64 65

BGH WM 1992, 2053; vgl. auch Lutter/Hommelhoff-Kleindiek § 43 GmbHG Rn. 32, 35. BGH NJW 2010, 3461 Rn. 35; dazu auch oben B.

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3. Formale versus materiale Einverständnistheorie a) Die Positionen Unstreitig ist zunächst, dass grundsätzlich ein Einverständnis vorliegt, wenn alle Gesellschafter zugestimmt haben, wobei ein förmlicher Beschluss dann nicht erforderlich ist.66 Kontrovers ist dagegen die bisher höchstrichterlich wohl noch nicht entschiedene Frage67, ob bei Fehlen eines Einverständnisses aller Gesellschafter – wie im Sachverhalt – ein förmlicher Beschluss der Gesellschaftermehrheit erforderlich ist oder ob das materielle, auch formlose Einverständnis des Mehrheitsgesellschafter genügt. Im ersteren Fall schiede bei der Trienekens-GmbH ein Einverständnis aus, im letzteren Fall wäre es gegeben. Nach einer formalen Auffassung setzt ein strafrechtlich beachtliches Einverständnis zumindest einen förmlichen Beschluss voraus.68 Diese formale Auffassung verweist für ihre These, dass die Zustimmung lediglich eines Mehrheitsaktionärs oder -gesellschafters nicht ausreicht, teilweise auf das Urteil im Fall Mannesmann69.70 Dort hat der 3. Strafsenat in der Tat erklärt, dass bei einer Aktiengesellschaft Voraussetzung für ein strafrechtlich bedeutsames Einverständnis die Zustimmung des Alleinaktionärs oder ein Beschluss der Gesamtheit der Aktionäre ist und die Zustimmung nicht gegen Rechtsvorschriften verstößt oder aus sonstigen Gründen ausnahmsweise als unwirksam zu bewerten ist.71 Abgesehen davon, dass der 2. Strafsenat nun ausdrücklich offen lässt, ob den Aktionären einer AG eine Einwilligungskompetenz zukommt,72 ist diese für die AG entwickelte Auffassung auf die GmbH nicht übertragbar. Die organisatorischen Unterschiede in Unternehmensstruktur und -führung zwischen AG und GmbH sowie insbesondere die starke Stellung der Gesellschafter (Weisungsrecht) bei der GmbH stehen einer Gleichbehandlung entgegen. Das dürfte auch der 2. Strafsenat gesehen haben, der in der Sache der formalen Position folgt, wenn er zwar auf die Mannesmann-Entscheidung Bezug nimmt, dann aber 66

Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 21; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 217; LK-Schünemann § 266 Rn. 125; vgl. auch Fischer § 266 Rn. 93 und 95. 67 Unklar ist insoweit der Bezug des 2. Strafsenats (BGH NJW 2010, 3461 Rn. 36) auf die unveröffentlichte Entscheidung BGH Urteil vom 18. Oktober 1956 – 2 StR 434/56, die von Hoffmann (Fn. 36) S. 191 Fn. 935 nur für die Meinung zitiert wird, dass die Verletzung von Formvorschriften bei Einverständniserklärung seitens aller Gesellschafter irrelevant sei. 68 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rn. 217; Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 125; Busch (Fn. 47) S. 147 f; Flum Der strafrechtliche Schutz der GmbH, 1990, S. 45 ff, 172 ff. 69 BGHSt 50, 331 (342 f). 70 So Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 125. 71 BGHSt 50, 331 (342). 72 Siehe oben Fn. 7 m. w. N.

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die Streitfrage aufgrund des Rückgriffs auf die Notwendigkeit einer inhaltlichen Befassung dahinstehen lässt.73 Die im Schrifttum bislang wohl dominierende materiale Gegenauffassung lässt das formlose Einverständnis der Gesellschaftermehrheit bzw. des Mehrheitsgesellschafters für ein strafrechtlich beachtliches Einverständnis genügen.74 Nach ihr kommt es auf den mehrheitlichen Konsens in der Sache und nicht auf die Form der Beschlussfassung an. Denn die strafrechtliche Sanktionierung der schieren Durchführung eines formgerechten gesellschaftsrechtlichen Beschlussverfahrens liegt außerhalb des Schutzzwecks der Untreuestrafvorschrift.75 Diese rein materiale Position kann sich auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH aus dem Jahr 1988 berufen. Dort hat das Gericht zur zulässigen Zahlung von Gewinnvorschüssen bei einer GmbH erklärt: „Ist sie im Gesellschaftsvertrag nicht vorgesehen, so muss die Gesellschafterversammlung über sie beschließen. Für die strafrechtliche Beurteilung kommt es aber nicht darauf an, ob die Formen des § 46 Nr. 1 GmbHG gewahrt sind. Wenn den Gesellschaftern Beträge aus einem tatsächlich vorhandenen Reingewinn oder im Vorgriff auf einen mit Sicherheit alsbald erzielten Reingewinn ausgekehrt werden, bedeutet dies für sich allein keinen rechtswidrigen Nachteil für die GmbH. Das gilt selbst dann, wenn die entnommenen Beträge zu Tarnungszwecken falsch gebucht werden.“76

b) Verfassungswidrigkeit der formalen Einverständnistheorie Die verfassungsrechtliche Relevanz dieses Meinungsstreits, der nicht bloß ein einfacher Auslegungsdissens ist, liegt darin, dass nur die letztere, rein materiale Position den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals der Pflichtverletzung genügt, die der Zweite Senat des BVerfG im Juni 2010 formuliert hat.77

aa) Rechtsgutsvertauschung Das zeigt bereits die Überlegung, dass der Zweck, den die Sicherung der Befassungsrechte der Gesellschafter mit einer Maßnahme des Geschäftsführers verfolgt, nicht dem Zweck entspricht, dem die Untreuestrafvorschrift dient. Der Schutz der Befassungsrechte der Gesellschafter dient – ähnlich 73

BGH NJW 2010, 3461 Rn. 36. MüKo-Dierlamm § 266 Rn. 136; Schramm (Fn. 51) S. 125; Hoffmann (Fn. 36) S. 197; Lichtenwimmer (Fn. 46) S. 156; auch Soyka (Fn. 51) S. 170 ff. 75 Schramm (Fn. 51) S. 125. 76 BGHSt 35, 332 (337). 77 Dazu oben C. I. 74

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wie die Gewährleistung der Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit78 – allein der Sicherung der Partizipationsinteressen jedes einzelnen Gesellschafters, insbesondere des Minderheitsgesellschafters, nicht dem Vermögen der GmbH als Geschäftsherrn, das allein Rechtsgut der Untreue ist.79 Entsprechend wird der Zweck der Verfahrens- und Einberufungsvorschriften der §§ 48 ff GmbHG in dem Schutz der Möglichkeit eines jeden Gesellschafters gesehen, auf die Willensbildung der Gesellschaft für die Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Die Ordnungsgemäßheit des Beschlussverfahrens legitimiert insoweit die Mehrheitsregel in § 47 Abs. 1 GmbHG bzw. kompensiert den Verzicht auf einen allgemeinen Konsens der Anteilseigner.80 Dabei schützen die Einberufungsvorschriften der §§ 48 ff GmbHG auch nicht einmal mittelbar Vermögensinteressen der GmbH. Dafür enthalten weder die Entstehungsgeschichte der Einberufungsvorschriften noch die Systematik des GmbHG irgendeinen Anhaltspunkt. Im Gegenteil: „Der Umstand, dass die Förmlichkeiten des Beschlussverfahrens von allen Seiten für irrelevant gehalten werden, sobald sämtliche Gesellschafter anwesend sind, beweist vielmehr, dass die §§ 48 ff GmbHG nur das Ziel haben, allen Anteilseignern die Chance auf Teilnahme an der Entscheidungsfindung zu gewähren und keine inhaltliche Kontrolle bezwecken. Der Gedanke eines mittelbaren Schutzes der Gesellschaft durch die Formvorschriften des GmbHG findet denn auch in der Rechtswissenschaft keinerlei Erwähnung und wird noch nicht einmal von denjenigen angeführt, die für eine umfassende Beachtlichkeit gesellschaftsrechtlicher Formfehler im Strafrecht plädieren. […] Dieser Schutzzweck geht mit dem des § 266 StGB nicht konform.“81 Letzteres gilt im besonderen Maße für den vom 2. Strafsenat hervorgehobenen Umstand, dass andernfalls die Minderheitsrechte auf Auskunft und Anfechtung unterlaufen würden. Es ist nicht Aufgabe der Untreue, formale Befassungs- und Minderheitsrechte im GmbH-Recht mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. Das führt zu einer unzulässigen Rechtsgutsvertauschung.82 Überhaupt ist es ein bloßer Formalismus, die schiere Befassung aller Gesellschafter strafrechtlich absichern zu wollen, während bei Zustimmung aller Gesellschafter oder förmlichen Mehrheitsbeschluss zur Verletzung von Buchführungspflichten nach der eigenen Auffassung des 78

Dazu oben C. II. Dazu zuletzt BVerfG NJW 2010, 3212 Rn. 86; BGH NJW 2011, 91; Fischer § 266 Rn. 2; Schönke/Schröder-Perron § 266 Rn. 1; Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger § 266 Rn. 1. 80 So die auch vom 2. Strafsenat zitierte Hoffmann (Fn. 36) S. 195 unter Bezug auf Roth/Altmeppen § 48 GmbHG Rn. 1 und § 47 GmbHG Rn. 125. 81 Hoffmann (Fn. 36) S. 196. 82 Vgl. Soyka (Fn. 51) S. 173. 79

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2. Strafsenats keine strafbare Untreue gegeben wäre. Zudem ist entgegen dem 2. Strafsenat nicht einsehbar, warum das gesellschaftsrechtliche Mehrheitsprinzip in § 47 Abs. 1 GmbHG nicht auch im Strafrecht das Einverständnis lenken soll.83 Demgegenüber ist zu betonen, dass die Untreue ein reines Vermögenserfolgsdelikt ist, das ausschließlich materialen Vermögensschutz bezweckt. Soweit der 2. Strafsenat in seinem Urteil den formalen Aspekt der Befassung über die Verneinung des Einverständnisses strafbewehrt, trägt er einen untreuefremden Zweck in den Untreuetatbestand, der wider der Vorgabe des BVerfG84 den Vermögensdeliktscharakter der Untreue verformt.85

bb) Wertungswidersprüche Verletzt wird damit zugleich das Gebot, Wertungswidersprüche zur Ausgestaltung spezifischer Sanktionsregelungen zu vermeiden.86 Denn die Sanktionierung von Verstößen gegen GmbH-interne (gesellschaftsrechtliche) Pflichten ist allein Aufgabe des Zivilrechts, nicht Aufgabe des Strafrechts als ultima ratio. Ein weiterer Wertungswiderspruch aus der Strafbewehrung von Befassungsrechten der Minderheitsgesellschafter ergibt sich aus der vom 2. Strafsenat mit Recht abgelehnten Verletzung gesellschaftsrechtlicher Kompetenzvorschriften. Es erscheint ungereimt, einerseits unter Berufung auf die Satzung der Trienekens-GmbH und auf GmbH-Recht eine Vorlagepflicht bzw. eine Zustimmungsbedürftigkeit durch die (Mit-)Gesellschafter in Bezug auf die Mittelverlagerung ins Ausland zu verneinen,87 andererseits aber dem Geschäftsführer strafbewehrt vorzuwerfen, dass er die Befassungsrechte des Minderheitsgesellschafters verletzt hat. Systematisch gerät das Urteil des 2. Strafsenats im Übrigen in Widerspruch zu gefestigter Strafrechtsprechung, die sich in anderen Untreuefallgruppen zumindest gegen die Kriminalisierung jeglicher, auch formaler Pflichtverletzungen ausgesprochen hat. So ist bei der Haushaltsuntreue anerkannt, dass nicht jeder Haushaltsverstoß zu einem Vermögensnachteil führt. Entsprechend begründet für den 2. Strafsenat des BGH „allein die Vorschriftswidrigkeit solchen Verhaltens noch keinen Vermögensnachteil. [...] Es genügt daher nicht, dass der so handelnde Täter gegen Vorschriften 83

So MüKo-Dierlamm § 266 Rn. 136. BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 111; oben C. I. 85 Wie hier ablehnend Hoffmann GmbHR 2010, 1151; vgl. auch Podewils jurisPR-HaGesR 11/2010, Anm. 1. Dem BGH zustimmend dagegen Brand NJW 2010, 3464; Wessing EWiR 2010, 797 und auch Fischer § 266 Rn. 95. Offengelassen von Radtke GmbHR 2010, 1127. 86 BVerfG NJW 2010, 3215 Rn. 111; oben C. I. 87 BGH NJW 2010, 3459 f Rn. 26. 84

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des Haushaltsrechts verstößt, insbesondere dem Grundsatz der sachlichen und zeitlichen Bindung der haushaltsmäßig bewilligten Mittel zuwiderhandelt.“88 Noch prägnanter formuliert der 1. Strafsenat des BGH, für den es „keinen Tatbestand der Haushaltsuntreue (gibt), der allein die Pflichtwidrigkeit haushaltswidriger Verfügungen mit Strafe bedroht.“89 Ein weiteres Beispiel für eine letztlich materiale Bestimmung der Pflichtwidrigkeit bietet die Fallgruppe der Kredituntreue. Dort hat der 1. Strafsenat des BGH zur Bedeutung der auch formalen Prüfpflichten des § 18 KWG wiederholt betont, „dass aus der Nichtbeachtung oder Verletzung der Vorschrift des § 18 Satz 1 KWG“ sich „Anhaltspunkte dafür ergeben (können), dass dieser Pflicht (der Pflicht zur hinreichenden Risikoprüfung von Krediten, F.S.) nicht ausreichend Genüge getan wurde. Wird jedoch eine fehlende Information wie hier der fehlende Jahresabschluss 1989 durch andere, gleichwertige Informationen ersetzt, liegt im Ergebnis eine Pflichtwidrigkeit nicht vor.“90 So gesehen handelt es sich bei der Rechtsfortbildung des 2. Strafsenats zu neuen strafbewehrten Befassungsrechten der (Minderheits-)Gesellschafter im Rahmen des Einverständnisses bei der GmbH nicht um eine konsistente Fortentwicklung der Rechtsprechung, sondern um einen den Charakter der Untreue als Vermögensdelikt verformenden Missgriff.

cc) Rechtsunwirksamkeit durch drohende Überkriminalisierung im GmbH-Strafrecht Schließlich kommt hinzu, dass das Urteil mit der Kriminalisierung bloß formaler gesellschaftsrechtlicher Pflichten eine erhebliche Rechtsunsicherheit in die GmbH-Untreue hineinträgt, die auch durch die Annahme gravierender Pflichtverletzungen im konkreten Fall nicht gemindert wird – abgesehen davon, dass auch hier eine vermögensneutrale formale Pflichtverletzung nicht dadurch zu einer untreuetauglichen wird, dass ihre Verletzung gravierend ist. So erscheint die Kriminalisierung formaler Befassungsrechte nicht nur in jenen Fällen fragwürdig, in denen ein 90%-Mehrheitsgesellschafter mit einem inaktiven 10%-Minderheitsgesellschafter oder sogar mit einem 10%stillen Gesellschafter verbunden ist. Darüber hinaus fragt sich, was gelten soll, wenn der Geschäftsführer die Gesellschafter einer GmbH unter Verstoß gegen Formvorschriften des § 51 GmbHG (z.B. gewöhnlicher Brief anstatt Einschreiben gem. § 51 Abs. 1 Satz 1 GmbHG; Unterschreitung der 88

BGHSt 40, 287 (294) – BND-Fall. BGHSt 43, 293 (297) – Intendanten-Fall. 90 BGHSt 46, 30 (32); 47, 148 (152). 89

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Ladungsfrist gem. § 51 Abs. 1 Satz 2 GmbHG) zu einer Gesellschafterversammlung einlädt und ein Minderheitsgesellschafter sich deshalb nicht richtig mit der anstehenden Entscheidung befassen konnte. Hat der Geschäftsführer sich bereits dann, wenn keine Heilung des Formmangels eintritt91 und die Mehrheitsentscheidung später zu einem wirtschaftlichen Schaden für die GmbH führt, wegen Untreue strafbar gemacht? Das wirft die beunruhigende Frage auf, welche von den zahlreichen formalen Pflichten der Geschäftsführer im GmbH-Recht etwa bei der Einberufung der Gesellschafterversammlung (vgl. § 51 GmbHG), bei der Gewährung des Auskunfts- und Einsichtsrechts gegenüber den Gesellschaftern (vgl. § 51a GmbHG92) oder allgemein aus ihrer Organstellung93 auf Basis des Urteils des 2. Strafsenats künftig für untreuetauglich befunden werden könnten. Hier scheint die Gefahr einer (weiteren) extensiven, unabsehbaren Strafhaftung der Geschäftsführer auf. Das ist besonders misslich, wenn man berücksichtigt, dass im GmbH-Recht bereits seit längerem eine „Überlast an öffentlich-rechtlichen Pflichten und – besonders problematisch – eine Kriminalisierung der Unternehmensleitungen“ beklagt wird.94 Insoweit verstößt das Urteil des 2. Strafsenats auch gegen die neuen verfassungsrechtlichen Gebote der Rechtsunsicherheitsminimierung und Präzisierung.95

D. Zusammenfassung Das Urteil des BGH zur verdeckten Organkasse ist in zentralen Aspekten mit den Maßgaben des BVerfG im Beschluss vom Juni 2010 nicht vereinbar. Das gilt zum einen für die Qualifizierung gesellschaftsrechtlicher Loyalitätspflichten des Geschäftsführers als untreuetauglich, weil Loyalitätspflichten nicht dem Vermögensschutz dienen und daher untreuefremde Zwecke verfolgen. Zum anderen führt auch die Verneinung der Strafrechtsrelevanz des formlosen Einverständnisses des Mehrheitsgesellschafters einer GmbH zu einer Rechtsgutsvertauschung bei § 266 StGB. Denn mit der Strafbewehrung von Befassungsrechten der Minderheitsgesellschafter werden letztlich gesellschaftsrechtliche Formfehler kriminalisiert, was ebenfalls dem Schutzzweck der Untreue widerspricht. Zustimmung verdient daher im GmbH-Strafrecht die materiale Einverständnistheorie: Jedes formlose Einverständnis der Gesellschaftermehrheit bzw. des Mehrheitsgesellschafters 91

Vgl. dazu Baumbach/Hueck-Zöllner § 51 GmbHG Rn. 29. Dazu Baumbach/Hueck-Zöllner § 51a GmbHG Rn. 16 f, 23 ff. 93 Vgl. dazu den umfangreichen Pflichtenkatalog bei Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack § 35 GmbHG Rn. 28-69. 94 So Scholz-Schneider § 43 GmbHG Rn. 13 m. w. N. 95 Vgl. BVerfG NJW 2010, 3211 Rn. 81; dazu oben C. I. 92

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genügt für ein strafrechtlich beachtliches Einverständnis des Geschäftsherrn und schließt den Tatbestand der Untreue aus.

Finanzmarktkrise und deutsches Strafrecht Verantwortlichkeit von Bankvorständen für hochspekulativen Handel mit Asset Backed Securities (durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere) auf der Basis von US Subprime Mortgages (minderwertige US-Hypotheken)* VOLKER KREY – unter Mitarbeit von J. Stenger, O. Windgätter und Th. Roggenfelder ** –

Erster Teil: Forderung nach Strafverfolgung in der Öffentlichkeit; im Gegensatz hierzu Zögern der StA, zügig und öffentlich zu ermitteln I. Forderung nach Strafverfolgung in der öffentlichen Meinung “Should bankers be publicly hanged for what they have done?” (sollten die verantwortlichen Bankiers öffentlich gehängt werden?). Auf diese sarkastische Frage stieß Verf. während eines Besuchs in Abu Dhabi im März 2009 bei der Lektüre der renommierten Zeitung der Vereinigten Arabischen Emirate “The National”. Die Frage war Teil eines Interviews über die Finanzmarktkrise mit Paul Koster, chief executive of the Dubai Financial Services Authority.1 Selbstverständlich verneinte Paul Koster jene Frage, und zwar mit den Worten: “There will be court cases, but public hanging is a bit extreme” (es wird Strafverfahren geben, aber öffentliches Hängen * Die vorliegende Untersuchung basiert auf einem Vortrag, den Verf. im Oktober 2009 an der University of Hong Kong, Faculty of Law gehalten hat. Das Manuskript wurde ins Deutsche übersetzt und dabei ausgeweitet, verbessert und durch einige Fußnoten ergänzt. ** Jan Stenger, cand. iur. an der Rechtsfakultät der Universität Trier, und Rechtsanwalt Thomas Roggenfelder waren seinerzeit Mitarbeiter an meinem Lehrstuhl. Ass. Oliver Windgätter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl meines Trierer Kollegen Prof. Dr. Gerhard Robbers. – Für wertvolle Hinweise danke ich meinen Trierer Kollegen Prof. Dr. Oliver Fehrenbacher und Prof. Dr. Jan von Hein – 1 Siehe: The National, 26. März 2009, S. 3.

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wäre etwas krass). Diese Antwort hat gewissermaßen den Standpunkt der vorliegenden Veröffentlichung vorweggenommen: Auch in Deutschland muss es Strafverfahren gegen die verantwortlichen Bankvorstände geben; doch sollte man von drakonischen Bestrafungen absehen. Bereits im Januar 2009, während des World Economic Forum in Davos, Schweiz, verlangte der britische Manager John Neill eine strenge Bestrafung der Verantwortlichen2: Die Hersteller von “toxic securities” (vergiftete Derivate) sollten wie andere Hersteller von Gift behandelt und gegebenenfalls ins Gefängnis geworfen werden. Der Staat habe klarzustellen, dass solches Verhalten Strafbarkeit zur Folge habe. Selbstredend gilt John Neill’s Standpunkt nicht nur für die Herstellung vergifteter Derivate, sondern erst recht für den Handel mit solchen obskuren Finanzprodukten, m. a. W.: Wer durch den Ankauf dubioser Asset Backed Securities based on American subprime mortgages (durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere auf der Basis minderwertiger US-Hypotheken) ohne ausreichende Informationen über ihre Struktur und ihren Wert3 Milliarden Euro einer Bank verspielt, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Dies schon deswegen, weil solche hochspekulativen Investmentgeschäfte eine ernste Bedrohung oder gar Zerstörung der ökonomischen Basis der betroffenen Bank zur Folge haben können. Auch Christian Wulff, seinerzeit Ministerpräsident von Niedersachsen, forderte im März 2009, dass Staatsanwaltschaften und Strafgerichte gegenüber Managern, die für die Finanzmarktkrise verantwortlich seien, einen harten Kurs fahren sollten4: Die pflichtwidrige Vernichtung des Kapitals einer Bank durch deren Vorstände und Aufsichtsräte sei eine Straftat. Aus der Sicht des Verfassers drängt sich dieser Standpunkt jedenfalls dann auf, wenn die finanzielle Existenz der betroffenen Bank ernstlich bedroht ist. Weiterhin hat Erich Samson (Bucerius Law School, Hamburg) 20095 postuliert: Im Prinzip müsse Georg Funke (früherer Vorstandsvorsitzender der Bank Hypo Real Estate) stündlich damit rechnen, verhaftet zu werden, da diese Bank wegen hochspekulativen Derivaten-Handels mit Lehman Brothers etc. evident in Insolvenz geraten wäre, wenn nicht die Bundesregierung eine riesige Rettungsaktion (bail-out) mit den Geldern der Steuerzahler gestartet hätte.6 Schließlich hat im Mai 2009 der bekannte deutsche Strafverteidiger Gerhard Strate seine Kollegen während des 60. Deutschen Anwaltstags darüber 2

Die Welt, 30. Januar 2009, S. 3. Zu diesem entscheidenden Aspekt (Mangel ausreichender Informationen) siehe unten, Dritter Teil, II 1, III 1 und 4. 4 Die Welt, 03. März 2009. 5 Zitiert nach Strate Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Mai 2009, S. 21. 6 Dazu näher Zweiter Teil, I. 3

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informiert, er habe Strafanzeige gegen den Vorstandsvorsitzenden der HSH Nordbank (deren Eigentümer Hamburg und Schleswig-Holstein sind) erstattet.7 Zur Begründung rekurriert Strate auf die unglaubliche Schadenshöhe, verursacht durch unverantwortliches „Zocken“ mit obskuren Finanzderivaten – es geht um Milliarden Euro, die ohne Staatshilfe zur Insolvenz der HSH Nordbank geführt hätten. Die erwähnten Stellungnahmen stehen im Einklang mit der vorherrschenden öffentlichen Meinung in Deutschland: Die Bevölkerung ist ernstlich empört und erwartet Strafverfahren gegen die verantwortlichen Bankvorstände als Forderung der Gerechtigkeit; dies schon deswegen, weil es die Steuerzahler sind, auf deren Kosten die wegen der Finanzmarktkrise erforderlich gewordenen aufwendigen finanziellen Aktionen zur Rettung von Banken durch Bund und Länder erfolgt sind. Die Bürger wissen, dass die verantwortlichen Banker massive Gewinne eingestrichen haben (Bonuszahlungen etc.), die Schäden solcher Spekulationen aber von der Bevölkerung zu tragen sind, was zu Recht Empörung hervorgerufen hat. Aus der Sicht von Verf. würde die Rechtstreue der Bürger ernstlich Schaden nehmen, wenn es nicht zu Strafverfahren gegen die verantwortlichen Bankvorstände käme. Strafverfolgung und Bestrafung haben ja u. a. den Zweck, die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung zu demonstrieren und so das Vertrauen der Bevölkerung in das Recht zu bewahren, 8 ganz zu schweigen vom Abschreckungseffekt energischer Strafverfolgung.9

II. Im Gegensatz zu den Erwartungen der öffentlichen Meinung: Zögern der StA, zügig und unter Information der Öffentlichkeit zu ermitteln In aufsehenerregenden Fällen von Wirtschafts- und Steuerkriminalität haben die deutschen Staatsanwaltschaften vielfach zügig Ermittlungsverfahren eingeleitet, manchmal sogar in einer demonstrativen Art und Weise, z. B. durch Durchsuchungsaktionen bzw. Verhaftung prominenter Beschuldigter. Beispiel: Der deutsche Topmanager Wolfgang Zumwinkel, seinerzeit Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post AG, war einer der unzähligen Beschuldigten in der sog. Liechtenstein-Affäre, bei der es um Steuerhinterziehung ging. Die zuständige Staatsanwaltschaft verhaftete ihn in einer

7

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 2009, S. 21. Zu diesem Strafzweck (positive Generalprävention) siehe m. w. N.: Krey AT I Rn. 118, 129, 134-138, 139, 140, 142-144, 146. 9 Zur Abschreckung (negative Generalprävention) siehe Krey AT I Rn. 127, 128, 144, 146. 8

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spektakulären Art und Weise vor laufenden Fernsehkameras.10 In diesem Fall betrug der Schaden für die Staatskasse nur wenig mehr als eine Million Euro – „peanuts“ im Vergleich zu der Schadenshöhe, die Bankvorstände durch Ankauf toxischer Finanzderivate wie „Lehman-BrothersPapers“ verursacht haben, da es im letzteren Fall um Verluste in erheblicher Milliardenhöhe ging und systemgefährdende Schäden für die Volkswirtschaft und ungeheure Schäden für die Steuerzahler entstanden sind. Was die strafrechtliche Bewältigung der Finanzmarktkrise angeht, ist die deutsche Öffentlichkeit lange Zeit nicht über staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gegen verantwortliche Bankvorstände informiert worden; es ist offenbar auch lange nicht zu ernstlich betriebenen Ermittlungsverfahren gekommen. Jedoch hat es kürzlich eine wichtige Ausnahme gegeben: Die zuständige Staatsanwaltschaft Stuttgart hat am 7. Dezember 2009 eine großangelegte Durchsuchungsaktion gegen Vorstandsmitglieder der Landesbank BadenWürttemberg, der größten deutschen Landesbank, durchgeführt.11 Angesichts der unglaublichen Schadenssummen, die Vorstände durch „Verzocken“ von Geldern der ihnen anvertrauten Banken verursacht haben, ist jenes Zögern der Staatsanwaltschaften auf den ersten Blick rätselhaft. Jedoch vermutet Verf., dass es u. a. die folgenden Gründe sind, die dafür, dass es bislang weitestgehend an (über die Medien bekannt gemachten) staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren fehlt, eine Rolle spielen – wenn auch eher unbewusst als bewusst: Erstens: Nach ihren personellen und materiellen Ressourcen ist die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage, strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen alle verdächtigen Banker durchzuführen. Auch wenn die Staatsanwaltschaften bereit wären, ihre Verfolgungsaktivitäten zunächst auf die hauptverdächtigen Bankvorstände zu beschränken, wären sie langfristig ernstlich überlastet. Zweitens: Bei der Bekämpfung der Finanzmarktkrise, insbesondere der Begrenzung der Schäden der betroffenen Banken und gegebenenfalls deren Rettung, ist vielfach eine Kooperation mit den suspekten Bankvorständen unverzichtbar; dies wegen ihrer Erfahrung und ihrer Kenntnisse von Gegenstand und Umfang der fraglichen kriminellen Spekulationen. 10 Zu Recht hat das zuständige Strafgericht dieses diskriminierende Vorgehen scharf gerügt und bei der Strafzumessung (zwei Jahre Freiheitsstrafe mit Bewährung) strafmildernd berücksichtigt; siehe: http://www.fazfinance.net/Aktuell/Steuern-und-Recht/Zwei-Jahre-Bewaehrungs strafe-fuer-Zumwinkel-4498.html. 11 Siehe unten, Ausblick (a. E.).

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Drittens: In politischen Kreisen scheint der Standpunkt zu dominieren, dass eine umfassende und rigorose Strafverfolgung gegen die verdächtigen Bankvorstände die Finanzwirtschaft („banking industry“) ernstlich erschüttern könnte. Darüber hinaus könnte ein solches Vorgehen gegen die Verantwortlichen Trotzreaktionen provozieren und damit die Bewältigung der Finanzmarktkrise gefährden. Hier wird offensichtlich ein Selbstbild der betroffenen Banker vermutet, das nicht durch Einsicht und Reue geprägt ist, sondern von der arroganten Attitude: „Wir sind systemrelevant und genießen daher faktisch Immunität.“ Viertens: Wenn die zuständigen Staatsanwaltschaften gegen verantwortliche Bankvorstände wegen kriminellen „Verzockens“ von Milliardenbeträgen mit der Folge der Gefährdung oder gar Zerstörung der finanziellen Basis betroffener Banken Ermittlungsverfahren einleiten und nachdrücklich betreiben würden, müssten sie konsequenterweise auch gegen verdächtige Mitglieder der entsprechenden Aufsichtsräte/Verwaltungsräte vorgehen. Zu diesen Gremien gehören Gewerkschaftler und typischerweise auch hochrangige Politiker. Die umfassende, nachdrückliche Strafverfolgung gegen solche Personen dürfte in der Regel politisch unerwünscht sein. Tatsächlich rekurrieren die zuständigen Staatsanwaltschaften beim Verzicht auf die Einleitung von Ermittlungsverfahren (beziehungsweise bei der raschen Einstellung solcher Verfahren) nach Informationen des Verf. typischerweise auf das Fehlen des Vorsatzes bei den betroffenen Spekulanten. Jedoch ist dieser Versuch der Entkriminalisierung wenig überzeugend, worauf zurückzukommen ist.12

Zweiter Teil: Die Finanzmarktkrise - Ökomischer Hintergrund und Schadenshöhe I. Schadenshöhe bei deutschen Banken – Die oben erwähnte deutsche Bank Hypo Real Estate13 hat durch windige Spekulationen mit obskuren Finanzderivaten mehr als 100 Milliarden Euro Verlust erlitten. Wegen ihrer Systemrelevanz hat der Bund die Hypo Real Estate de facto verstaatlicht, um sie vor Insolvenz zu bewahren. – Landesbanken, beispielsweise die Bayerische Landesbank und die WestLB, haben jeweils viele Milliarden Euro Verlust erlitten,14 was ohne 12

Dazu unten, Dritter Teil, II 4, III 4. Siehe oben, Erster Teil, I (bei Fn. 5). 14 Dazu Lutter Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2009, 197, 199. 13

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umfangreiche Rettungsaktionen mit Steuergeldern durch den Staat zu ihrer Insolvenz geführt hätte. – Selbst die Dresdner Bank, vormals die zweitgrößte Bank in Deutschland, hatte viele Milliarden Euro Verlust durch Ankauf dubioser Asset Backed Securities zu verzeichnen. In der Zwischenzeit ist sie von der Commerzbank übernommen worden, was beinahe zu deren Insolvenz geführt hätte, und zwar wegen ungeheurer Risiken in den Büchern der Dresdner Bank aufgrund jener Spekulationen. Der Bund musste die Commerzbank mit inzwischen 15 Milliarden Euro vor drohender Insolvenz retten. Insgesamt hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) die finanziellen Risiken der deutschen Banken, verursacht durch Spekulationen mit toxischen Wertpapiere, auf insgesamt 800 Milliarden Euro geschätzt.15 Doch ist diese alarmierende Bewertung, Inhalt eines vertraulichen Papiers, inzwischen von Banken und Politikern heruntergespielt worden. Im Oktober 2009 hat dann die amerikanische Bank Merril Lynch ein Gutachten über die Risiken durch toxische Finanzderivate im Besitz von deutschen Banken veröffentlicht.16 Dieses Gutachten schätzt die Summe solcher Finanzrisiken auf bis zu 650 Milliarden Euro und bestätigt so gewissermaßen weitgehend das BaFin-Dossier.

II. Ökonomischer Hintergrund17 1. Gegenstand der fraglichen toxischen Asset Backed Securities Im Kern geht es um minderwertige US-Hypotheken für Eigenheime. Der reale Wert solcher Papiere ist vielfach völlig unklar, und ihr Nennwert war von Anfang an fragwürdig: Erstens wegen zweifelhafter Annahmen über eine jährliche Wertsteigerung am US-Eigenheimmarkt bis zu 25%. Bereits solche Erwartungen hätten jeden seriösen Ökonomen stutzig machen sollen. Zweitens beruhte die Finanzmarktkrise weitgehend auf grotesk irrealen Annahmen über den dauerhaften Wert typischer US-Eigenheime, die fol15 Siehe: http://www.wiwo.de/unternehmen-maerkte/risiken-deutscher-banken-bei-816-milli arden-euro-395230/ 16 Siehe: http://www.handelsblatt.com/finanzen/aktienanalysen/merrill-lynch-studie-milliar den-wertberichtigungsbedarf-bei-deutschen-banken;2470428 17 Eingehend zu den Ursachen der Finanzmarktkrise u. a.: Heun JZ 2010, 53 ff; Möllers JZ 2009, 861 ff, 867; siehe auch Schünemann in: Schünemann (Hrsg.) Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010, S. 71 ff (eigener Beitrag mit demselben Titel).

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gende Fakten schlicht übersahen: In der Regel haben solche Häuser eine armselige Bauweise. Es handelt sich meist um Holzhäuser ohne solide Unterkellerung und ohne nennenswerte Isolation von Wänden und Fenstern. Solche einfachen Häuser verrotten sehr schnell, wenn der Eigentümer nicht regelmäßig und gründlich Instandhaltungsarbeiten durchführt. Leider wird jene gründliche Pflege in den USA zu häufig vernachlässigt. Drittens ist der US-Eigenheimerwerber im Gegensatz zur Rechtslage in Deutschland grundsätzlich nicht persönlich für das Darlehen haftbar, das er für den Hauserwerb von seiner Bank erhalten hat: Wenn er das Darlehen nicht zurückzahlen kann, mag er die Hausschlüssel der Bank übergeben und wird von allen finanziellen Verpflichtungen frei. 18 Dieser Mangel an persönlicher Haftung reduziert den realen Wert der fraglichen US-Hypotheken erheblich, zumal es für deutsche Banken sehr schwierig oder de facto sogar unmöglich sein mag, in US-Hypotheken, die in Finanzderivaten verbrieft sind, zu vollstrecken.19 Folglich haben deutsche Banken als Inhaber von Asset Backed Securities auf der Basis minderwertiger US-Hypotheken letztlich als Sicherheit nur den realen Marktwert der Immobilie, der, wie zu erwarten war, in der Zwischenzeit unter anderem aus den vorgenannten Gründen schlicht kollabiert ist. Demgemäß entsprechen Finanzspekulationen durch Bankvorstände, die Milliarden Euro des Geldes der ihnen anvertrauten Bank in toxische US Asset Backed Securities investiert haben, der Sache nach dem „Verzocken“ jener Gelder im Casino.

2. Einige Gründe für solche Finanzspekulationen Diese hochspekulativen Investitionen waren bis zum „Platzen“ der USImmobilienblase unter Investmentbankern weit verbreitet, ja fast schon üblich. Die Täter waren durch kurzfristige hohe Profite, die für sie zu hohen Bonuszahlungen führten, geblendet. Dies mag man als exzessive Habgier ohne jede Rücksichtnahme auf die langfristigen finanziellen Interessen der betroffenen Bank bezeichnen. Insoweit wird man beim besten Willen nicht sagen können, dass die verantwortlichen Bankvorstände „zum Wohle“ der ihnen anvertrauten Bank (§ 93 AktG) gehandelt haben.

18

Lutter ZIP 2009, 198. Inzwischen verlangt eine wachsende Zahl von US-Gerichten die Originalurkunden der Hypothekenbriefe als Grundlage für Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Dazu u. a.: Deutsche Bank Nat’l Trust Co. v. Steele, 2008 WL 111227 (S. D. Ohio). 19

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Dritter Teil: Strafrechtliche Verantwortlichkeit nach deutschem Strafrecht I. Beschränkung auf Untreue (§ 266 StGB) Im Folgenden sollen Straftaten wie Insolvenzverschleppung und Betrug (letzterer durch bösgläubigen Verkauf der fraglichen toxischen Finanzderivate) ausgeklammert werden. Gegenstand unserer Ausführungen ist vielmehr allein das Vermögensdelikt „Untreue“, § 266 StGB.20

II. Auslegung des Untreuetatbestandes 1. § 266 StGB kennt zwei Tatbestandsalternativen (Modalitäten): Die erste ist der Missbrauchstatbestand, die zweite der Treubruchstatbestand. Der Missbrauchstatbestand – Missbrauch der ... Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten – ist gekennzeichnet durch die rechtswirksame Verfügung über fremdes Vermögen bzw. die rechtswirksame Verpflichtung eines anderen, beides jeweils unter Überschreitung der dem Täter im Innenverhältnis zum Vertretenen gezogenen Grenzen seines rechtlichen Dürfens.21 Fallbeispiel: M, Vorstandsvorsitzender einer deutschen Bank, gewährt einen hochriskanten Kredit von drei Millionen Euro. Die Rückzahlung ist wegen ernstlicher Finanzprobleme des Kreditnehmers äußerst zweifelhaft; auch hat dieser keine angemessenen Sicherheiten leisten können. Alternative 1: M handelte bösgläubig, weil er die finanziellen Risiken dieses „faulen Kredits“ kannte. Alternative 2: M handelte ohne ausreichende Informationen über das finanzielle Risiko des Kredits. In beiden Alternativen ist die Kreditgewährung im Außenverhältnis zum Kreditnehmer rechtswirksam, weil M als Vorstandsvorsitzender die Rechtsmacht besaß, die Bank zu verpflichten (rechtliches Können). Jedoch hat M die ihm im Innenverhältnis zur vertretenen Bank gezogenen Grenzen seines rechtlichen Dürfens überschritten: Diese Schranken inter partes ergeben sich aus § 93 Abs. 1 S. 1 und 2 AktG; dort heißt es: „Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Eine 20 Selbstredend dürften im Zusammenhang mit den Finanzspekulationen, die zu der Finanzmarktkrise geführt haben, neben Untreue zum Teil auch Insolvenzdelikte und Betrug begangen worden sein. 21 Dazu Krey/Hellmann BT II Rn. 541, 545, m. w. N.

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Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.22“ Dabei wurde der zitierte Satz 2 im Hinblick auf die US Business Judgement Rule normiert.23 Was die Alternative 1 des Fallbeispiels angeht, ist die Modalität des Missbrauchs der dem Täter eingeräumten Befugnis eindeutig gegeben, da es wegen der Bösgläubigkeit des M an einem „Handeln zum Wohle der Gesellschaft“ fehlte. Indes dürften solche Fälle selten sein; zudem wäre die Bösgläubigkeit des Täters schwer beweisbar. Größere Praxisrelevanz besitzen dagegen Fälle wie der in Alternative 2 geschilderte. Er verdeutlicht den entscheidenden Gesichtspunkt (Topos) für die Differenzierung zwischen legalen unternehmerischen Entscheidungen mit angemessenem Risiko auf der einen Seite und illegalen unternehmerischen Risikogeschäften nach Art eines Hasardeurs („Zocker“) auf der anderen Seite: Die maßgebliche Frage für diese Abgrenzung geht dahin, ob die Geschäftsentscheidung des Vorstandsmitglieds auf der Grundlage angemessener Information erfolgte (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG). Auch die ergänzende Spezialregelung für die Gewährung von Großkrediten (§ 18 Abs. 1 S. 1 Kreditwesengesetz, KWG) stellt auf diesen Aspekt ab: Grundsätzlich sind Banken nur dann befugt, Großkredite zu gewähren, wenn der Kreditnehmer seine wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegt, insbesondere durch Vorlage der Jahresabschlüsse. Die Business Judgment Rule, die das deutsche Aktiengesetz in § 93 Abs. 1 S. 2 anerkannt hat, gewährleistet also in ihrem Kern nur dann den Ausschluss zivilrechtlicher und strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern, wenn diese unternehmerische Entscheidungen auf der Grundlage angemessener Information getroffen haben. Um dem zu genügen, ist zweierlei nötig: Gründliche Recherchen und hinreichende Überprüfung der einschlägigen Informationen. Werden diese Pflichten vernachlässigt, gleicht die unternehmerische Entscheidung als unverantwortliches Risikogeschäft dem Verspielen von Geldern der anvertrauten Bank. 2. Außer dem erwähnten Missbrauch der dem Täter eingeräumten Verfügungs- bzw. Verpflichtungsbefugnis ist weiterhin eine spezifische Vermögensbetreuungspflicht erforderlich: Wie der Treubruchstatbestand verlangt 22 23

Hervorhebung vom Verf. Siehe Bosch/Lange JZ 2009, 225, 229; GK-AktG-Hopt/Roth § 93 Rn. 25.

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nach herrschender und zutreffender Auffassung auch der Missbrauchstatbestand die Verletzung der Pflicht, „fremde Vermögensinteressen zu betreuen“.24 Bei Vorstandsmitgliedern, die für die anvertraute Aktiengesellschaft unternehmerische Entscheidungen treffen, ist jenes Element unproblematisch. 3. Der objektive Tatbestand der Untreue verlangt weiterhin einen Nachteil, verstanden als Vermögensschaden, bei dem, dessen Vermögensinteressen der Täter zu betreuen hat, bei Bankvorständen als Täter also einen Vermögensschaden der ihnen anvertrauten Bank. Bis vor kurzem haben Rechtsprechung und herrschende Lehre für diesen Schaden eine konkrete Vermögensgefährdung ausreichen lassen. Ob (und gegebenenfalls wie weit) diese Extension des Tatbestandes erlaubte Gesetzesauslegung oder durch Art. 103 Abs. 2 GG verbotene Analogie darstellt,25 mag hier dahinstehen. Denn in Fällen der Gewährung fauler Großkredite bzw. in Fällen der Spekulation mit toxischen Finanzderivaten in erheblichem Umfang ist aus den folgenden Gründen ein realer Vermögensschaden der betroffenen Bank und nicht nur eine konkrete Vermögensgefährdung anzunehmen: Nach der neuesten Rechtsprechung des BGH ergibt sich der reale Vermögensschaden bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise nach bilanziellen Grundsätzen.26 Für faule Kredite mit hohem Ausfallrisiko bzw. toxischen Asset Backed Securities auf der Basis minderwertiger US-Hypotheken ist eine Wertberichtigung auf der Aktivseite nach deutschem Handelsrecht vorgeschrieben. Aus faktischer (ökonomischer) und rechtlicher Sicht begründet eine solche Wertberichtigung einen realen Vermögensschaden gemäß der Differenz zwischen dem Nennwert des fraglichen Kredits bzw. Finanzderivats auf der einen Seite und dem nach unten wertberichtigten Betrag auf der anderen Seite: Erhebliche Reduzierungen auf der Aktivseite bedeuten ipso iure einen erheblichen Wertverlust des Vermögens der betroffenen Bank. 4. Was den erforderlichen Vorsatz als subjektives Tatbestandsmerkmal angeht, ist bekanntlich dolus eventualis ausreichend.27 Nach gängiger Definition bedeutet Vorsatz Handeln mit Wissen und Wollen.28 Dabei ist dolus eventualis dann anzunehmen, wenn der Täter ernstlich damit rechnet, dass

24

Nachweise bei Krey/Hellmann BT II Rn. 541-543. Für grundsätzliche Vereinbarkeit mit dem Analogieverbot unter engen Voraussetzungen BVerfG NStZ 2009, 560; abweichend neuerdings u. a. BGHSt 53, 199 (203, 204, Rn. 15, 16). 26 Siehe BGHSt 53, 199 (202, 203, Rn. 13); BGH vom 13.08.2009 – 3 StR 576/08 –, Rn. 25, 45, 46. 27 Hierzu eingehend und m. w. N.: Krey AT I Rn. 331, 336, 337, 346-364. 28 Krey AT I Rn. 336, 358 m. w. N.; Roxin AT I § 10 Rn. 62. 25

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sein Verhalten den objektiven Tatbestand des fraglichen Delikts erfüllen könnte, und sich hiermit abfindet.29 Ein solches Sich-Abfinden ist anzunehmen, wenn dem Täter der drohende Erfolg (genauer: die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes) entweder gleichgültig ist oder wenn er um jeden Preis sein Ziel verfolgen wollte, auch um den Preis des Eintritts jenes Erfolges. 30 Demgemäß ist der dolus eventualis des deutschen Strafrechts gewissermaßen zwischen den anglo-amerikanischen Rechtsbegriffen „recklessness“ und „intent“ angesiedelt.31 Jedoch sei eingeräumt, dass die Wollenskomponente des dolus eventualis in der Regel zu bejahen ist, wenn die Wissenskomponente vorliegt, sodass letztere im Wesentlichen maßgeblich ist;32 insoweit sind „recklessness“ und dolus eventualis faktisch nicht weit voneinander entfernt.

III. Hochspekulativer Ankauf von toxischen Finanzderivaten als Untreue 1. Die Subsumtion solcher Fälle des „Verzockens“ des Geldes der anvertrauten Bank unter das Tatbestandsmerkmal „Missbrauch der Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten,“ ist offensichtlich, weil das betreffende Mitglied des Vorstandes der Bank als Täter nicht auf der Grundlage angemessener Informationen gehandelt hat. Im Übrigen fehlt es auch am Handeln zum Wohle der Bank. Kein deutscher Bankvorstand, der solche Finanzderivate in erheblichem Umfang angekauft hat, durfte darauf vertrauen, ausreichend über die Risiken informiert zu sein, da auch die involvierten Ratingagenturen, selbst USAgenturen, nicht in der Lage waren, die Risiken der betreffenden Wertpapiere zu überblicken und angemessen einzuschätzen: Die Bewertung von minderwertigen US-Hypotheken auf Eigenheime war nicht Teil der typischen Geschäfte der Ratingagenturen und daher nicht von ihrem know-how

29

Dazu m. w. N.: Krey AT I Rn. 346 ff, 349, 353, 358 ff; Roxin AT I § 12 Rn. 6, 22 ff, 27. So m. w. N.: Krey AT I Rn. 364; Roxin AT I § 12 Rn. 30, 37, 40 (zum Fall der Gleichgültigkeit). 31 Dazu gründlich und detailliert: Wever Fahrlässigkeit und Vertrauen im Rahmen der arbeitsteiligen Medizin. Vergleichende Betrachtungen zum materiellen Strafrecht … in Deutschland und im anglo-amerikanischen Rechtskreis, 2005, S. 121-139 mit Nachweisen zum angloamerikanischen Recht. 32 Krey AT I Rn. 359. 30

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getragen33 – ganz zu schweigen von der Frage ihrer Vertrauenswürdigkeit wegen der starken Abhängigkeit von den Großbanken34. 2. Auch die von § 266 StGB geforderte Vermögensbetreuungspflicht ist zu bejahen.35 3. Der Vermögensschaden der betroffenen Bank resultiert aus der angesprochenen Rechtspflicht, bei „faulen Krediten“ und in gleicher Weise bei toxischen Finanzderivaten eine Wertberichtigung auf der Aktivseite der Bilanz vorzunehmen;36 dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Wertberichtigung in erheblichem Umfang geboten ist. 4. Wenigstens in Fällen, in denen der Umfang der Spekulationen durch Ankauf toxischer Derivate die Existenz der Bank bedroht, ist der erforderliche Vorsatz typischerweise gegeben. Spätestens bei den seit Anfang 2008 begangenen Taten sollten das Wissens- und Wollenselement des Vorsatzes beweisbar sein: a) Einerseits wussten die verantwortlichen Bankvorstände, bzw. rechneten damit, dass der Erwerb solcher Finanzderivate nicht auf Grundlage angemessener Information erfolgte. Demgemäß geht eine typische „Entschuldigung“ mancher Täter dahin: „Wir wussten nicht, was wir gekauft haben.“ Dies ist freilich keine gute „Entschuldigung“, weil sie gerade den Vorsatz offenlegt. Andere Täter versuchen, sich damit zu entlasten, sie hätten blind auf die Ratingagenturen vertraut. Wie ausgeführt, kann ein solches Vertrauen alleine nicht den Verzicht auf unabhängige und gründliche Recherche und hinreichende Überprüfung der einschlägigen Informationen kompensieren. Diese Einsicht wird von deutschen Staatsanwaltschaften weitgehend vernachlässigt: Nach den Informationen des Verfassers wird durch die zuständigen Staatsanwaltschaften das (blinde) Vertrauen in die Bewertung der fraglichen toxischen US-Finanzderivate weitgehend akzeptiert und demgemäß der Vorsatz, das Vermögen der anvertrauten Bank zu schädigen, verneint.37 Dieser Standpunkt führt jedoch nicht zu einer sachgerechten Lösung, und zwar auf Grund der oben angesprochenen schon seinerzeit offensichtlichen Zweifel an der Seriosität der Bewertung jener Wertpapiere durch die Ratin-

33

Lutter ZIP 2009, 198. Lutter ZIP 2009, 198; Möllers JZ 2009, 861, 862 f, 865, spricht überzeugend von „Auftragsrating” (solicited rating). 35 Siehe oben, Dritter Teil, II, 2. 36 Siehe oben, Dritter Teil, II, 3 i. V.m. Fn. 26. 37 Dazu schon oben, Erster Teil, II a. E. 34

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gagenturen (ihr fehlendes know-how38 sowie ihre mangelnde Unabhängigkeit39). Demgemäß trifft die Ratingagenturen ein massives Mitverschulden an der Finanzmarktkrise;40 ihre unverantwortlichen Höchstbewertungen der fraglichen Finanzderivate, die erst im Verlauf der Krise und auch dann nur zögerlich Schritt für Schritt nach unten korrigiert wurden, sind aber kein Grund, die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bankvorstände für das „Verzocken“ der Gelder der anvertrauten Banken zu verneinen. b) Andererseits ist auch das Wollenselement des Vorsatzes gegeben. Das für den dolus eventualis erforderliche Sich-Abfinden mit dem drohenden Erfolgseintritt (hier: Eintritt eines außerordentlich großen Vermögensschaden der betroffenen Bank) ist anzunehmen, wenn dem Täter jener Erfolg entweder gleichgültig war oder wenn er um jeden Preis spekulieren wollte. In beiden Szenarien ging es den verantwortlichen Vorständen allein um kurzfristige hohe Profite als Basis für ganz erstaunlich hohe Bonuszahlungen, und zwar ohne jede Rücksichtnahme auf die (längerfristigen) Risiken für die anvertraute Bank. Diese Attitüde dürfte beweisbar sein.

Ausblick Es muss Strafverfahren gegen die verantwortlichen Bankvorstände wegen des Ankaufs toxischer Finanzderivate geben; dies jedenfalls bei massiven Vermögensschäden.41 Allerdings sollte man, wie schon eingangs betont, auf drakonische Strafen verzichten, d. h. auf lange Freiheitsstrafen. Vielmehr dürften Freiheitsstrafen zur Bewährung, gegebenenfalls i. V. m. der Auflage zur Zahlung erheblicher Beträge an den Staat (§ 56 b Abs. 2 Nr. 2 StGB),

38

Siehe oben, Dritter Teil, III, 1. Oben, Dritter Teil, III, 1 mit Fn. 34; ergänzend Lüderssen StV 2009, 486, 492. 40 Dazu für alle Möllers JZ 2009, 861-864. 41 Wie hier jetzt im Ergebnis und in der Begründung weitgehend übereinstimmend Schünemann (Fn. 17) S. 84 ff. Abweichend Lüderssen StV 2009, 486 ff. (u.a. 487 und 494). Nach seiner Ansicht sollen sowohl die rechtlichen als auch die ökonomischen Probleme der Finanzmarktkrise absolut ungeklärt sein; demgemäß sollten sich die Strafgerichte zurückhalten. Jedoch ist dieser Standpunkt, wie sich aus dem vorliegenden Beitrag von Verf. ergibt, nicht überzeugend: Die ökonomischen Probleme sind keineswegs völlig ungeklärt (siehe u. a. oben, Fn. 17), und die Klärung ungeklärter Rechtsfragen ist gerade eine der vornehmsten Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt. Die strafrechtliche Kapitulation vor den Akteuren der Finanzmarktkrise ist daher keine vertretbare Option. 39

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oder Geldstrafen, gegebenenfalls bis zur Höhe von mehreren Millionen Euro, ausreichen. Selbst eine Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 a StPO gegen die Auflage der Zahlung erheblicher Geldbeträge (auch hier, wenn geboten, in Millionenhöhe) dürfte in manchen Fällen angemessen sein. Entscheidend ist letztlich, dass bereits die Einleitung und energische Durchführung strafprozessualer Ermittlungen das Vertrauen der Bürger in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und damit ihre Rechtstreue stärken würde, während drakonische Strafen schädlich für die Nationalökonomie im Allgemeinen und für Deutschland als Wirtschaftsstandort im Besonderen wären. Der Verzicht auf Strafverfolgung selbst in schwerwiegenden Fällen des hochspekulativen Ankaufs von Asset Backed Securities auf der Basis minderwertiger US-Hypotheken würde dagegen ein gefährliches Signal an die investment banking industry senden ... Demgemäß ist es nach Ansicht von Verf. und seiner Mitarbeiter begrüßenswert, dass die zuständige Staatsanwaltschaft kürzlich eine große Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktion im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen die verantwortlichen Vorstandsmitglieder der Landesbank Baden-Württemberg (die größte der deutschen Landesbanken) durchgeführt und dabei selbst die Privatwohnungen der Beschuldigten einbezogen hat.42 Darüber hinaus ist, u. a. aufgrund der erwähnten Strafanzeige von Gerhard Strate gegen verantwortliche Vorstandsmitglieder der HSH Nordbank,43 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Untreue im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise im Mai 2010 eine Durchsuchungsaktion in den Geschäftsräumen der Bank sowie in Privatwohnungen der Beschuldigten erfolgt.44

42

http://www.sueddeutsche.de/finanzen/501/496813/text/ Oben, Erster Teil, I (bei Fn. 7). 44 http://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/article1509307/Razzia-bei-HSH-Nord bank-Verdacht-auf-Untreue.html 43

Der staatliche Ankauf von strafbar erlangten Steuer-Daten deutscher Steuerhinterzieher GÜNTER HEINE

I. Einleitung Globalisierung der Gesellschaften zeigt mit schonungsloser Offenheit Unterschiede in den rechtskulturellen Werten. Was vormals akzeptierte Eigenart des Nachbarn oder noch hinnehmbares Ärgernis war (Steuerhinterziehung als de-kriminalisierte Übertretung und Ausschluss von Amts- und Rechtshilfe), gerät im Zuge grenzenloser Mobilität, E-Banking und vielleicht der „Gier“ oder fehlender Steuermoral bestimmter Kreise vor dem Hintergrund leerer Staatssäckel leicht zum Krisenpunkt, so wenn Strafverfolgungsbehörden Deutschlands von Privatpersonen angebotene Daten über deutsche Kunden Schweizer Banken, die zuvor illegal kopiert wurden, mit Rückendeckung von Ministerien ankaufen, um deutscher Steuersünder habhaft zu werden. Basta-Politik nach dem Motto: „Ein besseres Geschäft (zig - Millionen Steuernachzahlungen) als mit dem Ankauf von Steuer-CDs (4 Mio. Euro) ist in einem Menschenleben nicht zu machen“ wird gesellschaftsfähig und setzt neuartige Wertakzente. Strafrecht gerät dabei unversehens zum Spielball der Innen- und Aussenpolitik. Zur Legitimation des Ankaufs sind hochkarätig erscheinende Erhaltungsinteressen1 wohlfeil, oder es wird beschwichtigend auf eine allgemeine Praxis der Staaten verwiesen, sachdienliche Informationen zur Ermittlung oder Ergreifung Tatverdächtiger anzukaufen2 – Stichworte seien V-Leute, Spitzel, Kronzeugen und agent provocateurs. Solch problematische Rechtfertigung wird im Ausland mit Sorge beäugt, steht doch zu befürchten, dass die Meinung der deutschen Bundesregierung – in den Worten des Bundesstrafgerichts der Schweiz –, „zweifelhafte Vorgehensweisen wie der Kauf strafbar erlangter Daten“ seien „mittels der

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Pauschal das „Allgemeininteresse“ oder konkreter die „Wiederherstellung der gesellschaftlichen Steuersolidarität“ oder der „präventive Schutz des deutschen Steueraufkommens“ (Ambos Datev Magazin 2/2010, 44). S. dazu unten bei Fn. 71 ff. 2 Stratenwerth/Wohlers ZStrR 128 (2010), II. 3.

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(nationalen) Steuergerechtigkeit zu rechtfertigen“, zu einem völkerrechtlichen Persilschein führte.3 Deshalb lohnt es sich, den Datenankauf, mutmaßliche Steuerhinterzieher betreffend, durch deutsche Behörden und seine Rechtmässigkeit/Rechtswidrigkeit in den Mittelpunkt unserer Untersuchung zu stellen. Dabei ist der Gegenstand – anders als manch schnelle Meinung suggeriert – nicht auf das deutsche Strafrecht im engeren Sinne beschränkt. Vielmehr sind auch Fragen des Internationalen Strafrechts (§§ 3-9 StGB) aufzuwerfen und zudem rechtsvergleichende Betrachtungen, ebenso prozessuale, vonnöten. Auf diese Querschnittsfragestellung so eingestellt, wird versucht, den geneigten Leser gelegentlich über unwegsames Gelände zu führen. Im Ersten Teil geht es um schweizerische Straftaten, soweit dies für die Untersuchung notwendig ist. Im Zweiten Teil steht im Mittelpunkt der Straftatbestand des sog. Geheimnisverrats (§ 17 Abs. 2 UWG).

II. Die Datenentwendung und die Weitergabe nach Schweizer Strafrecht 1. Straftatbestände zum Schutz von Geheimnissen Der erste Gedanke gilt in der Schweiz natürlich Art. 47 BankG (Bankgeheimnis) und weiteren Tatbeständen zum Schutz vor Geheimnisverrat. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 2009 hat der Schweizer Gesetzgeber den strafrechtlichen Schutz des Bankgeheimnisses ausgebaut und die Rechtsfolgen verschärft (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bis max. 1.080 Mio. Franken, im Fahrlässigkeitsfalle Buße bis zu 250.000 Franken). Weiter war 1984 eine Volksabstimmung über die Volksinitiative „Gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht“ vom Schweizer Stimmbürger klar verworfen worden.4 Mittels direkter Auskunftspflicht der Banken gegenüber den Steuerbehörden sollte zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung die internationale Solidarität verstärkt und

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Bundesstrafgericht v. 15. April 2010, RR. 2010.9, Erw. 5.2. In casu ging es um die Frage der Zulassung deutscher Steuerfahnder auf schweizerischem Terrain bei der Sichtung von Dokumenten mit fiskalischem Hintergrund (Umsatzsteuerhinterziehung) und die Frage, ob eine schriftliche Erklärung der ausländischen Beamten, bestimmte Erkenntnisse nur im Rahmen des Umfangs von der Schweiz gewährter Rechtshilfe zu verwenden, dem Betroffenen ausreichend Schutz gewährt. Trotz „gewisser Bedenken“ erkannte das BStGer dem Schriftstück den Charakter einer „geeigneten Vorkehr“ zu. 4 S. Bundesratsbeschluss v. 3. Juli 1984, BBl. 1984 II S. 588.

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verhindert werden, dass „die Schweiz ein Hort schmutziger ausländischer Gelder wird.“5 Art. 47 BankG ist unter zwei Aspekten von Bedeutung: Primär schützt Art. 47 BankG vertrauliche Tatsachen der Bankkunden. Unter den Schutzbereich des Bankkundengeheimnisses fällt aber zugleich ein Geheimnis im Geschäftsbetrieb des Geldinstituts.6 Die besondere Tätereigenschaft dürfte unproblematisch vorliegen, zumal hier sogar der Putzfrau bei Auffinden von vertraulichen Dokumenten diese Sondereigenschaft zugewiesen werden kann.7 Wie umfassend die Schweiz das Bankgeheimnis strafrechtlich abgesichert hat, zeigt sich zudem daran, dass sich die Strafbarkeit sogar auf die Offenbarung „nach Beendigung des amtlichen oder dienstlichen Verhältnisses oder der Berufsausübung“ erstreckt (Art. 47 Abs. 4 BankG). Trotz dieses zeitlosen Schutzes könnte allerdings problematisch sein, ob das „Offenbaren“ des Bankgeheimnisses überhaupt in die Zuständigkeit der schweizerischen Strafgewalt fällt. Voraussetzung für das Offenbaren ist die Ermöglichung des Zugangs durch einen Unberechtigten.8 Soweit dieses Zugänglichmachen gegenüber den deutschen Strafverfolgungsbehörden auf deutschem Terrain erfolgte, ist diese Auslandstat straflos. Denn die wohl h. M. begreift Art. 47 BankG als schlichtes Tätigkeitsdelikt, weshalb es an einem Erfolg in der Schweiz im Sinne von Art. 8 StGB mangelt.9 In jedem Fall sind aber in der Schweiz durchgeführte Verhandlungen, auch telefonisch, über den „Deal“ als Versuch von Art. 47 BankG strafbar. Wenige Zweifel bestehen auch, dass Art. 6 i. V. m. Art. 23 UWG (Verletzung von Fabrikations- und Geschäftsgeheimnissen) gegeben ist. Sofern sich der Täter den Zugriff auf die Daten erst unberechtigterweise verschafft 5 Botschaft über die Volksinitiative „Gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht“ v. 18. August 1982 (sog. Bankeninitiative), BBl. 1982 II S. 519. – Zur Frage der Strafbarkeit Schweizer Bankiers im Vorfeld der Datenentwendung wegen § 370 AO Deutschland s. Heine Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 2010/11, 527 f; vgl. auch Winzeler AJP 2010, 161 zu den Sorgfaltspflichten der Banken. 6 Vgl. Heine in: Emmenegger (Hrsg.), Cross-Border Banking, 2009, S. 176 f; Eicker Jusletter v. 30. August 2010, 3; vgl. Kleiner/Schwob/Winzeler Kommentar BankG, 2009, Art. 47 Rn. 373, aber auch Rn. 1. 7 Vgl. Kleiner/Schwob/Winzeler Kommentar BankG, 2009, Art. 47 Rn. 360; s. aber auch (zu Recht krit.) Stratenwerth in: Watter/Vogt/Bauer/Winzeler (Hrsg.), Bankengesetz, 2005, Art. 47 Rn. 7. 8 Stratenwerth in: Watter/Vogt/Bauer/Winzeler (Hrsg.), Bankengesetz, 2005, Art. 47 Rn. 15; vgl. Trechsel/Vest PK StGB, 2008, Art. 321 Rn. 23. 9 S. Schultz ZStrR 100 (1982), 12 f; Schmid Schweiz. Insiderstrafrecht, 1988, S. 193; Stratenwerth in: Watter/Vogt/Bauer/Winzeler (Hrsg.), Bankengesetz, 2005, Art. 47 Rn. 15; vgl. BGE 105 IV 328, 109 IV 7; and. Bezirksgericht Zürich v. 19. Januar 2011 (Fall Elmer), Kleiner/Schwob/Winzeler Kommentar BankG, 2009, Art. 47 Rn. 373. Es geht um die bekannte Streitfrage, ob ein zum Tatbestand nicht gehörender Erfolg nationale Strafgewalt auslösen kann.

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hat, so hat er sie „ausgekundschaftet“.10 Weiter ist naheliegend, dass die Praxis den Fall, dass der Berechtigte Zugriff auf die Daten hatte, diese aber illegal kopierte, unter die Generalklausel des „sonst wie unrechtmäßig erfahren“ subsumiert. Denn die Umwandlung von berechtigtem Wissen in unberechtigtes Wissen erscheint nach Sinn und Zweck des Art. 6 UWG gleichwertig.11 Im Übrigen sind weitere, aus deutscher Perspektive auf den ersten Blick fast archaisch, jedenfalls übersteigert etatistisch anmutende Straftatbestände erfüllt. Dies gilt für den wirtschaftlichen Nachrichtendienst (Art. 273 StGB). Der Schutz der schweizerischen Gebietshoheit und die Abwehr von Spitzeltätigkeit werden berührt durch die Weitergabe der CD mit den Kundendaten an Vertreter eines fremden Staates.12 Weiter ist einschlägig Art. 271 StGB (verbotene Handlungen für einen fremden Staat). Sofern der Vorgang des Ankaufs der Steuer-CD im Auftrag Deutschlands in der Schweiz erfolgte, erfüllt der Vertreter der deutschen Strafverfolgungsbehörden diesen Straftatbestand, der Datenverkäufer leistet hierzu Vorschub. Da die Ausübung fremder Staatsgewalt auf schweizerischem Boden verhindert werden soll,13 sind Tathandlungen in Deutschland straffrei. Beide Straftatbestände sind wegen des ausschließlichen Inlandsschutzes für das deutsche Strafrecht bedeutungslos.

2. Vermögensdelikte Vermögensdelikte sind dagegen nicht tatbestandsmäßig. Bei Diebstahl (Art. 139 StGB) fehlt es an einem tauglichen Tatobjekt, Daten sind keine körperliche Sache. Art. 143 StGB (Unbefugte Datenbeschaffung) ist infolge des Fehlens einer besonderen Sicherung nicht einschlägig.14

10 Baudenbacher/Glöckner Lauterkeitsrecht, 2001, S. 769; Eicker Jusletter v. 30. August 2010, 4. 11 Baudenbacher/Glöckner Lauterkeitsrecht, 2001, S. 769; vgl. BGE 80 IV 32. Verkannt von Ostendorf ZIS 2010, 303. 12 Näher Heine ASA 2010/11, 528 f. – Zur bemerkenswerten Parallele in § 17 Abs. 2 UWG Deutschland s. BT-Drs. 10/5058 S. 40. 13 S. Stratenwerth/Bommer Strafrecht BT II § 45 Rn. 14; Donatsch/Wohlers Strafrecht IV, 2004, § 62 1.2. 14 Näher Heine ASA 2010/11, 530.

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III. Die Datenentwendung und die Weitergabe nach deutschem Strafrecht 1. Vermögensdelikte: nicht einschlägig Sogar in seriösen Zeitungen ist es beliebt, den Datenankauf als „Daten“Hehlerei zu bezeichnen. Hehlerei setzt aber nach dem übereinstimmenden Recht Deutschlands und der Schweiz den Besitz einer Sache voraus. Hier gilt gleiches wie bei Diebstahl: Daten als gleichsam geistigen Werken fehlt es an der für eine Sache notwendigen „Körperlichkeit“.15 Und um den rechtswidrigen Besitz der CD, also des greifbaren Gegenstandes „Scheibe als solcher“, kann es ja nicht ernsthaft gehen.

2. Zentraltatbestand: Geheimnishehlerei § 17 Abs. 2 UWG Demgegenüber kennt das Nebenstrafrecht einen Straftatbestand, der strukturähnlich zur Hehlerei ausgestaltet ist und demgemäß auch als „Geheimnishehlerei“ bezeichnet wird:16 § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG stellt denjenigen unter Strafe (Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren), der ein Wirtschaftsgeheimnis unbefugt verwertet, das er sich unbefugt verschafft hat. Wegen seiner Platzierung im Nebenstrafrecht, folglich nicht gerade Lieblingskind wissenschaftlicher Zuwendung, und in casu der Verflochtenheit mit Fragen der §§ 3-9, mag hier Verwirrung ob seiner Einschlägigkeit entstanden sein. Deshalb ist vertiefte Analyse geboten. § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG, so wird behauptet,17 gewähre nur Inlandsschutz. Zwar wird in allgemeinen Bezügen des UWG von der Rechtsprechung18 gelegentlich erwogen, einen Auslandsschutz im UWG deshalb abzulehnen, weil es deutschen Unternehmen nicht „zuzumuten sei“, im Ausland strengeren als den deutschen Wettbewerbsregeln unterworfen zu sein. Diese im Zusammenhang mit Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr stehende Rechtsauffassung (die sich nach der Reform von § 299 Abs. 3 StGB ohnehin erledigt hat) kann hier aber dahinstehen. Denn ausschlaggebend ist, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Abkommen) vom 15.4.1994 verpflichtet hat, vor deutschen Gerichten auch Wirtschaftsgeheimnissen von ausländischen Berechtigten strafrechtlichen Schutz zu verleihen. Denn die Mitglieder 15

S. nur Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 259 Rn. 4. GK-Otto UWG 1991 § 17 Rn. 83; Piper/Ohly/Sosnitza-Ohly UWG § 17 Rn. 20; Wittig Wirtschaftsstrafrecht, 2010, § 33 Rn. 26. 17 Samson/Langrock wistra 2010, 203. 18 BGH NJW 2009, 89. Dazu Schönke/Schröder-Heine § 299 Rn. 2 m. w. N. 16

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dieses TRIPS-Abkommens „gewähren die in diesem Übereinkommen festgelegte Behandlung den Angehörigen der anderen Mitglieder“ (Art. 1 Abs. 3 S. 1 TRIPS), und zwar im gleichen Umfang wie den inländischen Wirtschaftsgeheimnissen. Zu diesen Mitgliedern des TRIPSAbkommens gehört auch die Schweiz.19 Dem steht nicht entgegen, dass Art. 61 S. 3 TRIPS im Hinblick auf strafrechtlichen Schutz fakultativen Charakter hat. Ähnlich wie bei anderen völkerrechtlichen Konstellationen20 würde es innerstaatlich zu erheblichen Verwerfungen kommen, wäre der Schutz auf zivilrechtliche Rechtsbehelfe beschränkt – der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung21 gebietet hier ein Gleichziehen für das Strafrecht. Folglich mag das UWG in allgemeinen Bezügen nur inländische Wettbewerbsinteressen schützen, jedenfalls dem § 17 UWG unterfallen auch Wirtschaftsgeheimnisse von ausländischen Unternehmen. Völkerrecht und innerstaatliche Prinzipien lassen keinen Spielraum zu. Zweifelhaft könnte jedoch sein, ob Kundendaten als Geheimnis des Unternehmens geschützt sind. Weit verbreitet ist der Eindruck, in Deutschland seien Bankdaten bar jeglichen Schutzes, ein Bankgeheimnis sei ein bloßer Mythos. Zwar sind in der Tat – anders als in Art. 47 BankG Schweiz – nach BGH diese Daten nicht zugunsten der Bankkunden geschützt.22 Soweit die Kunden unternehmerisch und im Wettbewerb tätig sind und die Bankdaten dazu Rückschlüsse erlauben, fehlt es an originärem strafrechtlichem Schutz – ein Bankkundengeheimnis existiert nur vermittelt. Folglich können diese Bankkundendaten tatbestandliche Relevanz nur als Geheimnis des Unternehmens, also der Bank (Bankgeheimnis)23 erlangen. Der Geheimnisbegriff des § 17 UWG wird maßgeblich durch die Wettbewerbsfähigkeit und das Ansehen des Unternehmens definiert. Bei den hier in Rede stehenden Bankdaten liegen alle vom Gesetz verlangten Geheimniskriterien vor, wie insbesondere Geheimhaltungsinteresse und -wille (der schweizerischen Bank), da die Aufdeckung der Daten geeignet wäre, dem 19

In der Schweiz in Kraft getreten am 1. Juli 1995, zu Deutschland s. BGBl. 1994 II S. 1730. 20 S. etwa zum internationalen Abfallstrafrecht Heine in: Hecker/Heine/Risch/Windolph/ Hühner, Abfallwirtschaftskriminalität usw., 2008, S. 251 ff. 21 Im Ergebnis ebenso MüKo-Brammsen Lauterkeitsrecht Vorbem. 11 vor § 17 UWG („strafrechtlicher Mindeststandard“). Vgl. MüKo-Janssen/Maluga Nebenstrafrecht II, 2010, § 17 Rn. 16. 22 BGH NJW 2007, 2107; vgl. Achenbach NStZ 2007, 568; and. Tiedemann FS Kohlmann, 2003, 311; ders. Wirtschaftsstrafrecht BT Rn. 237, 302 u. ZIP 2004, 296, ihm folgend FezerRengier UWG § 17 Rn. 24. 23 H. M., z. B. BGH NJW 2007, 2107; Tiedemann FS Kohlmann, 2003, 311. Demgegenüber fehlt § 17 UWG im Überblick von Kretschmer wistra 2009, 180 ff.

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Unternehmen (schweizerische Bank) materiellen oder immateriellen Schaden zuzufügen – wobei unerheblich ist, ob ein Verlust an Ansehen und Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich eintritt.24 Es geht im Kontext von § 17 UWG um die Wahrung des Geheimnisses gegenüber der Konkurrenz, also anderen Banken. Informationen über die Provenienz angelegten Kapitals, das mutmaßlich aus Straftaten herrührt und deshalb einziehungsfähig ist, kann die Wettbewerbsposition anderer Kreditinstitute stärken. Vor allem aber besteht die Gefahr, dass die Wettbewerbsposition der von dem Datenklau betroffenen Bank durch Reputationsverlust längerfristig gravierenden Schaden erleidet. Als Folge davon ist Kapitalabzug zu erwarten – wie er dann bekanntermaßen auch erfolgte. Folglich besteht ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse an Geheimhaltung. Der Umstand schließlich, dass es aus deutscher Sicht um möglicherweise rechtswidrige Geheimnisse geht, nämlich solche mutmaßlicher Steuerhinterzieher, ändert nach h. M. an der Schutzwürdigkeit des Geheimnisses keinen Deut!25 Die Gegenmeinung stellt – gelegentlich unter nicht einschlägiger Berufung auf eine Entscheidung des Reichsarbeitsgerichts zur Milchpanscherei26 – darauf ab, dass der Schutz illegaler Geheimnisse dazu führe, einen wettbewerbswidrigen Zustand zu stabilisieren. Indes spricht die wirtschaftliche und insoweit vermögensrechtliche Ausrichtung der Vorschrift im Grundsatz für den Schutz illegaler Geheimnisse. Denn das Strafrecht versagt seinen Schutz generell nicht Personen, die rechtswidrige Vorteile erlangt haben. So ist bekanntlich sogar der Dieb gegen den Diebstahl der rechtswidrig weggenommenen Sache geschützt. Hinzu kommt, dass Privaten keine Entscheidungsmacht bei der Typisierung des verbotenen Verhaltens einzuräumen ist, will man nicht dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ Tür und Tor öffnen.27 Sedes materiae für diese Fragen ist die Rechtfertigung im Einzelfall („unbefugt“).28 Ungeachtet dessen ist zu beachten, dass die Kontodaten als solche nicht illegal waren. Lediglich ihre Verheimlichung durch die deutschen Kontoinhaber gegenüber den deutschen Finanzbehörden verstieß gegen § 90 Abs. 2 AO. Für diesen Gesetzesverstoß hat die durch § 17 UWG ge-

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BGHSt 41, 142 f. S. z. B. MüKo-Brammsen Art. 17 Rn. 22; Beckemper/Müller ZIS 2010, 109 f; GK-Otto UWG § 17 Rn. 16; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 21; Köhler/Bornkamm-Köhler UWG § 17 Rn. 9; vgl. Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele § 203 Rn. 7; Müller-Gugenberger/BieneckDittrich Wirtschaftsstrafrecht § 33 Rn. 51; Wabnitz/Janovsky-Möhrenschlager Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts Kap. 13 Rn. 10; Wittig Wirtschaftsstrafrecht § 33 Rn. 43. 26 RAG JW 1931, 490 f. 27 So aber Anthes JW 1931, 491, linke Spalte. 28 Vgl. RAG JW 1931, 490 f; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 21, 45 ff, 62 m. w. N. 25

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schützte Bank im Prinzip nicht einzustehen.29 Anderes würde dann gelten, wenn sich die Bank als solche, als Unternehmen, wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung „strafbar“ gemacht hätte (s. dazu §§ 30, 130 OWiG). Ist aber der Tatbestand nicht deshalb teleologisch zu reduzieren, weil ein verbotener „ungehinderter Zugang zum Ertragspotential unternehmensbezogener Wissensinhalte“30 gerade bei der Übergabe an Strafverfolgungsorgane, also nicht an Mitbewerber, ausgeschlossen erscheint, die Gefahr staatlich geradezu abgeschirmt wird? Im Allgemeinen wird diese Frage durchaus zu bejahen sein. Wie so oft, belehrt uns die Praxis aber in unseren Bezügen eines besseren. Der Fall Zumwinkel mit der behördlich initiierten und gesteuerten Öffentlichkeit31 darf als Menetekel gelten. Im Zusammenhang mit Schwarzgeld bei Schweizer und anderen Banken und der Überführung deutscher Steuerhinterzieher wird das Strafverfahren in den Dienst von generalpräventiven Strafzwecken gestellt. § 17 Abs. 2 UWG erfasst als abstraktes Gefährdungsdelikt mühelos diese Gefahren für den Wettbewerb. Auch die sonstigen Voraussetzungen des Tatbestandes liegen vor: Der Datenverkäufer (oder ein „Vorbesitzer“) ist oder war zum Zeitpunkt der Datenverschaffung bei der Bank beschäftigt, erfüllt somit die Sonderpflicht des § 17 Abs. 1 UWG. Er hat das Wirtschaftsgeheimnis „während der Geltungsdauer des Dienstverhältnisses“ unbefugt erlangt. Dies dürfte durch das Kopieren der Daten auf eine CD ohne den Willen der Berechtigten geschehen sein (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 lit. b UWG). Ein unbefugtes Sichverschaffen liegt aber auch dann vor, wenn der Datenverkäufer die Daten zunächst berechtigt, weil zum Umgang für innerbetriebliche Zwecke, erlangte. Denn die Umwandlung von rechtmäßigem Fremdbesitz in unrechtmäßigen Eigenbesitz erfüllt die Voraussetzungen eines vortatmäßigen unbefugten Sichverschaffens jedenfalls dann, wenn jene Transformation objektivierbar ist.32 Es geht bei § 17 Abs. 2 UWG ja darum zu verhindern, dass ein ausgeschiedener Beschäftigter Wirtschaftsgeheimnisse seines früheren Arbeitgebers nicht unbeschränkt zu seinem eigenen Fortkommen und Vorteil, sondern nur benutzen darf, soweit es um zulässig erworbenes Wissen geht.33 Im Übrigen scheitert die subjektive Tatseite nicht daran,34 dass der Datenverkäufer nicht die Absicht verfolgte, zum Nachteil der Bank oder 29

Ignor/Jahn JuS 2010, 391; Pawlik JZ 2010, 701. MüKo-Brammsen Lauterkeitsrecht § 17 Rn. 109. 31 S. dazu Jahn FS Stöckel, 2010, 260 f. 32 Vgl. AG Saarbrücken wistra 1991, 318; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 73 f; Achenbach/Ransiek-Heghmanns Handbuch Wirtschaftsstrafrecht Kap. VI 1 Rn. 57. Vgl. auch BayObLGSt 2000, 131; MüKo-Jannsen/Maluga Nebenstrafrecht II § 17 Rn. 103. 33 Eingeh. Schlötter Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen usw., 1997, S. 155; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 50. 34 So aber Stratenwerth/Wohlers ZStrR 128 (2010) II. 3. c. 30

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sonstwie zu Zwecken des Wettbewerbs zu handeln. Denn alternativ verlangt das Gesetz Eigennutz – was unproblematisch vorliegt, zumal das Erstreben eigener Besserstellung genügt.35 Ist die Übergabe der Daten an die deutschen Behörden aber deshalb als befugt anzusehen, weil die Übermittlung von Informationen über mögliche Straftaten an zuständige Amtsträger selbstverständlich jedermann frei ist. Und sollte sich diese Freiheit dann in eine Straftat verwandeln, wenn es entgeltlich geschieht? – so die rhetorische Frage von Stratenwerth/Wohlers.36 Rhetorische Fragen dienen bekanntlich nicht dem Informationsgewinn, sondern sind Mittel der Beeinflussung. So ist es auch hier – und zwar durch die Verkürzung der Fragestellung. Dass der Bürger ein Recht hat, Strafanzeigen zu tätigen und dabei auch Beweismittel den Strafverfolgungsbehörden überreichen darf, diese Selbstverständlichkeit ist niemals in Abrede zu stellen. Aber folgt daraus auch ein Recht, sich illegal Wirtschaftsgeheimnisse zu beschaffen, oder besteht bei solchem Besitz gar eine Verpflichtung zur Anzeige? Die Befugnis eines jeden Bürgers, Straftaten anzuzeigen, beinhaltet keinesfalls das Recht, zur Substantiierung des eigenen Vorbringens die Rechtsgüter Dritter, hier also die genannten Wirtschaftsgeheimnisse der Banken und gegebenenfalls der Bankkunden, zu verletzen. Andernfalls wäre privaten Selbsthilferechten Tür und Tor geöffnet, das Strafverfahren würde mit einer entsprechenden Befugnis geradezu das konterkarieren, was es eigentlich verhindern will.37 Aber folgt nicht eine Befugnis zur Offenlegung des Wirtschaftsgeheimnisses aus einer Verpflichtung des Datenverkäufers, als Zeuge in dem betreffenden Strafverfahren mangels Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO ohnehin vorbehaltlos aussagen zu müssen?38 Diese Argumentation, im materiellen Recht als hinzugedachter Sachverhalt ohnehin ein Fremdkörper, ähnelt dem für die Einschränkung von Beweisverwertungsverboten entwickelten Topos des hypothetischen rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs,39 sie ist von vornherein mit vergleichbaren Schwächen ausgestattet,40 insbesondere jener, dass hypothetische Realität leicht mit science fiction verwechselt wird. So ist es hier! Hinzu kommt, dass eine Pflicht zur vorbehaltlosen Aussage nicht besteht. 35

Vgl. Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 42; MüKo-Brammsen § 17 Rn. 48. Stratenwerth/Wohlers ZStrR 128 (2010) II. 3. c; s. bereits Ostendorf ZIS 2010, 304. 37 Ebenso Ignor/Jahn JuS 2010, 392; Pawlik JZ 2010, 698 Fn. 68. 38 So Ostendorf ZIS 2010, 304. 39 S. BGHSt 31, 304, 306; BGH HRRS 2007 Nr. 463 Rn. 42; NStZ 1989, 376. 40 S. allgemein Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 24 Rn. 26, 43, 62, § 36 Rn. 18; Jahn Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld usw., Gutachten C zum 67. Deutschen Juristentag 2008, S. C 77 f. 36

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Beginnen wir mit Ersterem. Es fehlt jener hypothetischen Verpflichtung ein reales Fundament. Denn erstens mangelt es der zuständigen Behörde an irgendeiner tragfähigen Spurengrundlage, mithin an einem Anfangsverdacht, der ein Ermittlungsverfahren auslösen könnte, mit dem eine solche Pflichtenstellung begründet werden könnte. Zweitens wird der Fall niemals eintreten, dass der Täter freiwillig als Zeuge in Deutschland erscheint. Denn sonst begäbe er sich ja seines Faustpfandes, der Information über die Bankkundendaten. Und selbst wenn der Informant bar jeden Verstandes nach Deutschland reiste (oder die deutsche Behörde ihn hierzu mittels List und Tricks veranlasste)41, so bliebe ein Rätsel, was der Informant gegen die betreffenden Kunden der Bank aus eigener Wahrnehmung bekunden können sollte – die bloße Angabe, Datensätze verwaltet zu haben, ist für das Verfahren keine regina probationum.42 Und wenn wir trotz dieser Konjunktive, Überlegungen in eventu und realen Vorbehalte gleichwohl davon ausgehen, beweisverwertbare Tatsachen wären von dem Datenverkäufer zu erwarten, so dürfte er im praktischen Ergebnis weithin seinen gage, nämlich den Deal: Aussage und Steuer-CD gegen Vermögen, verwirklichen können. Denn vor einer vorbehaltlosen Aussage schützt ihn letztlich Art. 47 BankG Schweiz. Selbst auf der das Bankgeheimnis lockernden Rechtsgrundlage der Bilateralen II kann das Bankgeheimnis bei Steuerhinterziehung von direkten Steuern prinzipiell nicht durchbrochen werden.43 Ausnahme ist die fortgesetzte Hinterziehung großer Beiträge. Dabei ist aber der Einzelkunde maßgebend, und nicht etwa die Summation aufgrund eines bloßen Tatverdachts. Ob man in diesen Fällen in Deutschland von vornherein das Zeugnisverweigerungsrecht der Schweiz wegen der Konfliktsituation (der Informant sieht sich ja in der Schweiz einer Strafverfolgung wegen Verletzung von Art. 47 BankG ausgesetzt)44 und des daraus folgenden fragwürdigen Beweiswerts anerkennt,45 41 Die schweizerische Praxis des Rechts- und Amtshilferechts in Steuersachen zeigt bisher, dass hier „nicht allgemein von der Lauterkeit ausländischer Behörden ausgegangen werden kann, zumal dort nicht, wo Tatbestände vorkommen mögen, die nach schweizerischen Grundsätzen die Rechtshilfe nicht erlauben“ (Kleiner/Schwob/Winzeler Kommentar BankG, 2009, Art. 47 Rn. 158 m. zahlr. Bsp.). Vgl. dazu auch BGer, Urteil v. 8. Mai 2000, 1 A. 57/2000, Erw. 5. c. d. aa., wonach in solchen, nicht seltenen Fällen ein „besonders strenger Maßstab“ bei der ansonsten gebotenen summarischen Plausibilitätsprüfung anzulegen ist. Zum Ganzen auch Heine FS Vogler, 2004, 72 f. Die Zukunft wird erweisen, ob und inwieweit die am 27. Oktober 2010 unterzeichneten erweiterten Amtshilfe- und Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland/Schweiz diese Gegebenheiten zu ändern vermögen. Dazu Heine ASA 2010/11, 544. 42 Vgl. Ignor/Jahn JuS 2010, 392. 43 Näher zu den Rechtsquellen Bundesstrafgericht, Urteil v. 15. April 2010, Erw. 1. 44 Wobei in der Schweiz die Lösung dieser Kollision von Handlungspflicht mit Unterlassungspflicht (s. dazu Stratenwerth Strafrecht AT, 3. Aufl. 2007, § 10 Rn. 64) schwerlich zu Lasten von Art. 47 BankG) gelöst würde (zu den in Abwägung zu stellenden Interessen

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oder jedenfalls die Verwertung eines solchen Beweises wegen Verstoßes gegen „fair trial“ für unwirksam hält,46 dies bleibt sich im praktischen Ergebnis gleich. Und selbst wenn dieses Verwertungsverbot in der deutschen Praxis nicht bestandssicher sein sollte, so entfaltet der Rechtsgedanke der §§ 55 StPO, 103 S. 1 AO seine Garantie. Zwar versteht das BVerfG § 55 StPO eng und beschränkt nemo tenetur auf die Auskunft hinsichtlich einer zum Zeitpunkt der Vernehmung bereits begangenen Straftat.47 Jedoch wird der seelischen Zwangslage wegen drohender Strafbarkeit nach Art. 47 BankG Schweiz i. V. m. dem Grundsatz des fairen Verfahrens durch die Gewährung eines Auskunftsverweigerungsrechts Rechnung zu tragen sein.48 Alles andere würde in der Tat ein Passepartout zur Begehung strafbarer Handlungen jenseits konkreter Eingriffsbefugnisse nach der StPO zur Verfügung stellen und damit das austarierte rechtsstaatliche Strafverfahren, für das Deutschland zu Recht gerühmt wird, ankratzen. Ignoriert diese Sicht den gern zitierten „Wandel der Anschauungen“49 und verhindert sie sachgerechte Lösungen in vermeintlich ähnlichen Konstellationen? Soweit damit exemplarisch der whistle blower u.ä. angesprochen ist,50 zeigt, wie stets, eine genaue Analyse des Tatbestandes die Unterschiede. So stellt sich bereits die Frage einer teleologischen Reduktion des Tatbestandes wegen des Grundsatzes des geheimen Ermittlungsverfahrens51 anders als in casu. Jedenfalls wird die Strafbarkeit regelmäßig an den Erfordernissen der besonderen subjektiven Unrechtselemente scheitern. Liegt nach alledem eine Straftat nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG vor, so stellt sich die abschließende Frage, ob überhaupt deutsche Strafgewalt gegeben ist. Entgegenstehen könnte § 17 Abs. 6 UWG, wonach § 5 Nr. 7 StGB entsprechend gilt. Danach ist für die Anwendung deutschen Strafrechts prinzipiell ein Inlandsbezug auch bei ausländischen Unternehmen notwendig (ausländisches Tochterunternehmen). Wie eingangs vermerkt, gebietet das s. Heine in: Emmenegger (Hrsg.), Cross-Border Banking, 2009, S. 176 f); vgl. auch Stratenwerth in: Watter/Vogt/Bauer/ Winzeler (Hrsg.), Bankengesetz, 2005, Art. 47 Rn. 42, 44. 45 Schwörer wistra 2009, 47; ders. Die grenzüberschreitende Beweisnutzung in Abgabeverfahren usw. 2009, S. 67; LR-Dahs StPO § 55 Rn. 8a. 46 Vgl. Gless Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2006, S. 226. Vgl. aber auch Böse ZStW 114 (2002) 152, 180. 47 BVerfG NStZ 1985, 277; ebenso BGH NJW 2006, 785. Zu § 103 S. 1 AO s. BFH BStBl. 1993 II, S. 451. 48 Näher Bülte wistra 2008, 293 f. Zur Erstreckung auf Auslandsstraftatbestände (Fremdrechtsanwendung) s. LG Freiburg NJW 1986, 3036; Schwörer Die grenzüberschreitende Beweisnutzung wistra 2009, 67; KMR-Neubeck StPO § 55 Rn. 6; LR-Dahs StPO § 55 Rn. 8a. 49 Dazu zuletzt (krit.) Thiele MschrKrim 93 (2010), 153; Kunz FS Schöch, 2010, 362 ff. 50 S. BAG NJW 2004, 1547; Wittig Wirtschaftsstrafrecht § 33 Rn. 43. 51 S. nur Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 39 Rn. 29.

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TRIPS eine völkerrechtsfreundliche Auslegung. Deshalb geht die h. L. zu Recht davon aus, dass ein Ausschluss des deutschen Strafrechtsschutzes gegen Inlandstaten nicht bezweckt ist, er regelt sich nach den §§ 3, 9 StGB.52 Hinzuzufügen ist, dass natürlich auch § 7 Abs. 1 StGB (Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen) zu berücksichtigen ist, die Geltung dieses passiven Personalitätsprinzips53 ist durch § 17 Abs. 6 UWG wohl nicht ausgeschlossen. Beginnen wir mit Zweiterem: Nach § 7 Abs. 1 StGB gilt das deutsche Strafrecht als Ausprägung des passiven Personalitätsgrundsatzes für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Tatort des Erlangens der Daten und der Datenübergabe, also die Verwertung, ist, was wir nun annehmen, die Schweiz. Verlangt wird nach § 7 Abs. 1 StGB eine sogenannte „identische Norm“, also eine mit § 17 Abs. 2 Nr. 1 lit. b UWG (unbefugtes Verschaffen eines Wirtschaftsgeheimnisses durch Herstellung einer verkörperten Wiedergabe des Geheimnisses) oder § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG (unbefugtes Verschaffen eines Wirtschaftsgeheimnisses und anschließendes unbefugtes Verwerten oder Mitteilen) vergleichbare Straftat. Hierfür genügt, dass die konkrete Tat „unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt mit Kriminalstrafe bedroht ist“.54 Problematisch erscheint dabei, die beidseitige Strafbarkeit an Art. 47 BankG festzumachen. Denn am Erfordernis der identischen Norm fehlt es zwar nicht deshalb, weil Art. 47 BankG sich primär als Bankkundengeheimnis versteht, während § 17 UWG primär das Geheimnis der Bank im Auge hat. Denn wenn nach h. M. die beiden zu vergleichenden Gesetze nicht einmal denselben Rechtsgedanken verfolgen müssen55, so genügt für hinreichende „Identität“ die Übereinstimmung im mittelbaren Rechtsgüterschutz. Entgegenstehen dürfte aber, dass Art. 47 BankG wohl nur ein spezifisch schweizerisches Rechtsgut schützt.56 Diese Bedenken gelten kaum im Hinblick auf § 17 Abs. 2 Nr. 1 UWG Deutschland und Art. 6 i. V. m. Art. 23 UWG Schweiz. Beides Mal werden, entsprechend dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, 52

S. MüKo-Brammsen § 17 Rn. 159; GK-Otto UWG § 17 Rn. 104; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 81; MüKo-Janssen/Maluga § 17 Rn. 122; vgl. aber MüKo-Ambos § 5 Rn. 10, der bereits § 5 für völkerrechtswidrig hält. Dagegen zutr. Schönke/Schröder-Eser § 5 Rn. 2 Vgl. auch Zieher Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 131 ff. 53 Dazu näher Zieher Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 77 f. 54 H. M., z. B. BGHSt 42, 275; Schönke/Schröder-Eser § 7 Rn. 8 m. w. N. 55 S. z. B. BGHSt 2, 161; MüKo-Ambos § 7 Rn. 6. 56 Vgl. Stratenwerth in: Watter/Vogt/Bauer/Winzeler (Hrsg.), Bankengesetz, 2005, Art. 47 Rn. 1 f; Heine in: Emmenegger (Hrsg.), Cross-Border Banking, 2009, S. 165 Fn. 2. – Zu dem im Haupttext genannten Ausschlussgrund s. BayObLG NStZ-RR 2000, 346.

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auch ausländische Rechtsgüter geschützt, nämlich primär die Wirtschaftsgeheimnisse der Bank. Zweifelhaft könnte sein, dass in Deutschland ein unbefugtes Verschaffen verlangt wird, während in der Schweiz auf das unrechtmäßige Erfahren abgestellt wird. In Deutschland wird darunter unproblematisch, wie gesehen,57 die Umwandlung von Eigenbesitz in Fremdbesitz subsumiert. In der Schweiz müsste eine parallele Konstruktion die Umwandlung von rechtmäßigem Eigenwissen in unrechtmäßiges Fremdwissen erfassen. Und in der Tat sieht die h. M. in der Schweiz darin, wie ebenfalls vermerkt,58 kein Problem. Im Ergebnis spricht mithin alles dafür, dass für diesen Sachverhalt (zunächst berechtigtes Erfahren der Daten, dann durch Kopieren Umwandlung in unrechtmäßiges Fremdwissen und unbefugte Verwertung durch Übergabe an deutsche Behörden ebenfalls in der Schweiz) Strafbarkeit nach deutschem Recht vorliegt. Gilt anderes, wenn die Übergabe der Steuer-CD in Deutschland stattgefunden hat (erste Frage)? Die Tathandlung des Verwertens erfüllt nach dieser Annahme natürlich unproblematisch die Voraussetzungen des Handlungsorts in Deutschland (§ 3 StGB). Problematisch könnte sein, dass das Verschaffen der Daten („Datenklau“) im Ausland erfolgte. Wenngleich der Schwerpunkt des Unrechts auf dem Verwerten liegt, so handelt es sich bei § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG um ein zweiaktiges Delikt (Verschaffen und Verwerten). Wegen der Strukturähnlichkeit dieser Geheimnishehlerei mit der Hehlerei nach § 259 StGB lässt sich gut vertreten, dass unerheblich ist, ob die Vortat im Ausland begangen wurde,59 sofern nur die Verwertungs-Tat nach deutschem Recht strafbar ist (unechtes zweiaktiges Delikt). Wer sich davon wegen der tatbestandlich geforderten Zweiaktigkeit nicht überzeugen lässt, der hat jedenfalls folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Das Territorialitätsprinzip bezüglich der Verwertung (zweiter Akt) wird im Hinblick auf das Verschaffen ergänzt durch das passive Personalitätsprinzip des § 7 Abs. 1 StGB: Wie gesehen, sind für die akzessorische Vortat (erster Akt) dessen Voraussetzungen erfüllt. Folglich ist schwerlich in Abrede zu stellen, dass für beide Akte deutsches Strafrecht gilt! Im Übrigen sind zudem die Voraussetzungen des Erfolgsorts Deutschland gegeben. Nach BGH60 genügt bei sogenannten Eignungsdelikten bereits die Abrufbarkeit der Information in Deutschland, um einen Erfolgsort im Sinne des § 9 StGB zu begründen. Nichts anderes hat dann für das „Verwerten“ 57

Vgl. AG Saarbrücken wistra 1991, 318; Fezer-Rengier UWG § 17 Rn. 73. Baudenbacher/Glöckner Lauterkeitsrecht, 2001, S. 769; vgl. BGE 80 IV 32. Verkannt von Ostendorf ZIS 2010, 303. 59 S. Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 259 Rn. 10. 60 BGHSt 46, 223 f. Zum Diskussionsstand s. Schönke/Schröder-Eser § 9 Rn. 7a. 58

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im Sinne des § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG zu gelten. Denn das Verwerten bemisst sich nach der Eignung der Tathandlung, der Bank usw. (auch) in Deutschland materiellen oder immateriellen Schaden zuzufügen.61 Die Voraussetzungen von § 17 Abs. 2 UWG sind folglich erfüllt, es liegt seitens des Datenkäufers eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat, die deutscher Strafgewalt unterfällt, vor.

IV. Beihilfe zur Geheimnishehlerei durch deutsche Behörden Keine Frage ist, dass das Angebot einer hohen Geldsumme seitens deutscher Behörden das Verwerten der Wirtschaftsgeheimnisse gefördert hat. Dabei kann keine Rede davon sein, dass die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat des Bankangestellten im Hinblick auf das Verwerten der Daten bereits beendet gewesen sei, mithin eine Beihilfe nicht mehr möglich gewesen wäre.62 Spielt bei der Strafbarkeit wegen Beihilfe zu § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG aber eine Rolle, dass der Vorgang der Beschaffung der Steuerdaten bereits abgeschlossen war und deshalb infolge Beendigung keine Beihilfe mehr in Frage kommen könnte?63 Dabei wird aber verkannt, dass der Unwert des § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG sich, wie gesehen, zusammensetzt aus der Beschaffung und der Mitteilung; den Gesamtunwert bildet die Verwertung. Wäre es anders, so ließe sich die identische Strafdrohung zwischen §§ 17 Abs. 1 und Abs. 2 bzw. zwischen Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 UWG nicht erklären. Daher ist nach vorherrschender Ansicht die Geheimnishehlerei des § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG sogar erst mit dem materiellen Verstehen der erlangten Kenntnis beendet,64 also erst dann, wenn nach Zugang der Information bei den deutschen Behörden (Vollendung der Tat) die Daten ausgewertet sind.65 Zum

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S. MüKo-Brammsen § 17 Rn. 109; Tiedemann FS Kohlmann, 2003, 312. Zum Parallelproblem bei § 204 s. Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele § 204 Rn. 5 f. 62 Vgl. MüKo-Brammsen § 17 Rn. 59. 63 So Ostendorf ZIS 2010, 304; Eicker Jusletter v. 30. August 2010, 5. 64 S. MüKo-Brammsen § 17 Rn. 59 m. w. N. Vgl. auch Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele § 204 Rn. 10 zur Parallelfrage bei § 204. 65 Begreifen wir die Verwertung (richtigerweise) als Herbeiführung eines Zustandes, in dem eine Verletzung der in § 17 Abs. 2 UWG geschützten Interessen als unmittelbar möglich erscheint (allgemein zu den Interpretamenten bei diesen potentiellen Gefährdungsdelikten s. Roxin AT I § 11 Rn. 162 f; Schönke/Schröder-Heine Vorbem. 3 vor § 306 m. w. N.; Hirsch FS Tiedemann, 2008, 151 ff; Zieschang Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 64 f, 162 ff, 203 f), so sollte auch jene engere Meinung, welche die „materielle Beendigung“ als maßgebendes Datum verwirft (Roxin AT II § 26 Rn. 259 ff; Kühl FS Roxin, 2001, 679; LK-Schünemann § 27 Rn. 42, je m. w. N.), keine unüberbrückbaren Hindernisse für die Annahme von Beihilfe

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gleichen Ergebnis gelangt, wer das Sich-Verschaffen als Dauerdelikt begreift, auch in diesem Fall besteht bekanntlich kein Hindernis für Beihilfe:66 Beihilfe liegt nach alldem vor! Bei den Rechtfertigungsgründen ist sich das einschlägige Schrifttum im Hinblick auf die Beihilfe durch Strafverfolgungsorgane in großem Maße einig darüber, dass § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) keine taugliche Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung stellt.67 Mit guten Gründen lässt sich belegen, dass erstens Eingriffsbefugnisse weder in der StPO68 noch in einschlägigen Spezialgesetzen69 zur Verfügung stehen und zweitens diese Regelungen abschließend sind.70 Selbst wenn ein Rückgriff auf § 34 StGB nach der Devise: „Quod non est licitum in lege necessitas facit licitum“ legal erschiene, so stellte sich als erstes die Frage: Welche Güter sind eigentlich in die Gesamtabwägung mit einzubeziehen?71 Es geht bekanntlich um eine „umfassende Gesamtabwägung des konkreten Interessenskonflikts in allen seinen positiven und negativen Vorzugstendenzen“,72 vorherrschend nicht beschränkt auf Rechtsgüter der Allgemeinheit,73 somit auch um das kollektive Interesse an der Ordnungs- und Friedensfunktion des Rechts,74 ggf. unter Einbezug der völkerrechtlichen Beziehungen. Dieser gesetzlich vorgegebene umfassende Prüfungsauftrag hat es in sich. Denn es geht um eine Straftat im Umfeld eines Konflikts politischer Systeme. Wo ist hier ein Halten? Nach welchen Kriterien werden hier die Limite für noch berücksichtigungsfähige Kollektivinteressen gesetzt? Müssen wir die Frage thematisieren, ob die Gefahr von den Behördenmitgliedern usw. pflichtwidrig herbeigeführt und die Notstandslage vorhersehbar war? Geht

sehen. Die behördlichen Datenankäufer helfen bei der Schaffung jenes tatbestandsmäßigen verpönten Zustandes mit (vgl. Roxin AT II § 26 Rn. 264). 66 S. Roxin AT II § 26 Rn. 264; Kühl FS Roxin, 2001, 679 f. Zu einer Übersicht s. Schönke/Schröder-Heine § 27 Rn. 17. 67 S. z. B. Ignor/Jahn JuS 2010, 392; Kelnhofer/Krug StV 2008, 665 f; Ostendorf ZIS 2010, 304; Pawlik JZ 2010, 698; Schünemann NStZ 2008, 308; ders. GA 2008, 324 ff; Sieber NJW 2008, 881, 884 f; Trüg/Habetha NJW 2008, 889; and. Ambos Datev Magazin 2/2010, 44. 68 Näher Heine FS von Büren, 923 ff; Sieber NJW 2008, 884; Trüg/Habetha NJW 2008, 888 f; ferner Beulke Jura 2008, 664. 69 Näher Heine HRRS 12/2009, 541 ff; Salditt FS Schaumburg, 2009, 1269, 1279; Sieber NJW 2008, 883 f; Spatscheck FS Volk, 2009, 778 f. 70 Vgl. z. B. Kämmerer NJW-aktuell 7/2010, 14 f; allgemein Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 7, auch m. Darstellung des Diskussionsstandes. 71 Zum Problem s. Heine in: Emmenegger (Hrsg.), Cross-Border Banking, 2009, S. 178 f. 72 S. nur Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 22 m. zahlr. N. 73 And. z. B. Arzt FS Rehberg, 1996, 29 ff; Frister AT § 17 Rn. 2. 74 S. wiederum nur Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 22 m. w. N.

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es dann um „Steueroase“ gegen „Raubritter-Steuersystem“?75 Soll dies der Strafrichter allein entscheiden – oder ist dies nicht der durchschlagende Beleg für die Notwendigkeit einer Entscheidung dieses Großkonflikts durch Gesetz? Natürlich sind sämtliche rhetorische Fragen – somit alle als Mittel der Überzeugungsbildung formuliert.76 Aber sollen wir im Strafrecht wirklich ernsthaft darüber debattieren, ob „das Interesse am ungeschmälerten bundesdeutschen Steueraufkommen das Geheimnisschutzinteresse der Schweizer Bank“ unter Berücksichtigung von Vorverhalten (hier Provokation durch Beihilfe zur Steuerhinterziehung,77 dort gar Initiierung durch ein „Steuer-Unrechtssystems“78) überwiegt, und zwar wesentlich? Dem Anliegen der Vollständigkeit der Studie ist der abschließende Hinweis geschuldet, dass diese Beihilfestrafbarkeit nicht auf das enge Umfeld der unmittelbar agierenden Behördenmitglieder beschränkt ist. Das Strafrecht kennt die Kettenbeihilfe ebenso wie die Anstiftung zur Beihilfe zur Geheimnishehlerei und lässt es damit zu, dass strafrechtliche Verantwortung auch auf höheren hierarchischen Ebenen der Exekutive festgemacht wird – und wilful blindness schützt auch im deutschen Strafrecht schwerlich vor Strafe!79

V. Schlussbemerkung Damit schließe ich meinen Beitrag, der Claus Roxin mit den herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag gewidmet ist. Insbesondere im Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer durfte ich sowohl die Strahlkraft des Jubilars genießen als auch seine nie versiegende Neugier bewundern. Auch darauf gründet sich mein Optimismus, er möge Fragen, die als pars pro toto für die Komplexität des globalisierten Strafrechts stehen, mit dem ihm eigenen kritischen Interesse begleiten.

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Weiteres aus dem wohlfeilen Slang aus Politik und Medien bei Heine FS von Büren, 19 f; ders. in: Emmenegger (Hrsg.), Cross-Border Banking, 2009 , S. 165 f. 76 S. oben bei Fn. 36. 77 Näher Heine ASA 2010/11, 522. 78 So der Präsident der Vereinigung Schweizer Privatbankiers, Der Spiegel Nr. 50/2008, 128. 79 Zu den Folgefragen der prozessualen (Un-)Verwertbarkeit der Steuerdaten s. Heine FS von Büren, 929 ff; ders. HRRS 12/2009, 540 ff; ders. ASA 2010/11, 537 ff..

Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“? VOLKER ERB

I. Einführung In der Diskussion um CDs mit Bankdaten über mutmaßliche deutsche Steuerhinterzieher, die Bankmitarbeiter in Liechtenstein und in der Schweiz heimlich kopiert und deutschen Finanzverwaltungen zum Kauf angeboten hatten, wird neben originär strafprozessualen Bedenken gegen die Verwertbarkeit dieser Informationen vielfach der Einwand erhoben, die an dem Erwerb der Daten beteiligten Amtsträger machten sich selbst wegen der Teilnahme an einem Verstoß gegen § 17 UWG strafbar.1 Dabei wird regelmäßig auf eine nicht näher hinterfragte „herrschende Meinung“ verwiesen, wonach diese Vorschrift Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse ohne Rücksicht auf deren Rechtmäßigkeit schützen soll.2 Bei deren Zugrundelegung erfüllen die Beamten ohne weiteres den Tatbestand einer Anstiftung oder Beihilfe zu § 17 Abs. 1 UWG oder § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG (je nachdem, ob der Bankmitarbeiter erst zum Geheimnisverrat bestimmt oder ob sein diesbezügliches Verhalten lediglich gefördert wird;3 ggf. könnte man auch an eine Begünstigung als Anschlussdelikt denken4). Die Voraussetzungen einer Anwendung deutschen Strafrechts wären dabei gleich in mehrerlei Hinsicht gegeben.5 Infolgedessen käme bei Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit al1 Schünemann GA 2008, 329; ders. NStZ 2008, 308; Sieber NJW 2008, 883 f; Kelnhofer/Krug StV 2008, 661; Trüg/Habetha NJW 2008, 889; dies. NStZ 2008, 489; Beulke Jura 2008, 664; Heine HRRS 2009, 540; Ignor/Jahn JuS 2010, 393; Spernath NStZ 2010, 308. 2 Näher dazu unten III.1. mit den Nachweisen in Fn. 9 ff. 3 Vgl. Ignor/Jahn JuS 2010, 393; Spernath NStZ 2010, 309 f. 4 So Trüg/Habetha NJW 2008, 889; hiergegen wären allerdings die unter IV.2.b dargestellten Einwände anzuführen. 5 Betrachtet man die Haupttat als Auslandstat, so kann man angesichts des dienstlichen Tätigwerdens der daran beteiligten Beamten auf § 5 Nr. 12 StGB rekurrieren (so Spernath NStZ 2010, 307). Unabhängig davon kommt im Hinblick auf die deutsche Staatsbürgerschaft der betreffenden Personen und die zugleich bestehende Strafbarkeit des Geheimnisverrats der Informanten auch in Liechtenstein (dazu Schünemann GA 2008, 328) und in der Schweiz (eingehend Ostendorf ZIS 2010, 302 f) § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB zum Tragen, wenn die Beteili-

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lenfalls noch eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht, die allerdings zumeist recht pauschal verneint wird.6 Sowohl die Annahme einer Tatbestandsmäßigkeit als auch die Ablehnung einer Rechtfertigung werden im Folgenden einer kritischen Betrachtung unterzogen – letztere u. a. im Hinblick darauf, dass die vorliegende Konstellation dem Bereich des „Defensivnotstands“ zuzuordnen ist, von dem der verehrte Jubilar in einem grundlegenden Beitrag aufgezeigt hat, dass er weit über die von § 228 BGB erfassten Fälle der „Sachwehr“ hinausreicht und die Maßstäbe der Interessenabwägung nach § 34 StGB massiv beeinflusst. 7

II. Die Deckung von Steuerhinterziehung als rechtswidriges Geschäftsgeheimnis Soweit hinsichtlich des Verhaltens deutscher Amtsträger beim Ankauf von Bankdaten, die im Ausland illegal kopiert wurden, die Anwendung inländischen Strafrechts durch inländische Gerichte zur Debatte steht (dass den Betroffenen bei Einreise nach Liechtenstein oder in die Schweiz vermutlich eine Strafverfolgung nach dortigem Recht drohte, wenn den dortigen Behörden bekannt wäre, mit wem sie es zu tun haben, steht auf einem ganz anderen Blatt), muss auch eine evtl. Rechtswidrigkeit der offenbarten Geheimnisse aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung beurteilt werden. Diese kann nun keine Rücksicht darauf nehmen, dass bestimmte Staaten ein – in dieser Form in Deutschland aus gutem Grund gerade nicht geltendes – „Bankgeheimnis“ pflegen, das Steuerhinterziehern eine effektive Abschottung gegen den Zugriff des Fiskus auf Schwarzgelder und heimlich erzielte Kapitaleinkünfte ermöglicht. Das gilt umso mehr, als mit einem solchen „Bankgeheimnis“ offensichtlich eine gezielte Attraktivitätssteigerung der Banken für ausländische Kunden bezweckt wird, die Schwarzgelder anlegen und Steuern auf Kapitalerträge hinterziehen wollen (denn nur in diesem Fall sind sie auf eine entsprechend qualifizierte „Diskretion“ angewiesen), um im internationalen Wettbewerb um Kapitalanleger unlau-

gungshandlung ebenfalls im Ausland erfolgte (vgl. Ostendorf ZIS 2010, 303); fand letztere im Inland statt, greift § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB (vgl. Sieber NJW 2008, 883; Spernath NStZ 2010, 309). Im Übrigen kann man den Erfolgseintritt der „Verwertung“ des Geheimnisses i. S. von § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG angesichts der Nutzung der Daten in Deutschland auch hier verorten und auf diese Weise über § 9 Abs. 1 StGB zur Annahme einer nach § 3 StGB strafbaren Inlandstat gelangen (so etwa Ignor/Jahn JuS 2010, 392 f). 6 Vgl. etwa Trüg/Habetha NJW 2008, 890; Schünemann GA 2008, 329; ders. NStZ 2008, 308; Ignor/Jahn JuS 2010, 393 f; Spernath NStZ 2010, 308. 7 Roxin FS Jescheck, 1985, 457 ff.

Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?

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tere Vorteile zu erlangen.8 Insofern wird man mit Fug und Recht sagen können, dass ein ausländisches „Bankgeheimnis“, mit dessen Hilfe aus der Steuerhinterziehung in unserem Land Kapital geschlagen wird, aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung ein illegales Geheimnis darstellt, soweit hierdurch Steuerhinterzieher vor dem Zugriff der Finanzbehörden geschützt werden.

III. Zur Reichweite des Schutzes rechtswidriger Geheimnisse durch § 17 UWG 1. Nach h. M. ist dieser Umstand nun nicht geeignet, die Erfüllung des Tatbestands von § 17 UWG in Frage zu stellen. Soweit diese Position näher begründet wird,9 geschieht dies zumeist mit dem Hinweis, dass entsprechende Geheimnisse ungeachtet ihrer Rechtswidrigkeit einen wirtschaftlichen Wert darstellen, für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens von Bedeutung sein können und deshalb vom Schutzzweck der Vorschrift umfasst seien;10 insofern lasse die Rechtswidrigkeit des Geheimnisses die strafrechtliche Relevanz seiner Offenbarung ebenso wenig entfallen wie bei § 203 StGB.11 Auch in anderen Zusammenhängen würden demjenigen, der rechtswidrige Vorteile erlangt hat, der rechtliche Schutz gegen einen hierauf

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Wer die Naivität besitzt, das „Bankgeheimnis“ in den betreffenden Ländern als bloße Begleiterscheinung einer um ihrer selbst willen besonders hochgehaltenen Liberalität zu betrachten, unternehme einmal die Probe aufs Exempel, ob dort eine Bitte um Verhaltenstipps zur effektiven Abschottung gegen einen möglichen Zugriff der heimatlichen Steuerbehörden (etwa in Bezug auf den Transport und die Aufbewahrung von Unterlagen) im Vieraugengespräch mit Bankmitarbeitern häufiger auf entrüstete Ablehnung oder auf augenzwinkernde Hilfsbereitschaft stoßen wird. Auch in der Intensität, mit der jene Staaten ihr spezielles „Bankgeheimnis“ gegen internationalen Druck verteidigen, offenbaren sich bei realistischer Betrachtung handfeste Geschäftsinteressen, weil man an den Kapitalanlagen von Ausländern, die durch die Gelegenheit zur vermeintlich risikolosen Steuerhinterziehung angelockt werden und dabei den Fiskus ihrer Heimatländer um Milliarden schädigen, viel Geld verdienen kann. 9 Ohne Begründung oder unter schlichtem Verweis auf die h. M. unterstellt wird sie etwa bei Köhler/Bornkamm UWG § 17 Rn. 9; mit einem bloßen Hinweis auf die Interessenlage des Betriebsinhabers begnügen sich Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht Rn. 508; MüllerGugenberger/Bieneck-Dittrich Wirtschaftsstrafrecht § 33 Rn. 51; nach Sieber NJW 2008, 882 werde ein Ausschluss illegaler Geheimnisse „den erforderlichen Differenzierungen und Abwägungen … nicht gerecht“. 10 Vgl. etwa Ignor/Jahn JuS 2010, 391; MüKo-StGB-Janssen/Maluga § 17 UWG Rn. 36; MüKo-Lauterkeitsrecht-Brammsen § 17 UWG Rn. 22; Scholz-Tiedemann GmbHG § 85 Rn. 13. 11 Koch ZIS 2008, 503; Beckemper/Müller ZJS 2010, 109; MüKo-Lauterkeitsrecht-Brammsen § 17 UWG Rn. 22.

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abzielenden deliktischen Angriff regelmäßig nicht versagt. 12 Außerdem wird die Gefahr von Schäden angeführt, die über die mit der Herstellung eines rechtmäßigen Zustands verbundenen Einbußen hinausgehen.13 Im Übrigen stehe es dem Arbeitnehmer nicht zu, sich zu Lasten des Unternehmens eine Kontrollfunktion anzumaßen,14 wobei man es insbesondere für unerträglich hält, wenn eine damit verbundene Schädigung des Unternehmens auch dann sanktionslos gestellt wird, wenn sie (was zumeist – so auch in den Bankdaten-Fällen – der Fall sein dürfte) aus verwerflichen Motiven wie Rache oder Selbstbereicherung erfolgt.15 2. Der undifferenzierten Einbeziehung rechtswidriger Geheimnisse in den Anwendungsbereich von § 17 UWG ist zunächst entgegenzuhalten, dass illegale Rechtspositionen in anderen Zusammenhängen nur gegen bestimmte Angriffsformen geschützt sind, keinesfalls jedoch gegen die Herstellung eines rechtmäßigen Zustands als solchem: So schützt z. B. § 242 StGB zwar den Besitz des Diebes gegen Folgediebstähle, aber nicht gegen eine Rückführung der Sache an den berechtigten Eigentümer, und zwar selbst dann nicht, wenn dies im Wege einer – strafrechtlich insofern irrelevanten – verbotenen Eigenmacht geschehen sollte (es sei denn, dabei würden Straftatbestände verletzt, die dem Schutz anderer Rechtsgüter dienen, so etwa die §§ 223, 240 und 303 StGB im Zuge einer gewaltsamen Wegnahme der Sache). Werden Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, die einen illegalen Zustand betreffen, der zu dessen Beseitigung zuständigen Behörde mitgeteilt, geht es aber nur um die Herbeiführung der von der Rechtsordnung gewollten Folgen. Dies gilt auch in Bezug auf Folgeschäden, die das behördliche Einschreiten jenseits der Entziehung der rechtswidrig erlangten Vorteile und jenseits der strafrechtlichen Konsequenzen für die Verantwortlichen sonst noch nach sich zieht (Rufschädigung u. s. w.). Solche Auswirkungen des Bekanntwerdens von Gesetzesverstößen nimmt die Rechtsordnung als notwendige Begleiterscheinung der Unterbindung und Ahndung illegaler Machenschaften nämlich bewusst in Kauf, d. h. niemand, in dessen Verantwortungsbereich Gesetzesverstöße stattfinden, hat einen Anspruch darauf, von solchen Folgen verschont zu bleiben.

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Fezer-Rengier Lauterkeitsrecht § 17 UWG Rn. 21; Beckemper/Müller ZJS 2010, 110; MüKo-Lauterkeitsrecht-Brammsen § 17 UWG Rn. 22; Scholz-Tiedemann GmbHG § 85 Rn. 13. 13 Fezer-Rengier Lauterkeitsrecht § 17 UWG Rn. 21; Beckemper/Müller ZJS 2010, 109. 14 Otto wistra 1988, 126; GroßKomm-UWG-Otto § 17 Rn. 15; Többens NStZ 2000, 506; Beckemper/Müller ZJS 2010, 109; MüKo-Lauterkeitsrecht-Brammsen § 17 UWG Rn. 22; Ohly/Sosnitza UWG § 17 Rn. 12. 15 Beckemper/Müller ZJS 2010, 109 f.

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Anders liegen die Dinge erst dann, wenn Informationen über rechtswidrige Zustände in einem Unternehmen nicht den zuständigen Behörden, sondern Dritten (insbesondere Konkurrenten) oder unmittelbar der Öffentlichkeit mitgeteilt werden: Abgesehen davon, dass die Wahrscheinlichkeit überschießender Schäden oder deren Höhe in diesem Fall größer erscheint, ist deren Eintritt hier der unmittelbare Effekt der Offenbarung des Geheimnisses, während umgekehrt die Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands durch die dafür zuständigen staatlichen Stellen nur eine mögliche Folgeerscheinung darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es durchaus überzeugend, die Mitteilung illegaler Geheimnisse an die Konkurrenz oder an die Öffentlichkeit als „unbefugt“ zu qualifizieren und dementsprechend unter § 17 UWG zu subsumieren.16 Für die Offenbarung gegenüber den für die Verfolgung einschlägiger Rechtsverstöße zuständigen staatlichen Stellen (sei es direkt, sei es unter Einschaltung einer Mittelsperson, bei der die Vertraulichkeit gewährleistet ist; insoweit kommen Vertreter einer anderen, Amtshilfe leistenden Behörde ebenso in Betracht wie z. B. ein Rechtsanwalt) muss jedoch etwas anderes gelten, damit sich die Rechtsordnung nicht in einen unüberbrückbaren Selbstwiderspruch verstrickt:17 Geht das Interesse der Rechtsordnung dahin, Rechtsverstöße zu unterbinden, was eine Kenntniserlangung durch die hierfür bestimmten Stellen voraussetzt, so kann sie nicht gleichzeitig das Interesse der Rechtsbrecher schützen, entsprechende Informationen vor behördlicher Kenntniserlangung verborgen zu halten – schon gar nicht mit strafrechtlichen Mitteln.18 Weil dies prinzipiell so ist, erscheint es im Ansatz verfehlt, die Mitteilung illegaler Machenschaften zur Herbeiführung der gesetzlich vorgesehenen staatlichen Reaktionen als typischerweise strafwürdig und nur im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände als gerechtfertigt zu behandeln. Deshalb muss man im vorliegenden Zusammenhang eine schon die Tatbestandsmäßigkeit nach § 17 UWG ausschließende „Befugnis“ anerkennen, relevante Informationen an die zuständigen staatlichen

16 Zutr. Differenzierung bei Taeger Die Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, 1988, S. 77. 17 Ebenso Angersbach Due Diligence beim Unternehmenskauf, 2002, S. 188 f; vgl. auch Arians in: Oehler (Hrsg.), Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses, 1987, S. 338, der es mit dem von § 17 UWG bezweckten Schutz des Wettbewerbs für unvereinbar hält, wettbewerbswidrige Geheimnisse zu schützen. 18 Wenn die Rechtsordnung im Arbeitsrecht ihre eigenen Interessen konterkariert, indem sie dem Arbeitgeber Rechtsschutz gegen einen Arbeitnehmer gewährt, der die Rechtsverstöße von ersterem den zu deren Unterbindung zuständigen Stellen mitteilt, mag das in der Eigendynamik dieses Rechtsgebiets begründet sein; auch dort scheint indessen ein Umdenken im Gange zu sein, wie die Diskussion um das sog. „Whistleblowing“ zeigt; dazu Koch ZIS 2008, 500 ff.

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Stellen weiterzugeben.19 Ob dem Informanten eine Kontrollfunktion zukommt, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob er aus ehrbaren Motiven handelt: Weil die Unterbindung und Ahndung von Rechtsverstößen im Interesse der Allgemeinheit liegt, bedarf es keiner besonderen Zuständigkeit, um daran berechtigterweise mitwirken zu dürfen, und eine verwerfliche Motivation kann für sich genommen ein objektiv rechtmäßiges Verhalten nur moralisch, aber nicht strafrechtlich diskreditieren.20 3. Diese Überlegungen werden durch den Umstand, dass bestimmte Geheimnisse im Rahmen von § 203 StGB grundsätzlich umfassenden Schutz genießen, der lediglich unter besonderen, durch das Strafverfolgungsinteresse gerade nicht zu begründenden Umständen einer Relativierung nach § 34 StGB zugänglich ist, nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil nur bestätigt. a) Hier ist zunächst zu bemerken, dass der besondere, jedenfalls dem Strafverfolgungsinteresse vorgehende Rang des Geheimnisschutzes und seine damit verbundene Erstreckung auch auf Informationen über (ggf. höchst gravierende) Rechtsverstöße in §§ 53, 53a StPO eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erfahren hat. Dabei ist der Umkehrschluss, wonach ein von dieser Vorschrift nicht erfasstes Geschäfts- und Betriebsgeheimnis (das insofern nicht einmal rechtswidrig zu sein braucht) gerade keinen derartigen Schutz genießt, jedenfalls insoweit zwingend, als die Aussage eines Zeugen zur Debatte steht, der von den Strafverfolgungsorganen als solcher vernommen wird. Wenn an dieser Stelle nun versucht wird, eine Rückausnahme für den Fall zu begründen, dass der Mitwisser eines illegalen Geheimnisses die ihm zugänglichen Informationen den zuständigen Behörden nicht gezwungenermaßen, sondern aus eigener Initiative freiwillig zur Verfügung stellt,21 so vermag dies nicht zu überzeugen. Die Frage, ob der Informant mit staatlichen Stellen kooperiert, weil er es tun muss oder weil er es tun will, ist nämlich erstens für die Schutzwürdigkeit des betroffenen Geheimnisses völlig irrelevant. Zweitens ist die Kooperation desjenigen, der die inländischen Strafverfolgungsorgane von sich aus in die Lage versetzt, ihres Amtes zu walten (und sei es in Bezug auf Auslandsachverhalte, die im Inland rechtliche Relevanz entfalten), als individueller Beitrag zur Verwirklichung 19 Im Ergebnis (allerdings ohne nähere Begründung bzw. mit dem schlichten Hinweis, an der Geheimhaltung bestehe insoweit kein schutzwürdiges Interesse) auch Krekeler Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, 2002, S. 36 (zu § 333 HGB); Wabnitz/Janovski-Möhrenschläger Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts Kap. 13 Rn. 10; Erbs/Kohlhaas-Diemer Strafrechtliche Nebengesetze § 17 UWG Rn. 16. 20 Vgl. auch Rützel GRUR 1995, 560. 21 Ignor/Jahn JuS 2010, 392.

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des Rechts nicht negativer zu bewerten als die Erfüllung erzwingbarer Zeugenpflichten.22 Wenn eine solche freiwillige Unterstützung staatlicher Aufgaben neben der Vorschrift über die Erstattung von Strafanzeigen in § 158 StPO keine besondere Regelung erfahren hat, dann nicht deshalb, weil ihre Zulässigkeit eingeschränkt wäre, sondern aus dem einfachen Grund, dass es jenseits dessen, was der Staat als Bürgerpflicht erzwingen will, in diesem Zusammenhang keiner gesetzlich bestimmten Zwangsinstrumente bedarf. Die grundsätzliche, nur durch § 203 StGB im Zusammenspiel mit §§ 53, 53a StPO oder durch sonstige, gesetzlich besonders geregelte Schweigepflichten (z. B. nach § 30 AO) eingeschränkte Befugnis, die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben durch Mitteilung von Informationen über rechtwidrige Zustände zu fördern, wird durch diesen Umstand in keiner Weise berührt. Weil insofern auch das Recht, eine förmliche Strafanzeige zu erstatten, keinesfalls durch § 158 StPO konstituiert, sondern von dieser Vorschrift als Teil der selbstverständlichen Befugnis, zur Abwendung und Ahndung von Rechtsverstößen mit der öffentlichen Hand zu kooperieren, vorausgesetzt wird,23 führt im Übrigen auch eine Differenzierung danach, ob man die Übermittlung der fraglichen Informationen unter die Begriffe „Strafanzeige“ oder „Zeugenaussage“ subsumieren kann, oder ob das nicht der Fall ist,24 nicht weiter. Entscheidend ist vielmehr allein, dass die Wahrung von Geheimnissen gegenüber Stellen, die zur Verfolgung eines mit dem Geheimnis evtl. verbundenen Rechtsverstoßes berufen sind, nur dort verlangt werden kann, wo eine Flankierung durch Zeugnisverweigerungsrechte oder durch entsprechende ausdrückliche Regelungen besteht. Andernfalls fehlt es an einer Grundlage dafür, die von der Rechtsordnung erwünschte Kooperation des Geheimnisträgers als „unbefugt“ zu qualifizieren (nicht nur, was die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsorganen betrifft, sondern auch in Bezug auf diejenigen Stellen, denen die Herstellung eines vom öffentlichen Recht einschließlich des Steuerrechts gewollten Zustands obliegt, also etwa Steuer-, Umwelt- und Gesundheitsbehörden).25 b) Die Differenzierung zwischen einfachen, gegen eine Mitteilung an die zur Verfolgung von Rechtsverstößen zuständigen Stellen rechtlich nicht geschützten und solchen Geheimnissen, denen durch die Flankierung mit 22 Und zwar wiederum unabhängig von der Motivation – wenn jemand bei einer erzwingbaren Aussage z. B. genüsslich in dem triumphalen Bewusstsein handelt, hierdurch die Existenz einer Person zu zerstören, die er aus Gründen hasst, die mit der angeklagten Tat nichts zu tun haben, zeugt dies ebenfalls nicht von einem besonders edlen Charakter, ohne dass die Rechtsordnung hierauf (abgesehen von der Notwendigkeit einer besonders vorsichtigen Beweiswürdigung) in irgendeiner Weise Rücksicht nehmen kann! 23 Vgl. LR-Erb § 158 Rn. 6. 24 So aber Ignor/Jahn JuS 2010, 392; vgl. auch Sieber NJW 2008, 884 f. 25 Zutr. Ostendorf ZIS 2010, 304; vgl. auch Taeger (Fn. 16) S. 78.

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einem Zeugnisverweigerungsrecht oder einer anderen Regelung ausdrücklich auch ein solcher Schutz zuteil wird, beruht aber nicht nur auf einer formellen Betrachtung des Gesetzes. Hinter ihr verbirgt sich vielmehr ein fundamentaler Unterschied im Schutzzweck der geheimnisschützenden Normen: Bei sämtlichen durch § 203 StGB i. V. m. §§ 53, 53a StPO flankierten Geheimnissen geht es nicht darum, den wirtschaftlichen Wert eines Geheimnisses oder ein sonstiges Interesse des Betroffenen um seiner selbst willen vor den nachteiligen Folgen seiner Offenbarung zu schützen, sondern um besondere Vertrauensbeziehungen, denen der Gesetzgeber deshalb eine besondere Schutzwürdigkeit einräumt, weil für die Menschen eine aus rechtsstaatlichen Gründen privilegierte existentielle Notwendigkeit besteht, Dienste der genannten Personen in Anspruch zu nehmen und dabei eine schonungslose Offenheit zu pflegen (oder weil sie zu einer solchen Offenheit gesetzlich verpflichtet sind, etwa gegenüber dem Finanzamt, wo die Vertraulichkeit durch § 30 AO gewährleistet wird).26 Dies erklärt die grundsätzliche Absolutheit des Vertraulichkeitsschutzes in diesen Beziehungen, die auch die Weitergabe von Informationen über begangene Rechtsverstöße an die zuständigen Behörden typischerweise als strafwürdiges Unrecht erscheinen lässt. Deshalb liegt im Anwendungsbereich des § 203 StGB hier ohne weiteres ein tatbestandsmäßiges Verhalten vor (das nur unter besonderen Umständen, die durch das Strafverfolgungsinteresse jedenfalls ebenso wenig begründet werden können wie durch das Interesse an der Sicherstellung des Steueraufkommens) einer Rechtfertigung nach § 34 StGB zugänglich ist. Demgegenüber geht es bei § 17 UWG nicht um den Schutz einer Vertrauensbeziehung von entsprechendem Rang, sondern lediglich um den wirtschaftlichen Wert des Geheimnisses als solchem. Soweit dieser ganz oder teilweise auf rechtwidrigen Machenschaften beruht, stellt die Wahrung der Vertraulichkeit durch Mitwisser gegenüber den zur Herstellung rechtmäßiger Zustände berufenen staatlichen Stellen dabei nur eine Art „Ganoventreue“ dar, die die Rechtsordnung aus den unter III.2. ausgeführten Überlegungen ebenso wenig schützen kann wie das Interesse, die mit dem Geheimnis verbundenen Vorteile zu behalten und von evtl. Folgeschäden verschont zu bleiben, die mit den gesetzlich vorgesehenen Reaktionen der zuständigen Behörden verbunden sind. 4. Ein strafbewehrter Geheimnisschutz im Zusammenhang mit illegalen Vorgängen, der nur mit dem wirtschaftlichen Wert des Geheimnisses, den 26 Ebenso Rützel GRUR 1995, 558 ff. Ein gänzlich anderer, im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls nicht einschlägiger Aspekt, nämlich der Schutz übergeordneter existentieller Belange des Gemeinwesens, liegt dem Schutz illegaler Geheimnisse, die wegen ihrer Illegalität gerade keine Anerkennung als Staatsgeheimnis i. S. v. § 93 StGB finden(!), durch § 97a StGB zugrunde, vgl. Rützel GRUR 1995, 558.

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Folgen eines Einschreitens der zuständigen Behörden und dem damit verbundenen Interesse an der Loyalität von Mitarbeitern und Geschäftspartnern begründet wird, die nicht zu dem nach §§ 53, 53a StPO privilegierten Personenkreis gehören, müsste bei konsequenter Handhabung im Übrigen eine ebenso uferlose wie absurde Weite annehmen. a) Dazu betrachte man etwa folgende Beispiele: Wie halten wir es mit den Kundendaten eines Waffenhändlers, der – bei grundsätzlicher Ausübung einer legalen Unternehmertätigkeit – erlaubnispflichtige Waffen gelegentlich auch einmal ohne Vorlage eines zum Erwerb berechtigenden Dokuments veräußert? Wie mit den Daten über die Geschäftspartner eines Kunsthändlers, der nicht nach der legalen Herkunft von ihm angebotenen Stücken zu fragen pflegt und auf Wunsch alles beschafft? Käme hier jemand ernsthaft auf die Idee, den Bruch der Ganoventreue eines Mitarbeiters, der sich – und sei es nur gegen Bezahlung – bereiterklärt, die zuständigen Behörden mit entsprechenden Informationen zu versorgen, unter § 17 UWG zu subsumieren, weil dem betroffenen Unternehmer durch das Bekanntwerden einer solchen Indiskretion weitreichende wirtschaftliche Nachteile drohen? Wer würde hier Rücksicht auf den Umstand verlangen, dass der Waffenbzw. Kunsthändler seine Geschäfte mit kriminell agierenden deutschen Geschäftspartnern in einem ausländischen Staat abwickelt, der ein dort geltendes strafbewehrtes „Waffenhändlergeheimnis“ oder „Kunsthändlergeheimnis“ als ehernen Bestandteil seiner Rechtsordnung gegen internationalen Druck verteidigt und beim Verdacht von Waffendelikten oder eines im Ausland begangenen Kunstdiebstahls keine effektive Rechtshilfe leistet? b) Zwischen diesen Beispielen und dem Bankdaten-Fall, aber auch anderen Beispielen für illegale Geheimnisse, deren Offenbarung durch Mitarbeiter der betreffenden Firma gegenüber den zuständigen Behörden nach h. M. gegen § 17 UWG verstoßen soll,27 besteht lediglich folgender Unterschied: Während der Waffenhändler und der Kunsthändler in Straftaten verwickelt sind, die von grundsätzlich legal arbeitenden Gewerbetreibenden erstens nur selten begangen werden und deren Verwerflichkeit zweitens von kaum jemand in Frage gestellt wird, sind Steuer-, Umwelt-, Korruptions- und ähnliche Delikte auch in legalen Wirtschaftszweigen weit verbreitet, und sie werden dabei häufig nicht in dem Bewusstsein begangen, etwas „wirklich Böses“ zu tun. Wer einmal an der Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten mitgewirkt hat, kennt vielmehr die Ausflüchte, mit denen sich die Täter ihr 27

Többens NStZ 2000, 506 nennt etwa „die Verwendung verbotener Substanzen oder Preisabsprachen unter Anbietern bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand“; MüKo-StGBJanssen/Maluga § 17 UWG Rn. 37 nehmen auf „korruptive Vorgänge“ Bezug; Rützel GRUR 1995, 557 geht in seiner Kritik an der h. M. vom Beispiel der Umweltstraftaten aus.

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Verhalten schönreden: Andere sozial hochgestellte Personen tun es auch, man folgt nur wirtschaftlichen Notwendigkeiten oder man wähnt sich sogar in einem legitimen Widerstand gegen eine für verfehlt gehaltene Wirtschafts- oder Steuerpolitik. Speziell bei Steuerhinterziehern dürfte schließlich der Umstand, dass es sich zum Teil um finanziell extrem gutsituierte Täter handelt, die nicht nur über gute Beziehungen innerhalb der Wirtschaft und zu Teilen der Politik verfügen, sondern zu den wichtigsten Mandanten großer Anwaltskanzleien gehören (und zwar völlig unabhängig von Strafverteidigermandaten, die gar nicht originärer Gegenstand der Zusammenarbeit sind, weil man mit der Staatsanwaltschaft normalerweise nichts zu tun hat), dafür sorgen, dass ihnen eine schlagkräftige Lobby zur Seite steht. Diese kann es den Betroffenen maßgeblich erleichtern, den zum eigenen Nachteil erfolgten Verrat vermeintlich zuverlässiger Geschäftspartner und Mitarbeiter und dessen Ausnutzung durch einen Staat, der ihnen ohnehin schon zu viel zumutet, als das „eigentlich Böse“ zu brandmarken und dagegen ungeachtet des eigenen kriminellen Verhaltens den Schutz des Strafrechts einzufordern. Weil es letzten Endes in allen Fällen um strafbare und sozialschädliche Machenschaften geht, die durch den „Verrat“ ruchbar werden, rechtfertigt das alles jedoch keine andere Behandlung als in den Beispielen des Waffen- oder Kunsthändlers. Würde dort aber jemand ernsthaft die Forderung erheben, Mitarbeiter bei Strafe zu verpflichten, ihnen bekannte Informationen, die Rückschlüsse auf kriminelle Geschäfte ermöglichen, den zuständigen Behörden vorzuenthalten?

IV. Zur Anwendbarkeit von § 34 StGB Wenn die Offenbarung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses mit rechtswidrigen Inhalten gegenüber den Behörden, denen die Verfolgung entsprechender Rechtsverstöße obliegt, nach alledem nicht den Tatbestand von § 17 UWG erfüllt, bedarf es keines Rechtfertigungsgrundes, um für alle Beteiligten insofern zur Straflosigkeit zu gelangen. Trotzdem sei hier noch kurz auf die Diskussion um die Anwendbarkeit von § 34 StGB eingegangen. Dies geschieht auch im Hinblick auf mögliche weitere Verhaltensweisen, die andere Straftatbestände als § 17 UWG erfüllen, und bei denen sich im Ergebnis durchaus ein anderes Bild ergibt. 1.a) Wäre im vorliegenden Fall der Tatbestand von § 17 UWG erfüllt, so könnte man die für eine Rechtfertigung nach § 34 StGB vorausgesetzte gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut in der permanenten rechtswidrigen Schädigung des Fiskus um Milliardenbeträge erblicken, weil die Anwendung der Vorschrift zum Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit im

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Gegensatz zu § 32 StGB nicht ausgeschlossen ist.28 Diese Gefahr ist ersichtlich nicht „anders abwendbar“ als durch die Verschaffung von Daten über ausländische Geldanlagen deutscher Steuerpflichtiger; wie die in Zukunft vielleicht einmal bestehende Möglichkeit, die betreffenden Staaten dazu zu bewegen, bei Verdacht der Steuerhinterziehung uneingeschränkt Rechtshilfe zu leisten, in Bezug auf die derzeit hinterzogenen Steuern daran etwas ändern sollte,29 ist nicht nachvollziehbar. b) Ein wesentlich überwiegendes Interesse an der Vornahme der Tathandlung i. S. von § 34 S. 1 StGB lässt sich dabei sehr leicht begründen, wenn man bedenkt, dass wir es hier mit einer Konstellation des Defensivnotstands zu tun haben, in der sich die Maßstäbe der Interessenabwägung in weitem Umfang zu Lasten des beeinträchtigten Interesses verschieben:30 Die Gefahr für das Vermögen des Staates geht gerade von der Möglichkeit der Steuerhinterzieher aus, hinter dem exzessiven „Bankgeheimnis“ bestimmter Länder Unterschlupf zu finden, so dass Handlungen, die auf die Unterlaufung dieses Geheimnisses abzielen, keine Rechtsgüter Unbeteiligter treffen, sondern unmittelbar gegen die Gefahrenquelle gerichtet sind. Was die Schädigung der betroffenen Banken betrifft, so ist diese bei der Interessenabwägung dabei im Übrigen deshalb besonders gering zu veranschlagen, weil sie sich letzten Endes auf diejenigen Einbußen beschränkt, die auf dem Wegfall ihrer Eigenschaft resultieren, einen sicheren Hafen für Steuerhinterzieher zu bilden – ein Vorfall der vorliegenden Art verschreckt ja nicht den Teil des Kundenstamms, der bei der Bank nur ordnungsgemäß versteuerte Gelder angelegt hat und auf die Kapitalerträge die regulär geschuldeten Steuern entrichtet. Die Bank wird mit anderen Worten nur in ihrer Möglichkeit beschränkt, mit dem gleichen Erfolg wie bisher an der kriminellen Schädigung des deutschen Fiskus wirtschaftlich zu partizipieren. Dies lässt sie im vorliegenden Zusammenhang aus der Perspektive unserer Rechtsordnung schon im Ansatz als nicht schutzwürdig erscheinen, weshalb bei der Interessenabwägung nach § 34 StGB auch das wirtschaftliche Gewicht entsprechender Einbußen richtigerweise keine Rolle spielen kann. Selbst bei einer hieraus drohenden Gefährdung ihrer Existenz könnte nichts anderes gelten, denn der Eintritt einer solchen Situation würde nur bedeuten, dass sich die Bank zuvor in eine völlige Abhängigkeit gegenüber Steuerhinterziehern begeben hat, deren Konsequenzen sie bei einer Störung dieser Symbiose ebenso in vollem Umfang selbst zu tragen hat wie jeder andere, dessen Geschäftserfolg zu einem großen Teil auf der Zusammenarbeit mit Kriminellen beruht. Auf der anderen Seite schlägt die gigantische Höhe der Schä28

Ausführlich zum letztgenannten Aspekt Roxin AT I § 16 Rn. 13. So Spernath NStZ 2010, 308. 30 Allgemein Roxin FS Jescheck, 1985, 468 ff; ders. AT I § 16 Rn. 72 ff. 29

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den, die der Fiskus durch die von Liechtensteinischen und Schweizer Banken ermöglichten Steuerhinterziehungen erleidet, hingegen voll zu Buche.31 c) Die Weiterleitung von Informationen an die zuständigen staatlichen Stellen, die nicht mit Bruch einer (im Falle von § 17 UWG wie gesagt nicht ersichtlichen, s. o. III.3.) besonders geschützten Vertrauensbeziehung einhergeht, ist i. S. von § 34 S. 2 StGB ein angemessenes Mittel, die Gefahr abzuwenden. Wenn die Rechtsordnung die Einrichtung von Behörden vorsieht und diesen die Befugnisse an die Hand gibt, um gegen bestimmte Missstände vorzugehen, wenn sie von ihnen Kenntnis erlangen, verstößt derjenige, der sie durch entsprechende Mitteilungen32 in die Lage versetzt, eben dies zu tun, nämlich nicht gegen übergeordnete Rechtsgrundsätze, sondern verwendet geradezu das Mittel der Wahl, das ihm von Rechts wegen zur Abwendung der Notstandsgefahr zur Verfügung steht. Gelangt man auf diesem Wege zu einer Rechtfertigung der „Haupttat“ des Informanten, ist auch für eine Strafbarkeit wegen Anstiftung, Beihilfe oder der Anschlusstat eines Amtsträgers automatisch kein Raum mehr, so dass es auf die Frage, inwieweit sich Amtsträger im Dienst selbst auf § 34 StGB berufen können, insoweit gar nicht mehr ankommt. d) Zweifel an einem so begründeten Ausschluss der Strafbarkeit nach § 17 UWG für alle Beteiligten könnte man danach allenfalls noch in Bezug auf das subjektive Rechtfertigungselement hegen, weil das Motiv der Verkäufer der Bankdaten-CDs ja offensichtlich nicht darin lag, einen Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung in Deutschland zu leisten, sondern nur darin, sich selbst finanzielle Vorteile zu verschaffen (was in der öffentlichen Diskussion ja gerade den wesentlichen Stein des Anstoßes bildet). 33 Richtigerweise kann man als subjektives Rechtfertigungselement im Rahmen von § 34 StGB jedoch nur verlangen, dass dem Notstandstäter die Notstandslage und die Rolle seines Verhaltens bei deren Abwendung bewusst sind, was bei den Datenverkäufern ohne weiteres der Fall war. Darüber hinaus zu fordern, dass die Beseitigung der Notstandsgefahr das Motiv sei31 Ein wesentliches Überwiegen des Interesses i. S. von § 34 StGB an der Abwendung dieser Schäden gleichwohl deshalb zu verneinen, weil sie prozentual gesehen nur einen geringen Teil des Bundeshaushalts ausmachen, während die wirtschaftliche Beeinträchtigung der betroffenen Banken im Einzelfall gravierend sein kann (so Spernath NStZ 2010, 308), erscheint abwegig. Nach dieser Logik könnte sich nämlich auch das Interesse, betrügerische Schädigungen einer Bank zu unterbinden, die nur einen geringen Anteil von deren Jahresgewinn aufzehren, nicht gegen die wirtschaftlichen Interessen von Personen durchsetzen, die auf die ungestörte Fortsetzung guter Geschäfte mit den Betrügern existentiell angewiesen sind! 32 Wohlgemerkt: Nicht derjenige, der bei Privatermittlungen gegen anderweitige Straftatbestände verstößt; dazu sogleich unten IV.2.a. 33 Sieber NJW 2008, 884; Ignor/Jahn JuS 2010, 392.

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nes Handelns bildet,34 liefe auf die Etablierung eines Gesinnungsstrafrechts hinaus35 und hätte die absurde und in bestimmten Fällen (nämlich dort, wo es um die Rettung von Menschen geht) schlechthin unerträgliche Konsequenz, dass das objektiv Richtige nicht getan werden dürfte, weil derjenige, der über die notwendigen Mittel verfügt, keine hinreichend edle Gesinnung aufweist.36 2.a) Anders liegen die Dinge, wenn weitere Straftatbestände erfüllt werden, die neben dem Geheimhaltungsinteresse als solchem weitere Rechtsgüter schützen. Das wäre etwa dort der Fall, wo der Informant keinen ungehinderten Zugang zu den betreffenden Daten hat und sich diese nur unter Überwindung einer Zugangssicherung verschaffen kann (Ausspähen von Daten gemäß § 202a StGB), oder wo er einen Datenträger als fremde bewegliche Sache in der Absicht rechtswidriger Zueignung wegnimmt (§ 242 StGB): Hier wäre selbst bei unverändertem Ausgang der Interessenabwägung (s. o. 1.b) die übergeordnete Wertung der Rechtsordnung zu beachten, dass die Ausübung solcher (Quasi-)Zwangsbefugnisse zum Schutz von Allgemeininteressen grundsätzlich den dazu berufenen staatlichen Organen vorbehalten ist (etwas anderes käme allenfalls bei der Bedrohung höchster Interessen des Gemeinwesens in Betracht,37 von der man vorliegend schwerlich sprechen kann). Deshalb stellt die Anmaßung solcher Befugnisse durch eine Privatperson in der Tat kein angemessenes Mittel i. S. v. § 34 S. 2 StGB dar, den deutschen Fiskus vor einer rechtswidrigen Schmälerung seines Steueraufkommens zu schützen, und auch die Rechtfertigung einer Beteiligung von Amtsträgern an einem entsprechenden Delikt von Privatpersonen müsste spätestens an der Überlegung scheitern, dass man einem derartigen Einsatz Privater als Ermittlungshelfer jenseits von allem, was die Gesetze an Zwangsmitteln vorsehen, keine „Angemessenheit“ bescheinigen könnte. b) Eine effektive Strafbarkeit der am Ankauf von Bankdaten beteiligten Amtsträger hätte dies jedoch nur dann zur Folge, wenn der Informant die betreffenden Delikte im Auftrag oder mit Unterstützung deutscher Amtsträger begeht und insofern eine Anstiftung oder Beihilfe vorliegt. Hat sich die Tätigkeit letzterer hingegen darauf beschränkt, Daten zu prüfen und anzukaufen, die der Informant bereits zuvor auf einen eigenen Datenträger kopiert und erst danach aus eigener Initiative zum Kauf angeboten hat (ent-

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Dafür etwa LK-Zieschang § 34 Rn. 45 ff. Zutr. Roxin AT I § 16 Rn. 99 ff. 36 NK-Neumann § 34 Rn. 108. 37 Schönke/Schröder-Perron § 34 Rn. 10. 35

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sprechend der offiziellen Darstellung der einschlägigen Fälle), ist eine Teilnahmestrafbarkeit von vornherein ausgeschlossen.38 Entgegen anderslautender Behauptung39 käme in diesem Fall auch eine Strafbarkeit wegen Begünstigung (§ 257 StGB) nur dann zum Tragen, wenn den Informanten über die Durchführung der Transaktion als solcher hinaus weitere Unterstützung zuteil wurde, sich einem behördlichen Zugriff zu entziehen (wobei in diesem Fall ggf. zusätzlich § 258 StGB anwendbar wäre). Andernfalls ist nämlich schon in objektiver Hinsicht nicht erkennbar, inwiefern die – von § 257 StGB als solche nicht erfasste – wirtschaftliche Verwertung der Tatvorteile, um die es hier geht, eine drohende Entziehung dieser Vorteile erschweren sollte,40 denn für die Polizei in Liechtenstein bzw. in der Schweiz war es je nach den Umständen gleichermaßen leicht oder schwer, bei den Informanten entweder die CDs mit den Bankdaten oder den hierfür erzielten Erlös sicherzustellen. Im Übrigen wäre selbst ein tatsächlich bewirkter und von den Beamten als solcher erkannter Sicherungseffekt nur eine bloße Begleiterscheinung des in anderer Absicht (Erlangung von Beweismaterial für Steuerfahndungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen) erfolgten Handelns, was nach nicht unstrittiger, aber zutr. und u. a. auch vom BGH vertretener Ansicht nicht ausreicht, um den Tatbestand von § 257 StGB zu begründen.41 Selbst für den Fall, dass die Amtsträger vom Informanten keine CD mit kopierten Daten, sondern einen als solchen gestohlenen oder unterschlagenen Datenträger ankaufen würden, müsste die Strafbarkeit wegen eines Anschlussdelikts, als das in diesem (und nur in diesem) Fall § 259 StGB in Betracht käme, m. E. am Schutzzweck dieser Vorschrift scheitern (entsprechendes würde dort gelten, wo infolge einer geldwäschetauglichen Vortat § 261 StGB zur Debatte stünde): Weil das Verhalten der Ankäufer nur darauf abzielt, den Datenträger mit seinem Inhalt in den Gewahrsam der – aus der insofern wiederum allein maßgeblichen Perspektive unserer Rechtsordnung – zuständigen staatlichen Stellen zu bringen (die ihn zur Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben benötigen und dort, wo ihnen selbst oder 38 Zutr. Differenzierung bei Sieber NJW 2008, 884. Entgegen Samson/Langrock wistra 2010, 202, 204 stellt die Weitergabe der Daten an die Ermittler keine beihilfefähige Haupttat nach § 202a StGB in der Variante des „einem anderen“ verschafften Zugangs dar, denn letztere erfasst (entsprechend der Drittzueignung bei § 242 StGB) nur den Fall, dass der Zugang unter Überwindung der Zugangssicherung unmittelbar einem Dritten verschafft wird, nicht aber die hier zur Debatte stehende Weiterleitung von Daten, die sich der Täter unter Verstoß gegen § 202a StGB zunächst selbst zu eigener Verfügungsgewalt verschafft hat. 39 Vgl. etwa Trüg/Habetha NJW 2008, 889. 40 Zutr. Ostendorf ZIS 2010, 303 f; Spernath NStZ 2010, 309. 41 Vgl. BGH NStZ 2000, 31, Ostendorf ZIS 2910, 304; Schönke/Schröder-Stree/Hecker § 257 Rn. 17 m. w. N.

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im Wege der Rechtshilfe der Einsatz von Zwangsbefugnissen offensteht, deshalb sogar beschlagnahmen könnten), haben wir es hier nicht mit der Perpetuierung einer rechtswidrigen Vermögenslage zu tun, wie sie das Unrecht von § 259 StGB kennzeichnet.

V. Fazit und Konsequenzen 1. Die Entgegennahme der Bankdaten durch Vertreter deutscher Finanzverwaltungen ist ungeachtet der Verletzung eines am Herkunfts- und Übergabeort der Daten strafbewehrten „Bankgeheimnisses“ nach den Ausführungen unter III. nach deutschem Strafrecht richtigerweise tatbestandslos.42 Ohne dass dazu im vorliegenden Rahmen eine umfassende Stellungnahme möglich wäre, sei zu den Konsequenzen bzgl. der Verwertbarkeit zu Beweiszwecken nur folgendes bemerkt: Angesichts der Tatbestandslosigkeit haben wir es mit einem bloßen Akt des Sammelns von Informationen zu tun, der grundsätzlich keiner besonderen Rechtfertigung bedarf und in strafprozessualer Hinsicht von den Ermittlungsgeneralklauseln gedeckt ist, womit die gewonnenen Informationen grundsätzlich strafprozessual verwertbar sind. Dass die Informanten dabei reiche Entlohnung gefordert und erhalten und insofern aus wenig „ehrbaren“ Motiven gehandelt haben, hinterlässt zwar zugegebenermaßen einen etwas schalen Beigeschmack, dürfte am Ergebnis aber kaum etwas ändern: Wenn es ein Steuerhinterzieher hinnehmen muss, dass ein Dritter die Finanzbehörden unter Bruch eines ausländischen „Bankgeheimnisses“ mit den zu seiner Verfolgung notwendigen Informationen versorgt, ist es für das Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Staat völlig irrelevant (und begründet ihm gegenüber insofern auch keine gesteigerte Qualität des Eingriffs43), ob der Informant dabei altruistisch oder zwecks Erlangung eigener Vorteile handelt.44 Dementsprechend wird ja auch die seit eh und je verbreitete Praxis, für sachdienliche Hinweise zur Aufklärung bestimmter Strafta42

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass die im Hinblick auf den Einsatz öffentlicher Gelder zum Ankauf der Daten ins Spiel gebrachte Anwendung von § 266 StGB in Form einer Haushaltsuntreue (so etwa Kelnhofer/Krug StV 2008, 663 f) jedenfalls dann nicht nachvollziehbar erscheint, wenn im Haushalt für Steuerfahndungsmaßnahmen, denen man den Ankauf der Bankdaten ebenso zuordnen kann wie die Bezahlung von V-Leuten durch die Polizei den Ausgaben für Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung, ausreichende Mittel bereitgestellt wurden und keine Möglichkeit bestand, billiger an die Daten zu gelangen (etwa durch eine Beschlagnahme, wenn der Informant – was er gerade aus diesem Grund wohl freilich tunlichst unterlassen wird – mit dem Datenträger im Gepäck deutschen Boden betritt, vgl. Kühne GA 2010, 277 ff). 43 So aber Sieber NJW 2008, 884 f; wohl auch Ignor/Jahn JuS 2010, 393. 44 Zutr. Kölbel NStZ 2008, 243.

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Volker Erb

ten Belohnungen auszuloben, nicht mit der Begründung beanstandet, sie sei ein über die Ermittlungstätigkeit als solche hinausgehender qualifizierter Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen des Beschuldigten. Warum im vorliegenden Zusammenhang etwas anderes gelten sollte, solange der Informant nicht zur Begehung einer nach deutschem Recht strafbaren Handlung veranlasst wird, ist nicht ersichtlich.45 Selbst dann, wenn der Informant zuvor eigenmächtig (also nicht auf Veranlassung der Ermittlungsorgane) ein auch aus der Perspektive unserer Rechtsordnung tatbestandsmäßiges und nicht gerechtfertigtes Delikt nach § 202a, § 242 oder § 246 StGB begangen hätte, würde das nicht automatisch die Unverwertbarkeit der Informationen nach sich ziehen – ebenso wenig, wie es jemandem vor einer eigenen Strafbarkeit nach § 242 StGB bewahrt, wenn seine Tat erst im Zusammenhang mit dem Folgediebstahl eines Dritten offenbar wird, der sich anschließend aus eigener Initiative an die Polizei wendet.46 2. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Informationsbeschaffung von hierfür finanziell entlohnten V-Leuten erhebliche rechtsstaatliche Probleme aufwirft (nicht nur im vorliegenden Zusammenhang, sondern auch sonst, wo die Rechtsprechung an der grundsätzlichen Verwertbarkeit aber bekanntlich ebenfalls keinen Zweifel hat) und deshalb dringend einer gesetzlichen Regelung bedarf.47 Diese Probleme liegen aber nicht in der Enttäuschung des Vertrauens eines Beschuldigten in die „Ganoventreue“ von Mitwissern, sondern zum einen im vielfach problematischen Beweiswert von Aussagen, die jemand nur zur Erlangung eigener Vorteile macht (insbesondere dann, wenn die Aussage dem Gericht nur mittelbar über die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen zur Verfügung steht48), und zum anderen in der Gefahr unkontrollierbarer Weiterungen, wenn sich die ermittelnden Beamten nicht auf den schlichten Ankauf ihnen angebotener Informationen beschränken, sondern dulden oder sogar aktiv darauf hinwirken, dass der V-Mann in die Rolle eines privaten Hilfsermittlers gerät.49 Während ersteres im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielt (bei den Bankdaten handelt es sich um „harte“ und überprüfbare Fakten), ist letzteres hier nicht von der Hand zu weisen: Was wäre, wenn sich die BND45 Die besondere Höhe der Belohnung ist mit der gigantischen Höhe der durch die Steuerhinterziehungen verursachten Schäden zu erklären und führt m. E. nicht zu einer qualitativ anderen Betrachtung; a. A. wohl Jahn FS Stöckel, 2010, 272. 46 Kölbel NStZ 2008, 242; allgemein Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 24 Rn. 65. 47 Zutr. Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 37 Rn. 9. 48 Dazu Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 46 Rn. 33 f. 49 Hier (nicht hingegen bei bloßer Abschöpfung vorhandener Informationen) erlangt das Vorgehen dann auch eine Eingriffsintensität, bei der es nicht mehr auf die Ermittlungsgeneralklauseln gestützt werden kann, dazu LR-Erb § 163 Rn. 65.

Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?

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Agenten, die nach offizieller Darstellung nur als Ansprechpartner und Vermittler zwischen den Informanten und den an den Daten interessierten Finanzverwaltungen fungierten, nicht auf eine solche Tätigkeit beschränkt, sondern unter Bankmitarbeitern in Liechtenstein und in der Schweiz aktiv nach Informanten gesucht und diese zur Beschaffung von Daten über deutsche Bankkunden regelrecht angeworben hätten? In diesem Fall hätten wir es definitiv nicht mehr mit der von den Finanzverwaltungen geltend gemachten bloßen „Amtshilfe“, sondern mit einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit i. e. S. zu tun, was zur Verfolgung von Steuerhinterziehung nicht legitimierbar erscheint und ein Verwertungsverbot nach sich ziehen müsste.50 Eine Verletzung der Souveränität des betroffenen Landes wäre freilich weit unterhalb der Schwelle solcher Praktiken schon darin zu erblicken, dass die Abwicklung des Geschäfts durch einen dorthin gereisten Beamten der Finanzverwaltung oder durch einen für diese agierenden Vermittler eine im Ausland heimlich ausgeübte deutsche Staatstätigkeit darstellt.51 Um den hierdurch begründeten Vorwurf völkerrechtswidrigen Vorgehens ebenso zu vermeiden wie die aus Sicht des Informanten vermutlich indiskutable Abwicklung im Inland (bei der dieser befürchten müsste, dass die Datenträger ohne Zahlung der von ihm erhofften Belohnung einfach als Beweismittel beschlagnahmt werden), bietet es sich an (und ist zumindest in einem Fall wohl auch geschehen), die Transaktion in einen mit ihrer Durchführung einverstandenen Drittstaat zu verlegen.52 Unter diesen Voraussetzungen wird man der Finanzverwaltung allen Unkenrufen zum Trotz bescheinigen müssen, dass ihr Vorgehen vielleicht politische und moralische Bedenken aufwirft, aber rechtlich nicht zu beanstanden ist.

50

Dazu demnächst Rehbein Die Verwertbarkeit von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus dem In- und Ausland im deutschen Strafprozess, Teil 1 A.II.2.b i. V. m. III sowie Teil 2 B.I.5.b; vgl. auch (insofern zutr.) Schünemann GA 2008, 325 ff; ders. NStZ 2008, 306 f; Sieber NJW 2008, 882; Heine HRRS 2009, 541. 51 Vgl. etwa Beulke Jura 2008, 664; Heine HRRS 2009, 542; Jahn FS Stöckel, 2010, 273. 52 In dem Umstand, dass der Staat von einer Privatperson Informationen aus dem Ausland erhält, die er im Wege der Rechtshilfe nicht erlangt hätte, selbst dann einen Völkerrechtsverstoß zu erblicken, wenn dies gerade nicht unter Verletzung fremder Souveränitätsrechte geschieht (so wohl Heine HRRS 2009, 542 f), schiebt dem Staat eine positive Verantwortung für die Einhaltung eines von unserer Rechtsordnung nicht anerkannten „Bankgeheimnisses“ durch Privatpersonen in fremden Ländern zu und geht insofern entschieden zu weit. Danach dürfte man nämlich konsequenterweise auch einen aus eigenem Entschluss eingereisten und aussagebereiten Auslandszeugen nur dann über einen Auslandssachverhalt vernehmen, wenn es dem betreffenden Staat genehm ist! Im Ergebnis insoweit wie hier Beulke Jura 2008, 664.

Gesundheitszeugnis ohne Untersuchung Zum Tatbestandsmerkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 278 StGB GABRIELE WOLFSLAST UNTER MITARBEIT VON CATRIN FINGER

Der Vorgang dürfte einzigartig sein: Der Chefarzt einer psychiatrischen Universitätsklinik erstattet auf Bitten seiner Ehefrau und ohne Wissen des Betroffenen ein Gutachten über ihren Mann, das ausdrücklich „zur Vorlage bei der zuständigen Polizeibehörde“ bestimmt ist und mit der Empfehlung einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik wegen Selbst- und Fremdgefahr aufgrund einer Psychose endet. Grundlage des Gutachtens, das über die Ehefrau einer Polizeidienststelle vorgelegt wird, sind die auf bloßem Hörensagen und einer kurzen Beobachtung beruhende Verdachtsdiagnose eines anderen Psychiaters, die eigene, ebenfalls nur kurze Beobachtung des nichtsahnenden Betroffenen anlässlich einer Teppichvernissage in dessen Galerie sowie telefonische Mitteilungen der Ehefrau über das angebliche Verhalten ihres Mannes zuhause, gegenüber Geschäftspartnern und im Straßenverkehr. Das Ende dieser bizarren Geschichte ist bitter: Zwar scheitert die angestrebte Einweisung in die Psychiatrie, die Diagnose des Chefarztes verbreitet sich aber unter den Geschäftspartnern des Betroffenen, einem renommierten Teppichexperten, und führt zur Vernichtung seiner bisherigen wirtschaftlichen Existenz.1 Das Oberlandesgericht München hatte sich unlängst unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten mit diesem spektakulären Fall zu befassen, und es hat dabei zutreffend eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen dadurch angenommen, dass der Chefarzt sein Gutachten an die Ehefrau weitergegeben hat.2 Der Fall gibt aber auch Anlass zu strafrechtlichen Überlegungen, und zwar unter dem Aspekt der Verletzung von Privatgeheimnissen, der (versuchten) Freiheitsberaubung in mittelbarer Täter-

1 Einzelheiten zu dem Fall z. B. unter www.monalisa.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,1872,8105 483,00.html (zuletzt abgerufen 29.1.2011). 2 OLG München MedR 2010, 645 m. Anm. Bergmann.

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Gabriele Wolfslast

schaft und, worum es im Folgenden gehen soll, dem Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse gem. § 278 StGB.

I. Im Vordergrund steht insoweit die Frage nach strafrechtlichen Konsequenzen in Hinblick auf die Erstellung eines Gesundheitszeugnisses. Kann es sein, dass über eine Person eine Diagnose erstellt und in einem Gesundheitszeugnis, das zur Vorlage an eine Behörde dient, festgehalten werden darf, wenn diese Person, die sich in ihren eigenen Räumen aufhält, nicht die geringste Ahnung davon hat, dass sie Gegenstand einer Begutachtung ist, und wenn sie den begutachtenden Arzt nicht einmal kennt, geschweige denn sein Patient ist? Nüchterner formuliert: Wird ein solches Attest unabhängig von der Frage der Richtigkeit seines Inhalts allein dadurch unrichtig i. S. des § 278 StGB, dass der Arzt die begutachtete Person nie untersucht hat? Ist Bezugspunkt für die Unrichtigkeit eines Gesundheitszeugnisses nur ihr Inhalt oder auch die Art seines Zustandekommens? 1. § 278 StGB gehört zu den Urkundendelikten und stellt einen Spezialfall der schriftlichen Lüge dar.3 Anders als § 267 StGB schützt er nicht Echtheit und ordnungsgemäße Herkunft von Gesundheitszeugnissen, sondern deren inhaltliche Richtigkeit. § 278 StGB dient dem Wahrheitsschutz im Beweisverkehr mit Urkunden und geht damit über den Schutzbereich der §§ 267, 277 StGB (Urkundenfälschung, Fälschung von Gesundheitszeugnissen) hinaus.4 Unrichtig ist ein Gesundheitszeugnis danach zum einen dann, wenn es eine unwahre Erklärung über den Gesundheitszustand eines Menschen enthält, wenn also eine Krankheit bescheinigt wird, an der die betreffende Person überhaupt nicht leidet. Gerade bei psychischen Erkrankungen können die Meinungen darüber, ob sie vorliegen oder nicht, aber weit auseinander gehen; was für den einen Arzt eine Persönlichkeitsvariante ohne Krankheitswert ist, diagnostiziert der andere als Psychose. Es wäre ein Leichtes, auf diesem Weg die Unrichtigkeit einer Gesundheitsbescheinigung, in der jedenfalls in formal kompetenter Weise jemandem etwa eine Psychose attestiert wird, zu verneinen. 2. Unrichtig kann ein Gesundheitszeugnis jedoch auch in anderer Hinsicht sein. Seit einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1940 wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre die Methode der Informationsgewinnung in den Schutzbereich des § 278 StGB einbezogen und die Unrichtigkeit eines Ge3 4

Siehe Lackner/Kühl § 278 Rn. 1. LK-Gribbohm § 278 Rn. 2.

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sundheitszeugnisses auch dann bejaht, wenn die zur Ausstellung berechtigte Person – „der Arzt“ – einen Befund bescheinigt, ohne sich durch Untersuchung oder auf andere Weise zuverlässig über dessen Vorliegen unterrichtet zu haben.5 Diese Sichtweise ist zutreffend. § 278 StGB schützt das Vertrauen in die Richtigkeit ärztlicher Atteste.6 Dieses Vertrauen ist auch auf den Erklärungswert gegründet, der einem von kompetenter Seite verfassten Gesundheitszeugnis zugeschrieben wird, dass die Attestierung eines bestimmten Zustandes „nach bestem Wissen und Gewissen“ erfolgt ist, heißt: dass der Arzt nach gewissenhafter Überprüfung bzw. Feststellung das Attest ausgestellt hat. Der Adressat (bzw. der Rechtsverkehr) soll sicher sein können, dass das Attest dem medizinischen Standard entsprechend zustande gekommen ist und dass der in ihm enthaltenen Aussage ohne weiteres Glauben geschenkt werden kann.7 Das Vertrauen in den Beweiswert eines ärztlichen Gesundheitszeugnisses beruht darauf, heißt es dementsprechend etwa bei Otto, dass die in dem Zeugnis enthaltene Diagnose jenen Befund wiedergebe, den eine für derartige Befunde sachverständige Person aufgrund ordnungsgemäßer, d. h. dem Fall angemessener Unterrichtung festgestellt habe.8 Dreh- und Angelpunkt ist damit die Frage, was als „angemessene Untersuchung“, als ordnungsgemäße Feststellung eines Befundes angesehen werden kann oder muss. Ist eine persönlich vorgenommene körperliche Untersuchung zwingende Voraussetzung dafür, dass ein Attest als ordnungsgemäß zustande gekommen und damit als richtig i. S. des § 278 StGB angesehen werden kann? Dass grundsätzlich von Rechtsprechung und herrschender Lehre eine körperliche Untersuchung als Voraussetzung für die Ausstellung eines Gesundheitszeugnisses verlangt wird,9 leuchtet unmittel5

Vgl. BGHSt 6, 90; OLG Frankfurt NJW 1977, 2129 mit Anm. Otto JR 1982, 296; Lackner/Kühl § 278 Rn. 2; LK-Gribbohm § 278 Rn. 7; Schönke/Schröder-Cramer/Heine § 278 Rn. 2; Maurach/Schroeder/Maiwald BT 2 § 66 III 2 Rn. 43; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 2008, § 9 Rn. 378; offen gelassen in OLG Zweibrücken NStZ 1982, 467 f; a. A. wohl SK-Hoyer § 278 Rn. 2 und NK-Puppe § 278 Rn. 2, die demgegenüber unter Berufung auf den Wortlaut vertreten, dass sich die Erklärung, eine bestimmte medizinische Untersuchung an einem Menschen vorgenommen zu haben, nicht auf den Gesundheitszustand beziehe und deshalb nicht von § 278 StGB erfasst werde. Diese Auffassung überzeugt nicht. Sie verkennt, dass dem Gesundheitszeugnis deshalb ein besonderer, strafrechtlich schutzwürdiger Beweiswert zukommt, weil die in dem Zeugnis enthaltene Diagnose jenen Befund wiedergibt, den eine für die Feststellung derartiger Befunde sachverständige Person aufgrund ordnungsgemäßer, d. h. dem Fall angemessener Unterrichtung, festgestellt hat. So auch OLG Frankfurt a. M. MedR 2007, 442. 6 Siehe Ulsenheimer (Fn. 5) Rn. 389a. 7 Vgl. Jung in: ders./Meiser/Müller (Hrsg.), Aktuelle Probleme und Perspektiven des Arztrechts, 1989, S. 76, 79. 8 Otto JR 1982, 297; OLG Frankfurt a. M. MedR 2007, 444. 9 Siehe LK-Zieschang § 278 Rn. 7 m. w. N.

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bar ein: Einen sicheren Eindruck vom Gesundheitszustand des Patienten kann sich ein Arzt nur auf diese Weise verschaffen. Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, sei als Beweismittel ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach Untersuchung den jeweils festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstelle, hat der Bundesgerichtshof jüngst bestätigt.10 3. In Ausnahmefällen allerdings soll nach der Rechtsprechung wie auch der überwiegenden Meinung in der Literatur eine persönliche Untersuchung des Patenten entbehrlich sein.11 Dies wird „etwa dann“ angenommen, wenn sich der Arzt auf andere Weise zuverlässig über den Zustand des Patienten unterrichtet hat. 12 So soll der Arzt sogar allein aufgrund der telefonischen Angaben des Patienten oder „vernünftiger Angehöriger“ ein Attest für eine Behörde oder Versicherung ausstellen dürfen, wenn er sich von seinem ihm als vertrauenswürdig und verständig bekannten Patienten dessen Beschwerden anschaulich hat schildern lassen und die Symptome widerspruchsfrei zu einem bestimmten Krankheitsbild passen.13 Dieser Auffassung ist nur mit Einschränkung zuzustimmen, jedenfalls soweit es um die Bescheinigung aktueller Zustände geht. Selbst wenn man für die Frage der Unrichtigkeit eines ärztlichen Zeugnisses als entscheidend ansieht, ob der Arzt seine in dem Gesundheitszeugnis formulierte Überzeugung nach pflichtgemäßer Prüfung auf einer „tragfähigen und – was die Erwartung Dritter in die Zuverlässigkeit ärztlicher Atteste angeht – vertrauenswürdigen Beurteilungsgrundlage“ gewonnen hat,14 wird man nur in ganz engen Grenzen auf das Erfordernis der Untersuchung der Person, über die ein Attest ausgestellt wird, verzichten können. Ein ärztliches Gesundheitszeugnis ist eine Bescheinigung, der der Rechtsverkehr soll Glauben schenken dürfen, über etwas, das ist oder war – in der Regel eine Krankheit, Störung, Behinderung oder ein anderer gesundheitlicher Befund – bzw. über Feststellungen, die ein Arzt im Zusammenhang damit getroffen hat; beides greift ineinander. Bescheinigt ein Arzt, dass Herr X Schnupfen hat, dann geht der Empfänger zum einen davon aus, dass dies tatsächlich der Fall ist, und gleichzeitig, dass der Arzt dies aus eigener Überzeugung bekundet – im allgemeinen, dass er sich nicht lediglich auf die Angaben des Betreffenden verlassen, sondern sich einen eigenen Eindruck von den angegebenen Beschwerden verschafft hat. Im Ausnahmefall mag es tatsächlich so sein, dass der Arzt auch ohne Untersuchung oder zumindest eigene „Inaugenschein10

Siehe BGH MedR 2007, 248; OLG Frankfurt a. M. MedR 2007, 444. Vgl. LK-Gribbohm § 278 Rn. 8 m. w. N.; aus der Rspr. z. B. OLG Frankfurt a. M. MedR 2007, 444. 12 Vgl. OLG Düsseldorf MDR 1957, 372; LK-Gribbohm § 278 Rn. 8. 13 Ulsenheimer (Fn. 5) Rn. 389a a. E. unter Hinweis auf OLG Frankfurt a. M. NJW 1977, 2129; OLG Düsseldorf MDR 1957, 372; Fischer § 278 Rn. 2. 14 Ulsenheimer (Fn. 5) Rn. 389a. 11

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nahme“ des Patienten die Feststellung treffen kann, dass Herr X an Schnupfen leidet, weil er am Telefon gehört hat, dass Herr X stark verschnupft ist. Hier mag man es als ausreichend ansehen, wenn der Arzt den Patienten nicht gesehen hat, weil bzw. wenn er ihn gut kennt und für ihn in der Kombination der Kenntnis der Person mit der Schilderung der Beschwerden, vor allem aber auch mit der akustischen Wahrnehmung einer verstopften Nase infolge des Schnupfens keinerlei Zweifel daran besteht, dass die behaupteten und letztlich auch attestierten Beschwerden tatsächlich bestehen. Grundsätzlich aber können solche mittelbar getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um eine gesundheitsbezogene Tatsache zu attestieren. Woher will der Arzt wissen, ob der Patient tatsächlich an dem behaupteten Brechdurchfall leidet und sich nicht einfach vor der Prüfung drücken oder einen Tag „blau“ machen will oder einen anderen, menschlich gut nachvollziehbaren Grund hat, den Arzt zu täuschen, um eine Gesundheitsbescheinigung bestimmten Inhalts zu erhalten? Im Normalfall kann ein Arzt nicht guten Gewissens bezeugen, dass jemand – sei er Patient oder Proband – aktuell an einer bestimmten Krankheit oder Störung leidet oder sich in einer bestimmten gesundheitlichen Verfassung befindet, wenn er nicht die für die entsprechende Diagnose erforderlichen Feststellungen selbst getroffen, d. h. eine ordnungsgemäße Untersuchung vorgenommen hat; er kann dann nicht mit Überzeugung sagen, „Herr X hat … bzw. leidet an …“, bzw. er kann es nicht mit Gewissheit sagen. Überzeugung ist insoweit nichts rein Subjektives, sondern eine innere Haltung, die einer objektiven, nachprüfbaren Grundlage bedarf. Nur dann ist eine „tragfähige und – was die Erwartung Dritter in die Zuverlässigkeit ärztlicher Atteste angeht – vertrauenswürdige Beurteilungsgrundlage“ gegeben. Dies gilt umso mehr, wenn es zum einen um Krankheitszustände wie psychische Erkrankungen geht, deren Diagnose nicht allein auf objektive Befunde gegründet werden können, sondern für die es auf die Kenntnis der Person des Betroffenen ankommt und für die außerdem auch die Person des Beurteilers eine Rolle spielen kann, und zum anderen dann, wenn eine Gesundheitsbescheinigung zu einer so schwerwiegenden Maßnahme wie einer freiheitsentziehenden Unterbringung führen soll. Unter Umständen sind also auch anlassbezogene Faktoren bei der Frage zu berücksichtigen, was als ordnungsgemäße Grundlage einer Gesundheitsbescheinigung verlangt werden muss. Es bleibt festzuhalten: Ein Gesundheitszeugnis über eine aktuelle psychische Erkrankung kann nicht aufgrund telefonischer Angaben ausgestellt werden, erst recht nicht aufgrund der Angaben der (dem Arzt persönlich nicht bekannten) Ehefrau und schon gar nicht – wenn man das als Steigerungsform ansehen will –, wenn der Arzt auch den Betroffenen nicht einmal persönlich kennt. Einer solchen Bescheinigung fehlt es an jeglicher Grundlage zur Einschätzung dessen, was die Frau dem Arzt mitteilte. An dieser

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Beurteilung ändert sich auch nichts, wenn der Arzt die Person, über die er ein Gesundheitszeugnis ausstellen, mehr noch, der er aufgrund einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung Selbst- und Fremdgefahr bescheinigen will, ein Mal - ein einziges Mal, und dazu noch aus der Distanz selbst beobachtet hat. Die bloße Beobachtung eines Probanden ohne dessen vollständige Untersuchung und ohne persönlichen Kontakt als Grundlage für ein Gutachten wird zwar in Fällen akzeptiert, in denen sich der Proband einer gerichtlich angeordneten Begutachtung etwa zur Beurteilung der Schuldfähigkeit verweigert; in diesen Fällen ist aber das Gericht der Auftraggeber und nicht eine Privatperson, deren Motive der Gutachter nicht kennt, und außerdem weiß der Begutachtete – und das ist entscheidend –, dass er beobachtet wird. Er ist damit nicht bloßes Objekt einer Begutachtung, sondern ist Subjekt in einer Beziehung, auf die er sich mit seinem Verhalten einstellen kann. Von diesem Sonderfall abgesehen, verlangt eine psychiatrische Untersuchung, die Grundlage für eine Gesundheitsbescheinigung – insbesondere über eine dem Aussteller nicht persönlich bekannte Person – sein soll, eine ordnungsgemäße körperliche und neurologische Untersuchung, um zu klären, ob eine festgestellte psychopathologische Symptomatik organische Ursachen hat und ob zusätzliche körperliche Erkrankungen vorliegen, und dann natürlich eine ordnungsgemäße Exploration, zu der unter anderem die Familienanamnese gehört, die Erhebung der frühkindlichen, vorschulischen und schulischen Entwicklung, der Pubertät und des frühen Erwachsenenalters, , der beruflichen Entwicklung, von Partnerschaften, Ehe, Familie und Kinder, der sozio-ökonomischen Verhältnisse, die Sexualanamnese sowie die Erhebung früherer und gegebenenfalls jetziger Erkrankungen.15 4. Hat der Arzt auf eine körperliche Untersuchung des Patienten verzichtet, so führt das nur dann nicht von vornherein zur Unrichtigkeit der Gesundheitsbescheinigung, wenn er diesen Umstand als vom Normalen abweichende Beurteilungsbasis in der Bescheinigung offen gelegt hat.16 Unter Umständen ist es freilich nicht damit getan, dass der Arzt – ohne ausdrücklich zu sagen, dass er den Betroffenen nicht körperlich untersucht und mit ihm nicht einmal ein Gespräch geführt hat – darlegt, auf welche Weise er zu seiner Diagnose gelangt ist (z. B. Beobachtung ohne Wissen des Betroffenen während eines Ausstellungsbesuchs; telefonische Informationen über das Verhalten des Betroffenen durch seine Ehefrau; Mitteilung einer Verdachtsdiagnose durch einen Kollegen, der aber den Betroffenen ebenfalls nicht untersucht hat). Maßgeblich ist, wie das Gesundheitszeugnis auf den 15 Siehe Foerster/Winckler in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 2008, S. 18, 24 f. 16 Siehe LK-Zieschang § 278 Rn. 8 m. w. N.; vgl. auch Ulsenheimer (Fn. 5) Rn. 389a.

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Empfänger wirken muss: ist es in einer Weise abgefasst, die für den unbefangenen, d. h. für den nicht psychiatrisch gebildeten und auch juristisch nicht speziell versierten Adressaten den Eindruck erwecken muss, dass es sich um eine auf ordnungsgemäße Weise zustande gekommene Bescheinigung handelt? Handelt es sich beim Aussteller der Gesundheitsbescheinigung um den Direktor der psychiatrischen Klinik einer der bekanntesten und angesehensten Universitäten Deutschlands, so kommt einem von ihm verfassten Attest von vornherein ein besonderes Gewicht zu. Der Anschein, die Gesundheitsbescheinigung beruhe auf einer ordnungsgemäßen Untersuchung, ist deshalb unbedingt zu vermeiden. Gerade das ist aber nicht der Fall, wenn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass entgegen dem, was üblich ist und als Grundlage eines Attests erwartet wird und erwartet werden kann, keine körperliche Untersuchung der begutachteten Person vorgenommen und dass mit dieser Person auch kein ärztliches Gespräch (Exploration) geführt wurde, so dass der das Gesundheitszeugnis ausstellende Arzt allenfalls von einem Verdacht auf eine psychische Erkrankung hätte sprechen können. Eine unmissverständlich formulierte und als sicher dargestellte Diagnose („Herr H. ist demnach als psychisch krank und selbst/fremdgefährlich zu betrachten. Die ärztlichen Voraussetzungen für seine Unterbringung … sind nach ärztlichem Dafürhalten gegeben.“) legt den Schluss nahe, dass die Diagnose ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Auch wenn nicht ausdrücklich wahrheitswidrig vorgespiegelt wird, der Betroffene sei ordnungsgemäß untersucht worden, so reicht es doch aus, wenn dieser Eindruck konkludent erweckt wird. Dazu trägt beispielsweise bei, wenn eine Gesundheitsbescheinigung mit „Fachpsychiatrisches Attest“ überschrieben ist, womit ganz unmissverständlich auf die Einhaltung des „state of the art“ verwiesen wird, oder wenn eine Diagnose als sicher formuliert wird und die Bescheinigung in Aufbau und Terminologie einem korrekten psychiatrischen Gutachten entspricht. Im Fall des renommierten Teppichexperten, der bei näherem Hinsehen mehr ein Fall des renommierten Psychiaters ist, muss daher das Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses bejaht werden: die begutachtete Person war nicht ordnungsgemäß untersucht worden, was zwar nicht verschwiegen wurde, aber angesichts der Umstände – angesehener Leiter einer angesehenen Universitätsklinik als Aussteller der Bescheinigung; Suggestivwirkung der Überschrift des Attests; Aufbau und Terminologie; eindeutig, als feststehend und nicht nur als Verdacht formulierte Diagnose – für den Empfänger nicht erkennbar war.

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II. Der subjektive Tatbestand des § 278 StGB verlangt in Bezug auf die Ausstellung des unrichtigen Gesundheitszeugnisses Handeln wider besseren Wissens. Der Arzt, der ein unrichtiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat, muss gewusst haben, dass die Angaben unrichtig sind, und er muss das Zeugnis in diesem Wissen ausgestellt haben.17 Dabei schließt die Überzeugung des Arztes von der inhaltlichen Richtigkeit der Bescheinigung den Vorsatz nicht aus, wenn die Bescheinigung ohne erforderliche Untersuchung ausgestellt wurde.18 Entscheidend ist das Wissen des Arztes, dass die Grundlage seiner Diagnose nicht ausreichend war, so dass er den Befund z. B. einer manischen Psychose ohne ordnungsgemäße Exploration und ohne körperliche Untersuchung nicht stellen konnte. Beim Leiter einer psychiatrischen Universitätsklinik, der über langjährige Erfahrung in der Erstattung von Gutachten verfügt, muss angenommen werden, dass ihm die Standards der psychiatrischen Begutachtung sowie die Sorgfaltsanforderungen in Bezug auf das Ausstellen ärztlicher Atteste bekannt sind. Glaubt der Arzt wegen fehlender Mitwirkung des zu Begutachtenden auf Exploration und körperliche Untersuchung verzichten zu dürfen, so kommt das nur in Betracht, wenn die zu begutachtende Person weiß, dass sie einer Begutachtung ausgesetzt sein wird. Die irrige Annahme, sich im Falle einer Diagnosestellung ohne psychiatrische Exploration und körperliche Untersuchung nicht nach § 278 StGB strafbar zu machen, ist ein Irrtum über die Strafbarkeitsgrenzen des § 278 StGB, mithin ein Verbotsirrtum.

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Siehe z. B. Jung (Fn. 7) S. 81. Vgl. BGH MedR 2007, 248; LK-Gribbohm § 278 Rn. 12; OLG München NJW 1950, 796; RGSt 74, 229 (231). 18

IV. Kriminalpolitik und Sanktionen

Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands CARLOS JULIO LASCANO

I. Einführung In einem Vortrag am 13. Mai 1970, in der Akademie der Wissenschaften von Berlin gehalten und unter dem Titel „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ veröffentlicht, forderte unser hervorragender Geehrter Claus Roxin ein offenes und auf die Folgen bezogenes Strafrecht anhand seiner Verbindung mit den kriminalpolitischen Wertungen, die seine stete Umgestaltung ermöglicht haben. Dies spiegelte sich in der Forderung nach einer Erstellung der verschiedenen Kategorien der Deliktsstruktur wider, im Dienst kriminalpolitischer Prinzipien, die diese Kategorien gestalten: Gesetzlichkeitsprinzip und die allgemeine präventive Motivationsfunktion innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit; die Prinzipien von Sozialpolitik für die Lösung der Konflikte in den Rechtfertigungsgründen; die Strafbedürftigkeit – von dem allgemeinen präventiven Standpunkt sowie dem spezifischen aus –, welche der Schuld hinzugefügt werden muss und als Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dienen soll; auf diese Weise schränken sich die Schuld und die Prävention gegenseitig ein: Die vorbeugende Notwendigkeit darf nie zur Verhängung einer Strafe ohne Schuld führen, aber die Schuld des Täters kann auch nicht durch sich selbst die Verhängung einer Strafe ohne rechtfertigende präventive Notwendigkeit legitimieren. Für dieses neue von Roxin formulierte Programmmodell – das für die Vereinung der Kriminalpolitik mit dem konzeptuellen theoretischen System eintritt – entsteht kein Zwiespalt zwischen strafrechtlicher Dogmatik und korrekten kriminalpolitischen Entscheidungen, sondern es führt diese Wertungen in jede der Kategorien der Verbrechenslehre ein, um das Strafrecht der Wirklichkeit und dem Einzelanwendungsfall anzugleichen, ohne auf die Rechtssicherheit als Endziel der Systemausarbeitung zu verzichten. Die spezifische soziopolitische Organisationsweise der Gemeinschaft, in der das Strafrecht seine Anwendung finden soll, samt den Leitgedanken aus der

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Carlos Julio Lascano

Verfassung als Grundgesetz des Staates, wird bestimmen, welche kriminalpolitischen Kriterien vorzuziehen sind. Aufgrund dieser Fragestellung werden wir uns mit folgenden Fragen beschäftigen: a) Welche Relevanz können die kriminalpolitischen Verfassungsprinzipien in der dogmatischen Ausführung der Kategorie des „Unrechtstatbestands“ in Bezug auf seine Berücksichtigung als einheitlicher Bestandteil (der Gesamttatbestand von Roxin, 1970) besitzen, aufgrund der Zulassung der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale, oder aufgrund ihrer Spaltung in zwei unabhängige aber sich ergänzende analytische Ebenen, des Tatbestands und der Rechtswidrigkeit, wie ders. Roxin heute in seinem „Strafrecht. Allgemeiner Teil“ genauso wie in seiner Verknüpfung mit der Lehre der objektiven Zurechnung fordert? b) Ermöglichen die kriminalpolitischen Forderungen unseres Grundgesetzes zusammen mit der allgemeinen Rechtswidrigkeit eine spezifisch strafrechtliche Unrechtmäßigkeit? Zwei Ziele sollen dabei führend sein: die sichere und vertrauenswürdige Anwendung des Strafrechts und die Verringerung der Strafintervention und ihrer Intensität auf die unerlässlich notwendigsten Maße.

II. Die besondere Relevanz der kriminalpolitischen Prinzipien der argentinischen Verfassung im Aufbau des Unrechtstatbestands Der analytische Aufbau des Verbrechens, der überwogen hat, ist die „dreistufige“ oder „dreiteilige Struktur“, welche aus drei Kategorien besteht: der Tatbestand, die Rechtswidrigkeit und die Schuld. Die Verbindung zwischen den zwei ersten – als getrennte Kategorien betrachtet – bestimmt, dass die deliktiven Tatbestände – Verbotsnormen bildend – sich auf einer anderen Ebene befinden als die Rechtfertigungsgründe, die den Erlaubnisnormen entsprechen. Doch ausgehend von der aus dem neokantischen Normativismus stammenden Charakterisierung des systematischen Tatbestands als „Unrechtstatbestand“, da diese dem Tatbestand nicht die einfache Bedeutung von ratio cognoscendi verlieh, sondern die einer echten ratio essendi der Rechtswidrigkeit, wurde der Begriff des Tatbestands als unabhängige Kategorie in Bezug auf die Rechtswidrigkeit in Frage gestellt. Trotzdem ist das dreistufige Deliktssystem intakt geblieben, denn – obwohl jene Auslegung behauptete, dass der Tatbestand die Existenz der Rechtswidrigkeit voraussetzt und begründet, weil die tatbestandliche Handlung rechtlich geschützte Güter betrifft – wurde erachtet, dass der Tatbe-

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stand eine einstweilige Beurteilung von Unrecht ausdrückt: „wenn später irgendein Rechtfertigungsgrund vorliegt, wird dieser die schon im Tatbestand geschaffene und begründete Rechtswidrigkeit für nichtig erklären oder beseitigen: so z.B. Mezger in den dreissiger Jahren oder Schmidhäuser in der modernen Lehre“.1

1. Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale Der entscheidende Schritt zur Übernahme einer „zweistufigen Struktur“ oder eines „zweigeteilten Systems“, bestehend nur aus dem Tatbestand und der Schuld, wurde von der „Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale“ getan, die 1889 ursprünglich von Adolf Merkel formuliert und von anderen Autoren wie Baumgarten (1913), Radbruch (1930), Frank (1932), Hellmuth von Weber (1935), Lang-Hinrichsen (1953), Arthur Kauffmann (1954), Engisch (1960) und anderen deutschen Strafrechtlern aufgegriffen wurde. Dennoch dürfen wir das zweistufige Verbrechenssystem nicht mit der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale identifizieren. In der Tat: Silva Sanchez2 – der die Zweiteilung im analytischen Aufbau des Verbrechens verteidigt – behauptet, dass die zweistufige Verbrechensstruktur nicht unbedingt bedeutet, die Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale gutzuheißen, obwohl eindeutig die Mehrheit der zweiteiligen Auffassungen von Anhängern dieser Lehre stammen. In diesem Sinne ist Iñigo Ortiz de Urbina Gimeno3 einverstanden damit, dass „das Los der zweistufigen Struktur der Rechtslehre des Verbrechens nicht das Gleiche ist wie das dieser Lehre“. Die Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale wurde von Wenzel abgelehnt, er kehrte zu Belings Begriff eines wertfreien Tatbestandes zurück, obwohl er sich mit dem von Max Ernst Mayer vertretenen „Indizcharakter“ einverstanden erklärte. Auch Hirsch4 wies dieselbige mittels einer ausführlichen Darlegung zurück. Unlängst hat sich ihr Günther Jakobs5 kritisch widersetzt.

1 Luzón Peña Curso de Derecho Penal. Parte General I (Strafrechtslehrgang, Allgemeiner Teil I), 1996, S. 298 ff. 2 J. M. Bosch Aproximación al Derecho Penal contemporáneo (Annäherung ans gegenwärtige Strafrecht), 1992, S. 375 ff. 3 Ortiz de Urbina Gimeno InDret Penal 3/2008, www.indret.com. 4 Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960. 5 Jakobs Derecho Penal. Parte General. Fundamentos y teoría de la imputación (Strafrecht. Allgemeiner Teil. Begründungen und Lehre der Zurechnung), Übersetzung: Cuello Contreras/Serrano González de Murillo, 1995, Abs. 6, Nr. 56 – 58 ff, S. 192 ff.

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In seiner „Lehre vom Tatbestand. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale“6 aus dem Jahre 1959 erklärte sich Roxin ausdrücklich mit der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale unter der Benennung „Gesamttatbestand“ einverstanden. In diesem Werk7 erklärte er ausdrücklich und kategorisch, dass der „Gesamttatbestand im wesentlichen richtig“ sei, da „die Vorstellung, nach der die Beurteilung des legislativen Unwertes im Tatbestand gegeben sei, eine Begründung ist, laut der die das Unrecht ausschließenden Umstände systematisch mit dem Tatbestand übereinstimmen, da sie genauso zur Feststellung des Unrechts beitragen wie die Merkmale der Verbrechensbeschreibung selbst. Diese erfüllen die Aufgabe auf eine andere Weise: Während die strafrechtlichen Tatbestände des Besonderen Teils das strafrechtliche Unrecht direkt beschreiben, wird von den Rechtfertigungsmerkmalen ein Verhalten beschrieben, das sich nicht unbedingt dem Recht widersetzt“. Er fügt hinzu, „es scheint völlig angebracht einen deskriptiven Tatbestand im Vergleich zu einem anderen Tatbestand, der das Unrecht ausschließt, sich vorzustellen, in denen sich beide Arten von Merkmalen versammeln, um in der Entscheidung der konkreten Fälle zunächst den begründenden Tatbestand des Unrechts und danach den ausschließenden Tatbestand des Unrechts zu prüfen“.8 In „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“9 hat Roxin 1970 seine Zustimmung zum Begriff eines „Einheitsstraftatbestands“ bestätigt, obwohl – wie Mir Puig ganz richtig bemerkt – es inkonsequent ist, dass in diesem Werk „Roxin zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigungsgründen unterscheidet, obwohl er anderweitig diese Unterscheidung zurückweist und die Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale verteidigt. Er erklärt, dass diese Lehre die Anerkennung der unterschiedlichen Bedeutung des positiven und des negativen Teils des Tatbestands nicht verhindert. Dies ist wahr, aber es ist selbstverständlich, dass dies nicht ausreicht, um einen Verteidiger des Gesamttatbestands die Einschränkung des Begriffs der Tatbestandsmäßigkeit auf den positiven Teil zu erlauben, denn dies würde eigentlich bedeuten die Lehre der negativen Merkmale aufzugeben“. Diese Begriffsaufgabe ergab sich schließlich 1991, als Roxin in der ersten Auflage seines „Strafrecht. Allgemeiner Teil“ nicht mehr der zweistufigen Verbrechensstruktur zustimmt, die auf der Lehre der negativen Tatbe-

6 Roxin Lehre vom Tatbestand. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Auflage, Übersetzung Bacigalupo, 1979, S. 273 ff. 7 Roxin (Fn. 6) S. 274. 8 Roxin (Fn. 6) S. 275. 9 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage, S. 56, Fn. 56.

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standsmerkmale begründet ist und weiter von einigen seiner deutschen Anhänger wie Schünemann10 verteidigt wird. Roxin11 erklärt, dass – trotz der Vorteile der Zweistufigkeit, aufgebaut auf dem globalen Unrechtstatbestand, – es schwerwiegendere Gründe zum Bevorzugen des deliktiven Tatbestands gibt, als unabhängige Kategorie der Rechtswidrigkeit gegenüber, denn jeder solcher analytischen Rechtsstreite „hat besondere kriminalpolitische Funktionen, die der Gefahr ausgesetzt sind verloren zu gehen, wenn sie in Hinblick auf systematische Folgen nicht berücksichtigt werden“. Für den Münchner Meister sind der Tatbestand und die Rechtswidrigkeit – jedes für sich – eine dem Verbrechen eigene Kategorie, da sie von verschiedenen Wertungsvorstellungen aus abweichend sind: der erste als geschlossener und strafrechtlich spezifischer Deliktsbestand und die zweite als allgemeiner Rechtsfertigungsgrund, dessen Reichweite sich jenseits des Strafrechts erstreckt und gem. Sozialordnungsprinzipien strukturiert ist (Güterabwägung und Selbstschutz), der eine als Anwendungsobjekt des Gesetzlichkeitsprinzips und die andere als Entwicklungsort und Gestaltung von hochrangigen Kriterien; der Tatbestand als provisorische Unwertbeurteilung und die Rechtswidrigkeit als negative Wertung im Einzelfall der konkreten Sozialschädlichkeit des Verhaltens; oder a. E. zur Ausschließung der Strafbarkeit, sei es als rechtlich neutrale Tatbestandslosigkeit oder als rechtlich erlaubte Rechtfertigung, die vom Betroffenen ertragen werden muss. Er schließt damit ab, dass solche Unterschiede ausgeglichen würden, „wenn von der Perspektive eines zweistufigen Verbrechenssystems aus, jegliches gerechtfertigtes Verhalten als tatbestandslos erachtet wird12“. Unserer Meinung nach sind die Vorteile der auf die Anerkennung der Lehre des Gesamtunrechtstatbestands, von Roxin 1959 verteidigt und erweitert, aufgebauten Zweistufigkeit von größerem Vorteil als die von ihm später benutzten Begründungen zur Rechtfertigung seiner Meinungsänderung. In der Festschrift für Roxin zu seiner von der Universität Coimbra13 verliehenen Doktorwürde honoris causa bezieht sich Schünemann auf die von kriminalpolitischen Prinzipien ausgehende Funktionalisierung der Kategorien der Verbrechenslehre seines Meisters, und hier stimmt er mit Ame-

10 Schünemann El sistema moderno del Derecho Penal: cuestiones fundamentales, introducción, traducción y notas de Silva Sánchez” (Das moderne Strafrechtssystem: Grundfragen, Einführung, Übersetzung und Bemerkungen von Silva Sánchez), 1990, S. 71 ff. 11 Roxin Derecho Penal. Parte General (Strafrecht. Allgemeiner Teil) I § 10 Rn. 19 ff. 12 Roxin (Fn. 11) § 10 Rn. 22. 13 Schünemann in: Schünemann/De Figueiredo Dias (Hrsg.), Fundamentos de un sistema europeo del Derecho Penal” (Grundsätze eines europäischen Strafrechtssystems), 1995, 221 ff.

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lung14 überein, dass „die Bestimmung des Tatbestandszwecks ausgehend vom nullum crimen zu formell ist, und dass es auch völlig nicht konkret ist, die Rechtfertigungsgründe von dem Begriff der Soziallösung von Konflikten abzuleiten“. Schünemann15 fügt hinzu: „In beiden Fällen wird eher versucht, das strafrechtliche Unrecht zu bestimmen und damit die aus sozialer Sicht besonders rechtsverletzenden Handlungen, wofür die Unterscheidung zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigungsgründe nur eine heuristische und technische Bedeutung besitzt“. Er verteidigt ein in zwei Ebenen geteiltes Zweistufensystem16: einerseits die strafrechtliche Rechtswidrigkeit (strafrechtlicher Tatbestand) bestehend aus der besonders intensiven objektiven Abwertung (spezifisch strafrechtlich) der Handlung, andererseits die individuelle Verantwortung des Täters bzgl. dieser Handlung. Zur Widerlegung der Behauptung einer wesentlichen Unterscheidung zwischen tatbestandsmäßig irrelevanten Verhaltensweisen und gerechtfertigtem Verhalten äußert Schünemann: „Die Tatbestandsmäßigkeit und der Mangel an Rechtfertigungsgründen bedeuten deshalb pragmatische Unterscheidungen der Bewertung des „spezifischen strafrechtlichen Unrechts“17. „Aus diesem Grund ist es völlig verfehlt, in einem teleologischen Strafrechtssystem dem Unrechtstatbestand –wie es Jakobs weiterhin macht – eine spezifische Einheit von juristischer Bedeutung unabhängig von einer gegebenen rechtfertigenden Situation zuzuschreiben“, indem dies auf dem alten Gedankengang von Welzel begründet ist, dass es nicht das Gleiche sei, eine Mücke zu töten und einen Menschen gerechtfertigterweise zu töten. Dies bedeutet: Aus der Perspektive des bestimmenden Grundwerts, d. h. des strafrechtlichen Unrechts, gebührt beiden Fällen die gleiche Beurteilung, so dass der vorhandene Unterschied zwischen beiden nur auf einer späteren Unterscheidungsebene systematisch wiedergegeben werden kann“.18 Der gleiche Autor19 behauptet, dass die Anwendung dieses Beispiels als Argument zugunsten des Bestehens eines wesentlichen Unterschieds zwischen Mangel an Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung aus der Sicht 14 Amelung El sistema moderno del Derecho Penal: cuestiones fundamentales, introducción, traducción y notas de Silva Sánchez (Das moderne Strafrechtssystem: grundsätzliche Fragen, Einführung, Übersetzung und Bemerkungen von Silva Sánchez), 1990, 96 f. 15 Schünemann (Fn. 13) S. 221. 16 Schünemann (Fn. 10) S. 71. 17 Diese Textstelle veranschaulicht Schünemanns Zustimmung – allgemein formuliert – bzgl. Günthers Meinung, die wir später untersuchen werden. 18 Schünemann (Fn. 10) S. 72. 19 Schünemann (Fn. 13) S. 222.

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„des Leitkriteriums der Soziallesivität ein Fehler ist, da – mag man wollen oder nicht – der Tod eines Menschen durch Notwehr verursacht, aus sozialer Sicht so geringfügig ist wie der Tod einer Mücke“. Wir bemerken dazu, dass in beiden Situationen – das rechtlich unbedeutende Verhalten und das rechtlich verbotene, aber von einer rechtlich permissiven Darlegung oder von einem Rechtfertigungsgrund geschütztes Verhalten – Verhaltensweisen vorliegen, die keinerlei rechtlich verbotene Gefahren schaffen, weshalb es für sie die gleiche strafrechtliche Lösung gibt. An dieser Stelle muss betont werden, dass Roxins gegenwärtige Bevorzugung der dreiteiligen Verbrechensstruktur mit getrennter Berücksichtigung der Tatbestandskategorien und der Rechtswidrigkeit, nicht mit dem in den einführenden Worten zur zweiten Auflage in spanischer Sprache seiner „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ Geäußerten übereinstimmt20. In seinem Betrag zur FS für Jescheck, kürzlich in spanischer Sprache veröffentlicht21, hat ders. Roxin erklärt, dass „der Rechtsgüterschutz nicht nur die Aufgabe des Strafrechts bestimmt, sondern auch die Systematik der Unrechtslehre beherrscht. Das Strafrecht schützt das Rechtsgut im Rahmen der Möglichkeit seiner Tatbestände gegen unerlaubte Risiken. Aus diesem Grund sind der Rechtsgüterschutz und die Lehre der objektiven Zurechnung unlösbare Komponenten eines Verbotsbereiches, der Gewichtungssozialprozesse beinhaltet“. Gerade eine konsequente Entwicklung mit diesen Überlegungen würde ermöglichen, das System der zweiteiligen Zurechnung anzuerkennen, in dem das spezifische strafrechtliche Unrecht in seinem objektiven Tatbestand den ganzen Bereich des Strafverbots von Schaffung und Verwirklichung von Risiken bzgl. des Rechtsgutes beinhalten würde, einschließlich die durch die Rechtfertigungsgründe vertretenen Einschränkungen, welche rechtlich nicht missbilligte Risiken einbeziehen. Mit anderen Worten, wenn der tatbestandliche Erfolg dem objektiven Tatbestand zurechenbar sein muss durch die Schaffung und Durchführung eines rechtlich missbilligten Risikos für das Rechtsgut, innerhalb des Schutzzweckes des jeweiligen Tatbestandes, verursacht dies unter Mitwirkung eines Rechtfertigungsgrundes – der das Verbot einschränkt zur Ret-

20 Roxin (Fn. 9) S. 7 ff: „Meiner Meinung nach spielt die objektive Zurechnung, die ich fast gleichzeitig mit dieser Monographie (wieder) begründet habe, in der allgemeinen Präventivstruktur des Tatbestands – die gewissermaßen die an alle Bürger gerichteten Verhaltensregeln zum Ausdruck bringt – zusammen mit dem Prinzip nullum crimen eine Hauptrolle, und seitdem in Deutschland sowie in der Welt viele Anhänger erhalten hat.“ 21 Roxin La teoría del delito en la discusión actual“ (Die Verbrechenslehre in der gegenwärtigen Debatte), Übersetzung Abanto Vásquez Grijley, 2007, 109.

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tung eines wichtigeren Rechtgutes – ab initio den Ausschluss des strafrechtlichen Unrechtstatbestandes. Hier einige Beispiele: 1. Es wird behauptet, dass der aus einem das Risiko für das Rechtsgut vermindernden Verhalten resultierende Erfolg nicht objektiv zurechenbar sei; dies wäre der Fall eines Fußgängers, der sich in der Gefahr befindet, von einem sehr schnell fahrenden Wagen angefahren zu werden und von einer anderen Person weggestoßen wird, die ihm das Leben rettet, aber durch den jähen Fall einen Armbruch verursacht. In diesem Fall würde es sich um nicht unter Strafdrohung verbotene schwerwiegende Verletzungen handeln, durch das Vorhandensein einer tatsächlichen Situation innerhalb des Rahmens der rechtfertigenden Notwendigkeit (Art. 34, Abs. 3, StGB), die den Unrechtstatbestand ausschaltet. 2. Laut Omar Palermo22 müssen die durch den Angegriffenen verursachten Verletzungen des Angreifers der Norm nach wie ein Fall der „Zurechnung des Opfers“ behandelt werden. Folglich, da die objektive Zurechnung gescheitert ist, schließt die Notwehr (Art. 34, Abs. 6 StGB) den objektiven Tatbestand aus. Unsere Stellungnahme unterscheidet sich in diesem Punkt von der Ansicht eines der hervorragendsten spanischen Verteidiger der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale, Luzón Peña23, der behauptet, dass: „wenn die Forderung des rechtlich missbilligten Risikos kohärent dargestellt wird, müsste auch die objektive Zurechnung des Erfolgs verneint werden, dies im Falle, dass die Handlung ein rechtlich gebilligtes Risiko schafft, durch das das Rechtsgut in Notwehr, Notstand, Pflichterfüllung oder in Ausübung des Rechts oder der Stellung verletzt wird, d.h., in jeglichem angenommenen Fall, in dem das Handlungsrisiko durch einen Rechtfertigungsgrund verteidigt wird. Diese Richtlinie ist folglich der Keim einer übermäßigen Erweiterung und Zweckentfremdung des Begriffs der objektiven Zurechnung und ein Missverstehen der unterschiedlichen Funktionen des strikten Tatbestands (oder positiven Tatbestandsteils) und den Ausschluss der Rechtswidrigkeit (des negativen Tatbestandsteils)“. Dieser Autor24 verzeichnet verschiedene Funktionen bei beiden Teilen des Gesamtunrechtstatbestands: Der positive Teil beschreibt die objektiven und subjektiven Merkmale einer Handlung, die sie im Prinzip strafrechtlich relevant machen (u.a. wegen ihrer Gefährlichkeit oder Lesivität bzgl. 22 Omar Palermo La legítima defensa. Una revisión normativista. (Die Notwehr. Eine normativistische Revision), 2007, 440. 23 Luzón Peña Curso de Derecho Penal. Parte General I. (Strafrechtsstudien. Allgemeiner Teil I), S. 382. 24 Luzón Peña (Fn. 23) S. 300, 382.

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Rechtsgüter), und deshalb ein Rechtswidrigkeitsindiz darstellen und im Prinzip ein strafrechtliches Unrecht begründen; der negative Teil, der Mangel an Rechtfertigungsgründen, dient zur definiten Bestätigung dieses Rechtswidrigkeitsindizes, damit die Rechtswidrigkeit endgültig bestätigt wird, oder im Gegenteil, wenn Rechtfertigungsgründe vorhanden sind, um das Rechtswidrigkeitsindiz des positiven Tatbestandteiles abzubauen oder nicht zu bestätigen. Jene Funktion des positiven Gesamttatbestandteils erinnert uns gewissermaßen an die Auslegung des Tatbestands als einfacher Indizienträger oder ratio cognoscendi der Rechtswidrigkeit, wie es M. E. Mayer 1915 vorgeschlagen hatte und 15 Jahre später der welzellische Finalismus anerkannt hat, ein Kriterium, das – laut desselben Luzón Peña25 – „weiterhin majoritär ist“. Trotz gebührender Hochachtung vor dem hervorragenden Professor der Universität von Alcalá de Henares glauben wir, dass unsere Auslegung mit dem Verfassungsprinzip des alles andere ausschließenden Rechtsgüterschutzes konsequenter ist, da sie eine bessere Vereinbarkeit der Zurechnungskriterien den objektiven Tatbestand betreffend mit dem Begriff des „Gesamt- oder Globalunrechtstatbestands“ erlaubt. Dies ist so, da – neben den von uns oben angesprochenen Begründungen dogmatischer Natur – die zweistufige Verbrechensstruktur der Lehre des Gesamtunrechtstatbestandes – welche die Lehre der objektiven Zurechnung hervorhebt – mit den kriminalpolitischen Prinzipien unseres Verfassungsprogrammes übereinstimmt und den Bereich der persönlichen Freiheit besser beschützt im Vergleich zu dem dreistufigen Modell, da in diesem die strafrechtliche Restriktion nur die Handlungen erfasst, die eine Gefahr für das Rechtsgut schaffen, was sich i. E. zeigt, wenn dieser Umstand nicht durch die Notwendigkeit der Wahrung eines anderen mehrwertigen Rechtsgutes gerechtfertigt ist. Unser auf einem strafrechtlich-liberalen Verfassungsmodell beruhender Standpunkt steht dafür, dass der materielle Inhalt der Rechtswidrigkeit von Art. 19 der argentinischen Verfassung abgeleitet wird. Dieser garantiert die persönliche Freiheit, indem er die Staatsgewalt bzgl. der Sicherheit einschränkt und vorschreibt, dass es ein Gesetz geben muss (formelle Rechtswidrigkeit), das Verhaltensweisen, die nicht gegen die Ordnung und öffentliche Moral vertoßen oder die Rechte von Dritten verletzen (substantielle Unrechtsmäßigkeit), weder verordnen noch verbieten darf. So ist das zwischen den privaten und den öffentlichen Handlungen unterscheidende Krite-

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rium die Anstößigkeit oder Lesivität dieser Handlungen und dessen Konsequenz die rechtliche Verbots- oder Vorschriftsmöglichkeit26. Demnach behaupten wir, dass – unter dem Zwang des ersten Absatzes der genannten Verfassungsbestimmung – nur jene externen menschlichen Handlungen („öffentliche Handlungen“) im Allgemeinen rechtswidrig sein können, wenn sie auf irgendeine Weise gegen die öffentliche Ordnung und Moral verstoßen oder die Interessen eines Dritten schädigen. Aber nur das dem Sachverhalt vorhergehende Strafgesetz (Art. 18 der Landesverfassung) ist unter den zahlreichen gegen die allgemeine Rechtsordnung verstoßenden Vorgehen zur Auswahl befugt und darf die Liste von den strafrechtswidrigen Vorgehen, die taxativ in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches beschrieben werden, erstellen. Gemäß dem Prinzip der Lesivität oder des ausschließenden Rechtsgüterschutzes ist die Ausübung des Strafrechtszwanges hinsichtlich eines an den Tag gelegten menschlichen Verhaltens, das Verletzung oder Gefahr für ein Strafrechtsgut bedeuten könnte, nur dann erlaubt, wenn dieser Umstand nicht durch die Notwendigkeit der Wahrung eines mehrwertigen Rechtsgutes gerechtfertigt ist. So können wir durch eine normative Integrierung der Tatbestände des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches mit den im AT enthaltenen Rechtfertigungsgründen eine vollständige Übersicht des strafrechtlichen Verbotsbereiches erlangen und auf diese Weise die sozialschädlichen Vorgehensweisen erfassen, die unter Strafandrohung stehen, da sie von den spezifisch strafrechtlichen Unrechtstatbeständen verbotene Risiken einbeziehen. Infolgedessen kann das gleiche Verhalten nicht gleichzeitig strafrechtlich verboten sein, weil es tatbestandmäßig ist, und erlaubt, da es von einem Rechtfertigungsgrund beschützt ist27. Wir teilen die Überlegungen von Bidart Campos28 bzgl. seiner Auslegung, die Rechtsfreiheit sei ein „Grundprinzip zugunsten des Menschen, i. S., dass alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist“. Wenn es notwendig wäre, jedes einzelne menschliche Verhalten zu genehmigen, würde das Genehmi26 Despontin La funcionalidad de la ofensa al orden y a la moral pública en el sistema argentino (Die Funktionalität der Verletzung der Ordnung und des öffentlichen Anstands im argentinischen System), 1994, 16. 27 Wie es aus der Behauptung von Luzón Peña entnehmbar ist, Curso de Derecho Penal. Parte General I. 300: „...nur die Vereinigung des positiven und des negativen Tatbestandsteils, zwischen denen sich eine „Beziehung-Ausnahmeregel“ ergibt (die Regel ist, dass beim positiven Tatbestand es im Prinzip ein strafrechtlich verbotenes Verhalten gibt, die Ausnahme ist dessen Erlaubtsein infolge eines Rechtfertigungsgrundes, ...) beinhaltet vollständig und definitiv den „Verbotsbereich“. 28 Bidart Campos Ob. und lug. cits., Nr. 3. Im gleichen Sinne, 527, Nr. 20.

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gungsverzeichnis ins Unendliche reichen und dessen ungeachtet Lücken aufweisen. Aus diesem Grund muss von einer Rechtsfreiheitsgrundlage ausgegangen werden, die den ganzen Bereich der nichtverbotenen Verhaltensweisen als erlaubt (frei) abgrenzt. Dieses Prinzip ist aus dem gleichen Art. 19 unserer Verfassung abgeleitet aus dem das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von rechtfertigenden Textteilen stammt, denn wenn niemand davon abgehalten werden kann, das zu machen, was das Gesetz nicht verhindert, ergibt sich dieses aus der Folgerung „Das Nichtverbotene ist erlaubt“. Der gleiche Autor fügt hinzu, dass „der Intimbereich und die Zulassungszone weder auȕerrechtlich noch rechtlich nicht geregelt sind, denn seit das Recht sie schützt, bedeutet es, dass sie rechtlich relevante Bereiche sind, „innerhalb“ und nicht auȕerhalb der Rechtswelt, in denen sich der Mensch innerhalb eines Zulässigkeitsbereichs bewegt“. In der kriminalpolitischen Architektur der argentinischen Verfassung gibt es keine Erlaubnisnormen – die so genannten „starken Erlaubnisse“, von den rechtlich unbedeutenden Verhaltensweisen, genannt „schwache Erlaubnisse“ unterscheidbar – welche Ausnahmen zur aus den Verbots- und Gebotsvorschriften bestehenden Regeln bilden. Der Art. 19 der Landesverfassung garantiert weitgehend einen Freiheitsraum, der nicht nur die nicht in externen menschlichen Handlungen verwirklichten Ideen und Gedanken umfasst, sondern auch jene Verhaltensweisen, die von den Bürgern fakultativ durchgeführt werden können oder nicht – ohne Rechtsfolgen –, denn sie waren nicht der Gegenstand einer Gebotsvorschrift oder eines Verbots. Diese beiden sind die einzigen vorgesehenen Vorschriften im zweiten Abschnitt des Art. 19 der Landesverfassung, dessen Übertretung Anlass zur Rechtswidrigkeit geben kann. Aus diesem Grund erachten wir die Forderung der Anwendung von Welzels Unterscheidung zwischen dem „Nichtverbotenen“29 und dem „zulässigen Verbotenen“30, für inkohärent und unlogisch. So können wir sagen, dass die Handlungsfreiheit die Regel ist und die Einschränkungen dieser so weitläufigen Befugnis, die sich aus den Vorschriften und Verboten ergeben, die Ausnahmen bilden. Aus diesem Grund wird gesagt, „alles, was nicht verboten oder geboten ist, ist rechtlich erlaubt“, aber nicht mit der Bedeutung der „Erlaubnisse im starken Sinne“ von Von Wright31, die die Verbots- und Vorschriftsnormen ausschließen, denn wir teilen die Meinung von denen nicht, die behaupten, dass die negative Abfassung der zweiten Klausel des Art. 19 der Landesverfassung „bedeutet, das Verhalten ist verboten oder obligatorisch, wenn es nicht spezi29

Das rechtlich unbedeutende Vorgehen, eine Mücke zu töten. Das normwidrige aber gerechtfertigte Verhalten, einen Menschen in Notwehr zu töten. 31 Von Wright Norm and Action. A. Logical Enquiry, 1963. 30

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fisch erlaubt ist“32, da dies eine unzulässige Umstellung des gewährleistenden und liberalen Gedankens dieser Verfassungsklausel bedeutet. Ortiz de Urbina Gimeno33 weist deutlich darauf hin, dass die von Von Wright „vorgeschlagene Unterscheidung zwischen schwachen und starken Erlaubnissen richtig in deskriptiven Worten ist. In den Rechtsordnungen gibt es sowohl Verhalten, über die das System sich nicht geäußert hat, als auch andere, über die es sich geäußȕert hat, indem sie ausdrücklich für erlaubt erklärt wurden. Wenn wir uns auf das strafrechtliche Untersystem beschränken, scheint die Unterscheidung ‚starke Erlaubnis – schwache Erlaubnis‘ fast ununterscheidbar von der Unterscheidung zwischen tatbestandlichen Handlungen (der Tod einer Fliege) und tatbestandlichen aber gerechtfertigten Handlungen (der in Notwehr verübte Tod des Angreifers). Doch das eigentlich Wichtige ist, ob die Unterscheidung nicht nur in ihrer Beschreibung korrekt ist, sondern auch in ihrer Relevanz“. Dieser Autor34 fügt hinzu: „Auch wenn das Verhalten der Person innerhalb des Sachverhaltes einer Erlaubnisvorschrift eingeordnet ist, versucht das Strafrecht nicht das Verhalten dieser Person zu leiten: wenn diese sich in einer Notwehrlage befindet, kann sie sich entweder für die Verteidung oder für das Vermeiden oder Ertragen der ungesetzlichen Agression, der sie ausgesetzt ist, entscheiden. Gleichgültig, welche Entscheidung sie auch trifft, das Strafrecht wird keine Auswirkung mit ihrer Handlungsweise verknüpfen. Somit scheint es unmöglich, das Vorhandensein einer relevanten Unterscheidung zwischen der Vorschriftskraft der starken und der schwachen Erlaubnisse zu bestätigen“. Ortiz de Urbina Gimeno35 weist ganz richtig darauf hin, dass zunächst begriffen werden müsste, dass das strafrechtliche Untersystem die Eigenart aufweist – aus der Sicht der Beziehung zwischen starken und schwachen Erlaubnissen – dass das Prinzip der Gesetzmäßigkeit wie eine Abschlussnorm wirken würde, wenn es sämtliche nicht ausdrücklich verbotene Verhaltensweisen eindeutig erlaubt und konzeptuell die Möglichkeit eines Vorhandenseins von schwachen Erlaubnissen ausschließt, dann würde das Argument zugunsten der mangelnden Bedeutung der Unterscheidung zwischen den tatbestandslosen und den tatbestandsmäßigen und gerechtfertigten Verhaltensweisen einen größeren Stellenwert erhalten.

32 Balcarce in: Carlos J. Lascano (Hrsg.), Derecho Penal. Parte General. Libro de Estudio (Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch), 2002, S. 375. 33 Ortiz de Urbina Gimeno InDret Penal 3/2008, 14. 34 Ortiz de Urbina Gimeno InDret Penal 3/2008, 14 ff. 35 Ortiz de Urbina Gimeno InDret Penal 3/2008, 15

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2. Allgemeine Rechtswidrigkeit und spezifisch strafrechtliche Rechtswidrigkeit Die Unterscheidung zwischen dem spezifisch strafrechtlichen Unrecht und anderen Arten von Unrecht wurde genau von Hans-Ludwig Günther36 beschrieben, als er erklärte, dass nicht jedes gegen das Recht verstoßende Verhalten bestraft wird, sondern dass das Gesetz mittels des strafrechtlichen Tatbestands aus dem weitreichenden Kreis von rechtswidrigen Handlungen, die Rechtsordnungsnormen verletzen und rechtlich missbilligt werden, „jene Handlungen auswählt, die ein strafwürdiges Unrecht beinhalten, das strafrechtlich relevant ist und die rechtliche Konsequenz ‚Kriminalstrafe‘ auslöst“. Im Anschluss dazu äußert der Professor der Universität von Tübingen: „Aus diesem Grund spreche ich von ‚strafrechtlichem Unrecht‘, um dieses von dem erweiterten Begriff des Unrechts abzugrenzen, der anhand aller Rechtsbereiche einer einheitlichen Rechtsordnung gebildet wird. Jedes strafrechtliche Unrecht ist gleichzeitig Unrecht i. S. der ganzen Rechtsordnung, aber nicht jedes Unrecht ist i. S. der Gesamtheit der Rechtsordnung schon ein strafrechtliches Unrecht, ein strafrechtlich bedeutendes Unrecht. Das strafrechtliche Unrecht ist eine qualifizierte Form von Unrecht. Der Grund dieser Qualifizierung ist der besondere Verdienst der Strafe, der grundsätzlich vom Steigerungsgrad des Unrechts abgeleitet ist, d.h. von der Gewichtung des betroffenen Rechtgutes (Erfolgsunwert) und der Vorwerfbarkeit der Handlungsweisen (Handlungsunwert). Durch das Prinzip nullum crimen sine lege ist es der Gesetzgeber, der erstens entscheidet durch die Formulierung des gesetzlichen strafrechtlichen Tatbestands“37. Silva Sanchez38 meint, dass: „die Funktion des Urteilsspruchs der strafrechtlichen Rechtswidrigkeit in einem teleologischen System, das – wie Günther39 zu belegen versucht hat – nicht die Abgrenzung des Verbotenen 36 Günther in: Luzón Peña/Mir Puig (Koord.), Causas de justificaciòn y de atipicidad en Derecho Penal (Rechtfertigungs- und Tatbestandslosigkeitsgründe im Strafrecht), Übersetzung: Luzón Peña, 1995, 46. 37 Günther in: Luzón Peña/Mir Puig (Koord.), Causas de justificaciòn y de atipicidad en Derecho Penal (Rechtfertigungs- und Tatbestandslosigkeitsgründe im Strafrecht), Übersetzung: Luzón Peña, 1995, 47. 38 Silva Sánchez Aproximación (Annäherung), 1992, S. 389. 39 Günther Antijuridicidad penal y exclusión del injusto penal – Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluȕ, 1983, 84 ff; Amelung (Fn. 14) S. 99 ff, schließt sich mit bemerkenswerten Nuancen der These von Günther an. In seinem Derecho Penal. Parte General (Strafrecht. Allgemeiner Teil), Bd I, § 14, Nr. 2, S. 557, äußert sich Roxin dagegen, indem er darlegt, dass keine Notwendigkeit bestünde, zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit die Abstufung der spezifischen „Strafrechtswidrigkeit“ einzuführen, wie Günther vorschlagen hat. Auch in Deutschland wird Günthers Standpunkt von angesehenen Autoren wie Hirsch, Lenckner, Jescheck und Jakobs nicht akzeptiert.

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bzgl. der Rechtsmäßigkeit bildet, sondern die Qualifizierung des strafrechtlichen Unrechts als strafwürdiges (abstrakt betrachtet) Unrecht, angesichts der anderen Formen von rechtswidrigem Verhalten“. Laut Günther40 hat diese Charakterisierung ihren Ursprung in verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Überlegungen. Da die Bestrafung eines Verstoßes gegen die Rechtsordnung durch die Rechtsstrafe die intensivste Missbilligungsform eines Verhaltens darstellt, muss auch ein besonders stichhaltiger und starker Grund für diese Staatsreaktion bestehen (Prinzip der Proportionalität der Staatsmittel, Exzessverbot, Subsidiarität des Strafrechts).41 In Bezug auf die Anerkennung des Einflusses der kriminalpolitischen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen in Günthers Thesengestaltung sind die Überlegungen von Amelung42 von Bedeutung: „Seit kurzer Zeit wird die kriminalpolitische Funktion des Strafrechtstatbestands immer häufiger mithilfe von verfassungsrechtlichen Überlegungen erklärt. Aus diesem Grund sind die Proportionalität, die Notwendigkeit und die Tauglichkeit einer Strafrechtsreaktion, die als schwerwiegendste Reaktionsform unserer Rechtsordnung erachtet wird, ausschlaggebend für den Funktionsinhalt. Dadurch erscheint das kriminalpolitische Entscheidungsobjekt nicht mehr daraus zu bestehen, ob eine Handlung allgemein verboten sein soll, sondern ob sie strafrechtlich verboten ist. Auf diese Weise verwandelt sich die Abgrenzung des strafbaren Unrechts als des erschwerten Unrechts in die wesentliche Funktion des Unrechtstatbestands“. Wenn die Art. 18 und 19 der argentinischen Verfassung vereint werden sowie unter Berücksichtigung der aus den Prinzipien der Lesivität und der Proportionalität enstandenen Beschränkung, erachten wir mittels des Prinzips der ultima ratio des Strafrechts, dass nicht nur erkannt wird, wann vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus legitimiert werden kann, ob ein bestimmtes Verhalten im Allgemeinen verboten oder angeordnet ist, sondern wann es unter Strafandrohung verboten oder angeordnet sein (spezifisch strafrechtliche Rechtswidrigkeit) könnte. Aus diesem Grund erfüllt die allgemeine Rechtswidrigkeit die Prinzipien der Rechtmäßigkeit, des Strafrechtsvorbehalts und der Lesivität; die spezi40 Günther La clasificación de las causas de justificación en Derecho Penal (Die Klassifizierung der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht), S. 47 ff. In Aproximación (Annährung), 1992, S. 389, Fn. 340, bemerkt Silva Sánchez, dass das Prinzip der „Strafwürdigkeit“ als Forderung des strafrechtlichen Unrechts nach Meinung von Altpeter „im Strafrecht der materiellen Wertskala in der Verfassung sich widerspiegelt“. 41 Silva Sánchez Aproximación (Annäherung), 1992, S. 404 ff, hebt hervor, dass Günthers These im kriminalpolitischen Sinne vom fragmentarischen und subsidiären Charakter des Strafrechts ausgeht. 42 Amelung (Fn. 14) S. 97.

Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands 1145

fisch strafrechtliche Rechtswidrigkeit die Prinzipien der Proportionalität, des geringstmöglichen Eingriffs, der Subsidiarität und der Fragmentarität des Strafrechts. Das Prinzip der Rechtmäßigkeit schreibt vor, dass es nur dem „dem Prozessfall vorhergehenden Strafgesetz (Art. 18 Landesverfassung) ausschließlich zusteht – unter den zahlreichen Verhaltensweisen gegen die allgemeine Rechtsordnung – den Katalog der taxativ beschriebenen strafrechtlich rechtswidrigen Verhaltensweisen in den deliktiven Tatbeständen des Besonderen Teils des Strafrechts (Vorbehaltsprinzip, Art. 19, 2. Abs. Landesverfassung) auszuwählen. Gem. des Prinzips der Lesivität – im ersten Abs. dieser verfassungsrechtlichen Klausel bestimmt – kann nur der Gesetzgeber, eine geäußerte menschliche Verhaltensweise verbieten oder vorschreiben, wenn diese ein Rechtsgut verletzt oder gefährdet, und dieser Bezug durch die Notwendigkeit, ein anderes mehrwertiges Rechtsgut zu retten, nicht gerechtfertigt ist. Trotzdessen ist der Gesetzgeber nicht zum Verbot unter Strafandrohung eines jeglichen allgemein rechtswidrigen Verhaltens befugt. In einem Strafrecht mit minimalem Eingriff, dessen erste Funktion der subsidiäre Schutz von strafrechtlichen Gütern ist, können nur die menschlichen geäußerten Verhaltensweisen als Delikte klassifiziert werden, die die für Strafrechtsgüter gefährlichsten und unerträglichsten Angriffsmodalitäten darstellen.

Die Todesstrafe Plädoyer für ein weltweites Moratorium* LUIS ARROYO ZAPATERO

I. Einführung „Die Todesstrafe begleitet die Menschheit wie ihr dunkler Schatten“. Mit diesen Worten beginnt Marino Barbero sein Buch über und vor allem gegen die Todesstrafe, das 1985 in Buenos Aires erschienen ist.1 Die Grundlagen zu diesem Werk wurden jedoch bereits in seiner Antrittsvorlesung 1964 in der Universität zu Murcia - während der Hochzeit der Franco-Diktatur gelegt. Gerade war als Machtdemonstration des Franco-Regimes gegenüber der Welt und gegenüber dem Papst das Todesurteil gegen einen kommunistischen Dissidenten vollstreckt worden. Das Buch hätte sicher anders begonnen, wenn mein Lehrer die Resolution der Vereinten Nationen für ein Moratorium gekannt hätte, die zum ersten Mal mit der notwendigen Mehrheit 2007 verabschiedet wurde. Er hätte dann sicher bevorzugt, seiner Arbeit den bekannten Spruch „Die Geschichte der Todesstrafe ist die Geschichte ihrer Abschaffung“2 voranzustellen. Claus Roxin hatte das Glück, als einer der ersten großen Strafrechtslehrer sich nicht mehr mit der Todesstrafe als Problem des geltenden (deutschen) Rechts befassen zu müssen. Er hatte dies nur einmal kurz und bündig in einem Beitrag für das Evangelische Staatslexikon getan.3 Tatsächlich ist die schrittweise Abolition der Todesstrafe eine Erscheinung, die sich im Anschluss an den zweiten Weltkrieg abzeichnet und in den ersten Jahren des neuen Millenniums intensiviert. Ein Meilenstein auf dem Weg zur * Übersetzung aus dem Spanischen von Axel-Dirk Blumenberg, wiss. Mitarbeiter am Institut für Europäisches und Internationales Strafrecht der Universität von Castilla-La Mancha, Spanien (2011-COB-3988). 1 Barbero Santos Pena de Muerte (El ocaso de un mito) 1985; ders. in: Anales de la Universidad de Murcia, XXII, 1963-64, S. 79 ff. 2 Dieser Ausspruch stammt von dem französischen Professor Henry Donnedieu de Vabres und findet sich in dem Buch von Elias Neuman La pena de muerte en tiempos del Neoliberalismo. Instituto Nacional de Ciencias Penales (INACIPE), 2004, S. 89. 3 Roxin in: Evangelisches Staatslexikon, S. 2288.

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universellen Abschaffung der Todesstrafe bildet die Formulierung des Grundgesetzes von 1949, Art. 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“. Dabei handelt es sich um weit mehr, als um die Aufhebung der schwersten aller Strafen. Es ist die Grundlage für einen rechtstheoretischen und rechtspolitischen Diskurs über die Rationalisierung der Strafmacht des Staates auf der Claus Roxin seine außerordentliche Konzeption der Strafzwecke aufbauen konnte. Sein Schüler Christian Jäger sollte Jahre später in einem Vortrag die Todesstrafe in das System der Strafzwecke einpassen.4 Der nachfolgende Beitrag soll die theoretischen und tatsächlichen Bemühungen gegen die Todesstrafe innerhalb der Vereinten Nationen von ihren Anfängen, aber vor allem seit der Verabschiedung der Millenniumserklärung im Jahr 2000, aufzeigen.

II. Von der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hin zu der Resolution für ein Moratorium 2007 Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, im Jahr 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet, ist Teil des allgemeinen Fortschritts und der Idee von Global Governance, wie sie auch aus der Charta von San Francisco hervorgeht. Frieden, internationale Ordnung, Souveränität der Völker und Menschenrechte sind die Grundfeste der internationalen Politik und die Antwort auf die Ursachen und Umstände des Zweiten Weltkriegs. Der Anspruch, dass diese neue Weltordnung länger halten sollte, als diejenige, die 1919 in Versailles geschaffen wurde,5 hat sich vollständig bewahrheitet. Die Vereinten Nationen waren seither im Stande, zwei Weltkriege zu verhindern, auch wenn sie den so genannten „kalten Krieg“, der kurz nach der Verabschiedung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausbricht, nicht aufhalten konnten. Aber gerade die Spannungen des kalten Krieges sind ursächlich für die inhaltliche Begrenzung einiger Menschenrechte, wie derjenigen, die das Recht auf Leben schützen. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass kein 4

Jäger Die Todesstrafe im System der Strafzwecke (unveröffentlichter Vortrag an der Universität Bayreuth im Januar 2010). Ganz dem Vorbild seines Lehrers Claus Roxin folgend hat Christian Jäger auch einen Beitrag zu diesem Thema in Mexiko veröffentlicht (La pena de muerte en el sistema de las fines de pena, in: Problemas Fundamentales de Política Criminal y Derecho Penal, Universidad Nacional Autónoma de México, 2002, S. 67 ff) und damit an die hervorragenden Kontakte des verehrten Jubilars nach Spanien und Lateinamerika angeknüpft. Ein weiterführender Überblick über die deutschsprachige Literatur findet sich bei Jescheck/Weigend AT, 5. Aufl. Rn. 751 ff. sowie bei Boulanger/Heye/Hanfling Zur Aktualität der Todesstrafe: Interdisziplinäre und globale Perspektiven, 2002. 5 Vgl. Macmillan Peacemakers. The Paris Conference and its Attempt to End War, 2001.

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gerichtlicher Kontrollmechanismus, weder weltweit noch auf regionaler Ebene – etwa in Form einer Kommission oder eines Gerichtshofs für Menschenrechte wie in Europa oder Iberoamerika – für die tatsächliche Einhaltung der Menschenrechte durch die unterzeichnenden Staaten geschaffen wurde. Dies sollte erst, wenn auch in sehr beschränkter Form durch entsprechende Annex-Protokolle, im Rahmen der Verabschiedung des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte möglich werden.6 Bekanntermaßen erscheint die Frage nach der Abolition der Todesstrafe während der ersten Jahrzehnte nicht auf der Agenda der Vereinten Nationen. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte nennt in Art. 3 das Recht auf Leben. Eine Bezugnahme auf die Todesstrafe als Ausnahme unterblieb jedoch, um keine Steine in den Weg derjenigen Länder zu legen, die grundsätzlich zur Abschaffung der Todesstrafe bereit waren. Der Vorschlag der Sowjetunion, die vollständige Abolition in Friedenszeiten in den Text aufzunehmen, wurde deshalb nicht weiter verfolgt.7 Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der als Durchsetzungsmechanismus für die Menschenrechte in den unterzeichnenden Staaten dienen sollte, greift das Thema erneut auf, wenn es heißt, dass niemand auf willkürliche Weise in seinem Recht auf Leben beschränkt werden dürfe. Die Todesstrafe wird allerdings als legitime Ausnahme anerkannt. Dennoch werden Grenzen für die Todesstrafe genannt, die eine fruchtbare Basis für eine spätere Debatte schaffen. Im Jahr 1957, einige Jahre vor der Unterzeichnung des Paktes, beschließt die Dritte Kommission der Generalversammlung eine Untersuchung über die weltweite Lage der Todesstrafe durchzuführen. Damit wurde Marc Ancel, der Präsident der Société Internationale de Défense Sociale und der strafrechtlichen Abteilung des französischen Instituts für Rechtsvergleichung beauftragt.8 Darauf folgen 1967 eine weitere Studie von Norval Morris sowie groß angelegte Untersuchungen von Roger Hood und William Schabas. Letzterer hat gerade eine aktuelle Studie über die Todesstrafe im Zeitraum 2005-2010 vorgestellt. Im Jahr 1971 hat der Generalsekretär einen weltweiten Bericht vorgelegt, dem eine Resolution für eine schrittweise Einschränkung der Delikte, welche mit der Todesstrafe 6

Weiterführend Arroyo-Zapatero FS Tiedemann, 2008, 3 ff. Außerdem Norman/Zaidi Human Rights at the UN. The political history of universal justice, 2008. 7 Vgl. dazu Schabas The aboliton of the death penalty in International Law, 2002; Hood The Death Penalty. A world-wide perspective, 2008; Manacorda Restraints on the death penalty in Europe: a circular process; Yorke in: Schabas/Biglino/Arroyo (Hrsg.), Towards universal abolition of the death penalty, 2010; Lerch Menschenrechte und europäische Außenpolitik. Eine konstruktivistische Analyse, 2004. 8 Vgl. die Berichte von Ancel Die Todesstrafe. Teil 1 und Teil 2, 1968.

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sanktioniert werden, sowie die Empfehlung für eine vollständige Abschaffung, folgte. Diese Resolution war nur der Anfang einer langen Reihe von Empfehlungen des Generalsekretärs und entsprechender Resolutionen die bis in die Gegenwart reicht. Aber bereits 1973 findet sich eine klare Stellungnahme des Generalsekretärs: „Der Standpunkt der Vereinten Nationen hat sich langsam von der Position eines neutralen Beobachters, der zwar um die Todesstrafe besorgt ist, aber untätig bleibt, hin zu einer klar abolitionistischen Haltung verschoben“.9 Seit dieser Zeit wurde die Frage nach der Todesstrafe und ihrer Abolition ausführlich sowohl aus dem Blickwinkel des Strafrechts, vor allem durch den branch der Defense Social – der heutigen Commission on Crime Prevention and Criminal Justice – sowie aus der Perspektive der Menschenrechte, durch die Kommission für Menschenrechte – dem heutigen Rat – debattiert. Die entscheidenden Momente dieser Debatte waren 1975 (im Wirtschafts- und Sozialrat), 1977 (in der Generalversammlung) und 1980 (auf dem Kongress für Kriminalprävention und in der Generalversammlung). Besondere Beachtung verdient der Kongress für Kriminalprävention in Caracas, nicht nur, weil dort die Todesstrafe das zentrale Thema war, sondern vor allem, weil sich dort die glühenden Verfechter für die Beibehaltung der Todesstrafe in Stellung brachten. Der Kongress von Caracas gab den Ausschlag dafür, dass bei der nächsten Generalversammlung der Vereinten Nationen Normen für die Einschränkung der Anwendung der Todesstrafe verabschiedet wurden, die an diejenigen Staaten adressiert waren, die an dieser Form der Strafe weiter festhielten. Es ist bekannt, dass dadurch der Todesstrafe Legitimitätsgrenzen für Delikte gesetzt wurden, die nicht der allerschwersten Kriminalität zuzurechnen sind, sowie für Taten, die von Minderjährigen oder schwangeren Frauen begangen werden. Darüber hinaus werden das Rückwirkungsverbot, Prozessgarantien, die Schaffung von Rechtsmitteln, die Unausführbarkeit der Strafe ohne vorherige Erschöpfung des Rechtswegs, das Begnadigungsrecht und nicht zuletzt der Aufruf, die Strafe so wenig grausam wie möglich auszuführen, gefordert. Der endgültige Text wurde 1989 beschlossen (ESC. Res. 1989/64).10 Parallel zu dieser Entwicklung entsteht 1989 das zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das die Abschaffung der Todesstrafe bezweckt. Wie William Schabas hervorhebt, spiegelt sich in diesem Abstimmungsergebnis der Optimismus wieder, der mit der Auflösung der militärischen Blöcke 9 Näher dazu siehe Schabas The aboliton of the death penalty in International Law, 2002, sowie UN Doc. E/5242 par. 16. 10 Bernaz Le droit International et la peine de mort, La dcumentation Française, 2008.

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einhergeht.11 So erklärt sich auch die Verabschiedung der Konvention über die Rechte des Kindes, die aufgrund ihrer massiven Ratifikation – mit Ausnahme der USA und Somalia (!) – zur einem universellen Verbot der Anwendung der Todesstrafe auf unter Achtzehnjährige geführt hat. In demselben Jahr treten auch die Menschenrechtsorganisationen in erhöhtem Maße an die Öffentlichkeit, etwa Amnesty International mit der Studie „When the State Kills“12. Auf der politischen Bühne der Menschenrechte standen bis zu diesem Zeitpunkt Regierungen und akademischen Forschungseinrichtungen aus dem Umfeld der Crime Commission der Vereinten Nationen relativ alleine. Dies sollte sich nun mit dem Auftritt von Menschenrechtsorganisationen ändern, deren Einfluss stetig wächst. Zwar intensivieren sich so die abolitionistischen Bemühungen, anderseits formiert sich ein deutlicher Widerstand der Staaten, die an der Todesstrafe festhalten. Neben den USA und China hat sich eine Gruppe von islamischen Staaten gebildet, welche die Beibehaltung der Todesstrafe als eine direkte Forderung religiöser Gesetze und Prinzipien rechtfertigen. Im Jahr 1994 hat die italienische Regierung vor der Generalversammlung eine Initiative für ein universelles Moratorium gestartet, die bald von der länderübergreifenden NGO Hands off Cain begleitet wurde. In den Debatten um die Abschaffung der Todesstrafe treten drei Länder besonders für deren Beibehaltung ein: An der Spitze Pakistan, gefolgt vom Sudan, der die Todesstrafe vor allem im Islam als „göttliches Recht“ auffasst, und Singapur. Singapur hat das Argument der staatlichen Souveränität ins Feld geführt; es sei Angelegenheit der Gesellschaft und des nationalen Gesetzgebers, die geeignete Strafe für die Bekämpfung schwerer Kriminalität zu bestimmen. Außerdem sei es kaum möglich, einen umfassenden Konsens zu finden, der die Todesstrafe als Verstoß gegen internationales Recht wertet.13 Parallel zu der Debatte in der Generalversammlung spielten sich ähnliche Szenen im Sicherheitsrat ab, als der Ausschluss der Todesstrafe aus dem Katalog von Strafen des Internationalen Gerichtshofs für Ruanda behandelt wurde. Im Jahr zuvor, 1993, als die Zustimmung zu dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ex-Jugoslawien behandelt wurde, unterblieb eine solche Debatte allerdings. Letztendlich wurden alle Statuten der ad hoc Gerichtshöfe, wie etwa des Internationalen Strafgerichtshofs,

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Schabs (Fn. 10), S. 187 ff. Amnesty International When the State kills. The death penalty v. Human Rights, 1989. 13 Bassiouni in: Schabas/Biglino/Arroyo (Hrsg.), Towards universal abolition of the death penalty, 2010. 12

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unter Ausschluss der Todesstrafe angenommen, obwohl diese Tribunale gerade für die schwersten Straftaten geschaffen wurden. Im Jahr 1996 wurden den abolitionistischen Bemühungen neuer Rückhalt durch entsprechende Resolutionen der Commission on Crime Prevention and Criminal Justice gegeben. Im folgenden Jahr bestätigte die Kommission für Menschenrechte, dass sie überzeugt sei, dass die Abschaffung der Todesstrafe eine entscheidenden Beitrag zum Schutz der Menschwürde sowie zu einer besseren Entwicklung der Menschenrechte leisten könne, was die Kommission selbst dazu bewegt hat, auf ein generelles Moratorium in der Resolution von 1998 zu bestehen. Als Antwort darauf wurde eine „Verweigerungsfront“ von 51 Staaten gegründet, die im Sinne der oben genannten Argumentation auf das Fehlen eines internationalen Konsenses über die Abolition aufgrund der Differenzen zwischen Religion und Recht abstellte. Der Konflikt trat während der Generalversammlung 1999 offen zu Tage, als die Europäische Union einen Resolutionsvorschlag für die Einführung von Schranken bei der Todesstrafe einbrachte und auf die Ratifizierung des zweiten Fakultativprotokolls über die Abschaffung der Todesstrafe bestand, sowie auf deren schrittweise Einschränkung und die Durchsetzung eines Moratoriums mit dem Ziel einer vollständigen Abschaffung. Allerdings wurde der Vorschlag der EU von der „Verweigerungsfront“ – allen voran Ägypten und Singapur – abgeblockt; auch in diesem Fall mit dem Argument, dass kein universeller Konsens möglich sei und die Todesstrafe keine Frage der Menschenrechte, sondern des Strafrechts sei. Mit dieser Niederlage verändert sich das Bild. Auf das Thema Todesstrafe spezialisierte NGOs schaffen es, alte und neue Aktivisten in der World Coalition und in dem Ensemble zusammenzubringen, das seit 2001 alle drei Jahre einen Weltkongress organisiert. Der letzte Kongress fand in Genf im April 2010 statt und wurde vom damaligen Ratspräsidenten der EU Rodríguez Zapatero eröffnet. In der Zeitspanne zwischen den Kongressen in Straßburg 2001, Montreal 2004, Paris 2007 und Genf entwickelte sich eine intensive Aktivität der regionalen und lokalen Organisationen, die zahlreiche Unterstützung finden. Aber es vor allem die EU selbst, die sich seit 1994 in ihrem Programm zur Unterstützung der Menschenrechte intensiv dem Kampf gegen die Todesstrafe widmet.14 Auf europäischer Ebene ist dabei die Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte ein gutes Beispiel für eine Reihe von Veranstaltungen und Erklärungen im Dialog zwischen China und der 14 Sculier Towards a universal moratorium on the use of death penalty. Strategies, arguments and perspectives, 2010, abrufbar unter http://www.worldcoalition.org/modules/ wfdownloads/singlefile.php?cid=56&lid=295 (24.03.2011).

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Europäischen Union. Ähnliches gilt für die Region der Großen Seen in Afrika oder die arabischen Ländern, wie etwa die Erklärungen von Alexandria (2008), Algier (2009) und Madrid (2009), bei denen die Zivilgesellschaft die Regierungen dazu aufgerufen hat, die Resolution 62/149 der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu erfüllen. Auf der Ebene der internationalen Institutionen sind neue Akteure mit Vehemenz aufgetreten. Besonders hervorzuheben ist der Sonderberichterstatter für extrajudizielle Exekutionen, der sich seit seiner Berufung 1982 der Fragen bezüglich der Todesstrafe angenommen hat. Ebenso hat sich der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte – vor allem seit Mary Robinson dieses Amt innehatte – gegen die Todesstrafe ausgesprochen, Exekutionen gerügt und ein Moratorium bzw. die vollständige Abschaffung gefordert. Dieses neue Klima ermöglicht es, dass 85 Ländern im Dezember 2006 vor den Vereinten Nationen die Erklärung formulierten, dass die Abolition der Todesstrafe dazu beiträgt, die Menschwürde und die Entwicklung der Menschenrechte zu stärken. Endgültiges Ziel ist dabei die vollständige Abschaffung; bis dahin gelte es eine Einschränkung in denjenigen Ländern zu erreichen, die noch an der Todesstrafe festhalten um so zunächst ein universelle Moratorium durchzusetzen. Ein solcher Vorschlag setzt sich zum ersten Mal erfolgreich in der Generalversammlung durch und die Resolution für ein Moratorium wird am 18. Dezember 2007 mit 104 Stimmen, 54 Gegenstimmen und 31 Enthaltungen angenommen. Der letzte Bericht des Generalsekretär wurde unter der Verantwortung von William Schabas ausgearbeitet und im Mai 2010 in Wien vorgestellt.15 An diesem Punkt angelangt, ist es offensichtlich, dass diese Resolution nur einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe markiert: Bei der letzten Abstimmung über ein Moratorium am 21. Dezember 2010 haben 109 Länder dafür gestimmt, 41 dagegen und 35 der Stimme enthalten16. Für diejenigen, die die Abschaffung der Todesstrafe als Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte begreifen, liegt die Lösung in der Fortsetzung der Debatte mit dem Ziel, die Gruppe der Länder, die sich ihrer Stimme enthalten und vor allem derjenigen Länder, die weiterhin an der Todesstrafe festhalten, zu verkleinern. Darüber hinaus bedarf diese Problematik jedoch noch anderer Lösungsansätze, wie der 15 UN Doc.: E/2010/10. Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the Rights of those facing the death penalty. Report of the Secretary-General. Economic and Social Council. 18 December 2009; 16 UN Doc. GA/11041. General Assembly. Resolution on the moratorium on the use of the death penalty. Sixty-fifth General Assembly Plenary 70th & 71st Meetings. 21 December 2010.

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spanische Präsident Rodríguez Zapatero im Dezember 2009 in Madrid anlässlich des Eröffnungskongresses des International Academic Network for the Abolition of Capital Punishment17 hervorhob. Die dort formulierten Gedanken möchte ich an dieser Stelle aufgreifen und mit der „Kraft der Ideen“ in der geistigen Geschichte der Vereinten Nationen umschreiben.

III. Die Kraft der Ideen der Vereinten Nationen und die Millenniumserklärung Es ist nicht notwendig, auf Winston Churchill zurückzugreifen, um der Kritik derjenigen entgegenzutreten, die wenig von den Vereinten Nationen halten und diese als talking shop betiteln, der nichts weiter als nutzlose Diskussionen hervorzubringen vermag. Aber bereits Churchill wusste, dass es besser ist, zu reden um des Redens willens, als zu töten um des Tötens willens. Ich möchte den Blick des verehrten Lesers vielmehr auf die entscheidende Rolle der UNO bei der Entwicklung von Ideen und Konzepten lenken, die in ihren Anfängen partiell oder bestimmten ökonomischen oder politischen Überlegungen zu eigen wirkten, aber sich durch den Einfluss der Vereinten Nationen in einen festen Bestandteil unserer modernen Definition des Menschen als Mitglied einer universellen Gemeinschaft verwandelt haben.18 Dies gilt vor allem für die Idee der Selbstbestimmung der Völker, die zwar bereits seit dem Versailler Vertrag vom Völkerbund propagiert wurde, sich jedoch nur in der so genannten „zivilisierten Welt“ durchsetzen konnte, bis die Vereinten Nationen die Dekolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzten. Bis vor wenigen Jahren schienen die Menschenrechte – zumindest wurde dieser Eindruck erweckt – als geistiges Eigentum und politisches Privileg der Industrieländer und Errungenschaft des Kapitalismus, also als Ausdruck kulturellen Imperialismus. Heute hingegen, auch wenn in vielen Teilen der Welt die Menschenrechte immer noch mit Füßen getreten werden, sind diese dank der Ideen und der Kontrollverfahren der Vereinten Nationen die wirksamste Waffe von Millionen von Menschen gegen den Missbrauch politischer Macht. Die gleiche Idee von Frieden und der Vermeidung von Kriegen durch Verhandlung, Friedensmissionen und legitime Interventionen der Vereinten Nationen hat es zwar nicht geschafft, eine Vielzahl von Konflikten an den 17

Weitere Informationen hierzu sind verfügbar unter www.academicsforabolition.net. Jolly/Emmerij/Weiss The Power of UN Ideas: Lessons from the First 60 Years. A Summary of the Books and Findings from the United Nations Intellectual Histroy Project, 2005. 18

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unterschiedlichsten Orten zu verhindern. Allerdings konnten umfassende und langandauernde Kriege, wie die beiden Weltkriege in der Zeit vor der Gründung der Vereinten Nationen, unterbunden werden. Der Gedanke des Endes der Impunität und der Ahndung der schwersten Machtmissbräuche in Form von massiven Verbrechen hat sich in der Gründung internationaler ad hoc Tribunale und des Internationalen Strafgerichtshofs manifestiert. Das Prinzip der universellen Justiz hat trotz seiner Außerkraftsetzung nach den Nürnberger Prozessen durch den kalten Krieg vor allem durch die UN-Antifolterkonvention an Schlagkraft gewonnen. Die Vereinten Nationen sind auch die Quelle neuartiger Ideen über Wirtschaft und Entwicklung wie etwa im Bereich Human Development, vor allem aber bei der weltweiten Armutsbekämpfung. Dieselbe Idee umfasst heute Menschenrechte ebenso wie Konfliktlösung. Heute werden andere Lösungsansätze gesucht, um die Spaltung der Grundrechte in soziale und politische Rechte zu überbrücken19 und diese in ein Gesamtkonzept der Human Security zu integrieren.20 Dies alles fließt in die praktischen Vorschläge der Millenniumsziele ein, die von der Generalversammlung und dem damaligen Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2000 mit der Millenniumserklärung formuliert wurden. Diese Erklärung ist weit mehr als bloße Rhetorik. Die tatsächliche Umsetzung ist durch die Krise der globale Sicherheit im Zuge der Ereignisse des 11. Septembers 2001, sowie durch die Verwerfungen der Finanzkrise 2007 zwar etwas verlangsamt worden, dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass die Gedanken der Millenniumserklärung die Agenda der internationalen Organisationen bestimmen werden. Die Macht dieser Ideen wird die Welt bis 2015 verändern und das Bewusstsein der Menschen prägen. Dies ist eine Aufforderung an die Regierungen dieser Welt und an uns selbst. Die Millenniumserklärung ist in acht große Abschnitte unterteilt: Werte und Grundsätze; Frieden, Sicherheit und Abrüstung; Entwicklung und Armutsbeseitigung; Schutz unserer gemeinsamen Umwelt; Menschenrechte, Demokratie und Governance; Schutz der Schwächeren; Deckung der besonderen Bedürfnisse Afrikas und die Stärkung der Vereinten Nationen. Nach der aufmerksamen Lektüre der Millenniumserklärung und mit Blick auf die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts zeigt sich, dass die Millenniumserklärung und die damit verbundenen Ziele von derartiger Bedeutung in der Geschichte der Vereinten Nationen sein werden, wie es 19

Weiterführend Delmas Marty Les forces imagines du Droit, 2003; ders. Le Relatif et l’Universel, 2004; ders. Le pluralismo ordonné, 2005. 20 McFarlane/Neil/Foon Khong Human security and the UN, a critical history. United Nations Intellectual History Project Series, 2006.

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die Charta von San Francisco und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einst waren. Die Millenniumsentwicklungsziele lauten dabei: Den Anteil der Weltbevölkerung, der unter extremer Armut und Hunger leidet, zu halbieren; allen Kindern eine Grundschulausbildung zu ermöglichen; die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und die Rechte der Frauen zu stärken; die Kindersterblichkeit zu verringern; die Gesundheit der Mütter zu verbessern; HIV/AIDS, Malaria und andere übertragbare Krankheiten zu bekämpfen; den Schutz der Umwelt zu verbessern und eine weltweite Entwicklungspartnerschaft aufzubauen. Die Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Ziele ist bekannt. Das menschliche Bewusstsein sträubt sich gegen eine Realität der wirtschaftlichen Gewalt, die Millionen von Menschen zu Hunger und Elend verdammt und gleichzeitig unendlichen Reichtum schafft. Dies gilt auch für die Sterblichkeit infolge mangelnder Gesundheitsversorgung. In einem Großteil der Welt ist es bereits gelungen, diese dramatisch zu reduzieren; eine medizinische Grundversorgung ist eine zwingende und universelle Notwendigkeit. Ebenso begehrt das menschliche Bewusstsein gegen die meist brutale – in anderen Fällen hingegen subtile – Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder von Frauen, ganz gleich welcher Herkunft, auf. Die männliche Unterdrückung von Frauen ist zusammen mit Hunger und Krankheit fast ohne zusätzliche Kosten vermeidbar; dennoch zählt sie zu den Geißeln der Menschheit zu Beginn dieses neuen Millenniums. Wie es in der Millenniumserklärung treffend zum Ausdruck kommt, soll dies nicht eine Gegenwart der sozialen Rechte im Gegensatz zu den politischen Rechten der Vergangenheit andeuten. Im Mittelpunkt steht viel mehr die Schließung dieses Grabens, der bei Unterzeichnung der Pakte im Jahre 1966 nicht überbrückt werden konnte. Dazu sollten drei weitere Jahrzehnte notwendig sein.

IV. Die Millenniumserklärung und die Fundamente der Abolition Der spanische Präsident Rodríguez Zapatero hat im Dezember 2009 vor den in Madrid anwesenden internationalen Vertretern der Rechtswissenschaft und der Praxis zu diesen Fragen Stellung genommen und einen Paradigmenwechsel gefordert: Die Auseinandersetzung mit der Todesstrafe und der Kampf um ihre Abschaffung aus traditionellen Gründen verlange eine Neuorientierung und die Ausrichtung an den Millenniumszielen. Der Kampf gegen den Hunger ist dabei keine

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Alternative zum Kampf für das Leben oder für die Menschenwürde, sondern die notwendige materielle Basis für die Würde und die Rechte des Menschen an sich. Auf dieser Basis muss die Konzeption der Menschenrechte selbst, aber vor allem das Recht auf Leben und der Verzicht auf die Todesstrafe rekonstruiert und neu bestimmt werden.21 Für eine neue und vollständigere Fundierung der Abolition kann die Millenniumserklärung als Ausgangspunkt dienen. Sie ist ein universeller Ausspruch gegen jede Form von Gewalt, also auch gegen den Hungertod durch aktives Tun oder Unterlassen, die gewaltsame Diskriminierung der Frau, die leider allzu leicht in kriminelle Gewalt tout court in der partnerschaftlichen Beziehung ausufert, oder den Tod von Millionen durch behandelbare Krankheiten. Eine unheilvolle Verbindung von Habgier der Pharmaindustrie und Untätigkeit der Länder, die diese Unternehmen kontrollieren sollen, verschlimmert letztgenannte Situation zusätzlich. Im Zweiten Abschnitt der Millenniumserklärung finden sich zwei deutliche Argumente gegen Gewalt. Einerseits der Aufruf zu Frieden, Konfliktprävention und für Interventionen lediglich zur Selbstverteidigung, um auf diese Weise sowohl das aktive Töten als auch das Sterben lassen zu verhindern. Auf der anderen Seite findet sich der Aufruf zur Tätigkeit gegen kriminelle Gewalt, die sich vor allem in der Form des internationalen Terrorismus, transnationaler Kriminalität, Massenzerstörungswaffen, AntiPersonenminen, Streubomben und dem illegalen Handel mit Klein- und Leichtwaffen findet.22 In diesen Aufruf zum Gewaltverzicht lassen sich die Argumente für eine Abschaffung der Todesstrafe einpassen. Die Todesstrafe ruft größtenteils Ablehnung hervor, weil es sich um eine rationale, ja kaltblütige Form des Tötens handelt. Nur dem Henker ist jede Form von Empathie bei einer Hinrichtung fremd. Dies führt zu einer grundsätzlichen Verurteilung der jeder Hinrichtung innewohnenden Gewalt, auch wenn diese in einzelnen Ländern legal sein mag oder aus religiösen Gründen als legitim erachtet wird. Dieser Gewaltverzicht kann die Grundlage für eine weltweite Neuorientierung der Werte und Prinzipien und den Ausgangspunkt für eine Abschaffung der Todesstrafe bilden. Das International Academic Network for the Abolition of Capital Punishment wird sich dafür einsetzen, diese neue Werteordnung, die von der Millenniumserklärung angestoßen wurde, voranzutreiben und so die effektive Geltung der Menschenrechte zu fördern. Der stärkste Gedanke, der der Todesstrafe entgegengebracht werden kann, 21

Weiterführend UNDP Primer, Human Rights and the Millennium Development Goals, Making the link, 2006. 22 Einen guten Überblick bietet White The United Nation System. Toward International Justice, 2002.

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soll den Abschluss dieses Plädoyers für ein weltweites Moratorium bilden: Die Ablehnung der Todesstrafe ist Ausdruck der Abscheu gegen das kaltblütige und rationale Töten des Staates.

Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs HEINZ MÜLLER-DIETZ

1. Zur thematischen und begrifflichen Eingrenzung der Fragestellung Claus Roxin hat im Rahmen seines an Ideen, Konzepten und Themen überreichen Werkes sich nicht zuletzt mit grundlegenden kriminalpolitischen Fragen auseinandergesetzt. Dies ist namentlich im Zuge der vielfältigen Arbeiten an der Reform des Strafrechts geschehen. Dabei haben natürlich auch Ansätze und Anläufe zur Neugestaltung des Rechtsfolgensystems eine wichtige Rolle gespielt. Marksteine dieser Entwicklung bilden – neben vielen anderen – etwa seine Mitwirkung am Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs1 und am Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes2 sowie seine konzeptionellen Vorschläge zur Verwirklichung sozialkonstruktiver Reaktionsformen, zu denen vor allem die Wiedergutmachung des durch den Straftäter angerichteten Schadens,3 aber eben auch der Vorrang des Resozialisierungsziels bei der inhaltlichen Gestaltung des Freiheitsentzugs zählen4. Das bietet Gelegenheit, einen Beitrag zu Ehren des achtzigsten Geburtstags Roxins einem Thema im Rahmen des Rechtsfolgensystems zu widmen, das lange Zeit nicht diejenige rechtliche und praktische Bedeutung erlangt hat, die ihm angesichts seiner Problematik eigentlich zukommt. Inzwischen ist jedoch die Frage nach der sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs in zunehmendem Maße ins Blickfeld von Forschung, Vollzugspraxis und – namentlich – Straffälligenhilfe getreten. Dabei bedarf es vorab freilich einer begrifflichen Klarstellung. Der Ausdruck „Drittwirkung“ ist herkömmlicherweise für die verfassungsrechtliche Problematik reserviert, ob und inwieweit sich Grundrechte nicht nur auf das 1 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs nebst Begründung 1969; Vormbaum/Rentrop (Hrsg.), Reform des Strafgesetzbuchs III, 2008, S. 367; vgl. z. B. Roxin in: Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 79 ff. 2 Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes 1973. 3 Z. B. Roxin in: Schöch (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrecht, 1987, S. 37; ders. FS Gagnér, 1991, 354 ff. 4 Roxin FS Volk, 2009, 608 ff.

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Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern auch auf die Rechtsordnung im Ganzen, also auch in der – privatrechtlichen – Beziehung zwischen Bürgern untereinander, auswirken. Das BVerfG etwa spricht unter dem Vorzeichen des von ihm entwickelten Topos „objektive Wertordnung“ von einer „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte, die das gesamte Rechtssystem, demnach auch das die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander regelnde Privatrecht, durchdringe.5 Wenn im vorliegenden Beitrag – lediglich zur Veranschaulichung der thematisierten Fragestellung – von „Drittwirkung“ die Rede ist, dann wird dieser Begriff in einem anderen Sinne verstanden und verwendet, weil er die rechtlichen und faktischen Auswirkungen des Freiheitsentzugs auf dritte Personen meint. Unter anderen inhaltlichen Vorzeichen hat sich Joerden kürzlich mit einer vergleichbaren strafrechtlichen Problematik auseinandergesetzt.6 So hat er sich – im Blick auf die duplex-effectus-Lehre – mit den Haupt- und Nebenwirkungen befasst, die aus der Regelung und Anwendung des geltenden Rechts folgen. In diesem Zusammenhang ist er auch auf den anderen, im bellizistischen Rahmen verwendeten Begriff der sog. „Kollateralschäden“ eingegangen.7 Allein schon wegen der inhaltlichen Problematik, die sich mit ihm und seinem bisher üblichen Gebrauch verbindet, wäre es gewiss unangebracht, ihn auch auf jene unerwünschten Nebenfolgen zu beziehen, die sich aus dem strafrichterlich verhängten Freiheitsentzug ergeben (können). Denn ihm haftet wegen seiner Verwendung im Zuge (bürger-) kriegsähnlicher Konflikte oder internationaler militärischer Interventionen zum Schutz von Menschenrechten ein Hautgout an, der eine Anwendung auf ganz andere Sachlagen schlicht verbietet. Zumal jenes Verständnis des Begriffs, der bekanntlich die negativen, oft tödlichen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung meint, dazu angetan ist, die Opfer, die unschuldige Menschen an Leib und Leben erleiden, förmlich zu beschönigen oder zu verniedlichen. Allein schon aus diesem Grund kommt der Begriff im Kontext des hier behandelten Themas nicht in Betracht. Der Sache nach geht es hier demnach um die rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen, die Dritte, nicht verurteilte Personen, aufgrund der Freiheitsentziehungen treffen, die Straftäter (und Untersuchungsgefangene) erleiden. Sie stellen gleichsam einen Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum teils unmittelbarer, teils mittelbarer Folgen dar, die der Freiheitsentzug nach sich zieht. Sie können entweder infolge des Freiheitsentzugs selbst oder auch als Auswirkungen seiner konkreten Ausgestaltung eintreten. Insofern 5

Alexy Theorie der Grundrechte, 2006, S. 477. Zur einschlägigen Situation im schweizerischen Recht Patricia Drittwirkung von Grundrechten, 2002. 6 Joerden FS Jakobs, 2007, 235. 7 Joerden FS Jakobs, 2007, 242 ff.

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deckt der Begriff der „Drittwirkung“ im hier zugrunde gelegten Verständnis sowohl durch den Freiheitsentzug notwendigerweise bedingte, unvermeidliche als auch unerwünschte, keineswegs zwangsläufig vorgegebene Folgen für unterschiedliche Personengruppen ab. Zu ihnen gehören allemal Angehörige des Verurteilten – wie etwa Ehefrauen, Kinder und Verlobte –, aber auch weitere Verwandte und zugleich Freunde. In zweiter Linie – wenn auch gerade vor dem Hintergrund der heutigen angespannten, schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt eher selten – können durch den Freiheitsentzug auch frühere Arbeitgeber des Verurteilten betroffen sein. Dies gilt in eingeschränktem Umfang zugleich für weitere gesellschaftliche Kreise (wie z. B. Vereine und andere Organisationen), in die Straftäter vor ihrer Inhaftierung integriert waren. In einem weitgefassten Sinne gehören zu den unerwünschten Folgen des Freiheitsentzugs aber auch rechtlich nicht vorgesehene, ja sogar ausdrücklich verpönte Auswirkungen, die Straf- und Untersuchungsgefangene sowie Vollzugsbedienstete in Form von Gewaltanwendung durch Inhaftierte erleiden können.8 Dabei ist der Begriff der Gewalt in einem weiten Sinne zu verstehen, der alle im subkulturellen Milieu von Vollzugsanstalten zum Nachteil Inhaftierter wie dort tätiger Mitarbeiter begangenen Straftaten umfasst. Diese vielschichtige Problematik – die ja in wachsendem Maße Gegenstand empirischer Forschung geworden ist – soll und kann hier freilich nicht thematisiert werden. Vielmehr können und sollen die folgenden Überlegungen sich auf die Auswirkungen konzentrieren, die der Freiheitsentzug für Angehörige hat. Dabei spielen naturgemäß rechtliche wie faktische und vollzugspraktische Aspekte eine Rolle.

2. Angehörige Gefangener in (zeit-)geschichtlicher Perspektive Das Thema ist keineswegs neu; es hat eine relativ lange Vorgeschichte, die zumindest bis zu den ersten nachhaltigen Bestrebungen um eine Reform des Strafvollzugs unter dem Vorzeichen des Besserungsgedankens im frühen 19. Jahrhundert zurückreicht. Dabei standen lange Zeit vor allem zwei Fragestellungen im Zentrum des fachlichen, teilweise auch öffentlichen Interesses, die denn auch praktische Konsequenzen – namentlich im Rahmen der sich allmählich entwickelnden Straffälligenhilfe – nach sich zogen: Welchen Beitrag kann die Aufrechterhaltung oder auch Wiederherstellung 8

Ernst BewH 2008, 357; Goeckenjan FS Eisenberg, 2009, 705; Heinrich BewH 2002, 369; Hinz/Hartenstein ZJJ 2010, 176; Kury/Smartt ZfStrVo 2002, 323; Laubenthal FS Kreuzer, 2009, 496; Neubacher Gewalt im Gefängnis, 2008; ders. NStZ 2008, 361; Wirth BewH 2007, 185; vgl. auch den persönlichen Erfahrungsbericht von Bennefeld-Kersten Die Geisel, 1998.

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familiärer Beziehungen zur sozialen Integration des Straftäters nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis leisten? Welcher Hilfe bedürfen die Angehörigen, wenn und solange der Ernährer der Familie – der ja in vergangenen Epochen in der Regel der zum Freiheitsentzug verurteilte Mann war – ausfällt? Die seelischen und wirtschaftlichen Nöte der Familie, die durch die Inhaftierung des Familienvaters und Ernährers in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle entstehen, veranschaulicht bereits das vom Juristen und Historiker Möser (1720-1794) verfasste „Schreiben einer Frauen an ihren Mann im Zuchthause“, das seine Tochter 1774 in den „Patriotischen Phantasien“ veröffentlicht hat. Die beredte Klage darüber, was der Mann durch seine Straftat und den Freiheitsentzug der Familie angetan hat und was ihr dadurch alles verloren gegangen ist, mündet schließlich in die kargen, in ihrer Nüchternheit beeindruckenden Feststellungen: „Man hat mir alles gepfändet.“ „Nur mein Kind ist mir geblieben.“9 Seither ziehen sich die angedeuteten Probleme wie ein roter Faden durch die Geschichte der modernen Freiheitsstrafe, namentlich durch die Bemühungen um die Reform des Strafvollzugs und die Entwicklung der Straffälligenhilfe,10 wie sie unter philanthropisch-christlichem und sozialem Vorzeichen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eingesetzt haben. Die Bestrebungen galten vor allem der Fürsorge für bedürftige Angehörige (Ehefrauen und Kinder). Mit der Gründung der (Schutz-) Vereine für Entlassenenfürsorge von 1831 an nahmen die Aktivitäten, die auf finanzielle Unterstützung von Familien und Erziehung der Kinder Strafgefangener gerichtet waren, verschiedenenorts konkretere Züge an – ohne freilich in ein flächendeckendes und ausreichendes System von Hilfen zu münden. 11 Vielfach blieb die Situation der überwiegend aus ärmeren Volksschichten stammenden Strafgefangenen überaus prekär, zumal das geringe Pekulium (Arbeitsentgelt) der im Strafvollzug meist mit einfachen Arbeiten beschäftigten Gefangenen nicht annähernd den Lebensunterhalt der Angehörigen zu sichern vermochte.12 Hinzu kam, dass sich sozialstaatliche Ansätze der Vorund Fürsorge durch das Gemeinwesen bis ins 20. Jahrhundert hinein nur in rudimentärer Form abzeichneten.

9

Möser Patriotische Phantasien I (Julius Mösers Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe IV), 1943, S. 278. 10 Schauz Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge (1777-1933), 2008; dies. in: Schauz/Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten, 2007, S. 245. 11 G. A. Müller Geschichte der Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 75 ff; Walz Soziale Strafrechtspflege in Baden, 1999, S. 117 ff. 12 Kriegsmann Einführung in die Gefängniskunde, 1912, S. 279.

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Tatsächlich nahm der Mann bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Rolle des Ernährers der Familie wahr. Dies galt freilich nur insoweit, als er überhaupt einer geregelten Arbeit nachging oder nachgehen konnte – was aber oft genug nicht der Fall war. Im Unterschichtmilieu, aus dem sich die überwiegende Mehrzahl der zur Freiheitsentzug verurteilten Straftäter rekrutierte – und erst recht in kriminellen Kreisen – war eine reguläre Beschäftigung mit legalen Tätigkeiten keineswegs selbstverständlich. Deutlich wurde die Abhängigkeit der sozialen und ökonomischen Lage Angehöriger von der Schichtzugehörigkeit und der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung vor allem in Krisensituationen – wie sie sich z. B. zur Zeit der ersten Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in der Inflationsphase der 1920er Jahre, des „Schwarzen Freitags“ des Jahres 1929, aber auch den Nachkriegszeiten nach den beiden Weltkriegen abzeichneten. In solchen Zeiten trat die doppelte Betroffenheit Angehöriger durch die Inhaftierung des Familienvaters und durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in besonders dramatischer Weise zutage. Dies gilt erst recht, wenn – wie gegenwärtig – eine tiefgreifende Krise der Weltwirtschaft mit einem grundlegenden strukturellen Wandel des Arbeitsmarktes zusammentrifft. In zunehmendem Maße ist die familiäre Problematik Gefangener zum Thema von Wissenschaft und Praxis avanciert – wenngleich es hierzulande erst gewichtiger Anstöße durch ausländische Analysen bedurfte.13 Erste Erfahrungsberichte wurden vorgelegt,14 die Auswirkungen der Inhaftierung des Familienvaters auf die Situation der Kinder untersucht,15 konzeptionelle Ansätze zur Abmilderung negativer Folgen entwickelt. Zu den ersten Reformvorschlägen zählte – wie sollte oder hätte es auch anders sein können! – nicht zuletzt das Plädoyer für möglichst weitgehenden Abbau der Freiheitsstrafen16 – das denn auch lange Zeit auf der Tagesordnung blieb. Familienpädagogische und -therapeutische Arbeit – etwa in Form von Ehe- und Familienseminaren – wurde vor allem im Hinblick auf die Bedeutung sozialer Bindungen für die gesellschaftliche Integration Straffälliger17 anvisiert

13 Vgl. z. B. Morris Prisoners and their Families, 1965; dies. Brit. Journal of Criminology 7 (1967), 424; vgl. auch Christian Journal of Contemporary Criminal Justice 1/21 (2005), 31; kritisch zur langjährigen Vernachlässigung des Themas Pilgram KB 4 (1977) H. 16, 44. 14 Vgl. etwa Arbeiterwohlfahrt (Hrsg.), Die inhaftierte Familie, 1979; Dürkop/Treiber Leiden als Mutterpflicht, 1980; Kühne/Snack ZfStrVo 1977, 44; Wiesnet ZfStrVo 1978, 212. Zu den Problemen inhaftierter Mütter Scheffler BewH 2009, 45. 15 Römer Die Nebenfolgen der Freiheitsstrafen auf die Kinder, 1967; Jouan Kinder: Mitgefangen?, 1981; Busch ZfStrVo 1989, 131. 16 Römer (Fn. 15) S. 85 ff. 17 Calliess/Müller-Dietz StVollzG § 23 Rn. 2; Rolinski in: Baumann (Hrsg.), Reform des Strafvollzuges, 1974, S. 77; Wittmann ZfStrVo 1980, 204.

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und verschiedenenorts realisiert.18 Großzügigere Regelungen des Besuchsund Briefverkehrs sollten – ebenso wie eine entsprechende Handhabung von Vollzugslockerungen und Urlaub – zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung familiärer Bindungen genutzt werden.19 Eine großangelegte empirische Studie, die in Reformvorschläge mündete, hatte die in mehrfacher Hinsicht problematische Situation von Frauen Inhaftierter zum Gegenstand. Sie sind demnach nicht nur erheblichen seelischen und wirtschaftlichen Belastungen ausgesetzt, sondern werden auch vielfach in vergleichbarer Weise wie Strafgefangene gesellschaftlich ausgegrenzt und stigmatisiert.20 Im Zuge damaliger Reformansätze wurde allmählich in etlichen Justizvollzugsanstalten für Verheiratete und andere einander nahe stehende Personen der unüberwachte, ehe- und familienfreundliche (Langzeit-) Besuchsverkehr eingeführt. 21 Mancherorts sollen sog. Vater-KindGruppen familiäre Bindungen stärken helfen und – zumindest ansatzweise – die vielfach vernachlässigte Vaterrolle inhaftierter Straftäter wieder beleben.22 Insgesamt wurde im Laufe der neueren Entwicklung des Justizvollzugs – ungeachtet regressiver Tendenzen, die nicht zuletzt durch unzureichende personelle und finanzielle Ausstattung von Vollzugsanstalten, namentlich durch Sparmaßnahmen, aber auch durch zunehmende Sicherungsmaßnahmen ausgelöst wurden – das Repertoire an ehe- und familienfreundlichen Angeboten und Möglichkeiten insbesondere dank der Straffälligenhilfe ausgeweitet, vor allem ausdifferenziert.23 18

Balzer-Ickert ZfStrVo 1996, 155; H. Baumann Die Entlassenenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 252; Ebbers Die delinquente Familie und ihre Behandlung, Diss. phil. Osnabrück 1989; Fülbier/F.-W. Meyer (Hrsg.), Familienarbeit und Strafvollzug, 1983; Gareis ZfStrVo 1978, 207; Kanisch/Asprion ZfStrVo 1997, 152; Pilger/Micheletto Familienseminare im Strafvollzug, 1979; Tiedt ZfStrVo 1979, 213; Worlicka/Zeitler/Feulner ZfStrVo 1999, 87. 19 Neibecker ZfStrVo 1984, 335. Umfassend Hirsch Die Kommunikationsmöglichkeiten der Strafgefangenen mit ihrer Familie, 2003, S. 114 ff. 20 Busch/Fülbier/F.-W. Meyer Zur Situation der Frauen von Inhaftierten I-III, 1987; F.-W. Meyer Zwangsgetrennt: Frauen inhaftierter Männer, 1990; vgl. ferner F.-W. Meyer, Geisler/Jung, Koepsel ZfStrVo 1989, 138, 143, 151; Kury/Kern KrimJ 2003, 97; dies. ZfStrVo 2003, 269; Kury/Zapletal/Würger ZfStrVo 2004, 340. 21 Buchert/Metternich/Hauser ZfStrVo 1995, 259; Calliess/Müller-Dietz StVollzG § 27 Rn. 8; AK-StVollzG-Joester/Wegner § 24 Rn. 25; Preusker, Stege ZfStrVo 1989, 147, 154; Rosenhayn Unüberwachte Langzeitfamilienbesuche im Strafvollzug, Diss. Bonn 2004; Schwind/Böhm/Jehle-Schwind StVollzG § 24 Rn. 13, 16. Ein erstes Plädoyer in diese Richtung findet sich – unter dem Vorzeichen der sexuellen Problematik – bei Rehn ZfStrVo 1974, 98 f; vgl. auch Müller-Dietz, Stark, Cervik, Einsele, B. Wolf Vorgänge 19 (1980) S. 141, 147, 150, 151, 152. 22 Kawamura-Reindl/Brendle/Joos ZfStrVo 2006, 33. 23 Brendle Sozialmagazin 29/2004, 22; Clephas/Althoff ZfStrVo 2003, 279; Doltze BewH 2008, 63; Frank Mitgefangen. Hilfe für Angehörige von Inhaftierten, 2004; Kawamura-Reindl

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3. Zur gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Lage Angehöriger Dies alles hat freilich die zumeist überaus schwierige Situation vieler Angehöriger Inhaftierter allenfalls abzumildern, aber keineswegs auszuräumen vermocht. Vielmehr haben sich die einschlägigen Probleme häufig gerade aufgrund der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise eher noch verstärkt. Es fehlt daher nach wie vor nicht an fachlicher Kritik, die fortbestehende oder neu aufgetretene Defizite hinsichtlich der Berücksichtigung ehelicher und familiärer Rechte im Blickwinkel der institutionellen Garantie des Art. 6 GG beanstandet.24 Das BVerfG hat denn auch wiederholt die mangelhafte Berücksichtigung dieses Grundrechts in der Vollzugspraxis gerügt. 25 Einer Abrechnung kommt die Philippika gleich, die ein kritischer Journalist wie Prantl kürzlich gleichfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive gegen die Fortschreibung bisheriger Zustände gerichtet hat: „Ein starker Strafvollzug ist der, der dafür sorgt, dass Artikel 6 Grundgesetz, der Ehe und Familie unter den Schutz des Staates stellt, nicht vor Gefängnismauern endet. Wer unten sitzt, der fällt auch tief: Die Familien werden mit bestraft, und das liegt nicht in der Natur der Sache, sondern an unzulänglichen Gefängnisbauten und fehlender Grundrechts-Sensibilität. Die Besuchszeiten sind knapp, für Nöte der Familien bleibt kein Raum: Begrüßung, Zärtlichkeit – alles vollzieht sich in Gegenwart von Aufsichtsbeamten. Das ist Sippenhaft. Im sechzigsten Jahr des Grundgesetzes wäre es Zeit zu überlegen, wie Haft familienverträglich gestaltet werden kann.“26 Man mag diese Kritik für überzogen und angesichts etlicher Bemühungen um eine ehe- und familienfreundliche Ausgestaltung des Vollzugs sowie aufgrund seiner strukturellen Problematik für ungerecht halten – an der Grundfrage, dass es – aus den verschiedensten Gründen – anscheinend schwer fällt, die Nebenfolgen des Freiheitsentzugs für Angehörige mehr als abzumildern, führt kein Weg vorbei. Die Dramatik dieser Situation wird natürlich namentlich im Langstrafenvollzug und im Falle zeitlich unbefristeten Freiheitsentzugs – wie er bei der Sicherungsverwahrung (§§ 66, 66a II, 66b StGB) und der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) stattfindet – deutlich, haben doch diese Vollzugsformen eine in: Cornel/Kawamura-Reindl/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Resozialisierung, S. 499; Klopp Forum Strafvollzug 2010, 38. 24 Vgl. z. B. AK-StVollzG-Bertram/Huchting vor § 71 Rn. 8 ff; Kawamura-Reindl (Fn. 23) S. 505 ff; Walter Strafvollzug Rn. 90 ff. 25 Nachw. bei Calliess/Müller-Dietz StVollzG § 24 Rn. 2. Zur Bedeutung des Eltern-KindVerhältnisses in der Untersuchungshaft BVerfG NJW 1981, 1943; Behnke ZfStrVo 2004, 174; AK-StVollzG-Bertram/Huchting vor § 71 Rn. 10. 26 Prantl in: Preusker/Maelicke/Flügge (Hrsg.), Das Gefängnis als Risiko-Unternehmen, 2010, S. 13.

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zeitlich schwer oder gar nicht absehbare Trennung des Verurteilten von seiner Familie zur Folge.27 Ordnet man die einschlägigen Probleme rechtssystematisch ein, dann zeigt sich, dass sie mehrere – und zwar recht verschiedene – Rechtsgebiete tangieren: Zunächst einmal steht – wie vor allem die institutionelle Garantie von Ehe und Familie durch Art. 6 GG zeigt – die verfassungsrechtliche Lage zur Diskussion. Ihr nachgeordnet sind das Strafrecht – vor allem in Gestalt des Rechtsfolgensystems und der gerichtlichen Strafzumessung sowie das Recht der Untersuchungshaft und des Straf- und Maßregelvollzugs, das die Rechtsstellung des Inhaftierten gegenüber dem Staat regelt. Nicht zuletzt ist auch das Sozialrecht einschlägig, wenn und soweit es – etwa unter sozialstaatlichem, also unter verfassungsrechtlichem Vorzeichen – zur Sicherung des Lebensunterhalts Angehöriger beizutragen hat.28 Eine die Gesamtheit rechtlicher und tatsächlicher Aspekte umfassende Analyse der Situation Angehöriger ist bisher – soweit ersichtlich – nicht vorgenommen worden. Die einschlägigen Studien haben in der Regel bedeutsame Detailfragen zum Gegenstand, die indessen lediglich einen Ausschnitt aus der Vielzahl relevanter Probleme bilden. In den bisherigen Untersuchungen spielten vor allem zwei Fragestellungen eine herausragende Rolle. Ihnen kommt auch in Gegenwart und Zukunft eine gewichtige Rolle zu. Die eine Fragestellung betraf und betrifft die Hilfeangebote und Leistungen, die Straffälligenhilfe und Staat gewähren – oder gewähren könnten. Dabei stellt sich für das Gemeinwesen selbst die Frage nach Umfang und Inhalt der Verpflichtungen, die es unter sozialstaatlichem Vorzeichen (Art. 20 I GG) Angehörigen gegenüber einzulösen hat. Die andere Fragestellung hat das Problem zum Gegenstand, welche Konsequenzen im Einzelnen aus der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates (Art. 6 GG) zu ziehen sind, den Vollzug ehe- und familienfreundlich zu gestalten. Dabei ergeben sich – wie bisherige rechtliche Regelungen und Praxis zeigen – Folgerungen namentlich für den Bereich der verschiedenen, für die soziale Integration des Inhaftierten besonders bedeutsamen Kontaktmöglichkeiten –

27

Schäfer/Sievering (Hrsg.), Strafvollzug – Ende der Partnerschaft, Ehe und Familie?, 1994; vgl. auch Drenkhahn NK 2009, 8; Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?, 1994; Pollähne/Rode (Hrsg.), Probleme unbefristeter Freiheitsentziehungen, 2010; Snacken/van Zyl Smit NK 2009, 58. 28 Götte Die Mitbetroffenheit der Kinder und Ehepartner von Strafgefangenen, 2000, S. 133 ff, 196 ff. Die überaus komplexe Problematik sozialstaatlicher Leistungspflichten (vgl. nur Heinig Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008) – die durch das Urteil des BVerfG zur Konkretisierung des menschenwürdigen Existenzminimums neuen Auftrieb erfahren hat (JZ 2010, 515; dazu Seiler JZ 2010, 500) – kann hier nicht weiter erörtert werden. Ohnehin kann das weitläufige Themenspektrum des Beitrags nur kursorisch behandelt werden.

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vom Besuchs- und Briefverkehr bis hin zu Vollzugslockerungen und offenem Vollzug. Das verfassungsrechtliche Problem, ob und inwieweit das GG dazu verpflichtet, bei der Androhung und Verhängung freiheitsentziehender Sanktionen – in welcher Weise auch immer – Ehe und Familie zu berücksichtigen, hat lange Zeit so gut wie keine Rolle gespielt. Das gilt auch für Praxis und Theorie der Strafzumessung selbst. Wie vor allem frühe Studien zum Rechtsfolgenbereich zeigen, haben – was die sog. „Drittwirkung“ von Sanktionen betrifft – namentlich zwei Themenbereiche im Vordergrund des Interesses gestanden: die Verfassungsmäßigkeit von Bewährungsauflagen29 und von Sanktionen gegen das Eigentum30. Auch im strafrechtlichen Bereich hat man erst allmählich die Auswirkungen freiheitsentziehender Sanktionen auf Angehörige zur Kenntnis genommen. So hat etwa Bruns noch in seinem Standardwerk zur Strafzumessung unter Rekurs auf die damalige Rspr. verneint, dass „nachteilige Auswirkungen der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe auf dritte Personen, insbesondere unterhaltsberechtigte Familienmitglieder“ geeignet sein könnten, die Strafe zu mildern.31 Doch hat der BGH später immerhin festgestellt, dass die persönlichen Verhältnisse des Täters – wozu ja auch seine familiäre Situation zählt – für die Strafzumessung unter dem Blickwinkel der Strafempfindlichkeit von Bedeutung sein können.32 In einer späteren Entscheidung hat er es sogar für zulässig erklärt, „in erweiternder Auslegung des Rechtsgedankens des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB“ „auch diejenigen Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben der drei Kinder der Angeklagten zu erwarten sind“.33 Dies gilt natürlich unbeschadet der Befugnis der Vollstreckungsbehörde, etwa Strafausstand in Form von Strafaufschub wegen erheblicher Nachteile für die Familie zu gewähren (§ 456 StPO).34

29 Vgl. z. B. Stree Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 164 f; Hamann Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S. 58 ff. 30 Eser Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969, S. 144 ff. 31 Bruns Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 1974, S. 359. Doch hat er unter Hinweis auf das Beispiel der Verurteilung einer Mutter kleiner Kinder für eine „Änderung der herrschenden Lehre“ plädiert (S. 322). Darin ist ihm denn auch in gewisser Weise der BGH gefolgt (vgl. Fn. 33). 32 BGH StV 1983, 326; vgl. Müller-Dietz FS Spendel, 1992, 422; Streng Strafrechtliche Sanktionen Rn. 453. 33 BGH StV 2005, 328 (LS); vgl. Fischer § 46 Rn. 42; Laule Berücksichtigung von Angehörigen bei der Auswahl und Vollstreckung von Sanktionen, 2009, S. 75. 34 Götte (Fn. 28) S. 205 ff fordert freilich aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 6 GG) eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 456 StPO (S. 211 ff, 254).

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4. Zu den rechtlichen und tatsächlichen Perspektiven einer Reform Der neuere strafrechtliche Diskurs knüpft nunmehr – richtigerweise – zunächst an die verfassungsrechtliche Lage als rechtsdogmatischen und – systematischen Ausgangspunkt für die Beurteilung des kriminalrechtlichen Sanktionenrechts hinsichtlich der sog. Nebenfolgen des Freiheitsentzugs für Angehörige an. Dabei stehen – wie schon angedeutet – die institutionelle Garantie von Ehe und Familie (Art. 6 I GG) und das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 II GG) im Zentrum der Betrachtung. Im Rahmen der Vollzugsgestaltung selbst spielen natürlich noch andere Grundrechte Angehöriger – wie etwa die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) und das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 I GG) – eine Rolle. Die einschlägigen Grundsätze hat denn auch das BVerfG in seiner ebenso wegweisenden wie detaillierten Rspr. herausgearbeitet.35 Eine der ersten Studien, die an das GG nach Maßgabe des neueren Diskussionsstandes angeknüpft hat, hat sich aus der speziellen unterhaltsrechtlichen Perspektive mit der Frage auseinandergesetzt, welche Konsequenzen für die Sicherung dieser Interessen Angehöriger in verfassungsrechtlicher Hinsicht zu ziehen sind. Die Verfasserin hat – unbeschadet des auch von ihr zugrunde gelegten Prinzips schuldangemessener Strafe – unter sozialstaatlichem Vorzeichen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein Gebot zur Einschränkung des Anwendungsbereichs vollstreckbarer Freiheitsstrafen entnommen36 und – wie schon früher und öfter – eine ehe- und familienfreundliche Ausgestaltung des Freiheitsentzugs gefordert37. Eine weitere Studie hat dem Verhältnis von Elternrecht und staatlichem Strafrecht sowohl aus rechtshistorischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht nachgespürt. Dabei hat der Autor nicht zuletzt auf die Schranken hingewiesen, die das – auch und vor allem von der Rspr. des BVerfG – verfassungsrechtlich anerkannte Strafrecht samt dem nicht minder grundgesetzlich garantierten Freiheitsentzug dem Grundrecht des Art. 6 II GG ziehe.38 Die wohl jüngste einschlägige Studie setzte sich die mit der Frage auseinander, welche rechtlichen Schlussfolgerungen aus der institutionellen Garantie des Art. 6 I GG für die rechtliche Regelung und praktische Hand35 Calliess/Müller-Dietz StVollzG § 23 Rn. 2, § 28 Rn. 1, § 29 Rn. 1, § 31 Rn. 4; Gusy FS Bemmann, 1997, 673; AK-StVollzG-Joester/Wegner § 28 Rn. 1; Schwind/Böhm/JehleSchwind StVollzG § 28 Rn. 6, § 31 Rn. 11. 36 Götte (Fn. 28) S. 48 ff, 254 f; vgl. auch Fn. 16, 27. 37 Götte (Fn. 28) S. 221 ff, 254 f. 38 Reuther Elternrecht bei Trennung aufgrund stationärer jugendstrafrechtlicher Sanktionen, 2008, S. 153 ff, 206 f; vgl. auch Müller-Dietz GS Zipf, 1999, 123.

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habung freiheitsentziehender kriminalrechtlicher Sanktionen zu ziehen sind. Die auf empirischer Grundlage durchgeführte Untersuchung stützte sich insoweit namentlich auf eine Analyse von Strafverfahrensakten ausgewählter Gerichtsbezirke, von Gefangenenpersonalakten der 2001 aus dem Vollzug entlassenen erwachsenen Verurteilten Baden-Württembergs sowie auf eine schriftliche Befragung der für den Erwachsenenvollzug zuständigen Justizvollzugsanstalten des Landes.39 Die Studie bestätigt in ihrer Verknüpfung von rechtsdogmatischer und empirischer Analyse die bisherige Erkenntnis, dass die negativen Auswirkungen des Freiheitsentzugs auf Angehörige inzwischen in (vollzugs-) praktischer Hinsicht zwar durchaus wahrgenommen und bei der Vollzugsgestaltung – freilich in örtlich unterschiedlicher Weise und innerhalb mehr oder minder enger Grenzen – berücksichtigt werden, aber bei der gerichtlichen Auswahl von Sanktionen eine marginale Rolle spielen. Dies wird vor allem darin sichtbar, dass die Belange der Familienmitglieder lediglich mittelbar berücksichtigt werden, wenn sie für die Beurteilung der Person des Straftäters bedeutsam erscheinen.40 Die Verfasserin sucht angesichts dieses kargen Befundes denn auch die vom BGH in seiner mehr oder minder singulären Entscheidung die ebenso weitreichend wie bedeutsam erscheinende – aber eben auch wegen ihres Prognosecharakters recht schwierige – Regelung der Folgenorientierung (§ 46 I 2 StGB)41 für eine ehe- und familienfreundliche Handhabung der Strafzumessung fruchtbar zu machen.42 Dass dies ein rechtlich gangbarer Weg ist, liegt auf der Hand. Doch sollte man sich über seine praktischen Auswirkungen keiner Illusion hingeben. Durch eine sich an jenem Grundgedanken orientierende Strafzumessungspraxis könnte zwar besonders prekär erscheinenden Einzelfällen wohl in stärkerem Maße als bisher Rechnung getragen werden. Indes würde eine vermehrte Berücksichtigung des § 46 I 2 StGB entnommenen Grundgedankens schwerlich zu einer über spezielle Konstellationen hinausgehenden, gar noch prinzipiellen Neuorientierung der Strafzumessung führen können, wenn nicht der in § 46 I 1 StGB geregelte – und auch verfassungsrechtlich anerkannte – Schuldgrundsatz ausgehöhlt oder gar ausgehebelt werden soll. Dies gilt selbst dann, wenn man schuldunterschreitende Strafmilderungen im Einzelfall aus Gründen besonders schwerwiegender familiärer Belastungen durch den Freiheitsentzug für zulässig erachtete.43

39

Laule (Fn. 33) S. 78 ff, 90 ff, 138 ff, 202 ff. Laule (Fn. 33) S. 45. 41 Vgl. Fn. 33. 42 Laule (Fn. 33) S. 45, 75. 43 Roxin hält Schuldunterschreitungen jedenfalls aus Resozialisierungsgründen im Einzelfall – mit Recht – für statthaft (Fn. 4, S. 614 ff). 40

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Damit werden zugleich grundsätzliche Schranken etwaiger Reformregelungen sichtbar. Es liegt nach alledem auf der Hand, dass die Dominanz der – freilich verfassungsrechtlich untermauerten – strafrechtlichen Sichtweise, die auf die Verfolgung und Realisierung der Strafzwecke gerichtet ist, den Ausgangspunkt für Reformüberlegungen bildet und dementsprechend den Zugang zu anderweitigen Lösungen des Problems der „Drittbetroffenheit“ versperrt. Wenn die Grundrechte des Art. 6 I und II GG in verfassungsrechtlicher Hinsicht mit dem gleichfalls verfassungsrechtlich anerkannten (Schuld-) Strafrecht und dem ihm inhärenten Freiheitsentzug konkurrieren, dann bleibt für die Berücksichtigung der Interessen Angehöriger im Rechtsfolgenbereich nur ein begrenzter Spielraum – der natürlich genutzt werden sollte. Das wäre nur anders, wenn es gelänge, den Anwendungsbereich von Freiheitsentzug in stärkerem Maße einzuschränken44 oder freiheitsentziehende Sanktionen gänzlich abzuschaffen45. Indes steht eine Verwirklichung solcher Forderungen – wie sie immer wieder erhoben werden – in der gegenwärtigen kriminalpolitischen Situation nicht zur Diskussion. All dies erklärt wohl auch den Umstand, dass umfassende und durchgreifende Ansätze zur Lösung der Probleme Angehöriger bisher nicht zutage getreten sind, dass es also jeweils bei Vorschlägen geblieben ist, die Reformschritte in verschiedenen Bereichen zu bündeln versuchen. Schon anders stellt sich hingegen die rechtliche Situation im Rahmen der Vollstreckung dar. Hier sind die Spielräume für die Berücksichtigung ehelicher und familiärer Belange – ungeachtet der grundsätzlichen strukturellen Problematik des Vollzugs, die jedenfalls zunächst einmal die Trennung des Verurteilten von seinen Angehörigen zur Folge hat – ungleich größer. Sie könnten und sollten dementsprechend auch genutzt werden. Dass dies bisher nicht in hinreichendem Maße geschehen ist, ist denn auch Kern der – jedenfalls im Grundsatz berechtigten – Kritik, die an der mangelnden Ausschöpfung der Möglichkeiten einer ehe- und familienfreundlichen Vollzugsgestaltung geübt wird. Freilich erscheint die gegenwärtige gesellschaftliche und kriminalpolitische Situation einer solchen Reformentwicklung wenig günstig. Ein gewichtiges Problem bildet – wie die Erfahrung zeigt – der Umstand, dass Angehörige von Straftätern – noch weniger als etwa Straftatopfer – eine gesellschaftliche Lobby haben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie vielfach ebenso wie Straffällige selbst sozial ausgegrenzt, wenn nicht stigmatisiert werden.46 In der Öffentlichkeit werden Angehörige nur in mehr oder 44

Vgl. z. B. Lüderssen Abschaffen des Strafens?, 1995, S. 259; Cornel KrimJ 2008, 54. Vgl. etwa Evang. Akademie Arnoldshain (Hrsg.), Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe, 1989. 46 Vgl. Fn. 20. 45

Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs

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minder dramatischen, wenn nicht gar skandalösen Einzelfällen wahrgenommen. Mentoren haben sie im Wesentlichen nur in Gestalt von Einrichtungen und Mitarbeitern der Straffälligenhilfe. Auch ist der Organisationsgrad Angehöriger vergleichsweise gering. Arbeits- und Gesprächskreise auf lokaler oder regionaler Ebene stellen keine ausreichende Kompensation für eine Bündelung der obendrein unterschiedlichen Interessen dar. Einer stärkeren Berücksichtigung der Nöte und Bedürfnisse Angehöriger läuft auch die derzeitige Kriminal- und Vollzugspolitik zuwider, die ja weitgehend auf Sicherheit – und damit auch auf eine Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen im Justizvollzug mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf eine ehe- und familienfreundliche Ausgestaltung setzt.47 Dadurch gerät auch leicht die Einlösung der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates ins Hintertreffen, die vielfach überaus belastenden Folgen des Freiheitsentzugs für Angehörige nach Kräften abzumildern – nachdem es schon aus Rechtsgründen nicht möglich ist, sie in vollem Umfange zu kompensieren. Es gilt nach alledem die Öffentlichkeit mehr als bisher über diese gesellschaftliche Problematik zu informieren und für sie zu sensibilisieren, um dadurch den Weg für die verfassungsrechtlich gebotenen Reformschritte zu bereiten.

47

Kawamura-Reindl (Fn. 23) S. 505 ff; Laule (Fn. 33) S. 254.

Neuere Aspekte der Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR RUTH RISSING-VAN SAAN

Das Recht der Sicherungsverwahrung befindet sich im Umbruch. Dabei geht es nur zum Teil um strafrechtsdogmatische Problemlösungen, zu einem größeren Teil jedoch um kriminal- bzw. rechtspolitische Streitfragen, vielleicht sogar um Machtfragen, soweit die Abgrenzung von Rang oder Vorrang europäischen Rechts, hier der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK), im Verhältnis zu nationalem deutschem Recht und der diesen Rechtskreisen jeweils zuzuordnenden Gerichten in Rede steht. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen deshalb rechtspolitische Streitfragen. Seine Verfasserin hofft, dass der hochverehrte Jubilar, den sie schon seit ihrer Studienzeit wegen seiner gedanklichen Schärfe in der Problemanalyse, der Brillanz der Darstellung und seiner überzeugenden Argumentationskunst bewundert, den Beitrag dennoch wohlwollend zur Kenntnis nimmt.

I. Einleitung Die Maßregel der Sicherungsverwahrung galt seit jeher als problematisch, zum einen wegen ihrer Unverträglichkeit mit dem das deutsche Strafrecht an sich beherrschenden Schuldprinzip, zum anderen wegen der Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, mit denen die Bestimmung der Personen, die von der Maßregel erfasst werden sollen, zwangsläufig einhergeht. Denn gleich, ob man die in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a. F. bzw. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB n. F. angesprochenen Merkmale des Hangs und der Gefährlichkeit als getrennte oder nahezu synonyme materielle Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung wertet,1 immer ist ein Blick in die Zukunft, eine Prognose über die weitere Entwicklung und die zukünftigen 1

Zu den unterschiedlichen Positionen einerseits LK-Rissing-van Saan/Peglau § 66 Rn. 137 ff, andererseits Fischer § 66 Rn. 26 ff; Kinzig NStZ 1998, 14 ff; Milde Die Entwicklung der Normen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung in den Jahren 1998 bis 2004, 2006, S. 139 ff.

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charakterlichen und sozialen Eigenheiten des zu beurteilenden Straftäters erforderlich, die zunächst im konkreten Einzelfall eine gesicherte Entscheidungsgrundlage in Gestalt von festgestellten persönlichen Umständen und Eigenschaften sowie allgemein wissenschaftlich gesichertes Erfahrungswissen voraussetzt, die bestenfalls als konkrete Risikobeschreibung aber immer mit einigen mit der Person und Entwicklung der tatsächlichen Lebensbedingungen des Probanden verbundenen Unwägbarkeiten behaftet bleibt. Besondere Schwierigkeiten bereitet auch die Frage, wie man Freiheitsrechte und Menschenwürde eines potentiell gefährlichen Straftäters gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und die Menschenwürde der zu schützenden Bürger, d. h. der potentiellen Opfer, sinnvoll gegeneinander abwägen kann.

II. Rückblick Lange Zeit galt die Sicherungsverwahrung des § 66 StGB in der von 1975 bis 1998 unverändert gebliebenen Fassung2 als „ultima ratio“, als letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik, die schon der Gesetzgeber in ihren formellen und materiellen Voraussetzungen so eng fassen wollte, dass sie nur solche Straftäter erfasste, denen gegenüber sie als unabwendbare Rechtsfolge strafbaren Verhaltens erschien.3 Das änderte sich nahezu schlagartig, als in den Jahren 1996 und 1997 aufsehenerregende Sexual- und Tötungsdelikte an mehreren Kindern, die von rückfälligen Straftätern begangen worden waren, zu einer medial gezielt aufgeheizten allgemeinen Stimmung und zu einem Gefühl der Verunsicherung in der Bevölkerung führten.4 Als Reaktion des Gesetzgebers erfolgten stufenweise mehrere Verschärfungen der Maßregel der Sicherungsverwahrung, die dem Interesse der Allgemeinheit an effektivem Schutz vor bestimmten hoch gefährlichen Straftätern durch Absenkung der formellen Voraussetzungen Rechnung tragen sollten. 5

2

Durch das 2. StrRG (BGBl I 1969 S. 717), in Kraft getreten am 1.1.1975, wurde der seit dem 1.4.1970 geltende § 42e StGB inhaltlich unverändert als § 66 in das StGB übernommen. 3 Sehr eindrücklich LK-Hanack § 66 Rn. 2 ff, Rn. 12a f m. w. N.; vgl. auch Laubenthal ZStW 116 (2004), 708 f. 4 Dazu näher Boetticher NStZ 2005, 417 f; Laubenthal ZStW 116 (2004), 703 f; Milde (Fn. 1) S. 39 ff; Rissing-van Saan FS Nehm, 2006, 191 ff, jeweils m. w. N. Begleitet wurde diese Medienkampagne von populistischen Politikerforderungen, die schließlich zu dem bekannten Ausspruch des damals amtierenden Bundeskanzlers vom „Wegschließen für immer“ führten, vgl. u. a. von Rautenberg NJW 2001, 2608 f. 5 Vgl. BT-Drucks. 15/2887 und BT-Drucks. 16/3346, jeweils S. 1.

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1175

1. So wurde zunächst durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGBl I S. 1838) § 66 Abs. 3 StGB eingeführt, der die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch einen relativ breit gefächerten Katalog von Anlass- und Vortaten – schwerpunktmäßig Sexualdelikten – und einer im Vergleich zu den Absätzen 1 und 2 des § 66 StGB schmaleren Prognosebasis erleichterte und die zehnjährige Befristung der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 StGB) aufhob, und zwar mit Rückwirkung auch für solche Straftäter, die noch unter der Geltung des alten Rechtszustandes verurteilt worden waren. Dies stellte bekanntlich den Stein des Anstoßes für den EGMR dar, der die Bundesrepublik Deutschland im Dezember 2009 auf die Beschwerde mehrerer hiervon betroffener Straftäter wegen Verstoßes gegen Art. 5 und 7 EMRK zu Schadensersatzzahlungen verpflichtete. 2. Als zweiter Schritt wurde durch das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21.8.2002 (BGBl I S. 160) § 66a StGB als weitere Form der Anordnung dieser Maßregel in das Sanktionensystem des StGB6 eingefügt. Gleichzeitig wurde es durch Streichung des Adjektivs „zeitiger“ vor dem Wort „Freiheitsstrafe“ in § 66 Abs. 1 Hs. 1 StGB ermöglicht, die Sicherungsverwahrung auch neben lebenslanger Einzelfreiheits- oder Gesamtstrafe anzuordnen. Die Einführung des § 66a StGB war zunächst nur eine Kompromisslösung, da gegen die eigentlich bevorzugte Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für solche Straftäter, die sich erst in der Haft als gefährlich erweisen, vielfache – vornehmlich verfassungsrechtliche – Bedenken erhoben wurden und auch kompetenzrechtliche Streitigkeiten dem Erlass einer derartigen gesetzlichen Regelung im Wege standen. Einige Bundesländer, denen die Regelungen des § 66a StGB nicht weit genug gingen, erließen eigene sog. Straftäterunterbringungsgesetze zur Einführung einer präventiven nachträglichen Sicherungsverwahrung. Dagegen hatten mehrere von diesen Unterbringungsgesetzen Betroffene Verfassungsbeschwerde eingelegt, die mit dem bekannten Ergebnis der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausgesprochenen Verfassungswidrigkeit dieser Ländergesetze endete.7 6 Die Einführung der Sicherungsverwahrung in das JGG für Heranwachsende und Jugendliche bleibt hier wegen der damit verbundenen eigenen Problematik aus Raumgründen unerörtert. 7 BVerfG Urt. v. 10.2.2004 – 2 BvR 834/02 und 1588/02 = BVerfGE 109, 190 ff = NJW 2004, 750 ff; in enger zeitlicher Verbindung war demgegenüber kurz zuvor der rückwirkende Wegfall der zeitlichen Befristung der ersten Anordnung der Sicherungsverwahrung für verfassungsgemäß erklärt worden: BVerfG Urt. v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01 = BVerfGE 109, 133 ff = NJW 2004, 739 ff. Beide Urteile werden besprochen von Kinzig NJW 2004, 912; ders. Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2008, S. 40 ff.

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3. Dies hatte auf Bundesebene eilige gesetzgeberische Maßnahmen zur Folge. Mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.7.2004 (BGBl I S. 3007) wurde § 66b in das StGB eingefügt, der in der Folgezeit für kontroverse Diskussionen in der Wissenschaft führte. Von der Rechtsprechung wurde er mit dem erkennbaren Bemühen um eine restriktive Auslegung vor allem des Merkmals der „neuen Tatsachen“ und durch die Annahme, sowohl § 66b Abs. 1 als auch § 66b Abs. 2 StGB setzten für ihre Anwendbarkeit die Feststellung eines „Hangs“ voraus, nur sehr zurückhaltend angewendet. Um hierauf näher eingehen zu können, fehlt jedoch der Raum.8 Jedenfalls sah sich der Gesetzgeber veranlasst, für § 66b StGB ein breiteres Anwendungsspektrum sicherzustellen, indem er mit dem Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht vom 13.4.2007 (BGBl I S. 513) § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB „klarstellend“ dahingehend änderte, dass es nunmehr für die Beurteilung der formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 66 Abs. 3 StGB allein auf die im Zeitpunkt der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gültige Rechtslage ankam. Wesentlicher war aber der Umstand, dass § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB einfügt wurde, der es möglich machte, auch Fälle zu erfassen, in denen aus Rechtsgründen bei der früheren Anlassverurteilung eine originäre Sicherungsverwahrung nicht möglich gewesen war. Auf diese Weise bedurfte es keiner „neuen Tatsachen“ mehr, auch musste keine neue bzw. gesteigerte Gefährlichkeit des Verurteilten festgestellt werden, so dass es für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausreichte, wenn er nach wie vor als „gefährlich“ einzustufen war und die übrigen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 i. V. m. § 66 Abs. 1, 2 oder 3 StGB vorlagen. Diese Regelung begegnete mit Blick auf die Rückwirkungsproblematik und mit Rücksicht auf den allgemein gültigen Schutz des Vertrauens in den (Fort)Bestand der zum Zeitpunkt der Aburteilung geltenden Rechtslage für sich genommen noch erheblicheren Bedenken als ohnehin schon gegen § 66b StGB vorgebracht wurden.9 In dem Bemühen, die durch die restriktive obergerichtliche Rechtssprechung geschaffenen (angeblichen) Schutzlücken zu schließen, wurde offensichtlich nicht genügend bedacht bzw. problematisiert, dass sich die tatsächlichen Auswirkungen des Vollzugs der Sicherungsverwahrung auf den Verurteilten nicht wesentlich anders darstellen als die Vollstreckung langjähriger Freiheitsstrafen und dass die vergleichbare Eingriffsintensität es möglicherweise – auch mit Blick auf die Entwicklungen im internationalen Rechtsbereich und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für 8

Statt aller sei hier verwiesen auf Fischer § 66b Rn. 23. Vgl. Peglau NJW 2007, 1562 und NJW 2008, 1634 f, Besprechung von BGH NJW 2008, 1682 (Beschl. v. 15.4.2008 – 5 StR 431/07). 9

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1177

Menschenrechte (EGMR) – doch nahe legen könnten, die Sicherungsverwahrung und ihre verschiedenen Spielarten unter dem Aspekt der EMRK einer kritischeren Betrachtung zu unterziehen. In diesem Sinne mahnende Stimmen gab es durchaus,10 wenn auch überwiegend nur die Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 EMRK und nicht mit deren Art. 7 Abs. 1 thematisiert wurde.11 Sowohl dem Gesetzgeber als auch der Rechtsprechung wird deshalb vorgehalten, die warnenden Stimmen nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und sich mit den durch die Art. 5 und 7 EMRK aufgeworfenen Fragen und ihren Auswirkungen auf das nationale Recht vor dem 19.12.2009 nicht ernsthaft befasst zu haben.12

III. Die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache M. ./. Deutschland vom 19.12.2009 und ihre Auswirkungen auf das Recht der Sicherungsverwahrung und die Rechtsanwendung in Deutschland 1. Das Recht der Sicherungsverwahrung nach den §§ 66 ff StGB ist durch die seit dem 10.5.2010 endgültige Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 in dem Individualbeschwerdeverfahren Nr. 193559/04 (Rechtssache M. ./. Deutschland = NStZ 2010, 263)13 – was nicht überraschend war14 – erneut und verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses gelangt. Das Urteil betraf zunächst „nur“ die 1998 eingeführte (rückwirkende) Verlängerung der Höchstfrist von zehn Jahren bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung in § 67d Abs. 3 StGB, die vom EGMR als Verstoß sowohl gegen Art. 5 Abs. 1 als auch Art. 7 Abs. 1 EMRK gewertet wurde. Diese Regelung war 2004 vom Bundesverfassungsgericht, und zwar u. a. auf die Verfassungsbeschwerde desselben Untergebrachten, ausdrücklich als mit der Verfassung vereinbar erklärt worden.15 Außerdem war schon von vorne herein aufgrund der Entscheidungsbegründung zu den Art. 5 Abs. 10 Laubenthal ZStW 116 (2004), 724; Ullenbruch NStZ 1998, 327 f; vgl. auch SK-Rupolphi § 2 Rn. 18. 11 So etwa Hanack FS Rieß, 2002, 717 f; Kinzig NJW 2004, 914; Milde (Fn. 1) S. 293 f m. w. N. in Fn. 1388; Renzikowski JR 2004, 271 ff; LK-Rissing-van Saan/Peglau § 66b Rn. 47 ff; Römer JR 2006, 5 f. 12 Renzikowski in der Einleitung seiner schriftlichen Stellungnahme zu der Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages im November 2010 zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (BTDrucks. 17/3403); vgl. auch Kinzig (Fn. 7) S. 72. 13 Eine kritische Analyse der Entscheidungsgründe findet sich bei Hörnle FS Rissing-van Saan, 2011, 239 (242 ff). 14 So zutreffend Fischer Vor § 66 Rn. 2. 15 BVerfGE 109, 130 ff.

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1 und 7 Abs. 1 EMRK und die, mit der tatsächlichen Situation des der Sicherungsverwahrten bzw. der Vollzugswirklichkeit in Deutschland begründete grundsätzliche Einstufung der „Sicherungsverwahrung“ des StGB als „Strafe“16 auch für weitere, die Sicherungsverwahrung rückwirkend verschärfende Neuregelungen, insbesondere § 66b StGB, zu befürchten, dass auch sie vom EGMR als konventionswidrig eingestuft werden könnten. Die Befürchtungen haben sich inzwischen als zutreffend erwiesen, denn der EGMR hat nunmehr u. a. mit Urteil vom 13.1.2011 in dem Verfahren zu der Individualbeschwerde Nr. 6587/04 (Rechtssache H. ./. Deutschland) unter Hinweis auf einige seiner früheren Urteile entschieden, dass die zu Präventionszwecken auf der Grundlage des Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz – einer der landesrechtlichen Vorläufer des § 66b StGB a. F. – erfolgte nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Haftanstalt konventionswidrig war, weil keiner der in Art. 5 Abs. 1 EMRK aufgeführten Eingriffstitel nach seinen engen, durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisierten Voraussetzungen vorlag. Die Begründungen (vgl. hierzu näher Rn. 90 bis 97 der Urteilsgründe) sind ohne weiteres auf die Regelungen des § 66b StGB a. F. und die Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit den Rechtsgrundsätzen der EMRK übertragbar. So ist es auch in den Beschwerdesachen Nr. 177921/07, 20008/07 und 42225/07 geschehen. 2. Die unterschiedliche Bewertung desselben Sachverhalts als nach nationalem Recht verfassungsmäßiger Maßregelvollzug, aber nach den Kriterien der EMRK konventionswidrig und damit völkerrechtswidrig, verursacht auf verschiedenen Ebenen für die Strafvollstreckungsbehörden und die Gerichte brisante Konflikte.17 Diese haben zunächst ihren Ursprung in den unterschiedlichen Auffassungen bzw. Bewertungen des BVerfG und des EGMR über die Rechtsnatur der Sicherungsverwahrung, wie sie in dem nationalen deutschen zweispurigen System der freiheitsentziehenden Rechtsfolgen einer Straftat angelegt ist, die hier nur in Kurzform wie folgt zu umschreiben sind: Das BVerfG versteht Strafe i. S. des Art. 103 Abs. 2 GG strafrechtstheoretisch als eine dem Schuldausgleich dienende staatliche Reaktion auf ein rechtswidriges schuldhaftes Verhalten, während es die Maßregeln der Besserung und Sicherung einschließlich der Sicherungsverwahrung nicht als schuldabhängige Rechtsfolgen eines rechtswidrigen und schuldhaften Vorverhaltens bewertet, sondern in ihnen notwendige Reaktionen auf 16 Urteil des EGMR in diesem Individualbeschwerdeverfahren Rn. 127-133. Dort greift der EGMR der Sache nach das schon vom BVerfG im Jahr 2004 (BVerfGE 109, 133 [166 f]) angemahnte sog. Abstandsgebot zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und den Vollzugsbedingungen der Sicherungsverwahrung auf, das allerdings von den für den Vollzug zuständigen Ländern weitgehend nicht umgesetzt wurde. 17 Näheres bei Greger NStZ 2010, 676 ff; Kreuzer NStZ 2010, 478; Radtke NStZ 2010, 537 ff; Ullenbruch StraFO 2010, 438 ff.

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eine in der Tat oder den Taten zutage getretene Gefährlichkeit des Täters sieht, die zum Schutze der Allgemeinheit erforderliche präventive Maßnahmen darstellen, die nicht dem strikten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen18 und über die deshalb nach § 2 Abs. 6 StGB, wenn das Gesetz nichts anderes vorsieht, nach dem zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Gesetz zu befinden ist, auch wenn das bei Begehung der Anlasstat geltende Gesetz milder war oder noch gar nicht galt. Demgegenüber definiert der EGMR als Europäischer Gerichtshof, d. h. als übernationales Gericht, „Strafe“ i. S. des Art 7 Abs. 1 EMRK notwendigerweise autonom,19 d. h. unabhängig von den Benennungen der einzelnen Sanktionsformen und unabhängig von den straftheoretischen Begründungen in den Rechtsordnungen der verschiedenen Vertragsstaaten. Er prüft eine nationale staatliche Maßnahme, die im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat ergeht, einzelfallbezogen und pragmatisch vor allem nach ihren tatsächlichen Ausgestaltungen und Auswirkungen in der jeweiligen Rechtsordnung und in dem zur Beurteilung anstehenden Fall, um festzustellen, ob ihr „Strafcharakter“ zukommt. Diese unterschiedlichen Prüfungsansätze und deren unterschiedliche Ergebnisse bei der Prüfung eines im Einzelfall vom Beschwerdeführer behaupteten Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot im Zusammenhang mit Regelungen der Sicherungsverwahrung, haben die forensische Praxis vor erhebliche Probleme gestellt. Vor allem die Strafvollstreckungsbehörden und -gerichte stehen nicht nur in den Parallelfällen nachträglich verlängerter Unterbringungsdauer vor der Frage, ob sie durch den Richterspruch aus Straßburg verpflichtet sind, im Rahmen von nach § 67e StGB anstehenden oder anzusetzenden Überprüfungen der Vollstreckung einer Sicherungsverwahrung die sofortige Freilassung des Untergebrachten anzuordnen oder ob sie auch staatliche Schutzpflichten in das Überprüfungsspektrum einfließen lassen dürfen oder sogar müssen. Denn einerseits sind die Gerichte an die Entscheidungen des BVerfG gebunden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG), das sowohl die nachträgliche Verlängerung der Vollstreckungszeiten bei erstmaliger Sicherungsverwahrung als auch die späteren Verschärfungen der §§ 66 ff StGB a. F. als mit der deutschen Verfassung vereinbar gewertet hat. Andererseits ist nicht nur § 2 Abs. 6 StGB, sondern sind auch die Art. 5 und 7 EMRK nach Art. 59 Abs. 2 GG zu beurteilendes gültiges (einfaches) Bundesrecht,20 an das die Richter nach 18

BVerfGE 109, 133 (167, 174 ff); BVerfG Beschl. v. 5.8.2009 – 2 BvR 2098/08 = NJW 2010, 1515; hierzu auch H. E. Müller StV 2010, 208. 19 EGMR Urt. v. 17.12.2009 Rn. 120, 127; vgl. auch Kinzig NStZ 2010, 237. 20 Zur Einordnung der EMRK in die Rangordnung der in der Bundesrepublik geltenden Gesetze siehe Haß Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2006, S. 112 ff; Heckötter Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtspre-

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Art. 20 Abs. 3 GG gebunden sind und dessen Auslegung durch den EGMR für die Gerichte ebenso von Bedeutung ist. Das BVerfG selbst hat mehrfach betont, dass die Gewährleistungen der EMRK und deren Auslegung durch den EGMR nicht nur mit Rücksicht auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, sondern auch durch die über Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung an Gesetz und Recht) bewirkte Bindung an das Völkervertragsrecht von den deutschen Gerichten beachtet werden müssten (BVerfGE 111, 307 [327 ff]; BVerfGK 9, 174 [187 ff]). Zwar sind die deutschen Gerichte nicht unmittelbar an die Judikate der für die Bundesrepublik Deutschland zuständigen Internationalen Gerichte gebunden. Sie trifft aber eine verfassungsunmittelbare Pflicht, deren Rechtsprechung bei ihrer eigenen Rechtsanwendung und Entscheidung zu berücksichtigen (so noch einmal deutlich BVerfG – 2. Kammer des 2. Senats, Beschluss vom 8.7.2010 – 2 BvR 2548/07 S. 9 ff), d. h. sie haben die Entscheidungen des EGMR in die nationale Rechtsordnung im Rahmen einer methodisch vertretbaren Auslegung einzupassen (BVerfGE 111, 307 [317]). Methodisch vertretbar bedeutet jedoch, dass der vom nationalen Gesetzgeber eindeutig gewollte und unmissverständlich formulierte Regelungsgehalt einer Norm nicht durch „konventionsangepasste“ Auslegung in ihr Gegenteil verkehrt werden kann und darf – eine Auffassung, die im Übrigen für den EuGH in seiner bekannten „Pupino“Entscheidung vom 16.6.2005 anscheinend ebenfalls selbstverständlich war.21 Deshalb endet die konventionskonforme Auslegungsbefugnis der Gerichte wegen ihrer Bindung an Gesetz und Recht dort, wo ein entgegenstehender Wille des nationalen Gesetzgebers eindeutig erkennbar ist.22

IV. Diskussionen und Folgen Die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 hat in der strafrechtlichen Diskussion in Deutschland eine Lawine ins Rollen gebracht. Die Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte (OLG) hat auf dieses Urteil zudem mit divergierenden Entscheidungen reagiert, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Auch der Gesetzgeber wurde mitgerissen und zu hektischen Aktivitäten veranlasst. Das Ergebnis ist das „Gesetz zur – grundlegenden – Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010“, das am 31.12.2010 im

chung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 92 ff, jeweils m. w. N., sowie Grabenwarter JZ 2010, 861. 21 EuGH Urt. v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 (EWS 2005, 405 ff), Ziff. 47 der Begründung. 22 BGH NJW 2010, 3316 und BGH Beschl. v. 22.12.2010 – 2 ARs 456/10; so auch Hörnle FS Rissing-van Saan, 2011, 253 f; Schmitt FS Rissing-van Saan, 2011, 617 f.

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Bundesgesetzblatt verkündet wurde und danach am 1.1.2011 in Kraft getreten ist. Es soll im Folgenden in seinen Grundzügen kurz dargestellt werden. 1. Die originäre Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB, die auch der EGMR als mit der Menschenrechtskonvention vereinbar ansieht,23 ist, was die für ihre Anordnung zulässigen Anlasstaten und die den formellen Anforderungen genügenden Vortaten betrifft, zuletzt aufgrund der Beratungen und der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses24 noch erheblich eingeschränkt worden. Die von Gesetzes wegen zwingend anzuordnende Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB ist nicht mehr bei allen vorsätzlich begangenen Anlasstaten zulässig, welche die übrigen materiellen und formellen Voraussetzungen erfüllen, sondern konzentriert sich schwerpunktmäßig auf schwere Delikte gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung (§ 66 Abs. 1 Nr. 1a StGB) sowie Delikte, die unter den 1. (Staatschutz), 7. (öffentliche Ordnung, u. a. §§ 125, 125a, 129, 129a, 129b StGB), 20. (Raub und Erpressung) und den 28. Abschnitt (gemeingefährliche Delikte) des Besonderen Teils des StGB oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fallen und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht sind (Abs. 1 Nr. 1b). Anlasstaten können nach § 66 Abs. 1 Nr. 1c StGB aber auch vorsätzliche Straftaten nach § 145a StGB oder § 323a StGB sein, die als Gefährdungsdelikte jedenfalls mittelbar dem Schutz der Allgemeinheit dienen. Voraussetzung für eine Vortat nach § 145a StGB ist, dass die Führungsaufsicht als Folge einer Verurteilung wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 1 Nr. 1a oder b StGB genannten Art eingetreten ist; dieselben Voraussetzungen gelten für eine Verurteilung nach § 323a StGB hinsichtlich der zugrunde liegenden Rauschtat. Andere Delikte, insbesondere Diebstahls- und Vermögensdelikte fallen aus dem Kreis der Anlass- und Symptomtaten, auch in ihren Qualifikationstatbeständen, heraus. Dadurch entfällt ein nicht gerade kleiner25 und zudem kriminalpolitisch nicht unwichtiger Kreis von Straftaten als Grundlage für die Anordnung von Sicherungsverwahrung, der durchaus auch erhebliche körperliche und seelische Schädigungen bei den betroffenen Tatopfern hervorrufen kann und auch generell erhebliches Gefährdungspotential beinhaltet (man denke etwa an die – bewaffneten – Wohnungseinbruchsdiebstähle). Auch soweit der durch Serienbetrüger oder gewerbsmäßig tätige 23

Sie wird nach den Gründen des Urteils v. 21.10.2010 – 24478/03 (G. ./. Deutschland) Rn. 45-54 von Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK erfasst, da sie im Zusammenhang mit einem Urteil, das auch einen Schuldspruch enthält, angeordnet wird. So auch schon das Urt. v. 17.12.2009 (M. ./. Deutschland) Rn. 93. 24 BT-Drucks. 17/4062. 25 Siehe dazu Kinzig NJW 2011, 178.

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Betrügerbanden angerichtete, in der Regel erhebliche wirtschaftliche Schaden nicht mehr als Grund für Maßnahmen nach den §§ 66, 66a StGB anerkannt wird, ist dies nicht unproblematisch. Begründet wird die Beschränkung der tauglichen Anlasstaten mit dem wiederentdeckten Ultima-ratioGedanken und mit einer notwendigen stärkeren Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsauschusses vom 1.12.2010 BT-Drs. 17/4062 S. 17 f). Dies bedeutet einen – gemessen an der noch im Jahr 2007 bei der Einführung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB a. F. vorherrschenden Tonlage – bemerkenswerten Wandel. Als materielle Voraussetzung für eine zwingende Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB wird in § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB die sichere Feststellung von Hang und Gefährlichkeit beibehalten, aber jetzt dem eingeschränkten Kreis der Symptomtaten angepasst, indem bei der inhaltlichen Konkretisierung der „erheblichen Straftaten“ auf die Anrichtung eines schweren wirtschaftlichen Schadens verzichtet wird. Die Absätze 2 und 3 des § 66 StGB sind im Wesentlichen erhalten geblieben, wurden aber ebenso wie der Absatz 4 in ihren Formulierungen den vorangehenden Änderungen angepasst. Als wesentliche Neuerung findet sich in § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB eine Verlängerung der sog. Verjährungsfrist für die formell erforderlichen Vortaten der Sicherungsverwahrung von fünf auf 15 Jahre, jedoch nur, soweit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Rede stehen. 2. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung des § 66a StGB a. F. hat ebenfalls einschneidende Veränderungen schon deshalb erfahren, weil sie in § 66a Abs. 2 StGB um eine früher in § 66b Abs. 2 StGB a. F. enthaltene Ersttäterregelung erweitert wurde; außerdem hat der Gesetzgeber als Reaktion auf die einschränkende Auslegung der bisherigen Fassung durch die Rechtsprechung auf einen zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung sicher feststellbaren „Hang“ verzichtet. Als in den Voraussetzung herabgesetzte Anordnung genügt nach § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB jetzt, dass nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich ist, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB (also Hang und Gefährlichkeit) vorliegen.26 Der Zeitraum, in dem über die endgültige Anordnung oder Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung entscheiden werden muss, ist jetzt in § 66a Abs. 3 Satz 1 StGB erheblich erweitert, nämlich bis zur voll26 Diese Regelung orientiert sich offenbar an einem Vorschlag von Kreuzer/Bartsch GA 2008, 665, die eine gegenüber § 66 Abs. 3 StGB leichte Herabstufung der Gefährlichkeitseinschätzung von „hinreichend sicher“ auf lediglich „wahrscheinlich“ bei der Prognose im Urteilszeitpunkt angesichts der notwendigen und entscheidenden Zweitprognose am Ende der Strafverbüßung für ausreichend halten. Außerdem halten sie diese Abschichtung der Wahrscheinlichkeitsgrade für ein realistisches Spiegelbild der Begutachtungspraxis der Sachverständigen.

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1183

ständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe, und zwar auch dann, wenn sie oder ein Strafrest zunächst zur Bewährung ausgesetzt war und die Aussetzung dann widerrufen wurde (nach der ursprünglichen Fassung des § 66a StGB musste spätestens sechs Monate vor Ablauf des ZweidrittelZeitpunkts bei zeitigen Freiheitsstrafen entschieden werden, ein Umstand, der die Praxistauglichkeit dieser Sanktion erheblich beeinträchtigte). Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den Eingriffstiteln des Art. 5 Abs. 1 ERMK in der Wissenschaft unterschiedlich beurteilt.27 Die Unsicherheiten beruhen weitgehend auf dem Umstand, dass die endgültige Entscheidung, ob die Maßregel der Sicherungsverwahrung angeordnet wird oder nicht, zwar durch ein Urteil erfolgt, dieses aber nicht mehr selbst in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem Schuldspruch ergeht. Dem kann nicht ganz zugestimmt werden, da durch den Vorbehalt dem Verurteilten unmissverständlich klargemacht wird, dass mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe eben noch nicht alles erledigt ist, und der anschließende Vollzug ihm die Möglichkeit gibt, die aufgrund seiner, der Anlassverurteilung zugrunde liegenden, Straftat(en) als wahrscheinlich eingeschätzte Gefährlichkeit zu widerlegen bzw. den „Vorbehalt“ auszuräumen.28 Der gesamte Vollzug steht damit in einem andauernden wechselseitig kausalen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung und dem ihr zugrunde liegenden Schuldspruch. 3. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung des § 66b StGB a. F. hat die radikalsten Einschnitte erfahren. Die Absätze 1 und 2 der alten Fassung und damit deren Kernregelung sind für sog. Neufälle, d. h. solche Fallgestaltungen, bei denen wenigstens eine der Taten, wegen der die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, nach dem 31.12.2010 begangen wurde (Art. 316e Abs. 1 EGStGB), ersatzlos weggefallen; beibehalten wurde nur der bisherige § 66b Abs. 3 StGB, allerdings mit dem Zusatz, dass diese Regelung auch dann gilt, wenn noch eine neben dem § 63 StGB angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise vollstreckt wird (anders noch der Große Senat für Strafsachen in BGHSt 52, 379 ff). Diese Umgestaltung des § 66b StGB n. F. ist ersichtlich europarechtlichen Erwägungen geschuldet, da man offenbar – dies allerdings zurecht (siehe oben) – befürchtete, § 66b StGB würde in seiner alten Ausgestaltung keinen Bestand vor dem EGMR haben und zu einer Lawine von Entschädigungsbzw. Wiedergutmachungsverurteilungen führen. 27 Dezidiert für eine Unvereinbarkeit Ullenbruch StraFO 2010, 442 f; offen gelassen von Kinzig NStZ 2010, 238 f und Renzikowski in seiner schriftlichen Stellungnahme anlässlich der Anhörung des Rechtsausschusses zur BT-Drucks. 17/34039 unter IV.; für eine Vereinbarkeit Kreuzer NStZ 2010, 479; ders. StV 2011, 128 ff. 28 Ähnlich Kreuzer StV 2011, 128.

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Soweit mit Blick auf die Eingriffsnorm des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK wegen der Beibehaltung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für die bisher in § 66b Abs. 3 StGB a. F. geregelten Fälle nach einer für erledigt erklärten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) Bedenken angemeldet werden,29 erscheinendiese nicht berechtigt, da lediglich die Grundlage einer schon im ersten Urteil angeordneten potentiell lebenslangen Unterbringung bei aktuell fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten gegen eine andere ausgetauscht wird.30 Jedoch sind andere vom 4. Strafsenat des BGH in seinem Beschluss vom 12.5.2010 – 4 StR 577/09 Rn. 12 f31 – allerdings ohne Thematisierung einer möglichen Divergenz zur Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen in BGHSt 52, 379, 390 f – geäußerte Bedenken hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK in der Auslegung durch den EGMR in den sog. Altfällen nicht ohne weiteres zu entkräften, weil in dem vikariierenden System der §§ 67 ff StGB vor Inkrafttreten des § 66b Abs. 3 StGB a. F. zwar eine nachträgliche Überweisung aus dem Vollzug der Sicherungsverwahrung in den Vollzug einer Unterbringung gem. den §§ 63, 64 StGB vorgesehen war (§ 67a Abs. 2 StGB), nicht aber umgekehrt aus der Unterbringung nach § 63 StGB in die Sicherungsverwahrung. Dieses Argument entfällt für die Neufälle des § 66b StGB n. F. 4. Die nach Art. 316e EGStGB fortdauernde Geltung des § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB a. F. für sog. Altfälle32 wird allerdings in der Literatur schon deshalb zu Recht als problematisch eingeschätzt,33 weil der Gesetzgeber hier sehenden Auges riskiert, wegen Verstoßes gegen die Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 EMRK verurteilt zu werden! Ob hier das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) als Allheil- bzw. Gegenmittel immer greift, erscheint mehr als fraglich, da dieses nach seinem § 1 Abs. 1 Nr. 1 zur Voraussetzung hat, dass der Verurteilte an einer „psychischen Störung“ leidet. Allerdings ist nach der Eingriffsnorm des Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK nicht notwendig eine Einschränkung der Schuldfähigkeit i. S. des §§ 20, 21 StGB erforderlich, da der EGMR dieses Merkmal auch auf Zustände ohne Relevanz für Schuldfähigkeit die im engeren Sinne erstreckt hat.34

29

Kinzig NJW 2011, 180; Kreuzer StV 2011, 127 f. So auch schon BVerfG NJW 2010, 1516 f; BGHSt 52, 379 (390 f); anders neuerdings der 4. Strafsenat des BGH NStZ 2010, 567. 31 BGH NStZ 2010, 567 f. 32 Siehe dazu auch die Entwurfsbegründung in BT-Drucks. 17/3403 S. 51, 53. 33 Vgl. Kinzig NJW 2011, 180 und Kreuzer StV 2011, 127 f. 34 Vgl. hierzu Renzikowski in seiner schriftlichen Stellungnahme anlässlich der Anhörung des Rechtsausschusses zur BT-Drucks. 17/34039 unter V. 3. m. w. N. 30

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V. Konsequenzen der Neuregelung der §§ 66 ff StGB Auch wenn in der neuen Übergangsregelung des Art. 316e Abs. 1 EGStGB eine Rückwirkung der neuen Vorschriften der §§ 66 ff StGB nicht vorgesehen ist, sondern das Gesetz nur angewendet werden darf, wenn die Tat oder wenigstens eine der Taten, wegen der die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, nach dem 31.12.2010 begangen worden ist, hat die Neuregelung schon jetzt weitreichende Konsequenzen. Denn die Art. 316e Abs. 2 und 3 EGStGB enthalten für die primäre Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB a. F. in den Fällen, in denen die für § 66 StGB relevante(n) Tat(en) vor dem 1.1.2011 begangen wurde(n) und der Täter noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, den § 2 Abs. 6 StGB modifizierende gesetzliche Regelungen,35 da sie die Anwendung bzw. Berücksichtigung des neuen Rechts vorsehen, wenn dies für den Angeklagten bzw. bereits rechtskräftig Verurteilten das mildere Gesetz ist. Anlasstaten, wie insbesondere die §§ 242, 263 StGB, die nicht mehr von den Katalogen des § 66 StGB erfasst werden, können auch nicht mehr Grundlage für die Anordnung einer auf § 66 StGB gestützt Maßregel der Sicherungsverwahrung bleiben. Das hat auch für die Revisionsgerichte und deren Entscheidungen Folgen, da nach § 354a StPO neues Recht, das zur Zeit der Revisionsentscheidung gilt, von ihnen beachtet werden muss und gegebenenfalls zur Aufhebung und Zurückverweisung eines angefochtenen Urteils oder nach § 354 StPO zu einer Sachentscheidung des Revisionsgerichts selbst führt. In den Fällen gemäß § 66 StGB a. F. rechtskräftig angeordneter Sicherungsverwahrung muss das Gericht nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EGStGB die Erledigung der Anordnung erklären, wenn die Sicherungsverwahrung ausschließlich auf Taten beruht, die nach dem 1.1.2011 nicht mehr zur Grundlage einer Anordnung der Sicherungsverwahrung gemacht werden könnten (Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EGStGB). Sind derartige, nicht mehr für die Sicherungsverwahrung ausreichende Straften jedenfalls teilweise Anlasstaten oder Symptomtaten für Anordnungen nach §§ 66, 66a StGB a. F. gewesen, ist zumindest eine Überprüfung der Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das Vollstreckungsgericht angezeigt. Wenn eine Erledigungserklärung notwendig wird, räumt Satz 2 des Art. 316e Abs. 3 EGStGB einen zeitlichen Spielraum ein, und zwar bis spätestens zum 1.7.2011, sofern dies zur Durchführung der Entlassungsvorbereitungen geboten ist. Es ist also nicht in jedem Fall eine sofortige Freilassung eines in der Sicherungsverwahrung befindlichen Verurteilten geboten.

35

Vgl. BGH Beschl. v. 12.1.2011 – 2 StR 642/10 für eine auf § 66 StGB a. F. gestützte Sicherungsverwahrung.

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VI. Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter Als Neuerung ist ferner das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) geschaffen worden, das für wegen Verstößen gegen das Rückwirkungsverbot obsolete (konventionswidrige) „Altfälle“ gedacht ist, aber viele Fragen aufwirft.36 Bis auf die Beteiligung der Staatsanwaltschaften als Vollstreckungsbehörden und der Strafvollstreckungskammern im Zusammenhang mit der Frage der Beendigung einer angeordneten Sicherungsverwahrung, fällt das Verfahren zur Entscheidung über die Unterbringung nach dem ThUG nicht in die Zuständigkeit der Strafjustiz, sondern ist den Regelungen des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen (FamFG) und expressis verbis der Zuständigkeit der Zivilkammern unterstellt worden. Deshalb hier nur einige kurze Bemerkungen: Die Therapieunterbringung kommt nach § 1 ThUG nur bei beendeter oder (wohl aus Gründen des Rückwirkungsverbots) zu beendender Sicherungsverwahrung in Betracht; sie setzt eine „psychische Störung“ und eine darauf beruhende höhere Wahrscheinlichkeit für die Gefährdung von Leib, Leben, persönlicher Freiheit oder sexueller Selbstbestimmung eines Einzelnen voraus, sowie weiter, dass der Schutz der Allgemeinheit die Unterbringung erfordert. Vor allem die Frage, wann eine solche „psychische Störung“ anzunehmen ist, die nicht zugleich die Voraussetzungen eines psychischen Defekts i. S. des §§ 20, 21 StGB erfüllt, so dass gegebenenfalls (auch) eine Unterbringung nach § 63 StGB in Betracht kommen könnte, ist problematisch. Soweit der Gesetzgeber ausweislich der Materialien hier vorrangig an dissoziale Persönlichkeitsstörungen und Störungen der Sexualpräferenz gedacht hat,37 stellt sich unter Umständen ein altes Problem in einem neuen Gewand, nämlich wie zwischen den Indikationen für die Maßregeln des § 63 StGB einerseits und denjenigen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach den §§ 66 ff StGB andererseits differenziert werden soll. Diese Problematik hatte in den letzten Jahren verstärkt zu einer Erledigungserklärung früherer Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt, weil ihnen eine Fehldiagnose zugrunde lag.38 Auch in diesem Zusammenhang wird nicht ganz zu Unrecht von einem Versuch 36

Dazu u. a. Kinzig NJW 2011, 181 f; Kreuzer StV 2011, 131; Renzikowski in seiner schriftlichen Stellungnahme anlässlich der Anhörung des Rechtsausschusses zur BT-Drucks. 17/34039 unter V. 37 BT-Drucks. 17/3403, Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung pp.; S. 86. 38 Vgl. E. Habermeyer/H. Saß Der Nervenarzt 2004, 1064, u. a. unter Hinweis auf eine Stellungnahme von N. Leygraf vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages 2003; Dannborn NStZ 2010, 566 ff.

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1187

gesprochen, die Psychiatrie als Ersatzreserve für die Sicherungsverwahrung zu benutzten.39

VII. Bisherige Behandlung der „Altfälle“ durch die Rechtsprechung 1. Zunächst konnte sich der 1. Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 9.3.2010 – 1 StR 554/09, NStZ 2010, 3840, das einen Fall der nachträglichen Sicherungsverwahrung eines Jugendlichen nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG betraf, noch ganz auf die alte Linie der Rechtsprechung zurückziehen, wonach in der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf Taten, die vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Regelungen in § 7 Abs. 2 JGG bzw. § 66b StGB begangen worden waren, mit Blick auf § 2 Abs. 6 StGB kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG lag und auch die Vereinbarkeit mit der EMRK unter diesem Aspekt nicht angezweifelt wurde. Zur Begründung seiner Auffassung berief sich der 1. Strafsenat zum einen auf den Umstand, dass das Kammerurteil des EGMR vom 17.12.2009 zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig war, zum anderen verwies er auf die unterschiedlichen Fallgestaltungen bei einer Vollstreckungsentscheidung nach § 67d Abs. 3 StGB und der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG. Außerdem meinte er, in dem ihm vorliegenden konkreten Fall komme außerdem Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK als Eingriffsermächtigung in das Freiheitsrecht in Betracht, da der Verurteilte psychisch krank sei. 2. Nachdem die EGMR-Entscheidung vom 17.12.2009 endgültig geworden war, haben jedoch zwei Strafsenate des BGH, nämlich der 4. und der 5. Strafsenat, unterschiedliche rechtliche Konsequenzen aus der eingangs dargelegten rechtlichen Zwickmühle gezogen: Der 4. Strafsenat hat in einem Beschluss vom 12.5.2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567 f, der unmittelbar nach der Ablehnung der Verweisung der Beschwerdesache Nr. 19359/04 an die Große Kammer des EGMR erging und eine auf § 66b Abs. 3 StGB gestützte Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung betraf, mit Blick auf die Auslegung des Art. 7 Abs. 1 EMRK durch den EGMR entschieden, dass § 66b StGB a. F. nicht rückwirkend auf Taten angewendet werden dürfe, die vor seinem Inkrafttre39 So Kreuzer StV 2011, 127 f unter Bezugnahme auf N. Leygraf, dieses Mal anlässlich seiner Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 9.11.2010, also vor dem Erlass des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung pp. 40 Mit Anm. Bartsch StV 2010, 521 ff, Anm. Eisenberg JR 2010, 314 ff, Anm. Kreuzer NJW 2011, 473 und Anm. Renzikowski NStZ 2010, 506 ff.

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ten begangen worden waren. Zwar ermögliche § 2 Abs. 6 StGB grundsätzlich bei Maßregeln der Besserung und Sicherung eine solche „Rückwirkung“, Art 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK in der Auslegung durch den EGMR sei aber ein anderes, § 2 Abs. 6 StGB modifizierendes Gesetz. Der 5. Strafsenat hat schon in einem Beschluss vom 21.7.2010 – 5 StR 60/10, NJW 2010, 3315 ff, eine andere Rechtsauffassung vertreten. Zwar hat er ebenfalls eine, dieses Mal auf § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB i. V. m. § 66 Abs. 2 StGB gestützte nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgehoben und den Verurteilten auf freien Fuß setzen lassen. Er hat aber die Anwendung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB a. F. auf Verurteilungen wegen vor dessen Inkrafttreten begangener Anlasstaten grundsätzlich für zulässig gehalten, weil er – anders als der 4. Strafsenat – Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK nicht als eine von § 2 Abs. 6 StGB abweichende bzw. diesen modifizierende Vorschrift versteht. Die Pflicht zur Beachtung der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR bei Anwendung nationalen Rechts hat er dabei auf die Weise zu wahren gesucht, dass er die Ausgestaltung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB als Ermessensvorschrift als Weg für eine konventionskonforme Lösung benutzt hat. Er hat sodann die Gewährleistungen der EMRK für die Freiheitsrechte des Untergebrachten in die Ermessensausübung bei der Entscheidung einbezogen und geprüft, ob eine besondere Gefährlichkeit des Untergebrachten noch eine Unterbringung gebietet oder ob seine Freilassung verantwortet werden kann. Im konkreten Fall kam er zu dem Ergebnis, dass der Vertrauensgrundsatz und das Freiheitsrecht des betroffenen Verurteilten das allgemeine Schutzinteresse überwogen, so dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären war. 3. Die Rechtsprechung der OLG war bzw. ist ebenfalls alles andere als einheitlich und divergiert sowohl hinsichtlich der Verbindlichkeit der EGMR-Entscheidung als auch in der Reaktion auf diesen Spruch aus Straßburg.41 4. Seit dem 30.7.2010 ist in § 121 GVG in der neu geschaffenen Regelung des Absatzes 2 Nr. 3 für die OLG eine Vorlagepflicht zum BGH gesetzlich vorgesehen. Allein zuständig ist nach der Geschäftsverteilung des BGH der 5. Strafsenat. Inzwischen liegen dem 5. Strafsenat 15 Divergenzvorlagen mehrerer OLG zur Entscheidung vor. Drei dieser Vorlagen, und zwar sämtliche zu § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB a. F., hat er zum Anlass genommen, seine Rechtsauffassung wie folgt zu formulieren und in einer Anfrage den übrigen Strafsenaten zur Stellungnahme zuzuleiten:

41

Nähere Nachweise dazu bei Radtke NStZ 2010, 537 f.

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1189

„Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergibt sich für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB.“ Zur Begründung seiner Rechtsauffassung hat er angeführt, dass der Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB, wie sie der 4. Strafsenat vorgenommen hat, zwingende Rechtsgründe entgegenstünden, weil schon aus dem Stellenwert der EMRK als einfachem Gesetz folge, dass die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt sei und aus Gründen der Gesetzesbindung dort ende, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar werde. Die EMRK eröffne keine Verwerfungskompetenz für eindeutig entgegenstehende nationale Gesetze; da anders als nach Art. 100 Abs. 1 GG auch keine Vorlagemöglichkeit bestehe, sei allein der Gesetzgeber berufen, eindeutig konventionswidrige Regelungen abzuändern. Außerdem hat der 5. Strafsenat die drei seiner Anfrage zugrunde liegenden Verfahren nach Anordnung deren Ruhens bis zum Abschluss des Anfrageverfahrens nach § 132 GVG an die vorlegenden OLG zur Fortsetzung der nach §§ 67e Abs. 1 Satz 1, 67d Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB gebotenen Überprüfungen zurückgegeben. Ebenso ist er in den übrigen, ihm nach § 122 Abs. 2 Nr. 3 GVG vorgelegten Verfahren vorgegangen. Die Rückgabe der Sache hat der 5. Strafsenat zudem jeweils mit dem Hinweis an die jetzt wieder zu den Sachentscheidungen aufgerufenen OLG auf seine in dem Anfragebeschluss weiter dargelegte Rechtsauffassung zu einer (hilfsweise) notwendigen einschränkenden Auslegung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB verbunden. Danach ist im Fall (zulässiger) rückwirkender Anwendung der Verlängerungsklausel des § 67 Abs. 3 Satz 1 StGB in sog. Altfällen die Ermessensvorschrift einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Unterbringung der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Diese Sachbehandlung ist insofern nachvollziehbar, als die Anfrage bei den übrigen Strafsenaten des BGH auch diese in die Verantwortung für das Ergebnis mit einbezieht und deren Bereitschaft fördert, das Ergebnis mitzutragen. Jedoch drängt sich auch der Eindruck einer gewissen Scheu vor einer zügigen Entscheidung auf, die wohl gerade durch die alleinige Zuständigkeit für die OLG-Vorlagen nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG bewirkt werden sollte, aber vielleicht mit Rücksicht auf die noch in diesem Jahr zu

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erwartende Entscheidung des mehrfach von sicherungsverwahrten Verurteilten angerufenen BVerfG erklärbar wird. Die vorlegenden OLG haben jedenfalls keine wesentliche Hilfe in ihrem Meinungsstreit erfahren; sie bekamen Steine statt Brot, jedenfalls bis zur Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen, dessen notwendige Befassung mit dieser Rechtsfrage bereits deutlich geworden ist. Denn inzwischen haben alle angefragten Strafsenate des BGH ihre Rechtsauffassungen kundgetan. Während der 4. Strafsenat – was nicht überrascht – an seiner Auffassung festhält (Beschluss vom 18.1.2011 – 4 ARs 27/10), hat der 1. Strafsenat (Beschluss vom 15.12.2010 – 1 ARs 22/10) festgestellt, dass die beabsichtigte Entscheidung seiner Rechtsprechung nicht widerspricht und der Rechtsauffassung des 5. Senats zugestimmt; der 2. Strafsenat hat ebenfalls (Beschluss vom 22.12.2010 – 2 ARs 456/10) der Rechtsauffassung des 5. Strafsenat zugestimmt. Der 3. Strafsenats hat das nicht getan (Beschluss vom 17.2.2011 – 3 ARs 35/10), weil er der Auffassung ist, dass eine Auslegung möglich ist, die Art. 7 Abs. 1 EMRK als „andere Bestimmung“ i. S. d. § 2 Abs. 6 StGB versteht.

VIII. Schlussbetrachtung Während der EGMR weitere Fälle nachträglicher Sicherungsverwahrung in Deutschland als konventionswidrig eingestuft hat (vgl. u. a. EGMR Urteil im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 17792/07, Rechtssache K. ./. Deutschland) und auch verstärkt auf die Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Beseitigung von Konventionsverstößen in Parallelfällen hingewiesen hat, hat der 2. Senat des BVerfG über die Verfassungsbeschwerden mehrerer Sicherungsverwahrter am 8.2.2011 mündlich verhandelt. In der mündlichen Verhandlung wurde wohl deutlich, dass es in diesen Verfahren um das komplizierte Verhältnis zwischen EMRK und dem Grundgesetz und um Kernelemente des deutschen Strafrechtssystems und ihre rechtliche Absicherung in der europäischen Gesamtrechtsordnung geht.42 Vorwürfe, der EGMR habe die Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürger in seinen bisherigen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung, wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande in die Waagschale seiner Überlegungen eingebracht, dürften wohl zutreffend erhoben worden sein. In seinem Urteil vom 17.12.2009 findet sich dazu kein Wort, obwohl der Sachverhalt dazu, wie auch in späteren Entscheidungen, durchaus Anlass gegeben hätte.43 42 Siehe die Berichte in der Tagespresse vom 9.2.2011, u. a. Süddeutsche Zeitung vom 9.2.2011, S. 1 und 5; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.2.2011, S. 8. 43 So auch Hörnle FS Rissing-van Saan, 2011, 244.

Die Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR 1191

Wann eine endgültige Positionierung des BGH als oberstem deutschen Fachgericht in Strafsachen vorliegen wird, ist noch nicht absehbar. Er wird aber zu bedenken haben, dass der EMRK schon nach ihrer Rechtsnatur und ihren eigenen Regelungen keine unmittelbare, das nationale Recht der Vertragsstaaten gestaltende Wirkung zukommt.44 Gleiches gilt für die Urteile des EGMR;45 sie entfalten unmittelbare Wirkung lediglich inter partes. In der nationalen Gesetzeshierarchie kommt der EMRK nach Art. 59 Abs. 2 GG nur der Rang als einfaches Recht zu. Zwar ist die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat der EMRK – und damit sind dies mittelbar auch ihre Organe, d. h. die Gerichte – verpflichtet, vom EGMR festgestellte Konventionsverstöße zu beseitigen und neue zu vermeiden. In der Wahl, wie dies geschehen soll, ist der jeweilige Vertragsstaat jedoch frei. Versteht man aber Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK in der Auslegung des EGMR als andere gesetzliche Bestimmung i. S. des § 2 Abs. 6 StGB, so misst man der Konvention und ihren Gewährleistungen eine rechtsgestaltende Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen zu, die ihnen weder nach ihrer völkerrechtlichen Struktur noch nach dem Verständnis des EGMR zukommt.46

44 Das wird vom EGMR im Übrigen auch selbst nicht in Anspruch genommen; vgl. dazu ferner Esser StV 2005, 349; Radtke NStZ 2010, 541. 45 Grabenwarter JZ 2010, 862; Haß (Fn. 19) S. 55, 127 f; Heckötter (Fn. 19) S. 92 ff, 164 ff, 205 ff. 46 Anders Grabenwarter JZ 2010, 862 f, der auch unmittelbar aus der EMRK zu entnehmende Gebote erfasst sehen will. Die in seinen Ausführungen angebotenen Begründungen hierfür sind jedoch wenig überzeugend, da sie mit den in § 2 Abs. 6 StGB angesprochenen „anderen gesetzlichen Bestimmungen“ schon sprachlich kaum in Einklang gebracht werden können, vielmehr eher zielorientiert überinterpretiert wirken und auch mit dem bisherigen Verständnis der EMRK und den Wirkungen der Urteile des EGMR im nationalen Recht der Vertragsstaaten nicht kompatibel sind.

Sicherungsverwahrung und Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten HEINZ SCHÖCH

Zur Tradition des Instituts für die gesamten Strafrechtwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München, das Claus Roxin fast drei Jahrzehnte geleitet hat, gehört neben dem Straf- und Strafverfahrensrecht auch die Pflege des Strafzumessungsrechts, des Strafvollzugsrechts, des Jugendstrafrechts und der Kriminologie.1 Für ihn galt stets: „Ein modernes Strafrecht ist ohne ständige und enge Zusammenarbeit aller Teildisziplinen der ‚Gesamten Strafrechtswissenschaft‘ nicht denkbar.“2 Neben seinen herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der internationalen Strafrechtsdogmatik hat er auch große Verdienste auf dem Gebiet der Kriminologie und Kriminalpolitik erworben. So hat er bereits am ersten Alternativ-Entwurf zum Allgemeinen Teil des StGB im Jahr 1966 mitgewirkt, der nachhaltig das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz prägte und damit zur Schaffung eines modernen Sanktionssystems in Deutschland beitrug. Seither gehört er kontinuierlich dem Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer an und ist seit einigen Jahren der einzige noch Aktive aus dem Kreis der Gründungsmitglieder. Deswegen und wegen vieler anderer Aktivitäten zur Förderung der Kriminologie und Kriminalpolitik hat ihm im Jahr 2003 die Gesellschaft deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminologen die Beccaria-Medaille in Gold verliehen. Für mich hat Claus Roxins Interesse an der Kriminologie und Kriminalpolitik u. a. zu meiner frühen Berufung in den Kreis der AlternativProfessoren im Jahr 1980 geführt. Er hatte mich nach meinem Vortrag über „Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung“3 bei der Bonner Strafrechtslehrertagung zur Mitwirkung am Arbeitskreis AE eingeladen, der zu diesem Zeitpunkt mit den Vorarbeiten zum „Alternativ-Entwurf Novelle zur Straf1

Roxin AT I § 1 Rn. 8. Roxin AT I § 1 Rn. 14. 3 Schöch ZStW 92 (1980), 143 ff. 2

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prozessordnung – Reform der Hauptverhandlung (AE-StPO-HV)4 begonnen hatte, in den unsere Erfahrungen mit der informellen Erprobung des Tatinterlokuts bei niedersächsischen Gerichten Eingang fanden.5 Meine erste Aufgabe bestand allerdings in der Ausarbeitung einer Stellungnahme zu den damaligen Reformplänen bezüglich der sozialtherapeutischen Anstalt, die das Ziel hatten, § 65 StGB zu streichen und durch eine reine Vollzugslösung gem. § 9 StVollzG zu ersetzen.6 Unsere Stellungnahme wurde unter dem Titel „Rettet die sozialtherapeutische Anstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung!“ von allen damals aktiven Mitgliedern des Arbeitskreises AE unterzeichnet und veröffentlicht.7 Ich weiß, dass Claus Roxins Interesse an einem humanen und effektiven System der strafrechtlichen Sanktionen bis heute anhält.

I. Ungenutzte Chancen der Sozialtherapie Die sozialtherapeutische Anstalt beruhte auf den Vorschlägen des ersten Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 1. Aufl. 1966, an dem Claus Roxin maßgeblich mitgewirkt hatte. Sie war „als zentrale, spezialpräventiv gezielte Maßregel für erheblich Rückfällige gedacht“, „für die der gewöhnliche Strafvollzug keinen Resozialisierungserfolg verspricht, die aber auch keiner ärztlichen Hilfe und Behandlung bedürfen.“8 Durch das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4.7.1969 war § 65 StGB im Deutschen Bundestag mit Zustimmung aller Fraktionen bei nur zwei Gegenstimmen verabschiedet worden. Sein Inkrafttreten wurde jedoch immer wieder vertagt und letztlich ist er mit Wirkung ab 1.1. 1985 ganz gestrichen worden.9 Die Streichung dieses „Kernstückes der sogenannten zweiten Spur des Strafrechts“10 hatte negative Folgen für das gesamte deutsche Sanktionsinstrumentarium, da die Vollzugslösung bis heute nur halbherzige Behandlungsangebote zur Verfügung stellt. Wir haben sie seinerzeit – insbesondere 4

Arbeitskreis deutscher und schweizerische Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE): AlternativEntwurf Novelle zur Strafprozessordnungen – Reform der Hauptverhandlung (AE-StPO-HV), 1985. 5 Dazu Schöch/Schreiber ZRP 1978, 63 ff; Schöch Die Reform der Hauptverhandlung, in: Schreiber (Hrsg.), Strafprozess und Reform, 1979, S. 52 ff. 6 Dies wurde dann letztlich auch im Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 20.12.1984 realisiert. 7 Schöch u. a. ZRP 1982, 207 ff. 8 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 1. Aufl. 1966, 2. Aufl. 1969, S. 133, zu § 69 AE. 9 Vgl. Fn. 6. 10 Schöch u. a. ZRP 1982, 208.

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wegen hoher Rückverlegungsquoten in den Regelvollzug von bis zu 60 % – als „Sozialtherapie nach dem Lustprinzip“ bezeichnet, nachdem die Maßregellösung als „Zwangstherapie“ diffamiert worden war.11 In der Folgezeit zeigte sich nämlich, dass gerade die problematischen Tätergruppen, für die der Arbeitskreis AE und der Gesetzgeber die sozialtherapeutische Anstalt vorgesehen hatten, im Strafvollzug völlig unzureichend behandelt wurden: Rückfalltäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen, Sexualstraftäter mit ungünstiger Prognose, jungerwachsene Hangtäter vor Vollendung des 27. Lebensjahres sowie schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter, wenn die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt eine günstigere Maßnahme zur Resozialisierung darstellt als die Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus.12 Hinzu kam der – bei der Vollzugslösung zu erwartende13 – schleppende Ausbau der Haftplätze in den sozialtherapeutischen Anstalten oder Abteilungen, für die 1997 erst 888 Haftplätze (bei insgesamt ca. 52.000 Strafgefangenen im selben Jahr) zur Verfügung standen,14 obwohl der Bedarf ursprünglich auf 3500 bis 5000 Haftplätze geschätzt wurde.15 Neue Impulse gab es erst wieder durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998, in dem – neben Verschärfungen bei der Sicherungsverwahrung und bei der bedingten Entlassung aus dem Straf- und Maßregelvollzug16 – die bisher freiwillige Vollzugslösung durch eine verpflichtende Sozialtherapie für Sexualstraftäter gemäß § 9 Abs. 1 StVollzG ergänzt wurde. Obwohl die Bestimmung erst am 1.1.2003 in Kraft trat, kam es nun doch zum rascheren Ausbau der sozialtherapeutischen Einrichtungen, so dass 2010 insgesamt 2110 Haftplätze zur Verfügung standen.17 Allerdings führte die Überbetonung der Gefährdung durch Sexualdelikte zu einem faktischen Abbau entsprechender Plätze für andere gefährliche Straftäter, insbesondere für Täter von schweren Körperverletzungs- und Raubdelikten.18 Zu beträchtlicher Erschwerung der sozialtherapeutischen Behandlung führte die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB durch Gesetz vom 23.07.2004, da sowohl die Gefan11

Schöch u. a. ZRP 1982, 209 f. § 69 AE-StGB (Fn. 8) S. 132 ff; § 65 StGB a. F.; zu den Behandlungsdefiziten im Regelstrafvollzug Dölling FS Schöch, 2010, 771 ff. 13 Schöch ZRP 1982, 209 f. 14 Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden (Hrsg.): Sozialtherapie im Strafvollzug. Ergebnisübersicht zur Stichtagserhebung zum 31.03.2010, S. 8. 15 Schwind NStZ 1981, 122; Kürzel MschrKrim 1975, 360. 16 Kritisch dazu Schöch NJW 1998, 1257 ff. 17 Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden (Fn. 14) S. 8. 18 Egg FS Schöch, 2010, 331. 12

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genen als auch die Therapeuten seither damit rechnen müssen, dass die Informationen aus der Therapie Anlass für die Einleitung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung sein können oder müssen.19 Eine reelle Therapie, die rückhaltloses Vertrauen zwischen dem Gefangenen und dem Therapeuten voraussetzt, erscheint auf dieser Basis kaum mehr möglich. Diese einführenden Bemerkungen zu den nicht genutzten Chancen einer Sozialtherapie nach den Vorschlägen des AE-StGB und des § 65 StGB a. F. waren notwendig, weil es nicht ganz abwegig ist anzunehmen, dass die unglückliche Entwicklung im Bereich der Sicherungsverwahrung in den letzten 12 Jahren, die zu mehreren Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt hat, nicht oder nicht in diesem Ausmaß eingetreten wäre, wenn der Gesetzgeber die sozialtherapeutische Anstalt in der ursprünglich konzipierten Form aufrechterhalten hätte.

II. Problematische Renaissance und Ausweitung der Sicherungsverwahrung Die Sicherungsverwahrung wurde zusammen mit den anderen Maßregeln der Besserung und Sicherung durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.1933 in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Es besteht in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass – abgesehen von einigen inzwischen erfolgten Korrekturen – die Sicherungsverwahrung nicht auf nationalsozialistischem Gedankengut beruht,20 obwohl sie in dieser Zeit exzessiv praktiziert wurde.21 Dies hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidung vom 17.12. 2009 ausdrücklich anerkannt,22 nachdem der Anwalt des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung eine Kopie aus dem Reichsgesetzblatt mit der Unterschrift von Adolf Hitler vorgelegt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vorschriften zur Sicherungsverwahrung weitgehend unverändert in das deutsche Strafgesetzbuch übernommen; lediglich die Möglichkeit, Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen, entfiel.23 In den 50er- und 60er-Jahren dokumentierte die kriminologische Sanktionsforschung, dass nach dem bisherigen Recht die 19

Egg FS Schöch 2010, 332. LK-Hanack Vor §§ 61 ff Rn. 5 ff. 21 Bartsch Sicherungsverwahrung – Recht, Vollzug, aktuelle Probleme, 2010, S. 32: 3528 Personen innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes. 22 EGMR, 17.12.2009, M ./. Bundesrepublik Deutschland (Nr. 19359/04) Rn. 93-96 (veröffentlicht u. a. in NJW 2010, 2495 ff; NStZ 2010, 263 ff; StV 2010, 181 ff). 23 Bartsch (Fn. 21) S. 32. 20

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Sicherungsverwahrung ganz überwiegend für gewaltlose Eigentums- und Vermögenstäter zur Anwendung kam, während Gewalt- und Sexualtäter nur zu einem geringen Teil erfasst wurden.24 Deshalb hat der Gesetzgeber die Sicherungsverwahrung bereits im 1. StrRG mit Wirkung ab 1.4.1970 grundlegend verändert (damals § 42e StGB) und im 2. StrRG mit Wirkung ab 1.1.1975 inhaltsgleich in § 66 StGB übernommen. Um ihren Charakter als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“ deutlicher hervortreten zu lassen, wurden u. a. die materiellen Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung erhöht (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und die erstmalige Vollstreckung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt (§ 67d Abs. 1 S. 1 StGB a. F.). Im Vergleich zu den 60er-Jahren gingen dadurch die Anordnungen von über 200 auf 30 bis 50 pro Jahr zurück, ebenso die Zahl der untergebrachten Sicherungsverwahrten von über 900 im Jahr auf 180-200 in den 80er- und 90er-Jahren.25 Unter dem Eindruck zweier Sexualmorde an Kindern in den Jahren 1996 und 199726 hat das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 (SexBG)27 eine Entwicklung eingeleitet, die – trotz Rückganges der Tötungsdelikte allgemein und der Sexualmorde an Kindern im Besonderen28 – in den Folgejahren zu einer Reihe von Gesetzesverschärfungen geführt hat, mit denen „Sicherheitslücken“ im Bereich der Sicherungsverwahrung geschlossen werden sollten. Zunächst wurden in einem neuen § 66 Abs. 3 StGB die formellen Voraussetzungen herabgesetzt, indem schon bei der ersten Rückfalltat (nach einer früheren Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren, § 66 Abs. 3 S. 1 StGB) oder bei der ersten Wiederholungstat (zwei Taten ohne vorangegangene Verurteilung, für die jeweils mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe verwirkt sind, § 66 Abs. 3 S. 2 StGB) Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Von den meisten Experten wurde die Absenkung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung abgelehnt29. Ich habe diese Bedenken bezüglich der schweren Sexualdelikte nicht geteilt30, weil es hier tatsächlich – wenn auch sehr selten – suchtähnliche Verhaltensmuster mit hoher Wiederholungsgefahr gibt, die man schon nach zwei 24

LK-Hanack § 66 Rn. 6; Bartsch (Fn. 21) S. 32f jeweils m. w. N. Schöch Gutachten C zum 59. DJT 1992, C 124; Bartsch (Fn. 21) S. 34. 26 Schöch NJW 1998, 1257; Bartsch (Fn. 21) S. 32 f. 27 BGBl.1998 I, 160. 28 1. Periodischer Sicherheitsbericht, hrsg. vom Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz, 2001, S.80 ff, 492, Schaubild 5-3. 29 Z. B. bei der Anhörung des Rechtsausschusses am 8.9.1997, Protokoll der 93. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 8.9.1997, Kinzig (S. 3-5, 32-34), Weber (S. 18-21), Weigend (S. 21 f, 47 f). 30 Schöch Protokoll (Fn. 29) S. 38 f und schriftliche Stellungnahme S. 42 ff. 25

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Taten erkennen kann und die eine hinreichend sichere Prognose ermöglichen. Allerdings gilt dies im Wesentlichen nur für sadistisch motivierte Tötungsdelikte, besonders schwere Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 3 StGB), der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB), die ursprünglich im Mittelpunkt des Regierungs- und Fraktionsentwurfs standen. In diesem Bereich bewegten sich auch fast alle schweren Rückfalltaten von Straftätern aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug31 sowie aus dem Strafvollzug. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Einbeziehung weiterer Gewaltdelikte habe ich ausdrücklich verneint32, weil hier – ebenso wie bei den leichteren Sexualdelikten – zwei Taten noch keine ausreichende prognostische Grundlage für die schwerwiegende Aussage darstellen, dass der Täter „infolge seines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist“ (§ 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Die am Ende gewählte weite Fassung, die nicht nur die häufigsten Sexualdelikte (außer exhibitionistischen Handlungen gem. § 183 StGB) erfasst, sondern auch alle sonstigen Verbrechen sowie Vergehen gem. §§ 223a, 223b und § 323a StGB, barg nach meiner Auffassung erhebliche Gefahren, da sie zu einer beträchtlichen Ausweitung dieser problematischen Sanktion führen kann, die in unserem Schuldstrafrecht eine seltene Ausnahme bleiben muss. Man kann den Strafgerichten aber bescheinigen, dass sie mit dem neuen Recht relativ behutsam umgegangen sind; die jährlichen Anordnungen der Sicherungsverwahrung haben sich von 1995 bis 2009 „nur“ von 45 auf 107 erhöht.33 Kritisch hatte ich mich hinsichtlich des Wegfalls der Zehnjahresfrist für die erste Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 3 StGB geäußert, vor allem wegen der Unsicherheit bei prognostischen Aussagen, die keine ausreichende Grundlage in der Legalbiographie haben,34 aber auch wegen der Rückwirkung dieser Änderung auf Fälle gemäß § 2 Abs. 6 StGB35, in denen

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Vgl. die Beispiele bei Schöch in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 2004, S. 410 f. 32 Schöch (Fn. 29) schriftliche Stellungnahme S. 50. 33 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Strafverfolgung, Fachserie 10, Reihe 3, Tab. 5.4 u. 5.5, 2009 www.ec-destatis.de, Strafverfolgung, Tab. 5.1. 34 Schöch NJW 1998, 1262. 35 Diese wurde durch Art.1a III EGStGB i. d. F. des Gesetzes vom 26.1.1998 ausdrücklich bekräftigt (dazu OLG Celle NStZ-RR 2010, 322).

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die Sicherungsverwahrung mit der gesetzlichen Zehnjahresbefristung vor Inkrafttreten des Gesetzes angeordnet und noch nicht erledigt war.36 Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts wies jedoch in einem Urteil vom 5.2.2004 die Verfassungsbeschwerde eines Betroffenen wegen des Wegfalls der Zehnjahresgrenze zurück.37 Der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes gem. Art. 103 Abs. 2 GG sei auf missbilligende hoheitliche Reaktionen beschränkt, die dem Schuldausgleich dienen. Im Gegensatz zur Strafe diene aber die Sicherungsverwahrung nicht dem Zweck, strafrechtliche Schuld zu sühnen, sondern sei eine reine Präventionsmaßnahme, welche die Allgemeinheit vor einem gefährlichen Täter schütze. Die Regelung verletze auch nicht das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG), da die Pflicht des Gesetzgebers, die Allgemeinheit vor Eingriffen in Leben, Gesundheit und sexuelle Integrität zu schützen, schwerer wiege als das Vertrauen des Gefangenen auf den Fortbestand der Zehnjahresfrist. Seit September 1997 forderten einige unionsgeführte Bundesländer, insbesondere Bayern, Baden-Württemberg und Hessen eine sogenannte „nachträgliche Sicherungsverwahrung“, um eine „Sicherheitslücke“ des geltenden Rechts zu schließen, die darin bestanden habe, dass Sicherungsverwahrung nur dann angeordnet werden könne, wenn die Gefährlichkeit eines Straftäters bereits im Erkenntnisverfahren abschließend feststellbar sei, dagegen nicht, wenn sich die Gefährlichkeit erst im Strafvollzug ergebe.38 Da die Bundesregierung die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine derartige sicherheitsorientierte Maßnahme damals verneinte, verabschiedete das Land Baden-Württemberg – gestützt auf ein Gutachten von Würtenberger39 – am 14.03.2001 ein Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter. Diesem Modell folgten ähnliche Straftäterunterbringungsgesetze in Bayern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen.40 Insgesamt waren im Juni 2004 aufgrund der landesgesetzlichen Regelungen acht Personen im Anschluss an eine volle Strafverbüßung untergebracht.41

36 Schöch in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 296 f; zur Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 in dieser Frage s. u. III. 37 BVerfGE 109, 133 (167 ff); es handelte sich um denselben Fall, der zur Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 führte, in dem ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 EMRK angenommen wurde. 38 Nachweise bei Bartsch (Fn. 21) S. 40; Jansing Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2004, 148 ff. 39 Unveröffentlicht; zusammengefasst bei Würtenberger/Sydow NVwZ 2001, 1201 ff. 40 Nachweise bei Bartsch (Fn. 21) S. 41; Jansing (Fn. 38) S. 151 f. 41 MK-StGB/Ullenbruch § 66b Rn. 26 m. w. N.

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Die Forderungen nach Einführung einer bundeseinheitlich geregelten nachträglichen Sicherungsverwahrung verstummten jedoch nicht und führten zu verschiedenen Gesetzentwürfen des Bundesrates.42 Die rot-grüne Bundesregierung und die Bundestagsmehrheit lehnten aber die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf Bundesebene wegen kompetenzrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bedenken ab. Nachdem der damalige Bundeskanzler Schröder im Juli 2001 das Motto des lebenslangen Wegschließens von sexuellen Kinderschändern propagiert hatte,43 versuchte das Bundesjustizministerium mit der Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB (durch Gesetz vom 28.8.2002) den politischen Handlungsdruck aufzufangen und bezeichnete diese als verfassungsrechtlich äußerstenfalls verantwortbare Lösung.44 Mit Gesetz vom 29.7.2003 folgte die Ausweitung dieser Reglung auf Heranwachsende (§ 106 Abs. 3 S. 2, 3 JGG). Mit Urteil vom 10.02.2004 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Straftäterunterbringungsgesetze des Freistaates Bayern und des Landes Sachsen-Anhalt mit den Gesetzgebungskompetenznormen des Grundgesetzes unvereinbar seien, da es sich um Strafrecht i. S. von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG handle. Gegen das Sondervotum von drei Richtern erklärte die Mehrheit von fünf Richtern aber die Gesetze nicht für nichtig, sondern bis zum 30.09.2004 für anwendbar, um dem Bundesgesetzgeber Gelegenheit zu einer verfassungskonformen gesetzlichen Regelung zu geben. Es ist nicht auszuschließen, dass die Mehrheit bei diesem faktischen Gesetzgebungsauftrag45 für eine bundesgesetzliche Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch unter dem Druck einer skandalösen Medienkampagne in der BILD-Zeitung im Dezember 2003 und Januar 2004 standen,46 in der u. a. auf einer Abbildung BGH-Richter wie Schwerverbrecher mit Augenbalken versehen „auf die Anklagebank gesetzt“ wurden, nachdem sie eine vom LG Bochum angeordnete Sicherungsverwahrung aus zwingenden rechtlichen Gründen aufgehoben hatten und der Freigelassene anschließend eine Frau vergewaltigt hatte.47 42

Hierzu und zum Folgenden Bartsch (Fn. 21) S. 41; Jansing (Fn. 38) S. 458. Interview BILD AM SONNTAG am 8.7.2001, zitiert nach DER SPIEGEL Nr. 29 vom 9.7.1991. 44 Vgl. Kreuzer ZIS 2006, 146. 45 Kreuzer ZIS 2006, 148; Foth NStZ 2007, 149; Renzikowski NStZ 2004, 271; Rosenau/Peters JZ 2007, 585. 46 So die Vermutung von Boetticher NStZ 2005, 418; Kreuzer ZIS 2006, 147; Bartsch (Fn. 21) S. 44. 47 Vgl. dazu die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofes 70/04 vom 16.6.2004, aus der sich auch ergibt, dass der Deutsche Presserat gegen die BILD-Zeitung einige Monate danach eine förmliche Rüge aussprach. 43

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Durch das „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung“ vom 23.07.2004 wurde § 66b in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Absatz 1 sieht bei einem relativ weiten Deliktkatalog die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung vor, wenn nach einer Verurteilung vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, „die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen“ und wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.“ Absatz 2 ermöglicht dies sogar bei Einmaltätern, wenn diese wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250 ff StGB zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden sind. Während die beiden ersten Absätze bis zum Schluss umstritten waren, bestand bezüglich der Notwendigkeit des dritten Absatzes weitgehende Einigkeit, da es hier um die nachträglich Sicherungsverwahrung bei Personen geht, deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt wurde. Im gleichen Gesetz wurde gemäß § 106 Abs. 5, 6 JGG die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch für Heranwachsende eröffnet. In einem Beschluss vom 23.08.2006 bestätigte die 1. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungskonformität des § 66b Abs. 2 StGB unter Hinweis auf die beiden Senatsentscheidungen vom Februar 2004. Die neue Regelung verstoße auch unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, da „die enge Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 66b StGB gewährleisten“ könne, „dass die Maßnahme der nachträglichen Sicherungsverwahrung nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht“ komme „und auf einige wenige Verurteilte beschränkt“ bleibe.48 Knapp drei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes entdeckte man – wiederum aufgrund von Einzelfällen – weitere Schutzlücken, die im „Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung“ vom 17.04.2007 geschlossen wurden. Sie betrafen die neuen Bundesländer, in denen bis zum 1.1.1995 bzw. bis zum 29.4.2004 Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden konnte sowie die „Altfälle“ zu § 66 Abs. 3 StGB aus der Zeit vor dessen Inkrafttreten am 31.01.1998. Die letzte und umstrittenste Ausweitung erfolgte durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilten nach 48

BVerfG NJW 2006, 3484.

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Jugendstrafrecht vom 12.07.2008. § 7 Abs. 2 JGG gestattet diese – wie bei Erwachsenen nach § 66b Abs. 2 StGB – auch bei Einmaltätern, allerdings unter Verzicht auf neue Tatsachen, wenn der Jugendliche oder Heranwachsende zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verurteilt worden ist. Auch hier war Anlass ein spektakulärer Sexualmord eines Jugendlichen, für den man schon mehrere Jahre vor Ende der Strafverbüßung die nachträgliche Sicherungsverwahrung gefordert hatte; das Gesetz trat erst zwei Tage vor Strafende in Kraft.49 Der Fall ist jetzt beim Bundesverfassungsgericht anhängig; die mündliche Verhandlung findet im Februar 2011 statt. Insgesamt hat der Gesetzgeber also von 1998 bis 2008 die Sicherungsverwahrung in sechs verschiedenen Gesetzen zehn Mal ausgeweitet,50 obwohl die Tötungs-, Sexual- und Gewaltdelikte in dieser Zeit abgenommen haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Aktivitäten der Rechtspolitik auf diesem Gebiet eher von medialem Druck als von rationaler Abwägung geprägt werden.

III. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) 1. Der EGMR hält die primäre Sicherungsverwahrung als solche – trotz seiner heftigen Kritik an der Vernachlässigung des Abstandsgebotes zum Strafvollzug – für konventionskonform. Sowohl in seinem Urteil zum Rückwirkungsverbot bei der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung vom 17.12.200951 als auch in einem späteren Urteil hat er ausdrücklich bekräftigt, dass es sich um eine zulässige Verurteilung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK handle, da ein ausreichender Kausalzusammenhang mit der ursprünglichen strafrechtlichen Verurteilung durch das zuständige Gericht vorliege.52 2. Dagegen hat der EGMR in seinem ersten Urteil zur Sicherungsverwahrung vom 17.12.2009 die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesregierung, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine Strafe handle, zurückgewiesen. Er sieht in der Aufhebung der ursprünglich vorgesehenen Höchstfrist einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 EMRK. Er ist der Auffassung, dass die Siche49

Boetticher FS Schöch, 2010, 727. Das BMJ spricht in einer Pressemitteilung vom 2.12.2010 von oft „hektischen und einzelfallbezogenen Änderungen“ (www.bmj.bund.de/enid). 51 EMRK (Fn. 22) Rn. 93-96. 52 EGMR Urt. v. 21.10.2010, G ./. Deutschland (Nr. 24478/03) DÖV 2011, 36 ff, Rn. 45-53. 50

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rungsverwahrung – trotz der im deutschen Strafrecht verankerten Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln – im Hinblick auf ihre Strafähnlichkeit und die besondere Härte ihrer Ausgestaltung (u. U. lebenslange Verwahrung) eine Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK sei, die dem Beschwerdeführer nachträglich auferlegt worden sei. Außerdem stelle die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK dar, weil es keinen ausreichenden Kausalzusammenhang im Sinne des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahr 1986 und der Verlängerung der Sicherungsverwahrung infolge der Gesetzesänderung im Jahr 1998 gebe. Den Antrag der deutschen Bundesregierung auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer hat ein Ausschuss von fünf Richtern des EGMR ohne Begründung am 10.5.2010 zurückgewiesen. In drei weiteren Urteilen vom 13.01.2011 bekräftigte der EGMR die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK durch die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung. Zugleich ermahnte er – im Hinblick auf die kontroverse innerdeutsche Diskussion bezüglich der Verbindlichkeit dieser Entscheidungen – die deutschen Behörden, insbesondere die Gerichte, „ihre Verantwortung wahrzunehmen, das Recht der Beschwerdeführer auf Freiheit, eines der Kernrechte der Konvention, zügig umzusetzen.“53 In allen vier Fällen sprach der Gerichtshof den Beschwerdeführern gemäß § 41 EMRK Entschädigungen in Höhe von 70.000, 50.000 30.000 und 25.000 € für die erlittenen immateriellen Schäden zu. Die Entscheidung des EGMR hat in der deutschen Literatur überwiegend Zustimmung gefunden, während sie in der Rechtspolitik und in der Justiz vielfach auf Befremden stieß. Kritiker werfen dem EGMR vor, dass er die Besonderheiten der Zweispurigkeit im deutschen Sanktionsrecht nicht hinreichend gewürdigt habe, zumal diese dazu beitrage, das Strafniveau insgesamt deutlich niedriger zu halten als in vergleichbaren europäischen Staaten,54 wo die Strafen von vornherein so hoch ausfallen, dass keine Sicherungsverwahrung mehr notwendig ist. Die nachhaltige Kritik an dem zu geringen Abstand zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe, für die der EGMR – überraschend und im Verfahren vorher nicht thematisiert – drei Stellungnahmen internationaler Überwachungsorgane zu allgemeinen Problemen der Sicherungsverwahrung verwertete,55 sei von der 53

EGMR v.13.1.2011, Kallweit ./. Bundesrepublik Deutschland (Nr. 17792/07) Rn. 83. Vom EGMR (Fn. 22) Rn. 67 f nur beiläufig erwähnt. 55 EGMR (Fn. 22) Rn. 76-78: Menschenrechtskommissar des Europarates vom 14.7.2007; Europäischer Antifolterausschuss vom 18.4.2007; Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen vom 31.07.2008. 54

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Illusion geprägt,56 man könne Sicherungsverwahrte, bei denen alle Therapieanstrengungen des Strafvollzugs versagt hätten, noch in der Sicherungsverwahrung therapieren. Bei der Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung und Strafe i. S. von Art. 7 EMRK habe der EGMR systemwidrig vom gleichen Vollzugsziel (Resozialisierung) auf den gleichen Sanktionszweck (Bestrafung wegen schuldhafter Tat) geschlossen, obwohl die Sicherungsverwahrung nur präventiven Zwecken diene, nämlich vorrangig dem Schutz der Allgemeinheit neben der Resozialisierung. Hinsichtlich der Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK hat der EGMR nicht überzeugend dargelegt, warum – abweichend von einem früheren Urteil zur norwegischen Sicherungsverwahrung57 – es für die Kausalität zwischen Urteil und Freiheitsentziehung nicht ausreichen soll, wenn die Verlängerung der Sicherungsverwahrung von einem Gericht vor Ablauf der vorgesehenen Periode angeordnet wird. Außerdem wird nicht darauf eingegangen, warum die einzelnen Rechtfertigungsgründe für die Freiheitsentziehung nach Art. 5 EMRK in diesem Fall völlig isoliert voneinander geprüft wurden, obwohl im Hinblick auf die differenzierte Struktur des deutschen Maßregelrechts auch eine kumulative Anwendung des Art. 5 Abs. 1 lit. a (gerichtliche Verurteilung mit Schuldspruch) und lit. c EMRK (präventive Haft zur Verhinderung einer Straftat) in Betracht gekommen wäre.58 Auch eine Kumulation mit Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK (Unterbringung psychisch Kranker) wäre angesichts der zeitweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nicht ausgeschlossen gewesen. 3. Mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat sich der EGMR erstmals in seinem Urteil vom 13.01.2011 befasst, allerdings nicht mit der bundesgesetzlichen Regelung des § 66b StGB, die bei dem über siebzigjährigen Beschwerdeführer wegen zwischenzeitlicher Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht mehr rechtskräftig angeordnet worden war, sondern mit der Unterbringung nach dem bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz aus dem Jahr 2002 (s. o. II.). Die nachträgliche Unterbringung zu Präventionszwecken sei nicht als Freiheitsentzug nach einer Verurteilung durch ein zuständiges Strafgericht im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu bewerten. Die Entscheidung einer Strafvollsteckungskammer, die Freiheitsentziehung einer Person fortdauern zu lassen, genüge den Anforderungen einer Verurteilung nicht, da sie keine neue Feststellung, dass die betreffende Person einer Straftat schuldig sei, beinhalte. Bei der zugrunde 56

Möglicherweise auch durch die in diesem Punkt besonders engagierte deutsche Richterin Renate Jaeger, die an allen einschlägigen Entscheidungen mitgewirkt hatte. 57 EGMR, 27.05.1997, Eriksen ./. Norwegen, Nr. 17391/90, § 78. 58 So im Fall Eriksen ./. Norwegen (Fn. 57).

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liegenden Verurteilung des LG Passau wegen Vergewaltigung in zwei Fällen im Jahr 1999 wäre eine solche Unterbringung nicht möglich gewesen. Folglich bestehe kein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung durch ein zuständiges Strafgericht und der späteren Unterbringung zu Präventionszwecken. Die erwartete Verurteilung wegen Verletzung des Rückwirkungsverbotes gemäß Art. 7 EMRK sprach der EGMR erstaunlicherweise nicht aus. Zwar hatte der Beschwerdeführer dies nicht ausdrücklich gerügt, jedoch ist unbestritten, dass der EGMR den vorgetragenen Sachverhalt unter jedem erdenklichen Gesichtspunkt des Konventionsrechts würdigen kann.59 In der deutschen Literatur war die Verurteilung wegen der Verletzung von Art. 5 EMRK überwiegend erwartet worden,60 jedoch gab es auch andere Stimmen,61 zumal der EGMR im Jahre 1997 im Fall Eriksen ./. Norwegen noch anerkannt hatte, dass eine Verlängerung des Freiheitsentzugs eine gewisse Zeit nach dem Urteil nicht automatisch den gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK erforderlichen Bezug zur ursprünglichen Verurteilung verliere. Auch bei der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung komme es nach dem Wortlaut des § 66b StGB entscheidend auf „die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs“ an, entscheidend sei also auch das Ausgangsurteil. Das vorangegangene Strafurteil sei nicht nur ursächlich im Sinne einer „conditio sine qua non“ für den weiteren Freiheitsentzug, sondern auch zentraler Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeitsprognose bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung.

IV. Konsequenzen aus den Entscheidungen des EGMR Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebieten die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) eine konventionsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes, mit der Folge, dass die Gewährleistungen der EMRK und die Entscheidungen des EGMR als Auslegungshilfe für die Gerichte bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte sowie bei der

59

Meyer-Ladewig EMRK Einleitung Rn. 35 mit Nachweisen aus der Rspr. des EGMR; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 13 Rn. 97. 60 MK-StGB/Ullenbruch § 66 StGB Rn. 51, 53; Renzikowski JR 2004, 272 f; Baier Jura 2004, 557; Kinzig NStZ 2004, 660; Römer JR 2006, 6. 61 LK-Rissing-van Saan/Peglau § 66b Rn. 57 ff; Rosenau FS Venzlaff, 2006, 308; wohl auch Hörnle StV 2006, 386.

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rechtsstaatlichen Anwendung von Gesetzen zu berücksichtigen seien.62 Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet seien, treffe deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben.63 Nach dem Gutachten, das Grabenwarter anlässlich der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 für die Bundesregierung erstattet hat,64 erstreckt sich die Bindungswirkung des Urteils gemäß Art. 46 EMRK nicht nur auf den konkreten Fall des Beschwerdeführers, sondern auch auf alle anderen ca. 70 Fälle, die von der Rückwirkung aktuell betroffen sind. Einer gesetzlichen Änderung der entgegenstehenden deutschen Rechtsnormen bedürfe es hierfür nicht, da deutsche Gerichte und Behörden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur konventionskonformen Auslegung des geltenden Rechts verpflichtet seien. Die zuständigen Strafvollstreckungskammern müssten auch ohne Antrag der Sicherungsverwahrten von Amts wegen die Entlassung gemäß § 67d Abs. 1, 4 StGB a. F. anordnen, verbunden mit obligatorischer Führungsaufsicht sowie entsprechenden Auflagen und Weisungen für das Leben in Freiheit. Tatsächlich ist dieser Empfehlung nur ein Teil der Gerichte gefolgt,65 während andere im Hinblick darauf, dass § 2 Abs. 6 StGB ausdrücklich eine andere gesetzliche Regelung getroffen habe, einen Auslegungsspielraum im Sinne einer konventionsfreundlichen Auslegung verneint und die Freilassung der Untergebrachten abgelehnt haben.66 Im Hinblick auf die divergierende Rechtsprechung hat der Gesetzgeber im Juli 2010 eine Änderung des GVG verabschiedet, nach der ein Oberlandesgericht zur Divergenzvorlage beim Bundesgerichtshof verpflichtet ist, wenn es bei einer Entscheidung über die Erledigung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder über die Zulässigkeit ihrer weiteren Vollstreckung von einer nach dem 1.1.2010 ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofes abweichen will (§ 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG). Mehrere OLG-Vorlagen haben schließlich zu einer ausführlich begründeten An-

62

BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317); Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 3 Rn. 6; Satzger (Fn. 59) § 11 Rn. 13; Meyer-Ladewig (Fn. 59) Art. 46 Rn.17. 63 BVerfGE 111, 307 (329). 64 Grabenwarter Öst. Juristenzeitung 2010, 857 ff. 65 BGH v. 12.5.2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567 f; OLG Frankfurt NStZ 2010, 573, OLG Hamm StrafRechtsReport 2010, 352; OLG Karlsruhe BecksRS 2010, 17141. 66 OLG Celle NStZ-RR 2010, 322; OLG Koblenz JR 2010, 306; OLG Stuttgart BeckRS 2010, 13500; besonders nachdrücklich OLG Nürnberg NStZ 2010, 574: sonst faktisch „Aufgabe der Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung“.

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frage des 5. Strafsenates vom 9.11.2010 bei den anderen Strafsenaten geführt.67 Der 5. Strafsenat will eine Verbindlichkeit des EGMR-Urteils verneinen, weil der Gesetzgeber in § 2 Abs. 6 StGB eine abschließende Regelung getroffen habe und die EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR keine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB sei.68 Allerdings müsse § 67d Abs. 3 StGB bei rückwirkender Anwendung im Lichte der Entscheidung des EGMR einschränkend ausgelegt werden: Die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug dürfe nur noch dann weiter vollstreckt werden, wenn aus konkreten Umständen in der Person oder im Verhalten des Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen abzuleiten sei. Dieser Grundsatz sei – unabhängig vom Ergebnis der Anfrage – ab sofort von allen Gerichten zwingend zu beachten, womit den konventionsrechtlichen Bedenken des EGMR in weitem Umfang Rechnung getragen sei.69 Derzeit spricht vieles dafür, dass eine Entscheidung des Großen Senates erforderlich sein wird. Außerdem ist eine Entscheidung des BVerfG zu erwarten, das am 8.2.2011 über eine Verfassungsbeschwerde gegen § 7 Abs. 2 JGG und weitere Verfassungsbeschwerden gegen § 66b StGB eine mündliche Verhandlung mit Anhörung von Sachverständigen durchgeführt hat. Folgende Szenarien erscheinen derzeit denkbar: 1. Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof akzeptieren die Entscheidungen des EGMR und untersagen – gegen den Wortlaut des § 2 Abs. 6 StGB i. V. mit Art.1 a Abs. 3 EGStGB – die rückwirkende Anwendung der §§ 66b, 67d Abs. 3 StGB und 7 Abs. 2, 105 Abs. 6 JGG. Dann müssten ca. 50 Sicherungsverwahrte, die gemäß § 67d Abs. 3 über zehn Jahre hinaus untergebracht wurden, sofort entlassen werden. Hinzu kämen ca. 15 nachträglich Sicherungsverwahrte sowie künftig diejenigen, die vor 2004 bzw. 2007 verurteilt worden sind und bei denen nach bisherigem Recht nachträgliche Sicherungsverwahrung in Betracht gekommen wäre. Für diesen Fall hat der Gesetzgeber bereits Vorsorge getroffen, indem er am 2.12.2010 – gleichzeitig mit dem „Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ – ein „Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG)“ verabschiedet hat. Im ersten Gesetz wird die primäre Sicherungsverwahrung mit geringen Korrekturen beibehalten, die vorbehaltene Sicherungsverwahrung erheblich ausgebaut und die 67

BGH v. 9.11.2010 – 5 StR 394/10, NJW 2011, 240 ff m. w. N. BGH v. 9.11.2010 – 5 StR 394/10, NJW 2011, 240 ff, Rn. 30 ff. 69 BGH v. 9.11.2010 – 5 StR 394/10, NJW 2011, 240 ff, Rn. 40 ff. 68

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nachträgliche Sicherungsverwahrung auf einen eng begrenzten Bereich beschränkt.70 Nach § 1 ThUG kann das Gericht bei einer „Person, die deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, die Unterbringung in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn (1) sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störungen mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und (2) die Unterbringung aus den in Nr. 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.“ Kritiker sehen darin eine Gleichsetzung von krimineller Gefährlichkeit und psychischer Krankheit und eine Umgehung des vom EGMR angenommenen Rückwirkungsverbotes gemäß Art. 7 EMRK.71 Stellt man aber einmal die Bedenken, die auch wegen der dahinter stehenden umfassenden Sicherungsstrategie bestehen, zurück, so muss man einräumen, dass die vorgeschlagene Regelung durchaus einen realistischen Anwendungsbereich hat und wahrscheinlich auch im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK steht. Der EGMR hat in dem Urteil vom 17.12.2009 selbst darauf hingewiesen, dass der Fall M./.Bundesrepublik Deutschland u. U. anders zu beurteilen gewesen wäre, wenn der Beschwerdeführer, bei dem früher eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden war, nicht schon 2001 vom OLG Frankfurt aus dem psychiatrischen Krankenhaus wegen Wegfalls einer schweren seelischen Störung entlassen worden wäre. 72 Zwar ist eine psychische Störung in der Regel schwächer ausgeprägt als eine psychische Krankheit im Sinne der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze,73 jedoch ist der Begriff der psychischen Krankheit vom EGMR bisher noch nicht präzisiert worden. Der englische Originaltext „persons of unsound mind“ in Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK dürfte alle Störungen der Psyche, des Geistes und des Verstandes umfassen. Wenn diese eindeutig einer 70 Wegen Erledigung gem. § 67d VI StGB aus dem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) zu entlassende, aber weiterhin gefährliche Straftäter. 71 Schriftliche Stellungnahmen von Leygraf (S. 5-7) und Kinzig (S. 19-21), in: Deutscher Bundestag, Rechtsausschuss, öffentliche Anhörung am 10.11.2010. 72 EGMR v. 17.12.2009 (Fn. 22) Nr. 103. 73 Nedopil NJW 2000, 861.

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Diagnose nach ICD 10 oder DSM IV zugeordnet werden können, würden sie vermutlich auch vom EGMR anerkannt. In Betracht kommen vor allem dissoziale oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen (ICD 10, F 60.2, 60.9) sowie Störungen der Sexualpräferenz (z. B. Sadismus oder Pädophilie. ICD 10, F 65.5, 65.4), die auch bereits im Erkenntnisverfahren häufig diagnostiziert werden, aber fast nie zur Schuldunfähigkeit und auch relativ selten zur verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB führen. Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB ist daher für sie nicht möglich. Unter den langzeitinhaftierten Gewalt- und Sexualstraftätern dürfte der Anteil der psychisch Gestörten in diesem Sinne bei mindestens 50 % liegen.74 Die Tatsache, dass im Urteil des EGMR vom 13.01.2011 – wegen fehlender Rüge des Beschwerdeführers - eine Verletzung von Art. 7 EMRK nicht festgestellt wurde (s. o. III. 3.), schließt die Anwendung von § 1 ThUG nicht aus, da die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift („Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung)“ von den deutschen Gerichten selbständig festgestellt werden müssen. 2. Bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung könnten sich die Vollzugsverwaltungen und Gerichte zunächst darauf berufen, dass die Entscheidung des EGMR nur das bayerische Staftäterunterbringungsgesetz vom 24.12.2001 betreffe, das vom BVerfG am 10.2.2004 für verfassungswidrig erklärt und ab 30.9.2004 außer Kraft gesetzt wurde.75 Es ist allerdings wahrscheinlich, dass dann in einer weiteren Entscheidung des EGMR bald klargestellt würde, dass auch § 66b StGB gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstößt. Immerhin besteht aber die Möglichkeit einer Änderung dieser Auffassung bei erneuter Anrufung des EGMR, die sich gezielt auf § 66b StGB bezieht. Zunächst gibt es einige Unterschiede zwischen der nachträglichen Unterbringung nach dem bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz und § 66b StGB, insbesondere wegen der Übertragung der Zuständigkeit von der Strafvollstreckungskammer auf die erkennende Strafkammer (§§ 275a StPO, 74 f GVG) sowie wegen der Einbeziehung des Ausgangsurteils in die prognostische Gesamtwürdigung, während das Straftäterunterbringungsgesetz nur auf neue Tatsachen nach der Verurteilung abgestellt hatte. Hinzu kommt der Umstand, dass – anders als bei der Rückwirkungsproblematik76 – Deutschland bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Europa nicht allein steht. Die Schweiz hat 2006 die „nachträgliche Verwahrung“ 74

Schöch in: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie 15 (2008), S. 5, 7 m. w. N.; im Langzeitvollzug dürfte der Anteil höher sein als im Regelvollzug oder im offenen Vollzug. 75 BVerfGE 109, 190 (191, 235 ff). 76 Die vom EGMR erwähnten Staaten, in denen die Änderungen bei der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend möglich wären (genannt werden Italien, Dänemark, San Marino und die Slowakei), haben davon bisher keinen Gebrauch gemacht.

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nach Art. 65 SchwStGB eingeführt77 und in Frankreich gibt es seit 2007 die „rétention de sûreté“. Dieser Gleichklang mit traditionell rechtsstaatlich orientierten Staaten in Europa könnte dazu führen, dass der EGMR die Frage der kausalen Verknüpfung gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK bei erneuter Prüfung – teilweise in neuer Besetzung – weniger kritisch beurteilt als die Rückwirkungsproblematik. 3. Falls sich in den bevorstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder des Großen Senats des Bundesgerichtshofs bezüglich der Rückwirkungsproblematik die Auffassung des 5. Strafsenats durchsetzt, dass die EGMR-Urteile wegen der entgegenstehenden gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 6 StGB nicht unmittelbar verbindlich seien,78 wäre der Gesetzgeber aufgerufen, die vom EGMR angemahnte „zügige Umsetzung der Kernrechte der Konvention“ zu gewährleisten.79 Diese könnte dann nur in einer Einschränkung der gesetzlich eröffneten Rückwirkung gemäß § 2 Abs. 6 StGB bestehen.80 Allerdings müssten die Betroffenen dann bis zur voraussichtlichen Verabschiedung eines solchen Gesetzes – voraussichtlich bis Ende 2011, also weitere zwei Jahre – in konventionswidriger Unterbringung warten. Für die dann aus der Sicherungsverwahrung zu entlassenden Straftäter mit psychischen Störungen stünde als Auffanglösung das neue ThUG zur Verfügung (s. o. IV. 1.). Für die bereits Entlassenen sowie für die ca. 50 % der Sicherungsverwahrten ohne psychische Störung bliebe es bei der – in einigen OLG-Bezirken bereits realisierten – Entlassung mit Führungsaufsicht. Die an einigen Orten praktizierte Überwachung der Freigelassenen durch ein beträchtliches Polizeiaufgebot rund um die Uhr stellt m. E. einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) dar, zu dem auch das unverantwortliche Schlagwort „menschliche Zeitbombe“ beigetragen hat. Tatsächlich kommt meist nach einigen Wochen wegen Überbeanspruchung der Polizeikräfte für sinnlose Bewachungsaufgaben die kriminalpolitische Vernunft wieder zurück. 4. Denkbar wäre auch, dass das Bundesverfassungsgericht das – bereits im ersten Urteil aus dem Jahr 2004 kurz angesprochene – Abstandsgebot zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung81 betont und darauf hinweist, dass bei Beachtung dieses Gebotes – auch nach Auffassung des EGMR – kein Verstoß gegen Art. 7 EMRK vorliege. Auch Art. 5 Abs. 1 EMRK wäre nicht notwendig verletzt, wenn für die Sicherungsverwahrten Behandlungs77

Vgl. dazu Heer in: Basler Kommentar, hrsg. von Niggli/Wiprächtiger, Strafrecht I, Art. 65 Rn. 1-97 m. w. N. 78 BGH v. 9.11.2010 – 5 StR 394/10, NJW 2011, 240 ff, Rn. 30 ff. 79 EGMR v.13.1.2011, Kallweit ./. Bundesrepublik Deutschland (Nr. 17792/07) Rn. 83. 80 In diesem Sinne bereits Schöch (Fn. 36) S. 296 f. 81 BVerfGE 109, 133 (154 ff).

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plätze wie für psychisch kranke Straftäter gem. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK eingerichtet würden.82 In diesem Fall wären die nach der Föderalismusreform zuständigen Landesgesetzgeber sowie die Vollzugsverwaltungen der Länder in die Pflicht genommen, eigenständige Anstalten mit therapeutischen Angeboten – evtl. auch durch Vollzugsgemeinschaften mehrerer Länder – zu schaffen.83 Es liegt nahe, dass man sich dabei an die eingangs erwähnte Konzeption der sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung erinnert, die ja ohnehin für einen Teil der jetzt zu entlassenden Straftäter geschaffen war und die bei ihrer Realisierung manche der jetzigen Probleme verhindert hätte. Da einige der bisher vorhandenen Vollzugseinrichtungen durchaus diesen Ansprüchen genügen,84 wäre auch durch eine Umwidmung relativ bald der Bedarf für derzeit ca. 550 Plätze der bisherigen Sicherungsverwahrten,85 zumindest für die ca. 70 von der Rückwirkungsproblematik aktuell Betroffenen und für die noch bis Ende 2025 denkbaren Altfälle aus der Zeit vor dem 1.1.2011.86

V. Beurteilung aus kriminologischer Sicht Obwohl die Entscheidungen des EGMR nicht durchweg zu überzeugen vermögen, können sie doch ein Anlass sein, die Sicherungsverwahrung auf ein präventiv tragfähiges Konzept zurückzuführen, das auch den realistischen Möglichkeiten der Kriminalprognose Rechnung trägt. Dabei gilt es, die auf der Rechtspolitik lastende, von einigen Medien und Politikern geschürte Erwartung, dass das Strafrecht einen vollkommenen Schutz vor schweren Rückfalltaten gewährleisten müsse, zurückzuweisen und das rechtsstaatliche Übermaßverbot87 auch in diesem Bereich ernst zu nehmen. Die im Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung vom 2.12.2010 beschlossene Beschränkung der primären Sicherungsverwahrungen auf Rückfall- oder Wiederholungstäter mit schweren Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die 82

EGMR v. 17.12.2009 (Fn. 22) Rn. 127 ff. Vgl. dazu die konstruktiven Vorschläge bei Peglau jurisPR-StrafR, 1/2010, Anm.2, der zutreffend auf die Notwendigkeit eines flexiblen Systems von freiheitsentziehenden und nichtfreiheitsentziehenden Maßnahmen verweist. 84 Vgl. Egg FS Schöch, 323 ff. 85 Stat. Bundesamt, www-ec.destatis.de, Strafvollzug, 2010, Tab. 1: 536 Sicherungsverwahrte. 86 Die in Bayern für das ThUG gewählte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB dürfte nur eine Übergangslösung sein. 87 Roxin AT I § 3 Rn. 67. 83

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sexuelle Selbstbestimmung sowie mit schweren Raub- und Erpressungsdelikten und gemeingefährlichen Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht sind (§ 66 Abs. 1 StGB, also unter Wegfall von Eigentums- und Vermögensdelikten), trägt dem Charakter dieser Maßregel als „letztes Mittel der Kriminalpolitik“ durchaus Rechnung. Der Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB), die an denselben Deliktkatalog anknüpft, aber auch – bei entsprechender Hangtäterdiagnose und Gefährlichkeitsprognose – für Ersttäter mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren in Betracht kommt, ist im Hinblick auf die prognostischen Schwierigkeiten zwar nicht unproblematisch, aber im Vergleich zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, die durch das Gesetz abgeschafft wurde, für die Betroffenen eine fairere Lösung, die auch den Strafvollzug bei den anderen Gefangenen, die bisher potentielle Kandidaten für die nachträgliche Sicherungsverwahrung waren, nicht so belastet.88. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung kann Gefangene während der Haftzeit besser zur aktiven Mitarbeit an ihrer Resozialisierung motivieren. Entscheidend für ihren Erfolg wird sein, dass Gefangene mit vorbehaltener Sicherungsverwahrung bei entsprechender Eignung unter denselben Voraussetzungen wie andere Strafgefangene Resozialisierungsangebote sowie Vollzugslockerungen und Urlaub erhalten. Bei der Anwendung des § 66b StGB für die sog. Altfälle (§ 316e Abs. 1 EGStGB) und des ebenfalls nur für eine gewisse Übergangszeit geltenden Therapieunterbringungsgesetzes gilt es, die nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten der kriminalprognostischen Gefährlichkeitsbegutachtung nach nur einer schweren Straftat und langem Strafvollzug zu beachten. Eine Bochumer Untersuchung von Alex/Feltes hat eindrucksvoll dokumentiert, dass bei 77 erwachsenen Straftätern, die nach den Gefährlichkeitsprognosen von jeweils zwei Sachverständigen in die nachträgliche Sicherungsverwahrung kommen sollten, aber aus rechtlichen Gründen entlassen werden mussten, innerhalb eines Zeitraums von zwei bis vier Jahren (durchschnittlich 33 Monate) 50 überhaupt nicht auffällig wurden.89 Nur 12 wurden erneut zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt, davon nur 3 wegen erneuter schwerer Gewalt- und Sexualdelikte zugleich auch zu Sicherungsverwahrung. Die Quote der richtigen Gefährlichkeitsprognosevorhersagen betrug also nur knapp 4 %. Auch eine Untersuchung von Kinzig zeigt, dass das Risiko von falschen Prognosen zu Lasten von Langzeitinhaftierten sehr hoch ist. Von 22 Siche88 Eingehend und überzeugend dazu Bartsch (Fn. 22) S 333 ff; Kreuzer/Bartsch GA 2008, 663 ff; Kreuzer StV 2011, 128 f. 89 Feltes/Alex FS Schöch, 2010, 750 f.

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rungsverwahrten, die vor dem Jahr 1998 wegen Erreichens der Höchstfrist von zehn Jahren trotz schlechter Prognose im Entlassungszeitpunkt entlassen werden mussten, wurden innerhalb eines Zeitraums von mindestens vier, teilweise bis acht Jahren nur acht rückfällig.90 Darüber hinaus kam es nur bei zwei der 22 Entlassenen, also etwas weniger als 10 % zu schweren Straftaten; in einem Fall zu einem schweren Raub, in einem anderen Fall zu einer schweren Brandstiftung. Die Verantwortung für das unvermeidbare Restrisiko bei Entlassungen aus dem Strafvollzug, die weder der Gesetzgeber noch die Justiz oder der Strafvollzug übernehmen wollen, darf nicht einfach auf zwei Sachverständige abgeschoben werden, die bei einer fehlerhaften Bejahung der Gefährlichkeit91 – mangels Überprüfbarkeit – keinerlei Nachteile haben, bei der Realisierung des unvermeidbaren Restrisikos einer günstigen Prognose aber ihre berufliche Existenz riskieren und darüber hinaus der Gefahr der Strafverfolgung oder belastender Medienkampagnen ausgesetzt sind. Das ist wissenschaftlich unredlich und rechtlich problematisch. Deshalb wäre es dringend geboten, das Begutachtungsverfahren dahingehend zu ändern, dass anstelle der bisher vorgesehenen beiden Gutachter92 nach ausländischem Vorbild interdisziplinär besetzte Fachkommissionen93 zu den Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung oder der Therapieunterbringung Stellung nehmen.

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Kinzig Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2008, S. 196 ff. Zur systematischen Überschätzung der Gefährlichkeit bei geringen Basisraten, also bei den seltenen schweren Delikten, Schöch in: Internationales Handbuch der Kriminologie, hrsg. von H.-J. Schneider, Band 1, 2007, S. 359, 365 ff. 92 § 275 IV 2 StPO, § 9 I 1 ThUG. 93 Z. B. Art. 64b II lit. c Schweizerisches Strafgesetzbuch bei Entlassungen aus dem Maßregelvollzug (ergänzend zu einem Einzelgutachten); vgl. dazu Heer (Fn. 77) Art. 64b Rn. 16 f m. w. N. 91

Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung und Sicherung* FERNANDO GUANARTEME SÁNCHEZ LÁZARO

I. Einführung: Die Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofs vom 23.1.2004 In einer Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofes (STS 23.1.2004) wurde die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für jemanden – nennen wir ihn A – angeordnet, der von einem Mordversuch freigesprochen worden war. A hatte in einem akuten Anfall von Schizophrenie versucht, seine Frau umzubringen. Es wurde angenommen, dass A sich in einer Situation befand, in der er die intellektuellen Fähigkeiten und die Willenskraft gänzlich verloren hatte, so dass eine Strafe in einer Strafanstalt als nicht angemessen eingeschätzt wurde.1 Der hierin liegende Eingriff in die grundrechtlichen Positionen des Bürgers í Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu zwanzig Jahre í wurde wie folgt gerechtfertigt: „Nach Art. 6 span. StGB stützt sich die Maßregel auf die kriminelle Gefährlichkeit des Subjekts, die durch die Begehung einer als Verbrechen eingeordneten Tat zum Ausdruck gebracht wird.“ Dabei gehe es in erster Linie um „die kriminelle Gefährlichkeit des Subjekts, die diese (gemeint: die Maßregel) begründet, nicht um die individuelle Entwicklung der Erkrankung, welche dem Strafrecht gleichgültig wäre“.2 Gleichwohl wird angenommen, dass „die geistige Besserung des Subjekts seine kriminelle Gefährlichkeit [direkt beeinflusst]. Die Auferlegung der Maßregel soll aus der Perspektive der Gesellschaft hinsichtlich der kriminellen Gefährlichkeit“ betrachtet werden. Daher wird die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu zwanzig Jahre * Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen der folgenden Forschungsprojekte verwirklicht worden: „Neurociencia y Derecho penal: nuevas perspectivas en el ámbito de la culpabilidad y tratamiento jurídico-penal de la peligrosidad (DER 2009/09868. IP: Eduardo Demetrio Crespo)“, „Delincuencia económica. Nuevos instrumentos jurídicos y tecnológicos (DER200800954/JURI). IP: Carlos María Romeo Casabona)“. 1 Dazu siehe erklärend Roxin AT I § 3 Rn. 63 ff. 2 STS 23.1.2004.

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angeordnet, auch wenn der Handelnde zur Zeit der Entscheidung „einer ambulanten Behandlung [gem. Art. 105.1.a) span. StGB] unterzogen war [...] und eine positive Entwicklung sowie einen angemessenen Grad sozialer Anpassung zeigte“.3 Die Argumentation des spanischen Obersten Gerichtshofes stützt sich hier also im Wesentlichen auf präventive Argumente: Der Gedanke „der Perspektive der Gesellschaft hinsichtlich der kriminellen Gefährlichkeit“ zielt anscheinend auf spezialpräventive Gründe im Sinne der Herstellung von Unschädlichkeit ab. Diese Gründe zeigen sich auch bei der wesentlich stärkeren Bedeutung „der kriminellen Gefährlichkeit“ des Subjekts í im Vergleich zu „der individuellen Entwicklung der Erkrankung“ í in Bezug auf die Bestimmung der konkreten Maßregel. Eine solche Argumentation erscheint fragwürdig in Anbetracht einer Maßregel, die in erster Linie dem Resozialisierungszweck dienen soll.4 Aber sie scheint auch für die Rechtfertigung des grundrechtlichen Eingriffs, dessen erhebliche Rechtsfolge die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu zwanzig Jahre ist, unzureichend zu sein. Dies gilt vor allem deshalb, weil eine andere, weniger schwerwiegende Rechtsfolge í ambulante Behandlung, Art. 105.1.a) span. StGB í in Frage kam und Zweifel in Bezug auf ihre Geeignetheit bestanden.5 Grundsätzlich, so meine These, wiegt das Freiheitsprinzip schwerer als angebliche präventive Gründe (näher dazu unter II. 2.).6 Zwar bergen „Prognoseentscheidungen [...] stets das Risiko der Fehlprognose“.7 Aber andererseits ist das normative Gewicht des Freiheitsprinzips doch schwerer als das normative Gewicht präventiver Erwägungen (vgl. II.2.). Daher sollten bloße Prognoseentscheidungen alleine nicht ausreichen, solche schweren Eingriffe in das Freiheitsprinzip zu rechtfertigen. Das Abstellen auf „die kriminelle Gefährlichkeit“ í im Kontrast zur „individuellen Entwicklung der Erkrankung“ í führt zu Einbußen im Bereich der Menschenwürde. 3

STS 23.1.2004. Gracia/Boldova/Alastuey Tratado de las consecuencias jurídicas del delito, 2006, S. 437; Mir Puig PG S. 44; Silva Sánchez El Nuevo Código penal: cinco cuestiones fundamentales, 1997, S. 41 f; anders Roxin AT I § 3 Rn. 64: „beim psychiatrischen Krankenhaus Sicherungsund Resozialisierungszweck etwa gleichrangig nebeneinander stehen“. 5 Vgl. STS 23.1.2004. 6 Für eine Bewertung dieser Argumentformen siehe eingehend Sánchez Lázaro Una teoría de la argumentación jurídico-penal, 2009, S. 175 ff; ders. GA, im Erscheinen. 7 BVerfG NJW 2004, 739, 742; dazu siehe Frisch ZStW 102 (1990), 372 f; Musco ZStW 102 (1990), 428 ff; Romeo Casabona Peligrosidad y Derecho Penal preventivo, 1986, S. 24 ff; demgegenüber siehe Robles Planas Indret 2007/4, 15: „la rudimentaria noción de la peligrosidad criminal (y de los inseguros criterios para su determinación individual) se ha quedado anticuada para fundamentar la reacción penal. Más bien la tendencia parece ser la que sólo la garantía de no peligrosidad impide la intervención coactiva“. 4

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Denn das Subjekt wird in einem größeren Maß dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit unterstellt.8 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Argumentation des spanischen Obersten Gerichtshofes folgendermaßen skizzieren: Schwere Eingriffe in grundrechtliche Positionen werden durch argumentativ schwache präventive Erwägungen gerechtfertigt. Die angegebenen Gründe í Gefährlichkeit und angebliche Prävention durch Unschädlichmachung í wiegen nicht so schwer wie die damit gerechtfertigte Rechtsfolge, die sicher einen erheblichen Eingriff in das Freiheitsprinzip bedeutet und zu Einbußen in Bezug auf die Menschenwürde führen. Aus ökonomischer Sicht wäre diese Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofes also als ineffizient zu bezeichnen. Denn „je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden“.9 In der Lehre sind gegenüber der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes weiter entwickelte Legitimationsversuche dieser zweiten Schiene des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems zu finden. Auf zwei Beispiele soll im Folgenden näher eingegangen werden.

II. Zwei dogmatische Lösungen 1. Eine ethische Begründung Im Sinne einer ethischen Begründung bemerkte Welzel: „Wie schon bei der Strafe ergibt sich aus der Nützlichkeit oder der Zweckmäßigkeit der Sicherungsmaßregel noch keineswegs eine Rechtfertigung des Eingriffs gegen den Einzelnen. Die Ausmerzung (Vernichtung oder Unschädlichmachung) sozialschädlicher Menschen (Verbrecher, Geisteskranker, ansteckend Kranker, politisch Mißliebiger usf.) mag für den Gemeinschaftsschutz höchst zweckmäßig und wirksam sein, aber ob und inwieweit der Eingriff gegenüber dem Betroffenen gerechtfertigt werden kann, ergibt sich nicht aus der bloßen Nützlichkeit für die Allgemeinheit, sondern aus der sittlichen Zulässigkeit gegenüber dem Betroffenen. Da die Person niemals bloß als Mittel für einen beliebigen Zweck benutzt werden darf, genügt es 8

Näher Nino Ética y derechos humanos. Un ensayo de fundamentación, 1989, S. 291 ff. BVerfGE 17, 34 (314); ebenso siehe Alexy GS Sonnenschein, 2003, 772: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, desto gröȕer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“; ebenso siehe 789: „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muß die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“ 9

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für die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Sphäre der Person nicht, dass der Eingriff für irgendwelche allgemeineren Zwecke nützlich oder erforderlich ist [...]. Nur die klare Erkenntnis, dass niemals die Sozialnützlichkeit allein, sondern nur die sittliche Zulässigkeit die Anwendung eines Mittels rechtfertigen kann, und nur das klare Bekenntnis einer sittlichen Beschränkung der Staatsmacht führt uns über den Utilitarismus hinaus und bewahrt vor totalitärer Staatsmacht“.10Welzel fährt fort: „So ist bei allen Sicherungsmaßnahmen neben ihrer Zweckmäßigkeit (ihrer ,Erforderlichkeit für die öffentliche Sicherheit‘) stets ihre sittliche Zulässigkeit gegenüber dem Einzelnen zu ermitteln. Allen Sicherungsmaßregeln liegt der allgemeine sozialethische Gedanke zugrunde, dass am Gemeinschaftsleben nur der ungeschmälert teilnehmen kann, der sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten lassen kann. Alle äußere oder soziale Freiheit rechtfertigt sich letztlich aus dem Besitz der inneren oder sittlich gebundenen Freiheit. Wer dieser inneren, von sittlicher Selbstbestimmung gelenkten Freiheit überhaupt nicht fähig (wie Geisteskranke) oder infolge von schlechten Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig ist, kann die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen. Hieraus rechtfertigt sich das Institut der Sicherungsverwahrung gegenüber Zustandsverbrechern. Zu diesen allgemeinen sozialethischen Gesichtspunkten treten vielfach engere ethische Momente, so vor allem gegenüber den Geisteskranken, den vermindert Zurechnungsfähigen oder Rauschsüchtigen das Recht und die Pflicht des Staates zur heilenden und helfenden Fürsorge, gegenüber Jugendlichen und Arbeitsscheuen das Erziehungsrecht usf. Während der zuerst genannte allgemeine Gesichtspunkt lediglich die Freiheitsbeschränkung nach dem Maß und der Dauer des Mangels sittlicher Selbstbestimmung rechtfertigt, vermögen die besonderen Gesichtspunkte eine Benutzung dieser Freiheitsbeschränkung zu bestimmtem Gebrauch zu rechtfertigen, z. B. zur Heilung oder Erziehung“.11 Welzels Verdienst ist es, mit diesen Worten die Unzulänglichkeit rein utilitaristischer Begründungen verdeutlicht zu haben. Man kann mit Welzel also Folgendes annehmen: „Da die Person niemals bloß als Mittel für einen beliebigen Zweck benutzt werden darf, genügt es für die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Sphäre der Person nicht, dass der Eingriff für irgendwelche allgemeineren Zwecke nützlich oder erforderlich ist.“ Allerdings bleibt Welzel eine überzeugende Argumentation schuldig. Der Freiheitsanspruch 10

Welzel Das Deutsche Strafrecht, 1969, S. 244 f. Welzel (Fn. 10) S. 245; ebenso Cerezo Mir PG I, S. 42; Gracia/Boldova/Alastuey (Fn. 4) S. 439; Jorge Barreiro Las medidas de seguridad en el Derecho español, 1976, S. 43, 83 ff; zu weiteren Nachweisen siehe Sanz Morán Las medidas de corrección y de seguridad en el Derecho penal, 2003, S. 80 ff. 11

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der Person begründet sich letztendlich nicht mit der Fähigkeit, sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten lassen zu können. Dieser Anspruch begründet sich schon aus der bloßen Eigenschaft, Mensch zu sein.12 In diesem Sinne stellt die Bedeutung des Autonomieprinzips im moralischen Diskurs nur ein Spiegelbild der Verbindung zwischen den Moralnormen einerseits und ihrem Legitimationsursprung und Adressaten andererseits.13 Der Freiheitsanspruch ist nicht seinem Ursprung durch die Normen des Gemeinschaftslebens bedingt: Die Freiheit ist dem Menschen eigen und Voraussetzung des moralischen Diskurses.14 Daher können auch Arbeitsscheue, ansteckend Kranke oder Gewohnheitsverbrecher die volle soziale Freiheit beanspruchen, eben weil sie Menschen sind.

2. Eine utilitaristische Begründung In einer ganz anderen Stoßrichtung äußert sich Roxin zu dem Instrument der Maßregeln: „Es ist schon gezeigt worden, dass unser Strafgesetzbuch neben den Strafen auch Maßregeln kennt und dass diese Zweispurigkeit des Sanktionensystems das fundamentale Strukturelement unserer Rechtsfolgenregelung bezeichnet. Nach Erörterung der Straftheorien lässt sich auch erkennen, warum ein auf das Schuldprinzip verpflichtetes Strafrecht die zweite Spur der Maßregeln braucht: Die Selbstbeschränkung der staatlichen Eingriffsgewalt, die in der Bindung an das Schuldmaß liegt, ermöglicht zwar in der Regel einen angemessenen Ausgleich zwischen den staatlichen Schutzbelangen und den Freiheitsinteressen des Rechtsunterworfenen; im Einzelfall aber kann die Gefährlichkeit eines Täters für die Allgemeinheit so groß sein, dass die Schuldstrafe nicht ausreicht, um die Allgemeinheit vor seinen Angriffen in hinreichendem Maße zu sichern. Wenn z. B. ein geistig beschränkter, nur in sehr vermindertem Maße schuldfähiger Mensch schwere Gewalttaten begeht und voraussichtlich weiter begehen wird, so rechtfertigt seine geringe Schuld (§ 21) nur eine kleine Strafe. Aber der Schutz der Allgemeinheit macht es notwendig, ihn darüber hinaus zum Zwecke der Besserung und Sicherung in ein psychiatrisches Krankenhaus (§ 63) einzuweisen.“15 12

Zutreffend Sanz Morán (Fn. 11) S. 80 f. Vgl. Nino (Fn. 8) S. 125 ff, 229 ff, 234. 14 Zu Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses siehe erläuternd Alexy Theorie der juristischen Argumentation, 2001, S. 233 ff; zuletzt ders. ARSP 95 (2009), 155 ff: „Ihr Ziel ist die Unparteilichkeit des Diskurses. Dieses Ziel soll durch Sicherung der Freiheit und Gleichheit der Argumentation erreicht werden.“; ebenso Nino (Fn. 8) S. 126: „el interés colectivo de un grupo social [...] no genera razones originales para justificar acciones“. 15 Roxin AT I § 3 Rn. 63; ähnlich Frisch ZStW 102 (1990), 365 ff, der auch auf Schutzverpflichtungen des Staates hinweist; Muñoz Conde/García Arán PG, S. 52; in Bezug auf die 13

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In Bezug auf die Sicherungsverwahrung führt er fort: „Auch über Täter, bei denen derart manifeste Störungen nicht vorliegen, kann, wenn sie immer wieder rückfällig werden und weiterhin schweren Schaden anzurichten drohen (vgl. § 66), eine Sicherungsverwahrung verhängt werden, die in ihrer Dauer weit über die nach dem Schuldprinzip mögliche Strafe hinausgeht.“16 Demnach beruhen alle Maßregeln auf dem Gedanken einer durch die Strafe nicht restlos zu beseitigenden Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit. In der Konsequenz kann sich die Antwort über die Rechtfertigung dieser zweiten Spur des Rechtsfolgensystems, wie Roxin ausführt, „nur aus dem Gedanken der Güterabwägung ergeben: Danach kann eine Freiheit entzogen werden, wenn ihr Gebrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beeinträchtigungen anderer führt, die in ihrer Gesamtheit weit schwerer wiegen als die Einschränkungen, die der Verursacher der Gefahr durch die Maßregel auf sich nehmen muss. Dabei liegen ,Wert und Würde des Menschen [...] mit ihrem vollen Gewicht auf der Seite der Waagschale. Je höher sie von der Rechtsordnung eingeschätzt werden, umso enger wird der Kreis der Gefahren gezogen sein, gegen die vorbeugende Maßnahmen in Betracht kommen‘.“17 In der Tat stehen auch hinter der Idee der Maßregel Prinzipien í etwa das Freiheitsprinzip, das Menschenwürdeprinzip, das Prinzip der Prävention usw. Werden Prinzipien als Optimierungsgebote betrachtet, d. h. als Gebote einer möglichst weitgehenden Realisierung, führen sie zwingend in das Feld der Abwägung und letztendlich zum Gedanken der Effizienz.18 In diesem Sinne ist Roxin zuzustimmen. Kritisch zu sehen ist aber, dass Roxin diese Güterabwägung nur sehr allgemein skizziert und kaum begründet. So ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die Sicherungsverwahrung auch bei gewaltfreien Vermögens- und Eigentumsdelikten bis zu 10 Jahre dauern kann.19 In einem derartigen Fall handelt es sich – vereinfacht gesagt – auf der einen Seite um einen sicher drohenden, der Freiheitsstrafe ähnlichen, schweren Eingriff in

schuldfähig Handelnden Gracia/Boldova/Alastuey (Fn. 4) S. 440; Boldova Pasamar ReCrim 2009, 299. 16 Roxin AT I § 3 Rn. 63. 17 Roxin AT I § 3 Rn. 66. 18 Vgl. Alexy GS Sonnenschein, 2003, 771 ff; erklärend siehe ebenso Mathis Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts, 2006, S. 52 ff, 196, 208, 211 ff: „Effizienz und Gerechtigkeit schließen sich keineswegs aus, sondern stehen in einer vielfältigen Wechselbeziehung zueinander [...]. Effizienz ist [...] stets auch ein Gebot der Gerechtigkeit.“ 19 Zu ihrem wichtigen Anteil Kinzig ZStW 109 (1997), 122, 144 ff; zu ihrer tendenziell unverhältnismäßigen Länge ebenda, 159 f.

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das Freiheitsprinzip sowie – wie Roxin zu Recht hervorhebt – um erhebliche Einbußen für das Menschenwürdeprinzip, die auf der anderen Seite einem möglichen gewaltfreien Eingriff in fremdes Eigentum gegenüberstehen. Der Effizienzrahmen einer solchen Rechtsfolge ist nicht auf dem ersten Blick sichtbar. Aber: Es geht nicht nur um die Sicherungsverwahrung. Das verdeutlicht ein Blick auf die oben erwähnte Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofes. Hierbei handelte es sich í bei der Anwendung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus í einerseits um spezialpräventive Gründe im Sinne einer Unschädlichmachung.20 Andererseits ist in die andere Waagschale ein sicher drohender, schwerer Eingriff in das Freiheitsprinzip zu legen, nämlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für bis zu zwanzig Jahre. Hinzu kommen Einbußen in Bezug auf die Menschenwürde. Denn die Betonung „der kriminellen Gefährlichkeit“ und „der Perspektive der Gesellschaft“ í im Vergleich zur „individuellen Entwicklung der Erkrankung“ í unterstellt das Subjekt in größerem Maß einem Vorrang des Sicherungsbedürfnisses der Allgemeinheit. All das kann und soll näher erläutert werden. Die spezialpräventiven Gründe beziehen sich prinzipiell auf die unterschiedlichen Rechtsgüter. Dabei konkretisieren und materialisieren sich bestimmte Argumentationsformen. Es geht also einerseits um das Leben21 und die körperliche Unversehrtheit22 í angesichts der vom Handelnden begangenen Tat: eines Mordversuchs. Aber die präventiven Argumente beziehen sich, davon losgelöst, auf die Schutzbedürfnisse der Gesellschaft. Genau das bestimmt und vermindert í in einer an Abwehrrechten orientierten Rechtsordnung í ihr normatives Gewicht.23 In gleicher Weise kann das Maß, in dem solche spezialpräventiven Zwecke durch die Anwendung der Maßregel erfüllt oder nicht erfüllt sind, be-

20

STS 23.1.2004. SK-Horn § 211 Rn. 1 ff. 22 SK-Horn/Wolters § 223 Rn. 1 ff. 23 Vgl. dazu näher etwa BVerfGE 7, 28 (205): „das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], [hat] in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet und [...] gerade hierin [kommt] eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck. [...] Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten.“; vgl. auch BVerfGE 7, 46 (405): „nach der Gesamtauffassung des Grundgesetzes [ist] die freie menschliche Persönlichkeit der oberste Wert“; ebenso Alexy El concepto y la validez del Derecho, 1994, S. 159 ff, 207 f, m. w. N.; ders. Theorie der Grundrechte, 2006, S. 397: „Das Grundgesetz [hat] von seiner Textfassung und seiner Entstehungsgeschichte her primär den Charakter einer an Abwehrrechten orientierten bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung.“ 21

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stimmt werden.24 In diesem Sinne könnte man hier nur von einer mäßigen Erfüllung reden, da der Handelnde zur Zeit der Entscheidung „einer ambulanten Behandlung [Art. 105.1.a) span. StGB] unterzogen war [...] und eine positive Entwicklung sowie einen angemessenen Grad sozialer Anpassung zeigte“.25 Daher war die Gefährlichkeit des A entsprechend beschränkt. Die empirische Basis dieser Argumentationsformen lässt sich übrigens nur schwer bestimmen: Ist tatsächliche Prävention durch Unschädlichmachung zu erreichen? Eine Beantwortung der Frage muss wegen der Unsicherheit solcher auf die Zukunft gerichteter Aussagen ausbleiben. Deswegen sind hier nur untere Grade in Betracht zu ziehen: „plausibel“, „nicht evident falsch“.26 Utilitaristisch betrachtet kann man hinsichtlich der Einbußen zunächst auf das Freiheitsprinzip hinweisen, denn es handelt sich um eine freiheitsentziehende Maßregel. Die Intensität des Eingriffs „Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu zwanzig Jahre“ kann nur als schwer bezeichnet werden.27 Die empirische Basis dieser Argumentation ist gut belegbar: Die tatsächliche Anwendung dieser Maßregel bringt einen sicheren schweren Eingriff in das Freiheitsgrundrecht mit sich. Wie schon gesagt, sind hier auch die Einbußen bezüglich der Menschenwürde hinzuzurechnen, denn die Betonung „der kriminellen Gefährlichkeit“ und des Zwecks der Unschädlichmachung í den Interessen des Betroffenen gegenüber í unterstellt das Subjekt in größerem Maße dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit. In Bezug auf dieses Prinzip lässt sich die Intensität des Eingriffs nicht mehr so einfach bestimmen („leicht“? oder etwa „mittel“?). Denn dieser Eingriff verwirklicht sich nicht unmittelbar in dem Freiheitsentzug einer Person. Trotzdem erlaubt die Erwähnung eines anderen Kriteriums in der Entscheidung í „die individuelle Entwicklung der Erkrankung“ í eine relative Bewertung der Intensität der Eingriffe in das Menschenwürdeprinzip, etwa: Anwendung der Maßregel vorwiegend nach dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit = „mittel“, Anwendung der Maßregel vorwiegend nach der individuellen Entwicklung der Erkrankung = „leicht“. Der stark normative Inhalt dieses zweiten Prinzips führt nun ebenso dazu, bei der Bewertung der empirischen Basis prinzipiell nur die unteren Grade in Betracht zu ziehen: „plausibel“?, „nicht evident falsch“? Diese Argumentation lässt sich schematisieren. Das abstrakte Gewicht des Freiheits- und des Menschenwürdeprinzips ist in der Rechtsordnung 24

Vgl. Alexy GS Sonnenschein, 2003, 771 ff, 781 ff. STS 23.1.2004. 26 Auf der Ebene der empirischen Sicherheit lauten die drei epistemischen Stufen nach Alexy GS Sonnenschein, 2003, 789: „gewiss oder sicher (g), vertretbar oder plausibel (p) und nicht evident falsch (e)“. 27 Dazu siehe eingehend Urruela Mora Las medidas de seguridad, 2009, S. 150 ff. 25

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sehr hoch, also í nach einer arithmetischen Skalierung von 1 bis 3 í jeweils 3.28 In Bezug darauf könnten das Leben und die körperliche Unversehrtheit als Schutzbedürfnisse der Gesellschaft – und nicht als individuelle Grundrechte – eine mittlere Wertung verdienen, also 2.29 Und das lässt sich wie folgt ausdrücken:

Maßregel § 63

Gründe dafür 2+2

Gründe dagegen 3+3

Im Verhältnis zu den Eingriffs-/Erfüllungsintensitäten haben wir eine mäßige Erfüllung der spezialpräventiven Zwecke angenommen, denn die Gefährlichkeit des Betroffenen war zurzeit der Entscheidung ziemlich eingeschränkt30 í also 1. Dagegen war die Intensität des Eingriffs in das Freiheitsprinzip sehr hoch – also 3 –, während die Eingriffsintensität in das Menschenwürdeprinzip als „mittel“ í also 2 í annähernd geschätzt worden ist:

Maßregel § 63

Gründe dafür 2+2 1+1

Gründe dagegen 3+3 3+2

In Bezug auf die empirische Basis kann man nur den Eingriff in das Freiheitsprinzip als sicher bezeichnen í also 3. Das Menschenwürdeprinzip und die spezialpräventiven Zwecke erlauben es dagegen nur, die unteren Wertungen der Skalierung in Betracht zu ziehen:

Maßregel § 63

28

Gründe dafür 2+2 1+1 + 1+1 = (8)

Gründe dagegen 3+3 3+2 + 3+1 = (15)

Eingehend Alexy GS Sonnenschein, 2003, 783 ff. Erklärend siehe etwa STC 2.11.2004; BVerfGE 27, 1 (6): „In der Wertordnung des Grundgesetzes ist die Menschenwürde der oberste Wert.“; BVerfGE 7, 46 (405); BVerfGE 7, 28 (205); STC 5.5.2003: „en un Estado social y democrático de Derecho, como el que configura nuestra Constitución, la libertad personal no es sólo un valor superior del Ordenamiento jurídico (art. 1.1 CE), sino además un derecho fundamental (art. 17 CE), cuya trascendencia estriba precisamente en ser presupuesto de otras libertades y derechos fundamentales“; eingehend Sánchez Lázaro (Fn. 6) S. 175 ff. 30 STS 23.1.2004. 29

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Dass die Gründe gegen die Verhängung der Maßregel überwiegen, zeigt die Ineffizienz dieser Rechtsfolge als Ergebnis der Güterabwägung.31 Dieses Verfahren bedeutet einen Fortschritt im Vergleich zu vagen Andeutungen in Bezug auf die Notwendigkeit einer Güterabwägung, wobei die Zahlen freilich nur eine metaphorische Rolle spielen können.32 Trotzdem ist Welzel zuzustimmen: „ob und inwieweit der Eingriff gegenüber dem Betroffenen gerechtfertigt werden kann, ergibt sich nicht aus der bloßen Nützlichkeit für die Allgemeinheit, sondern aus der sittlichen Zulässigkeit gegenüber dem Betroffenen“,33 der seine Strafe bereits verbüßt hat. In diesem Sinne erweist sich der utilitaristische Vorschlag als noch unvollständig.

III. Zur Grundlage der Maßregeln der Besserung und Sicherung 1. Maßregeln als Freiheitsgründe Aus der Verbindung zwischen der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Zurechnungsunfähigkeit bzw. verminderten Zurechnungsfähigkeit des Betroffenen lässt sich ein erster Legitimationsgrund in Bezug auf die Anwendung des § 63 StGB herleiten: Es geht um Aspekte des Freiheitsprinzips.34 Aus dieser Sicht bedeutet die Anwendung dieser Maßregel an einem zurechnungsunfähigen Handelnden in erster Linie einen Eingriff in seine Freiheit in einem schwachen, vorwiegend phänotypischen Sinne, die jeglicher Moral entsprechend entbehrt.35 Dabei geht es um die Wiederherstellung einer Freiheit in einem starken Sinne, welche dem Betroffenen als Mensch eigen ist (II. 1.) und welcher moralische Bedeutung sowie í im Rahmen des juristischen Diskurses í strafrechtliche Schuld zugeschrieben werden können.36 Dies ermöglicht es, den Eingriff gegenüber dem Betroffenen zu rechtfertigen und ebenso ein 31

In diesem Sinne siehe erklärend Mathis (Fn. 18) S. 208, 211 ff. Vgl. Alexy GS Sonnenschein, 2003, 783. 33 Welzel (Fn. 10) S. 244 f. 34 Vgl. ebenso Art. 95 ff Código penal español; Art. 59 ff schw. StGB; Art. 215, 222, 224, 232 Codice penale. 35 So meint etwa Jakobs Schuld und Prävention, 1976, S. 17: „Bei den nach § 20 StGB, also wegen ,biologischer‘ Defekte Unfähigen, handelt es sich um Personen, bei denen mit dem Fehlen der Zurechnung als schuldhaft zugleich deutlich gemacht wird, daß sie als vollwertiger Partner des sozialen Bereichs, den das Recht regelt, nicht in Frage kommen. Sie sind nicht das, was man im rechtmäßigen wie rechtswidrigen Verhalten selbst ist, sondern Störfaktoren, wie Naturkatastrophen Störfaktoren sein können.“ 36 Vgl. Nino (Fn. 8) S. 274 ff; zum Verhältnis zwischen dem juristischen Diskurs und dem allgemeinen praktischen Diskurs siehe zuletzt Bäcker Begründen und Entscheiden, 2008, S. 199 ff, 269 ff; dazu grundlegend Alexy Theorie der juristischen Argumentation, 2001. 32

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besseres Verständnis für die Voraussetzung dieser Maßregel zu gewinnen: unzureichenden Gebrauch der Freiheit37 oder anders ausgedrückt: die Begehung „einer rechtswidrigen Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21)“.38 Die graduelle Struktur des Freiheitsprinzips í verstanden als Optimierungsgebot í vereinfacht es andererseits, den problematischen Bereich dieser Maßregel adäquat zu erfassen. So sind diese Gründe í bezüglich des Freiheitsprinzips í beispielsweise in den Fällen verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht mehr nur als Legitimationsgründe í für die Anwendung í der Maßregel zu betrachten. Denn weil die Zurechnungsfähigkeit lediglich vermindert ist, bedeutet es, dass durch die Maßregel in eine Freiheitssphäre eingegriffen wird, welcher moralische Bedeutung sowie í im Rahmen des juristischen Diskurses í strafrechtliche Schuld zugeschrieben werden können. In solchen Fällen ist das Freiheitsprinzip auch zu den durch die Maßregel bedingten Einbußen zu zählen. Hierzu ein Beispiel: Nach STS 23.1.2004 soll A, als er die Tat beging, in einem akuten Anfall von Schizophrenie gehandelt haben, so dass er seine intellektuellen Fähigkeiten und seine Willenskraft gänzlich verloren hatte. In diesem Fall bringt die Anwendung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur unerhebliche Kosten für das Freiheitsprinzip mit sich, da es sich bloß um eine Freiheit in einem schwachen, vorwiegend phänotypischen Sinne handelt, in die durch die Maßregel eingegriffen wird.39 Dadurch wird das Freiheitsprinzip zum Legitimationsgrund der Anwendung der Maßregel, weil durch sie die Wiedererlangung der Freiheit in dem erwähnten starken Sinne ermöglicht wird. Aber diese Situation ändert sich in der Entscheidung, wenn der A „einer ambulanten Behandlung [Art. 105.1.a) span. StGB] unterzogen war [...] und eine positive Entwicklung sowie einen angemessenen Grad sozialer Anpassung zeigte“.40 Denn in diesem Moment offenbart sich das Freiheitsprinzip als guter Grund dafür, von der Maßregel abzusehen. Nun handelt es sich nämlich nicht mehr allein um eine Freiheitssphäre in einem phänotypischen Sinne, sondern um eine Freiheit, die in einem gewissen Maß auch moralisch und juristisch bedeutsam ist. Generell wird dem Freiheitsprinzip ein hohes abstraktes, normatives Gewicht zugeschrieben í nach der erwähnten triadischen Skalierung also 3. Was zur Zeit der Tat selbst noch als Legitimationsgrund für die Anwendung der Maßregel zu werten war, ist zur Zeit der Entscheidung ein Argument dafür gewor37 Die der Strafe jede moralische Legitimierung entzieht; vgl. Nino (Fn. 8) S. 274 ff; ebenso Hierro ADPCP 1989, 568, der auf die Willensfreiheit als „presupuesto valorativo general del sistema que convierte a la reacción penal en un reproche con contenido moral“ hinweist. 38 SK-Horn § 63 Rn. 1 ff. 39 Vgl. Jakobs (Fn. 35) S. 17. 40 STS 23.1.2004.

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den, von der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abzusehen. Das lässt sich wie folgt darstellen:

Maßregel § 63

Gründe zur Zeit der Tat +3

Gründe zur Zeit der Entscheidung í3

An zweiter Stelle bietet das Freiheitsprinzip auch einen guten Grund dafür, die Maßregel der ambulanten Behandlung gem. Art. 105.1.a) span. StGB gegenüber der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorzuziehen. Denn dadurch werden die Einbußen für das Freiheitsprinzip erheblich vermindert.41 Aber damit ist erst eine allgemeine, dem Betroffenen gegenüber legitimierende Begründung geschaffen. Die Anwendung einer Maßregel betrifft noch weitere Prinzipien und grundrechtliche Positionen, die im konkreten Fall í zusammen mit dem Freiheitsprinzip í in die Güterabwägung einzubeziehen sind. Letztendlich geht es immer um die Rechtfertigung konkreter grundrechtlicher Eingriffe. So können, wie gerade erwähnt, die unterschiedlichen Maßregeln in verschiedenem Maße in das Freiheitsprinzip eingreifen. Auch die konkrete Situation des Handelnden í etwa Zurechnungsunfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit í muss in die Betrachtung einbezogen werden. Denn diese bestimmt das Maß des Eingriffs in die betroffenen Prinzipien. Dies kann in Bezug auf das oben erwähnte Beispiel wie folgt dargestellt werden: Gründe dagegen Gründe dafür 2+2 3+3 Maßregel § 63 1+1 3+2 + 1+1 + 3+1 = (8) = (15) Als Argumente für die Verhängung der Maßregel sind in der beispielhaft dargestellten Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofs nur präventive Gründe erwähnt worden,42 die sich im Prinzip auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit beziehen í also: 2+2. Die Einschlägigkeit derartiger spezialpräventiver Zwecke scheint eher mäßig (1+1). Denn die Gefährlichkeit des Betroffenen war zur Zeit der Entscheidung ziemlich eingeschränkt. Die empirische Basis solcher Argumentationsformen zwingt dazu, nur die unteren Werte der Skalierung in Betracht zu ziehen (1+1). Als Gegenargumente sind in erster Linie das Freiheits- und das Menschenwürdeprinzip zu erwähnen (3+3). Die Intensität des Eingriffs in das Freiheits41 42

Vgl. Urruela Mora (Fn. 27) S. 36, 39 ff. STS 23.1.2004.

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prinzip ist sehr hoch (3): Unterbringung einer Person, die einen angemessenen Grad sozialer Anpassung zeigt, in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu zwanzig Jahre. Die Eingriffsintensität in das Menschenwürdeprinzip ist bereits als „mittel“ í also 2 í bewertet worden. Denn bei der Anwendung der Maßregel wird im Wesentlichen auf die Sicherungsbedürfnisse der Allgemeinheit geachtet. In Bezug auf die empirische Basis kann nur der Eingriff in das Freiheitsprinzip als sicher bezeichnet werden (3). Was das Menschenwürdeprinzip und die spezialpräventiven Zwecke anbelangt, so kommen auf dieser Ebene lediglich die unteren Werte der Skalierung in Betracht (1). Das vorgeschlagene Modell ermöglicht auch eine Bewertung der Maßregel der ambulanten Behandlung gem. Art. 105.1.a) span. StGB. Hier wären als Einbußen diejenigen Aspekte zu betrachten, die für die Anwendung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sprechen: Gründe dagegen 2+2 Ambulante Behandlung 1+1 + 1+1 = (8) Die ambulante Behandlung bedeutet die Gefahr höherer präventiver Einbußen: Der Betroffene wird nicht eingeliefert, daher ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er ein Opfer verletzt oder umbringt. Solche Maßregeln können aber auch eine gewisse präventive Funktion erfüllen.43 Wird nun das Freiheitsprinzip als Argument für die Anwendung dieser Maßregel betrachtet, dann geht es nur um einen leichteren Eingriff in die Rechtssphäre des Handelnden, der aber eine Freiheit im starken Sinne wiederherzustellen vermag. Das abstrakte Gewicht des Freiheitsprinzips bleibt unverändert (also 3), aber der Realisierungsgrad kann auch die Kosten der ambulanten Behandlung für dieses Prinzip zeigen (also anstatt 3 etwa 2). In Bezug auf die empirische Basis kann man vielleicht nicht von einer sicheren Realisierung sprechen, denn die Behandlung könnte natürlich scheitern,44 aber zumindest doch von einer plausiblen Realisierung (also 2):45 Gründe dagegen 2+2 43

Gründe dafür 3

Näher Urruela Mora (Fn. 27) S. 202 f. Vgl. Urruela Mora Imputabilidad penal y anomalía o alteración psíquica, 2004, S. 142 ff. 45 Vgl. Alexy GS Sonnenschein, 2003, 789. 44

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Ambulante Behandlung

1+1 + 1+1 = (8)

2 + 2 = (7)

Auch das Menschenwürdeprinzip ist als Argument für die Anwendung der Maßregel der ambulanten Behandlung gem. Art. 105.1.a) span. StGB zu betrachten. Denn bei ihm ist in erster Linie auf „die individuelle Entwicklung der Erkrankung“ í statt auf das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit í zu achten.46 Gründe dagegen 2+2 Ambulante Behandlung 1+1 + 1+1 = (8)

Gründe dafür 3+3 2+2 + 2+1 = (13)

Die Überlegenheit der positiven Werte zeigt nun í insbesondere im Vergleich zu der Bewertung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus í die höhere Effizienz dieser zweiten Rechtsfolge:47 Durch leichte Eingriffe in das Freiheitsprinzip í aufgrund der ambulanten Behandlung í und niedrige präventive Einbußen wird eine bedeutend höhere Realisierung des Freiheits- und Menschenwürdeprinzips ermöglicht. Dieses Modell, insbesondere die Bestimmung der einzelnen Einbußen und Werte, mag aufgrund der begrenzten zur Verfügung stehenden Zeit und der Komplexität Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung bereiten.48 Die Abwägung könnte aber etwa durch allgemeine Leitlinien vereinfacht werden. Dies mögen drei als Beispiel formulierte Leitlinienzeigen: a) Das Freiheitsprinzip stellt einen guten Grund dafür dar, von den Maßregeln abzusehen.49 b) Das Freiheitsprinzip stellt einen guten Grund dafür dar, die Eingriffsintensität der Maßregeln zu minimieren.50 c) Das Menschenwürdeprinzip stellt einen guten Grund dafür dar, die Interessen des Betroffenen den Schutzbedürfnissen der Gesellschaft vorzuziehen.51 46

Dagegen STS 23.1.2004; siehe ferner Urruela Mora (Fn. 27) S. 117, 169. Es geht im juristischen Entscheiden also nicht mehr um die „einzig richtige Antwort“; dazu siehe zuletzt Bäcker (Fn. 36) S. 180 ff, 307 f. 48 Vgl. Bäcker (Fn. 36) S. 143 ff, 155 ff, 304 ff. 49 Im allgemeinen Muñoz Conde/García Arán PG S. 54 ff. 50 So etwa Boldova Pasamar ReCrim, 2009, 295 f; Frisch ZStW 102 (1990), 367 ff; Roxin AT I § 3 Rn. 67; Silva Sánchez (Fn. 4) S. 46. 51 Zuletzt Boldova Pasamar ReCrim, 2009, 302. 47

Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung und Sicherung

1229

Aber diese und weitere Fragen müssen hier offen bleiben.

2. Zur Sicherungsverwahrung Festzuhalten bleibt aber, dass sich dieser Begründungsvorschlag nicht ohne Weiteres für eine Rekonstruktion aller Maßregeln der Besserung und Sicherung gleichermaßen eignet. Hierfür wäre weiter zu differenzieren und zu rationalisieren.52 Insbesondere erweist sich das Freiheitsprinzip als ungeeignet, das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung zu erfassen, da es sich um eine Rechtsfolge handelt, die eine mögliche lebenslange Verwahrung einer Person, die ihre Strafe bereits verbüßt hat, aus Gründen des Sicherungsbedürfnisses der Allgemeinheit vorsieht.53 In einem bekannten Urteil aus dem Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht dazu ausgeführt, dass die Menschenwürde „auch durch eine langandauernde Unterbringung nicht verletzt [wird], wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist. Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern“.54 Ebenso wenig soll eine mögliche lebenslange Verwahrung gegen den Wesensgehalt des Freiheitsgrundrechts verstoßen, „solange gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff zu legitimieren vermögen“.55 Durch diese Rechtsprechung werden das Freiheits- und das Menschenwürdeprinzip wesentlich entleert und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit unterstellt. Dennoch: Die Notwendigkeit von autoritativen und insofern willkürlichen Entscheidungen im juristischen Diskurs vereinfacht es, die Geltung des aktuellen Modells der Sicherungsverwahrung im deut-

52 Kritisch dazu Roxin AT I § 3 Rn. 66: „[Die Frage der Rechtfertigung der Maßregel] hat die Wissenschaft bisher weit weniger beschäftigt als die Frage nach der Rechtfertigung der Strafe, ist aber von nicht geringerer Bedeutung.“ 53 Siehe aber BVerfG NJW 2004, 739: „Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden.“; ebenso LK-Hanack § 66 Rn. 2:„Fragwürdig ist die Maßregel [...], weil der Gedanke, einen Menschen allein wegen seines Hangs zu Straftaten über das Maȕ seiner Schuld hinaus auf unbestimmte Zeit, möglicherweise auf Lebenszeit, zu verwahren, Bezüge zu sozialdarwinistischen Gedankengängen erkennen lässt.“ 54 BVerfG NJW 2004, 739, 740; zum modernen Strafrecht siehe zuletzt Hassemer FS Roxin, 2001, 1006 ff. 55 BVerfG NJW 2004, 739, 741; ebenso BVerfG NJW 2006, 3484 f; BVerfG NJW 2004, 750, 757: „Als Mittel zum Schutz von Leben, Unversehrtheit und Freiheit der Bürger kann der Gesetzgeber demjenigen die Freiheit entziehen, von dem ein Angriff auf die Schutzgüter zu erwarten ist.“; demgegenüber siehe zuletzt EGMR, Urteil vom 17.12.2009 – 1 9359/04 (M. v. Germany).

1230

Fernando Guanarteme Sánchez Lázaro

schen Verfassungssystem nachzuvollziehen56 í die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit obliegt allein dem BVerfG. Die besseren Argumente sprechen dagegen.57 Aber hier geht es in erster Linie darum, unserem hochverehrten Lehrmeister zu seinem 80. Geburtstag ganz herzlich zu gratulieren.

56 57

Dazu näher Bäcker (Fn. 36) S. 155 ff, 304 ff, 308. Vgl. Sánchez Lázaro ZIS 2008, 197 ff; so bereits Muñoz Conde GA 1984, 220 f.

V. Strafverfahrensrecht

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht HEIKE JUNG

I. Einführung Die Bielefelder Strafrechtslehrertagung vor dreißig Jahren verfolgte ein geschlossenes Konzept: Es wurden damals nämlich (fast) alle Beteiligte des Strafprozesses „durchdekliniert“. Eine übergreifende Erklärung für diesen Ansatz, den Prozess unter dem Blickwinkel der handelnden Personen zu betrachten, blieben wir allerdings schuldig. Die einzelnen Referenten gingen zielsicher auf „ihre“ Figur zu.1 Vielleicht meinten wir damals ja, zum Grundsätzlichen sei schon alles gesagt.2 Claus Roxin kam nach meinem Bielefelder Vortrag auf mich zu und drückte mir ohne viele Worte die Hand. Ich habe dies wie einen Ritterschlag empfunden. Bei Claus Roxin gehen persönliche Zuwendung und fachliche Inspiration Hand in Hand. Für die wohlwollende Begleitung auch meines wissenschaftlichen Werdegangs und Wirkens bin ich ihm dankbar. Wenn ich nun auf das Bielefelder „Generalthema“ zurückkomme, um konzeptionell etwas nachzulegen, will ich damit den Prozessualisten Claus Roxin ehren. Er hat wie kaum ein anderer zur Erhellung der allgemeineren Zusammenhänge des Strafprozesses beigetragen.3 Der Begriff „Rolle“ ist vielseitig verwendbar. Am häufigsten gebrauchen wir ihn wohl als Synonym für Bedeutung oder Relevanz. Erst wenn wir zugespitzter, wenn auch immer noch sehr allgemein, von sozialer Rolle sprechen, wird unser Blick von der Welt der Dinge auf die Welt der Perso1 Vgl. im einzelnen Geisler ZStW 93 (1981), 1109; Jung ZStW 93 (1981), 1147; MüllerDietz ZStW 93 (1981), 1177; Gössel ZStW 94 (1982), 5; Schild ZStW 94 (1982), 37. MüllerDietz spricht immerhin den Aspekt der Rollenambivalenz (Subjekt/Objekt) des Beschuldigten an (Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1216 f). 2 K. Peters hatte am Beispiel der Rollenproblematik die Sinnhaftigkeit einer Strafprozesslehre illustriert: K. Peters GS H. Peters, 1967, 891. Für Schreiber figurierte die Rollenproblematik als einer der zentralen Topoi seines Referats auf der Göttinger Strafrechtslehrertagung: Schreiber ZStW 88 (1976), 117, 132. 3 Allein schon durch sein nicht nur für Generationen von Studierenden maßgebliches, inzwischen von Bernd Schünemann in der 26. Auflage fortgeführtes Lehrbuch „Strafverfahrensrecht“.

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Heike Jung

nen gelenkt, auf deren Positionierung und deren Interaktion in einem personalisierbaren Bezugsfeld. Nun ist der Begriff der sozialen Rolle, wie wir wissen, ein wenn auch weithin vertrauter (soziologischer) Fachbegriff. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir ihn in der prozessualen Diskussion verwenden, korreliert mit einer gewissen Unsicherheit, was den (juristischen) Orientierungswert anbetrifft. Er rivalisiert zudem mit anderen Begriffen. Neben dem schon erwähnten Begriff der Stellung sind dies namentlich die Begriffe „Akteur“ und „Institution“. Aber vielleicht ist diese Vielfalt der Begriffe eher hilfreich als störend, wenn es darum geht, dem Rollenbegriff Konturen zu verleihen, weil diese Konturen in der Abgrenzung deutlicher hervortreten könnten. Die Konnotationen des Rollenbegriffs sind freilich, selbst wenn wir nur die personalisierte Variante im Auge haben, nicht eindeutig. Denn wir dringen damit nicht nur in die Welt der Sozialwissenschaften, sondern auch in diejenige des Theaters vor. Auch die Soziologen räumen ja gerne ein, dass sie den Rollenbegriff aus der Sprachwelt des Dramas entliehen haben.4 Vergleiche der Strafjustiz mit dem Theater sind zwar schon etwas abgegriffen, aber immer noch lohnend, gerade in einer Zeit, in der der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens starke Rückschnitte erfährt. Das denkbare Potential eines rollenorientierten Ansatzes reicht jedoch über die Inszenierung und damit über die Verbindung von Theater und Öffentlichkeit hinaus. Prozessrollen werden nämlich nicht durch das Prinzip der Öffentlichkeit definiert und bedingt. Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, welcher Erkenntniswert einer rollentheoretischen Betrachtung des Strafprozesses innewohnt. Dies wird sich nur klären lassen, wenn wir zunächst einmal Inhalt und Leistungsfähigkeit des Begriffs der (sozialen) Rolle bestimmen. In einem nächsten Schritt werden wir uns dem Vergleich von Justiz und Theater zuwenden, ehe wir einen „Testlauf“ für den Erkenntniswert einer solchen rollenorientierten Betrachtungsweise machen können. Man verrät sicher nicht zu viel mit der Feststellung, dass es sich um eine weitere Übung zu Roscoe Pounds berühmter Dichotomie „law in the books vs. law in action“ handeln wird.

II. Rolle - Akteur - Institution Der Rollenbegriff ist eigentlich ein Spätankömmling in der Soziologie, obwohl man rückblickend meinen könnte, dass es ihn schon immer gegeben hat. Seine Väter sind die amerikanischen Strukturalisten. In die deutsche 4

Popitz Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Recht und Staat Heft 331/332, 1975, S. 3.

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

1235

soziologische Diskussion wurde er durch Dahrendorf eingeführt.5 Seine klassische Ausformulierung fand er bei Popitz. Daneben gilt es freilich, einen davon unabhängigen, eher philosophisch-typologisierenden Entwicklungsstrang zu notieren,6 den die Juristen gerne bis zu jener römischrechtlichen Figur des „bonus pater familias“ zurückführen. Der soziologische Rollenbegriff ist von vornherein ambivalent: Als eigentümlich eingängiger Allgemeinbegriff zur Bezeichnung von „Grundrissen sozialer Beziehungen“ fungiert er zugleich als analytisches Mittel zur Erfassung sozialer Handlungen und als Konstruktionsmittel zur Darstellung sozialer Strukturen.7 Er ist wie eine Sehhilfe, die es uns ermöglicht, vom Konkreten zu abstrahieren, ohne die lebendige Anschauung ganz zu verlieren. Bei Popitz liest sich das dann so: „Soziale Rollen sind zwar von der ‚Gesellschaftǥ her gesehen Phänomene der normativen Spezialisierung, vom Einzelnen her gesehen sind sie Phänomene der sozialen Verallgemeinerung“8. Die intrikateste Frage stellt sich natürlich nach dem Verhältnis von Rolle und Individuum. Popitz verweist hier auf die Inkongruenz von Standard und Einzelfall. Rollen, so meint er, übernehmen wir gewissermaßen als Doppelgängertum unserer selbst.9 In der Popitz’schen Begriffsbestimmung schimmert noch ein weiterer Aspekt durch. Er bezeichnet nämlich Rolle als „Bündel von Verhaltensnormen, die eine bestimmte Kategorie von Gesellschafts- bzw. Gruppenmitgliedern im Unterschied zu anderen Kategorien zu erfüllen hat.“10 D. h. Rollen sind stets auf andere, genauer auf andere Rollen hin, angelegt. Damit haben wir nicht nur eine Festlegung im Verhältnis „Rolle / Individuum“ getroffen. Der Rollenbegriff suggeriert vielmehr auch - entsprechend seinem ursprünglichen Bezugsfeld – ständige Bewegung, ein Aufeinanderbezogensein der Handlungen der verschiedenen Rollenspieler, sozusagen ein ineinander greifendes Handlungsgefüge – sicher ein Merkposten wenn wir nach der Umsetzung auf den Strafprozess fragen. Irgendwie holt uns schließlich doch der Normbegriff ein. Denn die soziale Rolle soll die besondere normative Situation der Inhaber bestimmter Positionen bezeichnen.11 Dabei will Popitz hier zwischen Rollennorm und Rollenbrauch unterscheiden. Diese Differenzierung will unter soziologischen Gesichtspunkten nicht recht einleuchten, weil man das normspezifische Kriterium der Sanktionierung im Grunde auch für soziale Gewohnheiten in 5

Vgl. Dahrendorf Homo Sociologicus, 15. Aufl. 1977. Z. B. Philipps Zur Ontologie der sozialen Rolle, 1963. 7 Popitz (Fn. 4) S. 7. 8 Popitz (Fn. 4) S. 11. 9 Popitz (Fn. 4) S. 17. 10 Popitz (Fn. 4) S. 21. 11 Popitz (Fn. 4) S. 31. 6

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Heike Jung

Anspruch nehmen kann, zumal wenn die Bräuche, wie es bei Popitz heißt, in vielfältiger Weise durch soziale Standardisierungen gekennzeichnet sein sollen, die ihrerseits zumindest durch abgeschwächte Formen der Sanktionierung abgesichert werden können. Auch hier haben wir es mit einer Differenzierung zu tun, die uns möglicherweise noch beschäftigen wird, eher freilich in dem Sinne einer Differenzierung zwischen Norm und Usance, also im Sinne der Abweichung vom idealen Rollenbild. Die dem Rollenbegriff inhärente soziale Verallgemeinerung von Individuum zu Rollenträgern ist sicher typisch für ausdifferenzierte Gesellschaften, die in arbeitsteiligen aufeinander bezogenen Systemen organisiert sind. Bleibt die Frage, wie sich der Rollenbegriff dabei von jenen begrifflichen Konkurrenten unterscheidet, die gleichfalls auf eine Art „Entpersönlichung“ von Personen zielen, nämlich der Akteur und die Institution. Die Antwort ist im Grunde in den Charakteristika der Rolle angelegt. Der Begriff des Akteurs hat mit dem Begriff der sozialen Rolle vieles gemein,12 nicht zuletzt die Verbindung zur Sprachwelt des Theaters. Möglicherweise lässt der Begriff der sozialen Rolle die interaktionistischen Zusammenhänge, das Eingebettetsein in einen sozialen Zusammenhang, stärker hervortreten. Mit der sozialen Rolle assoziieren wir insofern Ausdifferenzierung, zugleich aber auch normative Erwartungen an die verschiedenen Rollenträger. Beim Akteur steht dagegen die Perspektive der Gestaltungsmacht im Vordergrund. Namentlich die Gegenüberstellung von „Akteur und Struktur“13 verlangt gewissermaßen nach einem Bekenntnis in der alten Frage, ob die sozialen Zusammenhänge und damit auch deren Veränderungen eher von Personen oder von Sachgesetzlichkeiten bestimmt werden. Natürlich sind auch Akteure in einen sozialen Zusammenhang eingebettet, besser vielleicht, sie agieren von einem bestimmten sozialen Hintergrund aus in einem bestimmten sozialen Kontext. Dies wird durchaus typisierend herauspräpariert. Insofern stimmen soziale Rolle und Akteur überein, als sie auf den ersten Blick eine personenorientierte Betrachtung eines Systems und seiner Steuerung suggerieren, die aber gerade nicht individualisierend gemeint ist. Überspitzt formuliert: Die Person taucht - im Gegensatz zum Individuum - als solche in der Soziologie gar nicht auf. Dementsprechend zielen verfahrenssoziologische Betrachtungen - jedenfalls traditionell - nicht auf einen bestimmten Richter oder einen bestimmten Verteidiger. Selbst die (Wieder-) Entdeckung von Befindlichkeiten und Gefühlen von Entscheidungsträgern macht diese nicht zu Menschen aus 12

Näher zum Begriff des Akteurs Jung Kriminalsoziologie, 2. Aufl. 2007, S. 28. Dazu auch das Kapitel „Des structures aux acteurs“ bei Noiriel Introduction à la sociohistoire, La Découverte, Paris 2006, S. 36. 13

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

1237

Fleisch und Blut, sondern zum Diskussionsgegenstand und integrierendem Bestandteil eines empirischen Designs. Am weitesten wird die Entpersonalisierung natürlich mit dem Begriff der Institution getrieben. Der Begriff verdankt sich dem Bedürfnis, zwischen der Institution und den Menschen, die sie ausfüllen, zu unterscheiden und auf diese Art Zuordnungen und Zuschreibungen vornehmen zu können, die von Personen losgelöst sind und damit auch den Wechsel der Personen überdauern (Stichwort: Kontinuität). Man kann es natürlich auch umgekehrt sehen: Institutionen erlauben es den Beteiligten, sich als Person hinter ihnen zu „verstecken“.

III. Der Prozess als Theater Vertrauter noch als ein Denken in sozialen Rollen, fast schon eine Art Klischee der Prozessbetrachtung, ist das Denken in Rollen im Spiel und im Theater. In neuerer Zeit haben Legnaro/Aengenheister mit ihrer ethnographischen Studie über „Die Aufführung von Strafrecht“14 einmal mehr den Vergleich von Justiz und Theater bemüht.15 Der Gerichtssaal wird von ihnen mit dem Blick für das bedeutungsvolle Detail als Bühne präsentiert: „Viele unterschiedliche Stücke mit vielen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren. Aber immer die gleichen Rollen. Fast immer sitzt die Staatsanwaltschaft an der Längsseite vor dem Fenster, psychologisch günstig von hinten beleuchtet, Sachverständige daneben. Angeklagte und Verteidigung auf der gegenüberliegenden Seite. Nur Spötter unter den Anwälten führen das darauf zurück, daß sie auf diese Weise, am Gericht vorbei, Reden zum Fenster hinaus halten dürfen, die nichts bewirken.“16 Der Vergleich von Justiz und Theater hat vieles für sich und dennoch hinkt er wie viele Vergleiche. Eigentlich verbietet er sich sogar; denn die Justiz stellt eine Zwangsveranstaltung dar, das Theater bietet hingegen ein kulturelles Angebot. Das eine ist Ernst, das andere Spiel. Man sollte meinen, diese Unterschiede genügten, jedweden Vergleich zurückzuweisen. Dennoch ist dieser Vergleich gängig und zählebig; zu vermuten ist daher, dass doch etwas dran ist. In der Tat: In beiden Fällen wird ein Rahmen vorgegeben, ein Ausschnitt aus der Welt, eine Bühne. Beide, Justiz und Theater, zielen, wenn auch mit verschiedenen Intentionen auf das Publikum. Beide haben ihnen eigene, dem Alltag entrückte Sprachformen und Riten

14 15

1999. Vgl. auch unter dem spezifischen Aspekt der Fernsehkultur Boehme-Neßler ZRP 2003,

125. 16

Legnaro/Aengenheister (Fn. 14) S. 8.

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entwickelt. Sie stellen ein kleines Universum für sich dar. Die Vorgänge werden nach einem bestimmten Plan verhandelt. Vor Gericht herrscht die Regie des Gesetzes. Die „Professionellen“ walten ihres Amtes. Alles ist freilich auf die Laien ausgerichtet. Sie sind die eigentlich Betroffenen. Um sie geht es primär, wenn man einmal von der erhabenen Idee der Rechtsverwirklichung absieht. Insofern wird die Justiz zelebriert und damit anschaulich gemacht. Beide, Gericht und Theater, vermitteln also Botschaften. Bei Gericht wird die Ermittlung der Wahrheit in Szene gesetzt. Insofern ist der Ausgang einer Hauptverhandlung stets offen oder sollte es doch sein (siehe Unschuldsvermutung!). Die Dramaturgie des Theaters steuert dagegen auf einen bekannten Ausgang zu, ja der Erfolg des Theaters gründet geradezu auf der Wiederholung eines oftmals über Jahrhunderte bekannten, wenn auch vielleicht zeitgenössisch adaptierten oder je nach Regie variierten Repertoires. Freilich geht es in beiden Fällen doch irgendwie um Geschichten. Während beim Theater die Geschichte vorgegeben ist, wird sie bei Gericht erst aus den rivalisierenden Geschichten herauspräpariert. Am Schluss siegt freilich nicht unbedingt die beste Geschichte, eher die kohärenteste.17 Die Bedeutung des Narrativen wird nur jene überraschen, die den Prozess als prognostizierbare Übung in Sachen „Beweisrecht“ ansehen. Sachverhalte sind eben auch Geschichten mit einem zugegebenermaßen eigenen Produktionsprozess. Damit werden wir auf das Kapitel: „Entscheidungsfindung und -begründung“ verwiesen, das wir hier nicht weiter vertiefen können.18 Stattdessen kehren wir noch einmal zu dem Stichwort „Publikum“, in der Justizsprache „Öffentlichkeit“, zurück. Das Theater verlangt nach Publikum. Für die Justiz gilt das gleichermaßen, wenn auch mit einer etwas anderen Nuance, der Öffentlichkeitswirksamkeit. Bei „Öffentlichkeit“ denken wir in erster Linie an deren Kontrollfunktion. Öffentlichkeit bedeutet freilich mehr. Sichtbarkeit der Justiz ist ein existentieller Wirkmechanismus „Justice must be seen to be done“19 mit der Folge, dass die Handlungen der Justiz auf Außenwirkung angelegt sein müssen. Bezogen auf die Strafjustiz trägt die Präsentation eines fairen Prozesses zur Legitimation von Strafjustiz überhaupt bei.20 So gesehen ergeben sich Berührungspunkte zum Theater, auch was das generalpräventive Programm anbetrifft, jedenfalls dann, wenn man dem Theater eine edukative Rolle zuweist.

17

Vgl. auch Ohler in: Jung (Hrsg.), Das Recht und die schönen Künste, 1998, S. 63. Näher dazu Jung Richterbilder. Ein interkultureller Vergleich, 2006, S. 89. 19 Lord Hewart in: R. v. Sussex Justices ex parte McCarthy, 1924, 1 KB 256 259. 20 Vgl. Jung FS Hassemer, 2010, 73. 18

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

1239

Allerdings setzt die Justiz nicht durchgehend auf Öffentlichkeit. Ja, die öffentliche Hauptverhandlung wird zunehmend seltener.21 Als Forum für die eigentliche Entscheidung tritt sie mehr und mehr zurück. Das Ermittlungsverfahren präformiert vielfach das Ergebnis. Bei der Verständigung im Strafprozess wird der Grundsatz der Öffentlichkeit wenn überhaupt dann nur noch mühsam gewahrt. Diese Überlegungen machen eines deutlich: Der Vergleich von Justiz und Theater bezieht sich auf die Hauptverhandlung. Hier kommt die forensische Rhetorik zum Tragen. Hier haben die Beteiligten ihre Auftritte und wissen sie auch zu zelebrieren. Nicht von ungefähr misst man Strafverteidiger noch heute an ihren Plädoyers. Von der Kärnerarbeit im Ermittlungsverfahren ist nicht die Rede. Ja, solche Plädoyers können geradezu zum Selbstläufer werden, wenn einer der Verteidiger aus Daumiers Karikaturenwelt „Les gens de justice“ sich mit stolz geschwellter Brust an seine weinende Mandantin wendet: „Sie haben zwar Ihren Prozess verloren, aber dafür hatten Sie das Vergnügen, mich plädieren hören.“22 Natürlich kennt auch das Ermittlungsverfahren Rollen und Rollenskripte. Sie werden uns in Kriminalfilmen ständig vorexerziert. Irgendwie hat dieses Genre freilich eine eigene Rollenkultur entwickelt, die wir nicht mit dem Gericht in Verbindung bringen. Oder hinkt unser, auf die Hauptverhandlung fixiertes, prozessuales Rollenverständnis nur einfach der Verfahrenswirklichkeit hinterher, die ja eher durch Wolters Feststellung gekennzeichnet ist, wonach das Ermittlungsverfahren der eigentliche Höhepunkt des Verfahrens ist?23

IV. Die Rolle der Rolle Betrachtungen über (soziale) Rolle, Rollenspiele und Theater wirken nach alledem irgendwie abgehoben vom konkreten Prozessrecht. In der Tat: Bei der Suche nach der „Rolle der Rolle“ wird man im positiven Recht nicht recht fündig. Deutlicher: „Rolle“ ist kein juristischer Begriff, der Ableitungen für das positive Recht erlaubt. Es will eher umgekehrt scheinen, dass das positive Recht das Skript für die einzelnen Rollen schreibt. Eher taugt der Begriff der Rolle für die Prozessdogmatik. Er ist durchaus eingeführt, wenn es darum geht, dass eine Figur des Verfahrens in ein ande21 Heinz FS Müller-Dietz, 2001, 271, 300 nennt bekanntlich eine „Hauptverhandlungsquote“ von 20% für die verhängten Sanktionen. 22 „Vous avez perdu votre procès. C’est vrai ... mais vous avez du éprouver bien du plaisir à m’entendre plaider“. 23 Wolter Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991, S. 35.

1240

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res Kleid schlüpft. Wenn der Angeklagte zum Zeugen mutiert, spricht man etwa von Rollenwechsel und diskutiert unter diesem Rubrum die Frage, nach welchen Kriterien (formell vs. materiell) die Zulässigkeit eines solchen Rollenwechsels beurteilt werden soll.24 Ähnliches gilt etwa für die Frage, ob z. B. ein Staatsanwalt als Sitzungsvertreter amtieren kann, wenn er zuvor als Zeuge herangezogen wurde.25 Der Begriff der Rolle ist also eher ein solcher der Strafprozesslehre oder vielleicht sollten wir sagen der Verfahrenssoziologie. D.h. der Begriff der Rolle eröffnet eine spezifische Verständnisebene des Strafprozesses. Er ermöglicht nämlich eine bildhafte Kommunikation über die Verfahrensbeteiligten und ihre Interaktionen. Die Prozesstheorie macht ja vielfältige interdisziplinäre Anleihen, um Verfahren und Verfahrensabläufe begreifbar zu machen. Die Anleihen bei der Rollentheorie gehören mit zu den ältesten. Nun reicht der Erkenntniswert natürlich über die Tatsache hinaus, dass sich im Prozess Personen mit unterschiedlichen Funktionen und Positionen gegenüberstehen. Der Begriff der (sozialen) Rolle erlaubt vielmehr auch den Zugriff auf Erwartungen an die Beteiligten. Insofern diskutiert man unter diesem Rubrum das übliche Erscheinungsbild der Prozessfiguren oder auch Diskrepanzen zwischen dem Soll- und dem Istzustand (1). Er fungiert auch als Plattform für den Austrag von konfligierenden Erwartungen an die Beteiligten. Hier spricht man dann vom Rollenkonflikt (2). Der Begriff kann aber auch als Anknüpfungspunkt für Diskussionen über die Emanzipation bestimmter Verfahrensbeteiligter dienen (3). ad1) Der Begriff der Rolle wird gerne ins Spiel gebracht, wenn etwa auf das verbreitete Erscheinungsbild des Staatsanwalts als einem rigorosen Vertreter der Anklage angespielt wird, obwohl die Dinge doch sehr viel differenzierter liegen. Zum einen erwartet das Gesetz vom Staatsanwalt auch Ermittlungen zu Gunsten des Angeklagten. Zum anderen stellt die Staatsanwaltschaft längst eher eine „Einstellungsbehörde“ als eine Anklagebehörde dar. In der Strafprozessvergleichung wird gerne auf die unterschiedlichen Rollen des Richters im anglo-amerikanischen Prozess im Verhältnis zur Rolle des Richters in der Mehrzahl der kontinental-europäischen Prozessordnungen verwiesen, also auf das Bild vom Schiedsrichter im Parteienstreit, obwohl auch hier die schroffe Gegenüberstellung der Richterbilder eine Überzeichnung darstellen dürfte.26

24

Vgl. dazu nur Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, S. 184 f. Egon Müller in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, 1989, S. 83. 26 Allg. zu Prozessmodellen Jung FS WaltoĞ, 2000, 27. 25

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

1241

ad2) Als Paradebeispiel für Rollenkonflikte im Bereich der Strafrechtspflege gilt die Bewährungshilfe.27 Sie teilt mit der Sozialarbeit deren allgemeinen kompensatorischen Auftrag zur Hilfe und mit dem System der Strafrechtspflege deren Kontrollfunktion. Heute ist es um dieses in den Siebziger und Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebhaft traktierte Thema28 etwas ruhiger geworden. Was ehedem als zentrale Selbstverständnisdebatte galt, hat sich heute nach einer jahrzehntelangen Kooperation der Sozialarbeit mit der Justiz auf ganz bestimmte Traktanden verengt, in denen der Rollenkonflikt exemplarisch zu Tage tritt. Hierzu zählt namentlich der Informationsfluss zwischen Bewährungshilfe oder - gewissermaßen die modernisierte Variante - zwischen den Mediatoren im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs29 und der Strafjustiz. Dabei steht der Antagonismus „Diskretion vs. Information“ auch für die Nähe oder Ferne zur Justiz, anders gewendet für die begrenzte oder bedingte Autonomie derartiger Dienste. ad3) Im Verfahren gibt es voll ausgebildete Rollen und Krypto-Rollen. In der Sprache des Theaters könnte man auch von Haupt- oder tragenden Rollen und von Nebenrollen sprechen. Auf den Prozess gemünzt bedürfen diese Bilder der Erläuterung. Sie überschneiden sich nämlich mit einer genuin prozessrechtlichen Differenzierung nach „Subjekt“ und „Objekt“ des Verfahrens. Hier schwingt auch die Tatsache mit, dass verfahrensentscheidende Personen in der Hauptverhandlung eher als Randfigur auftreten. Wir sind uns sicher einig, dass Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Beschuldigter als Hauptrollen ausgestaltet sind, was nicht unbedingt heißt, das ihre Rollen in jeder Hinsicht gleichgewichtig sind. Speziell bezüglich des Beschuldigten haben wir ja lange warten müssen, bis das Verständnis vom Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens gereift war. Anderen Beteiligten, wie z. B. den Verletzten, hat man erst in unseren Tagen im sozialen Verständnis des Verfahrens eine richtige Prozessrolle zugedacht, was schlussendlich auf die Entwicklung der Rolle von Zeugen abgefärbt hat. Eine besondere Rolle nimmt der Polizist als Zeuge ein. Er hat seine vielfach entscheidenden Akzente im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gesetzt, also bevor die (eigentliche) Inszenierung beginnt. In der Hauptverhandlung selbst ist er ein Zeuge neben anderen.30

27

Dazu z. B. Jung FS Göppinger, 1990, 511. Z. B. Müller-Dietz MschrKrim 1975, 1. 29 Zu Berichts- und Zeugnispflicht von Mediatoren Jung GS Burmeister, 2005, 171, 179. 30 Ein Musterbeispiel für diese Ambivalenz liefert Simenons „Maigret vor dem Schwurgerichte“; dazu Jung JZ 2010, 885. 28

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V. Fazit Wie man den Ertrag dieser zugegebenermaßen eher skizzenhaften Betrachtung einschätzt, hängt vom Blickwinkel ab: Für eine positivistische Exegese des Verfahrensrechts hat sie nur geringe, vielleicht sogar überhaupt keine Relevanz. Prozesstheoretische Studien dieser Art verfolgen denn auch eine andere Zielsetzung. Ihnen geht es um das Verständnis des Verfahrens als solches, um Gesamtzusammenhänge, Modelle und Konzepte. Hier wird gewissermaßen die Landschaft beschrieben, in der man sich bewegt, was bekanntlich erst die Orientierung im Detail ermöglicht. Die Rollentheorie verhilft dazu, den Prozess selbst und seine Darstellung ins Auge zu fassen. Das Recht wird erst durch die Personen, die es administrieren, sinnfällig. Unser Thema reicht jedoch über die Notwendigkeit der Anschauung hinaus. Es führt uns auch zu Fragen der Macht und der Machtbalance, die sich uns besser erschließen, wenn wir sie an Rollen und Akteuren festmachen können. Nur so wird die Dynamik des Verfahrens deutlich. Insofern lohnt es bei Reformen eine Art „Rollentest“ zu machen, um zu klären, welche Rückwirkungen auf andere Rollen damit verbunden sind. Unter diesem Blickwinkel stimmen die Reformen der letzten Jahrzehnte durchaus nachdenklich. Sie kennen nämlich, was die Rollenverteilung anbetrifft, im wesentlichen zwei Sieger: Zunächst die Staatsanwaltschaft! Beginnend mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts aus dem Jahre 197531 bis zu den neueren Diskussionen über die Relativierung des Richtervorbehalts32 kann man eine kontinuierliche Linie aufzeigen. Dies müsste eigentlich durch Korrekturen am Status der Staatsanwaltschaft (Stichwort: mehr Unabhängigkeit) kompensiert werden, wenn man nicht will, dass das Strafverfahren immer mehr in einen „Administrativprozess“ hinübergleitet. Aber auch das Opfer zählt zu den Gewinnern. Dies ist im Prinzip begrüßenswert. Freilich: Eine allzu populistische Rollenidentifikation mit dem Opfer (Stichwort: „virtuelle Opfer“) könnte das rechtsstaatliche Programm des Strafprozesses destabilisieren.33 Statt nach dem Ertrag der Rollentheorie für die Betrachtung des Strafprozesses zu fragen, könnte man natürlich mit Claus Roxin den Spieß auch umdrehen und nach der Bedeutung des Strafprozesses für das Verständnis der Rollentheorie fragen. So gesehen liefert der Strafprozess nämlich ein

31

Dazu Jung JuS 1975, 261. Vgl. etwa Lilie ZStW 111 (1999), 807. 33 Mehr dazu z. B. bei Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit, 2002; Böttcher FS Schöch 2010, 929; Weigend FS Schöch, 2010, 947. 32

Der Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht

1243

probates Exerzierfeld für rollentheoretische Ansätze.34 Interdisziplinarität ist eben keine Einbahnstraße!

34

So Roxin in: Göppinger/Kaiser (Hrsg.), Kriminologie und Strafverfahren, Kriminologische Gegenwartsfragen, Heft 12, 1976, S. 9, 10.

Wider das systemlose AbwägungsStrafprozessrecht Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht1 JÜRGEN WOLTER

I. Systemlose Strafprozessgesetzgebung Claus Roxin hat in seinem Berliner Vortrag über „Die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft“ im Jahre 1999 ausgeführt: „Das geltende Strafprozeßrecht in ein konsistentes, Rechtssicherheit gewährendes und gleichwohl für neue Entwicklungen offenes System zu bringen, ist eine gewaltige Zukunftsaufgabe, die bei uns vielfach noch nicht einmal erkannt und nur ansatzweise in Angriff genommen worden ist. Zentrale Problemfelder wie die Beweisverbotslehre … oder auch nur die Reichweite des nemo tenetur-Prinzips werden vom Gesetzestext weitgehend ignoriert und sind ebenso wie die Grundrechte in ein systematisch ausgearbeitetes Gesamtkonzept unseres Prozeßrechts noch keineswegs hinreichend integriert worden“.2 Diesen Befund habe ich schon 2001 in der Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag an den Anfang meines Beitrags gestellt und seinerzeit ein zukünftiges Strafprozessrechtssystem in den ersten Umrissen zu zeichnen unternommen: „Kriminalpolitik und Strafprozessrechtssystem“. Der Befund Claus Roxins hat im vergangenen Jahrzehnt nicht an Gültigkeit verloren. Die Bemühungen der Wissenschaft um ein Strafprozessrechtssystem stehen – anders als bei dem über Jahrzehnte hinweg ausgearbeiteten Strafrechtssystem – nach wie vor am Anfang. Eine moderne Gesamtmonographie fehlt. Großkommentare und Lehrbücher bilden nur 1 Im Wesentlichen dargestellt am Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG v. 21.12.2007 (BGBl I S. 3198) – in Kraft ab 1.1.2008, sowie am Gesetz zur Umsetzung des Urteils des BVerfG v. 3.3.2004 (akustische Wohnraumüberwachung) v. 24.6.2005 (BGBl I S.1841) – in Kraft ab 1.7.2005. 2 In: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 371.

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Teilstücke ab. Der Gesetzgeber hat die Praxis „alleingelassen“ und die Strafprozessrechtswissenschaft nicht hinreichend beteiligt. Kriminalpolitik bedeutet von Gesetzes (und Rechtsprechungs) wegen regelmäßig Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (unten II.) und Ausreizung der Vorgaben des BVerfG für die heimlichen Ermittlungsmethoden (unten 1.a], 4.c]). Das Gesetz (etwa die §§ 160a Abs. 2 S. 1, 100c Abs. 6 S. 2 StPO) wie die Rechtsprechung des BVerfG (hier der 2. und 1. Kammer des 2. Senats) und des BGH bauen mit diesem Ziel das systemlose AbwägungsStrafprozessrecht bei (ungeschriebenen) Beweisverwertungsverboten für „Untersuchungsfunde“ und neuerdings bei geschriebenen Verwendungsverboten für Zufallsfunde (namentlich bei § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) immer weiter aus.3 Die Systemwidrigkeiten durch einseitige Strafprozessrechtspolitik und unberechenbare Abwägungsdoktrin werden vermehrt durch Regelwidrigkeiten bei der Gesetzgebung. In die StPO ist seit 2000 zwar knapp 60mal eingegriffen worden; aber u. a. die Opferrechtsreformgesetze von 2004 und 2009, die Gesetze zur Änderung des Untersuchungshaftrechts und zur Verständigung im Strafverfahren von 2009 sowie vor allem die in dieser Abhandlung im Vordergrund stehenden Gesetze zur Wohnraumüberwachung von 2005 und zur Telekommunikationsüberwachung und anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen von 20084 lassen weder Konturen noch Systematik erkennen – und dies, obwohl der Gesetzgeber ganz ausdrücklich versuchen wollte, ein harmonisches Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen zu schaffen.5 Dieser Versuch ist gescheitert. Vielmehr häufen sich in weiten Bereichen namentlich der beiden zuletzt bezeichneten Gesetze die Beispiele für Verfassungswidrigkeit (bzw. verfassungsrechtliche Bedenken) einschließlich Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit, für Unrichtigkeit und Versehen, für Unzuständigkeit, Unvollständigkeit (auch unter Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt) und Systemlosigkeit. Auch bei der StPO stehen wir spätestens seit 2008 vor einem Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung.6

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Vgl. zuletzt etwa BVerfG NJW 2009, 3225 f; BGHSt 54, 69. Fn. 1. Zum Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren Schünemann GA 2010, 358. 5 BT-Drucks. 14/7008, 1; RegE (1) zum Telekommunikationsüberwachungsgesetz (Fn. 1); dazu Wolter GA 2007, 183 ff. 6 Entsprechend für den Bereich der StGB-Gesetzgebung pointiert Hirsch FS Puppe, 2011, 105 ff; vgl. auch Zöller GA 2010, 615 m. N. zu den §§ 89a, 89b, 91 StGB gemäß dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG) v. 30.7.2009 (BGBl I S. 2437) – in Kraft ab 4.8.2009; Hettinger GA 2010, 661 f; ferner Schroeder GA 2005, 307; ders. GA 2009, 213; Schünemann GA 2010, 358. 4

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1. Verfassungswidrigkeit (mit Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit i. e. S.) a) (1) Um einige Beispiele für die fehlerhafte oder zumindest problematische Strafprozessgesetzgebung zu nehmen: § 100c StPO a. F. (vor 2005), § 101 StPO a. F. (vor 2005) und § 100g StPO im Bereich der Vorratsdatenspeicherung (von 2008) sind vom BVerfG teilweise für verfassungswidrig erklärt worden.7 Der neue § 101 Abs. 5 S. 1 StPO von 2008 ist freilich – auch wenn er sich nunmehr allein auf den Verdeckten Ermittler und nicht mehr allgemein auf einen nicht offen ermittelnden Beamten des Polizeidienstes bezieht – weiterhin als nicht verfassungsgemäß einzustufen und insoweit zu streichen, da eine Gleichgewichtigkeit mit den anderen Zurückstellungsgründen nach wie vor nicht besteht und effektiver Rechtschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG insoweit nicht gewährleistet ist.8 Die neuerliche Entscheidung des Gesetzgebers bildet auch einen der bemerkenswerten Fälle, mit denen die Vorgaben des BVerfG mit gewundener Begründung oder Formulierung mehr als ausgereizt werden. (2) Gleiches gilt etwa für den neuen § 100c Abs. 4 StPO mit seiner negativen Kernbereichsprognose sowie für den – lediglich anders formulierten – § 100a Abs. 4 S. 1 StPO. Da die Vorschriften – durchaus entgegen den Ausgangspunkten des BVerfG9 – auch die Überwachung von „Mischgesprächen“ (über Höchstpersönliches und andererseits über Privates bzw. dann auch über begangene Straftaten) zulassen, hilft insoweit allein eine verfassungsrechtliche Reduktion (die zumindest bei § 100c Abs. 4 StPO durch den Passus „in der Regel“ vom Wortlaut her nicht ausgeschlossen scheint):10 Die Überwachung ist stets schon dann unzulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass der Zugriff Gesprächsbzw. Telekommunikationsinhalte erfasst, die zum Kernbereich privater Lebensgestaltung zählen. Ist also davon auszugehen, dass der Beschuldigte 7

BVerfGE 109, 279 (366 f); BVerfG NJW 2010, 833. Näher SK-StPO-Wolter § 101 Rn. 32; vgl. aber BT-Drucks. 16/5846, 60 f; KK-StPO-Nack § 101 Rn. 24; KMR-Bär § 101 Rn. 28. Immerhin umfasst § 101 Abs. 1, 5 S. 1 StPO nunmehr auch die Wohnraumüberwachung; § 110d Abs. 1 StPO a. F. ist 2008 hingegen gestrichen worden; und die praktische Unverzichtbarkeit oder gar der finanzielle Aufwand bieten angesichts des Art. 19 Abs. 4 GG keinen maßgebenden Grund. 9 BVerfGE 109, 279 (319 ff). Der § 100c Abs. 4 StPO bestätigende Beschluss der 3. Kam. des 2. Senats des BVerfG NJW 2007, 2754 f bleibt demgegenüber nicht deutlich genug und prüft zudem allein den verfassungsrechtlichen Rahmen, der durch die Fachrechtsprechung (entsprechend) ausgefüllt werden muss. Vgl. noch unten Fn. 10. 10 Im hier dargelegten Sinne deshalb für den parallelen § 100a Abs. 4 StPO auch BVerfG NJW 2009, 2437 Nr. 30; vgl. noch BVerfGE 113, 348 (390 ff); 120, 274 (338) (mit der Ausnahme des Missbrauchs i. S. der bewussten Verknüpfung von Kernbereichs- und Verfahrensrelevanz, um eine Überwachung zu verhindern). 8

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z. B. mit seinen engsten Angehörigen, Freunden oder einem Geistlichen, im Einzelfall mit seinem Vertrauensarzt, in einem (lebensnahen) Mischgespräch über Höchstpersönliches wie ggf. über begangene Straftaten spricht, greift mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG ein Beweiserhebungsverbot – flankiert durch ein Beweisverwertungsverbot nach den §§ 100c Abs. 5 S. 3, 100a Abs. 4 S. 2 StPO – ein. Hingegen darf die Überwachung angeordnet und durchgeführt werden, wenn – auch mit Blick auf die oben bezeichneten Vertrauenspersonen – (genügende) tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass nicht-höchstpersönliche, verfahrensbezogene Gespräche (namentlich über begangene Straftaten) geführt werden bzw. wenn die bezeichneten Personen einer Straftatbeteiligung einschließlich der §§ 257-259 StGB verdächtig sind.11 Bei § 100c Abs. 4 StPO kommen solche Ausnahmen auch bei Nutzung von frequentierten Geschäfts- und Betriebsräumen (vgl. § 100c Abs. 4 S. 2 StPO), bei beiden Regelungen zudem bei nicht-vertrauten Gesprächspartnern (vgl. § 100c Abs. 4 S. 1 StPO) in den Blick. (3) Bei dem aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für verfassungswidrig erklärten § 100g Abs. 1 S. 1 StPO i. V. m. den §§ 113a, 113b Abs. 1 S. 1 TKG hat der Gesetzgeber bisher nicht versucht, eine (ggf. nur vermeintlich) verfassungsgemäße neue Form zu finden. Aber selbst wenn eine solche Neuerung unter dem Druck der allgemeinen Sicherheitslage und dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit gelingen sollte: Der Gesetzgeber sollte dennoch erwägen, aus übergeordneten verfassungsrechtlichen Gründen des Gemeinwohls in einer freiheitlichen Demokratie auf verdachtsunabhängige Datenmengen zu verzichten.12 Das BVerfG deutet die Verengung der gesetzgeberischen Spielräume an – auch mit Blick auf andere umfangreiche Datensammlungen im Vorfeld (zuletzt SWIFT-Abkommen; „ELENAVerfahrensgesetz“). (4) Hingegen hat der Gesetzgeber den verfassungsrechtlich in erheblichem Maße bedenklichen § 163e Abs. 3 StPO13 durch das SIS-II-Gesetz vom 6.6.200914 noch einmal auf die Führer von ausgeschriebenen Wasserund Luftfahrzeugen sowie auf die Nutzer von ausgeschriebenen Containern ausgedehnt. Nunmehr können die Daten von Begleitern einer ausgeschrie11

Vgl. entsprechend Roxin FS Böttcher, 2007, 170; OLG Düsseldorf StV 2008, 181 f; Lindemann JR 2006, 198; KK-Nack § 100c Rn. 22; SK-StPO-Wolter § 100a Rn. 57, § 100c Rn. 57-60; ferner BGHSt 31, 300; Ruthig GA 2004, 598; Weißer GA 2006, 149; anders Rogall FS Fezer, 2008, 91 f (aber auch ders. ZG 2005, 175); KMR-Bär § 100c Rn. 27. 12 Näher SK-StPO-Wolter § 100g Rn. 40-40c, § 100i Rn. 24; ders. FS Roxin, 2001, 1167 ff; vgl. auch BVerfGE 65, 1 (43); 107, 328; 109, 279 (erg. unten bei Fn. 16). 13 HK-StPO-Zöller § 163e Rn. 9; Krahl NStZ 1998, 341; KMR-Plöd § 163e Rn. 7; BeckOK-StPO-Patzak § 163e Rn. 6; Riegel DVBl. 1987, 331; Rogall 13. Strafverteidigertag, 1989, S. 110; vgl. auch Meyer-Goßner § 163e Rn. 10. 14 Schengener Informationssystem der 2. Generation (BGBl I S. 1226).

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benen Person, die auch nur Begleiter einer Verbindungsperson des Beschuldigten sein können, sowie des Führers eines ausgeschriebenen Kraft-, Wasser- oder Luftfahrzeugs oder des Nutzers eines Containers gemeldet werden, obwohl diese Begleitpersonen als völlig unbeteiligte Dritte keinen Untersuchungsanlass gegeben haben und vom Staat mangels „Aufopferungsanlasses“ nicht im Wege solcher „Kontrollen im Vorfeld“ in Anspruch genommen werden dürfen. Die Freiheit solcher Personen ist justizfest; ihre Inanspruchnahme konterkariert die Grundvoraussetzungen eines Strafverfahrens und des Strafprozessrechts, und sie verletzt den Kernbereich von Art. 2 Abs. 1 GG.15 Hinzu tritt der schon bei § 100g StPO i. V. m. den §§ 113a, 113b TKG (a. F. wie etwaige n. F.) ins Spiel gebrachte Aspekt des Datenverzichts aus (außerstrafprozessualen, verfassungsrechtlichen) Gründen des Gemeinwohls in einer freiheitlichen Demokratie – freilich mit dem Unterschied, dass bei § 163e Abs. 3 StPO auch schon eine verfassungsgemäße strafprozessuale Regelung von vornherein ausscheidet, so dass der Demokratieaspekt lediglich bestätigenden Charakter besitzt.16 (5) Da das Betreten einer Wohnung durch einen Verdeckten Ermittler unter Verwendung einer Legende weder eine offene Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) noch als strafprozessuale Maßnahme die Gefahrenabwehr nach Art. 13 Abs. 7 GG betrifft, ist § 110c Satz 1 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 13 Abs. 1 GG verfassungswidrig.17 Insoweit helfen auch nicht ungeschriebene Schranken des Wohnungsgrundrechts. Denn der Verfassungsgesetzgeber hat mit den Abs. 2 und 7 von Art. 13 GG – und den umfangreichen neuen Abs. 3-5 – kundgetan, weitere Einschränkungen durch den einfachen Gesetzgeber nicht anzuerkennen.18 Sähe man § 110c Satz 1 StPO dennoch als eine durch den einfachen Gesetzgeber zulässig vorgenommene Einschränkung von Art. 13 Abs. 1 GG, läge jedenfalls ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 GG vor.19 Es ist unerfindlich, aus welchem Grund der Strafprozessgesetzgeber 2008 den § 110c StPO nicht revidiert hat. 15

Vgl. schon Wolter ZStW 107 (1995), 808 f; ders. FS Rudolphi, 2004, 738; ferner § 15 AE PolGNW (abgedruckt in: Bull, Sicherheit durch Gesetze?, 1987, 222); Wagner DuR 1989, 171; Gusy StV 1993, 271. Etwaige persönliche bzw. geschäftliche Beziehungen (vgl. insoweit Begründ. des Hamb. Gesetzes über die Datenverarbeitung; dazu Strate in: Hassemer/Starzacher [Hrsg.], Organisierte Kriminalität – geschützt vom Datenschutz?, 1993, S. 62 f) oder ein potenzielles Strafverfolgungsinteresse (Begleiter als etwaiger Gehilfe) reichen nicht aus. 16 Vgl. auch § 163e StVÄGE 1986 (abgedruckt in: Bull [Fn. 15], S. 237 f, 243); ferner BVerfGE 65, 1 (43); 107, 328; 109, 279 zur Beeinträchtigung des freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens; dazu auch Wolter FS Roxin, 2001, 1167 ff; § 150c Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), 2001, 63 f. 17 Vgl. auch Roxin StV 1998, 43; Nitz JR 1998, 213; Schneider NStZ 2004, 365; offen gelassen von BGH NJW 1997, 1517; anders z. B. KK-StPO-Nack § 110c Rn. 3. 18 Eisenberg NJW 1993, 1038; Frister StV 1993, 154; Weil ZRP 1992, 247. 19 Frister StV 1993, 153.

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(6) Ebenso sind die §§ 100c Abs. 6 S. 3, 160a Abs. 4 S. 1 StPO zumindest mit Blick auf den Verteidiger obsolet. Die Vorschriften zum Kollusionsverdacht missachten die doppelte Funktion des Strafverteidigers, die sich in einem öffentlich-institutionellen Schutz der besonderen Vertrauenssphäre nach Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 EMRK und § 148 StPO sowie in einem individuellen Schutz des besonderen Vertrauensverhältnisses nach Art. 1 Abs. 1 GG (u. a. mit der Aufgabe, den Beschuldigten nicht zum Objekt des Verfahrens werden zu lassen20) manifestiert.21 Entsprechendes gilt – freilich mit Blick allein auf den herausragenden öffentlich-institutionellen Schutz gemäß Art. 47, 46 GG – für den Abgeordneten.22 Im Übrigen offenbaren die genannten Vorschriften – ungeachtet des missglückten § 160a Abs. 5 StPO – die nicht nur systematische Disharmonie mit § 97 StPO.23 Denn die Rückverweisung in § 100c Abs. 6 S. 3 StPO auf § 160a Abs. 4 StPO hebt die Vorschrift in § 160a Abs. 5 StPO insoweit in sich auf (ein Beispiel von vielen für die systematischen Schwächen des Telekommunikationsüberwachungsgesetzes von 2008). Auch ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, dass in demselben Ermittlungsverfahren nach den §§ 53, 97 StPO absolute Zeugnisverweigerungsrechte und (zur Vermeidung ihrer Umgehung) absolute Beschlagnahmeverbote gelten, hingegen die vorgelagerten und „vorbereitenden“ Überwachungsmaßnahmen nach den §§ 100a, 100f-100i, 163e, 163f StPO gemäß § 160a Abs. 2 StPO bei zahlreichen Berufsgeheimnisträgern der Abwägung und nach der Gesetzesfassung weitreichend dem Vorrang des Strafverfolgungsinteresses anheimgegeben sind. (7) Weiter ist zu bemängeln, dass der mit Blick auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (i. e. S.) verfassungsrechtlich nicht einwandfreie § 89a StGB24 Eingang in die §§ 111, 100a, 100c und 112a StPO gefunden hat. Denn diese Verkoppelung dient nicht der praktisch bedeutungslosen repressiven Verfolgung und Aburteilung von Straftätern, sondern der präventiven Anknüpfung für strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen (auch nach den §§ 100f-100i StPO).25 20

BVerfGE 109, 279 (322); HK-StPO-Zöller § 160a Rn. 3. Wolter GA 2007, 191. Die §§ 160a Abs. 4 S. 1, 100c Abs. 6 S. 3 StPO fallen ohnehin hinter die Linie von BGHSt 33, 347 zu den §§ 100a, 97 StPO zurück. 22 Vgl. auch Wolter GA 2007, 186 ff m. N.; HK-StPO-Zöller § 160a Rn. 3; Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002, S. 6; ebenso Stellungnahme der Strafverteidigerverbände v. März 2004. Insoweit harmoniert § 97 Abs. 4 S. 1 StPO. 23 Vgl. auch die Hinw. zu § 97 StPO oben in Fn. 21, 22. 24 Näher Zöller Terrorismusstrafrecht – Ein Handbuch, 2009, S. 564 ff; ders. GA 2010, 615 ff m. N.; vgl. auch die Kommentierungen zu den §§ 89a, 89b und 91 StGB von NK-Paeffgen und Fischer. 25 Fischer § 89a Rn. 6; NK-Paeffgen § 89a Rn. 3; Walter KJ 2008, 445 f; Sieber NStZ 2009, 354 f; Zöller GA 2010, 620. 21

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b) Neben diesen Fällen der Aufhebung, Korrektur bzw. Nichtausführung (§ 100g StPO n. F.) von Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen treten solche, die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit i. e. S., bei § 163b StPO auch des Gleichheitssatzes, der verfassungsrechtlichen Reduktion bedürfen. Dazu gehören – ohne dass das hier näher ausgeführt werden kann – die Erhebung von Standortdaten nach § 100g Abs. 1 S. 3 StPO, die Gewinnung von Daten Dritter nach § 100i Abs. 2 StPO sowie die Maßnahmen nach § 163b Abs. 2 StPO gegenüber Unverdächtigen, soweit sie den Grundrechtseingriffen gegenüber Verdächtigen weitreichend gleichstehen.26 Hierzu zählt auch § 160a Abs. 2 StPO mit seinen das Abwägungsstrafprozessrecht betonenden relativen Erhebungs- und Verwertungsverboten (unten II. 3. a. E., 4.) sowie § 53a StPO i. V. m. den §§ 100c Abs. 6 S. 2, 160a Abs. 3, 97 Abs. 3, 4 StPO (unten 5. d]). c) Hinzu treten Erscheinungsformen von verdeckten Ermittlungsmaßnahmen, die mangels hinreichender Bestimmtheit/Normenklarheit verfassungsrechtlichen Bedenken unterfallen, die jedoch in restriktiver Form im Übergang für zulässig erachtet werden können. Dazu gehört z. B. die sog. Zielwahlsuche, die als besondere Form der Rasterfahndung ausdrücklich weder von § 100g Abs. 1 S. 1 StPO noch von den §§ 98a-98c StPO erfasst ist und die allenfalls i. S. einer verengten Regelung im Übergang (mit Anklängen an die §§ 100a, 100b StPO) zugelassen werden mag.27 Es erschließt sich nicht, weshalb der Gesetzgeber 200828 § 100g Abs. 1 S. 1 StPO für einschlägig gehalten hat. Vergleichbares (Übergangsbonus; Anlehnung an die §§ 100a, 100b StPO) gilt für die den Zugriff auf E-Mails, die auf dem (inländischen) Mailserver eines Providers (zwischen- oder end-)gespeichert sind. Dieser Zugriff wird weder von § 100a StPO29 noch von § 94 StPO30, auch nicht von § 99 StPO31, vollumfänglich umfasst. Es handelt sich bei dieser „E-Mail-Sicherstellung“ vielmehr um eine neuartige Form der „Postund Telekommunikationsbeschlagnahme“, die der (unmoderne) Gesetzgeber 2008 ignoriert hat und die angesichts des Analogieverbots und grund26

Vgl. dazu die Vorschläge von SK-StPO-Wolter § 100g Rn. 41, § 100i Rn. 20, § 163b Rn. 38 m. N. (erg. unten Fn. 53). 27 Näher SK-StPO-Wolter § 100g Rn. 27 f. 28 BT-Drucks. 16/5846, 54; vgl. auch BeckOK-StPO-Graf § 100g Rn. 10; KMR-Bär § 100g Rn. 21; Puschke/Singelnstein NJW 2008, 115; HK-GS-Hartmann StPO, § 100g Rn. 11. 29 LG Hamburg MMR 2008, 186 m. zust. Anm. Störing StV 2009, 70; Gaede StV 2009, 97. Bei dem parallelen Zugriff auf eine Mailbox hat der Ermittlungsrichter des BGH neben § 100a StPO auch auf den Regelungsgehalt der §§ 102, 103 StPO zurückgegriffen (NStZ 1997, 248; krit. Valerius JR 2007, 277). 30 BVerfG NJW 2009, 2431 m. zust. Anm. Klein NJW 2009, 2996; vgl. auch Szebrowski K&R 2009, 563 f. 31 BGH NStZ 2009, 397 m. zust. Anm. Bär (bei verdeckten Ermittlungen).

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rechtlichen Gesetzesvorbehalts32 auch nicht durch eine bloße Kombination der §§ 94, 99, 100a StPO i. V. m. den §§ 102, 103 StPO für zulässig erklärt werden kann.33

2. Unrichtigkeit und Versehen a) Neben die verfassungsrechtliche Korrektur des Gesetzes aus inhaltlichen Gründen (oben 1.) müsste ein „Berichtigungsgesetz“34 treten, weil z. B. das Telekommunikationsüberwachungsgesetz von 2008 in Teilen auch handwerklich unrichtig ist. So muss es in den §§ 101 Abs. 2 S. 1 und 100h Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 2 StPO jeweils „§ 100h Abs. 1 Satz 1 Nr.“ bzw. „Absatz 1 Satz 1 Nr.“ heißen. Und: Die §§ 100d, 100e StPO betreffen keine Maßnahmen (vgl. auch § 160 Abs. 4 StPO), so dass § 101 Abs. 1 StPO statt §§ „100c bis 100i“ den Passus „100c, 100f bis 100i“ aufweisen müsste. b) Darüber hinaus finden sich Versehen des Gesetzgebers von 2008 bei (der Beibehaltung von) Gesetzesfassungen, die zu erheblichen sachlichen Konsequenzen führen. Als Beispiel diene hier § 163d Abs. 1 S. 3 StPO („Die Übermittlung der Daten ist nur an Strafverfolgungsbehörden zulässig“).35 Damit ist eine Übermittlungsbefugnis an Präventiv-Polizeibehörden namentlich im Rahmen von und im Widerspruch zu § 477 Abs. 2 S. 3 StPO ausgeschlossen. Die Streichung von § 163d Abs. 4 S. 4 (Nutzung nur „für das Strafverfahren“) und S. 5 StPO a. F. (Verwendbarkeit von Zufallsfunden) ergibt entgegen der Gesetzesbegründung36 nichts anderes. Aus den §§ 477 Abs. 2 S. 2, 101 Abs. 1, 8 S. 1 StPO von 2008 kann man zwar schließen, dass nunmehr eine engere Zufallsfundregelung und insofern auch eine Ausnahme von § 163d Abs. 4 S. 2 Hs. 1 StPO gilt (Löschung, sobald „für das Strafverfahren“ nicht mehr benötigt) – denn § 101 Abs. 8 S. 1 StPO handelt weiterreichend von Daten „zur Strafverfolgung“37; jedoch geht es erneut allein um Datenübermittlungen im repressiven Bereich. Aber eben diese Vorschrift schließt dann wiederum vom Wortlaut her die Übermittlung an Präventivbehörden gemäß § 477 Abs. 2 S. 3 StPO aus. Vielmehr erscheint § 163d Abs. 1 S. 3, Abs. 4 S. 2 StPO als besondere Verwendungs-

32 Allg. Jäger GA 2006, 615 ff; Valerius JR 2007, 276 m. N.; für die analoge Anwendung der §§ 94, 98, 99 StPO bei der Beschlagnahme von E-Mails LG Ravensburg NStZ 2003, 326; für eine analoge Anwendung des § 99 StPO BMJ in: BVerfG NJW 2009, 2431 Nr. 34 (insoweit nicht abgedruckt). 33 Sankol K&R 2009, 998. Zum Ganzen SK-StPO-Wolter § 100a Rn. 32-40. 34 Dazu auch für den Bereich des StGB Hirsch FS Puppe, 2011, 22. 35 Zum „Versehen“ des Gesetzgebers SK-StPO-Weßlau § 477 Rn. 32. 36 BT-Drucks. 16/5846, 65. 37 Vgl. auch AnwK-StPO-Walther § 163d Rn. 13.

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regelung i. S. des § 477 Abs. 2 S. 1 StPO.38 Vergleichbares gilt für § 163c Abs. 3 StPO, der 2008 in der Sache unangetastet geblieben ist; die Vorschrift ist eine besondere Verwendungsregelung i. S. des § 481 Abs. 2 StPO.39 In § 477 Abs. 2 S. 4 StPO hätte im Übrigen neben § 163d Abs. 1 S. 3, Abs. 4 S. 2 StPO40 nicht nur § 481 StPO41, sondern auch § 111 Abs. 3 StPO (i. V. m. § 108 StPO) aufgenommen werden müssen. Dennoch wird man de lege lata von § 111 Abs. 3 StPO als lex specialis ausgehen müssen, so dass insoweit für Zufallsfunde § 108 StPO (mit Ausnahme von § 108 Abs. 1 S. 3 StPO) und nicht die Einschränkung nach § 477 Abs. 2 S. 2 StPO gilt.42

3. Unzuständigkeit Zum Teil war der Strafprozessgesetzgeber 2008 auch unzuständig. Dies gilt etwa für § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 3 und 4 StPO, da die Daten mit der Umwidmung den Charakter von Polizeidaten erfahren haben. Es sollte revidiert werden, den für die Gefahrenabwehr zuständigen Stellen in der StPO eine Löschungs- und Dokumentationspflicht aufzubürden (vgl. andererseits § 101 Abs. 3 S. 2 StPO).

4. Unvollständigkeit (mit Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt) Zur in Teilen feststellbaren Verfassungswidrigkeit, darüber hinaus zur teilweisen Unrichtigkeit und Unzuständigkeit gesellt sich streckenweise auch die Unvollständigkeit des Gesetzes. Diese Lückenhaftigkeit führt dann auch  mit schwerlich abweisbaren Konsequenzen  zu einem Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht. Anders als bei den Fällen von nur unbestimmten neueren Ermittlungsmaßnahmen und modernen Erscheinungsformen verdeckter Ermittlungen (oben 1. c]), etwa bei der Zielwahlsuche im Rahmen von § 100g StPO oder beim Zugriff auf die auf 38 § 163d StPO hätte insoweit wie z. B. § 100i Abs. 2 S. 2 StPO in § 477 Abs. 2 S. 4 StPO aufgenommen werden müssen – eines von vielen Beispielen dafür, welche systematischen Schwächen in dem Telekommunikationsüberwachungsgesetz 2008 verborgen sind. So bleibt etwa auch das Verhältnis des § 163d Abs. 1 S. 3 StPO zu § 483 Abs. 3 StPO unklar. 39 Freilich wird man angesichts der grundrechtlichen Schutzpflichten eine Ausnahme von dem Übermittlungsverbot im Falle der notwendigen Abwehr einer im Einzelfall bestehenden dringenden Lebens- und Gesundheitsgefahr machen müssen; dazu Wolter FS Roxin, 2001, 1153; § 150e Abs. 3 AE-EV (Fn. 16) nach einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG bei der Informationserhebung; vgl. noch den Rechtsgedanken in § 139 Abs. 3 StGB. 40 Vgl. o. bei Fn. 38. 41 Die Gesetzesbegründ. in BT-Drucks. 16/5846, 67 ist demgegenüber unbefriedigend. 42 Vgl. Meyer-Goßner § 477 Rn. 12; KK-StPO-Nack § 111 Rn. 16; im Ergebnis ein weiteres Beispiel für die systematischen Schwächen des Gesetzes (vgl. schon oben Fn. 38).

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dem Mailserver eines Providers gespeicherten E-Mails im Zusammenhang mit § 100a StPO, bei denen man wegen bloßer Nachlässigkeit des Gesetzgebers jeweils mit einem Übergangsbonus gewisse Abhilfe schaffen kann, greifen bei vom Gesetzgeber bewusst herbeigeführten Lücken grundsätzlich Beweisverwertungs- bzw. Verwendungsverbote ein. a) Ein Beispiel für diese Fälle bilden die §§ 477 Abs. 2 S. 2, 108 StPO, die bei der heimlichen Herstellung von Bildaufnahmen außerhalb von Wohnungen nach § 100h Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO die Verwendung von Zufallfunden planvoll und ausdrücklich offengehalten haben. Der Verweis auf den Rechtsgedanken von § 108 Abs. 1 StPO, der sich jedoch auf die offene Durchsuchung und Beschlagnahme bezieht, oder auf den allgemeinen § 479 StPO verschlägt nichts. Die Verwendung von Zufallsfunden nach speziellen Maßnahmen ist ein erheblicher Grundrechtseingriff und bedarf einer besonderen Befugnisnorm.43 Dies ergibt sich schon aus den §§ 477 Abs. 2 S. 2, 100d Abs. 5, 100i Abs. 2 S. 2 und 108 Abs. 2, 3 StPO i. V. m. § 477 Abs. 2 S. 4 StPO selbst, die 2008 allesamt gesetzgeberisch „behandelt“ worden sind. Es erhellt aber auch daraus, dass die Verwendung von Zufallsfunden (wie die Verwertung von Untersuchungsfunden) ein sich fortsetzender und regelmäßig vertiefender Grundrechtseingriff ist,44 und schon deshalb im grundrechtlichen Bereich (hier von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Erhebungseingriffs verbleibt.45 Im Ergebnis wird man bis zu der erforderlichen gesetzlichen Regelung allein bei Zufallsfunden, die  wie vielfach  auf rechtmäßige Weise erlangt worden sind, eine (eingeschränkte) Verwendung zulassen können  und zwar insoweit, wie die Zufalls-Straftaten wiederum allein auf den Beschuldigten bezogen sind und zugleich zu einem verengten Katalog von Delikten (etwa nach § 138 StGB, ggf. § 100a StPO) gehören. Sind die Zufallsfunde hingegen auf rechtswidrige Weise gewonnen worden, gelten übergangslos grundsätzlich absolute Verwendungsverbote entsprechend dem Rechtsgedanken in den §§ 477 Abs. 2 S. 1, 160 Abs. 4 StPO; davon lässt sich mit Blick auf das Geringfügigkeitsprinzip allenfalls dann eine Ausnahme machen, wenn es sich um einen Minimalverstoß im Ausgangsverfahren (etwa eine ganz geringfügige Fristüberschreitung) handelt und wenn die Verwendung gegen den Beschuldigten im Hinblick auf die Erforschung der Wahr43

Vgl. auch § 150f Abs. 2 AE-EV (Fn. 16), Begründ. 73; allg. Art. 8 Abs.1 S. 2, 52 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU; HK-StPO-Zöller § 163d Rn. 19 bzgl. der Spurenansätze. 44 BVerfGE 100, 313 (360); 107, 299 (328); 109, 279 (374, 379 f); 110, 33 (73, 75); ferner § 150f Abs. 2 AE-EV (Fn. 16), Begründ. 73; Schwabenbauer NJW 2009, 3209; Dallmeyer HRRS 2009, 430; zur Gefahr der Sammlung und Weitergabe von staatlich gewonnenen Informationen BVerfGE 65, 1 (40 ff); 85, 402; 100, 313 (316). 45 Vgl. BVerfGE 109, 279 (375) zu Art. 13 Abs. 1 GG; BVerfGE 100, 313 (360) zu Art. 10 Abs. 1 GG; Dallmeyer HRRS 2009, 430.

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heit und im Vergleich mit der Fortsetzung und Vertiefung des Grundrechtseingriffs hingenommen werden kann.46 Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Erhebungseingriff gemäß § 100h Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO im Vergleich zu den Maßnahmen z. B. nach den §§ 100a, 100c, 100f StPO als geringer gewichtig erscheint und dass jedenfalls § 160a Abs. 1 S. 5 wie § 101 Abs. 1 StPO – anders als § 477 StPO – den § 100h StPO vollständig mit einbeziehen (was in einem weiteren Zusammenhang die Systemferne des Telekommunikationsüberwachungsgesetzes 2008 aufscheinen lässt – schon abgesehen davon, dass auch die §§ 163b, 163c StPO keine Zufallsfund-Vorschrift enthalten).47 b) Ein anderes Beispiel ist die bewusste Nichtregelung der Befugnis, in Rechte „unvermeidbar betroffener Dritter“ einzugreifen (anders die §§ 100c Abs. 3, 100f Abs. 3, 100h Abs. 3, 163f Abs. 2 StPO; ferner § 100i Abs. 2 StPO, die z. T. unter unterschiedlichen Begrifflichkeiten leiden). Dies gilt etwa für § 100a StPO48 und § 100g StPO (hier insbesondere für die Funkzellenabfrage). Wegen der 2008 bewusst herbeigeführten Lücke ist grundsätzlich erneut für besondere Beweisverwertungs- und Verwendungsverbote zu plädieren.49 Entsprechend sind die unvermeidbar betroffenen Dritten in die §§ 160a, 148 StPO und in den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (etwa § 100a Abs. 4 StPO) einzubeziehen. c) Ohnehin ist der Kernbereichsschutz allein mit den §§ 100a Abs. 4, 100c Abs. 4 StPO nur unzureichend verwirklicht. Der absolute Menschenwürdeschutz, der im Übrigen weiter reicht als der Kernbereichsschutz (Stichworte: Verbot der Totalüberwachung und der Schaffung umfassender Persönlichkeitsprofile; Ausforschungsverbote bei Umgehung von Schweigerechten; unten II. 2., 3.), sollte  entgegen den Intentionen des Gesetzgebers  klarstellend auch bei den anderen (speziellen) Ermittlungsmaßnahmen (etwa bei den §§ 100f - 100h, 110a - 110c, 163b - 163f StPO), am ehesten durch eine verallgemeinernde Vorabvorschrift „vor der Klammer“, in der StPO verankert werden (mit der Folge von absoluten Erhebungsver46 Vgl. zu dieser im Bagatellbereich nicht unvertretbaren Interessenabwägung – in anderen Zusammenhängen – Wolter FS Roxin, 2001, 996, 1007; SK-StPO-Wolter § 100f Rn. 27, § 100d Rn. 69; unten 5. e) m. Fn. 66; anders wohl Singelnstein ZStW 120 (2008), 887. 47 Ein weiteres Beispiel, das hier nicht aufgegriffen werden soll, ist die Heranziehung der Zeugenvorschriften für den Einsatz von V-Personen (dazu BT-Drucks. 12/989, 41; BGH NStZ 1995, 513 m. Anm. Lilie/Rudolph; näher SK-StPO-Wolter § 110a Rn. 3, § 110c Rn.11a). 48 Vgl. auch Bundesrat BT-Drucks. 16/5846, 81 (eine Regelung befürwortend); abl. Bundesregierung BT-Drucks. 16/5846, 92 (Überregulierung!); demgegenüber jedoch die §§ 23a Abs. 6 S. 2 ZFdG, 20l Abs. 1 S. 2 BKAG, 31 Abs. 2 S. 1 PolG Rh.-Pf., 28b Abs. 1 SPolG im Bereich der präventiven Telekommunikationsüberwachung. 49 Wiederum ggf. mit Ausnahme von Bagatellfällen. Anders z. B. bei § 100g StPO BTDrucks. 16/5846, 55 (uneingeschränkte Verwertung als Beweismittel und Ermittlungsansatz); zust. Meyer-Goßner § 100g Rn. 27; HK-GS-Hartmann § 100g Rn. 12.

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boten, bei erst späterer Offenkundigkeit der Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG – entsprechend den §§ 100a Abs. 4, 100c Abs. 5 StPO – mit nachfolgenden Unterbrechungs-, Löschungs- und Dokumentationsgeboten sowie mit absoluten Beweisverwertungsverboten).50 Das BVerfG hat jedenfalls jüngst den absoluten Kernbereichsschutz selbst für § 94 StPO angemahnt.51

5. Systemlosigkeit und Inkonsequenz a) Eine Mitursache für die Systemferne des Gesetzes ist, dass die speziellen Ermittlungsmaßnahmen (u. a. §§ 81a ff, 94 - 111, 163b - 163f StPO) – ohnehin nicht unterschieden nach offenen und verdeckten Maßnahmen – wahllos in verschiedenen Büchern und Abschnitten der StPO verteilt sind. § 101 StPO als überladene Sammelvorschrift für Verfahrenssicherung bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen (und damit nunmehr jenseits von § 81e StPO) steht dabei gleichsam „mittendrin“. Auch sind bei den speziellen Ermittlungsmaßnahmen die Differenzierungen z. B. der Verdachtsgründe,52 der überzogen aufgefächerten Subsidiaritätsklauseln53 sowie der Straftatkataloge (einschließlich Versuch, Vorbereitung, Beteiligung)54 teilweise nicht plausibel. Die gesetzlichen Konkretisierungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips geraten so zu systemlosem Abwägungsrecht. Zudem ist es zu kompliziert und z. T. systematisch nicht nachvollziehbar, die Vorschriften über die Verwendung von Zufallsfunden (z. B. die §§ 108, 100d Abs. 5, 477 Abs. 2; § 160a Abs. 1 S. 1, 5 StPO) und über die Übermittlung von Daten (§§ 161 Abs. 2, 3, 100d Abs. 5, 477 Abs. 2 S. 3, 481 StPO; ferner §§ 479, 483, 487 StPO) derart zu verstreuen. Vergleichbares gilt für die Verwendungsverbote (§§ 98c S. 2, 160 Abs. 4, 477 Abs. 2 S. 1, 481 Abs. 2 StPO). b) Unabhängig davon ist § 160a StPO – schon abgesehen von den §§ 97, 100c Abs. 6 StPO – systematisch inmitten der speziellen Ermittlungsmaßnahmen (zwischen den §§ 94 ff und den §§ 163 b ff StPO) verfehlt platziert und zentriert. Wenn man schon die Nähe zu den absoluten Zeugnisverweigerungsrechten gemäß den §§ 53, 53a StPO (als „§ 53b StPO“55) vermeiden 50

SK-StPO-Wolter § 100f Rn. 32-39; vgl. auch die §§ 150a, 150e AE-EV (Fn. 16). BVerfG NJW 2009, 2435 f; Sankol MMR 2007, 171; LG Hamburg CR 2008, 323. 52 So weist die kurzfristige Observation nach den §§ 161, 163 StPO denselben Verdachtsgrad (bloßer Anfangsverdacht) auf wie die längerfristige Observation gemäß § 163f StPO; vgl. auch HK-StPO-Zöller § 163f Rn. 4. 53 Krit. SK-StPO-Wolter § 163e Rn. 18 m. N. Andererseits ist es unverständlich, dass bei den §§ 100i, 111, 163d StPO als tiefgreifenden Grundrechtseingriffen eine Beweisnotstandsklausel gänzlich fehlt. 54 Zur fehlenden Systematik insoweit SK-StPO-Wolter § 100a Rn. 44, § 100g Rn. 18, § 100c Rn. 41a, 42 – auch zur Reduktion der Vorbereitungstaten. 55 So noch der RegEntw. 2007; ferner ASP (Fn. 22); Strafverteidigerverbände (Fn. 22). 51

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wollte, obwohl die Reichweite des § 160a StPO vom Umfang der §§ 53, 53a StPO abhängt, hätte sich ein Standort jenseits des § 163f StPO oder sogar – da § 160a Abs. 1 S. 2, 5 auch von der Verwendung von Zufallsfunden handelt – bei den bisherigen (§§ 477, 481 StPO) oder künftigen Verwendungsvorschriften angeboten. Ohnehin bleibt das Verhältnis von § 160a und § 477 StPO im geltenden Recht weitgehend offen. Insgesamt scheint das neue Strafprozessrecht für den Rechtsanwender schwerlich handhabbar. c) Auch das Verhältnis von Kernbereichs- und Zeugnisverweigerungsrechtsschutz ist gesetzgeberisch nicht klar genug herausgestellt worden.56 Immerhin lässt sich festhalten, dass § 160a StPO erst dann zum Zuge kommt, wenn die jeweilige Ermittlungsmaßnahme unter dem Aspekt des Kernbereichsschutzes (z. B. für Verteidiger, Geistliche, Ärzte, Familienangehörige und enge Freunde) zulässig gewesen ist.57 Zudem besitzt der Kernbereichsschutz nach der Wertung des Gesetzes Vorrang, u. a. auch deshalb, weil die §§ 100c Abs. 6, 160a Abs. 4 StPO beim Kollusionsverdacht Einschränkungen machen (die allerdings nach den vorangegangenen Erwägungen nicht allesamt einsichtig sind – oben 1. a]). Freilich scheint auf dieser Grundlage § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO – zumindest im Bereich der Abwehr von Vermögensgefahren – weder konsequent noch inhaltlich überzeugend. Denn er höhlt den Kernbereichsschutz unangemessen aus – etwa bei einem Gespräch des Beschuldigten in seiner Privatwohnung mit seinem Verteidiger, der zugunsten des Beschuldigten vorrangig nach § 100c Abs. 4 StPO, zugleich jedoch über § 100c Abs. 6 S. 1 Hs. 2 StPO als Berufsgeheimnisträger besonders geschützt ist (oben 1. a]). Die These in der Gesetzesbegründung, dass „Informationen, die zur Abwehr der in [§ 100d]Absatz 5 Nr. 2 genannten Gefahren notwendig sind, von vornherein nicht dem Kernbereich zuzurechnen sein werden“58, geht deshalb insoweit fehl. Die Erkenntnisse stammen nun einmal aus der Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.59 d) Eine systematische und inhaltliche Fehlentwicklung des Gesetzgebers liegt auch in der Behandlung des § 53a StPO. Die §§ 100c Abs. 6 S. 2, 160a Abs. 3, 97 Abs. 3, 4 StPO legen beredtes Zeugnis ab.60 Dabei ist der Schutz 56

Unklar BT-Drucks. 16/5846, 36 f; Reiß StV 2008, 542, 544 f; KK-StPO-Griesbaum § 160a Rn. 3, 12, 15; Meyer-Goßner § 160a Rn. 4, 17; KMR-Plöd § 160a Rn. 4, 8, 9; ferner Bosbach NStZ 2009, 179; KMR-Bär § 100c Rn. 36. 57 Vgl. auch zu § 100c StPO: BVerfG (3. Kam. des 2. Senats) NJW 2007, 2756 f; MeyerGoßner § 100c Rn. 23; HK-StPO-Gercke § 100c Rn. 34. 58 BT- Drucks. 15/5486, 18; vgl. auch Löffelmann ZIS 2006, 96 Fn. 134. 59 Wolter FS Küper, 2007, 714. 60 Krit. deshalb Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 1998, 91; Welp in: Zwiehoff (Hrsg.), „Großer Lauschangriff“, 2000, S. 293; ASP (Fn. 22) S. 3, 9; Tsambikakis in: Wieviel Sicherheit braucht die Freiheit?, 2007, S. 286.

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nach § 53a StPO bei der intensivsten Ermittlungsmaßnahme nach § 100c StPO (wie der Straftatenkatalog, die Zuständigkeit, die Zufallsfundregelung usf. in den §§ 100c, 100d StPO erweisen) am schwächsten ausgeprägt. § 100c Abs. 6 S. 2 StPO ist schon de lege lata in der Richtung von § 160a Abs. 3 StPO verfassungsrechtlich zu reduzieren.61 e) Schließlich ist das Gesetz uneinheitlich in dem Gebrauch der Begriffe ,,Verwertung“ und ,,Verwendung“. Über die Sprachenvielfalt hinweg sollte leitend sein (und war lange Zeit bis zum Jahr 2008 leitend), dass bei der Nutzung/Nutzbarkeit von Untersuchungsfunden im Ausgangsverfahren von Verwertung (§ 136a Abs. 3, § 100c Abs. 5 S. 3, § 100a Abs. 4 S. 2 StPO) und bei der Nutzung/Nutzbarkeit von Zufallsfunden in einem anderen Strafverfahren von Verwendung zu handeln ist (etwa § 477 Abs. 2 S. 2, § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO; vgl. auch § 100b Abs. 5 a. F. StPO). Ebenso gebraucht das Gesetz konsequent den Begriff Verwendung, wenn die Daten unter weiterer Zweckumwandlung vom strafprozessualen Ausgangsverfahren in ein Polizeiverfahren übermittelt werden (§ 477 Abs. 2 S. 3, § 481 Abs. 1, § 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO) oder umgekehrt von einem präventivpolizeilichen Ausgangsverfahren in ein Strafverfahren gelangen (§ 161 Abs. 2, 3, § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO). Auch in den beiden letztgenannten Fällen der Zweckentfremdung von Daten durch Übermittlung an andere Behörden für andere Verfahren geht es um die Verwendung von Zufallsfunden, weil die Untersuchung allein auf anders bestimmte Zwecke anderer Organe im Ausgangsverfahren gerichtet war. – Des Weiteren arbeitet das Gesetz – von den bezeichneten Zufallsfunden abgesehen – systemschief mit dem ,,Oberbegriff Verwendung“, wenn sowohl die Verwertung von Untersuchungsfunden (§ 160a Abs. 1 S. 2 StPO) wie die Verwendung von Zufallsfunden betroffen ist (§ 160a Abs. 1 S. 5 i. V. m. S. 2 StPO), obwohl man hier besser getrennt in Satz 5 von Verwendung und in Satz 2 von Verwertung gesprochen hätte. Insofern scheint dann auch § 160a Abs. 2 S. 3 StPO in der Begriffswahl ("Verwertung") nicht gänzlich unzutreffend, jedoch systemschief; denn insoweit wird die Unterscheidung von § 160a Abs. 1 S. 2, 5 StPO zwischen der Nutzung von Untersuchungsfunden und von Zufallsfunden in nicht nur systematisch bedenklicher Weise nicht wieder aufgegriffen.62 Die heutige Lage wird dadurch unübersichtlich und systemfern, dass der Gesetzgeber in dem neuen § 108 Abs. 2, 3 StPO – einer Zufallsfundregelung – von der „Verwertung zu Beweiszwecken“ (statt von „Verwendung zu Beweiszwecken“ – so jedoch zutreffend § 161 Abs. 2, 3, § 477 Abs. 2 S. 61

Vorbildlich insoweit § 20u Abs. 3 BKAG. Vgl. die Kritik bei Glaser/Gedeon GA 2007, 425 (Nutzungsverbot); aber auch BVerfG NVwZ 2009, 107; zu den Konsequenzen im Einzelnen SK-StPO-Wolter § 160a Rn. 41. 62

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2 StPO) spricht. Und zur Sprach- und Systemverwirrung hat nunmehr auch die 2. Kammer des 2. Senats des BVerfG63 beigetragen. Denn die in sich besonders problematische Abwägungsdoktrin bei den Beweisverwertungsverboten wird kurzerhand auf die „als Zufallsfund beschlagnahmten Beweismittel“ und damit auch auf die Verwendungsverbote übertragen (II.). Lässt man diese Besonderheiten beiseite64 und folgt man der Generallinie des Gesetzgebers, so ist der neuerdings durch eine schwerlich haltbare BGH-Entscheidung zur Abwägungsdoktrin bei Verwendungsverboten65 ins Wanken geratene § 100d Abs. 5 StPO (unten II.) als leitende und weitreichend differenzierende Zufallsfundvorschrift durchaus zutreffend formuliert: Es geht in allen drei Fällen (Nr. 1 – 3) von § 100d Abs. 5 StPO um die Verwendung von Zufallsfunden. Und im jeweiligen Ausgangsverfahren der Untersuchung nach § 100c StPO (§ 100d Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2 StPO) bzw. bei der Ausgangs-Überwachung nach Polizeirecht („entsprechende polizeirechtliche Maßnahme" einer Wohnraumüberwachung gemäß Nr. 3) differenziert der Gesetzgeber danach, ob die in diesem AusgangsÜberwachungsverfahren erlangten personenbezogenen Daten in sich verwertbar sind (Nr. 1, 3; Nr. 2 S. 2) oder nicht (Nr. 2 S. 1). Diese Verwertbarkeit kann z. B. bei Nr. 3 u. a. davon abhängen, ob überhaupt eine gültige Rechtsgrundlage im Polizeirecht besteht, ob die Voraussetzungen einer hinreichenden Rechtsgrundlage erfüllt oder nicht (durchweg) gegeben sind, ob der Nutzung (Verwertung) von Überwachungsdaten der Kernbereichsschutz im Polizeirecht, die Grenzen des Art. 13 Abs. 4 GG als „Übermittlungs-Niveau“ und dann auch die demgemäß etwa fehlende richterliche Anordnung, des weiteren etwaige Zeugnisverweigerungsrechte oder Beweisverwertungsverbote gemäß den polizeilichen Vorschriften entgegenstehen.66 Auch sonst ist § 100d Abs. 5 StPO, zumindest in seinen Varianten der Nr. 1 und Nr. 3 (und anders als Nr. 2), für die Zufallsfunddogmatik fortschrittlich und gesetzgeberisch überzeugend konzipiert. Denn – betrachtet man § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO („Sind verwertbare personenbezogene Daten durch eine entsprechende polizeirechtliche Maßnahme [d.h. eine polizeirechtliche Wohnungsüberwachung] erlangt worden“): Neben der Verwert63

NJW 2009, 3225. Allg. Dencker FS Meyer-Goßner, 2001, 237, 243, 254; Singelnstein ZStW 120 (2008), 865 ff. 65 BGHSt 54, 69 m. krit. Anm. Gusy HRRS 2009, 489. 66 Die Polizeigesetze einschließlich § 20h Abs. 1 BKAG sind – was z. B. den Kernbereichsund Zeugnisverweigerungsrechtschutz angeht – unterschiedlich und z. T. reformbedürftig (SKStPO-Wolter § 100c Rn. 16, 17, 19, 55). Bei Rechtsverletzungen mag (allein) bei Minimalverstößen eine Interessenabwägung die Verwertbarkeit der Daten im polizeilichen Ausgangsverfahren ergeben (entsprechend oben 4. bei Fn. 46, 49 in anderen Zusammenhängen). 64

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barkeit der Daten im Ausgangs-Polizeiverfahren folgt die Vorschrift nunmehr in vollem Umfange den Maßgaben des „hypothetischen Ersatzeingriffs“: Die im Polizeiverfahren einer (akustischen) Wohnraumüberwachung verwertbaren Daten „dürfen in einem Strafverfahren … nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte, … verwendet werden.“. Damit wird zunächst nicht nur auf den Straftatenkatalog von § 100c Abs. 2 StPO Bezug genommen (und es wird nicht nur durch das Weglassen des Passus einer Verwendung „zu Beweiszwecken“ auch die Nutzung von Spurenansätzen an diesen Straftatenkatalog gekoppelt67); vielmehr wird deutlich mehr verlangt: die besondere Schwere der Katalogtat im Einzelfall (§ 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO); der qualifizierte Anfangsverdacht (§ 100c Abs. 1 Nr. 1 StPO) und grundsätzlich auch der besondere Beweisnotstand (§ 100c Abs. 1 Nr. 4 StPO).68 Mit diesem „hypothetischen Ersatzeingriff“ („...auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte...“) sind dann auch „hypothetische strafprozessuale Beweisverwertungsverbote“ zu berücksichtigen, wie sie sich z. B. aus § 100c Abs. 4-6 StPO für das Strafverfahren ergeben können.69

II. Systemlose Abwägungs-Rechtsprechung 1. Abwägung bei absoluten Verwendungsverboten (Verstoß gegen das Analogieverbot) Diese begrüßenswerten Regelungszusammenhänge in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO verkennt nunmehr der BGH70 von Grund auf (oder er will sie nicht wahrhaben). Er etabliert vielmehr in seiner jüngsten Entscheidung seine von den Beweisverwertungsverboten bekannte Abwägungsdoktrin auch bei den (absoluten) Verwendungsverboten und dabei speziell bei § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO. Denn dieses absolute Verwendungsverbot musste entgegen dem 67

Im Anschluss an BVerfGE 109, 279 (377). Demgegenüber zum parallelen § 161 Abs. 2 und 3 StPO kritisch Wolter FS Schenke, 2011. 68 BVerfGE 109, 279 (377 ff). Hinzu tritt das Erfordernis einer polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage auch für die Übermittlung der Daten an die Strafrechtspflegeorgane und ggf. die Einhaltung der Sachleitungsbefugnis des polizeilichen Behördenleiters. 69 Insofern kann es z. B. so liegen, dass die polizeirechtliche Wohnraumüberwachung angesichts der grundrechtlichen Schutzpflichten trotz des Betroffenseins von Zeugnisverweigerungsberechtigten zulässig ist (der Schutz der Berufsgeheimnistärger im Polizeirecht also unter dem strafprozessualen Niveau liegt) und die so gewonnenen Daten deshalb im Polizeiverfahren verwertbar sind, dass jedoch für das Strafverfahren die strengere (hypothetische) Sperre des §100c Abs. 6 StPO eingreift. 70 Vgl. Fn. 65.

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BGH um deswillen zur Geltung kommen, weil die polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlage für eine Wohnungsüberwachung nach § 29 PolG Rh.-Pf. a. F. nicht (mehr) rechtmäßig war.71 Wegen dieser durchaus gravierenden Rechtswidrigkeit bei der polizeilichen Datenerhebung (die intensivste verdeckte Ermittlungsmaßnahme war ohne ausreichende polizeirechtliche Rechtsgrundlage) waren die gewonnenen Daten im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren i. S. des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO von vornherein nicht verwertbar; ihre Verwendung in einem Strafverfahren musste deshalb nach dem Wortlaut des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO zwangsläufig ausscheiden. Nach Auffassung des BGH hingegen bezieht sich der Begriff der Verwertbarkeit in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO – auch mit Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte (Nr. 31 des Urteils) – nicht auf das polizeirechtliche Ausgangsverfahren (Nr. 31, 32, 70, 81), sondern allein auf die Verwertungsverbote aus dem hypothetischen Ersatzeingriff nach § 100c StPO (namentlich § 100c Abs. 4 - 6 StPO). Die bei den Beweisverwertungsverboten von der Fachrechtsprechung entwickelte Abwägungstheorie sei (sodann) vollumfänglich auf die Verwendungsproblematik zu übertragen, womit dann (wie im vorliegenden Fall) nicht jeder Rechtsverstoß bei der Beweisgewinnung zu einem „Verwertungsverbot“ (hier: Verwendungsverbot) führt (Nr. 47). Die Rechtswidrigkeit der polizeirechtlichen Wohnraumüberwachung (mangels hinreichender Ermächtigungsgrundlage) lasse so im Ergebnis die Verwendbarkeit der aus der polizeilichen Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse unberührt (Nr. 46). Zudem müsse man mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates im Polizeirecht (Nr. 32) „großzügigere Maßstäbe“ bei der Verwertbarkeit anlegen; und es sei auch „nicht stimmig“, wenn diese Maßstäbe ggf. je nach Polizeigesetz variieren können (Nr. 32). Dieser einseitig die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege heraushebenden Argumentation des BGH ist mit besonderem Nachdruck zu widersprechen: Sie verkennt schon die vom Gesetzgeber mit Bedacht getroffene Unterscheidung von Verwertung und Verwendung (oben I. 5. e]). Sie führt – am eindeutigen Wortlaut des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO vorbei – zu einer Gesetzesänderung durch Richterspruch (nicht einmal zu einer Art Rechtsfortbildung). Sie erlaubt ohne Not die auch im Strafprozessrecht unzulässige Analogie. Der Wortlaut des Gesetzes ist jedoch ebenso klar wie die Gesetzgebungsgeschichte. Denn mit dem Begriff der „Verwertbarkeit“ sollte nach den Motiven geregelt werden, dass die Weiterverwendung „denselben Verwertungsverboten wie im Ausgangsverfahren unterliegt“ und „dass jegliche 71 Eine andere – eher zu verneinende – Frage war, ob man entgegen dem BGH nicht von einer noch ausreichenden Ermächtigungsgrundlage im Übergang hätte ausgehen können (so das OLG und der Generalbundesanwalt im BGH-Verfahren: BGHSt 54, 69 [Nr. 43]).

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zweckumwidmende Verwendung der Daten nur zulässig ist, wenn die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertet werden dürfen“.72 Dass im Polizeirecht mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten großzügigere Maßstäbe für die Verwertbarkeit gelten (so mit Recht der BGH), erweitert dabei nur den Anwendungsbereich der Verwendbarkeit von Daten im Strafprozess und damit auch die Angriffsfläche gegen das BGH-Urteil selbst.73 Und es ist im neuen Strafprozessrecht auch sehr wohl stimmig, wenn sich ein Strafrichter mit in den rechtlichen Konsequenzen durchaus unterschiedlichen Polizeigesetzen befassen muss (vgl. neben § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO auch § 161 Abs. 2, 3 StPO). Auch hat ein Strafrichter inzwischen ganz allgemein und von Gesetzes wegen die Verpflichtung, (bundes- und) landesgesetzliche Verwendungsregelungen zu berücksichtigen (§§ 477 Abs. 2 S. 1, 481 Abs. 2, 160 Abs. 4, 98c S. 2 StPO; ggf. i. V. m. dem BKAG, ZFdG, BPolG und den Polizeigesetzen der Länder).

2. Abwägung bei Kernbereichsverletzungen (Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG) Das nach 1. unhaltbare Abwägungs-Strafprozessrecht verbreitert sich zunächst dadurch, dass die Rechtsprechung – unabhängig von Verwendungsverboten, nunmehr im Bereich der allgemeinen und ungeschriebenen Beweisverwertungsverbote – z. T. auch dann einer Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteressen und Grundrechtsschutz und dabei einer Beweisverwertungsbefugnis zuneigt, wenn bei der (unzulässigen) Beweiserhebung gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen worden ist.74 Dagegen – und für ein absolutes Beweisverwertungsverbot – sprechen jedoch nicht nur Wortlaut („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) und Gehalt von Art. 1 Abs. 1 GG, sondern auch die neuen – nur klarstellenden – §§ 100c Abs. 5 S. 3, 100a Abs. 4 S. 2 StPO sowie zahlreiche entsprechende Polizeigesetze etwa – neben den §§ 20h Abs. 5, 20l Abs. 7 BKAG, § 23a Abs. 4a ZFdG – in Rheinland-Pfalz, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Hessen und Hamburg, ferner in Niedersachsen und im Saarland (von dem Sonderfall des § 136a Abs. 3 StPO bereits abgesehen). Ein Grundrecht auf ausnahms72

BT-Drucks. 15/4533, 17 m. Hinw. auf BVerfGE 109, 279 Nr. 341. Vgl. das Beispiel in Fn. 69. 74 Etwa OLG Frankfurt NJW 1997, 1648; BGHSt 34, 362 (364) – jedenfalls für die mittelbare Beweisverwertung; m. E. gehören hierher auch BGHSt 34, 39; 40, 66; 42, 139 (näher Wolter FS BGH, 2000, 973 ff, 983 ff, 987 ff) sowie BGHSt 19, 331; 34, 397 (401); anders BGHSt 4, 332 (333 f); 14, 358 (359 f, 364); 31, 296 (299); 36, 167 (173); BGH NStZ 1999, 145 (147) zur „Totalausforschung“. Zum über den Kernbereich privater Lebensgestaltung hinausreichenden Menschenwürdeschutz im Strafprozessrecht oben I.4.c), unten Fn. 79, 80; vgl. auch BVerfGE 27, 6 f; 65, 46; 67, 144 (vollständige Persönlichkeitsbilder). 73

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los gerechte Wiederherstellung des Rechtsfriedens oder ein durchgehendes Gegenprinzip einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege lässt sich nicht entgegenhalten.75 Die Achtung vor der Menschenwürde und dem Kern- und Würdegehalt der Grundrechte nach den Art. 2 Abs. 1 ff GG ist ohnehin die notwendige Vorbedingung eines effektiven und gerechten Strafprozesses.76 Eine Interessenabwägung findet von vornherein nicht statt. Eine Beweisverwertungsbefugnis scheidet geschrieben wie ungeschrieben aus.

3. Abwägung bei grober Missachtung/Umgehung von Justizgrundrechten/Verfahrensrechten (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GG und den Rechtsgedanken des ordre public) Das Abwägungs-Strafprozessrecht erfährt in jüngster Zeit u. a. durch Beschlüsse der 2. und 1. Kammer des 2. Senats des BVerfG und durch die Fachrechtsprechung dadurch einen Höhepunkt, dass auch bei willkürlicher Missachtung und bewusster Umgehung von Verfahrensvorschriften (z. B. bei der willkürlichen Annahme von Gefahr im Verzug) oder bei „besonders schwerwiegenden Fehlern“ bei der Beweiserhebung ein Verwertungsverbot nicht in jedem Fall die Folge sein soll.77 Diese Rechtsprechung wird dann neuerdings – sogar bei Verletzung des Wohnungsgrundrechts nach Art. 13 Abs. 1 GG bei der datenerhebenden Untersuchung (Durchsuchung) – auf die Verwendung von Zufallsfunden übertragen,78 so dass sich ein Kreis mit der unter 1. besprochenen BGH-Entscheidung zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO schließt. Bei alledem kommen die Verneinung eines Gesetzesvorbehalts für die Beweisverwertungsbefugnis, die dies fördernde Einführung einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und die wiederum bestätigende These vom Beweisverwertungsverbot als Ausnahme hinzu (sogleich 4.). Dieser Entwicklung ist schon unabhängig von den letztgenannten Zusatzhürden für jegliches Beweisverwertungsverbot zu widerstreiten. Soweit bestimmte Rechte bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG fließen (Unschuldsvermutung; Schweigerecht) ist bei Verstößen bereits die Fallgruppe unter 2. mit absoluten Beweisverwertungsverboten betroffen. Die Umgehung der Selbstbelastungsfreiheit gehört deshalb dorthin;79 ebenso zählen bestimmte

75

§ 150e Abs. 1, 2 AE-EV (Fn. 16), Begründ. 68 ff; Wolter ZStW 107 (1995), 832 ff. Jung ZStW 105 (1993), 212. 77 BVerfG NJW 2009, 3225 f; StV 2010, 114 (je 2. Kam.); vgl. noch Beschluss der 1. Kam. v. 9.11.2010 (dazu unten 4. m. Fn. 93). 78 BVerfG NJW 2009, 3225 f. 79 Vgl. auch § 5 Abs. 3 öStPO; §§ 150b, 150e AE-EV (Fn. 16); zur Nichtbelehrung auch BGHSt 38, 214; Wolter FS BGH, 2000, 1002; allg. SK-StPO-Wolter § 110a Rn. 3a, 4 m. 76

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Fälle der Tatprovokation dazu.80 Soweit demgegenüber das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren berührt ist (z.B. die Rechte auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, Art. 48 Grundrechte-Charta) liegen zumindest die Wurzeln in der freiheitssichernden Funktion der Grundrechte (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).81 Bei grober Missachtung und bewusster Umgehung solcher Rechte gilt deshalb mit Blick auf Verwertungs- und Verwendungsverbote auch Art. 19 Abs. 2 GG. Und angesichts des unantastbaren Wesensgehalts der Grundrechte, der bei „Willkür und besonders schwerwiegenden Verfahrensfehlern“ berührt ist, findet eine Abwägung von vornherein nicht statt. Hierher gehören auch die Umgehung von Zeugnisverweigerungsrechten,82 was § 160a Abs. 2 StPO jedoch in Teilen in Frage stellt, und die umfassende Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 103 Abs. 1 GG. Sofern Art. 19 Abs. 2 GG bei Verfahrensrechten und Justizgrundrechten nicht einschlägig ist, mag man zumindest den Rechtsgedanken des ordre public heranziehen, der – abgesehen vom Schutz der Grundrechte und der Menschenrechte der EMRK – auch (absolut) gewährleistet, dass von Grundprinzipien des Prozessrechts nicht in einem Maße abgewichen werden darf, dass das Verfahren als eindeutig nicht mehr geordnet und rechtsstaatlich angesehen werden kann („mit wesentlichen Grundsätzen ... offensichtlich unvereinbar“).83 Hier kann dann auch ein Verwertungsverbot nach Verletzung eines verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts (vgl. Art. 13 GG) eingeordnet werden.84 Einen gewissen Anhaltspunkt für diese rechtliche Einschätzung gibt inzwischen auch – der vornehmlich klarstellende – § 160a Abs. 1 StPO.85 Hinw. auf BGHSt 52, 11 (jetzt auch BGH NJW 2010, 3672), § 100f Rn. 37 m. Fn. 81 und Hinw. auf Roxin NStZ-Sonderheft 2009, 43 ff. 80 Etwa bei Lebensgefahr; allg. § 5 Abs. 3 öStPO; BVerfGE 51, 347; SK-StPO-Wolter § 110c Rn. 9-11a. Unschuldsvermutung (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EMRK; Art. 48 GrundrechteCharta) und Schutz von Unbeteiligten vor Tatverstrickung (dazu auch EGMR StV 1999, 127; NJW 2009, 3565; HRRS 2008, 292 m. Anm. Gaede HRRS 2008, 279 ff) lassen sich ggf. auch bei den grundlegenden Verfahrensgarantien einordnen. Dabei passt ins Bild, dass der BGH (BGHSt 45, 321 m. abl. Anm. Roxin JZ 2000, 369) trotz Einräumung eines fair-trial-Verstoßes nach Art. 6 Abs. 3 EMRK bei Tatprovokation eines Nichtverdächtigen die Beweisverwertung zum Zwecke einer bloßen Strafmilderung zulässt. Dies führt zum „AbwägungsStrafzumessungsrecht im Strafprozess“. 81 Vgl. auch BVerfG NJW 2009, 3226 selbst m. Hinw. auf BVerfGE 57, 250 (274). 82 Dazu auch § 144 öStPO. 83 Vgl. Art. 6 EGBGB, Thomas-Putzo-Reichold/Hüßtege Rn. 16 ff zu § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO; § 166 Abs. 1 Nr. 2 öStPO (m. Einschränkungen); § 26 Abs. 1 Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, hrsg. v. Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/ Zöller, 2008, Begründ. 62. 84 Schwabenbauer NJW 2009, 3209. 85 Zur verfassungsrechtlichen Reduktion des § 160a Abs. 2 StPO in Richtung auf absolute Beweisverwertungsverbote SK-StPO-Wolter § 160a Rn. 5-6, 9 (unter Berücksichtigung von

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4. Beweisverwertungsverbot als Ausnahme nach Gesamtbetrachtung; Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und Ausschluss des Gesetzesvorbehalts (Verstoß auch gegen angemessene Strafverteidigung) Entgegengetreten werden muss schließlich einer Entwicklung insbesondere im Rahmen der unter 3. behandelten, eigentlich dort bereits gelösten Fälle (aber auch allgemein im Bereich von Konstellationen mit nur sonstiger erheblicher Grundrechtsverletzung, d. h. noch ohne grobe Missachtung bzw. bewusste Umgehung von Rechten bzw. ohne Willkür), die bei der etwaigen Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteressen und Grundrechtsschutz fast automatisch zum Vorrang der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und damit der Verwertungsbefugnis führt. Dabei muss in dieser Studie offen bleiben, ob die generelle Eröffnung einer eigentlichen Abwägung bei der Verwertung nach sonstigen „erheblichen“ Grundrechtseingriffen (jenseits eines Bagatellbereichs und dann de lege ferenda) überhaupt strafprozessrechtspolitisch maßgebend sein darf.86 Die beiden miteinander verzahnten Instrumente der neueren Rechtsprechung (BVerfG; BGH) widerstreiten jedenfalls – wenn nicht schon den Grundsätzen zu 3. (Art. 19 Abs. 2 GG; ordre public) – einer im Ausgangspunkt gleichgewichtigen und offenen (fairen) Abwägung: a) In einem ersten Schritt werden danach in der Praxis mit dem vorrangigen Ziel einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege87 ein Beweisverwertungsverbot und neuestens auch ein Verwendungsverbot88 unter Ablehnung eines durchgehenden Gesetzesvorbehalts zur „Ausnahme“89 erklärt, „die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift (oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall) anzuerkennen ist“ 90. Damit wird verkannt, dass die Verwertung von Beweismitteln und Spurenansätzen sowie die sonstige Verwendung von Daten nach einer beweiserhebenden Grund-

Reformentwürfen von 2008-2010; vgl. jetzt auch Gesetz v. 22.12.2010 [BGBl I S. 2261] – in Kraft ab 1.2.2011 zu § 160a Abs. 1 StPO n. F. bei Rechtsanwälten). 86 Dagegen Wolter FS BGH, 2000, 1004 ff. § 160a Abs. 2 S. 1, 3 StPO m. seiner Tendenz zum Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses (schon wegen der Einsatzschwellen bei den §§ 100a ff, 163d ff StPO) bietet kein Anschauungsmaterial (vgl. noch oben 3. m. Fn. 82, 85), ggf. aber § 100c Abs. 6 S. 2 StPO m. Blick auf Angehörige nach § 52 StPO. Zu den Beschlüssen des DJT 2008 Dallmeyer HRRS 2009, 430 m. Fn. 7, 8. 87 Dazu Dallmeyer HRRS 2009, 431, 432. 88 BVerfG NJW 2009, 3225; BGHSt 54, 69 (Nr. 48). 89 Zur Entwicklung des Ausnahmekriteriums Dallmeyer HRRS 2009, 430 f; krit. auch Gusy HRRS 2009, 489, 491; Schwabenbauer NJW 2009, 3208. 90 Für diesen "Gesetzesvorbehalt für das Verwertungsverbot" auch BT-Drucks. 16/5846, 36 f; BGHSt 37, 30; 40, 211 (218); 44, 243 (249); 51, 285 (290); vgl. noch Meyer-Goßner § 160a Rn. 13; KMR-Plöd § 160a Rn. 8.

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rechtsverletzung – wie die Senatsrechtsprechung des BVerfG auch erweist – den Grundrechtseingriff fortsetzen und regelmäßig vertiefen, deshalb auch im Bereich des Erhebungseingriffs (z. B. Art. 10 oder 13 GG) verbleiben und im Übrigen die Gefahr der Sammlung und Weitergabe rechtswidrig gewonnener Informationen schaffen.91 Die Verwertung (und Verwendung) solcher Daten erfordern schon nach den Art. 10, 13 GG (ggf. nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG: allgemeines Persönlichkeitsrecht; Recht auf informationelle Selbstbestimmung) eine spezielle, mit der Erhebungsbefugnis vergleichbare gesetzliche Grundlage (und zwar jenseits der allgemeinen §§ 244 Abs. 2, 261 StPO92); ein Nutzungsverbot darf schon deshalb auch nicht die Ausnahme sein. b) In einem zweiten Schritt soll – mit Anklängen an die Rechtsprechung des EGMR – „die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren erst dann vorliegen, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht … ergibt, das rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde“; und: „im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen.“ Der Blick der Rechtsprechung wandert dabei von der Erhebung der Erkenntnisse auf die Verwertung von Untersuchungsfunden und neuerdings auch auf die Verwendung von Zufallsfunden; und: „insbesondere die willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers können – müssen indes nicht in jedem Fall – danach ein Verwertungsverbot“ [bzw. ein Verwendungsverbot] „nach sich ziehen“.93 Dagegen sprechen schon die unter 3. dargelegten absoluten Maßstäbe des Art. 19 Abs. 2 GG und der Rechtsgedanke des ordre public. Insoweit dürfte auch bei den Verwertungsverboten eine Abwägung an sich von vornherein nicht stattfinden; selbst eine geschriebene Verwertungsbefugnis schiede aus. Aber auch im Übrigen (dazu auch oben vor a]) ist es für die Prozessführung 91

Nachw. bei Fn. 44, 45. Der Gesetzgeber geht angesichts der §§ 477 Abs. 2 S. 2, 100d Abs. 5, 108, 160a Abs. 1 S. 2, 5, 100i Abs. 2 S. 2 StPO selbst von dem Erfordernis einer speziellen Befugnisnorm (sogar bei regelmäßig rechtmäßiger Beweiserhebung) aus. 92 Dallmeyer HRRS 2009, 430 m. N.; Schwabenbauer NJW 2009, 3209; anders Jahn, DJT 2008, Gutachten C 66 f; (lediglich) bei zulässigen, gegen den Beschuldigten gerichteten Maßnahmen offen gelassen von § 150f Abs. 2 AE-EV (Fn. 16); vgl. noch Fn. 86. 93 BVerfG NJW 2009, 3226 m. Hinw. auf BVerfGE 57, 250 (276); 64, 135 (145 f); BGHSt 51, 285 (292); BGH NStZ 2004, 449 (450); vgl. auch BVerfG StV 2010, 114 m. Hinw. auf BVerfGE 47, 239 (250); 80, 367 (375) – je 2. Kam. des 2. Senats; jüngst „konkretisiert“ durch die 1. Kam. – Beschluss v. 9.11.2010 (2 BvR 2101/09) – Nr. 45, 60: Verwertungsverbot (nur) bei „planmäßiger oder systematischer Außerachtlassung der grundrechtlichen Sicherungen“! Grundsätzl. – mit Recht – dazu, dass aus einem Erhebungsverbot nicht zwangsläufig ein Verwertungsverbot folgt, BVerfG NStZ 2000, 488, 489, 490; 2006, 46; 1. Kam. v. 9.11.2010 (Nr. 43); BGHSt 54, 69 (Nr. 51). Erg. oben Fn. 46, 49, 66.

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des Beschuldigten und seines Verteidigers schwerlich hinnehmbar, dass das ggf. „rechtsstaatlich Unverzichtbare“ erst nachträglich unter Betrachtung von auch erst ex post erkennbaren Rechtslagen in einer Gesamtschau verneint oder aber festgestellt werden soll.94 Ohnehin passt die Gesamtschau eher in das Bild einer Verwertungsverbotslehre ohne Gesetzesvorbehalt. Dass dann aber dieser unverzichtbare „rechtsstaatliche Mindeststandard“ selbst bei „willkürlicher Annahme von Gefahr im Verzug“ und sogar bei das Verfahrensrecht grob missachtenden und in Frage stellenden „besonders schwerwiegenden Fehlern“ noch gewährleistet sein soll, dass jedenfalls solche Verstöße nicht zwingend durch ein absolutes Beweisverwertungsverbot bzw. ein absolutes Verwendungsverbot ausgeglichen werden können,95 ist rechtsstaatlich unannehmbar.

III. Ergebnis und Widmung Das Ergebnis der Studie zu einem Teil des Strafverfahrensrechts ist niederdrückend. Gesetz und Praxis führen in ein systemloses AbwägungsStrafprozessrecht, das der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gegen oder ohne hinreichende gesetzliche Grundlagen letztlich fast absoluten Vorrang gibt. Auch die Wirksamkeit einer angemessenen Strafverteidigung wird so beeinträchtigt. Und Verstöße gegen Art. 6 EMRK („Tatprovokation“) geraten z. T. in ein „Abwägungs-Strafzumessungsrecht im Strafprozess“. Im Gesetz selbst häufen sich Fälle von Verfassungswidrigkeit einschließlich Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit, von Unrichtigkeit, Unzuständigkeit, Unvollständigkeit und abwägungsfördernder Systemlosigkeit. Die Rechtsprechung widerstreitet in Teilen aus Gründen der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege mit abwägender Gesamtbetrachtung und unzulässiger Analogie dem Wortlaut des Gesetzes (z. B. § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) sowie verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Vorgaben (Art. 1 Abs. 1, 19 Abs. 2 GG, Art. 6 EMRK). Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafprozessrecht stehen so vor ihrem Niedergang. Der eingangs wiedergegebene Befund von Claus Roxin zeigt nicht nur Bestand, sondern ufert aus. Abhilfe vermag angesichts der Komplexität der Materie und der mangelnden „Kapazitäten“ nicht mehr eine Gesamtreform des Strafprozess-

94

Salditt StV 2010, 718. Zum Wandel des auf Gewaltenteilung aufbauenden Rechtsstaats zum Justizstaat – in anderem Zusammenhang – Hirsch FS Puppe, 2011, 121 mit Fn. 57. 95

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rechts zu schaffen.96 Aber es gibt – wie auch die vorliegende Skizze andeutet – im In- und Ausland Ansätze für Teilreformen, namentlich für einen „Allgemeinen Teil des Strafprozessrechts“ und für das Ermittlungsverfahren, andererseits auch für die Hauptverhandlung, für das Konsensualverfahren, für die Rechtsmittel, die Strafverteidigung usf.97 Die vorstehenden Vorschläge für den Ausbau eines „grund- und menschenrechtlichen Gesamtkonzepts unter Einschluss der Beweis- und Verwendungsverbotslehre sowie des nemo tenetur-Prinzips“ beruhen dabei – wie schon mein eingangs bezeichneter Beitrag in der Festschrift zum 70. Geburtstag – auf dem Werk von Claus Roxin, nicht zuletzt auf den von ihm in zahlreichen gemeinsamen Arbeitssitzungen maßgebend geprägten Alternativ-Entwürfen „Reform des Ermittlungsverfahrens“ und „Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit“.98 Mit besonderen Glückwünschen sowie in großer Dankbarkeit und Zuneigung widme ich auch diese jüngste Studie meinem akademischen Lehrer, wissenschaftlichen Vorbild und engen Freund Claus Roxin.

96 Rieß StraFo 2010, 402 m. Hinw. auf fehlende Ressourcen; anders noch (vor 20 Jahren) Wolter Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991. 97 Anschauungsmaterial bietet auch die – hier mehrfach herangezogene – öStPO; dazu Schmoller GA 2009, 505, 524 ff. 98 AE-EV (Fn. 16); AE-ZVR, 1996.

Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG vom 9.11.2010 HANS-HEINER KÜHNE

I. Vorrede Ist es schon eine bloße Selbstverständlichkeit, dem großen Strafrechtslehrer Roxin durch einen Beitrag in seiner Festschrift zum 80ten Reverenz zu erweisen, so tue ich dies um so lieber, als ich an viele schöne Anlässe zurückdenken kann, bei denen ich mit dem Jubilar – und zumeist auch seiner Gattin – im fernen Osten gemeinsam für das deutsche Strafrecht und Strafverfahrensrecht geworben habe. Nicht nur die vielen hoch interessanten fachlichen Diskussionen, sondern auch die mannigfaltigen sozialen Gelegenheiten, zu denen wir von den dortigen Kollegen in ihrer übergroßen Gastfreundschaft stets eingeladen wurden, boten Gelegenheiten, bei denen sich ein freundschaftlich kollegiales Verhältnis entwickeln konnte. Dabei habe ich Claus Roxin als einen Menschen kennen gelernt, der seine fachliche Kompetenz und sein Charisma trotz der schon an Demut grenzenden Bewunderung, die ihm allerorten entgegen gebracht wurde, im Privaten in natürliche Freundlichkeit wandelt, die ihn zu einem überaus anregenden und amüsanten Gesellschafter macht. Kurzum, Claus Roxin hat bei aller Größe von Werk, Persönlichkeit und Person nie die Bodenhaftung verloren. Das bewundere ich neben seinem Werk am meisten.

II. Einführung Gute Geschäfte stehen häufig anrüchigen Geschäftspraktiken nahe. Dies gilt ganz offensichtlich auch für den Handel mit Steuerdaten aus Liechtenstein, der Schweiz oder anderen Steueroasen. Der Anbieter der Informationen entsprechender auf CD gebrannter Bankdaten über möglicherweise in Deutschland nicht versteuerte Bankguthaben wird vom deutschen Staat - sei

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dies durch den BND, ein Finanzministerium oder eine sonstige staatliche Institution – mit siebenstelligen Beträgen entgolten, und der deutsche Fiskus verzeichnet Mehreinnahmen in vielfacher Höhe1, dies oft schon ohne weitere Ermittlungen allein aufgrund einer Vielzahl von Selbstanzeigen verunsicherter „Schwarzanleger“. Bei einer solchen offensichtlichen „win-winSituation“ erscheint der Umstand, dass dem ganzen Geschäft strafbares Verhalten zumindest des Anbieters/Verkäufers zugrunde liegt, eher nebensächlich. Denn was bedeutet es schon, wenn jemand im Ausland, noch dazu im steuerfreundlichen und daher aus deutscher Sicht feindlichen Ausland sich Bankdaten mittels einer strafbaren Handlung verschafft hat. Da verwundert es auch nicht, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde, die unter Hinweis auf den strafrechtlich bemakelten Ursprung solcher Informationen ein Beweisverwertungsverbot anmahnt, gar nicht erst zur Entscheidung annimmt2. Liest man den kurzen Beschluss, dann steigert sich die Verwunderung zu Befremden. Die Begründung erscheint insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die einschlägigen Problemfelder in der Literatur recht intensiv aufgearbeitet worden sind3, als überaus unbefriedigend, als dogmatisch kaum verbrämte bloße Bekundung rechtspolitischen Wollens, also der Vermeidung eines Beweisverwertungsverbots in diesen für den Fiskus doch so einträglichen Situationen. Wahrlich wäre das Problem eine Senatsentscheidung wert gewesen, die die Probleme aufnimmt und einer dogmatisch nachvollziehbaren Begründung zuführt. Es bleibt die Hoffnung, dass im Kontext mit anderen Verfahren aus dem Bereich der Schweizer Banken das BVerfG sich eines Besseren besinnt und sich doch noch im Rahmen einer Senatsentscheidung zu den Problemen äußert. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass der BGH respektive der BFH sich der Sache annimmt und begründeter, vielleicht auch im Ergebnis anders entscheidet, denn der Beschluss des BVerfG hat natürlich keine Bindewirkung, und unabhängig davon können die Bundesgerichte mehr Schutz im Rahmen ihrer Gesetzesinterpretation anbieten, als dies nach Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich erforderlich wäre.

1

Nach Zeitungsmeldungen vom 20.12.2010 (etwa Spiegel v. 20.12.2010, S. 72) haben die Steuerbehörden aufgrund der „Steuer-CD’s“ 1,8 Milliarden EUR zusätzlich eingenommen! 2 2 BvR 2101/09 vom 9.11.2010. 3 Vgl. etwa Göres/Kleinert NJW 2008, 1353; Schünemann NStZ 2008, 305; Sieber NJW 2008, 881; Trüg/Habetha NJW 2008, 887; Ambos Beweisverwertungsverbote. Grundlagen und Kasuistik-internationale Bezüge - ausgewählte Probleme, 2010, S.106, 152; Ignor/Jahn JuS 2010, 390; Kühne GA 2010, 275; Pawlik JZ 2010, 693. Weitere Nachweise bei Pawlik JZ 2010, 693.

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III. Der Sachverhalt In dem Beschluss des BVerfG ging es um die sog. Liechtensteiner Affäre, bei der der BND für eine CD mit Daten von deutschen Steuerflüchtlingen einen Millionenbetrag zahlte, wohl wissend, dass der Verkäufer als ehemaliger Angestellter der Bank sich diese Daten in seinem Lande auf strafbare Weise verschafft hatte. Der Verkäufer war an den BND von sich aus herangetreten und hatte auf Verlangen des BND „Probedaten“ geliefert, die die Relevanz der Daten belegen sollten und dies offenbar auch taten. Die Daten wurden dann vom BND an Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften weitergeleitet. Im konkreten Fall rügte der Beschwerdeführer, dass diese Daten als Basisinformationen genutzt wurden, um einen Durchsuchungsbefehl bei ihm zu rechtfertigen. Nach seiner Ansicht müsse der strafbare Ursprung der Daten zu einem Beweisverwertungsverbot im deutschen Recht führen. Zudem sei auch das Trennungsgebot verletzt. Beides wies der Beschluss des BVerfG zurück. Der Sachverhalt ist beispielhaft auch für weitere Fälle, die 2010 in Hinblick auf die Schweiz nach ähnlichem Muster abliefen. Hinzu kommt allerdings, dass durch die im Liechtensteiner Fall erkennbare und später auch durch die Äußerungen mehrerer deutscher Politiker bestätigte Bereitschaft Deutschlands zum Ankauf solcher Datensätze offenbar weitere (ehemalige) Bankmitarbeiter in der Schweiz sich veranlasst sahen, Daten rechtswidrig sich anzueignen und den deutschen Behörden zum Ankauf anzubieten.

IV. Die rechtlichen Probleme Bevor der Beschluss des BVerfG näher beleuchtet wird, sollen zunächst einmal alle durch dieses Vorgehen betroffenen Probleme aufgelistet und diskutiert werden, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten. Dabei wird der Fokus auf solche Probleme gerichtet, die in Hinblick auf mögliche Beweisverwertungsverbote potentielle Relevanz haben. Trotz der folgenden Prüfungen nationaler und ausländischer materieller Strafvorschriften ist dies also eine strafprozessuale Studie. Folgende Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang: Wie ist das Verhalten des ausländischen Verkäufers nach seinem Landesrecht und nach deutschem Recht strafrechtlich zu beurteilen? Wie ist das Verhalten der deutschen Käufer nach dem betroffenen ausländischen und dem deutschen Strafrecht zu beurteilen? Wie ist das Verhalten der deutschen Käufer verfassungsrechtlich zu beurteilen? Wie ist das Verhalten der deutschen Käufer völkerrechtlich zu beurteilen?

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Hans-Heiner Kühne

Welche strafprozessualen Folgen hat die Bemakelung der Beweise durch rechtswidrige Handlungen bei der Informationserlangung?

1. Strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens des Verkäufers a) Ausländisches Recht Da es in allen europäischen Staaten strafrechtlich bewehrte Vorschriften zum Schutze von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen gibt, kommt eine Strafbarkeit des Verkäufers insofern in Betracht. Schünemann4 weist darauf hin, dass in Liechtenstein die einschlägige Vorschrift § 124 III Liech StGB sei. Da die folgenden Fälle alle mit Bankdaten aus der Schweiz zu tun hatten, soll hier jedoch das Schweizerische Strafrecht genauer geprüft werden. Hier kommen zunächst einmal die Art. 271, 273 CH-StGB in Betracht, die als Staatsschutzdelikte ausgestaltet sind und daher gemäß § 4 CH-StGB5 auch für und gegen jemanden zur Anwendung kommen, der im Ausland gegen diese Normen verstößt, vgl. sogleich unten bei Ziff. 2. Art. 271 CH-StGB stellt es unter Strafe, verbotene Amtshandlungen für einen fremden Staat zu begehen6. Die Vorschrift ist insofern einschlägig, als der Verkäufer ohne eigene amtliche Befugnis den Vertretern des deutschen Staates Hilfe bei der Verfolgung von Steuerstraftaten von Deutschen leistet, die allenfalls die schweizerische Justiz im Rahmen der Rechtshilfe leisten dürfte7. Art. 273 CH-StGB stellt hingegen den verbotenen wirtschaftlichen Nachrichtendienst zugunsten des Auslands unter Strafe8. Kundendaten von Ban4

NStZ 2008, 308. Art. 4 Verbrechen oder Vergehen im Ausland gegen den Staat: 1 Diesem Gesetz ist auch unterworfen, wer im Ausland ein Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung (Art. 265-278) begeht. 2 Ist der Täter wegen der Tat im Ausland verurteilt worden und wurde die Strafe im Ausland ganz oder teilweise vollzogen, so rechnet ihm das Gericht die vollzogene Strafe auf die auszusprechende Strafe an. 6 Art. 271 Verbotene Handlungen für einen fremden Staat: 1 Wer auf schweizerischem Gebiet ohne Bewilligung für einen fremden Staat Handlungen vornimmt, die einer Behörde oder einem Beamten zukommen, wer solche Handlungen für eine ausländische Partei oder eine andere Organisation des Auslandes vornimmt, wer solchen Handlungen Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, in schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. 7 Ebenso Delnon/Niggli Jusletter vom 8. November 2010, www.jusletter.ch. 8 Art. 273 Wirtschaftlicher Nachrichtendienst: Wer ein Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnis auskundschaftet, um es einer fremden amtlichen Stelle oder einer ausländischen Organisation oder privaten Unternehmung oder ihren Agenten zugänglich zu machen, wer ein Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnis einer fremden amtlichen Stelle oder einer ausländischen Organisation oder privaten Unternehmung oder ihren 5

Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren 1273

ken sind als Geschäftsgeheimnisse zentraler Gegenstand des Schutzes der Vorschrift. Heikel ist, dass diese Daten als solche von Steuersündern ihrer Natur nach rechtswidrig sein könnten, da sie rechtswidrige Tatsachen beschreiben. Im Rahmen des Art. 273 CH-StGB spielt dies jedoch keine Rolle, da auch rechtswidrige Geheimnisse9 dem Schutz der Vorschrift unterliegen. Im Übrigen sind die Daten nach dem in diesem Zusammenhang allein geltenden schweizerischen Recht auch nicht rechtswidrig, weil die steuerrechtlichen Vorschriften Deutschlands für die Schweiz keine Bedeutung haben, ein Befund, der auch prozessual dadurch verstärkt wird, dass nach Art. 2 a des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens10 in Fiskalsachen die Kooperation verweigert werden kann. Weiterhin hat der Verkäufer Art. 162 CH-StGB (Verletzung von Geschäftsgeheimnissen11) verwirklicht, der im Wesentlichen dem § 17 UWG entspricht. Ebenso wurde Art. 47 CH- BankenG (Verletzung des Bankgeheimnisses) begangen.

b) Deutsches Strafrecht Nach deutschem Strafrecht kommen zunächst einmal §§ 202 a-c StGB, § 44 BDSG in Betracht, die aber deshalb nicht ohne weiteres anwendbar sind, weil es sich um im Ausland gespeicherte Daten handelt. Aus diesem Grunde greift § 44 BDSG nicht, weil er nur auf Daten im inländischen Bereich bezogen ist. Bei §§ 202 a-c StGB ist dies nicht so eindeutig, weil es sich hier immerhin um Daten handelt, die zwar im Ausland gespeichert sind, aber doch neben den ausländischen Banken auch deutsche Staatsbürger betreffen. Allerdings schützen diese Vorschriften im Rahmen des § 3 StGB zunächst nur die Geheim- und Privatsphäre von Bürgern, deren Daten in inländischen Systemen gespeichert sind oder vom Inland aus kontrolliert werden12, vor unbefugten An- und Eingriffen aus dem Inland. Nach § 7 I StGB könnte insofern eine Anwendbarkeit der §§ 202 a-c StGB in Frage kommen, als die Taten (auch) gegen die deutschen Bankkunden und ihr Agenten zugänglich macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, in schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. Mit der Freiheitsstrafe kann Geldstrafe verbunden werden. 9 BGE 101 IV 314 10 Vom 20.04. 1959 11 Art. 162,2. Verletzung des Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnisses: Wer ein Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnis, das er infolge einer gesetzlichen oder vertraglichen Pflicht bewahren sollte, verrät, wer den Verrat für sich oder einen andern ausnützt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. 12 Ebenso Pawlik JZ 2010, 697, der betont, dass „das Rechtsgut des § 202a StGB nach ganz h. M. nur die Verfügungsbefugnis desjenigen (ist), der als Herr der Daten darüber bestimmen kann, wem diese zugänglich sein sollen…“.

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Geheimhaltungsinteresse begangen worden sind und die Taten, nach schweizerischem Recht gemäß Art. 143 CH-StGB13 strafbar sind. Da aber §§ 202 a-c StGB zusätzlich ein inländisches Datenschutzsystem verlangen, gegen welches vorgegangen worden sein muss, entfällt auch eine Anwendbarkeit der Vorschriften über § 7 I StGB. Schließlich käme noch § 17 II Nr. 2a UWG in Betracht. Diese den Wettbewerb schützende Vorschrift stellt die unbefugte Verwertung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses unter Strafe. Obwohl über § 9 I StGB wegen des Erfolgseintritts in Deutschland die Tat als auch hier begangen einzuordnen ist, fehlt es am Tatbestand insofern, als es sich um ein ausländisches Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis handelt, und zwar das der betroffenen schweizerischen Bank, welches nach dem deutschen UWG nicht geschützt ist14, da das UWG den inländischen Wettbewerb regelt. Die dadurch zugleich berührten Interessen der deutschen Kunden sind hingegen schon deshalb keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, weil die Kunden keinen Betrieb unterhalten, der der Hinterziehung der Steuern dient. Entgegen vielfach vertretenen Ansichten kann daher für den Verkäufer § 17 II Nr. 2a UWG nicht subsumiert werden15. Der Verkäufer hat sich demzufolge nach deutschem Recht nicht strafbar gemacht.

2. Strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens des Käufers a) Ausländisches Recht Wie oben bei Ziff. 1 bereits dargelegt, sind die Art. 271, 273 CH-StGB als Staatsschutzdelikte gemäß Art. 4 CH-StGB auch auf Ausländer wegen im Ausland verübter Taten anwendbar. Die deutschen Ankäufer sind daher unabhängig von ihrer Behördenzugehörigkeit taugliche Täter. Was den Art. 271 CH-StGB angeht, liegt täterschaftliche Begehung und zwar in der Form des Vorschubleistens, durch die deutschen Käufer vor. In 13

Art. 143: Wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmäßig zu bereichern, sich oder einem andern elektronisch oder in vergleichbarer Weise gespeicherte oder übermittelte Daten beschafft, die nicht für ihn bestimmt und gegen seinen unbefugten Zugriff besonders gesichert sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. 14 Zutreffend weist Hecker Europäisches Strafrecht, 2010, S. 27 darauf hin, dass jeweils im Einzelnen geprüft werden muss, ob eine Vorschrift die tatbestandsimmanente Beschränkung auf einen rein inländischen Rechtsschutz aufweist oder ausnahmsweise auch den Schutz ausländischer Rechtsgüter umfasst. 15 Etwa Ignor/Jahn JuS 2010, 391; Pawlik JZ 2010, 697; Sieber NJW 2008, 881: Auch das Landgericht Bochum geht von einer Anwendbarkeit des § 17 UWG aus, vgl. Beschluss BVerfG vom 9. November 2010 - 2 BvR 2101/09.

Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren 1275

Hinblick auf Art. 273 CH-StGB muss ebenfalls eine Eigentäterschaft der deutschen Käufer angenommen werden, da sie sich zugunsten von Deutschland geschützte Daten aus der Schweiz verschafft und diese auch verwendet haben. Dass die Verschaffung durch einen Mittelsmann geschah ist insofern irrelevant. Rechtfertigungs- oder Schuldausschießungsgründe kommen aus der Sicht des schweizerischen Rechts hier natürlich nicht in Betracht, da solche Gründe bestenfalls aus der Perspektive des (deutschen) Auslands bestehen könnten, was gerade der Intention der Delikte zuwider läuft. Wegen dieser Delikte kann die Schweiz gegen die deutschen Käufer strafrechtlich vorgehen. Die Käufer haben sich aufgrund der Werbewirkung der deutschen politischen Äußerungen zudem der Anstiftung bzw. (sukzessiven) Beihilfe zu Art. 162 CH-StGB (Verletzung von Geschäftsgeheimnissen) und Art. 47 CH-BankenG (Verletzung des Bankgeheimnisses) strafbar gemacht. Da es sich hierbei nicht um Staatsschutzdelikte handelt, ist allerdings eine Strafrechtsanwendung auf den deutschen Käufer durch die schweizerischen Behörden nicht möglich, weil es sich um eine Handlung außerhalb des Geltungsbereichs des schweizerischen Strafrechts handelt, Art. 3 CHStGB16.

b) Deutsches Recht Wie vielfach und übereinstimmend geprüft, findet der Tatbestand der Hehlerei, § 259 StGB, der einem zu aller erst in den Kopf kommt, keine Anwendung, da er sich nur auf durch Vortaten erlangte Sachen bezieht; Daten sind aber keine Sachen, und der Datenträger, die CD, dürfte aus dem Eigentum des Verkäufers stammen, womit es selbst für einen Gegenstand derart geringen Werts keine Vortat gibt17. Im Übrigen würde die Vorschrift auch deshalb unanwendbar sein, weil sie eine Vortat voraussetzt, die nach deutschem Recht Relevanz hat; das ist, wie oben bei Ziff. 1 b) ausgeführt, nicht der Fall. Auch § 257 StGB (Begünstigung) entfällt in Ermangelung einer Vortat nach deutschem Recht. Gleiches gilt für den Tatbestand der Geldwäsche, § 261 I Nr. 4a StGB18, der ausdrücklich deutschrechtliche Straftatbestände als Vortat erfordert.

16 Art. 3 Geltungsbereich: Diesem Gesetz ist unterworfen, wer in der Schweiz ein Verbrechen oder Vergehen begeht. 17 Sieber NJW 2008, 881 weist zutreffend darauf hin, dass es angesichts des geringen Werts des Datenträgers selbst unangebracht wäre darüber zu spekulieren, ob er nicht doch auch kriminell erlangt worden sei. 18 Schünemann NStZ 2008, 308 erwähnt diese Möglichkeit.

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An anderer Stelle19 habe ich darauf hingewiesen, dass der Staat in der Person seiner agierenden Vertreter in diesen Fällen eine Untreue, § 266 StGB begeht, weil und soweit die Informationen auch durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen kostenfrei hätten erlangt werden können. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in entsprechender Interpretation des § 160a V StPO die erforderliche Abwägung von anwaltlichen Geheimhaltungsinteressen und staatlichen Ermittlungsinteressen zugunsten der letzteren ausfällt. Dann könnten Kanzlei und Privaträume des Rechtsanwalts durchsucht werden20, um nach den Unterlagen seines Mandanten zu forschen. Das ist aber eine eher theoretische Erwägung, da vermittelnder Rechtsanwalt und anbietender Verkäufer bei auch nur minimaler Vernunft die Daten-CD im sicheren Ausland versteckt halten werden. Wie schon oben bei Ziff. 1 b) erwähnt greift § 17 II Nr. 2a UWG auch auf Seiten des Käufers nicht, da es an einem zu schützenden Geschäftsbetrieb in Deutschland fehlt.

3. Das Verhalten der Käufer aus verfassungsrechtlicher Sicht Die justizielle Verwertung nachrichtendienstlich erlangter Informationen könnte einen Verstoß gegen das Trennungsgebot darstellen, welches verhindern soll, dass die verdachtsunabhängigen Befugnisse des BND die sehr viel höheren Handlungsanforderungen der StPO unterlaufen. Die Frage ist in diesem Zusammenhang von wenig grundsätzlicher Bedeutung. Zwar hat in der Liechtenstein Affäre der BND als Mittelsmann fungiert. In weiteren Fällen waren es wohl eher Vertreter der Finanzbehörden oder der Staatsanwaltschaft. Die Informationen hierüber sind allerdings begrenzt. Da aber der Beschluss des BVerfG den Fall der Tätigkeit des BND betrifft und auch nicht auszuschließen ist, dass die diskreten und weder dem Legalitätsprinzip noch in nennenswerter Weise der richterlichen Kontrolle unterfallenden Geheimdienste auch zukünftig in diesem Kontext genutzt werden, soll näher hierauf eingegangen werden. Auch wenn die verfassungsrechtliche Qualität des sog. Trennungsgebots nicht unstreitig ist21, hat das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung zumindest anerkannt, dass eine befugnisrechtliche informationelle Gewaltenteilung verfassungsrechtlich verankert ist, die insbesondere in Bezug auf die leichte elektronische Über19

Kühne GA 2010, 277 f. Dies natürlich nur mit der in Hinblick auf den Schutz von Rechtsanwälten auch angesichts der EMRK erforderlichen Zurückhaltung, vgl. EGMR (Niemitz) EuGRZ 1993, 65 und Kopp StV 1998, 683 m. Anm. Kühne. 21 Nachweise bei Kühne Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts, 2010, Rn. 377. 20

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tragbarkeit von Daten einen amtshilfefesten Schutz gegen die unzulässige Datenweitergabe erforderlich macht22. Dies wird vom BNDG durch mehrere Vorschriften eingelöst. Zunächst verbietet § 1 I S.2 BNDG die Angliederung an Polizeidienststellen; dann schließt § 2 III S.2 BNDG eine Amtshilfe zwischen Polizei und BND aus, und schließlich begrenzt § 9 BND i. V. m. § 20 BVerfSchutzG die Übermittlung von BND-Daten an Polizei und Staatsanwaltschaft auf Fälle der Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten. Hieraus ergibt sich bereits, dass unabhängig von der Kompetenz des BND zur Erlangung der Daten-CD23 jedenfalls eine Befugnis zu ihrer Weitergabe an die Staatsanwaltschaft gefehlt hat, weil es sich bei diesen Steuerstraftaten nun gewiss nicht um Staatschutzdelikte handelt. Eine Verletzung des Trennungsgebots muss folglich angenommen werden, soweit der BND als Mittler tätig gewesen ist. Hat sich der Verkäufer hingegen direkt an die Finanzbehörde bzw. die Staatsanwaltschaft gewendet, so wie dies in den schweizerischen Fällen den Anschein hat, entfällt das Problem einer möglichen Verletzung des Trennungsgebots. Anstelle dessen muss dann geprüft werden, ob die handelnden Behörden befugt waren die Daten-CD anzukaufen. Dazu mehr unten bei Ziff. 5.

4. Das Verhalten der Käufer aus völkerrechtlicher Sicht Das Institut der internationalen Rechtshilfe könnte verletzt sein, weil Art. 2 a des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens vom 20.04.1959 in Fiskalsachen den Vertragsstaaten die Möglichkeit eröffnet, die Kooperation zu verweigern. Dieses Privileg könnte durch das Vorgehen der deutschen Behörden verletzt worden sein. Darüber hinaus könnte sich eine Völkerrechtswidrigkeit daraus ergeben, dass das Verhalten der die Bundesrepublik Deutschland vertretenden Amtsträger möglicherweise einen Verstoß gegen die von der Bundesrepublik signierten – freilich nicht ratifizierten – Anti-Korruptionskonventionen der UN24 und des Europarats25 darstellt.

22

BVerfGE 65, 1 (69). Diese Kompetenz wird zurecht bestritten von Sieber NJW 2008, 882; Schünermann NStZ 2008, 306 und Ignor/Jahn JuS 2010, 394. Pawlik JZ 2010, 696 hingegen will ein „Unterlaufen“ strafprozessualer Vorschriften durch den BND nur annehmen, wenn dieser gezielt nach den Daten gesucht hat. 24 Vom 31. Oktober 2003; von Deutschland am 09. Dezember 2003 unterzeichnet. 25 Vom 27.01.1999, European Treaty Series - No. 173. 23

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a) Verletzung des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens Repräsentanten des deutschen Staates haben durch Zahlung von Millionen-Summen steuerrechtlich relevante Informationen aus dem Ausland erlangt, die sie im Wege der internationalen Rechtshilfe sicherlich nicht bekommen hätten, da nach Art. 2 a des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens den Vertragspartner das Privileg eingeräumt wird, nicht zu kooperieren, wenn es um Fiskalangelegenheiten geht. Gleichwohl ist darin weder eine Verletzung noch eine Umgehung des Rechtshilfeübereinkommens zu sehen, da dieses lediglich die Pflicht zur Kooperation aussetzt, nicht aber ein Ermittlungsverbot statuiert26. Jedem Vertragsstaat ist es daher unbenommen, die Informationen, welche er über die internationale Rechtshilfe nicht erhalten kann, auf andere Weise zu erheben.

b) Verletzung der Verpflichtungen aus den Anti-KorruptionsKonventionen Das Verhalten der deutschen Datenkäufer hat phänotypisch mit der Bestechung im privaten Bereich viele Gemeinsamkeiten: Es wird Geld angeboten, um Beschäftigte von Banken dazu zu veranlassen, pflichtwidrig Daten zu kopieren bzw. bereits pflichtwidrig kopierte Daten an sich zu bringen und diese unbefugten Dritten zu überlassen. Misst man diese Beschreibung an der einschlägigen Vorschrift des § 299 StGB, so ist der Tatbestand allerdings nur bis auf ein Merkmal gegeben: Es fehlt den Datenkäufern die Intention, die Bestechung zu Zwecken des Wettbewerbs durchzuführen. Ganz offensichtlich dienen solche Ankäufe überwiegend fiskalischen Zwecken und daneben natürlich auch der Durchsetzung strafrechtlicher Vorschriften der Steuergesetze. Sieht man den Ankauf im Lichte der Europaratskonvention gegen Korruption27, die von Deutschland zwar unterzeichnet aber nicht ratifiziert worden ist, so ergibt sich aus Art. 7 der Konvention28 ein etwas anderes Bild. Danach soll jeder Signatarstaat die Vorteilsleistung für rechtswidrige Handlungen von Mitarbeitern in der Privatwirtschaft schon dann unter Strafe stellen, wenn diese vorsätzlich im Rahmen von wirtschaftlicher Tätigkeit 26

Ebenso Pawlik JZ 2010, 694. Vom 27.01.1999, European Treaty Series - No. 173. 28 Article 7 – Active bribery in the private sector: Each Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences under its domestic law, when committed intentionally in the course of business activity, the promising, offering or giving, directly or indirectly, of any undue advantage to any persons who direct or work for, in any capacity, private sector entities, for themselves or for anyone else, for them to act, or refrain from acting, in breach of their duties. 27

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geleistet wird. Ein ausdrücklicher wettbewerbsrechtlicher Bezug, der den Anwendungsbereich der Norm einschränken würde, wird nicht verlangt. Das steht auch in Einklang mit dem Art. 2129 der Anti-KorruptionsKonvention der UNO30, der ein Handeln im Bereich von Wirtschaft, Finanzen oder Kommerz ausreichen lässt und ebenfalls fordert, Korruption in diesem Bereich als gesetzlichen Straftatbestand in den Signatarstaaten einzufügen. Wirtschaftliches Handeln der staatlichen Datenkäufer liegt aber vor, weil es um den privatrechtlichen Ankauf31 von Daten geht, die für den Käufer ein Vielfaches des Kaufpreises wert sind. Aus den Konventionen müsste sich allerdings noch ergeben, dass solche Vorschriften nicht nur für den nationalen Bereich sondern auch international gelten sollen, um in unserer Fallkonstellation einschlägig sein zu können. Obwohl die Europäische Konvention ausdrücklich bei der Bestechung von bzw. durch Amtsträger(n) auf internationale Geltung setzt32, fehlen solche Formulierungen für den in Art. 7 der Konvention geregelten Bereich der privatwirtschaftlichen Bestechung. Allerdings stellt Art. 17 Abs.1 Ziff. a33 der Konvention klar, dass jedwede Bestechung in den Signatarstaaten strafrechtlich verfolgbar sein soll, wenn die Tat zumindest teilweise im Inland begangen worden ist. Dies impliziert, dass auch die privatwirtschaftliche Bestechung im internationalen Bereich strafbar sein soll. Mangels Ratifikation der Konventionen durch Deutschland ist der Gesetzgeber noch nicht in der Pflicht, eine solche über die augenblickliche Rechtslage hinausgehende gesetzliche Regelung zu schaffen. Die Bundes29

Article 21: Bribery in the private sector. Each State Party shall consider adopting such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences, when committed intentionally in the course of economic, financial or commercial activities: (a) The promise, offering or giving, directly or indirectly, of an undue advantage to any person who directs or works, in any capacity, for a private sector entity, for the person himself or herself or for another person, in order that he or she, in breach of his or her duties, act or refrain from acting; (b) The solicitation or acceptance, directly or indirectly, of an undue advantage by any person who directs or works, in any capacity, for a private sector entity, for the person himself or herself or for another person, in order that he or she, in breach of his or her duties, act or refrain from acting. 30 Vom 31. Oktober 2003; von Deutschland am 09. Dezember 2003 unterzeichnet aber bislang auch nicht ratifiziert. 31 Vgl. Kühne GA 2010, 283. 32 Insbesondere die Art. 9-12 der Konvention. 33 Article 17 – Jurisdiction: Each Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish jurisdiction over a criminal offence established in accordance with Articles 2 to 14 of this Convention where: a. the offence is committed in whole or in part in its territory.

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republik als Staat ist jedoch durch die Signierung der Konventionen bereits völkerrechtlich verpflichtet, nicht gegen ihre Inhalte zu verstoßen. Der Ankauf von ausländischen Steuerdaten durch Repräsentanten des deutschen Staats und die dadurch gegebenen Anreize für weitere Bankbedienstete, sich mittels illegaler Handlungen ein Vermögen zu verdienen, beschreibt genau das, was Art. 7 der Konvention verhindern will. Folglich liegt in solchem Verhalten von Vertretern des deutschen Staates ein völkerrechtlicher Verstoß.

5. Strafprozessuale Implikationen und Folgen Nach alledem stellen sich für die strafprozessuale Würdigung zwei Fragen. - Gibt es neben den strafrechtlichen Bemakelungen noch strafprozessuale Bedenken in Hinblick auf die Erlangung der Daten? - Welche strafprozessualen Folgen hat die Bemakelung der Beweise durch rechtswidrige Handlungen bei der Informationserlangung für die Verwertung der Beweise?

a) Strafprozessuale Zulässigkeit der Datenerlangung Soweit die Steuer-CDs der Staatsanwaltschaft durch wen auch immer überlassen worden sind, bestehen grundsätzlich keine prozessualen Bedenken, diese zunächst einmal in Empfang zu nehmen und auf ihre Verwertbarkeit hin zu überprüfen. Werden Staatsanwaltschaft oder im Falle des § 399 AO die Finanzbehörde ermittelnd tätig, und wird ihnen die CD zum Kauf angeboten, sieht die Sachlage hingegen anders aus. Die Befugnisse der Ermittlungsbehörden nach der StPO sind in diesem Zusammenhang beschränkt auf die Beschlagnahme. Ein Ankauf, so sehr er auch lohnen würde, ist gesetzlich nicht vorgesehen und wird auch nicht von § 160a StPO umfasst34. Bei einer solchen Konstellation, die allerdings bislang tatsächlich nicht klar erkennbar vorgelegen hat und wohl auch mangels entsprechender finanzieller Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden wenig wahrscheinlich ist, hätten die Ermittlungsbehörden vollständig außerhalb ihrer Kompetenz und folglich grob rechtswidrig gehandelt.

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Sieber NJW 2008, 883; Kühne GA 2010, 279.

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b) Bemakelung des Beweises und Beweisverwertung Nunmehr ist zu prüfen, welche Folgen die oben dargestellten rechtswidrigen Umstände auf Seiten von Verkäufer und Käufer für die Verwertbarkeit solcher Beweise haben. Es muss an dieser Stelle nicht die komplexe Diskussion zu den Beweisverwertungsverboten aufgefächert werden, vielmehr soll auf der Basis der insofern überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung, dass ein Beweisverwertungsverbot immer nur Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Rechtsverstoß bei der Beweiserlangung und staatlichem Verfolgungsinteresse in Hinblick auf ein bestimmtes Delikt sein kann, der Frage nachgegangen werden, wie hier eine derartige Abwägung durchzuführen ist. Dazu ist noch einmal kurz zusammenzufassen welche Rechtsverletzungen bei der Erlangung der Steuerdaten begangen worden sind. Der Verkäufer hat nach schweizerischem Recht die Staatsschutzdelikte der Art. 271, 273 CH-StGB sowie Art. 162 CH-StGB und Art. 47 CHBankenG begangen. Nach deutschem Recht hat er keine Straftat begangen. Die Repräsentanten des deutschen Staates haben beim Ankauf der Daten zunächst einmal in Eigentäterschaft die Art. 271, 273 CH-StGB begangen, die als Staatsschutzdelikte gemäß Art. 4 CH-StGB auch gegenüber im Ausland tätig gewordenen Personen von der Schweiz verfolgt werden können. Zugleich sind Art. 162 CH-StGB und Art. 47 CH-BankenG im Rahmen von Anstiftung bzw. (sukzessiver) Beihilfe begangen worden, Taten, die allerdings als Auslandstaten nicht unter die Strafgewalt der Schweiz fallen. Nach deutschem Strafrecht haben sich auch die Käufer nicht strafbar gemacht. Gleichwohl verstößt das Ankaufen der Daten dann gegen das Trennungsgebot und das BNDG, wenn die Daten – wie im Liechtensteiner Fall unstreitig – vom BND angekauft und an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet wurden. Zugleich sind die §§ 2, 3 BNDG i.V. m. § 20 BVerfSchutzG sowohl durch den Ankauf wie durch die Weitergabe verletzt worden. Auch völkerrechtlich ist der Ankauf der Daten als Verstoß gegen die aus der Unterzeichnung der beiden Anti-Korruptions-Konventionen durch die Bundesrepublik folgenden Verpflichtungen, gegen Korruption zu kämpfen und sich selbst der Korruption zu enthalten, zu bewerten. Welchen Einfluss haben diese Mängel nun auf die Frage nach der prozessualen Verwertbarkeit der gekauften Informationen? Soweit die Daten nicht direkt von den Ermittlungsbehörden gekauft worden sind, was wohl der Regelfall (gewesen) sein wird, haben Ermittlungsbehörden und Gerichte nicht selber die Rechtsverstöße zu verantworten, was in den Bereich der Fernwirkung von Beweisverboten weist, die man-

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gels grundsätzlicher Anerkennung im deutschen Recht35 in diesem Kontext dann zu keinem Beweisverwertungsverbot führen würde. Daher geht die herrschende Meinung davon aus, dass privat-deliktisch erlangte Informationen in der Regel verwertbar sind36 . Das gilt allerdings nur, soweit nicht die Justiz selber auch für die rechtswidrigen und vorsätzlichen Verhaltensweisen anderer staatlicher Behörden mit einzustehen hat. Denn die Rechtsprechung von BVerfG und BGH nimmt dann ein Beweisverwertungsverbot an, wenn grobe Rechtsverstöße, die das Ansehen der Justiz in der rechtstreuen Bevölkerung gefährden könnten, im Verfahren insbesondere im Zusammenhang mit der Erhebung von Beweisen geschehen sind37. Hat nun die Justiz moralisch und prozessual für die rechtswidrigen Handlungen der deutschen Exekutive einzustehen? Wenn wir auf die Wahrnehmung staatlichen Verhaltens durch die (nicht juristisch gebildete) Bevölkerung abstellen – wie das der BGH in seiner soeben zitierten Entscheidung aus 2007 gemacht hat – so ist die Frage sicherlich mit ja zu beantworten. Welche „Unterabteilung“ staatlicher Gewalt gerade handelt, kann der normale Bürger kaum unterscheiden; für ihn handelt der Staat, ob dies Juristen nun der Exekutive oder der Judikative zuordnen mögen. Jedes rechtswidrige oder gar strafbare Verhalten des Staates wird, wenn es denn für ein Strafverfahren von Belang ist, auch als Mangel der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens verstanden. Diese Laienwahrnehmung ist allerdings auch juristisch nachzuvollziehen. Der Staat kann und darf sich in seiner Tätigkeit nicht dadurch Rechtfertigungen verschaffen, indem er rechtswidrige bzw. strafrechtliche Handlungen dadurch „neutralisiert“ dass er sie aus dem einen in den anderen Zuständigkeitsbereich verlagert. Deshalb ist jedes rechtswidrige Verhalten im Bereich staatlicher Gewaltausübung immer auch unmittelbar dem Strafverfahren zuzurechnen, wenn denn dadurch Beweismittel gewonnen worden sind. Es besteht hier eine Situation, die der ähnlich ist, in welcher Staatsanwaltschaft oder Polizei eine private Person zur rechtswidrigen Beweiserlangung benutzt; hier wird zu Recht von der h. M. angenommen, dass dieses private rechtswidrige Tun den Verfolgungsbehörden unmittelbar zuzurech-

35 Ausführlich dazu Pitsch Strafprozessuale Beweisverbote. Eine systematische, praxisnahe und rechtsvergleichende Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Steuerstrafverfahrens, der Zufallsfunde und der Fernwirkungsproblematik, 2009, S. 89 ff; Kühne Strafprozessrecht, Rn. 912 ff; umfassend zu der US-amerikanischen Fernwirkungslehre und ihre Übertragbarkeit auf das deutsche Recht Ambos (Fn.3), S. 128 ff. 36 Jäger Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 124 m. w. N. 37 BVerfGE 44, 353 (383); BGH(GS)St 42, 139; BGH HRRS 2007 Nr. 463 m. Anm. Brüning HRRS 2007, 250.

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nen ist38. Folglich handelt es sich nicht um eine Frage der Fernwirkung von Beweisverboten, sondern um ein Problem des direkten Beweisverbotes. Geben die Verletzung von ausländischen Strafrechtsnormen sowie die Verletzung des Trennungsgebots und der völkerrechtliche Verstoß gegen die lediglich signierten Anti-Korruptions-Konventionen nun hinreichenden Anlass aus dem direkten Beweisverbot auch ein Beweisverwertungsverbot zu deduzieren? Zunächst einmal ist es interessant zu prüfen, wie denn die Verletzung ausländischen Strafrechts durch Repräsentanten des deutschen Staates zu bewerten ist. Dabei ist die Verfolgbarkeit dieser Taten durch die Schweiz auch gegenüber Tätern, die als Deutsche aus Deutschland heraus gehandelt haben von besonderer Bedeutung. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vorstellt, die Schweiz wäre auch dem Rahmenbeschluss „Europäischer Haftbefehl“ durch gesonderten Staatsvertrag mit der EU beigetreten, was ohne Weiteres möglich wäre; dann hätte die Bundesrepublik aufgrund eines schweizerisch-europäischen Haftbefehls die verdächtigen deutschen Beamten ausliefern müssen. Es wäre über § 17 UWG die Beidseitigkeit der Strafbarkeit gegeben und nach Art. 3 des Rahmenbeschlusses39 lägen keine Ausnahmegründe vor, die eine Verweigerung der Kooperation rechtfertigen würden. Diese hypothetische Überlegung zeigt, dass die Verletzung schweizerischen Strafrechts durch deutsche Beamte mehr ist als nur ein unfreundlicher politischer Akt gegenüber einem benachbarten Land, welches durch eine Vielfalt von gesonderten Verträgen weitgehend in die europäische Kooperation eingebunden ist. Obwohl kein deutsches Strafrecht verletzt wurde, ist ein solches Verhalten unter zivilisierten Nachbarstaaten kaum erträglich. Der nationale Rechtsstaat leidet auch dann, wenn er Gerichtsverfahren im Inland unter Verletzung des Strafrechts von rechtlich und kulturell eng verbundenen Nachbarstaaten durchzuführen versucht. Daher muss ein derartiges Vorgehen verhindert werden, was letztlich nur durch die Annahme eines Beweisverwertungsverbots möglich ist. Auch die Verletzung des Trennungsgebots ist ein hinreichend schwerwiegender Vorwurf, um ein Verwertungsverbot zu rechtfertigen, geht es doch hier um die klassische Konstellation der Umgehung polizeilicher und staatsanwaltlicher Handlungsgrenzen durch geheimdienstliche Sonderbefugnisse. 38 EGMR StV 2004,1 m. Anm. Gaede StV 2004, 46; BGHSt 31, 304 (308); 42, 139 (145 ff); 44, 129 (134); Beulke Strafprozessrecht Rn. 481; Kühne Strafprozessrecht Rn. 904.2; LR-Gleß § 136a Rn. 6. 39 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI).

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Hans-Heiner Kühne

Schließlich ist auch die Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtung aus den Anti-Korruptions-Konventionen kein leichter Vorwurf gegen die Wahl der Mittel durch den deutschen Staat. Wie will Deutschland glaubwürdig gegen Korruption vorgehen, wenn der Staat sich selbst das Privileg herausnimmt, sich im Sinne der Konventionen der Korruption zu bedienen – auch wenn diese vom deutschen Strafrecht (noch) nicht so erfasst ist? Auch wenn die fiskalischen Anreize dafür sehr hoch sind, eine völkerrechtliche Rechtfertigung kann hierin nicht gesehen werden. Nach alledem erscheint das Verhalten des deutschen Staates hinreichend bemakelt, um im Rahmen einer Güterabwägung ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen. Bei allen Freiheitsgraden, die eine solche Wertung mit sich bringt, ist doch der rechtliche und politische Schaden höher einzustufen als der ebenfalls unstreitige hohe fiskalische Gewinn. Ob die andere Ansicht von Administration und BVerfG schon dem „Gesetz des Dschungels“ statt dem des Rechtsstaats entspricht, wie Schünemann meint40, mag unterschiedlich beurteilt werden, jedenfalls aber muss die faktische und rechtliche Duldung solchen Vorgehens als kruder Utilitarismus jenseits von rechtsstaatlichem Anstand und völkerrechtlicher Verbindlichkeit bewertet werden.

6. Der Beschluss des BVerfG Der Beschluss des BVerfG macht sich angesichts der obigen Überlegungen die Sache überaus einfach. Zunächst einmal schiebt er die Problematik des Beweisverwertungsverbots mit einer ebenso verwegenen wie beiläufigen Argumentation in den Bereich der Fernwirkung von Beweis(verwertungs)verboten. Dies sei so, weil die fraglichen Tatsachen nur „zur Begründung eines Anfangsverdachts einer Durchsuchung“ und damit die Vorauswirkung von Beweisverwertungsverboten betreffe, die „in den größeren Zusammenhang der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten“ gehörten, bei denen anerkannt sei, „dass Verfahrensfehlern, die ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel zur Folge haben, nicht ohne weiteres Fernwirkung für das gesamte Strafverfahren zukommt“. Warum Beweisverwertungsverbote im Stadium des Ermittlungsverfahrens grundsätzlich anders wirken sollen als in der Hauptverhandlung, bleibt das Geheimnis des Gerichts41. Eine solche Ansicht würde die entscheidende Phase der Beweisgewinnung, das Ermittlungsverfahren, in Hinblick auf Beweis(verwertungs)verbote ungeschützter stellen als die Hauptverhandlung selbst. Das würde die Staatsanwaltschaft von rechtlichen 40

NStZ 2008, 309. Dafür, dass Beweisverwertungsverbote in allen Phasen, also auch schon in der des Ermittlungsverfahrens gelten, vgl. etwa AG Saalfeld StV 2005, 320 m. Anm. Kühne u. w. N. 41

Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren 1285

Bindungen weitgehend befreien und es ihr ermöglichen, mithilfe von letztlich unverwertbaren, weil grob rechtswidrig erhobenen Beweisen, ein Verfahren einschließlich aller denkbaren Zwangsmaßnahmen bis mindestens zur Anklage zu betreiben. Ein solches Vorgehen stellte nicht nur eine unzumutbare Belastung für den Beschuldigten und andere von Zwangsmaßnahmen betroffene Personen dar. Auch verfahrensökonomisch wäre es vollständig verfehlt, Aufwand im Ermittlungsverfahren zu betreiben, der sich in der Hauptverhandlung als unnötig weil für die Entscheidung nicht verwertbar erweist. Und schließlich wäre es eine dramatische Unterschätzung der Stellung und Kompetenz der Staatsanwaltschaft, zu vermuten, man könne ihr im Ermittlungsverfahren nicht zumuten, die Frage der Verwertbarkeit von Anfang an eigenständig zu prüfen42. Interessanter Weise knüpft der Beschluss an die „Fernwirkung“ gar nicht mehr an, sondern beschränkt sich sogleich auf die bekannte Abwägung: „Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten hat das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen anerkannt, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist.“ Nicht überraschend wird dann eine derartige Verletzung abgelehnt: „Die Verwendung der Daten berührt nicht den absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung. Diese betreffen lediglich geschäftliche Kontakte der Beschwerdeführer mit Kreditinstituten“. Der Umstand, dass nur wenige Zeilen zuvor auf weitere Gründe für ein verfassungsrechtlich gebotenes Beweisverwertungsverbot hingewiesen wurde, nämlich „bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind“, bleibt unerwähnt und wird dann erst später außerhalb dieses Kontextes gleichsam nur generell angesprochen und in ebenso überraschender wie inhaltsleerer Weise schlicht abgelehnt: „Schließlich ist nicht erkennbar, dass es sich bei den unterstellten Rechtsverletzungen um schwerwiegende, bewusste oder willkürliche Verfahrensverstöße handelt, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind.“ Eine Verletzung des Trennungsgebots lehnt das BVerfG ab, weil es ein planmäßiges Zusammenwirken von BND und Staatsanwaltschaft wie das Vordergericht nicht zu erkennen vermag. Das ist sicherlich bestenfalls blauäugig. Aber vorwerfbar ist es, wenn das BVerfG nicht prüft, ob denn das Verhalten des BND als staatliches nicht auch der Staatsanwaltschaft zugerechnet werden muss. 42 Davon unabhängig ist es selbstverständlich, dass das Gericht allein die abschließende Definitionsgewalt über die Entscheidung, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt oder nicht, hat.

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Zwar geht das BVerfG, anders als hier der Autor, nicht von der Verletzung ausländischen Rechts aus, sondern übernimmt mit dem Landgericht, dessen Entscheidung angegriffen wird, ungeprüft und ohne auf Details einzugehen, dass deutsches Strafrecht in der Form des § 17 UWG wie auch völkerrechtliche Prinzipien in Bezug auf die internationale Rechtshilfe verletzt worden seien, nicht aber das Trennungsgebot. Bei solchen angenommenen Verletzungen aber schlicht zu behaupten, dass es sich hierbei nicht um „schwerwiegende, bewusste oder willkürliche Verfahrensverstöße handelt, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind“, ist nicht nur eine petitio principii sondern auch die blanke Verweigerung sich in Fiskalsachen auf einen rechtsstaatlichen Diskurs einzulassen.

Eine Frist, die keine ist? Über die Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist DANIEL R. PASTOR

I. Das Problem der überlangen Dauer des Strafverfahrens Das Strafverfahren beruht auf einem Dilemma. Denn aufgrund seiner doppelten Zielsetzung, nämlich der Verwirklichung des materiellen Strafrechts auf der einen und der Beachtung der Rechte des Beschuldigten auf der anderen Seite, sind Konflikte eigentlich vorprogrammiert. Dies stellt nach Ansicht von Claus Roxin gerade das Spezifische am Strafverfahrensrecht dar, worauf letztlich auch seine Anziehungskraft beruht.1 Ihm, dem großzügigen Lehrer von Strafrechtlern aus aller Welt, sei die vorliegende Abhandlung gewidmet. Die wichtigste und dramatischste Erscheinungsform dieses Dilemmas dürfte der Gegensatz sein, den es zwischen der Unterwerfung eines Menschen unter ein Strafverfahren und der Anerkennung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gibt, insbesondere dann, wenn gravierende Zwangsmittel eingesetzt werden, die auch in diesen Grundsatz, sogar bis zu dessen faktischer Aufhebung, eingreifen. Allein die Durchführung eines Strafverfahrens, das immer per se schon Zwang darstellt und ohne diesen Zwang (zumindest in potentieller Form zur Gewährleistung der Wirksamkeit der einzelnen Prozesshandlungen) nicht vorstellbar ist, bedeutet, dass individuelle Rechte betroffen sind: „der schlichte Anfang und umso mehr die Weiterführung eines Strafverfahrens bringen Leid: die Leiden des Unschuldigen sind die traurigerweise nicht aufhebbaren Kosten des Strafverfahrens“.2 Die Dauer der Prozesse gehört zu den wichtigsten Problemen des heutigen Strafverfahrensrechts. Sie bedeutet nichts anderes als die Dauer der prozessualen Aufhebung der Unschuldsvermutung, und es leuchtet ein, dass ein solcher prekärer Zustand so kurz wie möglich sein sollte. Er soll mög

Übersetzung von Dr. Luís Greco LL.M. (München). Roxin Strafverfahrensrecht, S. 4. 2 Carnelutti Principi del processo penale, 1960, S. 55. 1

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lichst schnell aufgehoben werden, entweder mittels einer durch die Rechtskraft endgültig besiegelten Bestätigung der Unschuld, die allen Belästigungen ein Ende setzt, oder mittels der endgültigen Bestätigung der Schuld des bisher nur Verdächtigen. Die beschriebene Situation zeigt die zwei Seiten des Problems der überlangen Verfahrensdauer: Auf der einen Seite vereitelt die übermäßige Dauer die materiellen Zwecke des Verfahrens, also die Wiederherstellung des durch den Verdacht erschütterten Rechtsfriedens, was durch eine freisprechende oder verurteilende Entscheidung erreicht werden sollte. Auf der anderen Seite wird auch das Recht des Beschuldigten, dass sein Fall so schnell wie möglich entschieden wird, verletzt. Die vorliegende Abhandlung befasst sich allein mit diesem zweiten Teilaspekt, also mit der dogmatischen Untersuchung eines prozessualen subjektiven Rechts des Beschuldigten,3 nämlich des subjektiven Rechts auf eine Sachentscheidung innerhalb einer angemessenen Frist. Wie man Verfahren beschleunigen kann, wird zwar hier nicht behandelt; aber die genauere Ausgestaltung dieses Rechts bietet die Grundlage dafür, auch dieses Problem im Individualfall zu lösen und die allgemeinen Arbeitsbedingungen der Strafrechtspflege zu verbessern. Die überlange Verfahrensdauer ist eine der Kernprobleme des Strafverfahrens. Guarnieris4 Behauptungen zu der italienischen Rechtslage dürften sich mühelos auf alle Länder des civil law übertragen lassen. Er meint, die überlange Verfahrensdauer sei das wichtigste und gravierendste Problem der Strafrechtspflege in Italien, das auch alle weiteren Probleme mitenthalte. Es sei nicht nur daran zu erinnern, dass „langsames Recht, verweigertes Recht“ bedeute, sondern es könne aus eben diesem Grund nicht gesagt werden, dass die italienische Rechtspflege eines zivilisierten Staates würdig sei. Guarnieri trägt folgende Daten zur durchschnittlichen Länge von Strafverfahren in einigen Ländern Europas vor: zwischen 9 und 13 Monaten in Italien, 3,9 und 5,1 Monaten in Deutschland sowie 7 und 9 Monaten in Frankreich. In Italien sind 48 % der in Haft befindlichen Personen solche, die in Untersuchungshaft auf ein Urteil warten. Die Lage ist in allen anderen Ländern ähnlich.5 Das Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung leuchtet unmittelbar ein. Solche Durchschnittszahlen, die überwiegend aus einfachen Fällen gebildet werden, lassen auch erkennen, wie unerträglich lang die sog. „Monsterprozesse“ wohl sein müssen.

3

Weigend in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, 1994, S. 11 ff. Guarnieri Cómo funciona la máquina judicial? El modelo italiano, 2003, S. 163. 5 Guarnieri (Fn. 4) S. 128 ff. 4

Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist 1289

Diese Zustände stellen jede Legitimation und alle Grundsätze des Strafverfahrensrechts in Frage. Überschreitet ein Verfahren die angemessene Dauer, dann ist die Unschuldsvermutung auf unerträgliche Weise verletzt, so dass die gravierenden Freiheitseinschränkungen und alle weiteren Nachteile und Belästigungen, die ein solches Verfahren für den Beschuldigten bedeutet – und die von ihm getragen werden müssen, denn das Gesetz erlegt jedem Verdächtigen eine sog. Prozessduldungspflicht auf –,6 nicht mehr legitimierbar sind. Ferner wurde die gesamte instrumentelle Struktur des Verfahrens auch mit Hinsicht darauf konzipiert, dass es relativ schnell agieren kann. Läuft das Verfahren aber nur langsam, dann verlieren die prozessualen Eingriffsbefugnisse einen Teil ihrer Rechtfertigung, und die Nachteile, die aus ihrem Einsatz erfolgen, werden einer Wiedergutmachung kaum oder nicht mehr zugänglich. Noch entscheidender ist aber der Schaden, den ein lange unentschiedenes Verfahren dem Unschuldigen zufügt, derjenige, der den prozessualen Rechten des Schuldigen zugefügt wird und zuletzt der Schaden, der den Rechten desjenigen zugefügt wird, von dem man nicht weiß, ob er schuldig oder unschuldig ist, der aber einer übermäßigen und gelegentlich sogar nicht endenden „Prozessstrafe“ unterworfen wird. Die Dogmatik des jedem zustehenden subjektiven Rechts, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt zu werden, sollte zur Lösung dieser gewichtigen Probleme beitragen.

II. Das herrschende Verständnis über das Recht des Beschuldigten auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist Kaum ein Staat hat Höchstfristen für die Dauer von Strafverfahren festgelegt.7 Die meisten Staaten haben aber dennoch Völkerrechtskonventionen signiert, in denen sie sich dazu verpflichten, dass ihre Strafgerichte Anklagen innerhalb einer angemessen Frist entscheiden. So kennt die Europäische Menschenrechtskonvention den Anspruch des Angeklagten auf Erledigung des Strafverfahrens innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK). Ebenso enthält die Amerikanische Menschenrechtskonvention das subjektive Recht, dass über eine gegen eine Person erhobene strafrechtliche Anklage in einem fairen Verfahren öffent6

Imme Roxin Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege, 2004, S. 232. 7 Ausnahmen gibt es aber durchaus. In den USA gibt es z. B. eine Höchstfrist für die Eröffnung des Hauptverfahrens, aber dies nur dann, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet.

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lich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (Art. 8 Abs. 1 AMRK). Dieses Recht des Angeklagten ist in ähnlicher Weise in vielen weiteren völkerrechtlichen Menschenrechtskonventionen und einer Vielzahl von Verfassungen vorgesehen.8 In der Rechtsprechung hat sich die Frage erst in den 60er Jahren in aller Entschiedenheit niedergeschlagen. So hat der EGMR im Jahr 1968 den Beginn für eine lange Reihe diesbezüglicher Entscheidungen gelegt,9 die die Grundlage für die bis heute herrschende Meinung über die Bedeutung des Ausdrucks „angemessene Frist“ bilden, sei es in Bezug auf die Untersuchungshaft oder auf das Verfahren an sich. Im Rahmen dieses Beitrags können die Grundzüge dieser herrschenden Auslegung und auch der bei einer Missachtung einschlägigen Rechtsfolgen nur zusammenfassend dargestellt werden. Bekanntlich heißt es, die angemessene Frist sei keine Frist im strafprozessrechtlichen Sinne, m. a. W.: Der Ausdruck bezeichne keinen abstrakten, vom Gesetz vorgesehenen Zeitrahmen, innerhalb dessen ein oder mehrere Prozessakte vorgenommen werden müssen. Nach dieser Ansicht, die man als „Theorie der Nicht-Frist“ bezeichnen könnte, sei die angemessene Frist auch nicht in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren zu bemessen, sondern es handle sich bei ihr um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die Richter seien darauf angewiesen, einzelfallbezogen nach Ende der Sache zu beurteilen, ob die Dauer angemessen war, wofür sie unter anderem die wirkliche Dauer des Prozesses, die Komplexität der Fragen und der Beweiserhebung sowie die Schwere der Anschuldigungen, das Verhalten des Beschuldigten und der Strafverfolgungsinstanzen zu berücksichtigen haben. Die „Theorie der Nicht-Frist“ ist verständlich, weil sie auf einen zwischenstaatlichen Gerichtshof zurückgeht, dem es nicht möglich ist, Fristen zu etablieren oder sogar zu suggerieren, die für alle Staaten, die die Autorität des Gerichts anerkennen, passen könnten. Bezüglich der Rechtsfolgen der Feststellung einer Verletzung dieses Rechts sind die „Ausgleichslösungen“ herrschend. Diese Lösungen lassen sich ebenfalls durch ihre Herkunft erklären: Sie stammen nämlich aus Entscheidungen des EGMR, also eines Gerichts, das nur Staaten wegen bereits abgeschlossener Prozesse aburteilt und weder rechtlich dafür zuständig noch faktisch dazu in der Lage ist, etwas zu modifizieren, das bereits auf innerstaatlicher Ebene abgeschlossen wurde. Der EGMR kann z. B. nicht 8

So der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und die Verfassungen von Portugal, Mexiko, Kanada, Spanien, Japan, Italien usw. 9 Ausführlich Pastor El plazo razonable en el proceso del Estado de derecho, 2002, S. 109 ff.

Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist 1291

die Einstellung eines die angemessene Frist überschreitenden, durch Verurteilung beendeten Verfahrens anordnen; er kann höchstens den Staat zum Schadenersatz verpflichten. Diese „Theorie der Nicht-Frist“ und die „Ausgleichslösung“ werden bis heute vom EGMR vertreten,10 und auch Menschenrechtsgerichte des interamerikanischen Systems sind ihnen gefolgt.11 Auch die Einzelstaaten haben von Anfang an die Lehre des EGMR sowohl bezüglich der Bestimmung dieser Frist, die keine ist, als auch zu den Rechtsfolgen der Verletzung dieses Gebots zu ihrem Vorbild gemacht. Deshalb ist der Gedanke vorherrschend, dass die angemessene Dauer eines Strafverfahrens anhand einer allgemeinen, einzelfallbezogenen Abwägung zu ermitteln sei.12 Für den Fall der Verletzung dieses Rechts haben die Gerichte der Einzelstaaten die Ausgleichslösung insbesondere in zwei Formen anerkannt, nämlich in der Form einer (einfachen oder qualifizierten) Strafmilderungslösung und in der einer Strafvollstreckungslösung.13 Nach der Strafmilderungslösung ist die unangemessen lange Verfahrensdauer im Urteil als eine Art Milderungsumstand anzuerkennen. Wäre z. B. eine Strafe von drei Jahren zu verhängen, und wird die Bedeutung der Verfahrensdauer etwa mit einer Strafe von einem Jahr für vergleichbar gehalten, dann ist im Urteil nur eine Strafe von zwei Jahren zu verhängen. Für das Strafvollstreckungsmodell sind dagegen Verfahrensverzögerungen nicht bei der im Urteil zu verhängenden Strafe, sondern bloß bei der Strafvollstreckung zu berücksichtigen. Im soeben gebildeten Beispiel wäre etwa der Beschuldigte für drei Jahre zu verurteilen, aber anschließend wäre anzunehmen, ein Jahr sei schon verbüßt worden.14 Nur vereinzelt wurde für besonders außergewöhnliche Fälle eine nicht ausgleichende Lösung erwogen, nämlich die einer Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses, das daraus abgeleitet wurde, dass eine übermäßige Verfahrensdauer das Rechtsstaatsprinzip verletze.15 Zusammenfassend kann man sagen, dass es über das Recht des Beschuldigten auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist eine herrschende Meinung gibt, der zufolge:

10

Imme Roxin StV 2008, 16. Pastor (Fn. 9) S. 205 ff. 12 Imme Roxin (Fn. 6) S. 242. 13 Volk Grundkurs StPO, S. 142 f; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, S. 83 f. Demnach kann man in leichteren Fällen von Verzögerungen die Strafe bis zu dem Punkt mildern, in dem man gem. § 153 Abs. 2 StPO auf sie verzichten kann. 14 Imme Roxin StV 2008, 14 ff. 15 Imme Roxin (Fn. 6) S. 250. 11

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(i) die angemessene Frist keine Frist im strafprozessrechtlichen Sinne ist, die abstrakt durch ein Gesetz festgelegt werden soll, sondern ein offener Maßstab, anhand dessen zu beurteilen ist, ob die Gesamtdauer eines Verfahrens angemessen war oder nicht. Diese Beurteilung, die Fall für Fall und nach Abschluss des Verfahrens vorzunehmen ist, soll die Komplexität des Falles, die Schwere der Tat, die Schwierigkeit der Beweiserhebung, das Verhalten des Beschuldigten und der Strafverfolgungsinstanzen berücksichtigen (sog. Angemessenheitstest). (ii) als Rechtsfolge der Verletzung dieses Rechts ein Ausgleich geleistet werden muss, entweder in Form einer Milderung der zu verhängenden oder einer Kürzung der zu vollstreckenden Strafe.

III. Die angemessene Frist ist doch eine Frist. Das Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es, eine Deutung des Rechts des Beschuldigten auf eine „angemessene Frist für die Dauer von Strafverfahren“ zu formulieren, die einen engeren Bezug zu den Wertgrundlagen des Rechtsstaatsprinzips aufweist sowie zu der Strafverfahrensdogmatik, die auf diesen Grundlagen beruht. Diese Deutung muss sich im frontalen Gegensatz zu der herrschenden Meinung befinden. Zwar biete ich keine kriminalpolitischen Lösungen für das faktische Problem der überlangen Verfahrensdauer. Die hier vertretenen Ansichten hätten aber die billigenswerte Nebenfolge einer Beschleunigung der Strafverfahren oder zumindest einer Neugestaltung der Strafrechtspflege im Sinne einer effektiveren Wirkweise, und dies in einem doppelten Sinne: sowohl hinsichtlich der effektiveren Beachtung der Rechte der einem Verfahren unterworfenen Person als auch – und als Folge hiervon – hinsichtlich einer effektiveren Verwirklichung des Strafgesetzes. Die hier vertretene These besagt, dass das Recht des Beschuldigten, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt zu werden, folgenden Gehalt aufweis: (i) Der Gesetzgeber muss für das Gesamtverfahren eine Höchstfrist setzen. Es ist möglich, dass für verschiedene Fälle, etwa für einen komplizierten Beweis aufgrund größerer Anzahl von Opfern oder Beschuldigten, unterschiedliche Fristen vorgesehen werden. Dennoch ist es denkbar, für jede Phase des Prozesses Höchstfristen zu bestimmen. (ii) Die Erreichung dieser gesetzlich festzulegenden Höchstdauer steht jeder weiteren Strafverfolgung entgegen und führt zu einer Einstellung des Verfahrens. Beschreibt nämlich die EMRK (ebenso die AMRK) das prozessuale Recht des Beschuldigten mit dem Wort „Frist“, dann kann diese Wendung

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nur im Sinne einer Frist im prozessrechtlichen Sinne verstanden werden, also eines Zeitraums, der durch einen Anfang („dies a quo“) und ein Ende („dies ad quem“) bestimmt wird, innerhalb dessen ein gültiger und wirksamer Prozessakt vorgenommen werden kann. Das ist derart selbstverständlich, dass die ähnliche Vorschrift über die Dauer der Untersuchungshaft (Art. 5 Abs. 3 EMRK; Art. 7 Abs. 5 AMRK) dazu geführt hat, dass fast alle Nationalstaaten ohne Weiteres gesetzliche Höchstfristen festgelegt haben. Die weiteren Gründe, die für diese These sprechen, sind ebenfalls einleuchtend. Die völkerstrafrechtlichen Menschenrechtskonventionen verpflichten die Einzelstaaten, ihre Gesetze und Gerichtsentscheidungen im Sinne eines effektiven Schutzes von Menschenrechten anzupassen. Insbesondere was die angemessene Frist anbelangt, gibt es keinen Beurteilungsspielraum für die Einzelstaaten. Denn hierbei geht es gerade darum, die Macht der Strafverfolgungsinstanzen auf einen Zeitraum zu begrenzen. Dieser Zweck wäre aber vereitelt, wenn die Verfolgungsinstanzen durch eine vage, richterlich bestimmte Dauer letztlich selbst festlegen dürften, wann die Frist überschritten wäre. Wer hier nicht den Gesetzgeber für berufen hält, die Höchstdauer der Frist zu bestimmen, gleicht dem, der den Wolf und nicht den Hirten beauftragt, auf die Lämmer aufzupassen.16 Ferner ist auf das Gewaltenteilungsprinzip zu verweisen, das mit dem Siegeszug der Aufklärung auf die Struktur des Strafverfahrens einen prägenden Einfluss nahm.17 Nach diesem Prinzip ist die Regelung der angemessenen Frist eine ureigene Aufgabe des Gesetzgebers. Denn nur das entspricht dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes, nach dem „die Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre des Beschuldigten nur nach Maßgabe der Gesetze erfolgen, die hierfür die Voraussetzungen, Inhalte und Grenzen so genau wie möglich festlegen und dadurch die Maßnahmen des Staates für den Bürger vorhersehbar machen”.18 Dies folgt daraus, dass jedes Verfahren Ausdruck staatlichen Zwangs ist, der in Rechte derjenigen, die dem Verfahren unterworfen sind, eingreift – von der allgemeinen Verpflichtung, den Prozess zu dulden, bis hin zu spezifischeren Ausprägungen in Form der Verpflichtung, einzelne Maßnahmen 16 Hellmuth von Weber ZStW 65 (1953), 338 f behauptete in seinen Anmerkungen zur EMRK: „Das Verfahren soll schleunig sein, d. h. innerhalb einer angemessenen Frist (within a reasonable time) stattfinden. Diese Formulierung lässt dem Ermessen einen weiten Spielraum und es wird nicht leicht sein, die Verletzung dieser Verpflichtung im Einzelfalle nachzuweisen. (...). Die Unterzeichnung der Konvention sollte daher ein Anlass mehr für den Gesetzgeber sein, die Strafprozessreform voranzutreiben, nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine Beschleunigung des Verfahrens.“ 17 Roxin (Fn. 1) S. 10. 18 Roxin (Fn. 1) S. 10.

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bis zur Untersuchungshaft zu dulden. Ein solcher Zwang ist nur legitim, wenn er gesetzlich gestattet ist, und dies ferner nur dann, wenn seine Grenzen durch ein Gesetz, das sich auch auf die zeitliche Dimension des Zwangs zu beziehen hat (kein Zwang ohne Gesetz [nulla coactio sine lege]), genau festgelegt werden. Dieser Gedanke ist geradezu der Kern des Rechtsstaatsprinzips. Denn in einem Rechtsstaat können die Behörden nur die Befugnisse wahrnehmen, die ihnen das Gesetz ausdrücklich verleiht und dies zudem nur innerhalb der (auch zeitlichen) Grenzen dieser gesetzlichen Gestattungen. Dass die Regelung der Höchstfrist für Strafverfahren durch Gesetze erfolgen soll, gebietet darüber hinaus der „nulla poena sine lege“Grundsatz, sobald man erkennt, dass das Strafverfahren bereits an sich materiell die Wirkungen einer Strafe hat, auch dann, wenn diese Strafe als eine bloß „informelle“ beschrieben wird. Eine gesetzlich bestimmte Frist vermeidet schließlich noch die richterliche Manipulierbarkeit, den Dezisionismus sowie die Willkür einer unklaren Auslegung und setzt der richterlichen Staatsgewalt eine absolute Grenze, über die diese Gewalt nicht mehr verfügen kann. Ist das Verfahren also bereits an sich Manifestation von Zwang, der immer in die Rechte von Personen eingreift, dann ist seine Höchstdauer notwendigerweise durch Gesetz festzulegen. Der Unterschied zwischen dem, was die Rechtsordnung als „verfahrensrechtliche Frist“ bezeichnet, und dem, was die herrschende Meinung unter „Frist des Verfahrens“ versteht, könnte nicht größer sein: Denn einerseits ist nach der herrschenden Meinung die angemessene Frist des Strafverfahrens keine, die abstrakt fixiert oder nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren bemessen werden könne. Andererseits kennt die Rechtsordnung aber keine andere Art, Fristen zu regeln, als abstrakt19 und nach solchen Zeiteinheiten zu verfahren. Im Ergebnis ergibt sich damit aus den dargelegten Argumenten die dogmatische Begründung für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Festlegung der angemessenen Frist (oder Fristen). Jenseits davon ist es mir aber in dem vorliegend gegebenen Rahmen nicht möglich darzulegen, wie lange diese Fristen sein sollten. Diese Aufgabe muss durch eine andere Methodik gelöst werden, da sie auf empirische Untersuchungen, die die Ursachen von Verfahrensverzögerungen feststellen, und ferner auf Überlegungen zu der Bedeutsamkeit der einzelnen Faktoren (Verfahrensart, Komplexität der Beweiserhebung, Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung im Einzelfall, Vielzahl von Straftaten, Beschuldigten oder Opfern) für die Festlegung der 19 Auch die richterlich festgelegten Fristen setzen einen vorherigen gesetzlichen Rahmen voraus. Sie beziehen sich dennoch allein auf weniger relevante Dimensionen des Verfahrens und niemals auf menschenrechtsrelevante Fragen.

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Fristen angewiesen ist. Aber diese Bestimmung ist für den Strafprozessgesetzgeber keine besonders schwierige Aufgabe, denn ein Großteil seiner Tätigkeit besteht gerade darin, Fristen anhand rationaler Kriterien festzulegen. Ist die angemessene Frist als eine prozessuale Frist zu verstehen, dann muss ein solches prozessuales Verständnis auch bezüglich der Folgen ihrer Nichtbeachtung gelten: Bekanntlich sind die Ausgleichsmodelle unbefriedigend.20 Erstens bieten sie dem Beschuldigten, der später nicht verurteilt wird, keine Lösung. Ferner ist bei Verurteilungen, bei denen keine Strafmilderung möglich ist, eine Abweichung nötig (qualifizierte Strafzumessungslösung bzw. Vollstreckungslösung)21. Aber der entscheidende Einwand gegen die Ausgleichsmodelle, der zu ihrer Zurückweisung zwingt, ist folgender: Es ist unerträglich, dass die Verletzung eines derart grundlegenden Rechts des Beschuldigten nur einen Warnhinweis als Rechtsfolge haben soll, dass ihr nur die sekundäre Bedeutung einer Fußnote am Ende des Prozesses zuerkannt wird. Niemand ist bereit anzunehmen, dass der durch Folter, also durch Verletzung des „nemo tenetur“-Grundsatzes (Art. 3 EMRK) gewonnene Belastungsbeweis dennoch verwertet werden könne, solange nur für die Verletzung des Rechts des Beschuldigten ein Ausgleich in Form einer Milderung der zu verhängenden Strafe oder einer Verkürzung der Vollstreckung gewährt werden würde. Das Recht des Beschuldigten, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt zu werden, bedeutet, dass die Verletzung dieser Frist die Rechtsfolge nach sich ziehen muss, welche die Verletzungen sonstiger Verfahrensfristen auch haben. Denn dieses Recht hat einen spezifischen, eindeutigen Zweck, nämlich zu verhindern, dass diejenigen, die einem Verfahren unterworfen sind, über eine bestimmte Frist hinaus verfolgt werden. Fristen sind grundsätzlich ein Zeitraum, innerhalb dessen ein Prozessakt vorgenommen werden soll.22 Im Strafprozess ist eine Frist eigentlich jede zeitliche Bedingung für die Ausübung einer bestimmten prozessualen Handlung. In diesem Kontext bedeutet das also, dass die angemessene Frist den Zeitraum bestimmt, innerhalb dessen der Prozess, als Gesamtheit von Prozessakten, durchgeführt werden soll und darf. Mit anderen Worten: Allein in diesem Zeitraum ist ein dem Rechtsstaat angemessenes Verfahren durchführbar. 20

Imme Roxin StV 2008, 14 ff. Roxin/Schünemann (Fn. 13) S. 83 f. 22 Roxin (Fn. 1) S. 169. Untätigkeitsfristen, z. B. die Frist für die Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung (§§ 228, 229 StPO), bleiben eine Ausnahmeerscheinung. 21

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Der Gesetzgeber muss anhand eines Angemessenheitsurteils eine Höchstfrist für die Dauer des Verfahrens festlegen. Wird diese Frist überschritten, ist das Verfahren zu beenden und nicht mit der Aussicht einer bloßen Gewährung eines Ausgleichs bei Prozessende fortzusetzen. Es wird darüber diskutiert, ob die Überschreitung der Frist ein Verfahrenshindernis zur Folge hat.23 Dies ist eindeutig zu bejahen. An sich verhält es sich ähnlich wie bei der Verfolgungsverjährung. Dennoch bezieht sich diese Diskussion eher auf etwas Sekundäres, nämlich auf die Art und Weise, wie sich das Gebot, dass die Verletzung dieses Rechts die Beendigung des Verfahrens zur Folge haben muss, prozessual niederschlägt. Selbstverständlich würde sich die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses leichter durchsetzen, wenn die Höchstfristen für die Dauer des Strafverfahrens im Gesetz festgelegt wären. Das Entscheidende ist also bereits dargelegt worden: Es verträgt sich nicht mit den Grundlagen eines Rechtsstaates, dass die Verletzung eines grundlegenden Rechts des Beschuldigten, das Bestandteil des fairen Verfahrens ist, letztlich doch gestattet und bis zum Urteil aufrechterhalten wird, um dort – und auch nur im Falle einer Verurteilung – minimale Bedeutung zu erlangen. Diesem Grundgedanken des Strafprozessrechts hat der IStGH in einer neueren Entscheidung zum Rom-Statut genauso elegant wie unwiderlegbar Ausdruck verliehen: „When fair trial becomes impossible because of breaches of the fundamental rights of the suspect or the accused..., it would be a contradiction in terms to put the person on trial. Justice could not be done. A fair trial is the only means to do justice. If no fair trial can be held, the object of the judicial process is frustrated and the process must be stopped.”24

IV. Zusammenfassung Die herrschende Meinung über die Reichweite des Beschuldigtenrechts, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt zu werden, hat dieses Recht – sowohl was die Bestimmung der Angemessenheit („Theorie der NichtFrist“) als auch was die Rechtsfolgen der Missachtung der Frist anbelangt („Ausgleichslösung“) – noch nicht als präzise zeitliche Begrenzung der 23

Imme Roxin (Fn. 6) S. 243 ff; Roxin/Schünemann (Fn. 13) S. 84. Prosecutor v. Lubanga Dyilo (Situation in the Democratic Republic of the Congo), Judgment on the Appeal of Mr. Thomas Lubanga Dyilo against the Decision on the Defence Challenge to the Jurisdiction of the Court pursuant to Article 19 (2) (a) of the Statute of 3 October 2006, Case No. ICC-01/04-01/06 (OA4), 14 December 2006, 37. 24

Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist 1297

staatlichen Strafgewalt erkannt. Angeboten wird nur ein Ensemble allgemeiner Richtlinien, um ex post iudicium zu prüfen, ob das Verfahren eine angemessene Dauer hatte, womit man höchstens zu einem Ausgleich für die Verletzung dieses Beschuldigtenrechts kommen kann. Demgegenüber versuchte die vorliegende Abhandlung zu belegen, dass man sowohl wegen des Rechtsstaatsprinzips als auch wegen eines richtigen Verständnisses des Systems von Individualrechten einen anderen Weg einschlagen muss. Die angemessene Frist muss erstens genauso verstanden werden, wie man im Strafprozessrecht sonst auch Fristen versteht, nämlich als einen Zeitraum, innerhalb dessen – und ausschließlich innerhalb dessen – ein Prozessakt, eine Reihe von Prozessakten, ein Verfahrensabschnitt oder das ganze Verfahren (als Gesamtheit aller einzelner Verfahrensakte, aus denen es besteht) gültig und wirksam vorgenommen werden können. Diese Frist ist vom Gesetzgeber allgemein und abstrakt zu bestimmen. Was die Rechtsfolgenseite anbelangt, ist gegen die herrschende Meinung und ihren fast ausschließlichen Rückgriff auf einen Ausgleich zu fordern, dass die Überschreitung der angemessenen Frist zu einer sofortigen und endgültigen Einstellung des Verfahrens führen muss. Nur diese Rechtsfolge wird einer grundlegenden Norm, deren Zweck es ist, die Überlänge von Verfahren zu verhindern, gerecht. Bis sich der Gesetzgeber zur Bestimmung dieser Fristen entscheiden kann, muss in der Zwischenzeit aber jede auch nur durch Abwägung gewonnene Bejahung einer unangemessenen Länge eines Strafverfahrens dessen sofortige Einstellung zur Folge habe. Das bedeutet keineswegs, dass materiell richtige Urteile um jeden Preis erreicht werden dürfen, solange dies nur innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt. Einer solchen Tendenz steht vielmehr das ganze Werk des großen, durch die vorliegende Festschrift geehrten Humanisten Claus Roxin entgegen.25 Die Beschleunigung des Verfahrens kann nicht mit offensichtlichen Verletzungen der Rechte des Beschuldigten erkauft werden (etwa abgesprochene Verurteilungen ohne Beweisaufnahme, übermäßige Einschränkungen von Rechtsmitteln oder des Unmittelbarkeitsgrundsatzes). Vielmehr wird die Beschleunigung durch die Justizentlastung verursacht werden, die sich aus der Einstellung aller die gesetzliche Höchstfrist überschreitenden Strafverfahren ergeben wird. Die Lösung des Problems der Belastung der Gerichte besteht eigentlich in einer Reflexion über das richtige Verhältnis zwischen Strafbedürfnissen und zu deren Befriedigung vorhandenen – keineswegs ausreichenden und heute ohne jeglichen Bedacht eingesetzten – Mitteln.

25

Beispielhaft Roxin (Fn. 1) S. 2 ff.

1298

Daniel R. Pastor

Nur so erreicht man ein angemessenes Verhältnis zwischen Zeit und Recht. Die schnelle, aber alle Rechte des Beschuldigten beachtende Aburteilung des Verdachts der Begehung einer Straftat wird verhindern, dass Beweismittel verloren gehen und staatliche Ressourcen für niemals endende Verfahren vergeudet werden. Sie wird die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege verbessern und der – weitgehend symbolischen, aber dennoch berechtigten – sozialen Erwartung, dass der Begehung einer Straftat ein sofortiger, den Rechtsfrieden wiederherstellender Schuldspruch folgt, entsprechen können.

Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter GERHARD SCHÄFER

I. In seiner Besprechung der wichtigen Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zum Verwertungsverbot bei bewusster Missachtung des Richtervorbehalts1 wendet sich der Jubilar gegen die von der Rechtsprechung „praktizierte“ Widerspruchslösung mit den Worten „Die grundrechtswahrende Einschaltung des Ermittlungsrichters ist ein zentrales Erfordernis eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, das nicht zur Disposition des Verteidigers gestellt werden darf“2. Bei der Lektüre der nachfolgend vorgestellten, bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen Beschwerdeentscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs 3 ist man versucht, zornig auszurufen, dieses zentrale Erfordernis eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens dürfe auch nicht zur Disposition der Ermittlungsbehörden gestellt werden. Worum geht es? Der Generalbundesanwalt hatte ein zunächst wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB), später nur noch wegen des Verdachts der Gründung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) geführtes Ermittlungsverfahren gegen mehrere bestimmte Beschuldigte eingestellt, aber gegen unbekannt weitergeführt. Nachdem der Generalbundesanwalt einen früheren Beschuldigten4 über die gegen ihn angeordneten und durchgeführten verdeckten Ermittlungsmaßnahmen gemäß § 101 Abs. 4 S. 1 StPO benachrichtigt und später auch gemäß dessen S. 2 auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes nach Abs. 7 S. 2 hingewiesen hatte, beantragte dieser frühere Beschuldigte die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahmen.

1

BGHSt 51, 285 = NStZ 2007, 601. NStZ 2007, 616. 3 BGH NStZ 2010, 711 = StV 2010, 553. 4 In Abs. 2 der Entscheidung ist von „die früheren Beschuldigten“ die Rede, Abs. 3 nennt nur noch „den früheren Beschuldigten“; sachlich ist dies ohne Bedeutung. 2

1300

Gerhard Schäfer

Sein Antrag hatte beim Ermittlungsrichter keinen Erfolg. Auf seine sofortige Beschwerde (§ 101 Abs. 7 S. 3 StPO) hat der Senat aber den Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs aufgehoben und festgestellt, dass die angeordneten Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen und Observationsmaßnahmen, die zum Teil unter Einsatz technischer Mittel und unter Herstellung von Lichtbildern erfolgt waren, bereits deshalb rechtswidrig waren, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Anordnung und Durchführung „ein ausreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten nicht bestand“5. Ermittlungsrichter und Beschwerdesenat beurteilten dabei die Frage des ausreichenden Tatverdachts also unterschiedlich, was schon deshalb außergewöhnlich ist, weil die Unterschiede im Tatsächlichen bestanden. In seiner Begründung legt der Senat zunächst unter breitem Verweis auf im Ergebnis nicht bestrittene Literatur und Rechtsprechung dar6, dass § 100a StPO keinen bestimmten Verdachtsgrad voraussetze. Der hierfür ausreichende einfache Verdacht müsse aber auf bestimmten7 Tatsachen gegründet sein, mit Blick auf das Gewicht des Grundrechtseingriffs seien Verdachtsgründe erforderlich, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen; der Verdacht müsse sich auf eine hinreichende Tatsachenbasis gründen. Auf der Basis seitheriger Rechtsprechung bewegt der Senat sich auch noch, wenn er ausführt, den anordnenden Stellen stehe „bei der Prüfung des Tatverdachts ein gewisser Beurteilungsspielraum zu“8. Die Rechtmäßigkeitsprüfung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO beschränke sich darauf, ob dieser Beurteilungsspielraum gewahrt sei. Nach diesen Maßstäben habe bereits bei der ersten Anordnung der Überwachung und Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs durch den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs ein ausreichender Tatverdacht nicht vorgelegen. Interessant wird die Entscheidung durch die Begründung, warum der Senat im Gegensatz zum Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs einen ausreichenden Verdacht verneint. Die dafür recht eingehend vorgetragenen Gründe lassen sich sehr verkürzt auf folgenden Nenner bringen: Im Ermittlungsverfahren hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Textanalyse verschiedener Äußerungen erstellt, auf Grund derer das Amt zusammen mit anderen Umständen zu der Einschätzung kam, gegen die früheren Beschuldigten lägen belastbare Verdachtsgründe vor. Demgegenüber kam ein linguistisches Behördengutachten des Bundeskriminalamtes 5

Abs. 6 der Entscheidung. Abs. 10 der Entscheidung. 7 Übrigens: unbestimmte Tatsachen gibt es nicht. 8 Abs. 10 der Entscheidung unter Hinweis auf BGHSt 47, 362 (365 f); 48, 240 (248). Gegen einen solchen Beurteilungsspielraum LR25-Schäfer § 100a Rn. 100; § 105 Rn. 111. 6

Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter

1301

zum gegensätzlichen Ergebnis. Danach ließ sich für kein einziges der für die Beweiswürdigung wesentlichen Bekennerschreiben „auch nur mit einem geringen Wahrscheinlichkeitsgrad Urheberidentität“ mit anderen für den Schuldnachweis geeigneten Schreiben feststellen9. Auf Grund einer Anregung des Bundeskriminalamtes beantragte der Generalbundesanwalt sodann beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erfolgreich die Gestattung der Anordnung der Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen, dem nunmehr sowohl die Textanalyse des Verfassungsschutzes als auch das linguistisches Gutachten des Bundeskriminalamts vorgelegt wurden. Weder in der Begründung der Anregung des Bundeskriminalamts an den Generalbundesanwalt noch – wohl folgerichtig – in dessen Antrag an den Ermittlungsrichter findet sich eine Erwähnung des entlastenden linguistischen Gutachtens des Bundeskriminalamts. Bei der Würdigung der Beweise kommt der Senat, dem nunmehr sowohl die Textanalyse des Verfassungsschutzes als auch das linguistisches Gutachten des Bundeskriminalamts vorgelegt wurden, bereits auf Grund der Beweismittel des Bundesamts für Verfassungsschutz zum Ergebnis, dass es „genügend wahrscheinlich“ sei, dass die beobachtete „militante gruppe“ eine Vereinigung im Sinne des § 129 StGB sei. Es lägen aber keine „ausreichenden Anhaltspunkte“ dafür vor, dass die Beschuldigten diese gegründet, sich an ihr als Mitglieder beteiligt oder sich sonst im Zusammenhang mit dieser Gruppe in strafbarer Weise betätigt hätten. Die weitere Begründung lässt aufhorchen. Der Senat habe bereits früher darauf hingewiesen10, dass die vom Bundesamt für Verfassungsschutz vorgenommene Textanalyse allenfalls zu Indizien mit äußerst geringem Beweiswert führe. In dieser Einschätzung sehe er sich durch die Ausführungen zu den methodischen Problemen bei der Analyse und Bewertung von Texten aus dem linksextremistischen Bereich im Gutachten des Bundeskriminalamts bestätigt. Beziehe man das Gutachten des Bundeskriminalamts in die Beweisbewertung ein, werde die Beweisbedeutung des Gutachtens des Bundesamts für Verfassungsschutz noch geringer, was der Senat mit deutlichen Worten näher ausführt11.

II. Der Fall zeigt einen erschreckend gedankenlosen Umgang mit dem Ermittlungsrichter auf. Es soll nicht behauptet werden, dem Generalbundes9

Abs. 24 der Entscheidung. Hinweis auf Beschl. vom 20. Dezember 2007 StB 12/07, 13/07, 47/07 Abs. 33. 11 Abs. 24 der Entscheidung. 10

1302

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anwalt und damit letztlich auch dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs seien vom Bundeskriminalamt Ermittlungsvorgänge vorenthalten worden, um eine bestimmte Entscheidung zu erreichen. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass das Bundeskriminalamt aus der in solchen Verfahren auflaufenden Fülle von Ermittlungsvorgängen eine Auswahl getroffen hat, die ihm für eine Entscheidung des Ermittlungsrichters sachgerecht erschien und dabei das Gutachten aus dem eigenen Hause nicht vorlegte. Indes ist ein solches Verfahren weder mit der gesetzlichen Rolle der Staatsanwaltschaft noch mit der des Ermittlungsrichters vereinbar. Es ist schlicht gesetzwidrig und kann schwerwiegende Folgen haben, von denen nachstehend nur die prozessrechtlichen und haftungsrechtlichen kurz aufgezeigt sein sollen.

III. 1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Ermittlungsrichter als „Kontrollorgan der Strafverfolgungsbehörden“12 die Aufgabe, durch vorbeugende Kontrolle im Wege präventiven Grundrechtsschutzes für eine gebührende Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten gerade in den Fällen zu sorgen, in denen diese vor einem Grundrechtseingriff nicht angehört werden können. Dabei hat der Ermittlungsrichter die Rechtmäßigkeit der beantragten Maßnahme nach allen Richtungen eigenständig und eigenverantwortlich zu prüfen. Nur wenn er von der Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme überzeugt ist, darf er sie erlassen13. Diese umfassende Prüfungspflicht gilt für den für die jeweilige Maßnahme erforderlichen Tatverdacht14 ebenso wie für die Verhältnismäßigkeit15 oder Fragen der Subsidiarität16. Nach § 162 Abs. 2 StPO hat der Ermittlungsrichter zu prüfen, ob die beantragte Maßnahme „gesetzlich zulässig“ ist. In Rechtsprechung und Literatur wird aber nicht einheitlich beantwortet, was darunter zu verstehen ist. So wollen Teile der Literatur und Rechtsprechung die Ablehnung einer beantragten Handlung nur gestatten, wenn sie „völlig ungeeignet“, „ihr Zweck bereits erreicht“ oder wenn sie „offensichtlich unverhältnismäßig“ wäre17.

12

Vgl. nur BVerfGE 103, 142. BVerfGE 96, 44 (51). 14 Einzelheiten bei LR25-Schäfer § 105 Rn. 32. 15 Einzelheiten bei LR25-Schäfer § 105 Rn. 33. 16 Einzelheiten bei LR25-Schäfer § 110a Rn. 30, 31. 17 Vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner § 162 Rn. 14 f. 13

Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter

1303

Dies gelte aber nur für Ermittlungshandlungen „ohne größere Grundrechtsrelevanz“18. Solche Einschränkungen des Prüfungsumfangs widersprechen den Gedanken des vorbeugenden Rechtsschutzes bei Grundrechtseingriffen. Für den nachträglichen Rechtsschutz nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO zur Überprüfung erledigter Zwangsmaßnahmen ist anerkannt, dass das Gericht eine „vollständige, sich auch auf den materiellen Gehalt der Eingriffsmaßnahme erstreckende Rechtmäßigkeitsprüfung“ vorzunehmen habe, die „neben den vom Tatbestand der Eingriffsnorm genannten Voraussetzungen … auch die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der durchgeführten Maßnahme“ umfasst19. Dann aber gilt für den vorbeugenden Rechtsschutz nichts anderes. Dieser kann nicht weniger weit gehen, als dies nach Art. 19 Abs. 4 GG für die nachträgliche Überprüfung geboten ist, da sonst eine Rechtsschutzlücke entstehen würde. 2. Diese vollständige Rechtmäßigkeitsprüfung setzt vollständige Information des Ermittlungsrichters voraus. Deshalb müssen, worauf auch der Beschwerdesenat des Bundesgerichtshofs in der oben dargestellten Entscheidung zutreffend abstellt, „Staatsanwaltschaften und Gerichte … davon ausgehen können, dass sie im Ermittlungsverfahren ihre Entscheidungen auf der Grundlage aller maßgebenden, bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt angefallenen Ermittlungsergebnisse treffen“20. Dass der Ermittlungsrichter die beantragte Maßnahme bei unzureichender Information ablehnen kann, ist schon lange anerkannt21. Im Zweifel wird er sich von der beantragenden Staatsanwaltschaft eine Vollständigkeitserklärung vorlegen lassen müssen. Dasselbe gilt natürlich entsprechend für die Staatsanwaltschaft, wenn diese wie im oben dargestellten Fall befürchten muss, von der ermittelnden Behörde unter Verstoß gegen § 163 Abs. 2 S. 1 StPO unvollständig unterrichtet worden zu sein. Die Forderung nach umfassender Unterrichtung des Ermittlungsrichters ist schnell erhoben, kann aber in der Praxis bei umfangreichen und komplexen Ermittlungen auf große Schwierigkeiten stoßen, da der Ermittlungsrichter angesichts der häufig gebotenen Eilbedürftigkeit seiner Entscheidung schon faktisch kaum in der Lage ist, unter Umständen langjährige Ermittlungen zu entlegenen Sachverhalten so nachzuvollziehen, dass er über die beantragte Maßnahme eigenverantwortlich entscheiden kann. 18

Vgl. BVerfG – Kammer – Beschl. vom 11. Juli 2006, 2 BvR 1717/04 Abs. 13. BVerfG – Kammer – Beschl. vom 11. Juli 2006, 2 BvR 1717/04 Abs. 13; LR25-Schäfer § 105 Rn. 111; KK-Griesbaum § 162 Rn. 19. 20 BGH Beschl. vom 11. März 2010, StB 16/09 Abs. 26. 21 BGHSt 42, 103; LG Stuttgart NStZ 1983, 521 mit zust. Anm. Rieß; LR25-Schäfer § 105 Rn. 20. 19

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Aber auch für diese Fälle gibt es Lösungen, die rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht werden und mit den praktischen Notwendigkeiten alltäglicher Arbeit eines Ermittlungsrichters vereinbar sind. Drei Voraussetzungen sollte die antragstellende Staatsanwaltschaft in diesen Fällen erfüllen. Einmal bedarf es eines präzisen Antrags, der klar die beabsichtigte Ermittlungsmaßnahme umreißt. So müssen – soweit dies nach Kenntnislage möglich ist – bei einem Durchsuchungsantrag die zu durchsuchenden Räume ebenso eindeutig benannt werden, wie die zu suchenden Gegenstände. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren zu gestalten und festzulegen, was im Falle der Durchsuchung gesucht werden soll und auf was – etwa aus Gründen der Ermittlungstaktik – derzeit noch verzichtet werden kann. Überließe man dies dem Ermittlungsrichter, würde dieser aus der Rolle des Kontrollorgans in die des Ermittlers versetzt. Zweitens bedarf es eines begründeten Antrags der Staatsanwaltschaft. In diesem ist darzulegen, aus welchen tatsächlichen Umständen sie vor welchem rechtlichen Hintergrund die Rechtfertigung für die beantragten Maßnahmen ableitet22, auch wenn das Gericht in der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung frei ist. Diese Begründung kann durchaus auch ein polizeiliches Ermittlungsergebnis oder ein Zwischenbericht über polizeiliche Ermittlungen leisten. Auch dieses Erfordernis ist unabdingbar, denn nur die Staatsanwaltschaft hat zu entscheiden wegen welcher (von regelmäßig mehreren) Taten oder Tatteilen die Ermittlungsmaßnahme zu erfolgen hat23. Dass ein Verweis auf vorgelegte Akten diese Begründung nicht ersetzen kann24, liegt auf der Hand. Drittens halte ich die vollständige Aktenvorlage auch dann für erforderlich, wenn im Antrag die Beweislage ausführlich dargelegt oder ein ausführliches Ermittlungsergebnis vorgelegt wird. Der Ermittlungsrichter darf sich die Möglichkeit der Kontrolle der Darlegungen der Staatsanwaltschaft, die – wie wohl auch im eingangs dargestellten Fall – allzu häufig den Berichten der Polizei folgen, nicht nehmen lassen. Allein schon der Zwang, neben dem Ermittlungsergebnis auch die Akten vorlegen zu müssen und so die richterliche Überprüfung des Ermittlungsergebnisses zu „riskieren“, zwingt die antragstellende Behörde zu größter Korrektheit und Vollständigkeit bei der Darstellung der Beweislage. Zudem verschafft eine notfalls nur stichprobenartige Überprüfung der Richtigkeit des Ermittlungsergebnisses dem Richter die für seine Entscheidung notwendige Sicherheit.

22

LR-Erb § 162 Rn. 11. Vgl. LG Landau Beschl. vom 24. September 2008, 3 Qs 13/08; LG Köln StV 1997, 180. 24 LR-Erb § 162 Rn. 11. 23

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In Rechtsprechung und Literatur wird die Frage diskutiert, ob die Ermittlungsbehörde befugt ist, vor der Vorlage an den Ermittlungsrichter die Ermittlungsergebnisse zu sichten und zu gewichten, sodass letztlich die Vorlage eines Aktenauszuges genügen könnte25. Die Frage muss nicht von vorneherein verneint werden. Ob sich der Ermittlungsrichter aber mit ausgewähltem Aktenmaterial, das freilich die Ermittlungsergebnisse vollständig wiedergeben müsste26, zufrieden geben will, unterliegt ausschließlich seiner Verantwortung. Es müsste mindestens mit der Versicherung gewisser Vollständigkeit geliefert werden. Wie gefährlich eine solche Beschränkung sein kann, zeigt der Ausgangsfall. Objektiv kann hier von einer vollständigen Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses ganz sicher nicht die Rede sein, wenn ein Gutachten des Bundeskriminalamts nicht erwähnt wird, welches zu einem der vorgelegten Textanalyse gänzlich entgegengesetzten Ergebnis kommt. Es ist durchaus möglich, wenn nicht sogar naheliegend, dass der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs in Kenntnis dieses Gutachtens anders entschieden hätte. Auch in dem zitierten Fall des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs führte die Aktenauswahl wegen ihrer Unvollständigkeit zu einer Verurteilung zu Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung. Nur am Rande sei zur Verpflichtung des Richters zur eigenständigen und vollständigen Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen noch folgendes angemerkt: Dass die schriftliche Begründung der Entscheidung des Ermittlungsrichters keine leere Schreibübung zu sein hat, hebt der Senat in diesem Zusammenhang wohltuend deutlich hervor27. Schließlich wird in der Literatur zum Teil auf der Grundlage sogenannter rechtstatsächlicher Untersuchungen immer wieder behauptet, dass Ermittlungsrichter auf eine eigene Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen verzichteten, zeige sich schon daran, dass häufig Passagen aus der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft wörtlich in die Beschlüsse übernommen würden. Dass ein solches Verfahren nach sachlicher Prüfung sehr ökonomisch sein kann, sollte zur Kenntnis genommen werden. 3. Keine Besonderheiten gelten im Grunde genommen für die sehr schwierigen Fälle kumulierter Ermittlungsmaßnahmen, die zu einer Totalüberwachung des Betroffenen und damit durch ihr Zusammenwirken zu einem schweren Eingriff in dessen Persönlichkeitsrecht führen können. Man denke nur an den gleichzeitigen Einsatz eines satellitengestützten Navigationssystems (§ 100h Abs. 1 Nr. 2, § 163f StPO), welches den jeweiligen Standort des Betroffenen festhält, eines verdeckten Ermittlers (§ 110a 25

BGH NJW 2003, 3698; KK-Griesbaum § 162 Rn. 19a KK-Griesbaum § 162 Rn. 19a. 27 Abs. 26 der Entscheidung. 26

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StPO), der als Polizeibeamter unerkannt dessen Äußerungen und Regungen beobachtet und vielleicht auch provoziert, der Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO), die das Mithören und Aufzeichnen seiner Telekommunikation einschließlich der Feststellung seines jeweiligen Standorts bei Mobilfunkbenutzung ermöglicht, und des Abhörens und Aufzeichnens des nichtöffentlich gesprochenen Wortes innerhalb oder außerhalb einer Wohnung (§§ 100c und 100f StPO), also in Situationen, in denen der Betroffene sich unbeobachtet wähnt, gestattet. Alle diese Maßnahmen und noch weitere, welche die täglich sich ändernde Technik den Strafverfolgungsbehörden wie auch den Kriminellen zur Verfügung stellt28, dürfen bis zur Grenze des unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung gleichzeitig eingesetzt werden, wenn die einzelnen Maßnahmen jeweils für sich durch die entsprechenden Eingriffsnormen materiell und formell gedeckt und von den jeweils dazu Befugten angeordnet worden sind 29. Allerdings kommt bei einer solchen weitgehenden Überwachung einer Person, die bis zur Totalüberwachung gehen kann, angesichts der starken Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Beachtung des Übermaßverbots, besondere Bedeutung zu30. Auch die Beurteilung der Erforderlichkeit einer Maßnahme und der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes (vgl. §§ 100a Abs. 1 Nr. 3, 100f Abs. 1, 100h Abs. 2 S. 2 Nr. 2, 110a Abs. 1 S. 3 StPO) hat vor dem Hintergrund verschiedener Ermittlungsmaßnahmen mit starker Eingriffsqualität großes Gewicht. Dies alles hat der Ermittlungsrichter vor Gestattung jeder einzelnen Maßnahme zu beachten31. Dazu freilich ist er nur in der Lage, wenn er auch über sämtliche schon getroffene Ermittlungsmaßnahmen umfassend unterrichtet ist und wenn er insbesondere bereits vorliegende Ermittlungsergebnisse kennt. Dieses Postulat kann zu Schwierigkeiten führen, wenn nach § 101 Abs. 2 StPO Maßnahmen und daraus erlangte Erkenntnisse in Sonderakten geführt werden dürfen. Ohne Kenntnis von Abhörmaßnahmen in oder außerhalb einer Wohnung, von Observationsmaßnahmen mit technischen Mitteln (z. B. mittels GPS) oder des Einsatzes eines verdeckten Ermittlers und der dadurch erlangten Erkenntnisse kann der Ermittlungsrichter die Voraussetzungen des

28

Soweit sie z. B. unter den entwicklungsoffenen Begriff des sonstigen besonderen für Observationszwecke bestimmten technischen Mittels im Sinne des § 100h Abs. 1 S. 2 StPO gefasst werden können und damit eine gesetzliche Grundlage haben; vgl. BGHSt 46, 266. 29 Vgl. nur BGHSt 46, 266 (276). 30 BGHSt 46, 266 (276); LR25-Schäfer vor § 94 Rn. 56. 31 BGHSt 46, 266.

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Tatverdachts32 oder die Verhältnismäßigkeit etwa einer beantragten Telekommunikationsüberwachung oder einer der sonstigen genannten Maßnahmen unter dem Aspekt des Übermaßverbots und der Erforderlichkeit nicht beurteilen. Hier hilft nur lückenlose Aktenvorlage. Diese Pflicht zur lückenlosen Aktenvorlage wird nicht etwa durch die Konzentrationsvorschrift des neuen § 162 StPO, der die seitherige Zuständigkeitszersplitterung beseitigt und das Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft für zuständig erklärt, gegenstandslos. Einmal ist es Sache der Geschäftsverteilung des Amtsgerichts, ob alle einen bestimmten Vorgang betreffenden Sachen bei einem bestimmten Richter anzusiedeln sind oder auf verschiedene, sodass trotz der Neuregelung nicht einmal die Gewähr dafür besteht, dass bei einem Amtsgericht der entscheidende Richter alle Vorgänge dienstlich kennt. Zum anderen ist nach § 100d Abs. 1 StPO für den großen Lauschangriff nicht der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts, sondern eine bestimmte Kammer des Landgerichts zuständig, sodass auch nach der Neuregelung in § 162 StPO unterschiedliche Zuständigkeiten bestehen können. Ist also die antragstellende Staatsanwaltschaft gezwungen, dem Ermittlungsrichter für die ihm von Verfassung wegen auferlegte Prüfung auch solche Akten vorzulegen, die an sich geheim gehalten werden dürfen33, steht die Einsicht an diesen Akten allen Verfahrensbeteiligten zu, sobald diese nach § 101 Abs. 2 S. 2 StPO Akteneinsicht zur Wahrung rechtlichen Gehörs erhalten müssen. Spätestens im Beschwerdeverfahren ist dies der Fall34. Will die Staatsanwaltschaft diese Konsequenz vermeiden, muss sie auf derartige Maßnahmen verzichten.

IV. Eine den aufgezeigten Grundsätzen widersprechende, unvollständige Aktenvorlage kann auch weit reichende prozessuale Konsequenzen haben. Fehlen wesentliche Beweismittel, kann der Richter objektiv seine Aufgabe, präventiven Rechtsschutz zu gewähren, nicht leisten. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Es liegt nahe, an ein Verwertungsverbot zu denken, wie dies bei Umgehung des Richtervorbehalts durch Ausschaltung des Richters zunehmend bejaht wird35. Denn es kann letztlich keinen Unterschied machen, ob der von Verfassungs oder Gesetzes wegen 32

So schon BGHSt 42, 103 für die Prüfung des Tatverdachts beim Einsatz eines verdeckten Ermittlers. 33 Vgl. LR25-Schäfer §110d Rn. 15. 34 Eingehend zu diesen Fragen BVerfG – Kammer – NStZ-RR 2008, 16. 35 Vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner § 94 Rn. 21.

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zur Kontrolle der Ermittlungsorgane berufene Richter überhaupt nicht angerufen oder ob er zwar angerufen wurde, seine Entscheidung aber auf brüchiger Grundlage beruht und er deshalb seiner Kontrollaufgabe objektiv nicht nachkommen konnte. Wann freilich ein solches Verwertungsverbot bei Umgehung des Richtervorbehalts durch Ausschalten des Richters greifen soll, ist noch nicht ganz abschließend geklärt. Die dazu erschienene Literatur ist kaum mehr zu übersehen. Die Rechtsprechung ist nicht einheitlich36. Auch hier hat indes Claus Roxin schon sehr früh Klärendes beigetragen, das bis in die neueste Rechtsprechung hineinwirkt. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat im sog. Weimar-Prozess bei einer wiederholten polizeilichen Durchsuchung ohne erneute richterliche Gestattung der Durchsuchung in einer Hilfserwägung ein Verwertungsverbot für den Fall verneint, dass einer richterlichen Entscheidung gesetzliche Hindernisse nicht entgegengestanden hätten und die tatsächlich sichergestellten Gegenstände als solche der Verwertung als Beweismittel zugänglich waren 37 und ist damit den Grundsätzen des hypothetischen Ersatzeingriffs gefolgt. Roxin widerspricht in seiner Anmerkung dieser Begründung und stimmt der Entscheidung nur im Ergebnis zu38. Er weist darauf hin, dass der Bundesgerichtshof bei Zuständigkeitsmängeln die Grundsätze des hypothetischen Ersatzeingriffs nicht angewandt habe, wenn nur der Richter den Eingriff hätte anordnen oder gestatten dürfen39. Bei vorbehaltloser Anwendung dieser Grundsätze könnte der Richtervorbehalt praktisch in jedem Fall unterlaufen werden40. Roxin bekennt sich für diese Fallgestaltungen grundsätzlich zum Gebot der „Abwägung zwischen staatlichem Wahrheitsermittlungsinteresse und den rechtsstaatlichen Schutzbelangen des Betroffenen“ und nennt drei Umstände, die für die Annahme eines Verwertungsverbots wesentlich sind. Danach ist zu berücksichtigen, ob die Anordnung der Maßnahme den Ermittlungsbehörden generell (auch bei Gefahr im Verzug) verboten ist, ob eine richterliche Entscheidung hätte erlangt werden können und schließlich, ob der Verstoß gegen den Richtervorbehalt absichtlich oder in gutem Glauben an die Richtigkeit des Verhaltens erfolgte. Die abschließende These dieser Anmerkung41 lautete: „Wenn nur einer der drei geschil-

36

Vgl. nur die keineswegs vollständigen Nachweise bei BGHSt 51, 285 Abs. 20 ff. NStZ 1989, 375, insoweit in BGHSt 36, 119 nicht abgedruckt. 38 NStZ 1989, 376, 379. 39 Hinweis auf BGHSt 31, 304 (306). 40 So auch jetzt noch Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 24 Rn. 27. 41 Auf sie kommt Roxin in seiner Anmerkung zu BGHSt 51, 285 in NStZ 2007, 616, 617 zurück. 37

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derten Umstände fehlte, müsste die Abwägung zu einem Verwertungsverbot führen“. Genau diese Gedanken nahm nun jüngst der 5. Strafsenat in einer ganz grundsätzlichen und weiterführenden Entscheidung auf und entschied, dass eine bewusste Missachtung oder gleichgewichtig grobe Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts 42

Roxins 43

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Roxin

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„Ein Staatsanwalt, der – wie hier – seine gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten bestehende Leitungsfunktion so weitgehend ignoriert, was zu einer Ausschaltung des Ermittlungsrichters über einen Zeitraum von zweieinhalb Stunden geführt hat, und der sich – ohne die Anrufung eines Ermittlungsrichters auch nur zu erwägen – sachlich unbegründet und ohne Dokumentation auf seine Eilkompetenz beruft, missachtet den Richtervorbehalt bewusst oder verkennt ihn in gleichgewichtiger Weise gröblich. Solches rechtfertigt – mangels besonderer ermittlungsbezogener Umstände … – das vom Landgericht angenommene Beweisverwertungsverbot.“ Abschließend folgt der Senat Roxin auch darin, dass bei einer solchen Verkennung des Richtervorbehalts dem für andere Fallgestaltungen entwickelten Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs keine Bedeutung zukommen könne. Sonst könnte die verfassungsrechtlich und gesetzlich festgelegte Kompetenzregelung unterlaufen und der Richtervorbehalt letztlich sinnlos werden. 42

BGHSt 51, 285; vgl. auch die ganz ähnlich argumentierende Entscheidung einer Kammer des BVerfG: Beschl. vom 24.02.2011 - 2 BvR 1596/10 - zu § 81a Abs. 2 StPO. 43 BGHSt 51, 285 Abs. 22. 44 BGHSt 51, 285 Abs. 22. 45 BGHSt 51, 285 Abs. 28.

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Was folgt aus alledem für die pflichtwidrig unvollständige Unterrichtung des Ermittlungsrichters über die Ermittlungslage? Die Konsequenzen können nicht anders sein, als bei der Ausschaltung des Richters. In beiden Fällen wird die verfassungsrechtlich oder gesetzlich definierte Aufgabe, vorbeugenden Rechtsschutz zu garantieren, berührt. Auch hier wird es für die Frage der Verwertbarkeit auf Grund der richterlichen Entscheidung erlangter Beweise auf eine Gesamtabwägung ankommen. Ist aber die richterliche Entscheidung entsprechend der zweiten Überlegung Roxins zum Nachteil des Betroffenen ergangen, wird ein Verwertungsverbot ebenso unabdingbar angenommen werden müssen, wie bei bewusster oder gleichgewichtig grober Verkennung der Verpflichtung, vollständiger Information des Richters.

V. Eine unvollständige Aktenvorlage an den Ermittlungsrichter kann aber auch, wie schon erwähnt, zu Schadensersatzansprüchen des Betroffenen wegen Amtspflichtverletzung nach Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB führen. Polizei und Staatsanwaltschaft trifft die Amtspflicht gegenüber dem Beschuldigten, die seinen Schutz bezweckenden prozessualen Vorschriften einzuhalten46. Dazu gehört die vollständige Unterrichtung des Ermittlungsrichters47. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Fehler letztlich bei der Polizei als dem Ermittlungsorgan der Staatsanwaltschaft liegt oder bei dieser selbst48. Antragsbefugt gegenüber dem Ermittlungsrichter ist zwar nur die Staatsanwaltschaft. Diese trägt aber die Verantwortung für ihre Ermittlungspersonen. Es erstaunt, wie selten diese Möglichkeit Schadensersatz zu erlangen, diskutiert wird, obwohl die einschlägigen Kommentare eine Fülle von Entscheidungen zitieren49. Unmittelbar einschlägig für das hier erörterte Problem ist das Urteil des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 23. Oktober 200350. Dem lag ein komplizierter Fall mehrerer nacheinander erfolgter Brandstiftungen auf einem Bauernhof zu Grunde. Mit dem Haftbefehlsantrag waren entlastende Umstände, die sich bei Ermittlungen des 46

BGHZ 20, 178 (180); Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 661. Davon geht die neuere Judikatur ohne weitere Begründung aus, vgl. nur BGH NJW 2003, 3693; NJW 2000, 2672 (2675); NJW 1989, 96. 47 BGH NJW 2003, 3693; Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 661. 48 BGH NJW 2003, 3693 Abs. 16. 49 Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 659 bis 662. 50 BGH NJW 2003, 3693.

Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter

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ersten Vorfalls ergeben hatten, dem Ermittlungsrichter nicht vorgelegt worden. Dieser erließ darauf Haftbefehl, der erst nach Vorlage der vollständigen Akten aufgehoben wurde. Dies führte zur Verurteilung des Landes zu Schadensersatz. Das in solchen Fallkonstellationen liegende Risiko für Staatsanwaltschaft und Polizei ist nicht zu unterschätzen. Zwar räumen die Zivilgerichte den Ermittlungsbehörden einen gewissen Vertretbarkeitsspielraum ein. Über die Frage der Rechtswidrigkeit51 und Kausalität entscheiden sie aber selbst. Maßstab ist, wie damals richtigerweise hätte entschieden werden müssen. Für das Verschulden reicht bereits einfache Fahrlässigkeit und insoweit gilt der zivilrechtliche Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, der gerade im Bereich der Amtshaftung zunehmend objektiviert wurde52. Danach geht es nicht um individuelle Vorwerfbarkeit, sondern es kommt auf die Kenntnisse und Fähigkeiten an, die für die Führung des übernommenen Amtes im Durchschnitt erforderlich sind53. Das Verschulden muss sich nicht auf die Vorsehbarkeit eines Schadens, sondern nur auf die Verletzung der Amtspflicht beziehen54. Auch diese zivilrechtliche Seite unseres Problems sollte die Ermittlungsbehörden zu größter Sorgfalt anhalten.

51

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme im Verfahren nach §§ 98 Abs. 2 S. 2, 101 Abs. 7 StPO bindet aber die Zivilgerichte im Amtshaftungsprozess, BGH NJW 1994, 1950 zu §§ 23 ff EGGVG. 52 BGH NJW 2000, 2672 (2674); Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 198. 53 Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 198. 54 BGHZ 135, 354 (362); Staudinger-Wurm (2007) BGB § 839 Rn. 192.

Vorbefassung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses WOLFGANG WOHLERS

I. Einführung in die Problemstellung Gemäß § 203 StPO beschließt das „für die Hauptverhandlung zuständige Gericht“ (§ 199 Abs. 1 StPO) die Eröffnung des Hauptverfahrens, „wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint“. Das Gericht lässt mit diesem Beschluss „die Anklage zur Hauptverhandlung zu und bezeichnet das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfindet“ (§ 207 Abs. 1 StPO). Es kann den in der Anklage bezeichneten Verfahrensgegenstand beschränken und die Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend würdigen (§ 207 Abs. 2 StPO), wobei die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, eine den Beschlüssen des Gerichts entsprechende neue Anklageschrift einzureichen (§ 207 Abs. 3 StPO). Das Gericht muss vom Vorliegen der Prozessvoraussetzungen überzeugt sein und es muss das den Beschuldigten vorgeworfene Verhalten – seine Beweisbarkeit unterstellt – als strafbar einstufen.1 Weiterhin muss der Beschuldigte der ihm zur Last gelegten Straftat „hinreichend verdächtig“ sein. Dies setzt voraus, dass das erkennende Gericht die Verurteilung unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts – gegebenenfalls in Verbindung mit den gemäß § 202 StPO im Zwischenverfahren zusätzlich erhobenen Beweisen2 – als überwiegend wahrscheinlich einstuft.3 Der Bundesgerichtshof hat diesbezüglich festgehalten:

Der Verfasser ist mit der Problematik im Rahmen eines Gutachtens befasst gewesen, das er im Rahmen eines beim LG Potsdam geführten Wirtschaftsstrafverfahrens für die Verteidigung erstellt hat. 1 LR-Stuckenberg § 203 Rn. 16 f; Miehe FS Grünwald, 1999, 387; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 42 Rn. 8; Fezer Strafprozeßrecht 9/86; Nierwetberg NStZ 1989, 213. 2 Meyer-Goßner § 203 Rn. 1; LR-Stuckenberg § 203 Rn. 5; KK-Schneider § 203 Rn. 2; Fezer Strafprozeßrecht 9/88; Kühne Strafprozessrecht Rn. 610. 3 BGH bei Becker NStZ-RR 2004, 227; BayObLG NStZ 1983, 123; JR 1999, 81; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 59; KG NStZ-RR 1998, 301; OLG Karlsruhe wistra 1985, 163, 164; 2005, 72, 73; OLG Köln StraFo 1998, 230; OLG Rostock NStZ-RR 1996, 272; OLG

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Wolfgang Wohlers

„Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens bekundet ein unabhängiges Gericht, daß auf Grund des Ergebnisses der Ermittlungen bei vorläufiger Tatbewertung eine Verurteilung zu erwarten ist.“4 „Hinreichender Tatverdacht bedeutet die Feststellung von Tatsachen, die nach praktischer Erfahrung zu einer Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweisen führen werden.“5 Dass das später erkennende Gericht bereits im Eröffnungsbeschluss das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts bejaht hat, kann bei einem Beschuldigten den Eindruck erwecken, dass er praktisch schon verurteilt ist, und es muss bei ihm den Eindruck erwecken, dass die am Eröffnungsbeschluss beteiligten Richter6 mit einem Vorurteil in die Hauptverhandlung gehen. Dies verletzt zwar nicht die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK),7 wirft aber die Frage auf, ob Richter, die eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit bejaht haben, noch als unparteiisch angesehen werden können. Der verehrte Jubilar hat sich bereits vor mehr als 35 Jahren dafür ausgesprochen, den erkennenden Richter „von der Pflicht zum Erlaß des Eröffnungsbeschlusses zu befreien. Was den Richter – wenigstens nach außen hin – als schon vor dem Eintritt in die mündliche Verhandlung gegenüber dem Angeklagten als befangen erscheinen lassen kann, ist nicht die Aktenkenntnis, sondern neben der am Akteninhalt orientierten Verhandlungsführung vor allem der Eröffnungsbeschluß. Denn schon durch diesen Beschluß legt der Richter sich auf einen hinreichenden Tatverdacht, d.h. die überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit, fest. Will man auf diesen Beschluß wegen des Schutzes, den die Möglichkeit einer Eröffnungsablehnung dem Angeklagten immerhin bietet, nicht verzichten, so muß man ihn einem besonderen, Saarbrücken NStZ-RR 2009, 88; AG Saalfeld StV 2005, 320 mit Anm. Kühne; Meyer-Goßner § 203 Rn. 2; KK-Schneider § 203 Rn. 4; LR-Graalmann-Scheerer § 170 Rn. 23; LR-Stuckenberg § 203 Rn. 12 ff; SK-StPO-Wohlers § 170 Rn. 25; Beulke Strafprozessrecht Rn. 114, 357; Fezer Strafprozeßrecht 9/88; Kühne Strafprozessrecht Rn. 610; Nierwetberg NStZ 1989, 213; Miehe FS Grünwald, 1999, 390; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 42 Rn. 8; a. A. LR25-Rieß § 203 Rn. 12 f; Kühne NJW 1979, 622: dringender Tatverdacht am Ende des Ermittlungsverfahrens; SK-StPO-Paeffgen § 203 Rn. 11: sehr („hoch“) wahrscheinlich. 4 BGHSt 29, 224 (229). 5 BGH StV 2001, 579, 580. 6 Der zuständige Spruchkörper entscheidet in der Besetzung, die für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehen ist, also ohne Mitwirkung etwaiger Laienrichter, vgl. nur SK-StPO-Paeffgen § 199 Rn. 15. 7 Vgl. aber – mit dem Hinweis auf eine „institutionelle Gefährdung der Unschuldsvermutung“ – Kühne Strafprozessrecht Rn. 622.1; Köster Die Rechtsvermutung der Unschuld, Diss. Bonn 1979, S. 178 ff; Loritz Kritische Betrachtungen zum Wert des strafprozessualen Zwischenverfahrens, 1996, S. 58 ff.

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vom erkennenden Gericht unabhängigen Eröffnungsrichter übertragen, wie es der Gesetzgeber schon im Jahre 1964 tun wollte, dann aber wegen der dafür erforderlichen Vergrößerung des Personalbestandes doch unterlassen hat.“8 Dieser Standpunkt, den Roxin bis heute beibehalten hat,9 kann durch eine Einbeziehung der Vorgaben der EMRK nochmals gestärkt werden. Eine Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR belegt, dass die einschlägigen Regelungen des deutschen Strafprozessrechts den Anforderungen nicht entsprechen, die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergeben.10

II. Die EMRK-Kompatibilität des Zwischenverfahrens In der Literatur ist immer schon die Auffassung vertreten worden, dass die am Erlass des Eröffnungsbeschlusses beteiligten Richter als voreingenommen einzustufen sind,11 was dann zur Forderung nach einer Trennung von Eröffnungsgericht und erkennendem Gericht geführt hat. 12 Die in Rechtsprechung13 und Literatur vorherrschend vertretene Auffassung14 geht aber dahin, dass der Erlass des Eröffnungsbeschlusses keine durchgreifenden Zweifel an der Unparteilichkeit der an dieser Entscheidung beteiligten Richter begründet. Das BVerfG hat diesen Standpunkt mit der Erwägung begründet, das deutsche Verfahrensrecht werde seit jeher von der Auffassung beherrscht, „dass der Richter auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantrete, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe“.15

8

Roxin in: Lüttger (Hrsg.), Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 61 f. Roxin Strafverfahrensrecht25 § 40 Rn. 3; vgl. auch Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 42 Rn. 3. 10 So auch bereits IntKomm-EMRK-Kühne Art. 6 Rn. 312. 11 Loritz (Fn. 7) S. 51 ff; Kanka DRIZ 1963, 148 f; Roesen NJW 1959, 1861; Eb. Schmidt NJW 1969, 1144; Schmidt-Leichner AnwBl. 1961, 32 f; vgl. auch Kühne Strafprozessrecht Rn. 622.2; Schünemann GA 1978, 172 f; Sessar ZStW 92 (1980), 712; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 42 Rn. 3; vgl. auch die Darstellung der Auseinandersetzung im Gesetzgebungsverfahren zur RStPO bei Ernst Das gerichtliche Zwischenverfahren nach Anklageerhebung, 1986, S. 112 ff, sowie die Nachweise der älteren Literatur, S. 116 ff. 12 Vgl. die Darstellung bei Ernst (Fn. 11) S. 130 ff. 13 BVerfGE 30, 149 (157); RGSt 62, 299 (302); BGHSt 9, 233 (234 f). 14 Eb. Schmidt NJW 1963, 1081 f (mit einer Differenzierung zwischen Berufs- und Laienrichtern); Schorn JR 1959, 333; Germann NJW 1960, 759; Heinitz JR 1961, 244; vgl. auch Stellungnahme des Deutschen Richterbundes DRiZ 1963, 115 f; sowie LR-Stuckenberg Vor § 198 Rn. 19 ff. 15 BVerfGE 30, 149 (153). 9

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III. Die Vorgaben der EMRK 1. Tatsächliche Befangenheit vs. Anschein der Befangenheit In der – vornehmlich älteren – Literatur ist der Standpunkt der h. M. häufig mit der Erwägung begründet worden, eine Befangenheit infolge Vorbefassung als Eröffnungsrichter sei nicht belegt.16 Geradezu paradigmatisch kommt dieser Standpunkt in einer Stellungnahme des Deutschen Richterbundes aus dem Jahre 1963 zum Ausdruck, in welcher sich der Richterbund zum Vorschlag einer Trennung von eröffnendem und erkennendem Gericht wie folgt äußert: „Grundlage des Trennungsvorschlages ist die Befangenheitsthese: Wenn der Richter das Hauptverfahren eröffnet habe, sei er notwendigerweise befangen und beginne die Hauptverhandlung mit einem Vorurteil über die Schuld des Angeklagten. Diese Vorstellung ist falsch. Das Bild vom erkennenden Richter, der … ein Gefangener seiner Vorurteile sei und von ihnen verleitet werde, die Beweise einseitig zu erheben und dadurch die Verteidigung des Angeklagten zu beeinträchtigen, ist eine grobe Entstellung der Wirklichkeit … Weil dem Richter die Haltung des ständigen Vorbehalts tagtäglich abverlangt wird und abverlangt werden muß, läuft es auf eine unverdiente Diffamierung hinaus, ihm die Fähigkeit zu dieser Haltung gerade für den Fall abzusprechen, daß er den Eröffnungsbeschluß erlassen hat.“17 Hierzu ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass es im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht darauf ankommt, ob ein Richter nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses tatsächlich voreingenommen ist; entscheidend – aber auch ausreichend – ist, ob aufgrund der Mitwirkung am Erlass des Eröffnungsbeschlusses objektiv berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit bestehen können. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK muss über eine strafrechtliche Anklage „von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren“ verhandelt werden, wobei die Unparteilichkeit des Gerichts nach der Rechtsprechung des EGMR sowohl unter subjektiven als auch unter objektiven Gesichtspunkten zu prüfen ist: Unter subjektiven Gesichtspunkten ist die Unparteilichkeit zu verneinen, wenn ein Richter durch sein konkretes Verhalten deutlich gemacht hat, dass er der Sache nicht (mehr) unvoreingenommen gegenüber steht.18 Darüber hinaus ist aber auch noch zu prüfen, ob ungeachtet des Vgl. LR24-Rieß Vor § 198 Rn. 19. Deutscher Richterbund DRiZ 1963, 115. 18 SK-StPO-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 60; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 24 Rn. 42 ff; IntKomm-EMRK-Kühne Art. 6 Rn. 313 f. 16 17

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konkreten Verhaltens des Richters berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen,19 wobei sich die Zweifel aus sonstigen Umständen, insbesondere auch aus einer Vorbefassung ergeben können. 20 Ob derartige Umstände vorliegen, ist nicht aus der individuellen Sicht des jeweils betroffenen Beschuldigten zu entscheiden; entscheidend ist, ob die Zweifel objektiv begründet sind.21 Dass sich eine Voreingenommenheit der am Erlass des Eröffnungsbeschlusses beteiligten Richter empirisch nicht belegen lässt,22 ist vor diesem Hintergrund ersichtlich irrelevant. Es kommt nicht darauf an, ob der Richter, der am Erlass des Eröffnungsbeschlusses mitgewirkt hat, tatsächlich befangen ist; es reicht aus, dass Umstände vorliegen, die bei einem vernünftigen Dritten Zweifel an seiner Unparteilichkeit wecken können. Irrelevant ist schließlich auch der – insbesondere im älteren Schrifttum23 – vertretene Ansatz, dass man auf die Unvoreingenommenheit der Richter trotz Vorbefassung vertrauen dürfe bzw. müsse. Die EMRK gewährleistet Ansprüche, die effektiv und real umzusetzen sind. 24 Der bloße Verweis auf ein normatives Richterbild genügt dem nicht. Hinzu kommt, dass der Einfluss einmal vorgenommener Entscheidungen auf das weitere Verhalten von Richtern durch verschiedene empirische Studien belegt ist.25 Entscheidend ist, ob objektiv begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der an der Eröffnungsentscheidung mitwirkenden Richter bestehen.

19 EGMR vom 24.5.1989, Hauschildt vs. Dänemark, § 50; EGMR vom 24.2.1993, Fey vs. Austria, § 30; EGMR vom 22.4.1994, Saraiva de Carvalho vs. Portugal, § 35; EGMR vom 28.19.1998, Castillo Algar vs. Spain, § 46; EGMR vom 25.7.2002, Perote Pellon vs. Spain, § 43; w. N. bei Frowein/Peukert EMRK-Kommentar Art. 6 Rn. 216 ff; sowie Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 24 Rn. 45 f. 20 SK-StPO-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 58; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 24 Rn. 46. 21 Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 24 Rn. 45; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 54a. 22 So z. B. LR24-Rieß Vor § 198 Rn. 19. 23 So insbesondere der Deutsche Richterbund DRiZ 1963, 115; vgl. auch Eb. Schmidt NJW 1963, 1081 ff; LR23-Meyer-Goßner Vor § 198 Rn. 14; w. N. bei Ernst (Fn. 11) S. 103 ff. 24 EGMR vom 13.5.1980, Artico vs. Italien, § 33. 25 Vgl. – mit Verweis auf die sog. Urteils-Persevanz und den Inertia-Effekt – SK-StPOPaeffgen Art. 6 EMRK Rn. 54; LR-Stuckenberg Vor § 198 Rn. 20; Kühne Strafprozessrecht Rn. 622.1; Loritz (Fn. 7) S. 56 f; Schünemann GA 1978, 172; ders. FS Pfeiffer, 1988, 477; ders. StV 2000, 160 ff; vgl. auch Ernst (Fn. 11) S. 92 ff sowie 120 ff; relativierend Gössel FS Meyer-Goßner, 2001, 188 ff.

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2. Unparteilichkeit infolge Vorbefassung Entscheidend ist, ob berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit eines Richters gegeben sind, wenn dieser im Rahmen der Eröffnungsentscheidung das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts bejaht hat. Das BVerfG hat es nicht als verfassungswidrig eingestuft, dass der Eröffnungsrichter nicht per se von einer weiteren Mitwirkung als erkennender Richter ausgeschlossen ist: „Dem verfassungsrechtlichen Gebot, die Neutralität und Distanz des Richters zu sichern, kann auch weiterhin dadurch Rechnung getragen werden, dass der Gesetzgeber statt des Ausschlusses kraft Gesetzes das Ablehnungsverfahren vorsieht, in dem die Unparteilichkeit des Richters im Einzelfall einer Nachprüfung unterliegt.“26 Damit ist dann aber auch für die Senatsmehrheit nicht ausgeschlossen, dass die Vorbefassung als Eröffnungsrichter ein Problem begründen kann. Noch deutlicher heißt es hierzu in dem gemeinsamen Sondervotum der Richter Leibholz, Geiger und Rinck: „Gemeinsam ist diesen Bestimmungen [= den Regelungen der deutschen StPO, welche die Ausschließung infolge Vorbefassung regeln], dass ein Richter, der schon einmal in einer Sache tätig gewesen ist, nicht noch einmal in derselben Sache mitwirken soll. Demgegenüber erscheint die heute kraft Gesetzes noch mögliche Mitwirkung des Eröffnungsrichters im Hauptverfahren eher als eine Ausnahme, über deren innere Berechtigung in Zukunft der Gesetzgeber zu befinden haben wird.“27 Der EGMR hat sich bisher nicht zur Rechtslage in Deutschland äußern müssen. Seine Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit der weiteren Mitwirkung eines Richters aufgrund von Vorbefassung begründet aber gewichtige Zweifel daran, dass er die Regelung der §§ 199, 203, 207 StPO mit den Vorgaben der EMRK vereinbar ist.

3. Kriterien des EGMR zur Beurteilung der Unparteilichkeit aufgrund von Vorbefassung Nach der Rechtsprechung des EGMR kann der Umstand, dass ein Richter des erkennenden Gerichts bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens in richterlicher Funktion mit der in Frage stehenden Sache befasst war, berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründen. Die Vorbefassung 26 27

BVerfGE 30, 149 (154). BVerfGE 30, 157 (160).

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löst allerdings nicht per se berechtigte Zweifel aus, sondern nur dann, wenn besondere Umstände vorliegen. Die grundlegende Leitentscheidung des EGMR zur Unparteilichkeit infolge Vorbefassung ist der Fall Hauschildt vs. Dänemark vom 24. Mai 1989.28 In diesem Fall ging es um die Frage, ob ein Mitglied des erkennenden Gerichts wegen einer Mitwirkung an Entscheidungen über die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft als befangen anzusehen war. Der Gerichtshof hält fest, dass die Mitwirkung an derartigen Entscheidungen nicht per se die Besorgnis der Befangenheit begründet (§§ 49 f). Anders liege es aber dann, wenn besondere Umstände vorliegen, was der Gerichtshof im konkreten Fall bejaht, weil sich die Richter bei den Haftentscheidungen auf eine Bestimmung des dänischen Strafprozessrechts gestützt hatten, die verlangt, dass sich der Richter versichert hat, dass besonders begründete Verdachtsmomente (particularly confirmed suspicion) dafür bestehen, dass der Angeschuldigte die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat (§ 52): „This wording has been officially explained as meaning that the judge has to be convinced that there is ‚a very high degree of clarity‘ as to the question of guilt … Thus the difference between the issue the judge has to settle when applying this section and the issue he will have to settle when giving judgment at the trial becomes tenuous. The Court is therefore of the view that in the circumstances of the case the impartiality of the said tribunals was capable of appearing to be open to doubt and that the applicant’s fears in this respect can be considered objectively justified.“ Der EGMR hat die Aussagen der Leitentscheidung Hauschildt vs. Dänemark in verschiedenen nachfolgenden Entscheidungen bestätigt. In diesen wird durchgehend betont, dass die Frage, ob berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit eines Richters bestehen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängig ist29 und der Umstand allein, dass ein Richter in den Verfahrensstadien vor Anklageerhebung an sog. pre-trial decisions beteiligt war, begründet für sich gesehen allerdings noch keine berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit.30 Entscheidend sei stets „the extent and nature of the pre-trial measures taken by the judge“.31 Keine berechtigten 28

Deutsche Übersetzung: EuGRZ 1993, 122 ff. EGMR vom 24.2.1993, Fey vs. Österreich, § 30; EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 44; EGMR vom 25.7.2002, Perote Pellon vs. Spanien, § 47. 30 EGMR vom 24.5.1989, Hauschildt vs. Dänemark, § 50; EGMR vom 24.2.1993, Fey vs. Österreich, § 30; EGMR vom 22.4.1994, Saraiva de Carvalho vs. Portugal, § 35; EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 45; EGMR vom 31.7.2007, Ekeberg vs. Norwegen, § 34. 31 EGMR vom 24.2.1993, Fey vs. Österreich, § 30; EGMR vom 31.7.2007, Ekeberg vs. Norwegen, § 34; vgl. auch EGMR vom 22.4.1994, Saraiva de Carvalho vs. Portugal, § 35: „what matters is the scope and nature of these decisions“. 29

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Zweifel an der Unparteilichkeit begründet es, dass ein Richter aufgrund seiner Vorbefassung über eine detaillierte Kenntnis des Verfahrensgegenstandes verfügt32 und/oder der Richter bei den pre-trial decisions die zum damaligen Zeitpunkt vorhandenen Erkenntnisse würdigen musste.33 Ein wichtiges Kriterium ist, ob der Richter durch seine vorhergehenden Entscheidungen „displayed any bias regarding the decision“34, die er als erkennender Richter zu fällen hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Fragen, mit denen sich der Richter zu beschäftigen hat, die gleichen waren wie die, welche er später zu beurteilen hat. 35 In der Entscheidung Bulut vs. Österreich war es für den Gerichtshof entscheidend, dass der betroffene Richter nicht darüber zu entscheiden hatte „whether the accused should be brought to trial. In fact, it has not been established that he had to take any procedural decisions at all. His role was limited in time and consisted of questioning two witnesses. It did not entail any assessment of the evidence by him nor did it require him to reach any kind of conclusion as to the applicant’s involvement.“36 Keine berechtigten Zweifel hat der Gerichtshof des Weiteren in Fällen gesehen, in denen Richter des erkennenden Gerichts zuvor Haftentscheidungen getroffen haben,37 wenn diese Haftentscheidungen auf einer Tatsachengrundlage aufbauten, die von den Beschuldigten nicht bestritten wurde und bei denen es allein darum ging „to establish whether prima facie the police suspicions had some substance and gave grounds for fearing that there was a risk of the accused’s absconding“.38 Für den Gerichtshof war entscheidend, dass die Fragen, die der Haftrichter zu entscheiden hatte, „were not the same as those which were decisive for his final judgment. In finding that there were ‚serious indications‘ against the applicant his task was only to ascertain summarily that the prosecution had prima facie grounds for the charge against the applicant. The charge had, moreover,

32 EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 45, EGMR vom 22.4.1994, Saraiva de Carvalho vs. Portugal, § 38. 33 EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 45. 34 EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 47. 35 Vgl. EGMR vom 6.6.2000, Morel vs. Frankreich, § 47 f, bezogen auf einen Fall, bei dem ein Richter zunächst als „insolvency judge“ und später am „Commercial Court“ tätig war. 36 EGMR vom 23.1.1996, Bulut vs. Österreich, § 34. 37 Vgl. EGMR vom 24.8.1993, Nortier vs. Niederlande, §§ 33 ff. 38 Vgl. EGMR vom 16.12.1992, Sainte-Marie vs. Frankreich, § 33.

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been admitted by the applicant and had already at that stage been supported by further evidence.“39 Anders liegt es dann, wenn der Haftrichter – wie im Fall Hauschild vs. Dänemark und wie im parallel gelagerten Fall Ekeberg vs. Norwegen40 – im Rahmen der Haftentscheidung nicht nur einen einfachen, sondern einen qualifizierten Tatverdacht (particulary confirmed suspicion) zu prüfen und zu bejahen hatte. Von besonderer Bedeutung sind im vorliegenden Zusammenhang drei Entscheidungen, von denen eine gegen Portugal und zwei gegen Spanien ergangen sind, und in denen es um die Frage der Vorbefassung infolge von Entscheidungen ging, mit denen am Anfang der Untersuchung das Vorliegen genügend tatsächlicher Anhaltspunkte für die Eröffnung des Untersuchungsverfahrens bejaht wurde. In einer Entscheidung vom 22.4.1994, Saraiva de Carvalho vs. Portugal, hat der Gerichtshof zunächst darauf hingewiesen, dass die Entscheidung, das Untersuchungsverfahren zu eröffnen, sich von der Entscheidung des erkennenden Gerichts in mehrfacher Hinsicht unterscheidet (§ 37): „Like the Government, the Court accepts that this intermediate decision is not equivalent to a committal for trial. Under the Portuguese law applicable at the time, the judge in charge of the case, when issuing the despacho, was determining whether the file, including the prosecution’s charges, amounted to a prima facie case such as to justify making an individual go through the ordeal of a trial. The issues which the judge has to settle when taking this decision are consequently not the same as those which are decisive for his final judgment.“ Von besonderer Bedeutung war für den Gerichtshof, dass sich die Funktion des Richters darauf beschränkte (§ 38), „to satisfy himself not that there was a ‚particularly confirmed suspicion‘ (see the Hauschildt judgment …) but that there was prima facie evidence ... Nor can … [the] preliminary assessment of the available evidence be regarded as a formal finding of guilt. That was made only in the judgment of 20 May 1987, on the basis of the evidence adduced and tested orally at 263 sittings and which led the division presided over by Mr Salvado to convict the applicant.“ Zu einem anderen Ergebnis ist der Gerichtshof in den beiden Fällen gegen Spanien gekommen. Im spanischen (Militärstraf-)Recht hat der Untersu39

EGMR vom 24.8.1993, Nortier vs. Niederlande, § 35. Vgl. EGMR vom 31.7.2007, Ekeberg vs. Norwegen, §§ 36 ff = forumpoenale 2008, 248 mit Anm. Ryser. 40

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chungsrichter das Verfahren mit einem auto de procesamiento an das Militärgericht zu verweisen, das dann über die Berechtigung des Vorwurfs zu entscheiden hat. Der auto de procesamiento kann von der beschuldigten Person angegriffen werden. Im Fall Castillo Algar vs. Spanien, waren zwei der Richter des Militärgerichts an der Entscheidung beteiligt gewesen, mit der das Rechtsmittel gegen den auto de procesamiento verworfen worden war. Der Gerichtshof kommt in seiner Entscheidung vom 28.10.1998 zu dem Ergebnis, dass berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des erkennenden Gerichts bestanden. Ausschlaggebend hierfür war, dass das Rechtsmittelgericht sich dahingehend geäußert hatte, dass „there was sufficient evidence to allow of the conclusion that a military offence ha[d] been committed, … and insufficient grounds for setting aside [the auto de procesamiento] and disregarding the prima facie evidence of the commission of an offence … on which [the order] had been based‘ … [T]he wording used by the chamber of the Central Military Court that heard the appeal against the auto de procesamiento … could easily be taken to mean that it finally adopted the view taken by the Supreme Court in its judgment of 20 January 1992 that ‚there was sufficient evidence to allow of the conclusion that a military offence ha[d] been committed‘“ (§ 48). In einem weiteren Fall (Perote Pellon vs. Spanien vom 25.7.2002) kam der Gerichtshof ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Vorbefassung des Vorsitzenden und des Berichterstatters des erkennenden Gerichts berechtigte Zweifel an deren Unparteilichkeit begründet hatte (§§ 51 f). Auch in diesem Fall hatte der Untersuchungsrichter das Verfahren gegen den Beschuldigten eröffnet. Auf sein Rechtsmittel hin modifizierte das Rechtsmittelgericht unter Mitwirkung der später als Mitglieder des erkennenden Gerichts tätigen Richter den Tatvorwurf und hielt fest, dass aufgrund zahlreicher gewichtiger und eindeutiger Indizien davon auszugehen sei, dass der Beschuldigte sich an einem Delikt beteiligt habe (§ 48). Der Verweis der Regierung auf den provisorischen Charakter dieser Entscheidung (§ 49) überzeugte den Gerichtshof nicht, wobei von Bedeutung war, dass das Militärtribunal – wiederum unter Mitwirkung des späteren Vorsitzenden und des Berichterstatters des erkennenden Gerichts – die Haftverlängerung ausgesprochen und sich auch in diesem Zusammenhang auf das Vorliegen gewichtiger Indizien gestützt hatte (§ 50). Eine Vorbefassung durch die Mitwirkung an pre trial decisions ist nach alledem dann problematisch, wenn der Richter bei seinen früheren Entscheidungen mit den gleichen Fragen befasst war, die er auch als erkennender Richter zu beantworten hat und/oder er sich bei seinen früheren Entscheidungen in einem solchen Maß festgelegt hat, dass auch aus objektiver

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Sicht berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die dem Richter abverlangte Verdachtsprüfung nicht nur eine Schlüssigkeitsprüfung beinhaltet, sondern einer Schuldfeststellung nahe kommt.41

4. Anwendung auf den Eröffnungsbeschluss a) Parallelität mit der Entscheidung des erkennenden Gerichts Gemäß § 261 StPO hat das erkennende Gericht nach Durchführung der Hauptverhandlung aus dem Inbegriff der erfolgten Beweisaufnahme heraus über die Schuld oder Unschuld des Beschuldigten zu entscheiden. Mit dem Eröffnungsbeschluss lässt das Gericht die Anklage zum Hauptverfahren zu (§ 207 Abs. 1 StPO). Trotz dieser missverständlichen Formulierung handelt es sich der Sache nach eindeutig um eine Entscheidung des Gerichts.42 Dies gilt nicht nur, aber insbesondere dann, wenn das Gericht mit dem Eröffnungsbeschluss die Anklage in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht abändert (vgl. § 207 Abs. 2 StPO).43 Die Zulassung der Anklage ist der Sache nach nichts anderes als eine Anklageerhebung: Der Maßstab des Gerichts bei der Eröffnungsentscheidung entspricht dem der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung44 und das Gericht entscheidet über den tatsächlichen Umfang des Verfahrensgegenstandes und dessen rechtliche Würdigung. Dass der Staatsanwalt gegebenenfalls eine neue abgeänderte Anklageschrift einzureichen hat (§ 207 Abs. 3 StPO), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es letztlich um eine Entscheidung des eröffnenden Gerichts geht, die von der Staatsanwaltschaft nur noch umgesetzt wird. Dass der Gesetzgeber im Zuge der Strafprozessreform 1964 den Wortlaut der einschlägigen Normen dahingehend abgeändert hat, dass sich das eröffnende Gericht – vordergründig – darauf beschränkt, die Anklage der Staatsanwaltschaft zur Hauptverhandlung zuzulassen, ist im Schrifttum zu Recht als „Etikettenschwindel“ bezeichnet worden.45 Bevor das Gericht den Eröffnungsbeschluss erlässt, hat es das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts zu bejahen und es hat – unterstellt, die 41 Vgl. Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention § 24 Rn. 46; vgl. auch EMRK/GG Konkordanzkommentar- Grabenwarter/Pabel, Kap. 14 Rn. 58; Frowein/Peuckert EMRK-Kommentar Art. 6 Rn. 227 f; Ryser forumpoenale 2008, 261. 42 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 42 Rn. 3; Eb. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, Rn. 161 Fn. 285; ders. Lehrkommentar, Nachträge und Ergänzungen zu Teil II (StPO) Vor § 198 Rn. 3. 43 Vgl. LR25-Rieß Vor § 198 Rn. 14. 44 Vgl. SK-StPO-Wohlers § 170 Rn. 25. 45 So ausdrücklich Schmidt-Leichner AnwBl. 1961, 33; vgl. auch Göbel MDR 1962, 437 f; Eb. Schmidt NJW 1963, 1082; SK-StPO-Paeffgen Vor § 198 Rn. 6 m. w. N.

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Vorwürfe lassen sich beweisen – die Strafbarkeit des dem Beschuldigten zur Last gelegten Verhaltens zu bejahen. Dies sind exakt die Fragen, die auch das erkennende Gericht zu prüfen und zu bejahen hat, wenn es den Angeklagten verurteilen will. Die vom eröffnenden Gericht vorzunehmende Prüfung entspricht also der Prüfung, die das erkennende Gericht bei der Urteilsfällung vorzunehmen hat. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Prüfung nach Aktenlage erfolgt, während das erkennende Gericht im deutschen Strafverfahren allein nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung zu entscheiden hat (§ 261 StPO). Damit steht die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegende Beurteilung zwar unter dem Vorbehalt, dass sich in der Hauptverhandlung etwas anderes herausstellen kann.46 In diesem Zusammenhang ist aber darauf zu verweisen, dass Freisprüche in der Verfahrenswirklichkeit nur ausnahmsweise vorkommen. Aktenlage und Ergebnis der Hauptverhandlung sind aber nicht nur im Regelfall weitgehend deckungsgleich, sondern können sich in Einzelfällen sogar vollständig entsprechen, wenn z. B. das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO mit dem Verzicht der Verfahrensbeteiligten auf die Vernehmung von Zeugen (§§ 251 ff StPO) kombiniert wird: In diesen Fällen ergeht auch nach Durchführung einer Hauptverhandlung ein Urteil nach Aktenlage.

b) Das Ausmaß der Festlegung durch den Eröffnungsbeschluss Der Erlass eines Eröffnungsbeschlusses setzt unter anderem voraus, dass das Gericht einen hinreichenden Tatverdacht bejaht. Der hinreichende Tatverdacht soll nach h. M. keinen gleich hohen Grad an Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung voraussetzen wie der – z. B. für den Erlass eines Haftbefehls erforderliche – dringende Tatverdacht.47 Ausgehend von der These, dass sich die Verdachtsgrade des einfachen, des hinreichenden und des dringenden Verdachts durch die Stärke des Tatverdachts unterscheiden, hat beispielsweise der Deutsche Richterbund argumentiert, dass dann, wenn schon der Erlass des Eröffnungsbeschlusses die Unparteilichkeit des Richters in Frage stellen würde, dies erst recht auch für Haftentscheidungen gelten müsse.48 Dieser Versuch eines argumentum ad absurdum geht aber fehl, weil er auf einer falschen Prämisse aufbaut: Der hinreichende und der dringende Tatverdacht unterscheiden sich nicht durch die Stärke des Tatverdachts, sondern allein durch die Tatsachenbasis, auf

46

Miehe FS Grünwald, 1999, 387. Vgl. nur Meyer-Goßner § 203 Rn. 2. 48 Deutscher Richterbund DRiZ 1963, 115, 116. 47

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der dieser Tatverdacht aufbaut:49 Der hinreichende Tatverdacht muss stets auf einem abgeschlossenen Ermittlungsverfahren aufbauen, während der dringende Tatverdacht auch auf einer nur dünnen und lückenhaften Tatsachengrundlage aufbauen kann und manchmal – insbesondere am Anfang des Ermittlungsverfahrens – auch aufbauen muss. Kühne hat dies zutreffend wie folgt umschrieben: „Der hinreichende Tatverdacht nach § 203 „unterscheidet sich vom dringenden Tatverdacht nur durch seine Position am Ende des Ermittlungsverfahrens. Deshalb darf er nur bejaht werden, wenn alle zur Aufklärung erforderlichen Ermittlungen angestellt worden sind. Kein Beweismittel darf im Vertrauen auf die folgende Hauptverhandlung beiseitegelassen worden sein. Sind die Ermittlungen derart vollständig, müssen sie mit dem Ausmaß an Überzufälligkeit die Erwartung einer Verurteilung tragen, mit dem der dringende Tatverdacht begründet wird.“50 Und der BGH hat zur Unterscheidung der beiden Verdachtsarten ausgeführt: „Der dringende Verdacht bezeichnet zwar einen vergleichsweise höheren Grad an Wahrscheinlichkeit. Der hinreichende Verdacht beruht aber – anders als jener – seinem Begriff nach auf einer Ausschöpfung aller wesentlichen Aufklärungsmöglichkeiten und Erkenntnisquellen. Was ihm an Stärke abgeht, wird aufgewogen durch die Vollständigkeit seiner Beweisund Tatschengrundlage, so wie umgekehrt der höhere Verdachtsgrad des dringenden Tatverdachts die bei fehlender Anklagereife noch verbleibende Unbestimmtheit ausgleichen kann.“51 Wenn aber für den Erlass des Eröffnungsbeschlusses nicht nur eine summarische bzw. Schlüssigkeitsprüfung erforderlich ist, sondern eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage nach Abschluss des vollständigen Vorverfahrens zu erfolgen hat, kann man nicht ernsthaft die Auffassung vertreten, die Prüfung durch das eröffnende Gericht beschränke sich auf eine prima facie Prüfung im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK.52 Die Prüfung geht weit über die Prüfung hinaus, die der 49 SK-StPO-Wohlers § 170 Rn. 25; Kühne StV 2005, 321; Steinberg JZ 2006, 1048; Schulz, Normiertes Misstrauen, 2001, S. 613 ff. 50 Kühne NJW 1979, 622. 51 BGHSt 36, 133 (136); vgl. auch SK-StPO-Wohlers § 138a Rn. 9 m. w. N.: Während ein dringender Tatverdacht auch dann gegeben sein kann, wenn die Ermittlungen noch nicht zur Anklagereife gediehen sind, kann ein hinreichender Tatverdacht nur auf der Basis eines anklagereif ausermittelten Sachverhalts angenommen werden. 52 So aber SK-StPO-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 58 a. E.: die Prüfung, die im deutschen Zwischenverfahren stattzufinden habe, sei als eine summarische Schlüssigkeitsprüfung ein-

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EGMR in den Fällen Castillo Algar vs. Spanien und Perote Pellon vs. Spanien als unvereinbar mit den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK eingestuft hat. Der von der h. M. betonte weitere Umstand, dass der Erlass des Eröffnungsbeschlusses angeblich nur eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit verlangt, wird schon dadurch relativiert, dass eine Verurteilung durch das erkennende Gericht nicht den Ausschluss jeglichen Zweifels voraussetzt, sondern es genügen lässt, dass ein Maß an Sicherheit vorliegt, das „vernünftige Zweifel nicht mehr zulässt“.53 Entscheidend ist aber, dass diese – verbale – Differenzierung in der Verfahrenswirklichkeit kein Abbild hat, was sich daran zeigt, dass die Freispruchquote verschwindend gering ist.54 Tatsächlich deutet die sehr kleine Zahl an Freisprüchen darauf hin, dass sich die Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung über die Anklageerhebung und auch das Gericht bei der Eröffnung des Hauptverfahrens intuitiv einen deutlich strengeren Maßstab anlegen, als dies die Formel von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Verurteilung zu suggerieren versucht.55 Angesichts einer Freispruchsquote, die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit immer noch sinkender Tendenz stets unter 10 % liegt,56 kann und muss ein Beschuldigter nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses davon ausgehen, dass ein Freispruch praktisch ausgeschlossen ist.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Das eröffnende Gericht bestimmt mit dem Eröffnungsbeschluss den tatsächlichen Umfang des Verfahrensgegenstandes und dessen rechtliche Würdigung. Weiterhin bejaht es die Strafbarkeit des dem Beschuldigten vorgeworfenen Verhaltens und bringt zum Ausdruck, dass es ihn – vorbehaltlich dessen, dass die in der Hauptverhandlung gegebenenfalls erfolgenden Beweiserhebungen die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht falsifizieren – verurteilen wird. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse muss festgehalten werden, dass

zustufen; vgl. auch Esser Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 585: Der Prüfungsmaßstab des hinreichenden Tatverdachts entspreche dem, was der EGMR noch als „prima facie case“ bezeichnet; anders soll es auch nach Esser dann liegen, wenn im Zwischenverfahren Ermittlungen vorgenommen werden. 53 Meyer-Goßner § 261 Rn. 2 m. w. N. 54 SK-StPO-Paeffgen § 203 Rn. 11. 55 So auch KK-Schneider § 203 Rn. 4; LR-Stuckenberg § 203 Rn 12; SK-StPO-Paeffgen § 203 Rn 11. 56 Vgl. die Angaben bei Rieß DRiZ 1982, 211.

Vorbefassung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses

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– das eröffnende Gericht mit exakt den gleichen Fragen befasst ist, mit denen sich auch das erkennende Gericht zu befassen hat; – sich das Gericht bei Erlass des Eröffnungsbeschlusses nicht auf eine prima-facie Prüfung des Anklagevorwurfs beschränkt, sondern unter Berücksichtigung der im Vorverfahren vollständig erhobenen Beweise zu dem Ergebnis kommt, dass eine Verurteilung des Beschuldigten zu erwarten ist. Dies ist eine Verdachtsprüfung, die einer Schuldfeststellung nahe kommt. Konsequenterweise muss man davon ausgehen, dass der Beschuldigte im Sinne der Rechtsprechung des EGMR berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter hegen kann, die an der Eröffnungsentscheidung mitgewirkt haben. Dieser Befund eröffnet nun zwei Handlungsoptionen: Eine Option besteht darin, der schon bei Schaffung der Reichsstrafprozessordnung und seither im Schrifttum immer wieder einmal erhobenen Forderung nach einer Trennung des eröffnenden vom erkennenden Gericht nachzugeben. Soweit man den damit verbundenen erhöhten Personalaufwand scheut – was historisch gesehen das tragende Argument gegen diese Lösung war57 – und man sich hinsichtlich der praktischen Filterwirkung des Zwischenverfahrens keinen Illusionen hingibt, 58 besteht eine andere Option darin, die EMRK-Kompatibilität dadurch herzustellen, dass auf den Eröffnungsbeschluss entweder gänzlich verzichtet oder aber das Gericht auf eine Prüfung der formalen Voraussetzungen beschränkt wird.59 Welche dieser beiden Lösungen der Gesetzgeber wählt, bleibt ihm überlassen. Was nicht geht, ist eine Lösung, die darin bestehen soll, dass man anerkennt, „dass objektiv zwar das Risiko einer Befangenheit nicht ausgeschlossen werden kann, dass aber angemessene Mittel, ihr vorzubeugen, nicht vorhanden sind.“60

57

Vgl. Loritz (Fn. 7) S. 51 ff. Im Jahre 2008 endeten von den 13.894 mit einem Urteil beendeten erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht 877 (= 6,3 %) mit einem Freispruch. Dem standen 323 Ablehnungen der Eröffnung gegenüber. Bei den Amtsgerichten entfielen auf 441.053 Urteile 37.180 Freisprüche (= 8,43 %) bei 4.584 Ablehnungen (vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, Statistik über Straf- und Bußgeldverfahren, 2010, S. 30, 68). 59 Zu einer entsprechenden Regelung vgl. z. B. Art. 329 der Schweizerischen Strafprozessordnung. 60 So aber Heghmanns Das Zwischenverfahren im Strafprozeß, 1991, S. 54. 58

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers – dargestellt am Fall eines abgenötigten Geständnisses HERIBERT OSTENDORF

1. Offene Fragen Der verehrte Jubilar, mit dessen Lehrbuch „Strafverfahrensrecht“1 sich der Autor schon auf sein 1. Staatsexamen vorbereitet hat, hat seinen Rechtsstandpunkt, dass verdeckte Aushorchungen durch die Strafverfolgungsbehörden unzulässig sind und „die offene Vernehmung die einzige gesetzliche Form der Beschuldigtenbefragung“ ist, seit langem eingenommen und wiederholt bekräftigt.2 Obwohl der Argumentation kaum noch etwas hinzugefügt werden kann, soll ein kürzlich vom Landgericht Kiel entschiedener Fall Anlass sein, sich nochmals mit den Beschuldigtenrechten beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers (VE) in der Praxis zu beschäftigen. Zwar hat der Gesetzgeber den Verdeckten Ermittler mit den §§ 110a – 110c StPO im Strafverfahren legitimiert – im Unterschied zum Einsatz von V-Personen, was zunehmend auf Grund des ungenutzten Zeitablaufs als ein rechtsstaatlicher Verstoß und kriminalpolitisches Ärgernis gebrandmarkt werden muss 3, vieles ist aber gesetzlich ungeklärt geblieben und muss von Rechtsprechung und Rechtslehre konkretisierend nachgeholt werden. Dies gilt insbesondere für die Frage, wie bei einem solchen Einsatz eines VE die Beschuldigtenrechte gewahrt werden können. Dies betrifft auch die zusätzlich eingeführte Ermittlungsgruppe „Nicht öffentlich ermittelnde Polizeibeamte“, d. h. Polizeibeamte, die zwar ohne Legende i. S. des § 110a Abs. 2 S. 1 StPO tätig werden, aber ihre Polizeifunktion verheimlichen. 4 Nach Beulke ist mangels klarer gesetzlicher Regelung „hier nahezu alles umstritten“5.

1

Begründet von Eduard Kern, ab der 9. Aufl. (1969) fortgeführt von Claus Roxin. Roxin NStZ 1995, 465; ders. NStZ 1997, 18; ders. NStZ 2009, 41. 3 Siehe bereits Ostendorf/Seitz StV 1985, 73 ff; sowie Ostendorf Kriminalistik 1985, 409; siehe auch BVerfG NStZ 2000, 489 ff. 4 Siehe Ziff. 2.9 Anlage D zu RiStBV. 5 Beulke Strafprozessrecht Rn. 481d. 2

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2. Der Fall (LG Kiel 8 Ks 4/09; 598 Js 33951/05) Dem Angeklagten wurde mit der Anklage vom 12. Mai 2009 vorgeworfen, in der Zeit zwischen dem 6. und 10. Juli 1989 seine frühere Freundin M. im Sinne des § 211 StGB heimtückisch getötet und anschließend vergraben zu haben. Von diesem Vorwurf wurde er vom Landgericht Kiel am 15. Januar 2010 aus tatsächlichen Gründen rechtskräftig freigesprochen. Bereits die Staatsanwaltschaft hatte auf Freispruch plädiert. Das angebliche Tatopfer wurde niemals gefunden. Der am 3. Mai 1963 geborene Angeklagte wurde im Jahr 1984 wegen Geistesschwäche entmündigt. Er war vielfach in stationärer sowie ambulanter Behandlung wegen des Verdachts einer Psychose, somatischer Beschwerden und Funktionsstörungen psychischen Ursprungs. Diverse gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren wurden wegen Schuldunfähigkeit eingestellt. Nachdem die Ermittlungen in dem Fall zu keinem Erfolg geführt hatten, wurde 6 Jahre nach dem Verschwinden von Frau M. im November 2005 ein Verdeckter Ermittler „Michael“ eingesetzt, der in die Werkstatt für Behinderte, in der der Angeklagte tätig war, eingeschleust wurde, um dort angeblich Sozialstunden abzuleisten. Dieser Einsatz des Verdeckten Ermittlers dauerte bis Juli 2006. Der Angeklagte hat sich sowohl gegenüber dem Verdeckten Ermittler als auch im Rahmen seiner kriminalpolizeilichen Vernehmungen sowie der Exploration durch den Sachverständigen Dr. J. der Tatausführung bezichtigt und insoweit Geständnisse abgelegt. Die Kammer ist indes nach Durchführung der Beweisaufnahme im Anschluss an das aussagepsychologische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Köhnken zu der Überzeugung gelangt, dass diese Geständnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit als falsch einzustufen sind. Zu dem Verhältnis des Angeklagten zu dem Verdeckten Ermittler führte der Sachverständige Prof. Köhnken nach den Urteilsgründen aus, „dass der Angeklagte auf den VE „Michael“ getroffen sei, als er selber in einem unzufriedenen und zurückgezogenen Zustand gelebt habe. Mit dem Erscheinen des Zeugen sei für ihn gleichsam „die Sonne aufgegangen“. Die Beziehung des Angeklagten zu dem Zeugen habe sich in der Folgezeit ständig verbessert und intensiviert. Dies komme plastisch in dem Umstand zum Ausdruck, dass der Angeklagte erklärt habe, dass der „Michael“ damals sein bester Freund gewesen sei. Es spreche vieles dafür, dass der Zeuge Michael der vielleicht einzige, möglicherweise sogar der erste gewesen sei, der sich für die Lieblingsthemen des Angeklagten interessiert habe. Die Arbeitskollegen des Angeklagten hätten dieses Interesse nicht gehabt. Insgesamt werde deutlich, welche Tiefe die Beziehung zum

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers

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VE „Michael“ auf Seiten des Angeklagten erreicht gehabt habe. Dem entspreche auch das vom VE „Michael“ geschilderte symbolische Verhalten des Angeklagten, das darin bestanden habe, dass er seinen Arm auf die Schulter des VE „Michael“ gelegt habe. Dieser habe dem Angeklagten zudem durch die Erzählung kompromittierender Geschichten über sich und die Übergabe eines Schlüssels für ein Behältnis, in dem sich vermeintlich wichtige Dokumente des Zeugen befanden, scheinbar großes Vertrauen entgegengebracht. In dieser Situation, in der bei dem Angeklagten die Einschätzung gereift sei, einen Freund gewonnen zu haben, habe ausgerechnet dieser Freund ihm am 18. Juli 2006 geradezu aus heiterem Himmel plötzlich Vorwürfe gemacht, dass der Angeklagte ihn hinsichtlich der Gründe des Verschwindens der M. belogen habe. Des Weiteren habe er den symbolisch wichtigen Tresorschlüssel von dem Angeklagten zurück verlangt. Dieser „Strategieschwenk“ des VE „Michael“ könne in seinen Auswirkungen auf das Verhalten des Angeklagten gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Angeklagte habe darauf auch jetzt noch entgegnet, dass er und „Michael“ doch Freunde seien, und an seiner Darstellung festgehalten, dass er mit dem Verschwinden der M. nichts zu tun habe. Aus den VE „Michael“ betreffenden Vernehmungsprotokollen lasse sich ersehen, dass dieser bei seiner Arbeit nicht mit einer ergebnisoffenen Hypothese vorgegangen sei, sondern vielmehr der Überzeugung gewesen sei, dass der Angeklagte etwas mit dem Verschwinden der M. zu tun haben müsse. Dies habe bei dem VE zunehmend zu einer so genannten konfirmatorischen Informationsbeschaffung und -bewertung geführt. Deutlich werde dies etwa an den vielfachen Bemerkungen in den Vernehmungsprotokollen dahingehend, dass der VE „Michael“ hinsichtlich der Umstände des Verschwindens von M. bei dem Angeklagten „nachgebohrt“, „noch einmal nachgefragt“, „verschiedentlich nachgehakt“, „noch einmal gefragt“ bzw. „immer noch mal wieder nachgefragt“ habe. Insgesamt wurde erkennbar, dass der Angeklagte von dem VE gerade dann Zuwendung und Aufmerksamkeit erhalten habe, wenn er über den Tod und die Beseitigung von Leichen gesprochen habe. Bei dem Angeklagten habe dies einen Lernprozess dahingehend in Gang gesetzt, dass er dieses Verhalten nur wiederholen müsse, um erneut die Aufmerksamkeit des Zeugen Michael genießen zu können. Durch das gleichwohl fortwährende Bestreiten des Angeklagten, etwas mit dem Verschwinden der M. zu tun zu haben, sei es dann zu dem ebenfalls fortwährenden Nachfragen und Nachhaken seitens des VE hinsichtlich der Beteiligung des Angeklagten am Verschwinden der M. gekommen. Für den Angeklagten habe dieses Insistieren unterbewusst den Eindruck entstehen lassen, dass seine dem

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VE gegebenen Antworten „falsch“ seien. Unter diesem Eindruck habe er sich dem VE gegenüber in einer sich immer weiter zuspitzenden Situation und der immer stärker werdenden Androhung des Zuwendungsentzuges dann schließlich der Tatausführung bezichtigt.“ (Urteil S. 16, 17). „Insgesamt sei vor diesem Hintergrund eher erstaunlich, wie lange der Angeklagte dem auf ihn ausgeübten psychischen Druck widerstanden habe und bei seiner Version geblieben sei, mit dem Verschwinden der Frau M. nichts zu tun zu haben.“ (Urteil S. 18). Eine rechtsstaatliche und strafprozessrechtliche Würdigung des Einsatzes des VE fehlt in dem gem. § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil. Lediglich die Kostenentscheidung gibt eine versteckte Kritik wider. Von der nach § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO gegebenen Möglichkeit, dem Angeklagten seine notwendigen Auslagen aufzuerlegen, hat die Kammer keinen Gebrauch gemacht: „Zwar hat der Angeklagte dadurch, dass er sich in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig und im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen selbst belastet hatte, im Sinne der vorbezeichneten Vorschrift die Erhebung der öffentlichen Klage veranlasst. Angesichts der dargestellten Art und Weise, in der es zu seinen Geständnissen kam, erschien es der Kammer indes als unbillig, dies mit Kostenfolgen zu verknüpfen.“ (Urteil S. 24). Dieser Fall macht zunächst deutlich, dass eine Reduzierung von Sinn und Zweck der §§ 136, 136a StPO auf die Schutzfunktion für den Beschuldigten der Bedeutung dieser Bestimmungen nicht gerecht wird. Es geht auch um die korrekte Erlangung von Beweismitteln, um die Gewährleistung einer „richtigen“ Justizentscheidung und letztlich um die Akzeptanz eines Strafprozesses in der Bevölkerung im Sinne eines fairen Verfahrens. So wird in der Literatur neben der Verteidigerfunktion auch die Inquisitionsfunktion genannt6. Diese Tauglichkeit als Informationsquelle, als „Beweismittel“7 ist bei Nichteinhaltung der Beschuldigtenrechte infrage gestellt. Auch wenn hier erst mit Hilfe eines Gutachters, d. h. aus aussagepsychologischen Gründen ein Falschgeständnis „als hochgradig wahrscheinlich“ angesehen wurde8, so stellt sich doch die vorrangige Frage, ob nicht bereits aus rechtsstaatlichen und strafprozessrechtlichen Gründen dieses Beweismittel zurückgewiesen werden musste. Es geht also um die Unverwertbarkeit des zu6

Kindhäuser Strafprozessrecht § 6 Rn. 26 m. w. N., Rn. 34. Siehe hierzu Roxin Strafverfahrensrecht22 § 25 I; siehe hierzu auch aus internationaler Sicht Safferling/Hartwig ZIS 2009, 793. 8 So das Ergebnis des Gutachtens von Prof. Köhnken, S. 62. 7

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers

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nächst gegenüber dem VE und in der polizeilichen Vernehmung abgelegten, später widerrufenen Geständnisses.

3. Notwendigkeit einer justiziellen Kontrolle Gem. § 110b Abs. 1 StPO ist für den Einsatz eines VE die Zustimmung der Staatsanwaltschaft Voraussetzung. Die Zustimmung ist schriftlich zu erteilen und zu befristen. Beim Einsatz gegen einen bestimmten Beschuldigten ist eine richterliche Genehmigung erforderlich (§ 110b Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO). Wenn diese Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen Wirksamkeit entfalten sollen, so muss auch eine inhaltliche Prüfung des Einsatzes gem. § 110a StPO erfolgen. Hier kam einmal der Einsatz gem. § 110a Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht: „Zur Aufklärung von Verbrechen dürfen verdeckte Ermittler auch eingesetzt werden, soweit aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr der Wiederholung besteht.“ Da sich sechs Jahre nach dem spurlosen Verschwinden von M. bei dem Angeklagten keine konkrete Wiederholungsgefahr i. S. eines Tötungsdelikts gezeigt hat, scheidet dieser Einsatzgrund hier aus. Weiterhin dürfen zur Aufklärung von Verbrechen Verdeckte Ermittler eingesetzt werden, „wenn die besondere Bedeutung der Tat den Einsatz gebietet und andere Maßnahmen aussichtslos wären“ (§ 110a Abs. 1 S. 4 StPO). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, wenn man von einem Tötungsverbrechen ausgeht. Staatsanwaltschaft und Gericht müssen sich darüber hinaus über die Art und Weise des Einsatzes, über die Ergebnisse berichten lassen, sonst kann schon die vom Gesetzgeber gewollte zeitliche Begrenzung – die Zustimmung ist „zu befristen“ – nicht umgesetzt werden. Die Verlängerungsmöglichkeit bedingt, dass die Voraussetzungen für den Einsatz fortbestehen (§ 110b Abs. 1 S. 4 StPO). Staatsanwaltschaft und Gericht müssen aber nicht nur über die Rechtmäßigkeit des „Ob“ entscheiden, sondern auch die Rechtmäßigkeit des „Wie“ des Einsatzes kontrollieren. Dies folgt für die Staatsanwaltschaft schon aus ihrer Leitungsfunktion für das Ermittlungsverfahren (§ 161 Abs. 1 StPO)9, darüber hinaus aus der vom Gesetzgeber an Staatsanwaltschaft und Gericht übertragenen Verantwortung für diesen ultima-ratio-Einsatz eines VE. Mit dem Beschluss vom 27.5.2009 hat der BGH10 in einem obiter dictum die Staatsanwaltschaft in die Pflicht genommen. Die Staatsanwaltschaft müsse ihre Leitungs- und Kontrollbefugnisse effektiv ausüben, um so prozessrechts- und rechts9

Siehe auch Ziff. 2.5 Anlage D zu RiStBV: „Beim Einsatz auftretende materiell- oder verfahrensrechtliche Probleme trägt die Polizei an die Staatsanwaltschaft heran. Die Staatsanwaltschaft trifft ihre Entscheidung in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Polizei.“ 10 BGH StV 2010, 3.

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staatswidrige Ermittlungen, die zu einem Beweisverwertungsverbot führen können, von vornherein zu verhindern. Beim Einsatz eines VE gegen einen bestimmten Beschuldigten trifft diese Kontrollbefugnis auch das Gericht gem. § 110b Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO. Gerade dieser Fall zeigt, wie notwendig eine solche Kontrolle ist. Nach den Gutachten des Psychologen Prof. Köhnken ergibt sich aus dem Verhalten des VE, „dass er die Informationssuche nicht als eine ergebnisoffne Hypothesenbildung betrachtet hat, sondern bereits frühzeitig die Überzeugung hatte, dass Herr S. etwas mit dem Verschwinden der M. zu tun haben müsse und seine Aufgabe primär darin bestehe, den Verdächtigen zu einem Geständnis zu veranlassen.“ (Gutachten, S. 48). Das ist nicht die gem. § 160 Abs. 2 StPO gebotene „offene“ Ermittlungsarbeit, die auch nach entlastenden Umständen fragt. Da die Polizei bei ihrer Ermittlungstätigkeit unter der Leitung der Staatsanwaltschaft steht, muss dieser Grundsatz auch für die Polizei gelten. Dementsprechend ist dem Beschuldigten gem. § 136 Abs. 2 StPO Gelegenheit zu geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Dies gebietet zudem die Verpflichtung, ein faires Verfahren zu führen (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Wie ergebnisorientiert i. S. einer unbedingten Tataufklärung die polizeilichen Ermittlungen geführt wurden, ergibt sich u. a. auch aus Folgendem. Am 18. Juli 2006 beschuldigte der VE den Angeklagten, dass dieser in Sachen der verschwundenen Frau M. ihn permanent belogen habe, er kündigt dem Angeklagten deshalb die Freundschaft auf. Am nachfolgenden Tag, am 19. Juli 2006 findet die erste kriminalpolizeiliche Vernehmung nach Einsatz des VE statt – ohne Verteidigerbeistand. Bei der Vernehmung stand der Angeklagte unter erheblichem Alkoholeinfluss. Der Atemalkoholtest ergab einen Wert von vergleichbar 1,7 ‰. Die Vernehmung wurde deshalb als „Gespräch“ geführt und über dieses fünfstündige „Gespräch“ nur ein Gesprächsvermerk festgehalten – mit dem zunächst folgenschweren Geständnis. Hierbei wurde dem Angeklagten nach anfänglichem Leugnen die Erklärung angeboten, dass nicht er selbst, sondern ein in ihm wohnendes „böses Ich“ die Tat begangen habe (Gutachten, S. 57). Der Gutachter formuliert drastisch: „In dieser Verfassung war Herr S. vermutlich nicht mehr sehr weit davon entfernt, die Erschießung John F. Kennedys oder das Erstechen des Generalissimus Wallenstein zu gestehen.“ (Gutachten, S. 53). Das sind zumindest keine an der Wahrheitsermittlung orientierte Ermittlungsmethoden. Schon die Protokollierungspflicht gem. § 168b Abs. 2 StPO i. V. m. § 168a StPO, die auch für die Polizei gilt 11, wurde für die spätere Nachprüfbarkeit nicht eingehalten. Nach dem Gutachten stellt sich die Ver11

BGH NStZ 1995, 353.

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers

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nehmung gerade zu als eine Verleitung zur Falschaussage dar, mögen die Beamten auch subjektiv von der Täterschaft des Beschuldigten überzeugt gewesen sein. Auch wenn unterstellt werden darf, dass dies nicht die übliche Vorgehensweise der Polizei darstellt, so werden damit doch Gefahrenmomente offenbart, die der gezielte Einsatz eines Verdeckten Ermittlers mit sich bringt. Es sind dies Gefahrenmomente für Beschuldigtenrechte, für die Durchführung eines fair-trials sowie für die Wahrheitsermittlung. Die Überzeugung des Gerichts in der mündlichen Urteilsbegründung, „dass sich ein solcher Vorgang in der Kieler Polizei sicher nicht wiederholen werde“,12 schließt ähnliche Vorgehensweisen ansonsten nicht aus.

4. Umgehung der Beschuldigtenrechte 4.1 Unterlassen einer Belehrung Die Belehrung i. S. d. § 136 Abs. 1 i. V. m. § 163a Abs. 4 S. 2 StPO soll dem Beschuldigten ermöglichen, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Viele kennen ihre Rechte gegenüber Polizei und Justiz nicht. Insoweit besteht ein Belehrungsanspruch. Mit der gesetzlichen Genehmigung des VE ist nach h. M. eine solche Belehrung durch den VE unvereinbar, damit wird die Belehrungspflicht aufgehoben.13 Dies sei „selbstverständlich“14, liege „in der Natur der verdeckten Ermittlung“15. Dem soll nicht widersprochen werden, wobei die Rechtsprechung zusätzlich darauf hinweist, dass die Belehrungspflicht gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nur für „offene“ Vernehmungen gilt.16 Allerdings wird die spätere Vernehmungssituation durch ein Geständnis des Beschuldigten gegenüber dem VE bestimmt, zumindest vorgezeichnet. Die Konfrontation mit der Aussage des VE über ein ihm abgegebenes Geständnis kann zum Verzicht auf Verteidigungsrechte führen, die Verteidigung zumindest erschweren. Hier erscheint eine qualifizierte Belehrung geboten, dass die frühere Aussage nicht für den Beschuldigten weiter gelte, dass er von seiner früheren Aussage abrücken kann. Es musste ihm deutlich gemacht werden, dass nunmehr die erste offizielle Vernehmung erfolgt. Die Situation ist vergleichbar mit der, in der ein Tatverdächtiger zunächst zu 12

Kieler Nachrichten vom 19.1.2010. Meyer-Goßner52 § 110c Rn. 3; SK-StPO-Rudolphi, 2008, § 110c Rn. 13; KK-Nack § 110c Rn. 16; Kindhäuser Strafprozessrecht § 8 Rn. 111. 14 Joecks StPO § 110c Rn. 3. 15 KK-Nack § 110c Rn. 16. 16 BGHSt 42, 139 (145 ff); BGH StV 2010, 465, 466. 13

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Unrecht als Zeuge vernommen wurde.17 Auch beim Einsatz eines VE werden dem Tatverdächtigen zunächst – aufgrund gesetzgeberischer Entscheidung – seine Rechte vorenthalten. Diese müssen bei der eigentlichen Vernehmung des Beschuldigten umso mehr Bedeutung erlangen. Eine Zeugenvernehmung des VE belastet ihn eh schon, insoweit muss auch ein Hinweis auf die mögliche Verwertbarkeit seiner früheren Aussagen auf diesem Wege erfolgen, auch wenn der VE als „Zeuge in eigener Sache“ auftritt und dies bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist. Die Rechtsposition des Beschuldigten selbst muss demgegenüber kompensatorisch gestärkt werden.

4.2 Nichtbestellung eines Pflichtverteidigers In dem dargestellten Fall wurde die erste offizielle polizeiliche Vernehmung ohne einen Verteidigerbeistand geführt. Dies, obwohl gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 sowie gem. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO eindeutig ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag. Zwar wird gem. § 141 Abs. 1 StPO regelmäßig ein Pflichtverteidiger erst bestellt, wenn die Anklageschrift gem. § 201 StPO zugestellt wird. Gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO kann ein Verteidiger aber auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Die Staatsanwaltschaft hat dies zu beantragen, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird (§ 141 Abs. 3 S. 2 StPO). Insoweit besteht eine gesetzliche Verpflichtung,18 auch wenn für die Entscheidung des Gerichts selbst formal eine Ermessenskompetenz besteht („kann“). Materiell reduziert sich das Ermessen im Hinblick auf die Gewährleistung eines fairen Verfahrens i. S. von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Null.19 Diese Voraussetzungen waren hier augenscheinlich gegeben. Insbesondere zur kompensatorischen Verstärkung der Beschuldigtenposition nach dem gezielten Einsatz des VE war hier bereits bei der ersten polizeilichen Vernehmung ein Verteidiger notwendig. Ein Hinweis auf die Möglichkeit, einen Verteidiger zu konsultieren, genügt in derartigen Situationen nicht rechtstaatlichen Anforderungen. Hier zeigt sich ein allgemeiner Beschuldigtennachteil, der darauf zurückzuführen ist, dass faktisch die Polizei die Ermittlungen führt. Die gesetzgeberische Anweisung an die Staatsanwaltschaft für eine frühzeitige Bestellung eines Pflichtverteidigers läuft so häufig wegen Unkenntnis ins Leere. 17

Siehe BGH StV 2010, 1 ff. BGHSt 46, 93 (98); BGHSt 47, 172 (176); einschränkend BGHSt 47, 233 (237). 19 So tendenziell BGHSt 46, 93 (99); eindeutig: Eisenberg NJW 1991, 1262; Hamm FS Lüderssen, 2002, 725; Roxin JZ 2002, 900; Teuter StV 2005, 234; Sowada NStZ 2005, 5; a. A. Meyer-Goßner52 § 141 Rn. 5. 18

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers

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Dem könnte und sollte allerdings durch eine generelle dienstliche Anweisung der Staatsanwaltschaft an die Polizei, sie vor einer polizeilichen Vernehmung wegen eines Verbrechenstatbestandes ohne Verteidigerbeistand zu informieren, begegnet werden.

4.3 Unterlaufen des Schweigerechts „Das Recht zu Schweigen und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen („nemo tenetur“-Grundsatz), gehören zum ‚Kernstück von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens.‘“20 Grundrechtlich hat das Schweigerecht seine Wurzel im allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.21 Hieraus folgt, dass das Schweigerecht nicht nur staatlichen Aussagezwang verbietet, sondern auch staatlich organisierte Täuschungen, die gezielt zu einem unfreiwilligen Verzicht des Schweigerechts führen.22 Sonst ist weder ein faires Verfahren noch die grundrechtlich geschützte Autonomie des Beschuldigten23 gewährleistet. So hat auch richtungsweisend der EGMR entschieden: Das Recht zu schweigen, d. h. der Schutz vor Selbstbelastung, „dient prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person, zu entscheiden, ob sie in Polizeibefragungen aussagen oder schweigen will“.24 Für den Einsatz Verdeckter Ermittler bedeutet dies, dass die Wahrnehmung eines solchen Rechts unterlaufen wird, wenn sich der Beschuldigte in einer offiziellen Vernehmung auf sein Schweigerecht berufen hat. Der BGH (3. Senat) hat zwar einschränkend angeführt: „Ein Verdeckter Ermittler darf einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängen und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken.“25 Dieser Einschränkung ist der Jubilar überzeugend entgegengetreten.26 Die Ausübung des Schweigerechts muss von den Strafverfolgungsbehörden als verbindliche Rechtswahrnehmung akzeptiert werden. Das Schweigerecht darf nicht durch den gezielten Einsatz eines VE und der 20 BGH StV 2010, 1, 2 unter Hinweis auf EGMR NJW 2006, 499, 501 sowie BGHSt [GS] 42, 139 (151 ff). 21 BVerfGE 56, 37 (41 ff). 22 So Roxin NStZ 2009, 44 und eine zunehmende Lehrmeinung, siehe Engländer ZIS 2008, 163 mit den Angaben in Fn. 2; zusätzlich Gaede StV 2003, 260; Renzikowski JR 2008, 164; siehe auch umfassend Eidam Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 82 ff. 23 Insoweit anders Renzikowski JR 2008, 167. 24 EGMR StV 2003, 257, 259. 25 BGH StV 2007, 509 = NJW 2007, 3138; ebenso BGH (4. Senat) StV 2009, 225, 226. 26 Roxin NStZ 2009, 41 ff; siehe auch EGMR StV 2003, 257 m. Anm. Gaede.

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Möglichkeit, Ausführungen des Beschuldigten über eine Vernehmung des VE als Zeugen in den Prozess einzubringen, ausgehebelt werden. Das wäre die staatliche Missachtung eines Kernstücks des rechtsstaatlichen Verfahrens. Diese Fallsituation lag im Kieler Verfahren nicht vor. Mit Roxin ist ein solcher Verstoß aber auch dann gegeben, wenn der VE den den Tatvorwurf bestreitenden Tatverdächtigen „über das Delikt direkt ausfragt und ihn zu Aussagen darüber drängt.“27 So hat auch der 5. Senat des BGH entschieden: „Sie (sc. VE) sind aber nicht befugt, in diesem Rahmen den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen.“28 Hier stellt in der Tat eine solche Befragung ein „funktionales Äquivalent“ einer Vernehmung dar. Zwar hat derjenige Beschuldigte, der gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zur Sache aussagt, auf sein Schweigerecht verzichtet, d. h. auch, dass er mit Widersprüchen, mit anderen gegen ihn sprechenden Zeugenaussagen, Sachbeweisen konfrontiert werden darf und muss, insoweit muss er jetzt in Wahrnehmung seiner Interessen auf der Hut sein. Eine solche Vorsicht gegenüber Privatpersonen muss er aber nur in einem Polizeispitzelstaat an den Tag legen. Die Offenheit privater Kommunikation steht ansonsten auf dem Spiel. Das mag der Gesetzgeber im Interesse einer Tataufklärung schwerer Verbrechen mit dem Einsatz von Verdeckten Ermittlern noch für hinnehmbar erklären. Im Hinblick auf die strafprozessuale Selbstbezichtigungsfreiheit bedeutet aber die verdecktgezielte staatliche Ermittlung bei Beschuldigten ein Unterlaufen des Schweigerechts, selbst dann, wenn keine Vertrauensbeziehung vom VE aufgebaut und ein vom Beschuldigten entgegengebrachtes Vertrauen nicht gebrochen wurde.

4.4 Vertrauensbruch als verbotene Vernehmungsmethode Ein solcher Vertrauensbruch, wie auch im dargestellten Fall, ist im Hinblick auf das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden gem. § 136a StPO zusätzlich zu prüfen. Zwar ist mit jedem Einsatz eines VE in dem sozialen Umfeld eines Beschuldigten eine Täuschung verbunden. Der Begriff der „Täuschung“ i. S. d. § 136a Abs. 1 StPO muss aber mit der h. M. eingegrenzt werden, gerade auch im Vergleich zu den anderen verbotenen Vernehmungsmethoden. Allein „legendenbedingte Täuschungen“ fallen nicht

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Roxin NStZ 2009, 45; ebenso Volk Grundkurs StPO6 § 28 Rn. 33; Engländer ZIS 2008, 166; wohl noch weitergehend Müssig JA 2004, 102: „Vom Verdeckten Ermittler veranlasste Aussagen des Verdächtigen zum Tatvorwurf sind nicht verwertbar“; ebenso Hilger FS Hanack, 1999, 215: „Im Grunde ist der Beamte zur Passivität verpflichtet, darf nur zuhören“. 28 BGH StV 2010, 465, 466, allerdings unter Hinweis auf die Entscheidungen des 3. und 4. Senats, siehe Fn. 25.

Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers

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unter § 136a Abs. 1 StPO.29 Das Einschleichen in eine persönliche Beziehung, in ein Liebes- oder ein ausgewiesenes Freundschaftsverhältnis, um aus dieser Beziehung Ermittlungsvorteile zu ziehen, hält aber einer solchen Vergleichbarkeit stand. In unserem Fall könnte man schon von einem psychischen Zwang i. S. d. § 136a Abs. 1 S. 2 StPO sprechen.30 Erst die Drohung des VE, die Freundschaftsbeziehung, die für den Angeklagten zum Lebenshalt geworden war, aufzukündigen, führte zu dem Geständnis. Das Geständnis wurde vom VE abgenötigt. Diese psychische Zwangssituation setzte sich fort in der späteren polizeilichen Vernehmung. Hier wurden die Gebote der Menschlichkeit verletzt, die gebotene Achtung der Menschenwürde durch den Staat (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) nicht eingehalten.

5. Beweisverwertungsverbot Die gezielt abgefragten Äußerungen des Angeklagten gegenüber dem VE zum Tatvorwurf, insbesondere sein Geständnis dürfen entsprechend der Rechtsprechung des BGH31 mangels einer Belehrung und dem damit verbundenen Unterlaufen des Schweigerechts nicht verwertet werden. Insoweit war die Zeugenvernehmung des VE unstatthaft. Fraglich ist, ob das Geständnis in der späteren offiziellen polizeilichen Vernehmung nach der „einfachen“ Belehrung i. S. des § 136 Abs. 1 StPO verwertet werden durfte. Die Rechtsprechung erkennt trotz vielfacher entsprechender Forderungen in der Rechtswissenschaft32 bislang ein Beweisverwertungsverbot nicht zwingend an, wenn eine notwendige qualifizierte Belehrung nicht erteilt wurde.33 Entscheidend soll sein, ob der Betreffende nach „einfacher“ Beschuldigtenbelehrung davon ausgegangen ist, von seiner früheren Aussage nicht mehr abrücken zu können. Übertragen auf den Fall der vorherigen „Vernehmung“ durch den VE ist somit entscheidend, ob der Verdächtige durch seine frühere Aussage sich bereits festgelegt glaubt. Im konkreten Fall hatte sich der Beschuldigte zunächst gegen die Vorhaltungen der Polizei gewehrt, so dass die Rechtsprechung ein Verwertungsverbot verneinen würde.

29 Roxin Strafverfahrensrecht26 § 37 Rn. 5; im Ergebnis auch „ausnahmsweise“ Lagodny StV 1996, 172; ebenso Rogall NStZ 2008, 111; a. A. Meyer-Mews NJW 2007, 3142, der bereits den Einsatz des VE als Täuschung i. S. des § 136a Abs. 1 S. 1 StPO ansieht; ebenso Kahlo FS Wolff, 1998, 187. 30 Siehe auch Rogall NStZ 2008, 113. 31 BGHSt 38, 214 (220 ff); BGHSt 47, 172 (173); siehe auch OLG Hamm StV 2010, 5, 7. 32 Siehe nur Roxin JR 2008, 18 f. 33 Zuletzt BGH StV 2010, 1 für den Fall, dass der Tatverdächtige zunächst als Zeuge vernommen wurde; siehe auch OLG Hamm StV 2010, 5, 7.

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Auch die Nichtbestellung eines Verteidigers zum ersten offiziellen Vernehmungsgespräch führt nach der Rechtsprechung nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Selbst der unterbliebene Hinweis, dass eine Pflichtverteidigerbestellung auf Staatskosten möglich sei, ist nach der Rechtsprechung noch nicht ein Fall des Beweisverwertungsverbots.34 Anders ist es, wenn man der hier vertretenen Ansicht folgt, dass das Ausnutzen eines gezielt eingegangenen Vertrauensverhältnisses durch den VE für Ermittlungszwecke und das Herbeiführen einer psychischen Zwangslage bei dem Beschuldigten eine verbotene Vernehmungsmethode i. S. d. § 136a Abs. 1 StPO darstellt. Die Konsequenz des Beweisverwertungsverbots ist gesetzlich festgeschrieben: § 136a Abs. 3 S. 2 StPO. Dies hätte in dem Kieler Verfahren dazu führen müssen, dass ohne Gutachtereinsatz und dem entsprechenden Kostenaufwand das – widerrufene – Geständnis des Angeklagten keine Grundlage für eine Anklageerhebung sowie für die Zulassung der Anklage hätte abgeben dürfen. Der Freispruch hätte mangels anderer Beweise aus rechtsstaatlichen Gründen und nicht erst aufgrund der Beweiswürdigung des Geständnisses des Angeklagten aus tatsächlichen Gründen erfolgen müssen. Allerdings muss bezweifelt werden, ob ohne die gutachterliche Exploration der prozessrechts- und rechtsstaatswidrige Einsatz des VE „herausgekommen“ wäre. Die Feststellung des Kieler Landgerichts in der mündlichen Urteilsbegründung „Der Rechtsstaat hat funktioniert“35 gilt so nur bedingt: Er hat zu spät funktioniert und nur Dank der Initiative der Verteidigung und des Gutachters. Ob er auch sonst beim Einsatz von Verdeckten Ermittlern funktioniert, ist eine berechtigte Frage.36

34

Siehe hierzu umfassend Neuhaus StV 2010, 48 ff. Siehe Kieler Nachrichten vom 16.1.2010. 36 So Gisela Friedrichsen im Spiegel 6/2010, 40. 35

Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers im Lichte von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und des 6th Amendments zur US-Verfassung JOACHIM RENZIKOWSKI

I. Einleitung Nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO darf sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens, d. h. vom Beginn der Ermittlungen über das Rechtsmittelverfahren bis hin zur Vollstreckung des Beistands durch einen Verteidiger bedienen. Darüber muss der Beschuldigte nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO bei seiner Vernehmung ausdrücklich belehrt werden. In den Fällen der notwendigen Verteidigung nach §§ 140 ff StPO gewährt das Gesetz sogar einen Anspruch gegen den Staat auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers. In diesem Recht auf Verteidigung manifestiert sich die Abkehr vom mittelalterlichen Inquisitionsprozess, in dem der Beschuldigte als bloßes Beweismittel dem unbeschränkten Zugriff durch das ermittelnde Gericht unterworfen war. Das moderne rechtsstaatliche Strafverfahren räumt dem Beschuldigten eine eigene Verfahrensstellung ein – und so findet sich das Recht auf Verteidigung in allen rechtsstaatlichen Kodifikationen an prominenter Stelle, etwa im 6. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten1, in Art. 14 Abs. 3 lit. d des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte2, in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und schließlich auch in Art. 47 Abs. 2 S. 2 und 48 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta.3 Auch wenn die Verteidigung in einem adversatorischen Strafverfahren angloamerikanischer Provenienz eine andere Stellung hat als im kontinentalen Inquisitionsprozess, lassen sich unschwer gemeinsame Wurzeln des Rechts auf Beistand durch einen Verteidiger finden: der Grundsatz des 1

„In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right … to have the Assistance of Counsel for his defence.“ Der Supreme Court hat allerdings in diesem Zusammenhang auch den 5. Zusatzartikel der US-Verfassung herangezogen, s. u. IV. 2 Hier wird ausdrücklich ein Belehrungsrecht „to be informed, if he does not have legal assistance, of this right“ erwähnt. 3 Hierbei ist außerdem zu beachten, dass über Art. 53 Abs. 3 EU-Grundrechtecharta die Rechtsprechung des EGMR in die Auslegung der Grundrechte der Charta einfließt.

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rechtlichen Gehörs und damit zusammenhängend ein „Recht auf Teilhabe“ an der Entscheidungsfindung im Strafverfahren.4 So verstanden soll das Recht auf Verteidigung die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung herstellen und auf diese Weise dem Beschuldigten ein faires Verfahren sichern.5 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie das Recht auf Verteidigung im Ermittlungsverfahren, genauer: bei der Vernehmung des Beschuldigten durch die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland gehandhabt wird (II.). Ein rechtsvergleichender Blick auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR (III.) sowie auf das Recht „to have the assistance of councel for his defence“ nach dem US-amerikanischen Recht (dazu IV.) erweist sich aus mehreren Gründen als fruchtbar: Art. 6 EMRK, nunmehr über die EUGrundrechtecharta in den Rang von europäischem Verfassungsrecht erhoben, ist ein Schmelztiegel unterschiedlicher Verfahrensmodelle. Die EMRK gibt zudem verbindliche menschenrechtliche Mindeststandards für ein rechtsstaatliches Strafverfahren vor – ungeachtet der konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Die deutsche Rechtspraxis sollte diesen Standards gerecht werden, ja sie nach Möglichkeit zu übertreffen suchen (dazu V.).

II. Die Rechtslage in Deutschland Während dem Verteidiger bei Vernehmungen des Beschuldigten durch den Richter (§ 168c Abs. 1 StPO) und durch den Staatsanwalt (§ 163a Abs. 3 S. 2 StPO) ausdrücklich ein Anwesenheitsrecht zugebilligt wird, ist das bei polizeilichen Vernehmungen anders. Hier kann der Beschuldigte die Anwesenheit seines Verteidigers jedoch durchsetzen, wenn er sich weigert, ohne ihn auszusagen. Zu Beginn der Vernehmung muss er nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO über die Aussagefreiheit und das Recht zur Konsultation eines Verteidigers belehrt werden.6 Diese Verpflichtung enthält die StPO erst seit der Strafprozessrechtsreform im Jahr 1964. 7

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Grundlegend hierzu Gaede Fairness als Teilhabe, 2002, S. 339 ff. Vgl. Roxin FS Hanack, 1999, 1; Beckemper Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts und die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten, 2002, S. 38 ff; siehe auch die prägnante Bezeichnung des Verteidigers als „watchdog of procedural regularity“ in EKMR vom 8.7.1978 – 7572, 7586 und 7587/76 (Ensslin, Baader und Raspe gegen Deutschland) § 20 DR 14, 114. 6 Diese Verpflichtung gilt auch dann, wenn der Beschuldigte bereits einen Verteidiger hat, Roxin JZ 1993, 426; Geppert FS Otto, 2007, 917. 7 Siehe dazu Gerlach FS Hanack, 1999, 136 f. 5

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Die Belehrungspflicht gilt nur für eine Vernehmung als Beschuldigter, d. h. wenn sich der Tatverdacht gegen eine bestimmte Person so verdichtet hat, dass sie als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt.8 Zur Abklärung eines Tatverdachts sind zwar grundsätzlich informatorische Befragungen zulässig, aber die Strafverfolgungsbehörden dürfen die Beschuldigtenrechte nicht dadurch aushöhlen, dass sie trotz eines ernstlichen Verdachts bei der Zeugenvernehmung bleiben.9 Eine spontane Äußerung hält die Rspr. dagegen für verwertbar.10 Weiterhin setzt die Belehrungspflicht nach dem formalen Vernehmungsbegriff der Rspr. voraus, dass jemand in amtlicher Eigenschaft als Fragensteller auftritt.11 Auf diese Weise können die Verteidigerrechte nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO durch verdeckte Ausforschung umgangen werden.12 Wenn der Beschuldigte einen Verteidiger verlangt, muss die Vernehmung abgebrochen und darf nicht gegen seinen Willen fortgesetzt werden. 13 Die Strafverfolgungsbehörden müssen den Beschuldigten ernsthaft bei der Herstellung eines Kontaktes unterstützen.14 Hierzu wird man auch den Hinweis auf den anwaltlichen Notdienst15 oder – bei Mittellosigkeit – auf die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zählen müssen. 16 Die Fortsetzung der Vernehmung ohne Verteidiger ist nur zulässig, wenn der Beschuldigte nach einem erneuten Hinweis auf sein Recht auf Konsultation eines Verteidigers damit ausdrücklich einverstanden ist.17 Die Ambivalenz derartiger Situationen tritt besonders deutlich in einer Entscheidung des 1. Senats aus dem Jahr 1996 hervor. Dort hatte es das Gericht als zulässig angesehen, die Vernehmung nach einer gewissen Bedenkzeit fortzusetzen, da die Bemühungen um einen Verteidiger wegen der mitternächtlichen Stunde erfolglos erschie-

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Vgl. BGHSt 37, 48 (51 f); 38, 214 (227 f); SK-Rogall Vor §§ 133 ff Rn. 31 ff. BGHSt 51, 367 (370 ff). 10 BGH NJW 1990, 461 m. ablehn. Anm. Fezer StV 1990, 195 f; BayObLG NStZ-RR 2001, 49 (51 f); näher dazu Beckemper (Fn. 5) S. 80 ff. 11 Vgl. BGHSt 40, 211 (213); 52, 11 (15 f) m. Anm. Renzikowski JR 2008, 164 ff. 12 Zur Kritik siehe statt vieler Roxin NStZ 1997, 18 ff; LR-Gleß § 136 Rn. 91 ff. 13 BGHSt 38, 372 (373); 42, 15 (19). 14 Vgl. BGHSt 42, 15 (19 f); näher dazu Beulke NStZ 1996, 257 ff; Beckemper (Fn. 5) S. 266 ff, 276 ff. 15 Siehe Hamm NJW 1996, 2186; Beulke/Barisch StV 2006, 570; dagegen BGHSt 47, 233 m. insoweit zust. Anm. Roxin JZ 2002, 899. 16 So für den Verdacht eines Verbrechens (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO) BGHSt 47, 172 (176 f); BGH NStZ 2006, 236; Sowada NStZ 2005, 3 ff; einschr. BGHSt 47, 233 (236 f) m. krit. Anm. Roxin JZ 2002, 899 f; siehe ferner LR-Gleß § 136 Rn. 44. 17 BGHSt 42, 15 ff; zur Kasuistik LR-Gleß § 136 Rn. 41. Zur Klarstellung ist ein Protokollvermerk sinnvoll. 9

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nen.18 Einerseits befindet sich jeder Beschuldigte in einem Verhör in einem gewissen psychischen Druck, den geschulte Vernehmungsbeamte mit legitimen Mitteln ausnutzen können. Andererseits darf ein belehrter Beschuldigter auf den Kontakt mit einem Verteidiger verzichten, und es spricht von vornherein nichts gegen Versuche der Verhörperson, ihn von der Sinnhaftigkeit eines solchen Verzichts zu überzeugen. Dabei darf der Beschuldigte jedoch nicht zu weiteren Angaben gedrängt werden; jede „einlassungsförderliche Frustrierung“19 hat zu unterbleiben. Der Maßstab des § 136a StPO20 ist hierfür zu eng. Unzulässig muss jede Art und Weise der Kommunikation sein, die beim Beschuldigten den Eindruck erweckt, er könne von seinem Recht auf Beistand eines Verteidigers keinen Gebrauch mehr machen.21 Die Verletzung der Belehrungspflicht hielt der BGH lange Zeit für unbeachtlich; die Bedeutung von § 136 Abs. 1 S. 2 StPO wurde als bloße Ordnungsvorschrift abgetan.22 Erst im Jahr 1992 entschloss sich der BGH zu einer Kehrtwende. Seitdem hat eine unterlassene oder nicht verstandene Belehrung grundsätzlich die Unverwertbarkeit der Aussage zur Folge.23 Das gilt auch für die Verweigerung des Kontakts zu einem Verteidiger.24 Nach der Widerspruchslösung der Rspr. muss der Angeklagte oder sein Verteidiger jedoch spätestens zum Abschluss der Vernehmung des Polizeibeamten über das Geständnis (siehe § 257 StPO) einer Verwertung widersprechen.25 Wenn der Beschuldigte sein Recht auf Verteidigerkonsultation zweifelsfrei auch ohne die Belehrung gekannt hat 26 oder der Verwertung der Angaben zustimmt, greift ebenfalls kein Verwertungsverbot ein. Ebenfalls soll die Verwertung einer Aussage zulässig sein, wenn sich nicht klären lässt, ob der Beschuldigte ordnungsgemäß belehrt worden ist. 27 18

BGHSt 42, 170 ff m. ablehn. Anm. Ventzke StV 1996, 524 ff; auf dieser Linie liegt auch BGH NStZ 1997, 251 f; berechtigte Kritik von Herrmann NStZ 1997, 209 ff und Roxin JZ 1997, 344 f. 19 Schneider Jura 1997, 134. 20 In diese Richtung BGH NJW 1992, 2905; zu Recht weitergehend BGH NJW 2006, 1010. 21 Siehe LR-Gleß § 136 Rn. 100; eingehend Beckemper (Fn. 5) S. 180 ff, 247 ff. 22 BGHSt 22, 170 (173 ff); 31, 395 (398 ff). 23 BGHSt 38, 214 (220) m. zust. Anm. Fezer JR 1992, 385 ff und Roxin JZ 1992, 923 ff; 42, 15 (21). 24 BGHSt 38, 372 ff m. zust. Anm. Roxin JZ 1993, 426 ff und Rieß JR 1993, 334 f); 47, 172 (174 f). 25 BGHSt 38, 214 (225 ff); 42, 15 (22 f); 50, 272 (274) m. ablehn. Anm. Schlothauer StV 2006, 397 f; zur Kritik siehe LR-Gleß § 136 Rn. 82 ff m. w. N. 26 BGHSt 38, 214 (224 f); 47, 172 (173 f); NStZ 2004, 450; OLG Hamm NStZ-RR 2006, 47. Im Zweifel ist zugunsten des Beschuldigten von seiner Unkenntnis auszugehen. 27 BGH NStZ 1997, 609 (610); dagegen zu Recht LR-Gleß § 136 Rn. 78; einschr. nunmehr auch BGH JR 2007, 125 m. zust. Anm. Wohlers.

Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers

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Eine erneute selbstbelastende Aussage im Ermittlungsverfahren oder in der Hauptverhandlung kann nur dann verwertet werden, wenn der Beschuldigte zuvor ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass die frühere Aussage wegen Missachtung der Belehrungspflicht oder Verweigerung der Verteidigerkonsultation unverwertbar ist (sog. „qualifizierte Belehrung“). 28 Was hat der BGH bislang für die Belehrung über die Aussagefreiheit entschieden hat29, muss ebenso für den Anspruch auf Verteidigerkonsultation gelten. Da der Beschuldigte sonst nicht einschätzen kann, inwieweit er durch seine früheren Angaben bereits festgelegt ist, überzeugt es nicht, wenn der BGH aufgrund einer Abwägung des Gewichts des Verfahrensverstoßes mit dem Interesse an Sachaufklärung gerade bei Kapitaldelikten ein Verwertungsverbot verneint. 30

III. Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK enthält drei Garantien: das Recht, sich in eigener Person zu verteidigen, das Recht auf Beistand durch einen Verteidiger eigener Wahl sowie den Anspruch auf den unentgeltlichen Beistand eines Pflichtverteidigers.31 Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers zählt zu den zentralen Ausprägungen des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.32 Gleichwohl soll es einer kryptischen Formulierung in der Beschwerdesache Poitrimol gegen Frankreich zufolge nicht absolut gelten.33 Weiterhin ist zu beachten, dass der EGMR in seiner Judikatur zu Art. 6 EMRK seine Würdigung nicht auf die konkrete Verfahrenshandlung beschränkt, sondern immer das Verfahren in seiner Gesamtheit danach beurteilt, ob es fair gewe-

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Näher dazu Neuhaus StV 2010, 46 ff. BGHSt 53, 112 ff; NStZ 2009, 649. 30 BGHSt 53, 112 (116) m. krit. Anm. Gleß JR 2009, 383 ff; a. A. Roxin HRRS 2009, 187 f; Neuhaus StV 2010, 48 ff. 31 Zum Verhältnis zueinander siehe EGMR vom 25.4.1983 – 8398/78 (Pakelli gegen Deutschland) § 31; näher Trechsel Human Rights in Criminal Proceedings, 2005, S. 244. 32 Siehe EGMR vom 28.11.1991 – 12629/87, 13965/88 (S. gegen Schweiz) § 48; EGMR vom 23.11.1993 – 14032/88 (Poitrimol gegen Frankreich) § 34. 33 EGMR vom 23.11.1993 – 14032/88 (Poitrimol gegen Frankreich) § 34: „Although not absolute …“; unproblematisch sind Einschränkungen möglich im Hinblick auf Qualifikation und Anzahl der Verteidiger oder auch bei Missbrauch (siehe Art. 17 EMRK), vgl. dazu Trechsel (Fn. 31) S. 267 m. w. N.; hierauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. 29

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sen ist.34 Der Erfolg einer Beschwerde wegen Verletzung der Garantie nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK setzt indes nicht den Nachweis voraus, dass das Strafverfahren bei Beachtung des Rechts auf Beistand eines Verteidigers anders ausgegangen wäre.35 Seit jeher beschränkt der EGMR den Anspruch auf ein faires Verfahren nicht nur auf den eigentlichen Gerichtsprozess, sondern bezieht auch das Ermittlungsverfahren mit ein, „in so far as the fairness of the trial is likely to be seriously prejudiced by an initial failure to comply with“.36 Daher hat der EGMR schon früh die Bedeutung des Rechts auf anwaltlichen Beistand bei polizeilichen Vernehmungen nach einer Verhaftung betont. 37 Der Beistand eines Verteidigers ist aus der Sicht des EGMR insbesondere dann geboten, wenn das Verhalten bei der Vernehmung Konsequenzen für die spätere Gerichtsverhandlung nach sich zieht38 oder wenn die Verhörbedingungen besonders belastend sind.39 Diese Kriterien dürften indes auf jede polizeiliche Vernehmung zutreffen.40 Schließlich muss der Beschuldigte um der Effektivität der Garantie eines Verteidigers in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK willen vor der polizeilichen Vernehmung über sein Recht belehrt werden.41 Allerdings hatte der EGMR diese Grundsätze schon in den IRA-Fällen verwässert. So akzeptierte er, dass Terrorverdächtige bis zu 48 Stunden durch die britischen Behörden von jedem Kontakt abgeschirmt wurden, denn das Recht auf Verteidigerkonsultation könne aus berechtigten Gründen eingeschränkt werden.42 Die Antwort, welche Gründe hier in Betracht kä34

Vgl. etwa EGMR vom 12.3.2000 – 35394/97 (Khan gegen Großbritannien) § 34; EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) §§ 64 und 67; siehe auch Schroeder GA 2003, 293 ff. 35 EGMR vom 13.5.1980 – 6694/74 (Artico gegen Italien) § 35. 36 EGMR vom 24.11.1993 – 13972/88 (Imbrioscia gegen Schweiz) § 36; EGMR vom 8.2.1996 – 18731/91 (John Murray gegen Großbritannien) § 62; EGMR vom 12.3.2003 – 46221/99 (Öcalan gegen Türkei) § 140. 37 Vgl. EGMR vom 24.5.1991 – 12744/87 (Quaranta gegen Schweiz) § 36; EGMR vom 24.11.1993 – 13972/88 (Imbrioscia gegen Schweiz) § 36;. Gerade die Formulierung „… the applicant did not at the outset have the legal necessary support …“ (a. a. O. § 41), kann nur im Sinne eines Rechts auf Verteidigerbeistand von Anfang an verstanden werden, Trechsel (Fn. 31) S. 288 f, wobei die Möglichkeit der Anwesenheit des Verteidigers ausreichen muss. 38 Siehe EGMR vom 8.2.1996 – 18731/91 (John Murray gegen Großbritannien) §§ 63–67; EGMR vom 6.5.2000 – 36408/97 (Averill gegen Großbritannien) §§ 59–61; EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) § 70. 39 EGMR vom 6.5.2000 – 28135/95 (Magee gegen Großbritannien) §§ 43–46. 40 Trechsel (Fn. 31) S. 283. 41 Siehe Trechsel (Fn. 31) S. 283 f; Gaede (Fn. 4) S. 257 f. 42 EGMR vom 8.2.1996 – 18731/91 (John Murray gegen Großbritannien) § 63; EGMR vom 6.5.2000 – 28135/95 (Magee gegen Großbritannien) § 41; EGMR vom 16.10.2001 – 39846/98 (Brennan gegen Großbritannien) § 45; ebenso EGMR vom 12.3.2003 – 46221/99 (Öcalan gegen Türkei) § 140.

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men, blieb der EGMR jedoch weitgehend schuldig. In den fraglichen Fällen kam es außerdem nach der Gesamtbetrachtung des Verfahrens entscheidend darauf an, ob und inwieweit die von der Polizei erlangten Angaben bzw. das Schweigen des Beschuldigten später vor Gericht als Beweis verwertet werden konnten.43 Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Jedoch hat der EGMR diese Linie nicht konsequent weiterverfolgt, sondern das Verteidigungsrecht durch die Gesamtbetrachtung erheblich abgeschwächt. In mehreren Fällen, in denen selbstbelastende Äußerungen im Polizeigewahrsam später vor Gericht widerrufen wurden, hielt der EGMR die anwaltliche Vertretung in der Hauptverhandlung für ausreichend, weil dadurch das Problem der fehlenden Belehrung vor dem Gericht thematisiert werden konnte – obwohl die konventionswidrig erlangten Beweise für die Verurteilung eine wichtige Rolle spielten.44 Dass durch die Gesamtbetrachtungsmethode auch andere Konventionsgarantien relativiert werden45, ist ein schwacher Trost. Erfreulicherweise hat die Große Kammer in der Beschwerdesache Salduz gegen Türkei diese Fehlentwicklung korrigiert. Zur Anrufung der Großen Kammer gemäß Art. 43 EMRK kam es erst, nachdem die 2. Kammer des EGMR, wie zuvor, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK verneint hatte, zumal das Geständnis nicht das einzige Beweismittel gewesen sei. 46 Im zweiten Anlauf bejahte der EGMR einen Konventionsverstoß und unterstrich dabei die zentrale Bedeutung des Anspruchs auf Beistand durch einen Verteidiger für die Fairness des Strafverfahrens, gerade weil die polizeiliche Vernehmung im späteren Gerichtsverfahren als Beweismittel verwendet werden kann. Gerade in diesem Stadium befinde sich der Beschuldigte jedoch aufgrund des immer komplexeren Verfahrensrechts in einer besonders verletzlichen Position, die regelmäßig nur durch den professionellen

43

Vgl. EGMR vom 6.7.1999 – 30550/96 (O’Kane gegen Großbritannien); EGMR vom 14.9.1999 – 33222/96 (Harper gegen Großbritannien); EGMR vom 16.10.2001 – 39846/98 (Brennan gegen Großbritannien) § 48; insoweit zust. Trechsel (Fn. 31) S. 284 f. 44 Vgl. EGMR vom 22.4.2004 – 29486 und 29487/95, 29853/96 (Mamaç u. a. gegen Türkei) § 48; EGMR vom 22.4.2004 – 36115/97 (Sarikaya gegen Türkei) §§ 67, 68; EGMR vom 2.9.2004 – 35841/97 (Saraç gegen Türkei) § 4; berechtigte Kritik bei Trechsel (Fn. 31) S. 285. 45 Siehe etwa EGMR vom 12.3.2000 – 35394/97 (Khan gegen Großbritannien) §§ 37–39 mit Kritik von Kühne/Nash JZ 2000, 996 ff. 46 EGMR vom 26.4.2004 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) §§ 22–25. Der Beschwerdeführer war im Zusammenhang mit einer Demonstration für die verbotene PKK verhaftet und von der Polizei nach Belehrung über sein Schweigerecht in Abwesenheit eines Verteidigers verhört worden. Erst nach seinem Geständnis wurde ihm der Kontakt zu einem Verteidiger ermöglicht. Der Widerruf des Geständnisses in der Hauptverhandlung verhinderte seine Verurteilung wegen Unterstützung der PKK nicht.

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Beistand eines Verteidigers ausgeglichen werden könne. 47 Insbesondere bei der Strafverfolgung wegen Kapitaldelikten müssten die höchsten Standards eingehalten werden, weil dem Beschuldigten hohe Strafen drohen.48 Eine effektive Wahrnehmung des Rechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gebiete daher, dass der Zugang zum Verteidiger bereits ab der ersten polizeilichen Befragung sichergestellt wird. Andernfalls dürften die Angaben nicht als Beweismittel für eine Verurteilung verwendet werden.49 Die Beeinträchtigung der Verteidigung durch den Ausschluss des Zugangs zu einem Anwalt werde weder durch die spätere anwaltliche Vertretung vor Gericht, noch durch die adversatorische Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens ausgeglichen.50 In der jüngsten Entscheidung in der Beschwerdesache Zaichenko gegen Russland hat der EGMR diese Grundsätze bestätigt 51 und dabei jedoch ein neues Problem aufgeworfen. Der Beschwerdeführer hatte bei einer Polizeikontrolle auf Befragen einen Diebstahl zugegeben und war erst anschließend über sein Schweigerecht belehrt worden. Erst nach dem Abschluss der Ermittlungen durch den vorgesetzten Polizeioffizier, in deren Verlauf er die Tat erneut eingeräumt hatte, wurde er auch über das Recht auf anwaltlichen Beistand belehrt, aber er verzichtete schriftlich auf die Inanspruchnahme eines Verteidigers. Der EGMR erblickte darin einen wirksamen Verzicht und lehnte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ab.52 Wegen fehlender Belehrung über das Schweigerecht wurde gleichwohl eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK angenommen.53 Die Pointe liegt nun darin, dass der EGMR die Belehrung über die Aussagefreiheit von der Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation abkoppelt. Bereits bei der Verkehrskontrolle habe der Beschwerdeführer über seine Aussagefreiheit belehrt werden müssen, weil er zu diesem Zeitpunkt in den Verdacht eines Diebstahls geraten sei. Eine 47

EGMR (Große Kammer) vom 27.11.2008 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) §§ 52–54 = NJW 2009, 3707 ff. 48 EGMR (Große Kammer) vom 27.11.2008 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) § 54 = NJW 2009, 3707 ff. 49 EGMR (Große Kammer) vom 27.11.2008 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) § 55 = NJW 2009, 3707 ff. 50 EGMR (Große Kammer) vom 27.11.2008 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) §§ 57, 58 = NJW 2009, 3707 ff.; diese Linie wird weitergeführt von EGMR vom 11.12.2008 – 4268/04 (Panovits gegen Zypern) §§ 75–77, 85, 86; EGMR vom 3.2.2009 – 4661/02 (ùükran YÕldÕz gegen Türkei) §§ 35–37; EGMR vom 3.2.2009 – 19582/02 (Çimen gegen Türkei) §§ 26, 27; EGMR vom 3.2.2009 – 5138/04 (Amutgan gegen Türkei) §§ 18, 19; EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) § 90. 51 EGMR vom 18.2.2010 – 39660/02 (Zaichenko gegen Russland) §§ 37–39. 52 EGMR vom 18.2.2010 – 39660/02 (Zaichenko gegen Russland) §§ 50, 51. 53 EGMR vom 18.2.2010 – 39660/02 (Zaichenko gegen Russland) §§ 52–60.

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Belehrung über sein Recht auf Verteidigerkonsultation sei dagegen nicht erforderlich, da der Beschwerdeführer sich nicht im Polizeigewahrsam befunden habe, sondern öffentlich in Gegenwart von zwei Zeugen vernommen worden sei. Daher sei seine Handlungsfreiheit nicht in einem Maße beeinträchtigt worden, dass die Zuziehung eines Anwalts geboten gewesen sei. 54 Wenn aber das Recht auf Verteidigerkonsultation auch die Aussagefreiheit sichern soll, dann sind unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Belehrung ungereimt.55 In der Beschwerdesache Pishalnikov gegen Russland hat der EGMR schließlich gefordert, dass sich die Polizeibehörden ernsthaft um die Herstellung eines Kontaktes zu einem Verteidiger bemühen müssen.56 Wenn der Beschuldigte den Beistand eines Verteidigers verlangt, muss die Vernehmung unverzüglich unterbrochen werden und darf nicht ohne vorherige Verteidigerkonsultation nicht fortgesetzt werden, außer der Beschuldigte wendet sich von sich aus an die Behörden.57 Ansonsten ist ein grundsätzlich möglicher Verzicht58 unwirksam. Diese Judikatur nimmt den psychischen Druck, der mit einem polizeilichen Verhör verbunden ist, ernst59 – und sie ist deutlich restriktiver als der Umgang des BGH mit dem Recht auf Verteidigerbeistand.

IV. Der Beistand durch einen Verteidiger im US-amerikanischen Strafverfahren Zunächst ist eine kurze Erklärung zum Ablauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens angebracht, welches sich ungeachtet höchst unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Bundesstaaten in eine „investigatory“ und eine „accusatory stage“ einteilen lässt: Zunächst geht die von der Anklagebehörde unabhängige Polizei selbständig Verdachtsmomenten nach. In diesem Stadium der Ermittlungen hat der Verdächtige grundsätzlich keine eigene prozessuale Rechtsstellung (zur bedeutenden Ausnahme s. u. die 54

EGMR vom 18.2.2010 – 39660/02 (Zaichenko gegen Russland) §§ 47, 48. Hält man wie Richter Spielmann in seiner dissenting opinion die Belehrung über das Recht auf anwaltlichen Beistand bereits im Rahmen der Verkehrskontrolle für geboten, dann käme der nachträgliche Verzicht zu spät. Im Ergebnis dürfte die Entscheidung trotzdem zutreffen, weil der Beschwerdeführer sich vor den russischen Gerichten ausschließlich auf die Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit berufen und damit den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hat (vgl. Art. 35 Abs. 1 EMRK). 56 EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) §§ 74, 75. 57 EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) §§ 79, 80. 58 Vgl. EGMR vom 26.4.2004 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) § 59; EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) §§ 77, 78. 59 EGMR vom 24.9.2009 – 7025/04 (Pishalnikov gegen Russland) §§ 69, 84. 55

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Miranda-Grundsätze). Sobald die Polizei den Tatverdacht für ausreichend hält, leitet sie den Fall an die Anklagebehörde weiter. Dabei müssen die Ermittlungen durchaus noch nicht abgeschlossen sein, sondern können bis zum Gerichtsverfahren weitergeführt werden, in der Regel in Abstimmung mit der Anklagebehörde. Die Anklagebehörde erhebt nun die offizielle Anklage (charge, indictment) gegen den Beschuldigten und leitet damit das gerichtliche Vorverfahren zur Überprüfung der Anklage ein. Regelmäßig geht die Anklageerhebung mit der Inhaftierung des Beschuldigten einher. Erst danach folgt der eigentliche Gerichtsprozess.60 Obwohl das Recht auf den Beistand durch einen Verteidiger seit 1791 in der US-Verfassung verankert war, setzte es sich erst im Jahr 1963 in der Grundsatzentscheidung des Supreme Court im Fall Gideon vs. Wainwright61 endgültig durch. Zwar hatte der Supreme Court dieses Recht schon im Jahr 193262 als essentielles Freiheitsrecht hervorgehoben, aber diese Linie in der Folgezeit dahingehend modifiziert, dass sich die Notwendigkeit einer professionellen Verteidigung nach den Umständen jedes Einzelfalles beurteile.63 Die Parallelen zur Entwicklung des Verteidigungsrechts nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK sind offensichtlich. Im Urteil Gideon vs. Wainwright wurde diese Einzelfallbetrachtung aufgegeben. Der Supreme Court anerkannte einen allgemeinen, von der Bedeutung des angeklagten Verbrechens unabhängigen Anspruch auf den Beistand durch einen Verteidiger, der bei Mittellosigkeit vom Staat bezahlt werden muss.64

60

Siehe Thaman in: Perron (Hrsg.) Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, 1995, S. 498 ff; LaFave/Israel/King Criminal Procedure3, S. 7 ff. 61 Gideon vs. Wainwright 372 U.S. 355 (1963); siehe auch Beaney Virginia Law Review 49, 1150 ff; LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 321 f. 62 Siehe Powell vs. Alabama 287 U.S. 45 (1932); neben dem 6. und dem 5. Zusatzartikel argumentierte der Gerichtshof mit der due process clause des 14. Zusatzartikels. 63 Siehe Betts vs. Brady 316 U.S. 455 (1942); die Notwendigkeit einer professionellen Verteidigung wurde vor allem bei drohender Verurteilung zur Todesstrafe anerkannt, vgl. etwa Hamilton vs. Alabama 368 U.S. 52 (1961). Insofern konnte man eine Weiterführung der Powell-Judikatur behaupten, denn dort war es ebenfalls um Kapitalverbrechen (u. a. Vergewaltigung) gegangen. 64 Dabei wurde die Entscheidung Betts vs. Brady ausdrücklich verworfen und die Richter betonten die zentrale Bedeutung des Rechts auf einen Verteidiger für ein faires und gleiches Strafverfahren, ein Gedanke, der sich ebenfalls schon in der Powell-Entscheidung findet, 287 U.S. 45 (1932), 67: „The fact that the right involved is of such a character that it cannot be denied without violating those ‚fundamental principles of liberty and justice which lie at the base of all our civil and political institutions‘.“ Die Wainwright-Rechtsprechung wurde weiter fortgeführt und ausgebaut in Argersinger vs. Hamlin 407 U.S. 25 (1972) und Scott vs. Illinois 44 U.S. 367 (1979).

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Ein Jahr später entschied der Supreme Court im Fall Escobedo vs. Illinois65 erstmals, dass das verfassungsmäßige Recht auf einen Verteidiger bereits vor dem Beginn der formellen Einleitung eines Strafverfahrens gilt, nämlich ab dem Zeitpunkt, ab dem der Beschuldigte in den Verdacht einer Straftat geraten ist – hier also auch für eine gezielte Befragung durch die Polizei. Auf die förmliche Erhebung der Anklage komme es dagegen nicht an: „It would exalt form over substance to make the right to counsel, under these circumstances, depend on whether at the time of the interrogation, the authorities had secured a formal indictment.“66 Gerade bei polizeilichen Vernehmungen sei der Beistand eines Verteidigers besonders wichtig: „There is necessarily a direct relationship between the importance of a stage to the police in their quest for a confession and the criticalness of that stage to the accused in his need for legal advice. Our Constitution … strikes the balance in favor of the right of the accused to be advised by his lawyer of his privilege against self-incrimination.“67 Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert die berühmte Entscheidung Miranda vs. Arizona.68 Für polizeiliche Vernehmungen im Vorverfahren hielt der Supreme Court nicht mehr den 6., sondern die Garantie der Aussagefreiheit im 5. Zusatzartikel für einschlägig.69 In der Sache änderte sich dadurch nichts. Klargestellt wurde, in welchem Umfang der Beschuldigte bei seiner Verhaftung oder zu Beginn seiner Vernehmung über seine Aus65

Escobedo vs. Illinois 378 U.S. 478 (1964). Escobedo war wegen Mordverdachts verhaftet worden und verweigerte auf Anraten seines Anwalts die Aussage. Nachdem er freigelassen worden war, wurde er einige Zeit später erneut verhaftet. Die Polizeibeamten drängten ihn zu einem Geständnis, indem sie ihm – zutreffend – eine belastende Zeugenaussage vorhielten. Escobedos Wunsch, seinen Anwalt zu sprechen, wurde zurückgewiesen. Trotzdem kam sein Anwalt zur Polizeistation und verlangte mehrmals erfolglos, seinen Mandanten zu sprechen. Schließlich gestand Escobedo nach einem über 14-stündigen Dauerverhör durch Beamte der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Der Supreme Court stellte mit denkbar knapper Mehrheit von 5 : 4 Richterstimmen eine Verletzung des 6. Zusatzartikels fest. 66 Escobedo vs. Illinois 378 U.S. 478 (1964), 486. 67 Escobedo vs. Illinois 378 U.S. 478 (1964), 488. Interessant ist die Kritik der Minderheit (a. a. O., 492 ff): Die Belehrung über die Aussagefreiheit sei ausreichend. Zudem erschwere eine derart weite Verfassungsinterpretation eine effektive Verbrechensbekämpfung. 68 Miranda vs. Arizona 384 U.S. 436 (1966). Miranda war wegen des Verdachts der Entführung und Vergewaltigung verhaftet worden. Nach zwei Stunden Polizeiverhör unterzeichnete er ein Schriftstück, in dem er die Vorwürfe gestand, sowie die formularmäßige Versicherung, über seine Rechte belehrt und ohne Zwang ausgesagt zu haben. Tatsächlich war er von der Polizei nicht belehrt worden. Der Supreme Court ließ mit Stimmenverhältnis von 5 : 4 das Geständnis nicht als Beweismittel vor Gericht zu, weil der Angeklagte nicht auf seine verfassungsmäßigen Rechte hingewiesen worden war. Auch hier warnte die Minderheit (a. a. O., 499 ff) vor einer übermäßigen Beschränkung der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. 69 Vgl. dazu krit. LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 323 f.

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sagefreiheit und sein Recht auf Beistand durch einen Verteidiger belehrt werden muss (sog. „Miranda Warnings“).70 Eine derartige Belehrung ist jedoch nur bei einer „custodial interrogation“ erforderlich, d. h. wenn der Beschuldigte in Haft von Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden befragt wird. Die bloße Anwesenheit auf einem Polizeirevier reicht dagegen nicht aus, außer der Verdächtige muss davon ausgehen, dass er sich der Befragung nicht entziehen kann.71 Die Miranda Warnings betreffen nur Angaben des Beschuldigten aufgrund einer Befragung, nicht dagegen spontane Äußerungen im Zusammenhang mit einer sonstigen Ermittlungsmaßnahme (z. B. einem Test der Fahrtüchtigkeit).72 Wenn der Beschuldigte ausdrücklich und unmissverständlich73 einen Anwalt wünscht, muss die Befragung sofort abgebrochen werden.74 Bei einer anschließenden Vernehmung muss die Anwesenheit des Anwalts sichergestellt werden75; nach einer Zeitspanne von 14 Tagen nach Entlassung aus der Haft können die Strafverfolgungsbehörden erneute Befragungsversuche unternehmen.76 Umgekehrt kann die Vernehmung fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte freiwillig auf anwaltlichen Beistand verzichtet, indem er sich äußert. 77 Der Beschuldigte kann sein Recht zu jedem Zeitpunkt der Vernehmung wieder in Anspruch nehmen. Bei Verletzung dieser Grundsätze kann ein

70

Miranda vs. Arizona 384 U.S. 436 (1966), 444: „Prior to any questioning, the person must be warned that he has the right to remain silent, that any statement he does make may be used as evidence against him, and that he has the right to the presence of an attorney, either retained or appointed.“ Näher dazu LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 353 ff. 71 Siehe Miranda vs. Arizona 384 U.S. 436 (1966): „custodial interrogation“. Der Supreme Court (a. a. O., 448 ff) betonte insbesondere die psychische Belastung in einer derartigen Situation. Nach Berkemer vs. McCarthy 468 U.S. 420 (1984), 438 f ist die polizeiliche Befragung im Rahmen einer Verkehrskontrolle nicht „custodial“ – auch wenn diese Person sich nicht ohne weiteres entfernen kann. Ebenfalls sind die Miranda Warnings nicht erforderlich, wenn jemand freiwillig einer polizeilichen Vorladung Folge leistet. Siehe auch LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 37 ff. 72 Siehe Rhode Island vs. Innis 446 U.S. 291 (1980); LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 343 ff. 73 Vgl. Davis vs. United States 512 U.S. 452 (1994), 458 f; das gilt ebenso für eine Berufung auf die Selbstbelastungsfreiheit; hier soll auch ein längeres Schweigen (fast 3 Std.) nicht ausreichen, Berghuis vs. Thompkins 560 U.S. No. 08-1470 (2010). 74 Edwards vs. Arizona 451 U.S. 477 (1981). 75 Siehe Edwards vs. Arizona 451 U.S. 477 (1981); Minnick vs. Mississippi 498 U.S. 146 (1990); Eine Ausnahme gilt dann, wenn sich der Beschuldigte von sich aus an die Polizei wendet. 76 Maryland vs. Shatzer 559 U.S. No. 08-680 (2010). 77 Miranda vs. Arizona 384 U.S. 436 (1966), 475; Moran vs. Burbine 475 U.S. 412 (1986), 421 ff; Freiwilligkeit heißt in Kenntnis der Rechte und der Konsequenzen eines Verzichts sowie frei von polizeilichem Druck. Zum „voluntariness-standard“ siehe Colorado vs. Connelly 479 U.S. 157 (1987), 166 ff; vgl. auch LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 357 ff.

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Geständnis im Strafverfahren nicht als Beweis gegen den Angeklagten zugelassen werden.78 Die Miranda-Grundsätze haben mit der Zeit verschiedene Klarstellungen und Einschränkungen erfahren. So gelten sie nicht für erkennungsdienstliche Maßnahmen der Polizei, die nicht auf die Gewinnung einer belastenden Aussage der befragten Person gerichtet sind. 79 Ebenfalls sind sie nicht anwendbar auf verdeckte Ausforschungen, weil hier keine offizielle Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden vorliegt. 80 Schließlich akzeptiert die Rechtsprechung eine Einschränkung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit. Zum Zweck der Gefahrenabwehr darf die Polizei Befragungen ohne vorherige Belehrung durchführen. Diese Erkenntnisse unterliegen in einem anschließenden Strafverfahren keinem Verwertungsverbot81; das leuchtet jedenfalls im Hinblick auf den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit nicht ein. Dagegen wurden diverse phantasievolle Umgehungsversuche der Strafverfolgungsbehörden zurückgewiesen. So hat der Supreme Court das verbreitete „question-first, warn-later“-Verhör nicht akzeptiert, wonach die Miranda Warnings erst nach der Vernehmung gegeben wurden und der Beschuldigte das Geständnis sodann „freiwillig“ wiederholte.82 Den schärfsten Angriff überstanden die Miranda-Grundsätze in der Entscheidung Dickerson vs. United States. Im Jahr 1968 hatte der Kongress mit dem „Omnibus Crime Control and Safe Streets Act“ die Miranda-Grundsätze per Gesetz aufgehoben. Erst im Jahr 2000 gelangte ein entsprechender Fall vor den Supreme Court, weil die Strafverfolgungsbehörden bis dahin vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung zurückgeschreckt waren. Der Supreme Court erklärte die Miranda Warnings zum gewohnheitsrechtlichen Bestandteil des Verfassungsrechts.83 Während die Miranda-Grundsätze den Umgang mit dem Recht auf anwaltlichen Beistand vor der formellen Beschuldigung als Ableitung aus der Selbstbelastungsfreiheit nach dem 5. Zusatzartikel regeln, gelten für die Zeit danach die Grundsätze, die der Supreme Court in der Entscheidung Massi78

Siehe Miranda vs. Arizona 384 U.S. 436, 479 (1966). Spätere Entscheidungen, z. B. Harris vs. New York 401 U.S. 222 (1971), lassen jedoch die Verwendung eines freiwilligen Geständnisses ohne Belehrung zu, um die Glaubwürdigkeit des vor Gericht bestreitenden Angeklagten anzufechten. 79 Vgl. Pennsylvania vs. Muniz 496 U.S. 582 (1990). 80 Siehe Illinois vs. Perkins 496 U.S. 292 (1990); vgl. demgegenüber BGHSt 34, 362 ff; 52, 11 ff; EGMR vom 5.11.2002 – 48539/99 (Allan gegen Großbritannien). 81 Vgl. New York vs. Quarles 467 U.S. 649 (1984), 654 ff. 82 So die äußerst umstrittene Entscheidung Missouri vs. Seibert 542 U.S. 600 (2004); näher dazu Moreno Arizona Law Review 47, 406 ff; Nooter American Criminal Law Review 42, 1093 ff; Weiss Journal of Criminal Law and Criminology 95, 945 ff. 83 Dickerson vs. United States 530 U.S. 428 (2000), 430: „the warnings have become part of our national culture“; siehe auch Moreno Arizona Law Review 47, 399 ff.

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ah vs. United States im Jahr 196484 verkündet hat. Der verfassungsrechtliche Unterschied liegt darin, dass ab der formellen Beschuldigung – d. h. „by way of formal charge, preliminary hearing, indictment, information or araignment“85 – der 6. Zusatzartikel einschlägig ist, wenn: „the government has committed itself to prosecute, and … the adverse positions of government and defendant have solidified …“86 Hier geht es nun darum, den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren vor Gericht und die Waffengleichheit im adversatorischen Strafprozess zu sichern.87 Anders als bei Miranda beschränkt sich die Garantie des Verteidigers nicht auf förmliche Vernehmungen in polizeilichem Gewahrsam, sondern sie erstreckt sich auf jede Form des Ausforschens, insbesondere also auch auf den Einsatz von verdeckten Ermittlern oder Spitzeln.88 Alle auf diese Weise erlangten Angaben dürfen nicht vor Gericht als Beweis verwendet werden.89 Während die Miranda-Grundsätze sämtliche selbstbelastenden Angaben betreffen, gelten die Massiah-Regeln nur für Erkenntnisse über den konkreten Tatvorwurf. Um Aussagen zu anderen Delikten dürfen sich die Strafverfolgungsorgane bemühen90 – sofern dann wiederum die Miranda Warnings beachtet werden. Selbstverständlich kann der Beschuldigte auch auf die Massiah-Rechte freiwillig verzichten, aber hierfür gelten nach der Entscheidung Brewer vs. Williams strenge Kriterien.91 Anders als bei 84

Massiah vs. United States 377 U.S. 201 (1964). Der Beschuldigte war wegen diverser Betäubungsmitteldelikte angeklagt und plädierte durch seinen Verteidiger auf „nicht schuldig“. Nach der Entlassung gegen Kaution wurde er auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden durch einen Mitangeklagten ausgehorcht, der sich zur Kooperation mit der Polizei entschlossen hatte. Der Gerichtshof entschied mit 6 : 3 Stimmen für ein Beweisverwertungsverbot. 85 Brewer vs. Williams 430 U.S. 387 (1977), 398; Rothgery vs. Gillespie County 554 U.S. No. 07-440 (2008). 86 Kirby vs. Illinois 406 U.S. 682 (1972), 689; Maine vs. Moulton 474 U.S. 159 (1985), 170. 87 Vgl. Massiah vs. United States 377 U.S. 201 (1964), 204. 88 Massiah vs. United States 377 U.S. 201 (1964), 204; Maine vs. Moulton 474 U.S. 159 (1985), 173 ff; zulässig ist jedoch die Gewinnung von belastenden Angaben durch einen Spitzel, der nicht von sich aus nachfragt, sondern lediglich zuhört, vgl. Kuhlmann vs. Wilson 477 U.S. 436 (1986), eine nicht unproblematische Grenzziehung. Siehe dazu auch LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 330 f. 89 Allerdings gilt auch hier keine Regel ohne kasuistische Ausnahmen: Angaben sind verwertbar, die in einer Situation gewonnen werden, in der das Recht auf einen Verteidiger nicht beeinträchtigt zu sein scheint. Zum „critical stage“-Kriterium siehe United States vs. Wade, 388 U.S. 218 (1967), 227 ff; Beispiele für „unkritische“ Ermittlungsmaßnahmen sind Blutproben, Stimmen- und Schriftvergleiche usw., nicht aber eine Gegenüberstellung. 90 Vgl. Texas vs. Cobb 532 U.S. 162 (2001); siehe dazu auch Minas The Journal of Criminal Law and Criminology 93, 195 ff. 91 Brewer vs. Williams 430 U.S. 387 (1977). Der Beschuldigte hatte Kontakt mit einem Verteidiger bei der gerichtlichen Anhörung. Auf dem mehrstündigen Transport in die Haftanstalt wurde er vom begleitenden Polizeioffizier zu selbstbelastenden Äußerungen überredet, obwohl mit der Verteidigung vereinbart worden war, den Beschuldigten nicht ohne

Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers

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den Miranda Warnings gibt es keine Einschränkungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit.92 Wie verwirrend dieses Geflecht von sich ergänzenden und überschneidenden Regelungen des Verteidigerbeistands im Ermittlungsverfahren ist, verdeutlicht die Entscheidung Montejo vs. Louisiana. Hier wirkte sich gegen den Beschuldigten aus, dass er sich lediglich auf sein Schweigerecht aus dem 6. Zusatzartikel berufen hatte, nicht aber, was wegen der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ohnehin überflüssig war, auf den 5. Zusatzartikel. Noch bevor er sich mit seinem Verteidiger beraten konnte, entlockten ihm die Ermittlungsbeamten eine Selbstbelastung, was der Supreme Court für zulässig hielt.93 Aus der Perspektive des deutschen Strafprozessrechts erscheint die Praxis der deutschen Gerichte – trotz aller Kritik – demgegenüber als musterhaft klar und einfach. Vor allem aber muss man sich fragen, ob und inwieweit die Garantie auf Beistand durch einen Verteidiger überhaupt noch effektiv bleibt. Gerade der rechtsunkundige Beschuldigte wird sich ohne den kundigen Rat eines Anwalts kaum in diesem Gestrüpp zurechtfinden – was wiederum – von der konservativen Richtermehrheit am Supreme Court gewollt – Manipulationen der Strafverfolgungsbehörden Tür und Tor öffnet.

V. Schlussbetrachtung Der kursorische Rechtsvergleich sei mit drei Anmerkungen abgeschlossen: – Wie der BGH, so diskutiert auch der Supreme Court die Verteidigerrechte im Spannungsfeld zwischen Verfahrensfairness einerseits und effektiver Strafverfolgung andererseits. Aber während der BGH die Konsequenzen einer Verletzung der Rechte des Beschuldigten nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO im Wege einer Abwägung bestimmt, thematisiert der Supreme Court die Reichweite der aus dem 5. und 6. Zusatzartikel abgeleiteten Pflichten der Strafverfolgungsbehörden. In den Ergebnissen müssen sich beide Positionen nicht unbedingt unterscheiden. Die Verfahrensweise des Supreme Court ist jedoch konsequenter. Wer dem Beschuldigten erst einen Anspruch zuerkennt, die Verletzung dieses Anspruchs aber in Abwägung mit der ef-

Anwalt zu befragen. Der Supreme Court bejahte mit knapper Mehrheit von 5 : 4 eine Verletzung des 6. Zusatzartikels. Näher dazu LaFave/Israel/King (Fn. 60) S. 324 f, 327 ff. 92 Vgl. Maine vs. Moulton 474 U.S. 159 (1985), 179 f. 93 Montejo vs. Lousiana 556 U.S. No. 07-1529 (2009) in Abkehr von Michigan vs. Jackson 475 U.S. 625 (1986).

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fektiven Strafverfolgung folgenlos lässt, gibt ihm mit der Linken und nimmt ihm mit der Rechten. Das ist inkonsequent. – Damit hängt ein zweiter Aspekt zusammen. Verfahrensgerechtigkeit darf nicht mit den – vermeintlichen – Bedürfnissen einer effektiven Strafrechtspflege abgewogen werden. Mag der Schutz der Bürger vor Kriminalität jedem Staat als Zweck vorgeordnet sein94, so steht doch fest, dass die Strafrechtspflege in einem Rechtsstaat sich in rechtsstaatlichen Bahnen bewegen muss – oder sie ist keine rechtsstaatliche Strafrechtspflege. Ein Rechte-orientierter Ansatz argumentiert genau umgekehrt: Fairness „[is] particularly called for in the case of serious charges, for it is in the face of the heaviest penalties that respect for the right to a fair trial is to be ensured to the highest possible degree by democratic societies.“95 – Die Abkehr vom mittelalterlichen Inquisitionsprozess manifestiert sich darin, dass der Beschuldigte nicht mehr als bloßes Beweismittel angesehen wird, sondern dem strafverfolgenden Staat als Rechtsperson mit originären Verteidigungsrechten gegenübertritt. Gerade weil die entscheidenden Weichenstellungen für das Strafverfahren bereits im Ermittlungsverfahren stattfinden und die Beweiserhebung in der Hauptverhandlung faktisch vorweggenommen wird, ist es besonders wichtig, dass schon in dieser Phase eine effektive Verteidigung sichergestellt wird. Wie Justice Black in seiner dissenting opinion In re Groban eindringlich formulierte: „One can imagine a cynical prosecutor saying: ‚Let them have the most illustrious counsel, now. They can’t escape the noose. There is nothing that counsel can do for them at the trial.‘“96

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So Landau NStZ 2007, 125 f in der Tradition von Thomas Hobbes. EGMR vom 26.4.2004 – 36391/02 (Salduz gegen Türkei) § 54. 96 In re Groban 352 U.S. 330 (1957), 345. 95

Die Grenzen der Editionspflicht des § 95 StPO Ein Beitrag zur Systematik der strafprozessualen Vorschriften über die Beschlagnahme MATTHIAS JAHN

I. Einführung: Die neue Praxisrelevanz der Editionspflicht Die Vorschrift des § 95 Abs. 1 StPO besagt im Wesentlichen, dass der Inhaber des Gewahrsams an einem beweglichen Gegenstand diesen auf Verlangen den Strafverfolgungsbehörden herauszugeben hat, soweit er als Beweismittel in Betracht kommt. Die Herausgabe kann nach § 95 Abs. 2 StPO durch Ordnungs- und Zwangsmittel erzwungen werden, es sei denn, der Gewahrsamsinhaber ist zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt. Entsprechendes gilt bei bestimmten Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung (§§ 100b Abs. 3 Satz 3, 100g Abs. 2 Satz 1 StPO). Zieht man die ausführlicheren Lehr- und Erläuterungswerke des Strafprozessrechts zum näheren Verständnis der Norm heran, fällt eines schnell auf: Das Institut der Editionspflicht führt im wissenschaftlich-systematischen Schrifttum bislang ein Schattendasein. Die Ausführungen1 beschränken sich zumeist auf die Einordnung der Vorschrift in die Architektur der Normen über die strafprozessualen Zwangsmaßnahmen. Auch der Jubilar kann § 95 StPO in seinem berühmten Kurzlehrbuch2 lediglich eine knappe Skizze widmen. Das kontrastiert angesichts der zahlreichen schwierigen Fragen, die die Editionspflicht aufwirft, auffällig mit dem Raum, der den Erläuterungen der Nachbarvorschriften über die strafprozessuale Beschlagnahme 1

Kühne Strafprozessrecht Rn. 509 f; Beulke Strafprozessrecht Rn. 247; Hellmann Strafprozessrecht Rn. 382 a. E.; Kindhäuser Strafprozessrecht § 8 Rn. 117; Schroeder Strafprozessrecht Rn. 122; Volk Grundkurs StPO § 10 Rn. 35; Ranft Strafprozeßrecht Rn. 918 f; Lehmann in: Heghmanns/Scheffler (Hrsg.), Handbuch zum Strafverfahren (HbStrVf), 2008, Kap. III Rn. 68 ff. Im älteren Schrifttum war das zum Teil noch anders. Zu den Erläuterungsbüchern von Peters, Schlüchter und dem Lehrer des Jubilars, Heinrich Henkel, siehe die Nachw. unten in Fn. 13 u. 14. 2 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 34 Rn. 9-11, weitgehend inhaltsgleich mit der letzten von Roxin allein besorgten 25. Aufl. 1995, § 34 Rn. 7. Siehe auch Roxin/Achenbach, PdW Strafprozessrecht, Fälle 121, 122.

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eingeräumt zu werden pflegt. Für studentische Leserinnen und Leser wird das noch hinzunehmen sein. Jedoch ist die ausgebliebene Grundlagenarbeit zu § 95 StPO angesichts der in den letzten Jahren gewachsenen praktischen Bedeutung der Vorschrift für das Verständnis des Verfahrensrechts ganz unzuträglich.3 Die neue Praxisrelevanz der Editionspflicht ist der Ubiquität der Rechtsberatung im Wirtschaftsstrafrecht geschuldet. Sie wird etwa in einer unlängst veröffentlichten Entscheidung4 zur Beschlagnahme beim Insolvenzverwalter geradezu als Standardmaßnahme anempfohlen und kann im Rahmen der Verwertung interner Erhebungen („Internal Investigations“) von Unternehmensanwälten für das staatliche Strafverfahren dann eine Bedeutung erlangen, wenn deren Ergebnisse verschriftet werden.5 Dass sich das Erkenntnisinteresse der Strafverfolgungsbehörden auf solche Aufzeichnungen von Mitarbeiterbefragungen richten kann, liegt in der Natur der Sache: Sie stammen „aus erster Hand“, sind aber ohne die unmittelbare Anwendung des gängigen StPO-Schutzniveaus für Beschuldigte und Zeugen zustande gekommen. Ebenso nahe liegt es dann, die Regelung in § 95 StPO in den Dienst dieser Interessen zu stellen, was wiederum die Frage nach den Grenzen der Editionspflicht aufwerfen muss. Dies zeigt auch eine dritte, der vorliegenden Abhandlung zu Grunde liegende Fallkonstellation:6 3

Die praktische Relevanz ist daher gegenüber dem Negativattest von LR-Gerhard Schäfer § 95 StPO Rn. 1 („[Eine] in Lehrdarstellungen und Kommentaren bisher meist nur knapp behandelte und in der Praxis selten herangezogene Vorschrift [...]“; ebenso noch Kemper wistra 2006, 174; Meininghaus Der Zugriff auf E-Mails im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2007, S. 227), deutlich gestiegen. 4 LG Saarbrücken NStZ 2010, 535 m. w. N.: „Bietet sich [...] als strafprozessuales Instrument an [...]“. 5 Siehe nur LG Hamburg m. Anm. v. Galen NJW 2011, 945 und Anm. Jahn/Kirsch StV 2011, 148; das geschah in der Vergangenheit offenbar nicht immer, vgl. Jahn StV 2009, 42 m. w. N. in Fn. 16. Als Reaktion darauf versteht sich nunmehr die jüngst vorgelegte These 3 des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer zum Unternehmensanwalt im Strafrecht, BRAK-Stellungnahme Nr. 35/2010, BRAK-Mitt. 2011, 16 (19). In der Begründung heißt es u. a.: „Der Mitarbeiter ist darüber zu belehren, dass Aufzeichnungen der Befragung gegebenenfalls an Behörden weitergegeben werden und dort zu seinem Nachteil verwertet werden können [...]. Die Anhörung der Auskunftsperson ist schriftlich zu dokumentieren. [...] Auf Verlangen der Auskunftsperson ist eine Niederschrift über ihre Befragung aufzunehmen, in diese Einsicht zu gewähren und sie von der Auskunftsperson genehmigen zu lassen. Hierüber ist die Auskunftsperson zu belehren“. Im Ganzen zust. Sidhu/v. Saucken/Ruhmannseder NJW 2011, 884. 6 Ausgangspunkt dieses Beitrags war ein Gutachten, das vom Verf. für die Adhäsionsklägerin im Zusammenhang mit einem bundesweit beachteten Wirtschaftsstrafprozess erstellt wurde; das Verfahren in der Hauptsache wurde mit Urteil des BGH vom 29.6.2010 (1 StR 245/09 = NStZ 2011, 83 m. Anm. Rübenstahl HRRS 2010, 505) rechtskräftig abgeschlossen. Die Stellungnahme musste letztlich nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden.

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Ein Rechtsanwalt wird während laufender Hauptverhandlung durch Gerichtsbeschluss aufgefordert, Schriftverkehr und weitere Unterlagen7 zum Zwecke der Beweiserhebung über den Tatvorwurf auszuhändigen. Sie waren ihm von seiner Mandantin, zugleich Adhäsionsklägerin im gegenständlichen Strafverfahren,8 vorprozessual übergeben worden. Ob und auf welcher Rechtsgrundlage der Prozessbevollmächtigte als Berufsgeheimnisträger zur Verweigerung der Herausgabe berechtigt oder sogar verpflichtet sein könnte, ist Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen. Sie sind Claus Roxin nicht nur in großer Bewunderung und dankbarer Zuneigung für seine überragenden wissenschaftlichen Leistungen gewidmet, sondern auch in Ansehung seiner besonderen Verdienste um die Theorie-Praxis-Integration im deutschen Straf- und Strafprozessrecht der letzten fünfzig Jahre, denn „auch die Praktiker sind ja Wissenschaftler, weil sie an der schöpferischen Entwicklung des Rechts großen und oft entscheidenden Anteil haben. Und die Wissenschaftler sind immer auch Praktiker, indem sie für juristisch relevante Lebensvorgänge umsetzbare Problemlösungen zu entwickeln versuchen“9. 7

Hier nur angedeutete Sonderprobleme können in der Praxis entstehen, wenn Teile der Unterlagen – wie in der Rechtsberatung durch Großkanzleien mittlerweile üblich – auf Datenträgern abgespeichert werden. Eine Pflicht zur Reproduktion im Wege des Ausdrucks lässt sich angesichts des Wortlautes von § 95 StPO nicht begründen (so auch AK-Amelung § 97 StPO Rn. 5; Tschacksch Die strafprozessuale Editionspflicht, 1988, S. 48, 251; Janssen Rechtliche Grundlagen und Grenzen der Beschlagnahme, 1995, S. 19; Lemcke Die Sicherstellung gem. § 94 StPO und deren Förderung durch Inpflichtnahme Dritter als Mittel des Zugriffs auf elektronisch gespeicherte Daten, 1995, S. 225, 235; a. A. (vor allem mit Blick auf Kostenfragen) LG Kaiserslautern NStZ 1981, 439 m. krit. Anm. Lilie; Sannwald NJW 1984, 2498. Allerdings kann die Editionspflicht zur Herausgabe des Trägermediums verpflichten, vgl. BVerfGE 115, 166 (199) m. Anm. Verf. JuS 2006, 492; BVerfGE 113, 29 (50); BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats] NJW 2007, 3344; R. Hamm NJW 2010, 1334; zusf. Korge Die Beschlagnahme elektronisch gespeicherter Daten bei privaten Trägern von Berufsgeheimnissen, 2009, S. 56). 8 Auf eine mit dieser Stellung verbundene Spezialfrage soll nur hingewiesen werden: Gegenüber der Adhäsionsklägerin selbst sind von vornherein Beschränkungen der Reichweite der Herausgabepflicht aus § 95 StPO geboten. Wegen des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes ist sie in Bezug auf solche Gegenstände ausgeschlossen, deren Beweisinhalt ausschließlich für die Höhe des geltend gemachten Anspruchs relevant ist (Tschacksch [Fn. 7] S. 220 f). Die Herausgabe- und Sachaufklärungspflicht ist durch das 1. Opferrechtsreformgesetz 2004 mit den §§ 405 Abs. 1, 406 Abs. 2 StPO sogar nochmals beschränkt worden, vgl. Schork/König NJ 2004, 540 f; Neuhaus StV 2004, 626; Hilger GA 2004, 485. Um den damit vom Gesetz intendierten Schutz des Adhäsionsklägers nicht in sein Gegenteil zu verkehren, spricht vieles dafür, den Anwendungsbereich des § 95 StPO auch auf seinen Prozessbevollmächtigten zu erstrecken. Ansonsten stünde der Kläger trotz der vom Gesetzgeber gewollten Stärkung seiner Stellung schlechter als ohne Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe. 9 Roxin in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2009, S. 101.

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II. Das Entstehen der Herausgabepflicht bei zeugnisverweigerungsberechtigten Gewahrsamsinhabern 1. Anforderungen an den Verdachtsgrad im Rahmen des § 95 Abs. 1 StPO Nach dem Wortlaut von § 95 Abs. 1 Satz 1 StPO i. V. m. § 94 Abs. 1 StPO kommen als Objekt der Herausgabepflicht prinzipiell alle Gegenstände in Betracht, die „als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können.“ Das erfasst grundsätzlich auch die im Ausgangsfall streitbefangenen Mandatsunterlagen. Bei § 94 Abs. 1 StPO sind mit der Formulierung des Gesetzes die Voraussetzungen eines einfachen Tatverdachts angesprochen. Dort genügt es also, wenn die bloße Möglichkeit besteht, dass der Gegenstand im Verfahren in irgendeiner Weise verwendet werden kann.10 Das jedoch ist im Anwendungsbereich des § 95 Abs. 1 StPO aus Gründen der Teleologie anders. Hier geht es um einen Eingriff in die Sphäre eines Dritten. Strafprozessuale Eingriffsermächtigungen verlangen aber in dieser Situation regelmäßig eine höhere Verdachtsstufe als dann, wenn sich der Eingriff ausschließlich gegen eine verdächtige oder schon beschuldigte Person richtet. Demzufolge sind auch an die Eingriffsschwelle bei einem Herausgabeverlangen nach § 95 Abs. 1 StPO qualifizierte Anforderungen zu stellen. Insbesondere die geringe Beweisbedeutung der im Drittgewahrsam vermuteten Informationen sowie die Vagheit des Auffindeverdachts können einer Sicherstellung, Beschlagnahme oder Aufforderung zur Herausgabe des Gegenstandes entgegenstehen.11 Deshalb müssen für eine rechtmäßige Herausgabeaufforderung nach § 95 Abs. 1 StPO aufgrund bestimmter Tatsachen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die die Beweisbedeutung des herauszugebenden Gegenstandes nahe legen. Das ist Tatfrage, mag aber im Nachfolgenden unterstellt werden.

2. Auswirkung eines Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53 Abs. 1 StPO auf das Bestehen der Herausgabepflicht nach § 95 Abs. 1 StPO Der Ausgangspunkt für das Weitere könnte nicht klarer sein: Dem im Fall betroffenen Rechtsanwalt steht ein Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 StPO über das zu, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist. Dazu gehört auch der gesamte mandatsbezogene Schriftverkehr mit der Adhäsionsklägerin, 10

BGH (III. Zivilsenat) WM 1982, 1366; Meyer-Goßner § 94 StPO Rn. 6; LR-Schäfer § 94 StPO Rn. 30; Amelung DNotZ 1984, 196. 11 Vgl. BVerfGE 113, 29 (57) m. zust. Anm. Kutzner NJW 2005, 2653 und zust. Anm. Rau WM 2006, 1286 sowie Tschacksch (Fn. 7) S. 24, 52.

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weil dieser jedenfalls unter der stillschweigenden Erwartung der Geheimhaltung geführt worden ist. Einerlei ist dabei, ob es sich um schriftliche Mitteilungen, Aufzeichnungen in den Handakten oder elektronisch gespeicherte Dokumente handelt.12

a) Bisheriger Meinungsstand: „Eine rund hundert Jahre ungeklärte Streitfrage“ Der nur rasche und beiläufige Blick in das Gesetz kann nun aber zu der Auffassung verführen, das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts sei Hindernis allein für die Festsetzung der Ordnungs- und Zwangsmittel nach § 95 Abs. 2 Satz 1 StPO i. V. m. § 70 StPO. Dafür mag a prima vista sprechen, dass der den „Personen, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind“ gewidmete § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO sich mit dem Wort „das“ nur auf die Ordnungs- und Zwangsmittel zu beziehen scheint. In der praktischen Konsequenz dürften also auch Zeugnisverweigerungsberechtigte nach vorangegangener Belehrung darüber, dass (nur) die Durchsetzung des Verhaltensgebots mittels Ordnungs- und Zwangsmitteln unzulässig ist, zur Herausgabe aufgefordert werden. Tatsächlich entspricht dies einer in der Literatur vertretenen Auslegung der Vorschrift.13 Sie ist aber unrichtig. Wenn und soweit ein Zeugnisverweigerungsrecht besteht, kommt die Herausgabepflicht schon nicht zur Entstehung. Zeugnisverweigerungsberechtigte (§§ 52 bis 53a StPO) dürfen deshalb auch nicht zur „freiwilligen“ Herausgabe aufgefordert werden. Um diesen Schluss belegen zu können, der von einer vor allem im älteren Schrifttum verbreiteten14 Auffassung auch gezogen wird, bedarf es allerdings der genaueren Analyse der Vorschrift in § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO. Erst sie vermag die tatsächliche Reichweite des

12

Vgl. BGHSt 38, 369 (370); Meyer-Goßner § 53 StPO Rn. 7 f; Verf./Lips StraFo 2004, 232. Siehe erg. bereits Fn. 7. 13 Eisenberg Beweisrecht der StPO Rn. 2326; Malek/Wohlers Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren Rn. 153; SK-Wohlers § 95 StPO Rn. 23; AnwKLöffelmann § 95 StPO Rn. 2; HK-B. Gercke § 95 StPO Rn. 6; KMR-Müller § 95 StPO Rn. 3; Joecks Studienkommentar § 95 StPO Rn. 2; Pfeiffer § 95 StPO Rn. 1; Schlüchter Das Strafverfahren Rn. 291; Peters Strafprozeß § 48 A II (S. 442) unter Aufgabe der noch in der 2. Aufl. 1966, § 48 II (S. 377) vertretenen Gegenauffassung; Janssen (Fn. 7) S. 22. 14 Henkel Strafverfahrensrecht § 70 V 2 (S. 292); Lemcke (Fn. 7) S. 263 f; Tschacksch (Fn. 7) S. 81; Petry Beweisverbote im Strafprozess, 1971, S. 54 Fn. 75. LR-Schäfer § 95 StPO Rn. 15 und P. Schmitt Die Berücksichtigung der Zeugnisverweigerungsrechte nach §§ 52, 53 StPO bei den auf Beweisgewinnung gerichteten Zwangsmaßnahmen, 1993, S. 69 mit Fn. 107, lassen die Frage ausdrücklich dahinstehen; BGH NStZ 2009, 397 m. Bespr. Verf. JuS 2009, 148 (zur E-Mail-Beschlagnahme) geht auf sie nicht ein.

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vieldeutigen Wortlauts zu ergründen, der eine „seit rund hundert Jahren ungeklärte Streitfrage“15 provoziert hat.

b) Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozess – zur Auslegung des § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO Einer der tragenden Pfeiler des bundesdeutschen Strafprozessrechts ist, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden darf.16 Dieser Grundsatz gilt nicht nur für den Personalbeweis, sondern auch in Bezug auf die Bestimmung der Grenzen der (Herausgabe und) Beschlagnahme von Beweisgegenständen. Er begrenzt richtigerweise schon die generelle Pflichtenstellung des Zeugnisverweigerungsberechtigten. Sucht man systematisch die Parallele der Editions- zur Zeugenpflicht, erhellt sich, dass auch der zur Zeugnisverweigerung Berechtigte im Vernehmungstermin nur zum Erscheinen, nicht aber zur Aussage verpflichtet ist.17 Gerade deshalb kann sein Zeugnis nicht erzwungen werden (§ 70 Abs. 1 StPO). Dann ist es aber nur konsequent, bereits das Bestehen der mit der Aussage korrespondierenden Pflicht zur Herausgabe eines Beweisgegenstandes abzulehnen. Ebenso wie das Zeugnisverweigerungsrecht in § 53 Abs. 1 StPO hat § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO zudem den Sinn und Zweck, den Berufsgeheimnisträger vor schwierigen Konfliktsituationen zu bewahren.18 Speziell im Falle des § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO soll er davor geschützt werden, das in ihn gesetzte besondere Vertrauen des Mandanten angesichts der Existenz einer Zeugnisoder Herausgabepflicht enttäuschen zu müssen. Die eigentliche Pflichtenkollision kann aber nur vermieden werden, wenn man bereits das Bestehen einer aktiven Handlungspflicht des Berufsgeheimnisträgers ablehnt.19 Mit der gegenteiligen Interpretation müsste § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO geradezu als eine Norm gelesen werden, die zum Pflichtverstoß anstiftet.

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So (bereits im Jahr 1988) Tschacksch (Fn. 7) S. 79. St. Rspr., vgl. BGHSt 14, 358 (365); 51, 285 (290); 52, 11 (17). Zum Ganzen – je m. w. N. – Hassemer ZStW 121 (2009), 836; Verf. Gutachten C zum 67. DJT Erfurt, 2008, S. C 64; ders. StraFo 2011 H. 2 (im Erscheinen). 17 BGH (b. Schmidt) NStZ 1996, 482; Meyer-Goßner § 51 StPO Rn. 12; Verf. in: Heghmanns/Scheffler (Hrsg.), HbStrVf, 2008, Kap. II Rn. 178. 18 Vgl. BGHSt 9, 59 (61); 17, 337 (348); Rengier Das Zeugnisverweigerungsrecht im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht, 1979, S. 13. Für die Fälle der §§ 52, 53a StPO gilt im Ergebnis nichts anderes. 19 Überzeugend Lemcke (Fn. 7) S. 263. 16

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c) Zwischenergebnis: Schon kein Entstehen der Editionspflicht beim Zeugnisverweigerungsberechtigten Anordnungen nach § 98 Abs. 1 StPO vermögen gegenüber Zeugnisverweigerungsberechtigten (§§ 52 bis 53a StPO) schon keine Herausgabepflicht auszulösen (§ 95 Abs. 2 Satz 2 StPO). Auf deren fehlende Durchsetzbarkeit kommt es nicht an.

III. Editionspflicht bei beschlagnahmefreien Gegenständen? Wer den vorstehenden Ausführungen zur Entstehung der Editionspflicht beim Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts nicht zuzustimmen vermag,20 wird jedenfalls an einer Klärung der nachgelagerten Frage interessiert sein müssen, ob die strafprozessuale Herausgabepflicht zumindest bei gemäß § 97 Abs. 1 StPO beschlagnahmefreien Gegenständen an ihre Grenzen kommt.

1. Die Bedeutung des § 97 Abs. 1 StPO für die Herausgabepflicht nach § 95 Abs. 1 StPO a) Bisheriger Meinungsstand: „Ein unklar redigiertes Gesetz mit teilweise unklarer Entstehungsgeschichte“ Nach dem Wortlaut des § 97 Abs. 1 StPO ist lediglich die „Beschlagnahme“ der dort benannten Beweismittel untersagt. Dies könnte gegen die Erstreckung der Vorschrift auf die Editionspflicht zu sprechen, bei der es allein um die Vorlage und Auslieferung von Gegenständen zu gehen scheint. Tatsächlich wird deshalb von einer in der Rechtsprechung vereinzelt vertretenen21 und vom Schrifttum – wenn auch nur selten22 – geteilten

20 Siehe die Nachw. zur Gegenauffassung in Fn. 13. Die nachstehenden Ausführungen sind zudem auch unter dem Aspekt etwaiger Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff und Amtshaftung (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) bei unzulässigem strafprozessualen Zwang gegenüber Unbeteiligten bedeutsam, vgl. Wasmuth NJW 1989, 2303 sowie BGHSt 36, 236 (240) zur Frage der analogen Anwendung des Rechtsgedankens der §§ 5 Abs. 2 und 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG auf solche Ansprüche. Sie stehen häufig im Raum, weil eine Durchsuchung zur Beweismittelbeschaffung ausgeschlossen ist, soweit das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 StPO reicht (LG Kiel SchlHA 1955, 368 (369); LR-Schäfer § 97 StPO Rn. 140; Müller-Dietz Die Beschlagnahme von Krankenblättern im Strafverfahren, Diss. Freiburg 1965, S. 57). 21 LG Bielefeld StV 2000, 12. Immerhin hat aber auch der Ermittlungsrichter beim BGH (BGHSt 38, 237 [247] m. Anm. Hilgendorf JZ 1993, 368) in einem nichttragenden Teil der Entscheidung zur Beschlagnahmefähigkeit von Behördenakten beiläufig geäußert, die Regelung in § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO lasse „die Möglichkeit der Beschlagnahme unberührt“. Diese

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Auslegung die Anwendung von § 97 Abs. 1 StPO auf die Herausgabepflicht des § 95 Abs. 1 StPO rundweg abgelehnt. Das Wortlautargument soll dabei von den Vertretern jener Auffassung zusätzlich noch durch eine plakative systematische Überlegung abgesichert werden: Da § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO auf das Zeugnisverweigerungsrecht zurückverweise, entspreche der Umfang des Herausgabeverweigerungsrechts (nur) der Vorschrift des § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3b StPO, nicht aber derjenigen des § 97 Abs. 1 StPO. Allerdings ist gerade bei der systematischen Auslegung der Beschlagnahmevorschriften in den §§ 94 bis 97 StPO besondere Vorsicht geboten. Es handelt sich, woran bereits Robert v. Hippel23 erinnert hat, um „ein unklar redigiertes Gesetz mit teilweise unklarer Entstehungsgeschichte“. Die nähere Analyse dieser Systematik ergibt aber nach der zutreffenden herrschenden Ansicht im Schrifttum,24 dass die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs. 1 StPO auch bei Maßnahmen nach § 95 StPO beachtet werden müssen. Nichts anderes gilt für den Fall, dass sich das Verbot nicht aus § 97 Abs. 1 StPO, sondern bereits unmittelbar aus dem Grundgesetz ergibt.25 Auch ein solches verfassungsunmittelbares Beschlagnahmeverbot beansprucht im Rahmen des § 95 Abs. 1 StPO – erst recht – Geltung.

b) Zu Systematik und Telos der Beschlagnahmeverbote im VIII. Abschnitt des Ersten Buches Die allein auf den Wortlaut des § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO und seinen Verweis auf die §§ 52 ff StPO abstellende Analyse der Gegenmeinung greift zu kurz. Nach der gesetzlichen Systematik kann sich § 97 Abs. 1 StPO ohne weiteres nicht nur auf § 94 Abs. 2 StPO, sondern auch auf den ebenfalls vorangestellten Fall des § 95 Abs. 1 StPO beziehen. Begründungsbedürftig ist dann freilich, warum das Gesetz in § 97 Abs. 1 StPO nur beschlagnahmefreie Gegenstände ausdrücklich erwähnt. Die Beantwortung dieser Frage hängt von dem Verhältnis von Beschlagnahme und Herausgabe ab.

Äußerung ist in der wissenschaftlichen Diskussion bislang – und, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, im Ergebnis auch ganz zu Recht – auf keine ersichtliche Resonanz gestoßen. 22 Samson StV 2000, 56; P. Schmitt (Fn. 14) S. 141. 23 ZStW 47 (1927), 525. 24 v. Hippel ZStW 47 (1927), 528; KK-Nack § 95 StPO Rn. 5; SK-Wohlers § 95 StPO Rn. 7; LR-Schäfer § 95 StPO Rn. 15; HK-B. Gercke § 95 StPO Rn. 7; BeckOK-Ritzert § 95 StPO Rn. 5; Joecks Studienkommentar § 95 StPO Rn. 2 a. E.; AnwK-Löffelmann § 95 StPO Rn. 2; AK-Amelung § 97 StPO Rn. 7; Eisenberg Beweisrecht der StPO Rn. 2329; K. Baumann Die Systematik der Regelungen über die beweissichernde Sicherstellung im Strafverfahren (§§ 9498 StPO), 2010, S. 55 f. 25 So auch Tschacksch (Fn. 7) S. 164.

Die Grenzen der Editionspflicht des § 95 StPO

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aa) Editionszwang und Beschlagnahme als „Parallelerscheinungen“ (Robert v. Hippel) Nach § 94 Abs. 2 StPO sind Gegenstände, die sich im Gewahrsam einer Person befinden und nicht freiwillig herausgegeben werden, zu beschlagnahmen. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus unstreitig,26 dass diese Gegenstände nur dann beschlagnahmt werden müssen, wenn der Verfügungsberechtigte nicht auf den Schutz des § 97 Abs. 1 StPO verzichtet und die Beweismittel freiwillig herausgibt. Ungeachtet des Nichtbestehens einer Herausgabepflicht nach § 95 Abs. 2 Satz 2 StPO im Einzelfall, handelt es sich bei der Editionspflicht nach der gesetzlichen Konzeption damit nicht um einen Fall der freiwilligen Herausgabe, sondern um eine grundsätzlich mit den Zwangsmitteln des § 95 Abs. 2 Satz 1 StPO durchsetzbare Obligation. Es geht um eine Vorfeldmaßnahme: Sie kann die Beschlagnahme abwenden, wenn aus rechtlichen Gründen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dies erfordert oder eine Beschlagnahme aus tatsächlichen Gründen voraussichtlich erfolglos wäre.27 Herausgabeverpflichtung und Beschlagnahmebefugnis knüpfen also in systematischer Perspektive an dieselbe Situation an.28 Oder, noch kürzer und wieder mit einem Wort Robert v. Hippels29: Editionszwang und Beschlagnahme sind „Parallelerscheinungen“. Die auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abstellende Begründungslinie ist freilich erst nachträglich durch die Einwirkung des Verfassungsrechts auf die Vorschrift des § 95 Abs. 1 StPO hinzugetreten. Das kann auch erklären, dass seiner30 bereits erwähnten, bitteren Klage über die misslungene Systematik der §§ 94 bis 97 StPO erst seit dem Siegeszug des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einem Strafprozessrecht unter dem Grundgesetz abgeholfen werden kann. Es ist deshalb unzutreffend, § 95 StPO als ein selbstständig neben Sicherstellung und Beschlagnahme stehendes Tertium zu lesen. Das zeigt sich schon darin, dass die Vertreter dieser Konzeption den aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip fließenden Vorfeldcharakter des § 95 StPO unterschlagen (müssen).31 Gegen die vorstehenden systematischen Überlegungen spricht auch nicht, dass es bei richtiger Anwendung des Gesetzes keiner Anwendung des § 97 Abs. 1 StPO bedarf, weil wegen 26

BGHSt 18, 227 (230); LR-Schäfer § 97 StPO Rn. 46. Klar herausgestellt von LG Halle NStZ 2001, 277; LG Kaiserlautern NStZ 1981, 439; Kurth NStZ 1983, 327; Bittmann NStZ 2001, 233. 28 So ausdrücklich LG Darmstadt NStZ 1989, 86; Tschacksch (Fn. 7) S. 158 f. 29 ZStW 47 (1927), 527. 30 v. Hippel ZStW 47 (1927), 525: „So redigiert kein Gesetzgeber, der seinen Stoff in geistigem Zusammenhang klar beherrscht“. 31 Besonders augenfällig bei F. Schreiber Die Beschlagnahme von Unterlagen beim Steuerberater, 1992, S. 37 f und P. Schmitt (Fn. 14) S. 141 f. 27

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§ 95 Abs. 2 Satz 2 StPO ohnehin keine Pflicht zur Herausgabe besteht, diese aber jedenfalls – folgt man der Gegenauffassung32 – nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar ist. In den in § 97 Abs. 2 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 StPO geregelten Situationen ist die Editionspflicht umfassender als die Möglichkeit der Beschlagnahme. Dies unterstreicht das Bedürfnis, die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs. 1 StPO auch auf den Fall des § 95 Abs. 1 StPO anzuwenden.

bb) Sinn und Zweck der §§ 94 bis 97 StPO Die Anwendung des § 97 Abs. 1 StPO auf die Editionspflicht entspricht zudem auch dem Sinn und Zweck der §§ 94 ff StPO. Der Anknüpfung in § 97 StPO an die §§ 52 bis 53a StPO kann leicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber die Zeugnisverweigerungsrechte im gegenständlichen Bereich ergänzen und dadurch ihre Umgehung verhindern wollte.33 Für den hier besonders interessierenden Bereich ermöglicht insbesondere die Einräumung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO den Berufsgeheimnisträgern, ihrer materiell-strafrechtlichen Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB nachzukommen. Dünnebier34 beschreibt dies treffend mit der vielzitierten Metapher „was der Mund nicht zu offenbaren braucht, darf auch der Hand nicht entrissen werden“. § 97 Abs. 1 StPO betrifft eine Situation, in der sich der Zeuge passiv verhalten darf. Er selbst muss an der Beschlagnahme nicht aktiv mitwirken. Demgegenüber betrifft § 95 Abs. 1 StPO einen Fall, der von dem Pflichtigen ein aktives Tun („vorzulegen und auszuliefern“) verlangt. In einem solchen Fall muss das Gesetz aber einen weiterreichenden Schutz des Pflichtigen vermitteln, denn die Pflicht zum Tätigwerden kann, wie allgemein anerkannt ist,35 jedenfalls beim Beschuldigten und in den Fällen des § 55 StPO mit dem Nemotenetur-Satz in Konflikt geraten. Dann wäre es aber systematisch ungereimt, dem Grundrechtsträger den im Einzelfall über § 95 StPO hinausweisenden Schutz des § 97 Abs. 1 StPO gerade dann zu versagen, wenn er dieses Schutzes in ganz besonderem Maße bedarf.

32

Oben II.2.a. BVerfGE 20, 162 (188); 32, 373 (385); BGHSt 43, 300 (304); Beulke FS Lüderssen, 2002, 693, 695; G. Schäfer FS Hanack, 1999, 77, 93; Weinmann FS Dünnebier, 1982, 199, 207; Helmut Schuhmann wistra 1995, 53. 34 Das Problem einer Sonderstellung der Presse im Strafverfahren, 1966, S. 39. 35 KK-Nack § 95 StPO Rn. 6; LR-Schäfer § 95 StPO Rn. 2, 37; SK-Wohlers § 95 StPO Rn. 12, 20; Meyer-Goßner § 95 StPO Rn. 5; Pfeiffer § 95 StPO Rn. 2; Eisenberg Beweisrecht der StPO Rn. 2326; Szesny BB 2010, 1997; K. Baumann (Fn. 24) S. 39 ff. 33

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2. Ergebnis Damit wurde die prinzipielle Relevanz der Beschlagnahmeverbote für die Editionspflicht des § 95 StPO dargelegt. Es wäre zur Lösung unseres Ausgangsfalles nun abschließend noch zu fragen, ob dort die Regelung des § 97 Abs. 1 StPO tatsächlich greift. Sind also die dem Rechtsanwalt von der Adhäsionsklägerin überlassenen Unterlagen „andere Gegenstände“ im Sinne des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO? Diese harmlos klingende Frage eröffnet eine seit der Neufassung des Gesetzes im Jahre 195336 grundlegende Auslegungskontroverse: Ist § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO auch auf das Verhältnis zwischen dem Nichtbeschuldigten und dem zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgeheimnisträger zu erstrecken? Aus Raumgründen kann sie im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr geführt werden; darauf wird aber noch zurückzukommen sein.

IV. Resümee Als wesentliche Ergebnisse der vorstehenden Abhandlung zu Ehren von Claus Roxin sind festzuhalten: Für eine im Einzelfall rechtmäßige Herausgabeaufforderung nach § 95 Abs. 1 StPO müssen aufgrund bestimmter Tatsachen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die die Beweisbedeutung des herauszugebenden Gegenstandes nahelegen. Die Anordnung nach § 98 Abs. 1 StPO vermag für denjenigen, dem ein Zeugnisverweigerungsrecht nach den §§ 52 bis 53a StPO zusteht, schon keine materielle Herausgabepflicht auszulösen (§ 95 Abs. 2 Satz 2 StPO). Auf deren fehlende Durchsetzbarkeit kommt es nicht mehr an. Die Systematik des VIII. Abschnitts des Ersten Buches der StPO ist nur bei eingehender Auslegung nachvollziehbar; es handelt sich um „ein unklar redigiertes Gesetz mit teilweise unklarer Entstehungsgeschichte“ (Robert v. Hippel). Die Analyse erweist jedoch, dass die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs. 1 StPO auch die Herausgabepflicht nach § 95 StPO beschränken.

36 Durch Art. 4 Nr. 12 des 3. StrÄG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735). Umfassend zur Gesetzgebungsgeschichte P. Schmitt (Fn. 14) S. 25 ff.; siehe unlängst auch Jahn/Kirsch StV 2011, 153 f.

Das Wesen des strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile, unter Einschluss seiner revisionsrechtlichen Kontrolle Die Falsifizierung durch den vernünftigen Zweifel NIKOLAOS K. ANDROULAKIS

1. Im Strafverfahren geht es um die Wahrheit der jeweils in Frage stehenden Anklage, also darum, ob der Angeklagte wirklich schuldig ist. Dabei verfährt man, wie sich aus rechtsvergleichender und rechtsgeschichtlicher Sicht ergibt, hauptsächlich nach zwei Modellen: Das eine kann Überzeugungsmodell, das andere Beweismodell genannt werden.1 1.1 Nach ersterem ist das, worauf es bei der Suche nach der Wahrheit ankommt, einzig und allein die aufgrund des erlebten öffentlichen und mündlichen Verfahrens gebildete diesbezügliche Überzeugung der dazu berufenen (Laien-)Richter, d. h. ihr subjektives Fürwahrhalten, ohne jede Verpflichtung, irgendeinem anderen gegenüber, dem Angeklagten inbegriffen, über die Mittel und den syllogistischen Weg, die zu dieser Überzeugung geführt haben, Rechenschaft abzulegen. Wie es in dem berühmten Artikel 340 des Napoleonischen Code d’ lnstruction Criminelle aus dem Jahre 1808 heißt, der die Anweisungen an die französischen Geschworenen zur Erfüllung ihrer richterlichen Pflicht enthielt, war alles, was das Gesetz von ihnen verlangte, nur eine aufrichtige Antwort auf die Frage: „Haben sie eine persönliche Überzeugung? (Avez-vous une intime conviction?)“. Der Geschworene hatte nur sich selbst zu überzeugen und niemanden sonst. Obwohl dieses Modell seit Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst nach englischem Vorbild in Frankreich und dann auch in anderen kontinentalen Rechtsordnungen hatte Fuß fassen können, vermochte es sich in reiner Form nicht lange zu halten. Und dies zu Recht, denn hinter der nach Manier eines Orakels (Glaser) deklarierten rein subjektiv-esoterisch persönlichen Überzeugung konnten sich leicht nicht nur Fehleinschätzungen und Irrtümer, sondern auch Voreingenommenheiten bis hin zu gezielten Pflichtver1

Siehe etwa J. Schulz Sachverhaltsfeststellung und Beweistheorie, 1992, S. 7 ff, 42 ff.

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letzungen verbergen. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurde der Übergang2 von der intime conviction zu einer rational gebildeten Überzeugung (conviction raisonnée) vom philosophischen Denken Kants und dessen Unterscheidung zwischen Überzeugung und „bloßer Überredung“ beeinflusst3. Geht man in der Tat mit Kant im Hinblick auf die Frage der Mitteilbarkeit des Fürwahrhaltens davon aus, dass die Gültigkeit dieses letzteren der Vernunft eines jeden Menschen zugänglich ist und in ihr, der Mitteilbarkeit, das Wesensmerkmal der echten Überzeugung zu sehen ist, welches diese von der suspekten, unzuverlässigen bloßen Überredung unterscheidet, so besteht der nächste Schritt offensichtlich darin, von der bloß möglichen zur aktuellen Mitteilung überzugehen, d. h. sie in Gestalt der Urteilsbegründung zu einer unverzichtbaren Voraussetzung insbesondere der strafrechtlichen Schuldigsprechung zu erheben. Somit kommt das Überzeugungsmodell über die intime conviction hinaus4 dem Beweismodell ganz nahe, ja fällt es fast (obwohl, wie wir sehen werden, nicht ganz) mit ihm zusammen. Diesem zweiten Modell, das auch das geltende ist, wollen wir uns jetzt zuwenden. 1.2 Es mutet paradox an, das Geschworenenverfahren nicht als Beweisverfahren anzusehen. Dennoch war etwa den Männern der französischen Revolution der Unterschied zwischen der persönlichen Überzeugung der Laienrichter und dem Beweis geläufig. So stellte etwa Prugnon am 3. Januar 1791 in der Constituante die wichtige Frage: „Genügt es, wenn die Geschworenen den Angeklagten für schuldig halten, oder ist es notwendig, dass seine Schuld bewiesen wird? Dies ist das Problem (Suffit-il que les jurés croient l’accusé coupable ou faut-il que le crime soit prouvé? Voilà le problème.)“.5 Der Beweis ist in der Tat im Gegensatz zur intransitiven, esoterisch-monologischen Überzeugung ein transitiver und auch ein extrovertiert-kommunikativer Begriff. Ich beweise etwas einem anderen.6 Im 2

Mit wichtigen praktischen Konsequenzen, einschließlich der Einführung der gemischten Schöffengerichte. 3 Siehe Kant Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Weischedel, 1956, S. 687 (Transzedentale Methodenlehre, 2. Hauptstück, 3. Abschnitt). Es heißt dort: „Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also äußerlich die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden; denn alsdann ist wenigstens eine Vermutung, der Grund der Einstimmung aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander, werde auf dem gemeinschaftlichen Grund, nämlich dem Objekt, beruhen, mit dem sie daher alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urteils beweisen werden.“ Die Gedanken Kants hat Jarke Neues Archiv des Criminalrechts 1825, 97 ff weitergeführt. 4 Welche allerdings nicht aufhört, in jedem Fall notwendig zu sein. 5 Siehe Faustin Hélie Traité de l‘ Instruction Criminelle, Bd. 4, 2. Aufl. 1866, S. 337. 6 Siehe J. Schulz (Fn. 1) S. 7 ff.

Das Wesen des strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile

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Strafverfahren ist derjenige, der (den der Anklage zugrundeliegenden Tatvorwurf) zu beweisen hat, kein anderer als der Strafrichter selbst. Anders als im Zivilprozess, in dem die Maxime gilt: Die Parteien beweisen dem Richter (iudici fit probatio), heißt es im Strafprozess: iudex probat!7 Dies ergibt sich aus der Funktion des Strafrichters als dem Träger der Kognitionspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO). In Anbetracht dessen, dass die probatio wesensgemäß eine kommunikative Seite hat, ist es von Interesse, uns zunächst ein Bild von den Adressaten des strafrechtlichen Beweises zu verschaffen. Als solche sind etwa zu nennen: Die „Parteien“, d. h. der Angeklagte, aber auch, wenn vorhanden, der Neben- bzw. Zivilkläger, im allgemeinen das Opfer der betreffenden verbrecherischen Tat, dann der Verteidiger und der Staatsanwalt – auf deren Bemühungen stellt der Beweis des Richters eine Antwort dar –, die Richter der Rechtsmittelgerichte und die Mitglieder der sog. strafrechtlichen Öffentlichkeit, der engeren, die den Prozess im Gerichtssaal erlebt, aber auch der weiteren interessierten Öffentlichkeit, die insbesondere durch die Massenmedien evtl. davon Kenntnis nimmt. Selbstverständlich sucht aber der Strafrichter die Wahrheit auch, und zwar primär, für sich selbst zu eruieren. Er hat die unerlässliche eigene Konviktion zu bilden, die dann nach außen kommuniziert wird. Es fragt sich nun, wie der Strafrichter es fertig bringt, das, was er für wahr hält, den Adressaten seiner Bemühungen zu beweisen. Dies wird dadurch erreicht, dass er ihnen diejenigen Anhaltspunkte, nämlich die Beweismittel, zeigt, die seine persönliche Überzeugung tragen und indem er ferner eine Erklärung dazu abgibt, auf Grund welcher Reflexionen die betreffenden „Beweise“ ihn zu dem kritischen Schluss (schuldig!) geführt haben. All dies, also die Mitteilung der Reflexionen des Richters im kantischen Sinne, ist nichts anderes, als die Begründung seines Urteils – und somit kommen wir zur folgenden m. E. gravierenden Erkenntnis: Die Begründung des Strafurteils ist ein Bestandteil, und zwar ein sehr wichtiger, des strafrechtlichen Beweises.8 Ohne Begründung kein Beweis! Die weitere Frage lautet: Ist damit, dass die Adressaten der Strafentscheidung durch die Urteilsbegründung über die maßgeblichen Beweismittel und ihre reflexive Ausarbeitung in Richtung auf die Schuldigsprechung aufge7 Der Zivilrichter hat es mit den „Beweisen“ zu tun, die ihm von den Parteien angeboten werden. Er gibt derjenigen Partei Recht, deren „Beweis“ demjenigen der anderen überlegen ist. Kritisch zu unserer These G. Mitsopoulos Themen von genereller Rechtstheorie und Rechtslogik (in griechischer Sprache), 2005, S. 178. 8 Siehe Androulakis Die Urteilsbegründung und ihre revisionsrechtliche Kontrolle als Bestandteil des strafrechtlichen Beweises (in griechischer Sprache), 1998, S. 3 und passim. Sehr aufschlussreich hierzu Jarke Neues Archiv des Criminalrechts 1825, 103: „Dieses Angeben der Gründe eines Urteils ist nun das Liefern des Beweises und das Aggregat dieser Gründe ist der Beweis.“

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klärt sind, der strafrechtliche Beweis rechtlich erbracht, vollendet, erledigt, oder mangelt es dazu noch an etwas? Richtig ist Letzteres: Das Gezeigte9 soll auch gesehen werden! Wie kann das jedoch geschehen? Sicherlich nicht dadurch, dass man mit dem betreffenden Urteil in der Hand einem jeden seiner zahlreichen Adressaten hinterherläuft, um seine Zufriedenheit hiermit zu testieren. Der Abschluss des Beweises ist eine Funktion des Rechtsmittelzuges und insbesondere desjenigen Rechtsmittels, das eine letzte und definitive Kontrolle des Strafurteils soweit erforderlich10 sichert. Es ist mit anderen Worten eine wichtige Aufgabe des Revisionsrichters, dem in dieser Beziehung die Zuständigkeit zufällt, das letzte Wort zu sprechen,11 den Beweis zu vervollständigen und zum Abschluss zu bringen. Insofern ist auch die revisionsrechtliche Kontrolle der Urteilsbegründung, soweit sie im Einzelfall zum Zuge kommt, als Bestandteil des Beweises in Strafsachen zu betrachten. Eine Version des Beweismodells stellte das sog. „System der gesetzlichen Beweise“ dar, das im deutschsprachigen Raum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschend war. Unter diesem System waren die im Einzelnen zugelassenen Beweismittel sowie ihre Überzeugungspotenz mit der kaum annehmbaren Folge gesetzlich fixiert, dass der Richter auch gegen seine eigene Überzeugung zu verurteilen oder freizusprechen hatte.12 Diese Version wurde etwa in Preußen erst im Jahre 1849 abgeschafft 13 und das Beweismodell dadurch zu einem Modell eines echten Beweises umfunktioniert. Der Übergang zu der sogenannten freien bzw. moralischen Beweiswürdigung, sollte aber nach Ansicht mancher als um den Preis von Unsicherheit und möglicherweise von Willkür bei der Urteilsbildung erkauft worden sein und wurde damit gleichsam als eine Art „Kadijustiz“ Man kann hier auch auf das griechische Wort ਕʌȠįİȚțȞȪȦ (ਕʌȩįİȚȟȚȢ) Bezug nehmen. ǻİȚțȞȪȦ = zeigen. ਝʌȩįİȚȟȚȢ heißt ein definitives Zeigen. Dem entspricht das lateinische demonstratio. 10 Folgende Ergänzung ist hier angezeigt: Die Zuständigkeit zum Beweisabschluss liegt in gewissem Sinne nicht allein beim Revisionsrichter, sondern auch bei demjenigen, dem das Recht zusteht, Revision einzulegen, d. h. im Grunde dem Angeklagten (bzw. seinem Verteidiger) und dem Staatsanwalt. Legen diese keine Revision ein – ein Zeichen dafür, dass sie die Begründung des betreffenden Urteils als zufriedenstellend betrachten –, so bringen sie, indem sie von der Revision absehen, auch das Beweisverfahren zum Abschluss. 11 Siehe Giannidis Die Begründung der Entscheidungen der Strafgerichte (in griechischer Sprache), Bd. 1, Die theoretischen Fundamente, 1989, S. 46. 12 Wobei der Freispruch bis zuletzt durch Ersatzmaßnahmen wie die sog. Verdachtsstrafen eingeschränkt wurde. Über die bereits von Filangieri 1800 initiierte sog. „negative Theorie der gesetzlichen Beweise“ (Versuch, zumindest den Freispruch zu befreien) siehe z. B. Glaser Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess, 1883, S. 10-16. 13 Durch eine Verordnung, die für ganz Preußen galt. Eine provisorische Verordnung gleichen Inhalts aus dem Jahre 1846 hatte nur in Berlin Geltung. Beider Verfasser war Karl Friedrich von Savigny. 9

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kritisiert. Diese Sorgen hat der damalige preußische Justizminister Karl Friedrich von Savigny in einer berühmten Denkschrift aus dem Jahre 1846 zerstreut.14 Die Abschaffung der gesetzlichen Beweisnormen hat keineswegs zur Folge gehabt, dass sich die Urteilsbildung betreffend Schuldigsprechung oder Freispruch des Angeklagten ohne Prinzipien und Regeln, sozusagen anarchisch, der Willkür des Richters anheimgestellt, entwickelte. „Die Regeln, wonach der reflektierende Verstand sein Urteil bildet, und die sich andrängende Meinung prüft, beruhen auf Sätzen der Erfahrung und auf Kenntnis der sittlichen und sinnlichen Natur des Menschen“15. Gewiss ist es nicht möglich, „alle die mannigfachen Umstände und deren denkbaren Verknüpfungen, durch welche die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zutage gebracht werden kann, erschöpfend anzugeben“. Das Bestreben, das zu tun, wäre, wie Feuerbach sagt, nicht vernünftiger, als der Plan, „den Ocean der Natur in einen Eimer zu fassen“.16 Dennoch besteht kein Zweifel darüber, dass die Richter ihr Urteil „nach Gründen und Regeln“ bilden, und „hiervon Rechenschaft zu geben“ haben. Ihnen wird nicht „gleich Geschworenen die Entscheidung … ohne eine äußere Rechenschaft und ohne Verantwortlichkeit nach bloß individueller Überzeugung überlassen …, im Gegenteil wird dabei die Motivierung des Erkenntnisses durch Entscheidungsgründe und die Prüfung durch das Appellationsgericht als wesentlich und unerlässlich recht eigentlich vorausgesetzt.“17 Demgemäß wurde dem § 22 der durch v. Savigny abgefassten Verordnung vom 3. Januar 1849, mit welchem die Freiheit der Beweiswürdigung proklamiert wurde, am Ende der Satz hinzugefügt: „Er (der Richter) ist aber verpflichtet, die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, in dem Urteil anzugeben.“18 Damit wird die Rolle 14

Zwei Kapitel dieser Denkschrift wurden im Archiv für Preußisches Strafrecht (später Goltdammers Archiv) 8 (1858), 469 ff, veröffentlicht. 15 v. Savigny Archiv für Preußisches Strafrecht 8 (1858), 484. 16 v. Savigny Archiv für Preußisches Strafrecht 8 (1858), 487. 17 v. Savigny Archiv für Preußisches Strafrecht 8 (1858), 484. 18 Ganze 15 Jahre vor der in Rede stehenden preußischen Verordnung enthielt § 2 des gleichlautenden Artikels 92 der zweisprachigen (griechisch/deutsch) griechischen StPO aus dem Jahre 1834 bereits folgendes: „Dann sind dieselben (die Richter) gehalten, die Gründe ihrer Überzeugung im Urteil niederzulegen“. Verfasser der griechischen StPO war Georg Ludwig v. Maurer, ein bayerischer Rechtsprofessor, der als Mitglied der dreiköpfigen Regentschaft für den minderjährigen König Otto (ein Sohn von Ludwig I., König von Bayern) nach Griechenland kam; v. Maurer war Professor für französisches Recht und Prozessualist und gilt als der „Justinian Neugriechenlands“. Innerhalb von zwei Jahren hat er, neben der StPO, eine ZPO, ein StGB und die griechische Gerichtsverfassung angefertigt – allesamt erstklassige originelle Gesetzgebungswerke. Die geltende griechische StPO aus dem Jahre 1951 enthält diesen wichtigen Zusatz nicht mehr – auch die geltende deutsche StPO nicht. Siehe dagegen Art. 192 § 1 der italienischen StPO (1989): „Il giudice valuta la prova dando conto nella motivazione dei risultati acquisiti e dei criteri adottati“.

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der Begründung und ihrer „Prüfung“ als Bestandteil des Beweises ganz klar zum Vorschein gebracht. Über die Regeln des induktiven Syllogismus, die hier maßgeblich sind, werden wir unten noch manches zu sagen haben. 2. Die Frage, die jetzt auftaucht, betrifft das Rechtsmittel der Revision und insbesondere die Kompetenz des Revisionsrichters, die Kontrolle über die Überzeugungsbildung des Tatrichters, so wie sie in der Begründung seines Urteils geschildert wird,19 auszuüben. Verträgt sich diese Kontrolle mit Sinn und Zweck der Revision? 2.1 Dass sie (die in Rede stehende Kontrolle) der Einzelfallgerechtigkeit, und zwar in hohem Maße, dienlich ist, ist jedem Zweifel enthoben; sie ist ihr sogar dienlicher als die Kontrolle der stricto sensu Rechtsanwendung und der Gesetzesauslegung – die entscheidenden Schlachten im Gerichtssaal werden ja sowieso im Felde des Tatbeweises ausgefochten. Dass sie aber auch in Bezug auf die Einheitlichkeit der Rechtsprechung von Belang ist, ist nicht im gleichen Maße evident. Dennoch haben wir bereits davon gesprochen, dass sich auch die Beweisführung „nach Regeln“ vollzieht, die allerdings erst aufgedeckt und dann nach der Korrektheit und Ergiebigkeit ihrer Anwendung im konkreten Fall geprüft werden sollen. Diese Prozedur soll auch möglichst einheitlich jedem strafrechtlichen Beweis zugrundeliegen. Ein kurzer Exkurs hierzu soll manche notwendige Klärung bringen. 2.2 Exkurs: Zur induktiven Wahrheitssuche des Tatrichters. Der „vernünftige Zweifel“ Anders als bei der Subsumtion eines Sachverhalts unter ein Strafgesetz, die den Charakter eines sicheren deduktiven Schlusses von Generellem (dem Gesetz) zu Speziellem (dem Rechtsfall) trägt, geht es bei der Behandlung der Tatfrage meistens um eine induktive Schlussfolgerung von Speziellem zu Speziellem, die sich vermittels subintelligierter, der Erfahrung entnommener20 empirischer Generalisierungen vollzieht, welche die Funktion eines sozusagen „heimlichen“ Obersatzes ausüben. Diese Art von Schlussfolgerung ist allerdings, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht in der Lage, Sicherheit zu vermitteln, sondern nur Wahrscheinlichkeit in verschiedenen Gradierungen. Dies hängt mit der Art der betreffenden Generalisie-

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Über die Rolle der „Darstellungskunst“ des Urteilsverfassers siehe Schünemann ZStW 114 (2002), 94; Kühne Strafprozessrecht Rn. 1076. Die wichtige Funktion, welche auch die nicht kontrollierbare mündliche Begründung zu erfüllen hat, ist evident. Sie muss die wesentlichen Erklärungen enthalten, die in der schriftlichen Begründung amplifiziert werden. 20 Aus „custom or habit“ gemäß der Formulierung von David Humes A Treatise on Human Nature, Book I Part III, Sections VI, XII.

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rungen zusammen,21 die meistens fallspezifisch22, d. h. anlässlich eines konkreten Falles nach der Erfahrung improvisiert23 sind, obwohl sie gerade als Generalisierungen nicht nur für den Einzelfall gelten24 und somit einen Regelcharakter haben. Als solche können sie auf ihre Stimmigkeit und auf die Konsequenz ihrer Anwendung im konkreten Falle geprüft werden, also so, „wie die Revisionsgerichte prüfen“ (prüfen sollen) 25, ohne dass es für den Revisionsrichter nötig wäre, den konkreten Prozess erlebt zu haben (d. h. ohne Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit). Mit Blick auf ihren jeweiligen Bezugspunkt kann man zwischen Generalisierungen bzw. Beweissätzen ersten und zweiten Grades unterscheiden: Die ersteren betreffen die Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden Beweismittel, während die anderen sich auf das eigentliche Beweisobjekt beziehen. Wenn z. B. im Laufe eines Mordprozesses gegen A ein „seriöser“ Zeuge (Z) aussagt, dass A ihm einmal anvertraut hätte, er habe „oft den Gedanken gehegt, den Schurken O (das Opfer) zu töten“, so kommen zwei Beweissätze bzw. Generalisierungen in Frage. Die eine (die erstgradige) besagt: „Die Aussage eines ‚seriösen‘ Zeugen vor Gericht ist immer wahr“, die andere (die zweitgradige), die eine Generalisierung zur Sache darstellt, besagt: „Wer den Gedanken geäußert hat, einen anderen zu töten, tut das auch“. So formuliert, sind beide Beweissätze nicht gültig, wobei allerdings die Schlüssigkeit des ersteren diejenige des zweitgenannten bei weitem überragt.26 Richtig ist nur, dass, wer solch einen Gedanken äußert, diesen manchmal (und zwar nicht eben häufig) auch verwirklicht. Diese richtige 21 Man könnte diesbezüglich auch von Beweissätzen sprechen, siehe Hoyer ZStW 105 (1993), 528 ff. 22 Nach Anderson/Twining Analysis of Evidence, 1991, S. 368, kommen in diesem Zusammenhang fünf Kategorien von Generalisierungen in Betracht: a) Die fallspezifischen (casespecific generalisations); b) die wissenschaftlichen, deren Potenz je nach dem Entwicklungsstand des betreffenden Wissenschaftszweiges differiert; c) die vom allgemeinen Wissen abgeleiteten (general knowledge generalisations); d) die auf Erfahrung gegründeten (experience generalisations); e) die auf bloßem Glauben ohne konkrete empirische Stütze basierenden (belief-generalisations). 23 Z. B. im Fall BGHSt 10, 208 (213) war folgende Generalisierung maßgeblich: „Auch die Zahnärzte sind aufgrund ihres ärztlichen Wissens imstande festzustellen, ob eine vor ihnen liegende bewußtlose Frau bereits tot ist oder nicht“. 24 Siehe Herdegen in: Lagodny (Hrsg.) Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen, Beiträge zur 12. Alsberg-Tagung, 1999, S. 46. 25 Herdegen (Fn.24) S. 46. Als Beweissätze „kursieren“ allerdings „auch Trivialitäten und Meinungen, die nichts anderes als Vorurteile sind“, ebda. S. 47. 26 Auch „seriöse“ Zeugen können aber bei Gelegenheit lügen. Bertrand Russel bringt in dieser Beziehung das Beispiel eines Huhns, das mit Vergnügen zusieht, wie sein Herr sich ihm nähert – wie immer, so denkt es, wird er es auch diesmal füttern. Nur diesmal, leider, kommt er, um es zu schlachten. Siehe A. Kargopoulos Das Problem der induktiven Logik (in griechischer Sprache), 1991, S. 31.

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Generalisierung allein liefert nur ein (ziemlich schwaches) Indiz für die Schuld des A. Dies gewinnt an Bedeutung, obwohl die Beweisfrage immer noch offen bleibt, wenn es durch ein weiteres Indiz (man hat z. B. zur Zeit der Tat den A gesehen, wie er sich auf „verdächtige“ Weise um das Haus des O bewegte) verstärkt wird. Sofern der Angeklagte nicht auf frischer Tat ertappt wurde, benötigt man eine Kombination27 von mehreren, darunter auch starken28 Indizien, um die Verurteilung rational mitteilbar, d. h. intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Und angesichts der Tatsache, dass die Indizien oft mit Gegenindizien konfrontiert werden, scheint es opportun, eine Art Indizienkalkül auszuarbeiten und zu pflegen29. Erbracht ist der tatrichterliche Beweis, wenn die in der Urteilsbegründung enthaltene dokumentierte Argumentation für oder gegen die Schuldigsprechung des Angeklagten keinem vernünftigen Zweifel ausgesetzt ist. Diesem Begriff, nämlich dem des vernünftigen Zweifels, kommt in unserem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Seinem Sinn können wir uns zunächst am besten von der negativen Seite her nähern: Es liegt kein vernünftiger Zweifel vor, wenn die Begründung des betreffenden Urteils „geschlossen“ ist, d. h. wenn die Begründung einer Verurteilung keinen Durchlass (let-out)30 in Richtung auf Unschuld und Freisprechung und die Begründung eines Freispruchs keinen Durchlass in Richtung auf Schuld und Verurteilung enthalten.31 Dieser Durchlass ist gerade der vernünftige Zweifel, der sich von dem bloß „theoretischen“ dadurch unterscheidet, dass er eine reale Stütze in der Wirklichkeit des konkreten Falles hat und kein rein

27 Vgl. Art. 192 § 2 der italienischen StPO: „L’esistenza di un fatto ne può essere desunto de indizi a meno che questi siano gravi, precisi e concordanti.“ 28 Was die „Stärke“ der Indizien anbelangt, hatten die älteren, unter dem System der „gesetzlichen Beweise“ arbeitenden Juristen Beachtliches geleistet, das auch heute von Interesse ist. Siehe z. B. die Unterscheidung zwischen indices manifestes (indubitables, violents, véhéments, nécessaires), graves (prochains) und légers (éloignés) bei Laingui/Lebigre Histoire de droit pénal II (La procédure criminelle) S. 112 f. 29 Siehe Bender/Nack/Treuer Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2007, S. 148 ff, 172 ff, mit interessanten Analysen zum Unterscheidungskriterium zwischen belastenden und entlastenden Indizien und zum Einfluss von hinzukommenden Indizien nach der sog. „Bayes-Regel“ (Bayes Rule). Hierzu auch Kunz ZStW 121 (2009), 596 ff; Androulakis (Fn. 8) S. 25. 30 Ein Ausdruck von Jonathan Cohen The Probable and the Provable, 1977, S. 249. Siehe auch A. A. Zuckerman The Principles of Criminal Evidence, 1989, S. 135. 31 Die im Sinne des Textes „offene“ Begründung eines freisprechenden Urteils könnte vielleicht per se als Bestätigung eines Zweifels aufgefasst werden, der die Anwendung des Indubio-pro-reo-Grundsatzes rechtfertigt. Das wäre aber nicht richtig. Dieser Grundsatz kann nicht zur Anwendung gebracht werden, bevor die ins Feld geführten starken Schuldindizien beiseite geschafft bzw. durch überwiegende oder gleichwertige Unschuldsindizien neutralisiert sind. Widrigenfalls ist auch das in dieser Beziehung „offene“ Urteil zu kassieren.

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gedankliches Produkt ist. Vernünftig ist ein Zweifel, „der aus dem Fall selbst warnend die Hand emporstreckt“.32 2.3 Wie sich aus dem obigen Exkurs ergibt, ist die Beweisführung durch den Tatrichter ein Verfahren, das normativen Anforderungen zu entsprechen hat33. Die Notwendigkeit, den Anforderungen der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß unter Bezugnahme auf die Gesamtheit der sich bietenden Beweismittel die herangezogenen und heranzuziehenden Beweissätze aufzuspüren, ihre argumentative Potenz zu prüfen und zu messen und zu einer begründeten, von vernünftigen Zweifeln freien Überzeugung zu gelangen, bedingt die Anwendung von verallgemeinerungsfähigen Kriterien34 in der Weise, dass ähnliche Fälle einer einheitlich richtigen Behandlung zugeführt werden. Auch aus dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsprechung verträgt sich somit die revisionsrechtliche Kontrolle des Beweises durchaus mit Sinn und Zweck des Rechtsmittels der Revision35, und das um so mehr, als, wie treffend gesagt wurde, „die Repräsentanten des kompetenten Sachverstands, der Intersubjektivität, … die Spruchkörper der Revisionsgerichte“ sind.36 Wer sonst könnte tatsächlich diese Repräsentanz übernehmen? 3. Nach dem „bleibenden Denkmal“,37 das Savigny mit seinen klärenden Ausführungen zu diesem Thema gesetzt hatte, waren indessen nur wenige Jahre vergangen, als der historische deutsche Gesetzgeber der heute immer noch geltenden StPO andere Wege beging. Er war nunmehr der Ansicht, dass „die Würdigung der erbrachten Beweise von der Tätigkeit des höheren Gerichts ausgeschlossen bleiben [müsse]. Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte

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v. Scanzoni JW 1928, 2181 zitiert nach Hoyer ZStW 105 (1993), 535. Der bloß theoretische Zweifel ist empirisch unerkennbar (impercetible nach der Formulierung Zuckermans (Fn. 30) S. 135. Einen solchen Zweifel ruft etwa der X hervor, in dessen Haus die gestohlene Börse des Y gefunden wurde, mit der Schutzbehauptung: „ich weiß nicht, wie sie hier hergekommen ist“. 33 Freund FS Meyer-Goßner, 2001, 418. In Richtung auf die Bildung einer normativen Theorie des Tatbeweises Kunz ZStW 121 (2009), 572 ff, vgl. auch die aufschlussreichen Katalogisierungen von revisionsrechtlich relevanten Begründungsfehlern bei Niemöller StV 1984, 43 ff und Nack StV 2002, 510 ff, 558 ff sowie bereits das grundlegende Buch von Fezer Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit?, 1974, S. 13-56. 34 Freund FS Meyer-Goßner, 2001, 418. 35 Auch der sog. „realistische Rechtsschutz“ als Zweck der Revision (Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht S. 424) verträgt sich mit dieser Aufgabe. 36 Herdegen (Fn. 24) S. 46. 37 Nach der Formulierung der Redaktion des Archivs für Preußisches Strafrecht 8 (1858), 469.

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tatsächliche Ergebnis ist für die höhere Instanz maßgebend“.38 Demgemäß sind im deutschen positiven Recht „die in der Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts immer wieder geforderten ‚Garantien‘ für die Zuverlässigkeit der freien Überzeugungsbildung – Entscheidungsgründe und Rechtsmittel – auffällig schwach ausgeprägt.“39 Was die ersteren (die Entscheidungsgründe) betrifft, so müssen nach § 267 Abs. 1 S. 1 StPO die Urteilsgründe (bei Verurteilung des Angeklagten) nur „die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“. 40 Diese Angabe ist freilich nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, die eigentlich mit der Beweisbegründung nichts zu tun hat. Sie hängt mit dem Tenor des Urteils zusammen und ist eher diesem zuzuordnen. Worauf es bei einer wirklichen Begründung des Beweises ankommt, ist, auf Grund welcher Reflexionen und anhand welcher Beweismittel bestimmte Tatsachen als bewiesen erachtet wurden. Auf der anderen Seite ist, was die Beweiskontrolle durch Rechtsmittel betrifft, § 337 StPO von Belang, der die Revisionsgründe festlegt. Es heißt dort: „Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe“. Damit scheint man auf die vielumstrittene Unterscheidung zwischen Tatfrage und Rechtsfrage verwiesen zu sein. Bei dem Beweis in Strafsachen, so scheint es, hat man es mit einer reinen Tatfrage zu tun, die zur ausschließlichen Domäne des Tatrichters gehört. An dieser Stelle können wir uns eine Beteiligung an der Debatte um diese vielumstrittene rechtstheoretische Frage schon aus Platzgründen nicht leisten – deren Entstehung hängt übrigens mit der in unserem Zusammenhang irrelevanten Verteilung der Kompetenzen zwischen Laien- und Berufsrichtern im Schwurgericht zusammen.41 Wie dem auch sein mag, hat sich die 38

Siehe C. Hahn Materialien I, S. 250 (Motive, S. 201). So Küper Festgabe für K. Peters, 1984, 44. 40 Interessanter ist die Fortsetzung des Absatzes, wo es heißt: „soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden“, wobei unklar bleibt, ob bei einem solchen Indizienbeweis nur die betreffenden Tatsachen oder auch die auf ihnen basierenden Schlussfolgerungen anzugeben sind. Sollte in der Tat ersteres stimmen, dass also die bloße „Angabe“ dieser Tatsachen genügt, ohne jede Erklärung ihrer Schlussfolgerungspotenz bzw. des „Wie“ und „Wieweit“ aus ihnen „der Beweis gefolgert wird“, so wäre dies als eher seltsam zu bezeichnen. Wie dem aber auch sein mag, handelt es sich hier nur um eine „Soll-Vorschrift“, deren Übertretung nach in Deutschland herrschender Meinung revisionsrechtlich nicht relevant sein kann, siehe ad hoc Foth DRiZ 1997, 207 und ferner Frisch FS Eser, 2005, 260 f. 41 Mit Recht weist Nack StV 2002, 511 darauf hin, dass man, als in der Weimarer Republik die Laiengerichte abgeschafft und durch Gerichte mit Berufsrichtern ersetzt wurden, „vergaß“, § 267 (hinzuzufügen wäre auch § 337) StPO entsprechend anzupassen: „Von Berufsrichtern 39

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Rechtsprechung über die in Rede stehende Einschränkung der Beweiskontrolle hinweggesetzt und eine „erweiterte Revision“, sozusagen praeter (wenn nicht contra) legem anerkannt. Peters hatte diese, auch nach meiner Meinung lobenswerte Entwicklung mit folgenden Worten unterstützt: „Die Anwendung eines richtig verstandenen Gesetzes auf einen falsch festgestellten Sachverhalt kann nicht als eine richtige Gesetzesanwendung angesehen werden. Das Gesetz will auf einen passenden Sachverhalt angewendet werden“.42 Es ist in der Tat selbstverständlich, dass der Rechtsanwender Sorge dafür zu tragen hat, dass zur Subsumtion unter einen strafrechtlichen Tatbestand nur Sachverhalte gebracht werden, die der Sprache des Gesetzes gemäß passend sind. Ist diese Bedingung erfüllt oder aber auch nur von zuständiger Seite fälschlich als erfüllt hingestellt – es wird z. B. als bewiesen präsentiert, dass ein wegen Hehlerei Angeklagter X, der eine gestohlene Sache zu verkaufen trachtete, ihre Provenienz kannte –, so ist das Gesetz richtig angewandt, d. h. der betreffende Fall unter das passende Strafgesetz richtig subsumiert, selbst wenn die Begründung dieser Vorgabe mangelhaft ist.43 Falsch ist nicht die Anwendung des Gesetzes, sondern die Feststellung des Sachverhalts und die Begründung dieser Feststellung im Urteil.44 Von einer Gesetzesverletzung kann also in dieser Beziehung – und nur in dieser – nicht die Rede sein. Dies bedeutet aber nicht, dass die betreffenden Beweisfehler revisionsrechtlich irrelevant sind. Sie sind durchaus relevant, weil die hier in Rede stehende Tatfrage, wie man es trefflich ausgedrückt hat, zugleich eine Rechtsfrage ist.45 kann und muss man eine schriftliche Begründung verlangen, wie sie zu ihrer Überzeugung gelangt sind.“ Diese Begründung sollte dann auch – dies sollte explizit vorgesehen sein – durch Revision kontrollierbar sein. 42 Peters Strafprozess S. 565, Hervorhebung im Text. 43 Die Bezugnahme auf das nicht passende Gesetz bei der Konstitution des Rechtsfalles stellt noch keine (fehlerhafte) Anwendung desselben dar. 44 Die These von Peters hat Frisch FS Eser, 2005, 277 ff vertieft. Nach ihm knüpfen die vom Gesetz für bestimmte Sachverhalte vorgesehenen Folgen „an eine thematisch entsprechende Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit“ an. Diese Rekonstruktion muss aber eine Reihe von Bedingungen erfüllen, „damit es gerechtfertigt erscheint, sie wie Lebenswirklichkeit zu behandeln und auf sie die für ihre Wirklichkeit formulierte Rechtsfolge anzuwenden.“ Diese Bedingungen umfassen sämtliche Regeln einer richtigen Beweisführung, einschließlich einer „hohen Wahrscheinlichkeit“, dass die Rekonstruktion die Wirklichkeit abbildet und der persönlichen Überzeugung des Richters, dass dieses letztere zutrifft. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so wird das trotzdem zur Anwendung gebrachte materielle Strafgesetz verletzt. Ich halte das im Ergebnis aus Gründen, die sich aus der Fortsetzung dieser Ausführungen ergeben werden, für richtig; nur muss noch klargestellt werden, wieso trotz richtiger Subsumtion das betreffende Gesetz verletzt werden kann, ob diese Annahme generelle Geltung hat oder nur bei der Anwendung von Strafnormen zutrifft und bejahendenfalls, aus welchem Grunde. 45 Siehe Freund FS Meyer-Goßner, 2001, 409 ff.

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In der Tat ergibt sich aus der gesetzlich statuierten Aufklärungspflicht des Strafrichters (§ 244 Abs. 2 StPO), dass dieser die Beweisaufnahme „auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind“, wobei dieses „Erstrecken“ auch die rationelle Verarbeitung dieser Tatsachen und Beweismittel in Richtung auf die Wahrheitsvermittlung logisch mit umfasst. Darüber hinaus hat der Strafrichter das Ergebnis dieser Beweisaufnahme zu begründen, weil es, wie wir gesehen haben, ohne Begründung keinen Beweis gibt – dies ergibt sich schon aus der Natur der Sache, auch unabhängig vom Inhalt des § 267 StPO. Kommt der Strafrichter diesen Pflichten nicht nach, so begeht er eine Gesetzesverletzung, welche die Revision auf den Plan ruft. Mit Recht spricht hier Freund bezüglich der geltenden Beweisregeln von „Sorgfaltsnormen“, deren Übertretung eine Art „Fahrlässigkeitsunrecht“ konstituiert.46 Nur beziehen sich diese Sorgfalt und ihre Verletzung auf die Beweis- und folglich auf die Prozessführung. Die Begründungspflicht ist Teil der Beweisführung. Der Begründungsfehler, der den syllogistischen bzw. den Erkenntnisfehler fortführt, ist insofern verfahrensrechtlich, als er ohne Prozess und außerhalb des Prozesses unvorstellbar ist. 47 Auf der anderen Seite ist es aber zugleich so, dass die in Rede stehenden Fehler auch eine evidente materiell rechtliche Relevanz haben. Dies wird von der Eigenart der Strafe und des Strafrechts bedingt. Wie an anderer Stelle ausgeführt48, hängt das Wesen der echten Strafe schon definitionsmäßig mit der Einhaltung dieser besonderen strafgerichtlichen Prozedur zusammen, in deren Kern der normativen Anforderungen genügende Strafbeweis steht. Eine Strafe, die aufgrund einer fehlerhaften Beweisführung und einer entsprechend fehlerhaften, vernünftige Zweifel hervorrufenden Begründung verhängt wird, ist nichts anderes, als eine Perversion der Strafe, selbst wenn die Subsumtion des betreffenden Sachverhalts unter das Gesetz zutreffend ist. Die besondere Missbilligung durch diese „Strafe“ und das dazugehörige Stigma gelten einem anderen, die peinliche harte Behandlung des Verurteilten ist schweres Unrecht. Im Strafrecht gilt das Prinzip: Ohne normgemäßes Beweisverfahren keine Strafe (nullum crimen, nulla poena sine processu),49 und in diesem Sinne könnte man sagen, dass das Strafverfahrensrecht mehr Strafrecht als Verfahrensrecht ist. All dies ist dem scharfen Sinn von Peters für Gerichtsfehler und Fehlerquel46

Freund FS Meyer-Goßner, 2001, 424. Zu diesem Kriterium zwischen materiellem und prozessualem Strafrecht siehe H. Kaufmann Strafanspruch, Strafklagerecht, 1968, S. 134. 48 Hierzu N. K. Androulakis Grundbegriffe des Strafprozesses (in griechischer Sprache), 3. Aufl. 2007, S. 6 ff; ders. ZStW 108 (1996), 303 ff, insbesondere. 307 („die Strafe mitkonstituierende rechtliche Prozeduren“). 49 Zivil- und Verwaltungsrichter befassen sich mit „Streitigkeiten“ („différends“ nach Montesquieu De l’esprit des lois, livre 11), die außergerichtlich schlichtbar sind. 47

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len in Strafsachen nicht entgangen. Die Verletzung des Gesetzes ist in der Tat gegeben. In Anbetracht des Gesagten erscheint die heute praktizierte „erweiterte Revision“ als ein begrüßenswerter Sieg der Natur der Sache gegen einen offensichtlichen Lapsus des historischen Gesetzgebers. Das strafgerichtliche Verfahren und insbesondere die Beweisführung gehören zur Substanz der Strafe und des Strafrechts. Ein fehlerhaftes Beweisverfahren bedingt in der Tat eine fehlerhafte Anwendung des Strafgesetzes, selbst und gerade dann, wenn das falsch Bewiesene unter dieses richtig subsumiert wird. 4. Trotz allem ist die in Rede stehende Kompetenz des Revisionsrichters auch anderen Einwänden ausgesetzt, die hier einer kurzen Entgegnung wert sind. Auf den Einwand, dass mit der Intervention des Revisionsrichters der Grundsatz der vom Tatrichter praktizierten freien Beweiswürdigung beeinträchtigt werde, ist knapp zu sagen: Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet Nichtgebundensein des Richters an starre oder gar gesetzliche Beweisregeln bei der Bildung seiner Überzeugung, die aber ansonsten mitteilbar und intersubjektiv nachvollziehbar, d. h. begründet und kontrollierbar sein muss, kontrollierbar insbesondere durch denjenigen Adressaten des Strafurteils, der „das letzte Wort“ zu sprechen hat, nämlich den Revisionsrichter. Als wichtiger erscheint der andere Einwand, wonach es nicht angängig sei, die Überzeugung des Sachrichters „durch diejenige des Revisionsrichters zu ersetzen“50, ja überhaupt dieser letzteren einen Vorrang zuzuerkennen, obgleich nur der Tatrichter den Vorteil genieße, unter Geltung der „schützenden“ Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zu operieren. Dazu ist folgendes zu sagen: Es ist einfach falsch, dass mit der Revision die Überzeugung des Tatrichters durch diejenige des Revisionsrichters ersetzt werde, denn es ist überhaupt nicht Sache des Revisionsrichters, sich eine eigene Überzeugung zu bilden, auch nicht die Wahrheit zu finden und den Angeklagten als schuldig zu befinden – all dies gehört zur ausschließlichen Domäne des Tatrichters. Der Revisionsrichter ist nicht ein Richter der konkreten Sache, sondern ein Richter des konkreten Urteils, indem er ein maßgeblicher Adressat des in ihm enthaltenen Beweises ist. Er ist nur das Organ einer eventuellen Falsifizierung des im ersten und wesentlichen Schritt begriffenen Beweises des Tatrichters, soweit diese aus der kritischen Lektüre der schriftlichen Beweisgründe als geboten erscheint, oder aber, wenn dies nicht der Fall ist, seiner autoritativen Ratifizierung. Es ist in der Tat in dieser Beziehung ein

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207.

Siehe z. B. Jerouscheck GA 1992, 493; Kunert GA 1974, 412; vgl. auch Foth DRiZ 1997,

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großer Verdienst Gerhard Herdegens51, die beweisrechtliche Kompetenz des Revisionsrichters mit den Erkenntnissen des kritischen Rationalismus Karl Poppers in Kontakt gebracht und sie auf diese gestützt zu haben. Zweck der revisionsrechtlichen Kontrolle des Tatbeweises ist es insbesondere, diesen auf die von den maßgeblichen Adressaten (d. h. dem Angeklagten und dem Staatsanwalt) geltend gemachten Fehler hin zu überprüfen und es dem Tatrichter zu ermöglichen, diese Fehler, falls sie sich als solche herausstellen, zu korrigieren. Diese Kompetenz des Revisionsrichters findet ihre Stütze bereits in der Natur der Sache, die der Beweis ist. Eine nicht kontrollierbare Begründung ist kaum ergiebig. Sinn und Zweck der Begründung ist es sicherlich nicht, einfach die Neugier der Umstehenden zu stillen und ihnen Gelegenheit zu geben, evtl. über ihre (d. h. der Begründung) Defekte Hohn zu lachen. Wenn dies so wäre, hätte man in Wirklichkeit das Überzeugungsmodell nicht überwunden. Durch die revisionsrechtliche Kontrolle wird der Beweis vollendet.52 5. Die Notwendigkeit einer höchstrichterlichen Kontrolle der tatrichterlichen Einhaltung der beweisrechtlichen Grundregel, die da lautet: Keine Verurteilung, wenn die Schuld des Angeklagten nicht jenseits eines vernünftigen Zweifels feststeht, spielt auch in der Rechtsprechung der U.S.amerikanischen Supreme Courts (des Bundes, aber auch der Länder) eine eigenartige Rolle. Die „reasonable doubt“-Regel wird in den Vereinigten Staaten als so wichtig eingeschätzt, dass ihr dort sogar Verfassungsrang zugesprochen wird, obwohl sie nirgends ausdrücklich vorgeschrieben ist.53 Bei falscher Anwendung dieser Regel wird der Prozess nicht mehr als „fair“ betrachtet, es liege dann kein „due process of law“ mehr vor, mit der Folge, dass das unter diesen Umständen ergangene Urteil vom Rechtsmittelgericht kassiert werden kann. Wie kann aber eine solche falsche Anwendung festgestellt werden, wenn die Urteile der amerikanischen Schwurgerichte unter Geltung des reinen Überzeugungsmodells jeder Begründung entbehren? Man sucht und findet ein Begründungssubstitut in den Anweisungen, die der Vorsitzende Richter den Geschworenen u. a. zum wahren Sinn der reasonable 51

Siehe etwa Herdegen Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision, 1995, S. 101, 104, 115, 123, 126, 156. 52 De lege ferenda wäre es angezeigt, einen eigenen Revisionsgrund der fehlenden oder mangelhaften Begründung des Strafurteils einzuführen neben (und unabhängig von) dem Revisionsgrund der fehlerhaften Interpretation oder Anwendung eines materiellen Strafgesetzes. Vgl. z. B. die griechische Regelung in Art. 510 § 1 Ziff. 4 und 5 in Verbindung mit Art. 139 der griechischen StPO und Art. 93 § 3 des griechischen Grundgesetzes. 53 Siehe die Entscheidung in Winship U.S. 358, 374 (1970) des Supreme Court und dazu J. R. Withman, The Origins of Reasonable Doubt, 2006, S. 1 ff.; Robert C. Power Tennessee Law Review, 67-45, 1999-2000, 43 ff.

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doubt-Regel gibt. Sind diese im schriftlichen Urteil niedergelegten Anweisungen mangelhaft, so kann die Verurteilung des Angeklagten aufgehoben werden. Auf diese Weise hat sich eine höchstrichterliche Rechtsprechung (und eine entsprechende Literatur) zur richtigen Erfassung des vernünftigen Zweifels und zu seinem Einfluss auf die richterliche Überzeugungsbildung entwickelt. Zwei Thesen haben hierzu zunächst Anhänger gewonnen: Die These der sog. „moralischen Gewissheit“ (moral certainty). Nach ihr reicht die subjektive (moralische) Überzeugung zur Verurteilung aus, insofern ihr nicht Zweifel entgegenstehen, die eine „schwere“ (grave) Ungewissheit hervorrufen, d. h. tatsächliche, aktuelle und nicht einfach mögliche Zweifel54 oder Produkte der Phantasie. Damit konnte sich die andere These, bekannt als These des sog. „analogischen“ Konzepts (analogy approach), die einen völlig verschiedenartigen, psychologisch orientierten Ansatz vertritt, nicht zufriedengeben. Nach ihr ist vernünftiger Zweifel derjenige, demzufolge ein vernünftiges Subjekt zögert, die betreffende Handlung vorzunehmen. Mit einer jenseits eines vernünftigen Zweifels liegenden Überzeugung haben wir es zu tun, wenn die für die Schuld sprechenden Indizien so stark sind, dass man unter ihrem Einfluss auch in eigener (höchstpersönlicher, bedeutender) Sache nicht würde zögern wollen (hier liegt die „Analogie“), eine kritische Handlung vorzunehmen.55 Dieser letztere psychologische Test könnte mit Bezug auf die unerlässliche subjektive Überzeugung auch des im Rahmen des Beweismodells operierenden Tatrichters von gewissem Nutzen sein, obwohl dieser Test sicherlich nicht für Berufsrichter erdacht ist. Hat dieser sich, trotz bestehender Schuldindizien, nicht überzeugen können, so muss er freisprechen und diesen Freispruch freilich auch rationell begründen. Andererseits ist es aber klar, dass beide vorerwähnten Thesen als Definitionen des vernünftigen Zweifels nicht besonders ergiebig sind.56 So ist es nur verständlich, dass auch die Ansicht Anhänger fand, dass der in Rede stehende Ausdruck für sich alleine gesehen einfach selbstverständlich sei und keiner besonderen „Erklärung“ bedürfe.57 Auf die oben beschriebene Weise gibt jedenfalls das reasonable doubt-Prinzip den U.S.-amerikanischen obersten Gerichten Gelegenheit, die Überzeugungsbildung der Geschworenen einer substantiellen Prüfung zu unterziehen.58 54

„A mere possible doubt“, siehe Victor v. Nebraska, 591 U.S. (1994) 7.18-22. Siehe Devitt and Blackman Federal Jury Practice and Instructions, 4. Aufl. 1994, S. 354. 56 Vgl. J. O. Newman New York University Law Review 68 (November 1993), 982 f. 57 Siehe Power Tennessee Law Review, 67-45, 1999-2000, 56. 58 Das U.S.-amerikanische Überzeugungsmodell enthält auch sonst eine Reihe von Vorkehrungen, die dazu dienen, der Eventualität von willkürlichen Entscheidungen nach Möglichkeit vorzubeugen. Zu nennen sind etwa: a) die für die Verurteilung notwendige Einstimmigkeit; 55

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Hiermit schließe ich diese kleine Abhandlung ab, die Claus Roxin, einem der Großen unserer Wissenschaft, mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 80. Geburtstag gewidmet ist.

b) das weitgreifende und komplizierte System von Beweisverboten; c) die oft heftig debattierte und zeitraubende Auswahl der Geschworenen (das sog. voire-dire-Verfahren; ein Bild von seinen Übertreibungen findet man im Roman von John Grisham The Runaway Jury, 1996).

Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren UWE MURMANN

I. In der letzten von ihm besorgten Auflage des Lehrbuchs zum Strafverfahrensrecht im Jahre 1998 vermerkte der Jubilar, der Ermittlungsgrundsatz sei durch die Praxis der Absprachen „in eine Krise geraten“.1 Vor der richtungweisenden Entscheidung des 4. Strafsenats BGHSt 43, 195 hatte er sich bereits skeptisch dazu geäußert, ob „die Entwicklung nicht auf die Dauer doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu einer Einschränkung oder Auflösung des Ermittlungsgrundsatzes und zu einem ‚Handel mit der Gerechtigkeit‘ führen wird“.2 Und er stellte fest: „Auf weitere Sicht wird eine gesetzliche Regelung notwendig sein“.3 Sowohl die Skepsis hinsichtlich der Beachtung des Ermittlungsgrundsatzes als auch die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung waren und sind berechtigt. Am 4.8.2009 ist das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 in Kraft getreten.4 Aber während Roxin sich wohl eine gesetzliche Regelung vorgestellt hat, die die Friktion mit dem Aufklärungsgrundsatz auflöst, hat der Gesetzgeber den Widerspruch in Gesetzesform gegossen.5 Der Gesetzgeber hat lediglich Anstrengungen unternommen, den Widerspruch zu vernebeln. Das beginnt mit der Bezeichnung der Absprachen als „Verständigung“, womit ein angeblich irreführendes Verständnis im Sinne einer „quasi vertraglich bindenden Vereinbarung“ vermieden werden sollte.6 Tatsächlich geht es aber in einem praktikablen Absprachekonzept genau 1

Roxin Strafverfahrensrecht25 § 15 Rn. 6. Roxin Strafverfahrensrecht24 § 15 Rn. 6. 3 Roxin Strafverfahrensrecht24 § 15 Rn. 8. 4 BGBl. I 2009, S. 2353. 5 Insofern besteht weitgehend Einigkeit, z. B. Altenhain/Haimerl JZ 2010, 329; Fischer StraFo 2009, 177, 181, 183, 186; Meyer-Goßner § 257c Rn. 3; Murmann ZIS 2009, 532 f; Wohlers NJW 2010, 2474; a. A. Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 72. 6 Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 8. 2

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darum,7 denn der Angeklagte wird sich nur dann auf bestimmte (Vor-) Leistungen, insbesondere die Ablegung eines Geständnisses, einlassen, wenn sich das Gericht von den zugesagten Leistungen nicht mehr (ohne weiteres) lösen kann. Schon diese Überlegung zeigt, dass eine Annäherung an die Absprachen nur gelingen wird, wenn man zunächst die mit der Einführung von Absprachen verfolgten Ziele, also deren praktische Dimension ins Auge fasst. Denn die Absprachen sind ein zutiefst in der Praxis verwurzeltes Institut, und der Gesetzgeber wollte der tatsächlichen Entwicklung Rechnung tragen,8 nachdem ihn der Große Senat für Strafsachen beim BGH an seine Aufgabe erinnert hat, „die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen.“9 Absprachen sind demnach im Wesentlichen geprägt durch – vermeintliche oder wirkliche – Bedürfnisse der Praxis (II.). Es stellt sich dann freilich die Frage, inwieweit die Interessen der Beteiligten mit den Vorgaben des Strafprozessrechts kompatibel sind. Es ist zunächst in grundsätzlicher Hinsicht aufzuzeigen, dass die gesetzliche Regelung mit jener Interessenlage – und damit gewissermaßen mit dem „Wesen“ der Absprachen – nicht in Einklang steht (III.). Damit stellt sich dann freilich das Problem, wie mit dem neuen Gesetz umgegangen werden sollte; dafür sollen hier einige Vorschläge gemacht werden (IV.).

II. Absprachen kommen in vielfältigen Erscheinungsformen vor. Typisch ist bekanntlich der Fall, dass das Gericht eine bestimmte Strafobergrenze zusichert, wenn der Angeklagte im Gegenzug ein Geständnis ablegt.10 Die Attraktivität dieser Vorgehensweise erschließt sich aus den von den Verfahrensbeteiligten verfolgten Interessen: • Das Gericht verspricht sich prozessökonomische Vorteile, weil aufgrund des Geständnisses eine weitere Beweisaufnahme regelmäßig für obsolet gehalten wird.11 7

Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil A Rn. 28. 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 1. 9 BGHSt (GS) 50, 40 (64). 10 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 17 Rn. 8. 11 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, 2007, S. 59 ff; Kudlich Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, S. 31; auch der Gesetzgeber: Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 7.

Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren 1387

• Auch die Staatsanwaltschaft ist an einer zügigen, ressourcensparenden Erledigung interessiert.12 Zudem mag sie die sichere Verurteilung einem unsicheren Verfahrensausgang vorziehen.13 • Der Angeklagte verspricht sich ein günstiges Strafmaß und ist mitunter auch an einer kurzen Hauptverhandlung interessiert.14 • Die Interessenlage des Verteidigers kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein: In empirischen Untersuchungen behaupten Verteidiger altruistische Motive, es gehe ihnen um die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten, insbesondere darum, ihm psychische Belastungen zu ersparen und ein optimales Verfahrensergebnis für ihn zu erreichen.15 Es liegt aber nicht ganz fern, dass die schnelle Verfahrenserledigung mitunter auch im eigenen Interesse des Verteidigers liegen wird. Auch präsentieren Verteidiger gerne das Verhandlungsergebnis als Frucht ihres außerordentlichen Geschicks. 16 Die skizzierte Interessenlage ist dann auch maßgeblich dafür, welche Verfahren aus Sicht von Gericht und Staatsanwaltschaft für Absprachen in Betracht kommen, nämlich komplexe, zeitaufwändige, rechtlich und tatsächlich schwierige Verfahren. Die Geburt der Absprachen aus dem Schoß der Praxis als Folge der Vereinigung von verfahrensökonomischen Interessen und dem Streben nach einem günstigen Verfahrensausgang prägt die gesetzliche Regelung, die in ihrer Orientierung an der Praxis letztlich den vorgefundenen Motivationslagen einen rechtlichen Rahmen geben wollte.17

III. Das kann aber nicht bedeuten, dass der Gesetzgeber auf die Normierung von Fehlentwicklungen festgelegt ist.18 Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass Interessen der Praxis – oder vielleicht besser: der Praktiker – nur 12

Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn.11) S. 60 ff; Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 7. 13 Verständigungsfördernd wirkt nach der Untersuchung von Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn. 11) S. 62 ff bei vielen Staatsanwälten (stärker als bei den Richtern) eine „unklare Beweislage“, auch wenn dieser Gesichtspunkt nur selten als Hauptursache für die Absprachebereitschaft genannt wurde. 14 Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 7. 15 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn.11) S. 65 ff. 16 Sommer AnwBl 2010, 197. 17 Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 9. 18 In diesem Sinne aber letztlich Fezer NStZ 2010, 183 f; dazu, dass hierin eine Erosion von Demokratieprinzip und Gewaltenteilung liegt, schon Murmann ZIS 2009, 533.

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insoweit Berücksichtigung finden dürfen, wie sie mit den rechtlichen Belangen des Strafverfahrens in Einklang stehen. 19 So sind weder die Interessen von Angeklagten am Aushandeln einer möglichst niedrigen Strafe noch die Profilierungsinteressen von Verteidigern von rechtlicher Relevanz. Der Wunsch nach Verfahrensabkürzung dagegen hat im Beschleunigungsgrundsatz rechtliche Anerkennung gefunden. 20 Jedoch entspricht nicht schon die schnelle Erledigung als solche dem rechtlichen Grundsatz der Beschleunigung. Nur innerhalb eines die Ziele des Strafprozesses verwirklichenden rechtsstaatlichen Verfahrens21 hat die zeitliche Dimension ihren Platz.22 Die zentrale Frage bleibt also, ob das Abspracheverfahren diesen Vorgaben genügt. Beachtung verlangen insbesondere die gerichtliche Aufklärungspflicht und das Prinzip schuldangemessenen Strafens. Beide sind durch die Absprachen – wie Roxin zutreffend festgehalten hat – besonderen Bedrohungen ausgesetzt. Der Gesetzgeber wollte diese Grundsätze unangetastet lassen. Am Aufklärungsgrundsatz wird explizit festgehalten (§ 257c Abs. 1 S. 2 StPO) und auch das Schuldprinzip soll uneingeschränkte Geltung behalten,23 wie sich etwa an § 257c Abs. 2 S. 3, Abs. 4 StPO zeigt. Diese Festlegungen führen in die schon erwähnten Friktionen mit einem praxisorientierten Absprachemodell. Es kann aber nicht damit getan sein, die Inkonsistenz der Regelung zu beklagen, ohne daraus Folgerungen für die Interpretation der Absprachevorschriften zu ziehen. Soweit die mit den Absprachen erstrebte Verfahrensverkürzung mit Aufklärungsgrundsatz und Schuldprinzip unvereinbar ist, kann weder ein „sowohl als auch“ postuliert werden noch können kurzerhand – entgegen der gesetzlichen Vorgabe – „Abstriche“ beim Aufklärungsgrundsatz propagiert werden. 24 Eine begründete Entscheidung zwischen den konkurrierenden Zielen und Prinzipien hat vielmehr von den Wertungen der Verfassung auszugehen. 19 Die Interessen tragen ihre Legitimation selbstverständlich nicht schon in sich; Trüg ZStW 120 (2008), 332. 20 Zusammenfassend Murmann Strafprozessrecht Rn. 48 ff, angesprochen ist hier das überindividuelle Interesse an der Einsparung von Ressourcen; vgl. zu den unterschiedlichen Zielrichtungen des Beschleunigungsgrundsatzes etwa Kudlich (Fn.11) S. 13 ff; Landau FS Hassemer, 2010, 1073 ff; Wohlers NJW 2010, 2471. 21 Dazu eingehend Murmann GA 2004, 65 ff. 22 Duttge/Neumann HRRS 2010, 37. 23 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/12310, S. 8 f. 24 Vgl. Duttge ZStW 115 (2003), 547. Abweichend Kudlich (Fn.11) S. 55, der von einer Einschränkung der gerichtlichen Aufklärungspflicht „ungeachtet § 257c Abs. 1 S. 2 StPO“ ausgeht. Ausführlich dann S. 59 ff im Sinne eines Zugeständnisses an ein Konsensprinzip, das (insoweit zutreffend) mit der Aufklärungspflicht nicht vereinbar sei. Es bleibt aber ungeklärt, weshalb der eindeutige gesetzliche Verweis auf § 244 Abs. 2 StPO und der gesetzgeberische Wille zum Festhalten an der Aufklärungspflicht nicht ernst genommen werden sollen.

Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren 1389

Aus dieser Perspektive zeigt sich dann, dass der Gesetzgeber in seinem Bekenntnis zu Aufklärungspflicht und Schuldgrundsatz nicht frei war: Das BVerfG sieht das Schuldprinzip zu Recht in der Menschenwürde verankert.25 Dahinter steht die Vorstellung der Strafe als ein sozialethisches Unwerturteil, das nur gefällt werden kann, wenn die Person persönliche Verantwortung für die Tat trägt. Dieses „absolute“ Verständnis von Strafe ist so wenig wirklichkeitsferne Metaphysik26 wie die Menschenwürde selbst. Ausgeschlossen ist damit eine Interpretation der Strafe, die den Täter um der Verfolgung gesellschaftlicher Belange willen instrumentalisiert. Kann Strafe nicht ohne Schuld verhängt werden, so ist selbstverständlich auch der Grundsatz schuldangemessenen Strafens eine Forderung der Menschenwürde. Bleibt das Schuldprinzip von Verfassungs wegen zu beachten, so steht auch das Erfordernis der Sachverhaltsaufklärung27 nicht zur Disposition.28 Denn das Schuldurteil bezogen auf eine in der Vergangenheit liegende Tat kann nur auf einer entsprechenden Tatsachenbasis gefällt werden.29,30 Damit ist freilich noch nicht ohne weiteres vorgegeben, in welcher Weise die Sachverhaltsaufklärung zu erfolgen hat. Offenkundig ist vollständige Gewissheit über vergangene Ereignisse nicht zu erreichen. Die Erfüllung der Aufklärungspflicht verlangt nach der Rechtsprechung nur die Erhebung solcher Beweise, die sich nach der verfügbaren Tatsachenbasis zur Sachverhaltsaufklärung aufdrängen oder die zumindest nahe liegen.31 Damit finden ersichtlich verfahrensökonomische Überlegungen Berücksichtigung.32 Sichergestellt werden muss aber bei einem am Schuldprinzip orien25

Zum Zusammenhang von Schuld und Menschenwürde jüngst BVerfGE 123, 267 (413). Vgl. aber Roxin AT I § 3 Rn. 8. 27 Der zugrunde gelegte Wahrheitsbegriff ist der der Korrespondenztheorie; vgl. dazu Duttge FS Böttcher, 2007, 59; ders. ZStW 115 (2003), 544 ff; Trüg ZStW 120 (2008), 334 ff; zutreffend weist Schünemann FS Fezer, 2008, 559, darauf hin, dass dieses Verständnis „dem Strafverfahren als einem gesellschaftlichen Prozess völlig adäquat“ ist. 28 BVerfGE 57, 250 (275); 63, 45 (61); BVerfG NStZ 1987, 419; Gössel FS Meyer-Goßner, 2001, 199 ff; Schünemann FS Fezer, 2008, 559. Dagegen hält z. B. Fezer NStZ 2010, 184, die verfassungsrechtlichen Hürden für ein konsensorientiertes Verfahrensmodell für überwindbar. 29 Dieser Zusammenhang ist zu betonen, weil in der Diskussion um die Absprachen die verfassungsrechtliche Frage teilweise auf die Möglichkeit, einen formellen Wahrheitsbegriff zu konstruieren, verengt wird (z. B. Fezer NStZ 2010, 184; Trüg StV 2010, 533) und damit aus dem Blick gerät, dass das Streben nach materieller Wahrheit kein Selbstzweck ist, sondern eine Forderung aus dem Tatschuldprinzip. 30 Von dem Streit über den Schuldbegriff (dazu NK-Streng § 46 Rn. 19 ff; Roxin AT I § 19 Rn. 18 ff, ders. FS Henkel, 1974, 171 ff) ist das Erfordernis der Sachverhaltsaufklärung unabhängig. 31 BGHSt 23, 176 (187 f); HK-StPO-Julius § 242 Rn. 8; Meyer-Goßner § 244 Rn. 12 m. w. N. 32 Vgl. auch Landau FS Hassemer, 2010, 1081 f. 26

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tierten normativen Verständnis der Aufklärungspflicht gleichwohl, dass verbleibende Unsicherheiten über den zugrunde gelegten Sachverhalt von so geringem Gewicht sind, dass sie als legitimierbare Fehlverurteilungsrisiken vernachlässigt werden können.33 Die Absprachen hingegen verfehlen das Ziel der Wahrheitsermittlung so nachhaltig, dass sie das Schuldurteil nicht zu tragen vermögen. 34 Diese Einsicht ist mittlerweile häufig genug dargelegt worden35 und hier nur in aller Kürze zusammenzufassen: Die Absprache dient der Reduzierung von Aufklärungsleistung. Das regelmäßig vereinbarte Geständnis vermag die Lücke im Bemühen um Sachverhaltsaufklärung in aller Regel nicht zu schließen.36 Dies entspricht nicht nur den bislang gesammelten praktischen Erfahrungen, sondern verweist auf die prinzipiell begrenzte Tragfähigkeit des im Rahmen von Absprachen zu erlangenden „Zweckgeständnisses“. Aus Sicht des Angeklagten, auf dessen Beitrag es für die Wahrheitsermittlung entscheidend ankommt, ist maßgeblich nicht der tatsächliche Geschehensablauf, sondern die Beweislage und das in Aussicht gestellte Strafmaß in Relation zu dem bei streitiger Verhandlung zu erwartenden Verfahrensergebnis. Bei dieser Motivationslage besteht für den Angeklagten kein vernünftiger Grund, auf eine aus seiner Sicht „richtige“ Sachverhaltsdarstellung zu beharren, wenn nur das Strafmaßangebot hinreichend attraktiv ist. Der Umstand, dass die Vertreter unterschiedlicher Interessen sich auf eine Absprache einlassen, sagt über den Wahrheitsgehalt des zugrunde gelegten Sachverhalts nichts aus, weil diese Wahrheit überhaupt nicht Gegenstand des Bemühens ist.37

33

Grundlegend Freund Normative Probleme der Tatsachenfeststellung, 1987, S. 56 ff. Zutreffend Duttge ZStW 115 (2003), 546 f; verkürzend deshalb Landau FS Hassemer, 2010, 1086, der von der Vorstellung auszugehen scheint, dass das abgesprochene Urteil auf einem wahren, lediglich in für den Angeklagten ungünstigen Teilen nicht voll aufgeklärtem Sachverhalt beruht. Aber schon dafür bietet das Abspracheverfahren keine Gewähr. 35 Treffend BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 8 ff; dazu auch schon Murmann ZIS 2009, 531 ff. 36 Vgl. KMR-v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 8 (auch Rn. 24): „Der deutsche Strafprozess präsentiert sich nun als Mischsystem: Findet eine Absprache statt, folgt er einem formalisierten Wahrheitsverständnis; unterbleibt eine Absprache oder scheitert diese, ist er nach wie vor an der materiellen Wahrheitsfindung ausgerichtet“; Fezer NStZ 2010, 177 ff. 37 Zutreffend Kudlich (Fn. 11) S. 61 f; Schünemann FS Fezer, 2008, 562 f. Dabei geht es weniger um das Risiko der Verurteilung eines gänzlich Unschuldigen – obwohl auch dieses besteht. Im Vordergrund stehen solche Fälle, bei denen der Angeklagte etwa bestimmte strafzumessungsrelevante Umstände einräumt, weil er davon ausgehen muss, dass eine Aufklärung des wahren Sachverhalts ihm hinsichtlich des Strafmaßes „nichts bringen“ würde. 34

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IV. Aufklärungspflicht und Schuldgrundsatz verlangen nach alledem, dass das Bekenntnis des Gesetzgebers zu diesen Prinzipien ernst zu nehmen ist. Das geht freilich auf Kosten der Reichweite der Absprachen, wie nunmehr an Einzelfragen der gesetzlichen Regelung zu zeigen ist:

1. Zu Verhandlungsgegenstand und -inhalt Die rechtliche Qualität der Absprache hängt wesentlich davon ab, was überhaupt als Gegenstand (Verhandlungsgegenstand, § 257c Abs. 2 StPO) von Verhandlungen in Betracht kommt und wie diese Gegenstände miteinander verknüpft werden können (Verhandlungsinhalt). Auf Seiten des Gerichts steht als Verhandlungsmasse eindeutig die Strafzumessung als Unterfall einer Vereinbarung über die Rechtsfolgen im Vordergrund. Mit Rücksicht auf die Schuldangemessenheit der Strafe ist klar, dass die Strafzumessung nicht beliebig verhandelbar ist.38 Die Vereinbarung muss gerade die für die Strafzumessung maßgeblichen Sachgründe zum Gegenstand haben. Da die Strafzumessung auf normativen Gründen und tatsächlichen Feststellungen beruht, könnte auch die Vereinbarung an unterschiedlichen Punkten auf diesen Ebenen ansetzen. Dabei besteht – jedenfalls vordergründig (dazu noch unten) – Einigkeit, dass eine Verständigung über in der Vergangenheit liegende Strafzumessungstatsachen nicht in Betracht kommt, weil eine solche Vereinbarung offenbar mit der Aufklärungspflicht kollidieren würde.39 In Betracht kommt danach allenfalls eine Verständigung über die Bewertung in der Vergangenheit liegender Strafzumessungstatsachen. Aber die Tatschuld als solche kann rückwirkend nicht verändert werden; auch nicht durch ein Geständnis.40 Eine Änderung der Bewertung der Tatschuld kommt allenfalls durch die Schaffung solcher neuer Strafzumessungstatsachen in Betracht, die den Bewertungsvorgang, also die Feststellung der Tatschuld betreffen. An dieser Stelle setzt die sogenannte „Indizkonstruktion“ bezogen auf die Wirkung des Geständnisses an, die nicht die Tatschuld als solche, sondern deren Ermittlung im Prozess betrifft: Das Ge38 Zum Erfordernis eines Konnexes Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 86 f. 39 Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 78 f; Hertel ZJS 2010, 203, meint, es sei „unklar“, ob über Fakten gedealt werden dürfe, aber „jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn sich dadurch indirekt über die Schuld des Angeklagten verständigt wird.“ Die Frage problematisierend auch BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 11. 40 Satzger/Schmitt/Widmaier-Eschelbach § 46 Rn. 126; kritisch zur Einordnung „tatferner Aspekte“ bei der Schuld (anstatt bei der Prävention) Rn. 25.

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ständnis indiziere eine geringere kriminelle Energie und diese sei dann wiederum für den Tatzeitpunkt indiziell.41 Aber dieser Schluss trifft für das lediglich taktisch motivierte Geständnis nicht zu. Jedenfalls kann es keinen Strafnachlass in der für Absprachen typischen – und als Anreiz offenbar erforderlichen – Höhe von etwa einem Drittel der sonst zu verhängenden Strafe rechtfertigen.42 So bleibt nur eine Absprache bezogen auf noch zu schaffende, in die Zukunft wirkende Strafzumessungstatsachen. Dies setzt freilich voraus, dass der Strafe eine in die Zukunft weisende Wirkung zugeschrieben wird. Nun ist die Funktion der Strafe bekanntlich umstritten. Für die Vertreter präventiver Straftheorien ist ausschlaggebend, inwiefern der Angeklagte Leistungen zu erbringen vermag, die den Präventionszielen entsprechen. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, wenn verschiedentlich insbesondere dem Geständnis eine vor allem spezialpräventive Bedeutung im Rahmen des nach Auffassung der Rechtsprechung eröffneten Spielraums schuldangemessenen Strafens eingeräumt wird.43 Aber auch insoweit gilt: Das „Zweckgeständnis“ sagt zwar etwas über die praktische Klugheit eines Angeklagten bei der Wahl zwischen zwei Übeln aus. Rückschlüsse auf die künftige Rechtstreue lassen sich daraus aber offenbar nicht ziehen: Warum sollte ein Geständnis, das der Angeklagte lediglich zur Verbesserung seiner Sozialprognose ablegt, tatsächlich seine Sozialprognose verbessern?44 Und auch wenn man – zutreffend – die Funktion der Strafe in der Wiederherstellung des Rechts erblickt, erscheint es zwar diskutabel, das Geständnis als partielle Wiederherstellungsleistung und insofern als strafersetzend zu begreifen.45 Aber das aus nur taktischen Gründen abgelegte Geständnis trägt gerade nicht den insofern erforderlichen Erklärungsinhalt einer Distanzierung von der der Tat zugrundegelegten Unrechtsmaxime.46 Es hat vor diesem Hintergrund zunehmend die Auffassung an Boden gewonnen, dass die vom Angeklagten zu erbringende Leistung nicht wegen ihres Bezugs zur Tat, sondern mit Blick auf die zu erwartenden prozessualen Konsequenzen im Rahmen der Strafzumessung honoriert werden könne. 41

Dazu Satzger/Schmitt/Widmaier-Eschelbach § 46 Rn. 126. Eingehend Satzger/Schmitt/Widmaier-Eschelbach § 46 Rn. 126 ff. 43 So Satzger/Schmitt/Widmaier-Eschelbach § 46 Rn. 121: „Tatfernes Nachtatverhalten ist nur unter spezialpräventiven Gesichtspunkten beachtlich“. 44 BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 21. 45 Frisch FG BGH Bd. IV, 2000, 292 f, wendet sich aus guten Gründen gegen die doppelte Indizkonstruktion und vertritt die Auffassung, das Geständnis sei als Teil der Wiederherstellung des Rechts anzusehen. 46 A. A. Frisch FG BGH, Bd. IV, 2000, 295: Das Geständnis sei in jedem Fall ein erster Schritt zur Wiederherstellung des Rechts und müsse im Zweifel in dubio pro reo im Sinne einer Anerkennung des Rechts interpretiert werden. 42

Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren 1393

Auch der Gesetzgeber hat sich – über die bisherige Rechtsprechung hinaus gehend – auf diesen Standpunkt gestellt und beharrt deshalb nicht auf einer sachlichen Stellungnahme des Angeklagten zur Tat, sondern akzeptiert dessen Prozessverhalten gerade mit Blick auf die Verfahrensfolgen als günstigen Strafzumessungsfaktor.47 Als honorierungswürdige Leistungen werden insbesondere Verhaltensweisen diskutiert, die dem Schutz von Opferzeugen48 oder der Abkürzung des Verfahrens dienen. Dem Geständnis wird auch unter diesen Aspekten erhebliche Bedeutung beigemessen. Die Strafzumessungsrelevanz des Geständnisses hängt nun freilich nicht mehr von seinem Erklärungswert im Sinne einer Distanzierung von der Tat ab. Es ist folglich auch bedeutungslos, ob es von Reue getragen ist. Das Geständnis ist in diesem Konzept nicht mehr Wissenserklärung, sondern Willenserklärung in Richtung auf die Herbeiführung prozessualer Konsequenzen.49 Maßgeblich ist seine unterstellte Eignung, ohne Verletzung der Aufklärungspflicht den Verzicht auf den Opferzeugen oder die Abkürzung des Verfahrens zu ermöglichen. Maßgeblich ist damit vor allem auch der Zeitpunkt, zu dem ein Geständnis abgelegt wird.50 Es wurde bereits skizziert, dass dieser Umgang mit dem Geständnis mit Aufklärungspflicht und Schuldprinzip nicht kompatibel ist. Richtigerweise kann das abgesprochene Geständnis nur unter ganz engen Voraussetzungen – und meist erst in der Zusammenschau mit anderen Beweismitteln, die auf dem hierfür vorgesehenen Wege (Unmittelbarkeit, Mündlichkeit) in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind – die erforderliche Überzeugung des Gerichts tragen. Akzeptiert man aber Verhaltensweisen des Angeklagten, die ein kürzeres oder schonenderes Verfahren zur Folge haben, als Strafzumessungsfaktoren, so pervertiert dies das Strafverfahren ebenso wie die Strafzumessung. Das soll insbesondere anhand der erstrebten Verfahrensverkürzung verdeutlicht werden: Das Strafverfahren erscheint in diesem Konzept als lästiger Vorgang, dessen Abkürzung ein Wert an sich ist. Darin liegt ein unangemessener Blick 47 Das ist gewissermaßen der gemeinsame Nenner der vom Gesetz zugelassenen Leistungen des Angeklagten im Rahmen einer Absprache. 48 Zur Zweifelhaftigkeit dieser Argumentation vgl. BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 22. 49 Satzger/Schmitt/Widmaier-Eschelbach § 46 Rn. 129. 50 Zutreffend kritisch BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 21. Freilich ist seit jeher anerkannt, dass ein unter erdrückender Beweislast abgegebenes Geständnis „weniger wert“ ist als ein Geständnis bei offener Beweislage. Aber die Begründung dafür liegt nicht im Umfang der Arbeitsersparnis, sondern darin, dass eine ungünstige Beweislage als Indiz für ein lediglich taktisch motiviertes Geständnis gewertet wird, also gerade in einer Relativierung des Schuldbezugs des Geständnisses.

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auf ein rechtsstaatliches Verfahren, das gerade aufgrund seiner Sicherungen und Teilhaberechte an der Legitimation der Strafe wesentlichen Anteil hat.51 Und selbst soweit eine Verfahrensabkürzung ohne Qualitätseinbußen möglich erschiene, ist noch nicht einsichtig, weshalb das kooperative Verhalten des Angeklagten bei der Strafzumessung entlastend wirken soll.52 Denn für die Dauer, die ein rechtsstaatliches Verfahren in Anspruch nimmt, ist der Angeklagte nicht verantwortlich. Das Strafverfahren ist zwar durch die Tat veranlasst, aber ersichtlich keine Tatfolge im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB.53 Die Strafzumessung wird durch die Berücksichtigung von Faktoren, die zu der vom Täter zu verantwortenden Tat in keinem inneren Zusammenhang stehen, geradezu ins Beliebige verschoben.54 Dagegen meint aber etwa Niemöller, es sei „nicht einzusehen, wieso einem Angeklagten, der an der Schaffung dieses Wertes (Verfahrensbeschleunigung, U. M.) mitwirkt, indem er auf den Gebrauch prozessualer Rechte verzichtet, dies nicht auch strafmildernd anzurechnen sein soll“.55 Sieht man es so, dann wird praktisch alles, was der Verfahrensverkürzung dient und disponibel ist, zum tauglichen Verhandlungsgegenstand; der Angeklagte kann damit „kooperatives Verhalten“ jeder Art als Leistung anbieten.56 Naheliegend ist in diesem Konzept insbesondere der Verzicht auf Beweisanträge, den auch der Gesetzgeber ausdrücklich zur Verhandlungsmasse gerechnet hat.57 Eine verfahrensabkürzende Wirkung kommt diesem Verzicht vor allem bei solchen Beweisanträgen zu, denen stattzugeben wäre, ohne dass bereits die Aufklärungspflicht eine Beweiserhebung von Amts wegen verlangt. Der rechtliche Zweck des Beweisantragsrechts wird durch diesen Handel im Kern getroffen:58 Als Säule der Wahrheitsermittlung eingeführt,59 eröff51 Zutreffend Beulke/Ruhmannseder NStZ 2008, 301. Damit wird nicht der Beschleunigungsgrundsatz in Frage gestellt, der sich aber stets unterordnen muss gegenüber rechtsstaatlich begründeten Entschleunigungen des Verfahrens. Das Prozessieren ohne Absprache stellt ersichtlich keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung dar. 52 KMR-v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 31; Meyer-Goßner § 257c Rn. 14. 53 Altenhain/Haimerl JZ 2010, 330. 54 Was freilich auch bei modernen Strafzumessungsregeln der Fall ist, insbesondere bei der neuen Kronzeugenregelung (§ 46b StGB), die sogar die Mithilfe an der Aufklärung anderer Taten honoriert, vgl. König NJW 2009, 2483; Malek StV 2010, 200 ff. 55 Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 101. Zu Recht kritisch Weigend FS Maiwald, 2010, 836. 56 Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 100 ff; auch Ignor FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, 330 f. 57 Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 58 Kritisch auch Meyer-Goßner § 257c Rn. 14; Hauer NJ 2010, 13. 59 Murmann Strafprozessrecht Rn. 185.

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net die Möglichkeit, Beweisanträge durch die Zusage von Strafmilderungen abzukaufen, einen Handel mit der Tatsachengrundlage. Wird die Funktion des Beweisantragsrechts als eines die Aufklärungspflicht flankierenden Instituts in dieser Weise desavouiert, dann steht die Sinnhaftigkeit des Beweisantragsrechts und dessen Reichweite in der Diskussion! Nicht minder problematisch ist die Vorstellung, Gegenstand der Verhandlungen könnten Ablehnungsanträge sein.60 Diese stehen zwar ebenfalls zur Disposition der Verfahrensbeteiligten und vermögen die Verfahrensdauer zu beeinflussen. Aber ihr Zweck, das Verfahren von Richtern freizuhalten, die die erforderliche Unparteilichkeit (möglicherweise) nicht aufweisen, schließt es aus, den Ablehnungsantrag zur Handelsware zu machen. Das überindividuelle Interesse am Institut der Richterablehnung gerät sonst aus dem Blick. Geradezu bizarr wird die Situation, wenn der möglicherweise befangene Richter über die Gegenleistung verhandelt, um einen gegen ihn selbst angedrohten Befangenheitsantrag abzuwenden. Anhand der Beispiele dürfte deutlich geworden sein, dass es eine Fehlintuition darstellt anzunehmen, disponible Verfahrensrechte könnten gerade mit Blick auf ihre Disponibilität zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden. Auf diese Weise wird der sachliche Kontext, in dem diese Rechtspositionen stehen, ignoriert. Mit der Einräumung disponibler Verfahrensrechte wird der Einsicht Rechnung getragen, dass die Beteiligten unterschiedliche Kenntnisse und Perspektiven mitbringen und auf diese Weise ihre Mitwirkung das Verfahren in Richtung auf ein in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht richtiges Ergebnis hin zu fördern vermag. Ob und wie die Beteiligten mitwirken, kann freilich gerade wegen der Individualität der Einschätzungen und mit Rücksicht auf die rechtliche Stellung der Verfahrensbeteiligten nicht erzwungen werden. Aber die Rechte sind doch Teil des Gesamtkonzepts eines Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Strafverfahrens. Es ist dieser, gerade nicht disponible Aspekt, der im Rahmen von Absprachen wegverhandelt wird. Die von der Verfassung geforderte Orientierung an Aufklärungspflicht und Schuldgrundsatz steht also gerade dort, wo Anträge des Angeklagten Aussicht auf Erfolg hätten, einem vereinbarten Verzicht entgegen.

2. Zur Bindungswirkung von Absprachen und deren Reichweite Ein zweiter zentraler Problembereich, in dem die gesetzliche Regelung gegenüber der bisherigen, von der Rechtsprechung erfundenen Parallelver-

60

KMR-v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 30; Leipold NJW-Spezial Strafrecht 2009, 520; Meyer-Goßner § 257c Rn. 14.

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fahrensordnung61 zumindest auf den ersten Blick einige Neuerungen bietet, betrifft die Bindungswirkung der Absprachen. Soweit es den Angeklagten angeht, treten insoweit keine Probleme auf, als der Angeklagte durch die Vereinbarung nicht zu deren Einhaltung verpflichtet wird, also nicht etwa das versprochene Geständnis ablegen muss.62 Erfüllt der Angeklagte die Absprache nicht, so hat dies lediglich zur Konsequenz, dass auch das Gericht nicht mehr an seine Zusage gebunden ist.63 Die Absprache entfaltet rechtliche Bindungswirkung nur für das Gericht. Diese Bindungswirkung steht dann auch sogleich in einem Spannungsverhältnis zum Aufklärungsgrundsatz und zum Grundsatz schuldangemessenen Strafens. Denn jede Bindung, die das Gericht vor dem Ende der Hauptverhandlung eingeht, führt zu einer Festlegung des Gerichts, die nicht auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung gründen kann. Diesem Problem will das Gesetz – in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung – Herr werden durch das Verbot, eine konkrete Strafe zu vereinbaren. Das allein vermag die Friktion zwar abzumildern, aber nicht zu beseitigen. Aufklärungsgrundsatz und Schuldgrundsatz verlangen also nach rechtlichen Grenzen der Bindungswirkung, die das Gesetz in § 257c Abs. 4 StPO dann auch zieht. Diese Grenzen wiederum stehen tendenziell in einem Spannungsverhältnis zu dem die Absprache kennzeichnenden Vertrauensschutz. Der Gesetzgeber hat sich durch sein Bekenntnis zu Aufklärungspflicht und Schuldgrundsatz freilich darauf festgelegt, dass die Bindungswirkung diese Prinzipien nicht konterkarieren darf. Hinsichtlich der Aufklärungspflicht ist dieser Ausgangspunkt auch insoweit konsequent umgesetzt, als sowohl neu auftretende Tatsachen wie auch bereits vorhandene, aber übersehene Tatsachen die Bindungswirkung entfallen lassen, wenn der vereinbarte Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen wäre. Das Aufklärungsprinzip erfährt allerdings insoweit eine dem Vertrauensgrundsatz geschuldete Einschränkung, als das Geständnis in diesem Fall nicht verwertet werden darf (§ 257c Abs. 4 S. 3 StPO). Rätsel gibt vor allem die Frage auf, in welchem Rahmen ein Wegfall der Bindungswirkung aufgrund neuer oder übersehener „rechtlich … bedeutsamer Umstände“ in Betracht kommt. Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums ließ noch Änderungen in der „Bewertung der Sach- oder Rechtslage“ für eine Lösung von der Vereinbarung ausreichen. Die gleich 61

Weigend NStZ 1999, 58. Zur Rechtsnatur der Verständigung Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 8. 63 Ob es mit der Freiheit des Angeklagten praktisch so weit her ist, wenn er erst einmal ein Geständnis in Aussicht gestellt hat, ist freilich eine andere Frage. 62

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lautenden Entwürfe der Bundesregierung und der damaligen Regierungsfraktionen übernahmen diese Formulierung. Die Entwurfsbegründung überzeugt: „Der Grund für diese Regelung besteht darin, dass das Ergebnis des Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss.“64 Die jetzige Fassung geht schließlich zurück auf eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages, dem daran lag, dass eine „schlichte Meinungsänderung“ die Bindungswirkung nicht beseitigen können soll.65 Die Literatur geht mit der gesetzlichen Regelung bislang ohne besonderes Problembewusstsein und uneinheitlich um:66 Häufig wird an die erstrebte Irrelevanz „schlichter Meinungsänderungen“ angeknüpft.67 Von diesem Ausgangspunkt liegt es nahe, die Meinungsänderung mit dem Erfordernis geänderter „objektiver Umstände“ zu kontrastieren.68 Es bereitet aber erhebliche Schwierigkeiten anzugeben, was mit solchen objektiven Umständen gemeint sein soll, deren rechtliche Relevanz sich gerade nicht aus Änderungen in der Tatsachenbasis ergibt. Als objektive Umstände kann man in einem ersten Schritt sicherlich das Vorliegen von – insbesondere höchstrichterlicher – Rechtsprechung oder von Stellungnahmen aus der Literatur ansehen. Aber diese binden das Gericht grundsätzlich nicht, beeinflussen mithin lediglich die Art und Weise, wie es zu einer Meinungsänderung des Gerichts kommt. Auch insoweit geht es also letztlich um Meinungsänderungen; dass diese nun deshalb nicht nur „schlichte“ Meinungsänderungen sind, weil sie auf einen äußeren Anstoß zurückgehen, 64

Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 16/12310, S. 14; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD BT-Drucks. 16/11736, S. 12. Ähnlich die Begründung zum Gesetzentwurf des Bundesrates BT-Drucks. 16/4197, S. 10: „Aber auch eine bloße Änderung der Bewertung der Sach- und Rechtslage durch das Gericht bei unveränderter Erkenntnisgrundlage muss zu einem Wegfall der Bindung an den mitgeteilten Strafrahmen führen. Von dem Gericht kann nicht erwartet werden, sehenden Auges ein aus seiner Sicht falsches Urteil zu sprechen“. Dagegen überzeugt die abweichende Interpretation der Entwürfe durch Graumann HRRS 2008, 132, nicht. 65 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13095, S. 14. 66 Kudlich (Fn. 11) S. 52 plädiert ohne nähere Konkretisierung für „eine restriktive Auslegung der Vorschrift vor allem mit Blick auf den unbestimmten Rechtsbegriff der ‚Bedeutsamkeit‘ sowie auch der Tat- bzw. Schuldunangemessenheit“. Damit wird der Vertrauensschutzaspekt in den Vordergrund und die gerichtliche Vorstellung von der Entscheidungsrichtigkeit in den Hintergrund gerückt. Diese Fehlakzentuierung wird noch deutlicher, wenn Kudlich (Fn.11) S. 53, meint, richtigerweise müsse „das Risiko sowohl des Übersehens von Gesichtspunkten als auch der anfangs unzutreffenden rechtlichen Bewertung eigentlich beim Gericht (sowie bei der einer Verständigung zustimmenden Staatsanwaltschaft) liegen“. Ähnliche Überlegungen sind schon in der bekannten Debatte über die Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane durch Beweisverwertungsverbote zu Unrecht ins Feld geführt worden. 67 Graumann HRRS 2008, 125; Jahn/Müller NJW 2009, 2629; KMR-v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 51. 68 Jahn/Müller NJW 2009, 2629.

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Uwe Murmann

erscheint wenig überzeugend. Objektive Umstände, die jenseits der Rechtsauffassung des Gerichts Beachtung verlangen, sind danach ausschließlich (übersehene) Gesetze oder bindende gerichtliche Entscheidungen, die freilich selten sind.69 Versteht man das Erfordernis „objektiver Umstände“ in diesem Sinne, so führt es zu einer mit dem Schuldgrundsatz nicht zu vereinbarenden Reichweite der Bindungswirkung. Zu ähnlichen Ergebnissen führt es, wenn Niemöller rechtlich bedeutsame Umstände dahingehend interpretiert, dass ein Festhalten an der Strafrahmenzusage zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führen würde.70 Solche Rechtsirrtümer lägen etwa vor, wenn das Gericht die angeklagte Tat zu Unrecht einem Straftatbestand mit geringerer oder schwererer Strafandrohung zugeordnet habe, wenn es „bei der Wahl des anzuwendenden Strafrahmens ‚schlicht danebengegriffen‘“ habe oder sich über das Vorliegen von Regelbeispielen eines besonders schweren Falls geirrt habe.71 Diese Interpretation ist schon mit dem Gesetz schwerlich zu vereinbaren. Denn das Gesetz verlangt zusätzlich, dass das Gericht aufgrund der neuen bzw. übersehenen rechtlich bedeutsamen Umstände „zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist“. Dieses Erfordernis würde seinen Sinn verlieren, wenn sich bereits aus dem Charakter der Umstände die Rechtswidrigkeit der Strafzumessungsentscheidung ergäbe. Das zusätzliche Erfordernis der gerichtlichen Überzeugung von der Unangemessenheit des Strafrahmens verweist aber auch auf eine grundsätzliche Schwäche der Beschränkung auf Fälle des „Rechtsirrtums“. Niemöller scheint – und so sind auch seine Beispiele gefasst – von Fällen auszugehen, in denen das Gericht zweifelsfrei einem Irrtum in rechtlicher Hinsicht erlegen ist. Das ließe sich in dieser Deutlichkeit aber allenfalls für gänzlich unvertretbare Rechtsauffassungen sagen – aber was ist schon unvertretbar? Bewegt sich das Gericht mit seiner anfänglichen Würdigung im rechtlichen Rahmen, so wäre ein Festhalten an dieser Auffassung eben nicht rechtswidrig. Und zwar auch dann nicht, wenn sich das Gericht in Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung setzt, an die es ja in aller Regel nicht gebunden ist. Es bleibt also die Frage, wie zu verfahren ist, wenn das Gericht im Nachhinein eine abweichende Bewertung schlicht für richtig hält,

69 Zu nennen sind Entscheidungen des BVerfG und – mit Rücksicht auf die Pflicht zur konventionskonformen Auslegung – Entscheidungen des EGMR. 70 Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 115; ähnlich wohl SK-StPO-Velten § 257c Rn. 39: „nur echte Subsumtionsfehler“. 71 Niemöller/Schlothauer/Weider-Niemöller Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 257c StPO Rn. 117.

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ohne dass deshalb die ursprünglich vertretene Auffassung das Prädikat „rechtswidrig“ verdient. Dieser Punkt wird auch von der Überlegung verfehlt, dass dem Gericht abweichende Entscheidungen im Rahmen des Spielraums, der ihm bei der Gewichtung der Strafzumessungstatsachen eröffnet ist, untersagt seien.72 Meinungsänderungen, die die Rechtmäßigkeit der ursprünglich zugrunde gelegten Strafrahmenvorstellungen nicht berühren, sollen danach die Bindungswirkung nicht beseitigen können. Diese Auffassung verkennt, dass die Rechtmäßigkeit des ursprünglich für angemessen erachteten Strafrahmens nichts daran zu ändern vermag, dass das Gericht die Entscheidung zu treffen hat, die es selbst – aktuell – für richtig hält. Denn die Strafzumessungsentscheidung ist, auch in dem nach der Spielraumtheorie eröffneten Rahmen schuldangemessenen Strafens, Rechtsanwendung und hängt nicht von einem mehr oder minder beliebigen „Meinen“ des Gerichts ab.73 Ist auch die „schlichte Meinungsänderung“, aufgrund derer das Gericht eine Strafzumessungsentscheidung innerhalb des rechtlichen, aber außerhalb des zugesagten Rahmens treffen möchte, nichts anderes als Rechtsanwendung, so ist es nicht haltbar, das Gericht an einer (nunmehr) für unrichtig gehaltenen Rechtsauffassung festzuhalten und damit zu einer bezogen auf die Regeln der Strafzumessung aus seiner Sicht falschen Entscheidung zu zwingen. Das Problem verschärft sich – aber nur graduell! –, wenn die geänderte Bewertung einen anderen Strafrahmen eröffnet, sei es etwa infolge Anwendbarkeit eines Regelbeispiels oder bei Eingreifen eines Qualifikationstatbestandes. Etwas anderes als eine „Meinungsänderung“ bezogen auf die Beurteilung rechtlicher Fragen liegt auch hier nicht vor, wenn sich etwa das Gericht nun doch dazu durchringt, das mitgeführte Taschenmesser als gefährliches Werkzeug im Sinne von § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB einzuordnen. Hier kann kaum zweifelhaft sein, dass das dem Grundsatz schuldangemessenen Strafens verpflichtete Gericht dem Urteil seine geänderte Bewertung zugrunde legen muss – und folglich von der getroffenen Vereinbarung abweichen darf. Und zwar auch dann, wenn die ursprüngliche Interpretation und der zugesicherte Strafrahmen vertretbar bleiben. Aber mit dem Erfordernis des Vorliegens neuer oder zunächst übersehener „rechtlicher Umstände“ – in Abgrenzung zu Meinungsänderungen – lässt sich das nicht 72

Graumann HRRS 2008, 125; KMR-v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 51. Dagegen spricht auch nicht die begrenzte revisionsgerichtlicher Kontrolle der Strafzumessungsentscheidung. Denn die Grenzen interpersonaler Vermittelbarkeit und damit auch revisionsgerichtlicher Nachprüfbarkeit markieren nicht etwa einen Bereich tatrichterlichen Beliebens. 73

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begründen. Denn es ist gut vorstellbar, dass die rechtlichen Argumente von Anfang an auf dem Tisch lagen und sich lediglich deren Gewichtung aus Sicht des Gerichts verschoben hat.74 Aus all dem folgt, dass auch heute noch richtig ist, was für den BGH zunächst als Selbstverständlichkeit behandelt wurde, dass sich nämlich das Gericht „nicht der Freiheit begeben (darf), auf Grund besserer Einsicht die maßgeblichen Umstände anders zu gewichten und zu einer von der mitgeteilten Vorstellung abweichenden Entscheidung zu gelangen.“75 Letztlich wird man das Erfordernis des Vorliegens neuer oder übersehener „rechtlich … bedeutsamer Umstände“ demnach nicht anders interpretieren können, als es die ursprüngliche Formulierung vorsah: Schon eine Bewertungsänderung kann zum Wegfall der Bindungswirkung führen.76 Eine „schlichte Meinungsänderung“ liegt danach nur dann vor, wenn das Gericht es sich ohne Sachgründe – also: willkürlich – anders überlegt hat77 – ein praktisch wenig relevanter Fall. Dem Vertrauensschutz wird damit ein deutlich engerer Rahmen gezogen, was aber unvermeidlich erscheint, wenn man die Verpflichtung des Gerichts ernst nimmt, sich in seiner Entscheidung am – nach seiner Überzeugung richtigen – Recht zu orientieren. Der Grundsatz des fairen Verfahrens wird hierdurch nicht verletzt.78 Denn der Vertrauenstatbestand wird begrenzt durch die Belehrungspflicht nach § 257c Abs. 5 StPO und die Grenzen der Bindungswirkung folgen aus Sachgründen, die sich gegen die Interessen des Angeklagten an einer unverbrüchlichen Vereinbarung durchsetzen müssen. 74 Es mag die Schärfe des Problems vielleicht noch besser veranschaulichen, wenn man den umgekehrten Fall in den Blick nimmt: Gegenstand der Verständigung kann auch eine Strafuntergrenze sein (§ 257c Abs. 3 S. 2 StPO), die das Gericht nach Neubewertung strafzumessungsrelevanter Faktoren unterschreiten möchte! 75 BGHSt 38, 102 (105). Nach Auffassung des Großen Senats für Strafsachen des BGH (St 50, 40 [50]) sollte eine Abweichung von der Vereinbarung zulässig sein, „wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden“. Es sei nämlich „unvertretbar, das Gericht bei der Urteilsfindung entgegen § 261 StPO an einen maßgeblichen Irrtum allein aufgrund des im Rahmen einer Verständigung gesetzten Vertrauenstatbestandes zu binden“; dazu näher Murmann ZIS 2009, 537. 76 Eine unüberwindbare Friktion im Verhältnis zum Willen des Gesetzgebers ist damit nur auf den ersten Blick begründet. Denn in der Begründung des Rechtsausschusses findet sich nicht nur die Intention, bloßen „Meinungsänderungen“ keine Relevanz zuzubilligen. Es findet sich weiter die Behauptung, gegenüber dem Regierungsentwurf gehe es lediglich um eine „Präzisierung“; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13095, S. 14. 77 In diese Richtung auch BeckOK-Eschelbach StPO § 257c Rn. 31, wenn er eine Meinungsänderung des Gerichts „ohne rational nachvollziehbaren Grund“ für unzureichend hält, allerdings auch das Auftreten „konkreter Belastungsaspekte“ fordert – und insoweit wohl mehr verlangt als dies hier für richtig gehalten wird. 78 Einen deutlich weiter reichenden Vertrauensschutz will Graumann HRRS 2008, 123 ff, aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ableiten.

Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren 1401

V. Insgesamt zeigt sich: Eine Interpretation der gesetzlichen Regelungen zur Absprache in strikter Orientierung an den geltenden – anzuerkennenden und vom Gesetzgeber anerkannten – Verfahrensprinzipien lässt von den Absprachen nicht mehr viel übrig. Dieser Befund vermag den Absprachenkritiker zu erfreuen; Anlass zu Optimismus bietet er letztlich nicht: Die Absprachen sind, wie eingangs erwähnt, ein Kind der Praxis, und ihre Adoption durch den Gesetzgeber wird voraussichtlich an ihrer Natur so wenig ändern wie die Erziehungsversuche, die zuvor die Rechtsprechung unternommen hat. Anders formuliert: Die Instanzgerichte haben hartnäckig in erheblichem Umfang die Vorgaben des BGH missachtet und es ist damit zu rechnen, dass der Umgang mit den gesetzlichen Regelungen nicht viel anders ausfallen wird. Das zentrale Problem dieser Praxis ist die Interessenlage der Beteiligten, insbesondere der Umstand, dass der Richter im Abspracheverfahren selbst durchaus eigennützige Interessen verfolgt. Es ist deshalb auch in praktischer Hinsicht nicht zu erwarten, dass sich die Prozessprinzipien gegen diese Interessen behaupten können. Das lässt sich leicht an der hier mühsam erarbeiteten Position aufzeigen, dass Bewertungsänderungen des Gerichts die Bindungswirkung entfallen lassen. Praktisch wird sich das Problem nicht stellen. Und zwar schon deshalb, weil die Frage der Bindungswirkung überhaupt selten praktisch werden wird: In tatsächlicher Hinsicht wird nichts mehr zu Tage gefördert, was eine geänderte Bewertung erfordern könnte. Und in rechtlicher Hinsicht ist der Prozess des Nachdenkens und Entscheidens mit dem Verhandlungsergebnis abgeschlossen. Der Richter, der nach erfolgreicher Verhandlung mit den Prozessbeteiligten über die Angemessenheit des Ergebnisses grübelt und seine Bewertung überdenkt, ist wahrscheinlich ein Geschöpf wissenschaftlicher Phantasie. Und so wird es bei den einmal ausgehandelten Ergebnissen in aller Regel bleiben. Schließlich will ja auch kein Gericht seinen Ruf verlieren, nämlich den Ruf, ein verlässlicher Handelspartner zu sein.

Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei Verfahrensabsprachen CARSTEN MOMSEN

I. Einführung Der Große Senat für Strafsachen hat bekanntlich am 23. April 2007 (GSSt 1/06) entschieden, dass einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge, durch formgerecht vorgenommene nachträgliche Berichtigung des Sitzungsprotokolls auch zum Nachteil des Angeklagten der Boden entzogen werden könne1. Damit erteilte der Große Senat dieser „Rügeverkümmerung“ genannten Form des nachträglichen Rechtsmittelverlusts2 das grundsätzliche Placet. Diese Entscheidung führte zu Reaktionen, die zwischen Erleichterung und schroffer Kritik schwankten.3 Ein Grund hierfür lag darin, dass die Entscheidung des Großen Senats Ihrerseits als vorläufiger Endpunkt einer langanhaltenden und für eine eher unzugängliche revisionsrechtliche Fragestellung vergleichsweise breiten Diskussion angesehen werden musste4. Diese Entscheidung wurde sodann durch den 2. Senat des BVerfG mit Beschluss vom 15.1.20095 mit denkbar knapper Mehrheit, nämlich bei drei abweichenden Voten und einer nur im Ergebnis beitretenden Stimme aufrechterhalten.6

1 BGHSt 51, 298: „Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden.“ 2 Im Unterschied zum Verzicht auf das Rechtsmittel oder dessen Verwirkung tritt die Wirkung bei der Rügeverkümmerung zum einen erst nach der Rügeerhebung und zum anderen unabhängig von einem Prozessverhalten des Rechtsmittelführers ein; zu beiden Instituten näher KMR-Momsen § 337 Rn. 207 ff m. w. N. 3 Wie hier kritisch bspw. Beulke FS Böttcher, 17 ff; zustimmend demgegenüber Gmählich FS Stöckel, 225 ff. 4 Ausführl. Nachweise Momsen FS Egon Müller, 2008, 456 f. 5 BVerfGE 122, 248. 6 Vgl. dazu die Anmerkungen und Besprechungen von Beulke Strafprozessrecht Rn. 564; Jahn NJW 2009, 654 ff; Schünemann StV 2010, 538 ff.

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Der verfassungsrichterlichen Senatsmehrheit zufolge, soll sich diese neue Rechtsprechung des BGH7 zur „Rügeverkümmerung“ im Strafverfahren (noch) innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung halten. Sie begegne auch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.8 In dieser Knappheit festgestellt, würde jedoch unterschlagen, dass innerhalb des Senats ganz offensichtlich ein tiefgreifender Methodendiskurs zum Thema geführt wurde. 9 Denn aus dem Sondervotum des Vizepräsidenten des BVerfG Voßkuhle, der Richterin Osterloh und des Richters Di Fabio ergibt sich, dass diese starke Minderheit entschieden der Auffassung ist, die Entscheidung der Mehrheit verkenne die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung.10 Bemerkenswert daran ist, dass die Minderheitsvoten nicht so sehr die Möglichkeit der „Rügeverkümmerung“ als materiell verfassungsrechtlich problematisch ansehen. Der springende Punkt ist der völlig überzeugende Hinweis darauf, dass die Senatsmehrheit „im Kielwasser“ des Vorlagebeschlusses des 1. Strafsenats11 aus unerfindlichen Gründen schlicht verkenne, dass die – von Schünemann12 zutreffend als innerprozessuale „Rechtskraftwirkung“ des § 274 StPO bezeichnete – negative Beweiskraft des Sitzungsprotokolls Ausdruck eines eindeutig formulierten und durch die Vereinigten Strafsenate ausdrücklich bestätigten prozessualen Strukturprinzips ist. Damit aber war der Weg zu einer richterrechtlichen Lückenschließung bereits nach zutreffender historischer und logisch-systematischer Auslegung versperrt.13 Der 2. Senat des BVerfG allerdings war mehrheitlich gegenteiliger Ansicht und sah sich (bedauerlicherweise) nicht veranlasst, diesen erneuten Eingriff in die durch die StPO (noch) gewährleistete Kräfteverteilung zwischen den Verfahrensbeteiligten zu suspendieren. Dies wäre kaum zum Schaden des Strafverfahrensrechts gewesen. Denn wie Schünemann völlig zutreffend unterstreicht, gehört die Verfassungsrechtsprechung zur Rügeverkümmerung in einen Zusammenhang mit der Regelung über die sog. „Verständigung“ im Strafprozess. Sie stößt das Tor zu einem entformalisierten Strafprozess ein ganzes Stück weiter auf. Zwar handelt es sich bei 7

BGH [GS] NJW 2007, 2419; BGH NJW 2006, 3582. BVerfG 2 BvR 2044/77. 9 Überzeugende Analyse von Schünemann StV 2010, 538 ff. 10 Vgl. v. Heintschel-Heinegg BeckBlog v. 13.3.2009. 11 BGH Vorlagebeschluss v. 23.08.2006 NStZ 2007, 51. 12 StV 2010, 540 f. 13 Schünemann StV 2010, 539 ff; Zudem geht auch die im Vorlagebeschluss geäußerte Annahme des 1. Senats fehl, die Rügeverkümmerung sei ohnehin Richterrecht und könne deshalb durch richterliche Rechtsfortbildung (bzw. -zurückbildung) ohne weiteres geändert werden. Dagegen zutr. der 4. Senat in seinem Antwortbeschluss, BGH NStZ-RR 2006, 274. 8

Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei Verfahrensabsprachen

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der hier interessierenden Fragestellung „nur“ um eine revisionsrechtliche Problematik. Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass das Revisionsrecht das einzige Korrektiv gegenüber Verletzungen der strafprozessualen „Form“ ist – diese wiederum aber schützt, wie es bereits Zachariae feststellte, das Individuum und in Sonderheit den Angeklagten. Was wir nun beobachten, läuft letztlich auf eine Relativierung des Anspruchs, eine solche Prüfung durchführen zu lassen, hinaus. Das gibt Anlass für eine erneute Auseinandersetzung mit der Thematik unter dem spezifischen Blickwinkel der fehlerhaften Protokollierung von Verfahrensentscheidungen im Zusammenhang mit Absprachen.14

II. Die Neuregelung der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls im Hinblick auf Absprachen Interessant ist das Ineinandergreifen der beiden vorgenannten „Entformalisierungen“. Wie also steht es um das Verhältnis von Verfahrensabsprachen und Beweiskraft des Sitzungsprotokolls? Antworten darauf hat zunächst einmal der Gesetzgeber gegeben. Und diese Antworten scheinen die vorstehenden Bedenken zu entkräften: Denn § 273 Abs. 1 und 1a StPO lauten in der aktuellen Fassung: „(1) Das Protokoll muss den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im wesentlichen wiedergeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Schriftstücke oder derjenigen, von deren Verlesung nach § 249 Abs. 2 abgesehen worden ist, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen und die Urteilsformel enthalten. In das Protokoll muss auch der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b aufgenommen werden. (1a) Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben. Gleiches gilt für die Beachtung der in § 243 Absatz 4, § 257c Absatz 4 Satz 4 und Absatz 5 vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrungen. Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, ist auch dies im Protokoll zu vermerken.“ Auf den ersten Blick also scheint der Gesetzgeber sichergestellt zu haben, dass die formal relativierenden Auswirkungen einer Verständigung auf die Hauptverhandlung ihrerseits keine entformalisierenden Auswirkungen auf 14 Der Beitrag nimmt Gedanken, die in der FS für Egon Müller, 2008, 457 ff bereits anklingen, auf und führt sie unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich erfolgten Gesetzesänderung, vor allem aber der jüngsten Rechtsprechung, weiter.

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das Revisionsverfahren haben werden. Denn die Anforderungen an den Inhalt des Protokolls werden augenscheinlich erhöht, sogar soweit, dass der Umstand, dass keine Verständigung stattgefunden hat, zu protokollieren ist (Abs. 1a S. 3). Man könnte sich zu dem Urteil veranlasst sehen, dass es keine Synergieeffekte zwischen der legalisierten Absprachenpraxis und der „Rügeverkümmerung“ geben wird. Das allerdings wäre voreilig. Bei genauerer Analyse ist nämlich gerade der die Formalisierung scheinbar auf die Spitze treibende § 273 Abs. 1a S. 3 StPO eine Regelung, welche die Bedeutung des Protokolls in einem für das Revisionsverfahren zentralen Punkt erodiert. Denn die Pflicht sowohl die Vornahme bzw. Ausgestaltung einer Prozesshandlung (a) zu protokollieren als auch deren Nichtvornahme (non-a), lässt insoweit keinen Raum dafür, aus dem Nichtvorhandensein von (a) notwendig (non-a) zu schließen. Soweit die Überschneidung reicht, kann nur eine Redundanz des Normtextes vorliegen oder ein Bedeutungswandel in Bezug auf (a) oder (non-a). Der nähere Blick auf die Bedeutung der Einzelregelungen scheint eher für eine Redundanz zu sprechen15: Muss die Nichtvornahme einer Prozesshandlung protokolliert werden, so bedeutet dies, dass das Protokoll insoweit der negativen Beweiskraft komplett verlustig geht. Will man nun nicht annehmen, dass es sich um eine unbeabsichtigte Redundanz, mithin ein bloßes Redaktionsversehen handelt - wofür es keinerlei Anhaltspunkte gibt – dann kommt es zu einer offensichtlichen Friktion mit § 274 StPO, der nach herkömmlicher (und zutreffender) Ansicht neben einer positiven eben gerade auch die negative Beweiskraft des Sitzungsprotokolls begründet.16 Denn § 273 Abs. 1a S. 3 StPO kann sinnvoll nur so verstanden werden, dass (jedenfalls für das Hauptverfahren) aus dem Umstand, dass keine Verständigung protokolliert worden ist, gerade nicht (negativ beweiskräftig) gefolgert werden darf, dass keine Verständigung stattgefunden hat. Andererseits aber kann nun aus dem Umstand, dass nicht protokolliert worden ist, dass es zu keiner Absprache gekommen ist, wegen § 273 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a S. 1, 2 StPO ebenfalls nicht (negativ beweiskräftig) gefolgert werden, dass tatsächlich doch eine Absprache stattgefunden hat bzw. es zu vorbereitenden Erörterungen gekommen ist. Das Hauptverhandlungsprotokoll entfaltet infolgedessen im Hinblick auf die praktisch eminent bedeutsame Frage, ob es in der Hauptverhandlung zu einer bindenden Verständigung gekommen ist, keine negative

15

Dabei bleibt hier die revisionsrechtliche Bedeutung, bezüglich derer notwendig eine Modifikation entstehen muss, vorerst außer Betracht. Dass die Regelungen aber im üblichen Sinn verstanden werden, zeigt bspw. Meyer-Goßner § 273 Rn. 36, § 274 Rn. 4 ff. 16 BGHSt 22, 278 ff; BGH NStZ 1993, 51; Meyer-Goßner § 274 Rn. 14 m. w. N.

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Beweiskraft17. Allein im Hinblick auf die Situation, dass es zunächst zwar zu einer „Erörterung“ i.S. §§ 257b, 273 Abs. 1 S. 2 StPO, in deren Folge aber nicht zu einer „Verständigung“ i.S. §§ 257c, 273 Abs. 1a S. 1 StPO kommt, ist § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO mit einer gewissen Folgerichtigkeit formuliert. Aber Satz 3 des § 273 Abs. 1a StPO ist eben auch auf dessen Satz 1 anwendbar. In diesen praktisch relevanteren Fällen entstehen die oben beschriebenen Wirkungen. Dies ist, wie sich gleich zeigen wird, von einiger Bedeutung für das Revisionsverfahren.

III. „Negativtest“ (§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO) und „negative Beweiskraft“ (§ 274 StPO) Tatsächlich gibt es bereits eine erste Entscheidung des BGH, welche exemplarisch verdeutlicht, welch disparate Effekte das Zusammentreffen der Aufweichung der negativen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls im Regelungsbereich des § 273 Abs. 1a StPO mit der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung abgesegneten Praxis der Rügeverkümmerung hervorrufen können. Der 2. Strafsenat hatte über die Zulässigkeit einer Revision in folgendem Fall18 zu entscheiden: Der u. a. wegen eines Tötungsdelikts angeklagte Rechtsmittelführer war zunächst vom LG Hanau zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und sechs Monaten Dauer verurteilt worden. Die hiergegen eingelegte Revision war verspätet und wurde gem. § 346 Abs. 1 StPO durch das LG als unzulässig verworfen. Auf einen im Anschluss an die Urteilsverkündung durch den Angeklagten nach Rücksprache mit seinem Verteidiger eingelegten Rechtsmittelverzicht kam es nach Auffassung des LG nicht an. Gegen die Entscheidung des LG beantragte der Angeklagte Wiedereinsetzung mit der Begründung, es habe eine Verständigung stattgefunden, ohne dass ihm gem. § 35a S. 3 StPO eine qualifizierte Belehrung erteilt worden sei. Der Rechtsmittelverzicht sei als Folge der Verständigung ohne qualifizierte Belehrung ausgeschlossen gewesen und nicht wirksam. Die Rechtsmittelfrist sei daher nicht versäumt, die Revision mithin zulässig.19 Dem ist der Senat nicht gefolgt.20 Vielmehr sei, wie auch der GBA ausge17

Anders im Hinblick auf § 257c StPO Meyer-Goßner § 274 Rn. 14 mit Verweis auf BGH NStZ 2007, 355. Diese Entscheidung ist allerdings noch auf Basis der vorherigen Rechtslage ergangen und daher m. E. so nicht übertragbar. 18 BGH StV 2010, 346. 19 Vgl. Meyer-Goßner § 35a Rn. 19 m. w. N. 20 Uneingeschränkt zuzustimmen ist dem Senat (und dem GBA) insoweit er zu der Auffassung gelangt, das LG sei zu der Verwerfung der Revision nicht befugt gewesen. Denn § 346 Abs. 1 StPO eröffnet die Beschlussverwerfung in der Tat nur für verspätet eingelegte

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führt habe, der Rechtsmittelverzicht ungeachtet § 302 Abs. 1 S. 2 StPO wirksam. Denn aufgrund des im Protokoll vorhandenen Negativvermerks 21 gem. § 273 Abs. 1a S. 3 StPO sei bewiesen, dass keine Verständigung (nach § 257c StPO) stattgefunden habe. Zur Begründung dieses Ergebnisses verweist der Senat erwartungsgemäß darauf, dass der Negativvermerk zu den nach § 274 StPO wesentlichen Förmlichkeiten gehöre. Gegen diesen sei nur der Nachweis der Fälschung zulässig, der nicht geführt worden sei. Auf den ersten Blick ist an dieser Argumentation nicht nur nichts auszusetzen, sie scheint sogar die oben vermisste negative Beweiskraft des Protokolls zu stärken. Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedoch Zweifel: Denn es geht gerade nicht um die negative Beweiskraft des Protokolls (nicht protokolliert gilt revisionsrechtlich als nicht geschehen) sondern um die positive Beweiskraft der Eintragung des „Negativtests“ nach § 273 Abs. 1a S. 3 StPO. Und gerade am vorliegenden Fall zeigt sich, dass es dieser Regelung gar nicht bedurft hätte, würden Rechtsprechung und vor allem auch Gesetzgebung von dem Grundsatz des § 274 StPO, der eben auch die negative Beweiskraft umfasst, ausgehen. Denn § 273 Abs. 1a S. 1 StPO lautet: „Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben.“ Gleiches gilt gem. § 273 Abs. 1 S. 2 StPO für Ablauf und Inhalt von Erörterungen gem. § 257b StPO. Würden diese beiden Regelungen in herkömmlicher Weise auch eine negative Beweiskraft hervorbringen, so würde sich aus dem Fehlen entsprechender Vermerke zwingend ergeben, was gem. Abs. 1a S. 3 ausdrücklich festgehalten werden muss: eben dass es zu keiner Absprache gekommen ist, noch nicht einmal eine solche erörtert wurde. Wiederum könnte man meinen, hier habe es der Gesetzgeber allenfalls etwas „zu gut gemeint“ mit der Bedeutung des Protokolls – und das mag ausweislich der Gesetzesmaterialien wohl auch so gewesen sein22: Der Grund für die Aufnahme des „Negativtests“ sei nämlich, so ist dort nachzulesen, „mit höchstmöglicher Gewissheit und auch in der Revision überprüfbar die Geschehnisse in der Hauptverhandlung zu dokumentieren und auszuschließen, dass ‚stillschweigend‘ ohne Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten solche Verhaltensweisen stattgefunden haben.“ Die bereits in der oder formwidrige Revisionsanträge. Die Frage der Wirksamkeit des Verzichts kann unter keine der beiden Fallgruppen subsumiert werden; vgl. BGH StV 2010, 346; KK-Kuckein § 346 Rn. 3; KMR-Momsen § 346 Rn. 2. 21 Soweit die Gründe des Beschlusses, wie es den Anschein hat, vollständig mitgeteilt sind, verhalten sie sich nicht explizit zu diesem Punkt, sind aber wohl entsprechend zu verstehen; vgl. BGH StV 2010, 346. 22 Vgl. BT-Drucks. 16/11376, S. 13.

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Gesetzesbegründung angelegte Doppelung dieser Zielbestimmung im Verhältnis zu den Sätzen 1 und 223 führt jedoch nicht zu einer Aufwertung des Protokolls aus revisionsrechtlicher Perspektive. Vielmehr entsteht die Situation, dass ein Protokoll, welches sich zur Frage der Vornahme einer Verständigung überhaupt nicht verhält, revisionsrechtlich nicht sinnvoll zu behandeln ist. Es würden sich die eigentlich vorauszusetzende negative Beweiskraft des Fehlens von Vermerken nach Satz 1 und 2 und die fehlende Protokollierung des Negativtests gegenseitig aufheben. Die Folge davon ist zunächst, dass es insoweit keine negative Beweiskraft geben kann. Fragt sich, wie zu entscheiden sein würde, wenn bei identischer Sachlage zu dem eingangs referierten Fall24 kein Vermerk nach § 273 Abs. 1a S. 3 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll angebracht worden wäre. Da ein „non liquet“ revisionsrechtlich kaum vorstellbar ist und der Grundsatz „in dubio pro reo“ im Hinblick auf das Erwiesensein von Gesetzesverletzungen nicht anwendbar ist25, wäre eine Entscheidung nach dem Meistbegünstigungsprinzip zu erwägen. Wie sich allerdings dieses Prinzip in concreto auswirken würde, erscheint ebenfalls kaum prozessdogmatisch ableitbar zu sein, da jedenfalls auch eine Revision der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten erfasst sein müsste. Würde man also meistbegünstigend für den Rechtsmittelführer entscheiden, so wären die wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 StPO ihres ursprünglich den Angeklagten schützenden Charakters weitgehend entkleidet. Blickt man auf die Entscheidungspraxis der Revisionsgerichte in den letzten Jahren und die ständig wachsenden formalen Anforderungen an eine Rüge, namentlich im Hinblick auf Verfahrensfehler26, so wäre zu besorgen, dass eine Rüge entgegen dem Meistbegünstigungsgedanken mangels ausreichender Begründung als unzulässig verworfen werden könnte. Aber das ist derzeit mangels entsprechender Entscheidungspraxis nur eine von verschiedenen möglichen Hypothesen. Viel wahrscheinlicher dürfte es nach dem eingangs Dargelegten sein, dass die Revisionssenate sich auf Ihre vom Verfassungsgericht (wenn auch nur 23 Zu § 273 Abs. 1a S. 1 und 2 findet man in BT-Drucks. 16/11376, S. 13 unmittelbar zuvor etwas ausführlicher ausformuliert denselben Gedanken wie den eben zu S. 3 zitierten: „Der neue Absatz 1a ist ein wichtiger Baustein zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren. Zum einen dient er dazu, sicherzustellen, dass die vom Gericht im Zusammenhang mit einer Verständigung zu beachtenden Förmlichkeiten durch die ausdrückliche Protokollierungsverpflichtung auch wirklich beachtet werden. Zum anderen wird damit sichergestellt, dass insbesondere im Revisionsverfahren die erforderliche Kontrolle der Verständigung im Strafverfahren möglich ist.“ 24 BGH StV 2010, 346. 25 KMR-Momsen § 337 Rn. 144 f m. w. N. 26 Schünemann StV 2010, 543.

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knapp) abgesegnete Praxis der „Rügeverkümmerung“ besinnen. Denn die hier vorausgesetzte Protokollsituation lädt nicht nur ein, sondern zwingt geradezu zu einer Protokollberichtigung, wenn man die unzuträglichen revisionsrechtlichen Konsequenzen gänzlich fehlender Vermerke zur Absprachenfrage vermeiden will.

IV. Materiale Gerechtigkeit (Richtigkeit) als Kriterium prozeduraler Gerechtigkeit (Fairness)? Damit sind wir beim Kern der Frage: Dem Zusammenspiel von „Rügeverkümmerung“ und revisionsrechtlicher Behandlung von Absprachen. Wie die entsprechende Berichtigung ausfallen würde, lässt sich im Einzelnen schwer prognostizieren. Wohl aber gibt die bisherige Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung Anhaltspunkte für die – wahrscheinlich – zu erwartende Linie: Vorentscheidend wird sein, ob man es als den prozessualen Normalfall betrachtet, dass es irgendwann während des Verfahrens zumindest zu Gesprächen i. S. § 257b StPO kommt oder ob man jedenfalls die Absprache mit Auswirkungen auf das Urteil als systemfremdes Verfahrenselement begreift und sie dementsprechend als Ausnahmefall einstuft. Da der Gesetzgeber die Absprachenpraxis zwar legalisiert hat, sich jedoch glücklicherweise nicht zu einer Sollvorschrift verstiegen hat27, sondern lediglich eine Handlungsoption einräumen wollte, richtet sich der prognostizierende Blick auf das konkrete Verfahren. Genau hier aber tritt ein praktisch folgenreiches Problem der Relativierung von prozessualen „Förmlichkeiten“ zutage, welches zugleich kaum zu überschätzende systemische Auswirkungen darauf hat, wie das Verhältnis des materiellen Strafrechts zum Verfahrensrecht verstanden wird. Auswirkungen genauer gesagt darauf, wie die Zielsetzung des Strafverfahrens definiert wird: Im Ergebnis wird nämlich auf diesem Weg die materielle Gerechtigkeit geradezu zum Kriterium der Prozessordnungsmäßigkeit gemacht. Dies gilt jedenfalls, soweit die prozessual nicht relevante Frage, ob ein Urteil im Schuldspruch „richtig“ oder „falsch“ ist, zur Grundlage der Entscheidung über die Vornahme einer nachträglichen Protokollberichtigung und damit zugleich über das vorzeitige „Aus“ für die Revision gemacht wird. 27

Angesichts der knappen Ressourcen der Justizhaushalte wäre durchaus denkbar gewesen, dass bspw. § 257c StPO einen Passus hätte enthalten können, wie etwa „der Vorsitzende soll in geeigneten Fällen auf eine Verständigung hinwirken, sofern hierdurch eine Verfahrensbeschleunigung zu erwarten und keine Benachteiligung des Angeklagten zu befürchten ist“.

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Warum wäre dies Ausdruck eines Systembruchs? Denn die Aussage könnte doch so verstanden werden, dass ein faires Verfahren nur dann vorliegen kann, wenn am Ende materiale Gerechtigkeit hergestellt wird. So verstanden erscheint die Erkenntnis zunächst fast banal, das Ergebnis geradezu wünschenswert. Warum aber ist die Integration der materiellen Wahrheit prozessdogmatisch gesehen gleichwohl problematisch? Sie ist dies aufgrund des Umstands, dass die eben dargelegte Aussage auch so verstanden werden kann, dass wenn am Ende eines Verfahrens materiale Gerechtigkeit hergestellt ist, die Fairness des Prozesses vermutet werden kann. In dieser Weise würde sich auch der Rekurs auf die materiale Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Rügeverkümmerung auswirken. Zunächst einmal herrscht nicht nur in der Philosophie28, sondern auch in der Verfahrenslehre seit geraumer Zeit Einigkeit darüber, dass es „die“ materielle Gerechtigkeit in Ermangelung eines objektiven Wahrheitsmaßstabes nicht geben kann.29 Was es stattdessen gibt, ist eine subjektive Wahrnehmung, welche zu einer individuellen Wahrheitsvorstellung führt. Demgemäß kann auch „Gerechtigkeit“ in einem materiellen Sinne letztendlich nur subjektiv definiert werden.30 Zurück zur Ausgangsfrage nach den Unzuträglichkeiten, welche aus der partiellen Aufhebung der negativen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls im Bereich der Verfahrensabsprachen entstehen können: Ergibt sich im Falle einer entsprechenden Verfahrensrüge aus dem völligen Schweigen eines Sitzungsprotokolls zur Frage der Verständigung die oben dargelegte zwingende Notwendigkeit einer nachträglichen Protokollberichtigung, so besteht die erhebliche Gefahr, dass diese in beide Richtungen ohne weiteres mögliche Berichtigung in der Weise vorgenommen wird, dass die berichtigende Person, das von ihr (i. d. R.) für „richtig“ gehaltene Urteil gegen den Revisionsangriff schützen wollen wird. Dies hat psychologische Gründe (die vom potentiell karriereschädigenden „Makel“ der Aufhebung des eigenen Urteils bis hin zur Überzeugung, trotz möglicherweise vorhandener aber doch „nur“ formeller Mängel das gerechte Ergebnis gefunden zu haben, reichen. Außer Betracht bleibt dabei nur allzu leicht, dass das als gerecht empfundene Ergebnis keineswegs das „richtige“ Urteil sein muss. Denn „richtig“ in einem normativen Sinn ist allein das prozessordnungsgemäß gewonnene Ergebnis. Mag dies auch einmal dazu führen, dass ein Gericht „sehenden Auges“ einen offensichtlich schuldigen Angeklagten mangels 28

Umfassend Gloy Wahrheitstheorien, 2004. Alexy Theorie der juristischen Argumentation, 1996, S. 399 ff; Forst Kontexte der Gerechtigkeit, 1996, S. 347 ff; Gosepath Gleiche Gerechtigkeit, 2004, S. 1 ff. 30 Grasnik Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, S. 25 ff; Radbruch Rechtsphilosophie, S. 35 ff; Sen Die Idee der Gerechtigkeit, 2010, S. 19, 183 ff. 29

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verwertbarer Beweise freisprechen muss, so ist dies doch ein ganz entscheidender Prüfstein für den Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit. Die Überlagerung der Prozessordnungsmäßigkeit durch ein subjektives Kriterium materialer Gerechtigkeit führt nämlich strukturell zur Rechtsstaatswidrigkeit des Verfahrens, da sie Ausdruck des Grundgedankens, der (gute) Zweck heiligt die (schlechten) Mittel, ist. Die Statuierung der materialen Gerechtigkeit des Urteils als Einflussfaktor für auf die Prozessordnungsmäßigkeit ist in letzter Konsequenz dann sogar der notwendige und zugleich entscheidende Schritt zur Legitimierung der Folter. Vor diesem Hintergrund erleichtert auch und gerade § 273 Abs. 1a S. 3 StPO mit seiner scheinbaren, die Absprachen stärker formalisierenden Wirkung den (Irr-) Weg zur systemwidrigen Einflussnahme des Kriteriums der materiellen Gerechtigkeit auf die Prozessordnungsmäßigkeit: Denn wird das Protokoll nachträglich dahingehend „berichtigt“, dass der Vermerk über den Negativtest angebracht wird, so entfallen wesentliche Angriffspunkte gegen ein Urteil, welches auf einer Absprache beruht.31 Aus der Perspektive des Revisionsführers wird damit die Latte für eine erfolgversprechende Verfahrensrüge wieder ein Stück höher gelegt.32 Der zunächst begründeten Rüge könnte mit der – natürlich nur apokryphen – Begründung, das „richtige und gerechte“ Urteil aufrechterhalten zu wollen, durch eine entsprechende Berichtigung des Protokolls der Boden entzogen werden. Selbstverständlich wird man nicht zu befürchten haben, dass eine größere Zahl deutscher Strafgerichte sich zu entsprechenden Vorgehensweisen wird hinreißen lassen. Jedoch wird die Möglichkeit geschaffen, ein prozessordnungswidriges subjektiv gleichwohl als „gerecht“ empfundenes Urteil aufrecht zu erhalten. Diese bloße Möglichkeit, verbunden mit einer allenfalls noch mittelbaren revisionsrechtlichen Überprüfbarkeit der Protokollberichtigung, ist jedoch bereits nicht mehr tolerabel. Dass diese Prognose über ein bloßes gerichtsmisanthropisches Szenario hinausgeht, zeigt zudem der Blick auf die Erwägungen, die im Zusammenhang mit der Rügeverkümmerung angestellt wurden. Verfällt ein materiell mutmaßlich „gerechtes“ Urteil wegen eines Protokollfehlers auf der Grundlage einer lediglich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit aufzuklärenden Verfahrenshandlung der Aufhebung durch das 31

Beispielhaft sei nur auf das auch von BGH StV 2010, 346 behandelte Erfordernis einer qualifizierten Belehrung i. S. v. § 35a StPO wie auch die ggf. damit einhergehenden Probleme der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts (dazu Meyer-Goßner § 35a Rn. 17 ff, § 302 Rn. 26b; KMR-Momsen § 337 Rn. 207 ff; HKGS-Maiwald § 337 StPO Rn. 22 f; HKGSMomsen § 302 StPO Rn. 15 ff) hingewiesen, die ein weites Feld für Revisionseinlegungen eröffnen. 32 Vgl. im Hinblick auf die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zur „Rügeverkümmerung“ (GSSt 1/06 v. 23.4.2007, BGHSt 51, 298) Momsen FS Egon Müller, 2008, 462.

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Revisionsgericht, so wird nicht „die Wahrheit“ verändert oder beschädigt. Vielmehr wird dem Revisionsgericht lediglich vorgeschrieben, unter welchen Bedingungen es eigene Feststellungen zum Verfahrensverlauf treffen kann. Dabei liegt es in der Eigenart des Revisionsrechts, die Anwendung des Rechts, hier des Verfahrensrechts, durch die Vorinstanz zu überprüfen, ohne die tatsächlichen Grundlagen der Rechtsanwendung in die Prüfung mit einzubeziehen. So wie sich das Revisionsgericht für materielle Fragen ausschließlich an den Urteilsgründen zu orientieren hat, so hat es sich für prozessuale Fragen neben den Urteilsgründen ausschließlich an dem Sitzungsprotokoll und den schriftlich gefassten Verfahrensentscheidungen zu halten.33 Der Revisionsrichter hat wie der durch den Beibringungsgrundsatz gebundene Zivilrichter u. U. über einen Sachverhalt zu verhandeln, der nach – seinem – gesunden Menschenverstand in der beigebrachten Form nicht zutreffen kann. Begreift man aber Gerechtigkeit als einen Zustand, der nicht allein durch das Ergebnis eines Prozesses hergestellt werden kann, sondern als Produkt von Verfahren und Ergebnis, so gehört zur Gerechtigkeit zwingend die Einhaltung der Regeln des Erkenntnisprozesses, mit anderen Worten die Fairness. Da zur Fairness aber die staatliche Seite erheblich weitergehend verpflichtet ist als der ggf. um seine Freiheit kämpfende Angeklagte, leidet diese Gerechtigkeit weniger durch das prozedural faire wenngleich höchstwahrscheinlich materiell falsche Urteil als durch das prozedural unfaire aber in der Sache mutmaßlich „richtige“ Urteil.

VI. Verkümmerung der Verfahrensrüge bei Absprachen Wenn die obersten Gerichte gleichwohl mehrheitlich diese Gefahren in Kauf zu nehmen bereit sind, so kommt hier offenkundig der Gedanke des Rechtsmissbrauchs zur Geltung; ein materiell „richtiges“ Urteil soll zumindest dann bestehen bleiben können, wenn der Revisionsführer sich hinter der schützenden Form versteckt und in dem Wissen, dass der – ordnungsmäßige – tatsächliche Verfahrensverlauf aus formalen Gründen nicht mehr zu verifizieren ist, einen erfundenen Verfahrensstoß behauptet. Gleichwohl bleibt die Schwierigkeit, den bewussten Rechtsmissbrauch – d. h. die Behauptung eines tatsächlich nicht vorgefallenen (fehlerhaften) Verfahrensablaufs wider besseres Wissen – nachzuweisen. Daher geht es im Ergebnis darum, den vermeintlich „richtigen“ Verfahrensablauf unwiderleglich zu postulieren, obwohl es dem Revisionsgericht weder faktisch möglich noch

33

Vgl. Hollaender JR 2007, 8.

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rechtlich gestattet ist, sich hinsichtlich der diesbezüglichen Kenntnisse des Revisionsführers selbst sicheres Wissen zu verschaffen.34 Die Legalisierung der Rügeverkümmerung läuft infolgedessen darauf hinaus, ausnahmsweise und mit Blick auf § 274 StPO systemfremd im Wege der Protokollveränderung eine Verfahrensrekonstruktion vorzunehmen. Diese wird nur möglich im Wege einer unwiderleglichen Vermutung für den der nachträglichen Berichtigung des Protokolls zugrunde liegenden Sachverhalt. Die protokollierte „Wahrheit“ wird damit natürlich verändert und zur Grundlage revisionsgerichtlicher Richtigkeitskontrolle gemacht. Eine derartige Auslegung des § 274 StPO stand jedoch bis zur Neufassung des § 273 StPO in klarem Widerspruch zu dem Wortlaut der Norm35. Die Neufassung des § 273 StPO beseitigt nun in ihrem Regelungsbereich einen Teil der „Schwierigkeiten“: § 274 StPO beinhaltet nun nicht mehr eine eindeutige Beweisregel zugunsten des Protokollierten und zwar des ursprünglich protokollierten Verfahrensverlaufs. Vielmehr ist man bei komplett fehlenden Eintragungen auf eine Berichtigung und dementsprechend auf die Erinnerungen der Protokollpersonen angewiesen.36 Ein wesentlicher Grund für die umfassende Beweiskraft des Protokolls ist jedoch gerade das menschlich begrenzte Erinnerungsvermögen der beteiligten Gerichtspersonen. Dies wurde sogar vom 1. Senat sehr deutlich formuliert.37 Die weitergehende Frage nach der Redlichkeit der Urkundspersonen sowie der beteiligten Richter, die grundsätzlich zu unterstellen ist38, stellt sich im Lichte des modifizierten § 273 StPO in etwas anderem Gewande. Zwar dürfte der Umstand, ob und wenn ja, in welcher Form eine Verständigung stattgefunden hat, kaum dem Vergessen anheimfallen. Insoweit wäre allenfalls vorstellbar, dass bestimmte revisionsrechtlich fragwürdige Einzelinhalte nicht in das Protokoll aufgenommen werden, um das Große und

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Näher hierzu Momsen FS Egon Müller, 2008, 462 f. Vgl. auch Hollaender JR 2007, 6 ff, 9 f; Momsen FS Egon Müller, 2008, 463 f. 36 BGH Urt. v. 11.08.2006 – 3 StR 284/05. Soweit man auch in diesem Kontext die mit dem Revisionsverfahren notwendig verbundene Verfahrensverzögerung für die Rügeverkümmerung bei fehlender Eintragung über Absprachen geltend machen will, gilt auch hier, dass es in der Revisionsinstanz um die Feststellung von Rechtsverstößen sowohl formeller als auch materieller Art geht. Daher kann die Verletzung einer Verfahrensvorschrift gerade nicht mit einem Hinweis auf die materielle Richtigkeit des Urteils kompensiert werden. Denn es ist eben nicht auszuschließen, dass bei Beachtung der formalen Verfahrensvorschriften die prozedurale Wahrheit eine andere ist als die scheinbar evident erkennbare materielle Wahrheit. Darauf, dass die Überzeugung von der materiellen Wahrheit sich im Verlaufe einer weiteren Tatsacheninstanz verändern kann, wurde an anderer Stelle bereits hingewiesen (Momsen FS Egon Müller, 2008, 464). 37 BGH Vorlagebeschluss v. 23.8.2006 NJW 2006, 3582, 3584 Nr. 21. 38 Insoweit zutreffend BGH Vorlagebeschluss v. 23.8.2006 NJW 2006, 3582, 3584 Nr. 17. 35

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Ganze (sprich: Das Urteil) abzusichern.39 Auf der zweiten Ebene allerdings treten die ganz üblichen Probleme auf, verstärkt bspw. durch die Anforderungen des § 35a StPO für qualifizierte Belehrungen nach Absprachen. Dass es ein Gericht nach einer möglicherweise zunächst kontrovers verlaufenden „Verständigung“ stressbedingt unterlassen könnte, qualifiziert zu belehren, erscheint realistisch. Doch genau wie in allen anderen Fällen verstößt man hiermit gegen die vorgeschriebene Form. Mag das im Wege mühsamer Rechtsgespräche erzielte Urteil materiell auch noch so richtig sein, so rechtfertigt gleichwohl allein der Formverstoß die Rüge. Liegen die Dinge andersherum und geht aus dem Urteil nicht hervor, ob überhaupt „etwas“ stattgefunden oder nicht stattgefunden hat, so gilt das bereits andernorts gesagte: Nicht der Vorsatz oder das Verschulden der Gerichtsperson entscheidet über das Schicksal der Verfahrensrevision und auch nicht die materiale „Richtigkeit“ des angegriffenen Urteils. Immer geht es um die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens. Kann aufgrund fehlender Protokolleintragungen nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob ein den Revisionsführer in seinen legitimen Verfahrensinteressen verletzender Formverstoß vorliegt, so muss man im Zweifel für die Bedeutung der Fairness des staatlicherseits gegen den Bürger geführten Verfahrens entscheiden – und das Urteil aufheben. Die Regelung des gegenwärtigen § 273 StPO allerdings hebt diese klaren normativen Zuordnungen auf und stellt in ihren sich gegenseitig u. U. aufhebenden Einzelregelungen geradezu eine Einladung zur Protokollberichtigung und der damit zu bewirkenden Rügeverkümmerung dar. Denn der nach ursprünglicher Gesetzeslage methodisch zwingende Satz, „ist das Protokoll hingegen widerspruchsfrei, kommt eine nachträgliche Berichtigung 39 Dass der Vorsitzende nach Eingang der Verfahrensrüge in eine „parteiliche Position“ gerät, ist zudem zu beachten. Er wird ggf. – psychologisch verständlich –, wenn er die rechtliche Möglichkeit dazu hat, „sein“ Urteil auf Grund der „aktualisierten Erinnerung“, dass es doch anders war als im Protokoll festgestellt, möglicherweise gegen den Revisionsangriff verteidigen und der Protokollführer wird sich kaum der „neuen Einsicht“ des Vorsitzenden widersetzen. Dieser psychologischen Dynamik kann auch nicht, wie der Große Senat postuliert, durch die besonderen Anforderungen an die Protokollberichtigung entgegengewirkt werden (dazu näher Momsen FS Egon Müller, 2008, 465 f). Auch die bei Hahn wiedergegebenen Motive stehen einer solchen Relativierung entgegen, denn, so heißt es dort: „§ 274 dient gerade der Berücksichtigung von Zweifeln an der Erinnerungsfähigkeit – nicht etwa der Redlichkeit! – der Urkundspersonen… Formverletzungen, welche in der Hauptverhandlung vorfallen konnten, … (können) in der Regel … nachträglich nicht mit Zuverlässigkeit … festgestellt werden … Die Gerichtsmitglieder werden selten in der Lage sein, über Vorgänge, welche ihrer Aufmerksamkeit in der Hauptverhandlung entgangen sind, nachträglich ein bestimmtes Zeugnis abzugeben; ihre Aussagen würden daher nur dazu dienen, unberechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Sitzungsprotokolls zu erwecken…“. Ausführlich Momsen FS Egon Müller, 2008, 464 f.

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mit der Folge der Rügeverkümmerung grundsätzlich nicht in Betracht“, gilt nun nicht mehr in Absolutheit. Denn § 273 Abs. 1 und Abs. 1a StPO können in Widerspruch treten, ohne dass sich entscheiden ließe, welche der Vorschriften isoliert betrachtet verletzt worden wäre. Diese Situation lässt sich allerdings wie dargelegt bei entsprechend konzentrierter Protokollierung vermeiden, wenn der an sich logisch überflüssige Negativtest des Abs. 1a sozusagen „sicherheitshalber unnötigerweise“ vorgenommen wird. Blickt man auf die im Rahmen der Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung erkennbaren Argumentationslinien, so dürfte es keine unbegründete Befürchtung sein, dass die Revisionsgerichte sehr weitgehend dazu tendieren könnten, den sich aus der völligen Nichtbeurkundung ergebenden Widerspruch einseitig dahingehend aufzulösen, dass „lediglich“ der ja eigentlich ohnehin überflüssige Negativtest nicht angebracht wurde. Dies aber wird in aller Regel der Weg sein, an dessen Ende die Verkümmerung der an sich zulässigen Rüge steht. Durch die Aufnahme der Vorschriften über die Verständigung im Strafverfahren gewinnt der Inhalt des Protokolls aus revisionsrechtlicher Sicht an Bedeutung. Einerseits bleibt, wie der Ausgangfall zeigt, die Kardinalfrage nach einem – korrekt vorzunehmenden – Rechtsmittelverzicht von erheblicher Bedeutung. Zum anderen müssen die Eintragungen im Rahmen des § 273 Abs. 1 S. 2 StPO mit äußerster Genauigkeit erfolgen um das bekanntermaßen bei den informellen Verständigungen im Vorfeld der eigentlichen formal verfahrensbeendenden Absprache recht große Potential für Missverständnisse zwischen den Beteiligten zu kompensieren.40 Dass sich diese Formenstrenge auch zum Nachteil des Revisionsführers auswirken kann, ist evident, liegt aber in der Natur des Revisionsrechts begründet. Entscheidend ist, dass nur auf der Basis eines unveränderbaren Protokolls die Rahmenbedingungen einer Absprache revisionsrechtlichen Bestand haben können. Allein nach Maßgabe des Protokolls bestehen damit für die Beteiligten einer Absprache noch Möglichkeiten, ein die Absprache nicht oder nur unvollkommen umsetzendes Urteil mit der (Verfahrens-) Revision anzugreifen. Die negative Beweiskraft des Protokolls dürfte daher gerade bei einer Verfahrensbeendigung im Wege der Absprache eigentlich keiner Relativierung offen stehen. Umso bedauerlicher sind die dargelegten Friktionen innerhalb des neuen § 273 StPO. Zumal insoweit selbst der geringe Trost, den zumindest die Entscheidung des Großen Senats noch zu spenden vermochte, ebenfalls wegfällt. Der Große Senat nämlich stellte fest, dass dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die Beweiskraft des § 274 StPO zukomme. Deshalb könne das Revi40

Vgl. bspw. Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren Teil B § 273 Rn. 16.

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sionsgericht die Berichtigungsentscheidung im für die Revisionsinstanz üblichen Freibeweisverfahren überprüfen41. Da aber sowohl die in § 273 Abs. 1 als auch die in Abs. 1a StPO in Bezug genommenen Prozesshandlungen in vollem Umfang zu den wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens im Sinne des § 274 StPO zählen42, entspricht dem „berichtigten Teil“ des Protokolls bspw. i. S. § 273 Abs. 1 S. 2 StPO in vielen Fällen dann die zunächst widersprüchliche (Nicht-) Eintragung § 273 Abs. 1a S. 3 StPO und umgekehrt.

VII. Ausblick Angesichts des Zusammenspiels von Negativtest und Rügeverkümmerung und der damit verbundenen weiter voranschreitenden Relativierung des prozessualen Grundsatzes der umfassenden Beweiskraft des Sitzungsprotokoll werden die bereits andernorts bemühten Einsichten des deutschen Prozessualisten Zachariae43 nach fast 150 Jahren noch eindringlicher in das strafprozessuale Gedächtnis zurückgerufen werden müssen: Die Formenstrenge des Strafverfahrens schützt den Angeklagten. Sie dient letztendlich der rechtsstaatlich selbstverständlichen Beschränkung auf die Ermittlung einer „nur“ prozeduralen Wahrheit – auch scheinbar „formale“ Verfahrensvorschriften sorgen dafür, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis ermittelt werden darf! Aber gewiss ist auch, dass allein der Blick zurück keine Veränderung bewirken wird. Erfolgversprechender erscheint es mir, den Blick nach vorn zu richten. Denn was vor einigen Jahren noch als mit den vorhandenen Ressourcen kaum darstellbar erschien, dürfte bereits jetzt keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr bereiten – die vollständige Dokumentation der Hauptverhandlung in einem Tondokument. Und ein solches dürfte sich wohl mittlerweile durch Spracherkennungsprogramme weitgehend problemlos verschriften lassen. Das Wortlautprotokoll, welches zeitnah erstellt werden könnte, würde wohl allen Interessen dienen. Ausgenommen sind verfahrensfremde Interessen. Etwa der Wunsch, einen Protokollfehler dazu nutzen zu können, unter dem Deckmantel der materiellen „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ ein an sich der Verfahrensrevision verfallendes Urteil zu retten. Gleiches gilt für solche Revisionsführer, die einen nicht existenten Verfahrensverstoß aus der vermeintlich sicheren Deckung des Protokollfeh41

BGH GSSt 1/06, St 51, 298 (317 Rn. 65). BT-Drucks. 16/11736, S. 13; Meyer-Goßner § 273 Rn. 7 ff; BeckOK-Peglau StPO § 273 Rn. 21. 43 Zachariae I S. 146. 42

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lers heraus zu rügen versuchen, um eigene Versäumnisse in der Instanzverteidigung zu kompensieren und gegebenenfalls auch einen Haftungsfall zu umgehen. Heute wie seit jeher gilt somit: Verzichtbar ist die Rügeverkümmerung allemal.

Die Bedeutung der Beschwer im Rechtsmittelsystem der StPO Überlegungen anhand von Entscheidungen bezüglich stationärer Maßregeln der Besserung und Sicherung HENNING RADTKE

I. Begriff und Funktion der Beschwer 1. Zweck und Aufgaben von Rechtsmitteln Rechtsmittel dienen im Strafverfahrensrecht u.a. dazu einen Ausgleich zwischen der notwendigen Rechtssicherheit durch rechtskräftige Entscheidung über den Verfahrensgegenstand einerseits und der gerechten Entscheidung darüber andererseits zu schaffen.1 Ein solcher Ausgleich ist erforderlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei lediglich einmaliger gerichtlicher Prüfung einer Strafsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fehler unterlaufen, die der Erreichung des Verfahrensziels, der Wiederherstellung eines durch den Straftatverdacht beeinträchtigten, normativ gedeuteten Rechtsfriedens,2 zuwider laufen könnten. Auch wenn regelmäßig Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bei Erreichung einer gerechten Entscheidung über die Rechtssache bereits im ersten Rechtszug gleichermaßen verwirklicht werden können, ist angesichts begrenzter prozessualer Erkenntnismöglichkeiten über das der Sache zugrunde liegende tatsächliche Geschehen sowie der kaum auszuschließenden Möglichkeit von Fehlern in der Anwendung des Rechts auf den ermittelten Sachverhalt ein latentes Spannungsverhältnis, anders formuliert ein Zielkonflikt, zwischen Rechtssicher1 Vgl. Krack Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 9 f; siehe auch Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 22. 2 Dippel FS Widmaier, 2008, 113; Duttge ZStW 115 (2003), 546 f; Geppert GedS Schlüchter, 2002, 47; Krack (Fn. 1) S. 46; Rieß JR 2006, 270 f; Sternberg-Lieben ZStW 108 (1996), 725 ff; Radtke FS Schreiber, 2003, 375; Radtke/Hohmann-Radtke Einl. Rn. 4; siehe auch Weigend Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 213 ff; ders. ZStW 113 (2001), 276; grundlegend zur Bedeutung eines normativ gedeuteten Rechtsfriedens Schmidhäuser FS Eb. Schmidt, 1961, 511 ff; krit. zum Verfahrensziel „Rechtsfrieden“ etwa Murmann GA 2004, 69 ff.

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heit und materieller Gerechtigkeit zu konstatieren;3 seine Bedeutung wird jedoch regelmäßig überschätzt.4 Ungeachtet dessen kann im einzelnen Strafverfahren das Ziel der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, verstanden als Zustand, in dem von der Rechtsgemeinschaft erwartet werden kann, sich über das durch den Straftatverdacht beeinträchtigte Normvertrauen zu beruhigen,5 allenfalls erreicht werden, wenn ein Instrumentarium existiert, das eine Korrektur möglicher Defizite in Bezug auf die Herbeiführung einer gerechten Entscheidung über die Strafsache gestattet. Dieses Instrumentarium bilden die Rechtsmittel des Strafverfahrensrechts, die durch einige Rechtsbehelfe,6 auf die hier nicht einzugehen ist, ergänzt werden. Mit der Überprüfung der ersten gerichtlichen Entscheidung in einer weiteren Instanz darf regelmäßig die Erwartung verbunden werden, sich der gerechten Entscheidung (noch) stärker anzunähern.7 Von der Rechtsgemeinschaft kann dann wegen der regelmäßig erhöhten Gerechtigkeitsgewähr erwartet werden, sich über den vorgeworfenen Rechtsbruch des Abgeurteilten zu beruhigen, weil auf diesen mit einer gerechten, dem materiellen Strafrecht entsprechenden Entscheidung über den gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten erhobenen Straftatverdacht reagiert worden ist.

2. Anfechtungs- bzw. Rechtsmittelbefugnis Obwohl strafprozessuale Rechtsmittel zumindest auch der Herbeiführung eines gerechten „Urteils“ über die einzelne Rechtssache dienen, folgt aus dieser Zweckbestimmung nach insoweit allgemeinem Verständnis nicht, dass jeder Verfahrensbeteiligte und erst recht nicht ein am Verfahren unbeteiligter Dritter unbegrenzt von einem nach dem Gesetz statthaften Rechtsmittel zulässig Gebrauch machen darf. Vielmehr wird die Erhebung eines gegen die fragliche Entscheidung an sich statthaften Rechtsmittels durch gesetzliche Einzelregelungen verschiedenen Verfahrensbeteiligten in unterschiedlicher Weise oder in unterschiedlichem Umfang eingeräumt und damit vor allem begrenzt. So setzen etwa § 395 Abs. 4 S. 2 und § 401 Abs. 1 3

Kaiser Die Beschwer als Voraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel, 1993, S. 84 ff; Krack (Fn. 1) S. 10. 4 Ausführlich Radtke Die Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß, 1993, S. 41 ff. 5 Vgl. Schmidhäuser FS Eb. Schmidt, 1961, 511, 522; siehe auch Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 200 ff. 6 Zum System strafprozessualer Rechtsmittel und Rechtsbehelfe ausführlich SK-Frisch Vor § 296 StPO Rn. 10 f. 7 Auch wenn durch ein weiteres Prozedieren in einer weiteren Instanz oder gar einer Wiederaufnahme angesichts möglicher Verschlechterung der Zuverlässigkeit von Beweismitteln allein aufgrund Zeitablaufs ungerechtere Entscheidung als zuvor im Einzelfall nicht sicher ausgeschlossen werden können, vgl. Radtke (Fn. 4) S. 41 ff.

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S. 1 StPO für den Nebenkläger, eindeutig ein Verfahrensbeteiligter, zwar grundsätzlich die Befugnis, eigenständig und unabhängig von der Staatsanwaltschaft Rechtsmittel gegen ein Urteil im Verfahren gegen den Angeklagten einzulegen, voraus. § 400 Abs. 1 StPO beschränkt diese Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers in Bezug auf die Anfechtung von Urteilen jedoch erheblich. Die Staatsanwaltschaft ist im Gegensatz dazu vollumfänglich berechtigt, das entsprechende Urteil mit den statthaften Rechtsmitteln zuungunsten und zugunsten des Angeklagten anzufechten (vgl. § 296 StPO). Die durch das Gesetz verliehene Berechtigung eines Verfahrensbeteiligten, ein statthaftes Rechtsmittel einzulegen, wird üblicherweise als Anfechtungsbefugnis, gelegentlich auch als Rechtsmittelbefugnis bezeichnet.8 Die StPO enthält eine Vielzahl von Einzelregelungen, die Art und Umfang der Anfechtungsbefugnis für die einzelnen Verfahrensbeteiligten festlegen (etwa § 210 Abs. 2 StPO, §§ 296, 297, 298, 390 Abs. 1 S. 1 StPO, § 400 Abs. 1 S. 1 StPO). Die jeweiligen Sacherwägungen, aufgrund derer der Gesetzgeber Anfechtungsbefugnisse einräumt oder nicht einräumt, sind je nach Rechtsmittel und Anfechtungsberechtigtem unterschiedlich. Auf die einzelnen Gründe kommt es für die hier anzustellenden Erwägungen nicht an. Aus der Zusammenschau der Einzelvorschriften des geltenden Rechts über die Ausgestaltung der Anfechtungsbefugnisse wird jedenfalls deutlich, dass nicht sämtlichen Verfahrensbeteiligten die Aufgabe überantwortet ist, umfassend für eine gerechte Entscheidung über die jeweilige Strafsache Sorge tragen zu können. In Bezug auf den Verfahrensbeteiligten Nebenkläger etwa lässt sich § 400 Abs. 1 StPO als Hinweis auf eine Konzeption des Rechtsmittelsystems der StPO deuten, die Möglichkeit, Rechtsmittel zulässig einlegen zu können, Verfahrensbeteiligten grundsätzlich lediglich dann und insoweit einzuräumen, als sie ein eigenes Interesse an der der Überprüfung der anzufechtenden Entscheidung mit dem Ziel von deren Abänderung haben. Neben dem Aspekt eines eigenen berechtigten Interesses an der Überprüfung kann die jeweils konkrete Ausgestaltung der Anfechtungsbefugnis von weiteren Sacherwägungen abhängen (etwa bei den Anfechtungsbefugnissen des gesetzlichen Vertreters oder des Erziehungsberechtigten, § 298 StPO, § 67 Abs. 3 JGG). Die Begrenzung der Möglichkeiten einzelner Verfahrensbeteiligter, eine gerichtliche Entscheidung mit Rechtsmitteln anzufechten, über die Ausgestaltung der Anfechtungsbefugnis lässt angesichts der allenfalls punktuellen einschlägigen gesetzlichen Regelungen9 noch sehr weitreichende Anfechtungsmöglichkeiten. So könnte der in Bezug auf ihn betreffende Urteile und sonstige gerichtlichen Entscheidungen umfassend anfechtungsbefugte Beschuldigte bzw. Angeklagte (siehe § 296 8 9

Siehe nur Krack (Fn. 1) S. 8 f; Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 38 f. Vgl. Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 38 f m. w. N.

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Abs. 1 StPO) ohne weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen mit dem statthaften Rechtsmittel selbst ein ihn mit der Begründung erwiesener Unschuld freisprechendes Urteil anfechten. Das berechtigte Bedürfnis einer Überprüfung des Freispruchs durch den Angeklagten ist in dem Beispiel jedoch unter keinem Gesichtspunkt erkennbar.

3. Beschwer als allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung von Rechtsmitteln Jenseits der vereinzelten gesetzlichen Bestimmungen über den Umfang des Anfechtungsrechts der verschiedenen Rechtsmittelberechtigungen enthält das geschriebene Strafverfahrensrecht allerdings keine allgemeine Vorschrift, die im Sinne eines Rechtsschutzbedürfnisses den Rechtsgedanken der Bindung der Rechtsmittelbefugnis an ein eigenes Interesse des Anfechtenden an der Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung zum Ausdruck bringt. Dennoch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass dem Rechtsmittelsystem der StPO ein Erfordernis immanent ist, die Einlegung eines Rechtsmittels lediglich bei einem eigenen (berechtigten) Interesse an der Prüfung der Richtigkeit der Ausgangsentscheidung zu gestatten. Nach ganz überwiegendem Verständnis wird die Verknüpfung dieses eigenen Interesses an der Überprüfung der Ausgangsentscheidung mit der Möglichkeit, diese Prüfung durch ein Rechtsmittel zu erzwingen, über das Erfordernis der Beschwer des Anfechtenden herbeigeführt. In der aktuellen Ausgabe des mittlerweile von Bernd Schünemann bearbeiteten, jedoch über rund 40 Jahre und 16. Auflagen von Claus Roxin verfassten Lehrbuchs des Strafverfahrensrechts wird das ganz überwiegende Verständnis der Beschwer als Element des Rechtsmittelsystems der StPO präzise dargestellt: „Wer durch die Entscheidung nicht zu seinem Nachteil betroffen ist, hat an ihrer Korrektur kein rechtlich geschütztes Interesse, um dessentwillen ihm ein Rechtsmittel zur Verfügung stehen müsste. Das Vorliegen der Beschwer ist daher allgemeine sachliche Zulässigkeitsvoraussetzung einer Rechtsmitteleinlegung.“10 Die beiden zitierten Sätze breiten bereits die Grundzüge der Voraussetzungen und der Funktion der Beschwer im Sinne des überwiegenden Verständnisses in der Rechtsprechung und Wissenschaft treffend aus. Beschwer wird als allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel verstanden.11 Ob der die Anfechtung Begehrende beschwert ist, be10

Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht § 53 Rn. 11. Etwa BGHSt 33, 114 (118); BGHSt 34, 11 (12), BGHSt 37, 5 (7); BGHSt 43, 146; BGH NStZ-RR 2000, 43; OLG Hamm NJW 2007, 2057; ausführlich Kaiser (Fn. 3) S. 84 ff; AnwKStPO-Rotsch/Gasa Vorbem. zu §§ 296 ff StPO Rn. 10; KK-Paul Vor § 296 StPO Rn. 5; 11

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misst sich danach, ob ihn die fragliche Entscheidung unmittelbar beeinträchtigt,12 was nach objektiven Kriterien und nicht nach seiner subjektiven Einschätzung zu bestimmen ist.13 Als Quelle für die unmittelbare Beeinträchtigung des Rechtsmittelführers durch die angefochtene Entscheidung soll grundsätzlich lediglich deren Ausspruch, nicht aber deren Gründe herangezogen werden können (Grundsatz der Tenorbeschwer).14 Das Vorliegen einer nach Maßgabe des Vorstehenden inhaltlich ausgefüllten Beschwer ist nach Auffassung des BGH auf den Zeitpunkt des Ergehens der angefochtenen Entscheidung zu beziehen.15 Kann darauf bezogen die unmittelbare Beeinträchtigung nicht beurteilt werden, weil sich die anzufechtende Entscheidung je nach den konkreten Verhältnissen in der Zukunft für den Anfechtenden positiv oder negativ auszuwirken vermag, fehlt es an der Beschwer.16 Der BGH scheint die Bedeutung der so verstandenen Beschwer auf die einer allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel beschränken zu wollen.17 Neben der Beschwer wird ein weiteres Rechtsschutzbedürfnis als Zulässigkeitsvoraussetzung jedenfalls nicht verlangt.18 Weniger klar ist, ob die Beschwer auch im Rahmen der Prüfung der Begründetheit eines Rechtsmittels zu berücksichtigen ist. Gelegentlich hat der BGH der Beschwer ausdrücklich eine Bedeutung für den Prüfungsumfang des Rechtsmittelgerichts im Rahmen der Begründetheit abgesprochen.19 Das Rechtsmittelgericht sei, was letztlich allein für die Revision relevant ist, rechtlich nicht auf die Prüfung der den Angeklagten beschwerenden Rechts-

LR-Hanack Vor § 296 StPO Rn. 46; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 8; Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 22; SK-Frisch Vor § 296 StPO Rn. 123 jeweils m. w. N; siehe auch näher Krack (Fn. 1) S. 9 ff. 12 BGHSt 16, 374 (376); BGH wistra 1999, 347; Krack (Fn. 1) S. 10 f; KK-Paul Vor § 296 StPO Rn. 5; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 9; zweifelnd gegenüber der „Unmittelbarkeit“ LR-Hanack Vor § 296 StPO Rn. 49 f; gänzlich ablehnend Kaiser (Fn. 3) S. 43 ff. 13 BGHSt 28, 327 (330 f), OLG Düsseldorf NStZ 1993, 452; Kopp StV 1999, 122; LRHanack Vor § 296 StPO Rn. 51; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 10; Radtke/HohmannRadtke § 296 StPO Rn. 23; siehe aber auch Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 751, 760 f. 14 BGHSt 13, 75 (77); BGHSt 34, 11 (12); HK-Rautenberg § 296 StPO Rn. 11; KK-Paul Vor § 296 StPO Rn. 5a; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 11; siehe aber auch LR-Hanack Vor § 296 StPO Rn. 57. 15 BGHSt 28, 327 (331 und 332). 16 BGHSt 28, 327 (331 und 332). 17 BGHSt 37, 5 (8). 18 AnwK-StPO-Rotsch/Gasa Vorbem. zu §§ 296 ff StPO Rn. 10; zu der Bedeutung eines strafprozessualen Rechtsschutzbedürfnisses im Einzelfall Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 37 m. w. N. 19 BGHSt 37, 5 (8); siehe aber auch BGHSt 10, 358 (362); BGHSt 12, 1 (2) und OLG Köln NJW 1978, 2350.

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fehler beschränkt.20 Es wird vielmehr unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer Schuldspruchberechtigung zu Lasten des Angeklagten auf seine Sachrüge hin21 auf die umfassende Kognitionspflicht des Revisionsgerichts hingewiesen, die dieses verpflichte, den dem materiellen Strafrecht entsprechenden Schuldspruch zu erlassen.22 Nach diesem Verständnis hat das Rechtsmittelgericht seine Aburteilungspflicht auch auf den Rechtsmittelführer nicht beschwerende Umstände zu erstrecken. Ungeachtet dessen findet sich in einer Vielzahl von revisionsgerichtlichen Entscheidungen über eine zulässige Revision die Formulierung „das angefochtene Urteil weist keine den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler“ auf.23 Inwieweit eine solche Betrachtung mit der ansonsten vom BGH angenommenen Einordnung der Beschwer als allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung von strafprozessualen Rechtsmitteln vereinbar ist, gilt es nachfolgend zu erörtern.

4. Begriffliche Klärungen und sachliche Einordnung der Beschwer a) Keiner der vorstehend referierten Aspekte der Beschwer als Rechtsinstitut des strafprozessualen Rechtsmittelsystems ist unumstritten. Auf der begrifflichen Ebene werden, wie angedeutet, mit „Beschwer“ unterschiedliche Erscheinungsformen belegt.24 Beschwer bezeichnet nach ganz überwiegender Auffassung das Erfordernis einer eigenen unmittelbaren nachteiligen Betroffenheit des Rechtsmittelführers durch die angefochtene Entscheidung.25 Lediglich für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist wegen deren Aufgabe, für gesetzmäßige Entscheidungen Sorge zu tragen, nicht maßgebend, ob diese im Einzelfall nachteilig betroffen ist.26 Das unstreitige Ergebnis kann entweder so gedeutet werden, dass die Staatsanwaltschaft stets durch eine nicht gesetzmäßige gerichtliche Entscheidung beschwert ist, oder so, dass es auf eine Beschwer für deren Rechtsmittel nicht ankommt. Anderes gilt allein bei Rechtsmitteln gemäß § 296 Abs. 2 StPO, die die Staatsanwaltschaft ausschließlich zugunsten des Beschuldigten oder Angeklagten einlegt. Für solche Rechtsmittel bedarf es der nach allgemeinen Regeln zu 20

BGHSt 37, 5 (8). Exemplarisch BGHSt 21, 256 (260); BGHSt 29, 63 (66); BGH NJW 1986, 332; BGH NStZ-RR 2009, 254 f. 22 BGHSt 37, 5 (8 f). 23 Beispielsweise BGHSt 53, 191; BGH NStZ 2009, 272 f; BGH NStZ-RR 2010, 171. 24 Zutreffend Kaiser (Fn. 3) S. 9 f und S. 164 ff; Krack (Fn. 1) S. 7; siehe auch Plöttner Die Beschwer des Angeklagten im Rechtsmittelverfahren, Diss. Freiburg 1973, S. 78 f. 25 Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 23 m. w. N. 26 Vgl. KG JR 1994, 372; KK-Paul Vor § 296 StPO Rn. 6; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 16. 21

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bestimmenden Beschwer des Angeklagten.27 Von diesen lediglich die Staatsanwaltschaft betreffenden Besonderheiten abgesehen bezeichnet der Begriff der Beschwer die Notwendigkeit nachteiliger Betroffenheit des Rechtsmittelführers durch die fragliche gerichtliche Entscheidung. b) Von der so verstandenen Beschwer sollte begrifflich der Aspekt getrennt werden, ob und in welchem Umfang im Rahmen der Revision der Rechtsmittelführer mit Erfolg in der Sache lediglich solche Rechtsfehler geltend machen kann, die sich als Verletzung einer seinem Schutz dienenden Norm erweisen.28 Für die Berufung stellt sich die Frage wegen der im Grundsatz vollständig neuen Ausübung der Kognitionspflicht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht. Bei der Revision ist das beschriebene Phänomen der Berücksichtigung der Schutzrichtung der verletzten Rechtsnorm dagegen sowohl bei Verfahrensrügen als auch – wie Krack aufgezeigt hat – bei der Sachrüge von Belang.29 Wie sich aus der Relevanz der Schutzrichtung der verletzten Rechtsnorm ergibt, handelt es sich um einen der Begründetheit der Revision zugehörigen Aspekt. Nur wenn die verletzte Vorschrift dem Schutz des Angeklagten als Revisionsführer dient (in den Fällen des § 296 Abs. 2 StPO gilt Gleiches für die Revision der Staatsanwaltschaft), kann er in der Sache mit seinem Rechtsmittel Erfolg haben. Ein einheitlich verwendeter Begriff ist für das beschriebene Phänomen noch nicht gefunden. Teils wird von „Rügekompetenz“30, teils von „Gesetzesverletzungsbeschwer“31 gesprochen. Wieder andere sehen darin lediglich einen Teilaspekt des Beruhens.32 Die Rechtsprechung der Revisionsgerichte differenziert im Gegensatz dazu begrifflich regelmäßig nicht präzise zwischen der Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung und der Schutzrichtung einer verletzten Rechtsnorm als Element der Begründetheit einer Revision. Vielmehr findet sich vor allem in Verwerfungsbeschlüssen wegen offensichtlicher Unbegründetheit der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO die bereits angesprochene Formulierung, das angefochtene tatrichterliche Urteil enthalte keine den Angeklagten „beschwerenden Rechtsfehler“.33 Dabei wird soweit ersichtlich mit der Formel wiederum Unterschiedliches zum Ausdruck gebracht. Einerseits bezieht sich die Formulierung implizit auf die

27

Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 32. Kaiser (Fn. 3) S. 164 f; Krack (Fn. 1) S. 8. 29 Krack (Fn. 1) S. 15 f. 30 Krack (Fn. 1) S. 8. 31 Kaiser (Fn. 3) S. 165. 32 Gössel FS Bockelmann, 1979, 801, 814 ff. 33 Lediglich exemplarisch aus jüngerer Zeit BGHSt 53, 191; BGH NStZ 2009, 272 f; BGH NStZ-RR 2010, 171; siehe auch BGH NStZ 2008, 565 f. 28

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Beruhensfrage,34 andererseits werden auch Schutzzweckerwägungen mit der Formulierung bezeichnet.35 Unabhängig davon findet der Begriff Beschwer eindeutig als Element der Begründetheit einer zulässigen Revision Verwendung. Diese Unklarheit bei der Bildung des Begriffs und dessen Verwendung führt zu Missverständnissen bei der Bedeutung der Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung. Um Missdeutungen zu vermeiden, sollte der Begriff Beschwer lediglich verwendet werden, um das Erfordernis einer nachteiligen eigenen Betroffenheit des Rechtsmittelführers als Voraussetzung eines Rechtsmittels zum Ausdruck zu bringen.36 Beschränkt man die Beschwer als Element des strafprozessualen Rechtsmittelsystems darauf, handelt es sich bei dieser, wie von der überwiegenden Auffassung zu Recht angenommen, um eine allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung von Rechtsmitteln. Sie ist eine spezifische Erscheinungsform des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses in der Anwendung auf Rechtsmittel. c) Bei einer Beschränkung des Begriffs der Beschwer auf das Erfordernis einer eigenen unmittelbaren Betroffenheit des Rechtsmittelführers durch die angefochtene Entscheidung verliert ein Teil der gegen das herrschende Verständnis von der Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung teils an Gewicht teils vollständig an Bedeutung. So kann an der zeitweilig stark,37 aktuell dagegen nur noch sporadisch vertretenen Auffassung,38 als Voraussetzung eines strafprozessualen Rechtsmittels genüge die „Behauptung einer Beschwer“, nicht festgehalten werden. Diese möglicherweise von dem Verständnis der Klagebefugnis im Verwaltungsprozessrecht (§ 42 Abs. 2 VwGO), für die die Möglichkeit einer Verletzung eigener Rechte des Klägers ausreichen soll,39 beeinflusste Auffassung verkennt die Beschränkung der Beschwer als allein auf das Vorliegen einer dem Rechtsmittelführer nachteiligen Entscheidung abstellende Zulässigkeitsvoraussetzung und vermischt die Beschwer mit Fragen der – im Sinne Kracks – Rügekompetenz und des Beruhens.40 Im Übrigen ergeben sich im praktischen Ergebnis kaum Unterschiede zwischen der „Behauptung der Beschwer“ und ihrem 34 Etwa BGH NStZ 2008, 565 f; das Tatgericht hatte bei der Bestimmung des „Erlangten“ i.S.v. § 73 Abs. 1 S. 1 StGB fehlerhafte Maßstäbe angelegt, aus den getroffenen Feststellungen ergab sich aber, dass auch bei korrekten Maßstäben der für verfallen erklärte Betrag erreicht worden wäre. 35 Vgl. BGHSt 27, 290 ff. 36 Zutreffend Krack (Fn. 1) S. 8 oben. 37 Siehe Eb. Schmidt Nachtrag I Vorbem. vor § 296 StPO Rn. 14 f. sowie die dortigen zahlreichen N. 38 Ranft Strafprozeßrecht, 2005, Rn. 1918. 39 BVerwGE 107, 215 (217); BVerwG NVwZ 1997, 994; BVerfG ZOV 2010, 191 f; BVerwG v. 29.1.2010 – 5 B 21/09 u.a. (juris Abs. 9). 40 Die Ausführungen Eb. Schmidts Nachtrag I Vorbem. vor § 296 StPO Rn. 14 a. E., machen das ganz deutlich.

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tatsächlichen Vorliegen als Voraussetzung der Zulässigkeit. Denn selbst die Behauptung der Beschwer müsste einen Vortrag von Tatsachen verlangen, aus denen sich die konkrete Möglichkeit einer für den Rechtsmittelführer unmittelbar nachteiligen Entscheidung ergeben kann.41 Ob auf der Grundlage eines solchen Vortrags eine für den Anfechtenden unmittelbar nachteilige, ihn beeinträchtigende gerichtliche Entscheidung vorliegt, lässt sich im Regelfall ohne eine umfassende materielle Interessenabwägung entscheiden. Die Beschwer ist insoweit nicht weniger formal als andere Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels, wie etwa Form und Frist oder das Vorhandensein der Rechtsmittelberechtigung. Die kontrovers behandelten Konstellationen der Beschwer, wie etwa die bei der unterbliebenen Anordnung von stationären Maßregeln der Besserung und Sicherung mit Hilfscharakter zugunsten des Angeklagten (jedenfalls § 64 StGB und eingeschränkt § 63 StGB),42 würden auch bei einer bloßen Behauptung der Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung nicht anders zu behandeln sein. Könnte aus rechtlichen Erwägungen der Angeklagte eine Revision nicht mit Erfolg auf das Unterbleiben einer gegen ihn gerichteten Maßregelanordnung stützen, wäre auch die Behauptung, die Rechtsverletzung liege in dem Ausbleiben der Maßregel, nicht geeignet, die Zulässigkeit des Rechtsmittels herbeizuführen. Es fehlte von vornherein an der Möglichkeit einer Rechtsverletzung. Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel erfordert daher das tatsächliche Vorliegen einer für den Rechtsmittelführer nachteiligen, ihn unmittelbar beeinträchtigenden gerichtlichen Entscheidung. d) Auf der Grundlage des vorstehend Dargelegten ist das Abstellen auf den Tenor der Entscheidung und nicht (allein) auf deren Gründe als Quelle für die erforderliche unmittelbare Beeinträchtigung des Rechtsmittelführers im Grundsatz zutreffend.43 Dafür sind mit dem Ziel des Strafverfahrens und der Bedeutung der Rechtsmittel bei der Erreichung dieses Ziels zusammenhängende Erwägungen ausschlaggebend. Von der Rechtsgemeinschaft kann lediglich dann eine Beruhigung im Hinblick auf das durch den Straftatverdacht beeinträchtigte Normvertrauen erwartet werden, wenn über den Verdacht gegen den Verdächtigen eine gerechte, dem materiellen Strafrecht entsprechende Entscheidung getroffen worden ist. Wie angesprochen (oben I.1.) dienen die Rechtsmittel gerade dazu, das Ergehen einer gerechten Entscheidung sicherzustellen, indem eine – im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltete – weitere Prüfung der Entscheidung in der konkreten Strafsache 41

In Entsprechung zu den Darlegungsanforderungen der Klagebefugnis; dazu die Nachw. wie Fn. zuvor. 42 Dazu unten II. 43 Siehe bereits Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 25.

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ermöglicht wird. Die Entscheidung über die Strafsache erfolgt lediglich in der Entscheidungsformel, in der bezogen auf Urteile ausgesprochen wird, ob und wenn ja, welcher Straftaten der Angeklagte schuldig ist und welche Sanktion deshalb gegen ihn verhängt wird. Die Korrektur der durch die Urteilsformel ausgesprochenen Belastungen, die sowohl in dem Schuldspruch selbst wegen des damit verbundenen sozial-ethischen Unwerturteils44 als auch in der belastenden Sanktion liegen können, ist das Ziel des Rechtsmittels. Über die Änderung des Ausspruchs der angefochtenen Entscheidung wird durch das Rechtsmittelgericht entschieden; entweder indem es im Rahmen der Berufung seine eigene Entscheidung an die Stelle des Gerichts der Ausgangsentscheidung setzt oder indem es, wie bei der erfolgreichen Revision, das angefochtene Urteil aufhebt und zu einer neuen Entscheidung über die Sache an einen neuen Tatrichter zurückverweist. Die in § 354 Abs. 1a StPO geschaffene Möglichkeit für die Revisionsgerichte,45 eine rechtsfehlerhafte (begründete) Strafzumessungsentscheidung aufrechterhalten zu können, wenn diese sich als im Ergebnis angemessen erweist, lässt sich als Bestätigung der Sichtweise deuten, eine durch Rechtsmittel erfolgende Korrektur nur dann vorzunehmen, wenn der Urteilsausspruch den Rechtsmittelführer beeinträchtigt. Zwar betrifft die genannte Vorschrift die Begründetheit einer Revision und nicht deren Zulässigkeit. Sie bietet aber Anhalt für einen Rückschluss, die Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung lediglich auf den Entscheidungsausspruch zu beziehen. Eine unrichtige Begründung eines noch (sach)gerechten Ausspruchs über die Strafsache genügt für den Erfolg eines Rechtsmittels nicht. Das lässt den vorsichtigen Schluss zu, allein aus der Begründung einer Entscheidung keine unmittelbare Beeinträchtigung des Rechtsmittelführers ableiten zu können. Denn ein darauf ausschließlich gestütztes Rechtsmittel gegen eine dem Rechtsmittelführer im Tenor nicht beeinträchtigende Entscheidung könnte in der Sache von vornherein keinen Erfolg haben. Der Grundsatz der Tenorbeschwer ist damit an sich zutreffend und berechtigt. Die Akzeptanz des Grundsatzes als ein für die Bestimmung der Beschwer maßgeblicher schließt aber zweierlei nicht aus: (1.) Die Gründe einer angefochtenen Entscheidung können einen den Beschuldigten oder Angeklagten diskriminierenden Inhalt aufweisen oder es kann eine solche Wirkung von ihnen ausgehen. Der auf Schuldunfähigkeit gestützte Freispruch, bei dem die Begehung einer rechtswidrigen Tat des diese bestreitenden Angeklagten 44

BVerfG 96, 245 (249); H. Jung Was ist Strafe?, 2002, S. 22; Meier Strafrechtliche Sanktionen, Teil 2, 1.1.; MüKo-Radtke Vor §§ 38 ff Rn. 14. 45 Zu Bedeutung und Handhabung der Vorschrift BVerfGE 118, 212 ff; siehe auch u. a. Dehne-Niemann ZIS 2008, 239 ff; Gaede GA 2008, 394 ff; Pater/Sättele NStZ 2007, 609 ff; Peglau JR 2008, 80 ff; Maier NStZ 2008, 227 ff; Radtke FS Maiwald, 2010, 643 ff; darüber hinaus Maier/Paul NStZ 2006, 82 ff.

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festgestellt und ihm eine zur Anwendung von § 20 StGB führende „krankhafte seelische Störung“ attestiert wird, genügt als Beispiel.46 Ob solche in den Entscheidungsgründen enthaltenen nachteiligen Wirkungen im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens beseitigt werden können, lässt sich jedoch nicht aus den Anforderungen an die Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung und schon gar nicht aus dem Grundsatz der Tenorbeschwer heraus beantworten. Vielmehr ist dies eine Frage nach einem (möglicherweise) im Strafverfahren einzulösenden Rehabilitierungsanspruch des Beschuldigten oder Angeklagten.47 Die Existenz eines solchen Anspruchs ist jedoch angesichts der regelmäßig aufrecht erhalten bleibenden Unschuldsvermutung zu verneinen.48 (2.) Der Grundsatz der Tenorbeschwer ist ein Grundsatz, nicht mehr. Es ist nie ernsthaft in Zweifel gezogen worden, dass die Bedeutung der Entscheidungsformel nicht durchgängig ohne Rückgriff auf und ohne Einbeziehung der Entscheidungsgründe inhaltlich erfasst und mit einem konkreten nachvollziehbaren Inhalt versehen werden kann.49 Zwar wird sich häufig bereits aus der Entscheidungsformel allein das Vorliegen einer unmittelbaren Beeinträchtigung des Rechtsmittelführers ergeben. Das ist allerdings nicht der Fall, wenn die fragliche Entscheidung ihm zustehende Vorteile nicht gewährt. Dementsprechend ist der Angeklagte sowohl durch das Unterbleiben der Aussetzung der Vollstreckung einer aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe (im Hinblick auf die Verhängung dieser Strafe ist er es ohnehin) als auch durch das Ausbleiben einer gebotenen Gesamtstrafenbildung beschwert.50 In diesen Konstellationen gelangt der Grundsatz der Tenorbeschwer an seine Grenzen, weil sich hier aus der Urteilsformel nicht ohne Weiteres entnehmen lässt, ob die Rechtsposition des Angeklagten durch diese beeinträchtigt ist. Gerade bezüglich der unterbliebenen Bildung einer Gesamtstrafe wird sich häufig erst aus dem Zusammenhang des gesamten Urteils ergeben, ob deren Voraussetzungen vorliegen oder nicht. Der Grundsatz der Tenorbeschwer bedarf daher der Konkretisierung und Ergänzung bei Fallgestaltungen, in denen im Entscheidungsausspruch zugunsten des Rechtsmittelführers eine ihm günstige Entscheidung oder Maßnahme 46 Vgl. dazu Plöttner (Fn. 24) S. 167 ff; Bloy JuS 1986, 587; Hardtung JuS 1996, 808 f, SKFrisch Vor § 296 StPO Rn. 160; ausführlich Krack (Fn. 1) S. 183 ff mit umfassenden N. zum Streitstand S. 184 Fn. 2 und 3; siehe auch ergänzend Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 30. 47 Zutreffend wiederum Krack (Fn. 1) S. 17. 48 Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 31; für einen solchen aber Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 530 ff; in engen Grenzen auch Krack (Fn. 1) S. 227 ff; Sternberg-Lieben ZStW 108 (1996), 733 ff. 49 Ausführlich LR-Hanack Vor § 296 StPO Rn. 58 f. 50 Siehe nur BGHSt (GS) 12, 1 (9 f); BGHSt 25, 382 (383 f); KK-Paul Vor § 296 StPO Rn. 5; Radtke/Hohmann-Radtke § 296 StPO Rn. 29.

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unterbleibt. Angesichts der ansonsten für den Grundsatz der Tenorbeschwer nach überwiegendem Verständnis als maßgeblich erachten Kriterien kommt es bei dem Unterbleiben einer dem Angeklagten günstigen Entscheidung oder Maßnahme darauf an, ob sich das Unterbliebene als bei Ergehen oder Anordnung objektiv und nicht allein nach der subjektiven Einschätzung des Rechtsmittelführers günstig darstellt.51 Der Maßstab ist bezüglich des Unterbleibens nicht weniger vage als er es bei der Beurteilung der Beeinträchtigung durch die positiv getroffene Anordnung, Entscheidung, Maßnahme usw. auch ist. Letztlich lässt sich das Vorliegen der Voraussetzungen der Beschwer bei unterbliebenen Maßnahmen lediglich danach beurteilen, ob es sich um solche handelt, an denen der Rechtsmittelführer ein berechtigtes Interesse hat. Das ist jedenfalls bei allen Maßnahmen etc. der Fall, auf deren Ergehen er bei Vorliegen der jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einen Anspruch hat.52 Die eigentlich zu klärende Rechtsfrage im Kontext der Beschwer besteht damit in den Konstellationen im Urteilsausspruch unterbliebener Entscheidungen, Maßnahmen usw. in der Bestimmung der Schutzrichtung derjenigen Vorschriften, auf deren Grundlage die ausgebliebene Maßnahme hätte angeordnet werden können. Ist eine Vorschrift nicht angewendet worden, die eine Schutzrichtung auch zugunsten des Rechtsmittelführers aufweist, steht jedenfalls der Grundsatz der Tenorbeschwer der Zulässigkeit eines Rechtsmittels gegen das Unterbleiben der möglichen Entscheidung oder Maßnahme nicht entgegen.

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Zweifelnd Loos JR 1996, 81; ausdrücklich für das Abstellen auf die subjektive Einstellung des Angeklagten Janssen/Kausch JA 1981, 204; siehe auch Fezer JZ 1996, 664; Kopp StV 1999, 123; Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 753, 760 f. 52 Dabei handelt es sich nicht um eine zirkuläre Argumentation, sondern um eine Ableitung aus dem Zusammenhang zwischen der Beschwer auf der einen Seite und der im Rahmen der Begründetheit eines Rechtsmittels zu klärenden Frage des Schutzzwecks der von der angegriffenen gerichtlichen Entscheidung möglicherweise verletzten Rechtsnorm (Rügekompetenz im Sinne Kracks) auf der anderen Seite. Dient die Vorschrift, auf deren Grundlage die unterbliebene Maßnahme etc. hätte angeordnet werden können, objektiv den Interessen des Rechtsmittelführers, ist er durch das Unterbleiben auch beschwert. Ob aus der Rechtsverletzung durch Nichtanwendung der Norm der Erfolg des Rechtsmittels resultiert, ist im Rahmen der Prüfung dessen Begründetheit zu klären.

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II. Beschwer im Zusammenhang mit stationären Maßregeln der Besserung und Sicherung 1. Beschwer bei unterbliebener Maßregelanordnung im Spiegel der höchstrichterlichen Rechtsprechung Die Beurteilung der Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel bereitet keinerlei Schwierigkeiten bei der Anfechtung von gerichtlichen Entscheidungen, durch die Maßregeln der Besserung und Sicherung gegen den Angeklagten oder Beschuldigten (vgl. § 413 ff. StPO) angeordnet werden. Dieser ist im Hinblick auf die mit jeder Maßregel auch verbundene Belastung durch eine entsprechende Entscheidung jeweils beschwert. Das gilt selbst bei Freispruch wegen (nicht auszuschließender) Schuldunfähigkeit und Anordnung einer Maßregel nach §§ 63, 64 StGB, wobei die Beschwer nach ganz überwiegendem Verständnis dann auf die Maßregelanordnung beschränkt ist.53 Im Gegensatz zu diesen klaren Verhältnissen der Beschwer durch angeordnete Maßregeln wird die Zulässigkeit der Anfechtung von Entscheidungen, in denen eine von dem Angeklagten gewünschte (stationäre) Maßregel nicht angeordnet worden ist, kontrovers diskutiert.54 Die über Jahrzehnte gefestigte Rechtsprechung des BGH verneint eine (isolierte) Beschwer des die Maßregel selbst begehrenden Angeklagten.55 Die bislang allein zu der unterbliebenen Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) ergangene Rechtsprechung argumentiert auf der Grundlage der nach objektiven Maßstäben zu bestimmenden Beschwer mit der Ambivalenz der Maßregel56 im Hinblick auf mit der Unterbringung in der Entziehungsanstalt für den Angeklagten verbundene Vor- und Nachteile im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels.57 Ungeachtet der fehlenden Beschwer des Angeklagten bei Nichtanordnung der Maßregel hält der BGH aber in ebenfalls ständiger Rechtsprechung die Revisionsgerichte für befugt, auf eine zulässige Revision58 das Unterbleiben der Maßregelanordnung zu überprüfen.59 53 BGHSt 28, 327 (331); LR-Hanack Vor § 296 StPO Rn. 66 m. w. N.; Meyer-Goßner Vor § 296 StPO Rn. 13 a. E.; SK-Frisch Vor § 296 StPO Rn. 159. 54 Einführung Dencker FS Mehle, 2009, 143 ff; Kopp StV 1999, 121 f; Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 753 ff. 55 Grundlegend BGHSt 28, 327 (330 ff); im Anschluss daran u. a. BGHSt 37, 5 (7); BGHSt 38, 4 (7); BGHR StGB § 64 Ablehnung 1; BGH NStZ 2007, 213; BGH bei Becker NStZ-RR 2007, 5 (Nr. 15); BGH NStZ-RR 2008, 142 (LS); BGH NStZ-RR 2009, 252. 56 Zutreffend Dencker FS Mehle, 2009, 143, 151; Janssen/Kausch JA 1981, 204. 57 BGHSt 28, 327 (331 und 332). 58 Typischerweise weil der Angeklagte sich mit der unbeschränkten allgemeinen Sachrüge gegen die Verurteilung zu einer (regelmäßig über § 21, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten) Freiheitsstrafe wegen einer Straftat wendet, die zugleich die Anlasstat für die Unterbringung nach § 64 StGB sein kann.

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Er argumentiert mit der Beschwer als reiner Zulässigkeitsvoraussetzung, die den Umfang der materiellen Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts nicht begrenzt; dieses darf bei Ausübung seiner Kognitionspflicht den Angeklagten als Rechtsmittelführer nicht „beschwerende“ Rechtsfehler berücksichtigen, muss dies aber nicht tun. Darüber hinaus geht der BGH in den erörterten Konstellationen von der Trennbarkeit der Überprüfung der Verurteilung des suchtmittelabhängigen Angeklagten zu (Freiheits-)Strafe und der unterbliebenen Maßregelanordnung aus.60 Das Zusammenwirken der drei die Rechtsprechung zur unterbliebenen Maßregelanordnung prägenden Elemente führt dazu, tatrichterliche Urteile unter bestimmten Bedingungen vollständig der Anfechtung zu entziehen. Führt etwa die vollumfängliche Revision des suchtmittelabhängigen Angeklagten gegen ein Freiheitsstrafe verhängendes Urteil, das die Unterbringung nach § 64 StGB nicht anordnet, allein zur Aufhebung und Rückverweisung wegen der (unterbliebenen) Maßregel, kann der Angeklagte gegen das neue tatrichterliche Urteil mangels Beschwer bei erneuter Ablehnung der Maßregel nicht vorgehen.61

2. Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung von Rechtsmitteln bei wirkungsambivalenten Entscheidungsgegenständen Die Rechtsprechung des BGH zu Voraussetzungen und Umfang rechtsmittel-, vor allem revisionsgerichtlicher Überprüfungen von Entscheidungen im Kontext unterbliebener Maßregelanordnungen betrifft außer der Frage der Beschwer des Angeklagten auch die der Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung nach der Trennbarkeitsformel.62 Auf Letzteres kann aus Platzgründen nicht eingegangen werden.63 Bezüglich der hier allein zu thematisierenden Beschwer des Angeklagten, gegen den trotz entsprechenden eigenen Wunsches eine Maßregel gemäß § 64 StGB nicht angeordnet worden ist, hat die Position des BGH in jüngerer Zeit zunehmend Widerspruch erfahren.64 Die Kritik entzündet sich sowohl an dem uneingeschränkten Festhalten an dem objektiven Maßstab der Beschwer als auch an der Bedeutung, die der BGH der Ambivalenz der Maßregel und der 59

Grundlegend BGHSt 37, 5 (8 f). BGHSt 38, 362 (363 f); ausführliche Analyse bei Dencker FS Mehle, 2009, 143, 145 ff; zur Frage der Trennbarkeit auch Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 753, 765 f. 61 BGH bei Becker NStZ-RR 2007, 5 (Nr. 15). 62 Die gleichsam für die Gesamtproblematik bedeutsamen Auswirkungen des Verbots der reformatio in peius und seine Ausnahmen (§ 358 Abs. 1 und 2 StPO) werden nicht behandelt, weil sie für die Beurteilung der Beschwer nicht unmittelbar relevant sind. 63 Dazu u.a. Dencker FS Mehle, 2009, 143, 145 ff. 64 Dencker FS Mehle, 2009, 143, 150 ff; Janssen/Kausch JA 1981, 204; Schöch FS Volk, 2009, 715, 736 f; Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 753, 759 f; siehe auch Loos JR 1996, 81. 60

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damit zusammenhängenden angeblichen Unabsehbarkeit der Wirkungsrichtung (zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten) beimisst.65 Die Kritik legt auf der Grundlage der aktuellen Fassung der Vorschriften über das Vikariieren – insb. § 67 Abs. 2 S. 2 und 3; § 67 Abs. 4 StGB – dar, dass die Vorteile der Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB die durch den Angeklagten selbst beeinflussbaren Nachteile überwiegen und hält dementsprechend wenigstens den Angeklagten bei Unterbleiben der Maßregelanordnung für beschwert, der die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wünscht und therapiewillig ist.66 Beschwer des Angeklagten bei der unterbliebenen Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB anzunehmen, ist im Ergebnis zutreffend. Das lässt sich aber nicht damit begründen, allein für die genannte Konstellation und damit ausnahmsweise einen subjektiven Maßstab für die Beschwer heranzuziehen, während ansonsten das spezielle Rechtsschutzbedürfnis – nichts anderes bedeutet Beschwer – zutreffend objektiv gemessen wird. Für die Zulässigkeitsvoraussetzung ist allein der Zweck der Maßregel des § 64 StGB selbst maßgeblich. Nach im Ergebnis überwiegender Auffassung verfolgt die Unterbringung in der Entziehungsanstalt einen doppelten Zweck: Sie dient dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen suchtmittelabhängigen Tätern, indem deren Abhängigkeit als Grund ihrer Gefährlichkeit auch zu deren eigenem Wohl durch Therapie beseitigt bzw. zumindest reduziert wird.67 Selbst wenn der Therapie- bzw. Heilungszweck dem Ziel des Schutzes der Allgemeinheit nachgeordnet und lediglich als Mittel des Schutzes verstanden wird, bleibt der den Interessen des Angeklagten dienende Therapiezweck existent. Unterbleibt die Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB, begründet dies eine weiterhin objektiv verstandene Beschwer des Angeklagten. Weil diese Beschwer aber dem insoweit schweigenden Urteilstenor nicht unmittelbar entnommen werden kann, muss der Angeklagte als Rechtsmittelführer darlegen, neben der ausgesprochenen Freiheitsstrafe auch die Anordnung der Maßregel anzustreben. Nur insoweit hat die Sichtweise von der „Behauptung“ der Beschwer Berechtigung. Ob der die zusätzliche Verhängung der Unterbringung gemäß § 64 StGB begehrende Angeklagte therapiewillig und -fähig ist, betrifft ausschließlich die Begründetheit des Rechtsmittels. Wendet sich ein zu einer über § 21 StGB gemilderten Freiheitsstrafe verurteilter Angeklagter gegen das Unterbleiben der Anordnung einer Maßregel gemäß § 63 StGB, kann eine Beschwer nach 65 Siehe einerseits Loos JR 1996, 81, Janssen/Kausch JA 1981, 204 und Dencker FS Mehle, 2009, 143, 151 andererseits. 66 Dencker FS Mehle, 2009, 145, 152; Tolksdorf FS Stree/Wessels, 1993, 753, 760. 67 Etwa LK-Schöch § 64 Rn. 3; Schönke/Schröder-Stree/Kinzig § 64 Rn. 1; Meier Strafrechtliche Sanktionen Teil 5 3.2.1; siehe auch BVerfGE 91, 1 (28).

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dem zu § 64 StGB Ausgeführten nur angenommen werden, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht ausschließlich dem Schutz der Allgemeinheit vor dem defektbedingt gefährlichen Straftäter dient, sondern auch dessen Heilung oder – bei Unheilbarkeit – Pflege dient. Ob Letzteres der Fall ist, wird unterschiedlich beurteilt.68

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Vgl. BGH NStZ 2002, 534; MüKo-van Gemmeren § 63 Rn. 1 einerseits und Meier Strafrechtliche Sanktionen Teil 5 3.1.1. andererseits.

Die Ausweitung der Revision Ein neues Verständnis der sogenannten Leistungsmethode* GABRIEL PÉREZ-BARBERÁ

Der Einfluss von Claus Roxin in Lateinamerika beruht nicht allein auf seinem beeindruckenden Beitrag zum materiellen Strafrecht, sondern auch auf seinen Arbeiten im Strafprozessrecht und insbesondere auf seinem Lehrbuch, dessen Übersetzung auf unserem Kontinent große Resonanz gefunden hat. Es ist mir daher eine große Ehre, mit diesem kurzen Artikel durch ein Thema zum Strafprozessrecht zu dieser Festschrift für meinen lieben Meister beizutragen. Ich bin ihm aufrichtig dankbar, dass er meine Doktorarbeit (zum Vorsatzbegriff) betreute, während ich unter seiner Leitung an der Ludwig-Maximilians-Universität München weilte.

I. Einleitung Vor einiger Zeit erließ die Corte Suprema de Justicia de la Nacion (CSJN)** in Argentinien ein bedeutendes Urteil, welches das Rechtsmittel der strafrechtlichen Revision in meinem Land entscheidend veränderte.1 Zur Begründung dieser Entscheidung wies das Gericht darauf hin, dass nach dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IGMR) das Rechtsmittel der Revision in Costa Rica beachtlich erweitert werden müsse, damit das in Art. 8.2.h der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) festgesetzte Recht des Beschuldigten auf eine vollständige Überprüfung seiner Verurteilung durch ein höheres Gericht beachtet würde.2 Da *

Übersetzt von Anna Richter, wissenschaftliche Mitarbeiterin, München. Die CSJN ist das höchste nationale Gericht Argentiniens. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Argentinien keine Trennung zwischen dem höchsten Verfassungsgericht und dem höchsten Revisionsgericht. Prima facie vereint die CSJN einige der Kompetenzen des BGH und des BVerfG in sich (Anm. d. Ü.). 1 Urteil vom 20.09.2005 (siehe CSJN, Fallos, 328:3399). 2 Vgl. CSJN, Fallos, 328:3399, Abs. 32 und 33. **

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das Rechtsmittel der Revision in Argentinien identisch mit demjenigen Costa Ricas war, bestand nach Auffassung der CSJN die Gefahr, dass der argentinische Staat wegen der Nichteinhaltung dieser Norm der AMRK international verurteilt werden würde.3 Das argentinische Gericht erinnerte auch daran, dass Spanien aus ähnlichen Gründen vom UNMenschenrechtsaus-schuss verurteilt worden sei.4 Um die Gefahr einer internationalen Verurteilung zu vermeiden, sah es die CSJN als notwendig an, die argentinischen Revisionsgerichten anzuweisen, den Anwendungsbereich dieses Rechtsmittels so weit wie möglich auszudehnen, so dass die Überprüfung einer verurteilenden Entscheidung auch die Kontrolle der sog. Tatfragen umfasse; zumindest jedenfalls die Kontrolle derjenigen Fragen, die nicht direkt von der Unmittelbarkeit abhängig seien.5 Zur Untermauerung dieser Entscheidung zitierte das Gericht die unter dem Namen „Leistungsmethode“ oder „Leistungstheorie“ bekannte deutsche Lehrmeinung, welche, so der CSJN, in ihrem Ursprungsland die herrschende Meinung darstelle.6 Die vorliegende Arbeit wird versuchen zu zeigen, dass die Leistungsmethode in Deutschland nicht die herrschende Meinung ist und dass sie auch nicht dazu geeignet ist, eine haltbare Begründung für die Entscheidung darzubieten, das Rechtsmittel der Revision dahingehend auszuweiten, dass dieses eine vollständige Kontrolle der verurteilenden Entscheidung garantiere, und sogar Tatfragen umfasse, die bis heute nicht revisibel sind. Ich werde vorschlagen, die Hauptidee der Leistungsmethode zu präzisieren, damit dann eine wirkliche Ausweitung des Rechtsmittels der Revision garantiert werden kann, und dieses hierdurch mit den gegenwärtigen internationalen Anforderungen der Menschenrechte vereinbar wird. Mein Entwurf ist sowohl im argentinischen als auch im deutschen Rechtssystem anwendbar.

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CSJN, Fallos, 328:3399, Abs. 33. CSJN, Fallos, 328:3399. Es bezieht sich auf die Mitteilungen 701/1996 und 1007/2001 des UN-Menschenrechtsausschusses, in welchen erklärt wurde, dass das Rechtsmittel der Revision, so wie es in Spanien angewandt wurde, Art. 14.5 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verletzte. Zum Zeitpunkt dieser Erklärungen des Ausschusses wurde die Revision in Spanien tatsächlich sehr ähnlich geregelt und angewandt wie heute in Deutschland, weswegen auch Deutschland eine ähnliche Sanktion auferlegt werden könnte. Siehe in diesem Sinne Art. 849 ff. der spanischen Ley de Enjuiciamiento Criminal (spanische Strafprozessordnung, Anm. d. Ü.) und §§ 337 f StPO. 5 CSJN, Fallos, 328:3399, Abs. 34. 6 CSJN, Fallos, 328:3399, Abs. 23-26. 4

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II. Die Leistungsmethode in Deutschland 1. Darstellung Diese Methode oder „Theorie“ ist ein alter Ansatz in der Lehre, deren erste Formulierung zu Recht aufgrund eines Artikels aus dem Jahre 1938 Peters zugeschrieben wird.7 Ihm folgte dann – wenn auch mit wichtigen Unterschieden zwischen ihren Anhängern – Mitte des 20. Jahrhunderts ein Teil der Lehre nach, nämlich insbesondere Henkel,8 Eberhard Schmidt,9 Warda10 und Zipf11. Sie alle beschäftigte die Debatte über die Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfragen. Jedoch kritisierte niemand die Unterscheidung an sich, sie stellten vielmehr die Nützlichkeit oder Richtigkeit der Verwendung dieser Unterscheidung als Trennlinie zwischen dem in der Revision Überprüfbaren und dem Nichtüberprüfbaren infrage.12 Im Folgenden wird allein die Meinung Peters` dargelegt, da sie die repräsentativste ist. Sodann wird aufgezeigt, wie die spätere Rechtsprechung und Lehre auf die Leistungsmethode reagiert haben. Schließlich werde ich meinen Standpunkt begründen. Peters – der „Begründer“ und Hauptrepräsentant der Leistungsmethode – betont, dass im Strafprozess die Festlegung der Tatsachen nach den Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit erfolge, da diese deren zuverlässige Ermittlung im öffentlichen Prozess garantieren. Er hält es für unmöglich, dass die der Hauptverhandlung nachfolgende Rechtsmittelinstanz unter voller Berücksichtigung der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit durchgeführt werden könne. Daher habe derjenige, der die Form zurückweise, in welcher die Revision geregelt sei, nur zwei Wege: entweder die Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit während der Hauptverhandlung auszuklammern oder auf ein Rechtsmittel gegen das Urteil vor einem höheren Gericht zu verzichten. Da beide Wege wenig ratsam erscheinen, sei es besser, die Revision mit ihren Einschränkungen beizubehalten. Dies bedeutet allerdings nicht zugleich, dass nicht einige von Peters für wichtig erachtete Veränderungen vorgenommen werden sollten.13

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Veröffentlicht in ZStW 57 (1938), 53 ff. Vgl. Henkel Strafverfahrensrecht, 1953, S. 431 f. 9 Vgl. LK-Eb. Schmidt II § 337 Rn. 5 ff. 10 Vgl. Warda Grundlagen, 1962, S. 73 ff. 11 Zipf Strafmaßrevision, 1969, S. 174. 12 Die gegenwärtige deutsche Literatur spricht sich eindeutig für die Trennung zwischen Tat- und Rechtsfragen als Abgrenzungskriterium zwischen dem in der Revision Kontrollierbaren und dem Nichtkontrollierbaren aus, siehe unter anderen Volk Srafprozessrecht, 2002, S. 256. 13 Vgl. Peters ZStW 57 (1938), 63 ff. 8

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In diesem Sinne behauptet Peters, dass der der Revision zugewiesene Zweck – die Vereinheitlichung der Rechtsprechung und die Gerechtigkeit des konkreten Falles zu gewährleisten – kein abgrenzendes Prinzip zwischen dem durch dieses Rechtsmittel Kontrollierbaren und dem Nichtkontrollierbaren sei.14 Genauso wenig akzeptiert er das sich auf die weit verbreitete Trennung zwischen Tat- und Rechtsfragen stützende Prinzip als Unterscheidungskriterium, da er behauptet, dass weder alles, was Tatfragen betreffe, in der Revision unüberprüfbar sei, noch alles, was Rechtsfragen anbelange, revisibel sei.15 Laut Peters kann die endgültige Festlegung der Grenze zwischen dem, was in der Revision überprüfbar ist, und dem, was nicht überprüfbar ist, nicht ausgehend von theoretischen Gesichtspunkten, sondern nur von der Praxis aus erreicht werden: „Die Grenzziehung ergibt sich nicht zuletzt aus den praktischen Notwendigkeiten, Zweckmäßigkeiten und Möglichkeiten.“16 Die entscheidende Frage für das Problem der Begrenzung von einem praktischen Gesichtspunkt aus ist die folgende: „Inwieweit ist die Revisionsinstanz überhaupt in der Lage eine bessere und wertvollere Entscheidung herbeizuführen als die Vorderinstanz?“17 Maßgeblich ist also, was von einem Revisionsgericht (faktisch) überprüft werden kann. Hieraus ergibt sich auch der Name („Leistung...“) der beschriebenen Methode. Bezüglich der Reichweite dieses Unterscheidungskriteriums, d. h., was gemäß dieser Methode konkret Untersuchungsgegenstand eines Revisionsgerichts sein kann, entscheidet Peters sich für eine Art Kasuistik und führt die spezifischen Bereiche auf, die durch dieses Rechtsmittel angefochten oder gerade nicht angefochten werden können: nicht zum Beispiel die Ermessensentscheidungen zur Strafzumessung (außer wenn der begangene Fehler so schwerwiegend ist, dass er sich als unerträglich erweist) oder zu der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen; jedoch schon die in Verträgen geäußerten Willensbekundungen, amtlichen Urkunden widersprechende Entscheidungen oder solche, die logische, mathematische oder Erfahrungsregeln verletzen. All dies kann unproblematisch von einem Revisionsgericht beurteilt werden, da es zur richtigen Durchführung dieser Kontrolle weder der Unmittelbarkeit noch der Mündlichkeit bedarf.18 Unbeschadet dessen knüpft Peters insbesondere die Beweiswürdigung an das 14

Peters ZStW 57 (1938), 66 f. Peters ZStW 57 (1938), 68. 16 Peters ZStW 57 (1938), 69. 17 Peters ZStW 57 (1938), 70. 18 Peters ZStW 57 (1938), 72 ff. Er sieht die Regeln der Logik und Erfahrung als offensichtlich in der Revision überprüfbar an und stellt fest, dass diese allen bekannt und nicht von den Besonderheiten der gemäß den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit geregelten Beweisermittlung umfasst seien, Peters Strafprozeß, 1966, S. 562. 15

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allgemeine Prinzip seines Vorschlags: „Alle Feststellungen, die auf dem Ergebnis der unmittelbar-mündlichen Verhandlung beruhen, sind einer Nachprüfung in der Revisionsinstanz entzogen. Das gilt vor allem für die Beweiswürdigung. Die Bestrebungen, Eingriffe des Revisionsrichters in die Beweiswürdigung zu ermöglichen, gehen fehl“.19 „Für die Richtigkeit der Beweiswürdigung ist [das Tatgericht] allein verantwortlich“.20 Später hielt Peters diesen Gesichtspunkt in seinem Strafprozessrechtslehrbuch im Wesentlichen aufrecht, wenn auch nur in dem sehr kurzen (und dennoch oft zitierten) Hinweis, es sei entscheidend, was die Revisionsrechtsprechung im Rahmen der ihr notwendigerweise zustehenden Verfahrensart tun könne, und ob die Fehler des erstinstanzlichen Urteils allgemein oder nur in Abhängigkeit von den Eigenheiten des konkreten Falls erkennbar und verbesserbar seien.21 Die deutsche Rechtsprechung hat die Leistungsmethode niemals angewandt oder erwähnt – genauso wenig wie irgendeine andere von der Lehre auf diesem Gebiet entwickelte Methode –, um ihre Entscheidungen bezüglich des Bereichs des durch die strafrechtliche Revision Überprüfbaren zu begründen.22 Zu der späteren – und gegenwärtigen – Anerkennung der Leistungsmethode durch die Literatur dieses Landes hat die vorliegende Untersuchung zwei einander widersprechende Betrachtungen festgestellt: Einerseits behauptet Frisch, der sich hier speziell auf diese Methode oder „Theorie“ bezieht, dass es sich um eine Betrachtungsweise handle, die, falls man überhaupt sagen könne, dass sie irgendwann einmal berücksichtigt worden sei, – offensichtlich wegen ihrer Reichweite – nur begrenzte Zustimmung gefunden habe. Das fragliche Modell sei wegen des vollständigen Verzichts auf ein begrenzendes theoretisches Kriterium und auf Grundlage des Konzepts der Gesetzesverletzung überwiegend zurückgewiesen worden.23 Hanack hingegen behauptet jedoch gerade das Gegenteil: Er vertritt die Auffassung, dass die Leistungsmethode immer mehr verteidigt werde und heutzutage die herrschende Lehre darstelle.24 Die CSJN muss also diese letzte Äußerung in Betracht gezogen haben, als sie im „Casal“-Urteil be19

Vgl. Peters ZStW 57 (1938), 79 f. Peters ZStW 57 (1938), 80. 21 So in der zweiten Auflage: Peters Strafprozeß, 1966, S. 562 (Kursivsetzung durch den Verf.). 22 So deutlich Fezer Möglichkeiten, 1975, S. 85; Sarstedt/Hamm Revision, 1998, Rn. 275; Wittig GA 2000, 275 ff. Dies hindert freilich nicht daran, die Auffassung zu vertreten, dass die Rechtsprechung des BGH gelegentlich mit der Sichtweise der Leistungsmethode übereinstimme. Dies geschieht zum Beispiel, wenn der BGH es sich ausnahmsweise erlaubt, grobe Widersprüche zwischen Behauptungen im Urteil und bestimmten Feststellungen in der Akte zu überprüfen, sog. Aktenwidrigkeit, vgl. diesbezüglich KMR-Mutzbauer § 337 Rn. 48 und 147. 23 Frisch FS Eser, 2005, 263. 24 LR-Hanack Vor § 333 Rn. 5. 20

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hauptete, die Leistungsmethode sei in der deutschen Literatur vorherrschend. Es ist aber Frisch, der Recht hat: Die deutsche Literatur – außer der hier angegebenen – ist im Allgemeinen nicht der Leistungsmethode gefolgt.25

2. Kritik Neben der stillschweigenden allgemeinen Zurückweisung, hat die Leistungsmethode in ihrer erschöpfendsten Version (Peters’ Version) auch ausdrückliche Kritik erhalten. So halten in den siebziger Jahren sowohl Frisch als auch Gottwald der Methode entgegen, sie sei zu restriktiv bezüglich der revisionistischen Überprüfungsmöglichkeit der Ermessensentscheidungen des Tatrichters auf solchen Gebieten wie der Strafzumessung oder der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen. Frisch kritisiert, dass die Konzeption von Peters „zu revisionsfeindlich“ sei, was die Fehlerkontrolle bei dieser Art von Bewertungen der Strafzumessung angehe, da er sie allein auf die Fälle begrenze, in denen solche Fehler extrem schwerwiegend seien. Jedoch dürfte es nach der Auffassung von Frisch keinerlei Schwierigkeiten bereiten, dass bestimmte Ermessensentscheidungen Gegenstand der Revisionskontrolle sein könnten, wenn diese einfach nur falsch seien. Daraus folgert er, dass eine Verallgemeinerung diesbezüglich nicht möglich sei und folglich die Durchführbarkeit der Revision in diesem Bereich Fall für Fall untersucht werden müsse.26 Gottwald macht der Methode einen ähnlichen Vorwurf, was die – von Peters abgelehnte – Möglichkeit betrifft, 25

Die Autoren, welche die Leistungsmethode mit größerem oder geringerem Nachdruck vertreten, sind die bereits in den Fn. 8-11 genannten. In der Fachliteratur des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts wird sie, soweit ersichtlich, von Riess GA 1978, 270; Gössel Nachprüfung, 1982, S. 135 (der diese Methode auch als in der Lehre vorherrschend ansieht, hierfür aber nur die selben bereits angesprochenen Autoren des Beginns und der Mitte des letzten Jahrhunderts zitiert) und Krause Revision, 1995, Rn. 8, S. 6 ff. gestützt. Letzterer greift jedoch auf diese Methode zurück, um das Rechtsmittel der Revision bezüglich der Kontrolle von Tatfragen zu beschränken. In der gegenwärtigen Kommentarliteratur zur StPO erfolgt die Zurückweisung dieser Methode praktisch einstimmig, mit der wichtigen Ausnahme von KMRMutzbauer § 337 Rn. 48. Die aktuelle Lehrbuchliteratur erwähnt die Leistungsmethode im Allgemeinen nicht, oder lehnt sie implizit ab, indem entweder zugunsten der Rechtsprechungsentwicklung Stellung genommen wird, nach welcher die Tat- und Beweisfragen in der Revision nur überprüft werden können, wenn eine Verletzung der Regeln der Logik, der Erfahrung etc. stattgefunden hat (vgl. für alle Schlüchter Strafverfahren, 1981, Rn. 696 f), oder indem die Zwecke der Vereinheitlichung der Rechtsprechung und des Erreichens von Gerechtigkeit im konkreten Fall als gleichberechtigt eingeordnet werden (vgl. für alle Beulke Strafprozessrecht, 2002, Rn. 559). Nur Roxin DPP 2000, 471, streift sie, ohne sich zu ihrer Richtigkeit zu äußern (jedoch a. A., eindeutig zugunsten der Methode, noch in Kern/Roxin Strafverfahrensrecht, 1974, S. 274). 26 Vgl. Frisch Strafzumessung, 1971, S. 257 f.

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Ermessensentscheidungen bei der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen zu kontrollieren.27 Auch Fezer ist ein klarer Kritiker der Leistungsmethode. Seiner Ansicht nach steuerte die spärliche Literatur, die diese Methode aufgenommen hatte, in den Kommentaren Mitte des 20. Jahrhunderts dazu bei, dass die Möglichkeiten der revisionistischen Kontrolle nicht nur begrenzt, sondern auch eingeschränkt waren.28 Nach einer kurzen Durchsicht dieser Literatur könne sogar vermutet werden, so Fezer, dass diese einschränkende Theorie weder alle Möglichkeiten der Praxis umfasse, noch irgendein Leitkriterium für die zukünftige Rechtsprechung darbieten könne.29 Und er fügt hinzu, dass die Leistungsmethode – genauso wenig wie die theoretischen Begrenzungsversuche – in den Urteilen der Revisionsgerichte überhaupt erwähnt werden und sich auch nicht auf irgendeine Entscheidung der Rechtsprechung stützen könne.30 Kurz zuvor hatte Fezer bereits festgestellt, dass auch die Leistungsmethode, welche versuche, die Trennlinie von der Praxis aus zu ziehen, nur dazu beigetragen habe, die traditionelle Hypothese zu unterstützen, wonach das Revisionsgericht die Beweiswürdigung überprüfe, soweit diese ihm zugänglich sei.31 In der Absicht, sich der Leistungsmethode zu widersetzen, schlägt Meyer als Erster eine auf einer (gesetzlichen) Aufteilung der Verantwortlichkeiten basierende Begrenzung vor. Er stellt die Prämisse auf, dass es kein a priori aufgestelltes Revisionskonzept gebe, welches allgemeingültig sei,32 und dass folglich zur Festlegung, dessen was durch ein Revisionsgericht überprüfbar sei und was nicht, zuerst seine besondere Gestaltung in der gesetzlichen Gerichtsorganisation berücksichtigt werden müsse, die jedem Gericht eine bestimmte Befugnis und hiermit auch eine bestimmte Verantwortlichkeit zuschreibe. Daher werde das Revisionsrecht vom Prinzip der Verantwortlichkeitsverteilung beherrscht.33 Meyer zieht daraus den Schluss, dass hieraus für die Leistungsmethode folge, dass die Begrenzung desjenigen, was der Untersuchung durch ein Revisionsgericht unterworfen werden könne, nicht in Abhängigkeit von dem festgelegt werden könne, was ein solches Gericht mit seinen begrenzten faktischen Kontrollmöglichkeiten 27

Vgl. Gottwald Revisionsinstanz, 1975, S. 180. Vgl. Fezer Möglichkeiten, 1975, S. 84. 29 Fezer Möglichkeiten, 1975, S. 85 (Klammern im Original). Es konnte nicht festgestellt werden, welcher Teil dieser und der vorhergehenden Seite des Buches von Fezer zitiert werden kann, um zu behaupten, dass er die Leistungsmethode vertritt, wie es jedoch zum Beispiel Riess GA 1978, 270, Fn. 78 macht. 30 Fezer Möglichkeiten, 1975, S. 85. 31 Fezer Revision, 1974, S. 6 f. 32 LR-Meyer Vor § 333 Rn. 1. 33 LR-Meyer Vor § 333 Rn. 4. 28

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„tun könne“, d. h., gemäß dem, was in einem Revisionsverfahren „realisierbar“ sei.34 Es stimme – bestätigt er –, dass ein Revisionsgericht kontrollieren könne, was sich aus schriftlichen Dokumenten ergebe, aber selbst in solchen Fällen müsse es sich wegen der unterschiedlichen Aufgabenverteilung auf die Benennung rechtlicher Fehler beschränken. Die Aufgabe, die Tatsachen festzulegen, sich über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten eine Überzeugung zu bilden und die Strafe richtig zu bemessen, sei allein dem Tatgericht zugewiesen. Dieses habe innerhalb der allgemeinen rechtlichen Schranken die Ermächtigung und Verantwortlichkeit hierfür.35 Wie man sieht, hält dieser Autor – im Gegensatz zu den bis jetzt besprochenen anderen Kritikern – der Methode nicht entgegen, sie sei bezüglich des in der Revision Überprüfbaren sehr restriktiv. Seiner Ansicht nach weitet die Methode vielmehr den Bereich des Überprüfbaren zu sehr aus und steht so im Gegensatz zu der von der Strafprozessordnung und dem Gerichtsverfassungsgesetz begründeten Verteilung von Verantwortlichkeiten. Aus diesem Grund sei die Leistungsmethode zu kritisieren. Auch in der jüngeren Ver36 37 38 gangenheit sprachen sich Maiwald, Hanack und Frisch gegen die Leistungsmethode aus.

3. Stellungnahme zur Leistungsmethode Wie man gesehen hat, wurde die Leistungsmethode in Deutschland sowohl kritisiert, weil sie als zu restriktiv bezüglich des Rahmens angesehen wurde, den sie für das in der Revision Kontrollierbare lässt (so Frisch, Gottwald und Fezer), als auch weil sie diesbezüglich als zu weit erachtet wurde (so Meyer, Hanack, später Frisch selbst). Dies kann nur ein offenkundiger Beweis dafür sein, dass das durch diese Methode aufgestellte begrenzende Prinzip an sich wenig – oder gar nicht – hilft, um seine konkrete empirische Reichweite festzulegen. Wie diese Kritiken deutlich gemacht haben, hat es sowohl dazu gedient, eine Ausweitung der Grenzen des in der 34

LR-Meyer Vor § 333 Rn. 4. LR-Meyer Vor § 333 Rn. 4. Riess, der eindeutig die Leistungsmethode vertritt (siehe Fn. 43), behauptet jedoch, dass sich diese andere Begrenzung, welche sich der Idee einer gesetzlichen Aufteilung von Verantwortlichkeiten zwischen dem Revisionsgericht und dem Tatgericht bedient, für die Behandlung von Tatfragen als leer und trivial erweise, denn sie enthalte die praktisch selbstverständliche Behauptung, der Gesetzgeber habe zwischen dem Tat- und dem Revisionsgericht die Verantwortlichkeit deshalb aufgeteilt, damit ein korrektes Urteil erlassen werde. Diese Begrenzung an sich sage jedoch nicht nichts darüber aus, wie diese Aufteilung stattzufinden habe, Riess GA 1978, 270. 36 AK-Maiwald § 337 Rn. 5. 37 LR-Hanack Vor § 333 Rn. 5. 38 Frisch FS Eser, 2005, 263. Hier vertritt Frisch, dass die fragliche Methode zu kritisieren sei, weil sie die Möglichkeit der revisionistischen Kontrolle zu sehr ausweite. 35

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Revision Kontrollierbaren zu rechtfertigen, als auch zu dessen Gegenteil. Tatsächlich wurde es so von seinem Begründer benutzt: Es ist klar, dass die ursprüngliche Intention Peters' a priori keinen die Revision erweiternden oder einschränkenden Anspruch beinhaltete. Seine eigene Darstellung zeigt, dass sein ursprünglicher Vorschlag nicht darauf gerichtet war, den Eingriffsbereich dieses Rechtsmittels in Tatfragen auszuweiten oder einzuschränken, sondern vielmehr darauf, ein Abgrenzungskriterium zu finden, das nur dazu geeignet ist, auf richtige und praktikable Weise das Revisible vom Nichtrevisiblen zu trennen. Deswegen hat er durch konkrete Beispiele nicht nur die Erweiterungsmöglichkeiten, sondern zugleich die Begrenzungsnotwendigkeiten der Methode aufgezeigt. Diese Methode stellt klar, dass sich die Bedingung der von ihm aufgestellten Regel zur Trennung des in der Revision Kontrollierbaren vom Nichtkontrollierbaren aus epistemischen Möglichkeiten ergibt (die ein Revisionsgericht kennen kann oder auch nicht). Seine Formulierung ist jedoch so allgemein gehalten, dass die Frage, welche genau diese Möglichkeiten sind, offen bleibt, bzw. von einer zu elementaren Kasuistik, die ein Leitkriterium vermissen lässt, kaum angedeutet wird. Dass diese Methode als Erweiterung oder Beschränkung der revisionistischen Kontrollmöglichkeiten in Tat- und Beweisfragen angesehen wird, hängt also nicht von ihrer Formulierung ab, sondern von der persönlichen (teleologischen) Vorstellung von den Zwecken der Revision, die derjenige hat, der sich dazu entscheidet, diese Methode als Abgrenzungskriterium zu akzeptieren oder anzuwenden. Die Methode an sich ist für die strafrechtliche Revision weder erweiternd noch einschränkend und Frisch hat Recht, wenn er feststellt, dass ihre Hauptformulierung trivial ist.39 Es gibt einen wichtigen Beweis dafür, dass die Leistungsmethode in ihrer einfachsten Formulierung („In der Revision ist alles überprüfbar, außer dasjenige, was direkt von der Unmittelbarkeit abhängt.“) wenig oder gar nichts über ihre konkrete Reichweite aussagt und sie daher in jeglichem Sinn und nicht nur zur Begründung von die Revision ausweitenden Konzeptionen vorgebracht werden kann. Der besagte Beweis besteht darin, dass sogar die restriktivsten Haltungen gegenüber der Überprüfung von Tatfragen in der Revision zur Ablehnung dieses Rechtsmittels immer zu der Idee gegriffen haben, dass das von der Unmittelbarkeit Abhängige in der Revision nicht kontrollierbar sei.40 So wird in der Revisionsrechtsprechung ein der Hauptverhandlung eigenes Prinzip maximiert, das gerade dort oft von der 39

D. h., es ist richtig, aber auch offensichtlich, dass die Grenzen des in der Revision Kontrollierbaren auch in Abhängigkeit von demjenigen gedacht werden müssen, was von einem Revisionsgericht festgestellt werden kann, so SK-Frisch § 337 Rn. 20. 40 Paradigmatisch in diesem Sinne Núñez Contralor, 1989, S. 15 f.

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Praxis minimiert wird. Denn zumindest in Argentinien machen die Tatgerichte – im Allgemeinen unter dem Schutz gesetzlicher Ermächtigungen – permanent Ausnahmen von dem Unmittelbarkeitsgrundsatz, um die Verlesung von Akten während der Hauptverhandlung zu genehmigen, womit diese gelegentlich völlig entstellt wird: „Was in der Rechtsmittelinstanz als notwendige negative Bedingung gestellt wird … scheint bei der tatrichterlichen Entscheidung entbehrlich zu sein“.41 Die Schlussfolgerung ist also offensichtlich: Die Leistungsmethode hat nicht die mehrheitliche Unterstützung der Literatur in Deutschland gefunden, sie wurde nie von der Rechtsprechung anerkannt und so wie sie bis jetzt verstanden wird, bietet sie keinerlei theoretisches oder praktisches Fundament, von dem aus erweiternde (oder begrenzende) Bestrebungen zur Überprüfung von Tatfragen in der Revision begründet werden können. Diese Basis hängt streng genommen davon ab, was man als von der Unmittelbarkeit umfasst versteht. Dieses Problem wird in den folgenden Punkten angesprochen.

III. Zu einem anderen Verständnis der Leistungsmethode: Die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Wie sich herausgestellt hat, besteht die Hauptschwierigkeit der ursprünglichen Formulierung der Leistungsmethode darin, dass sie kein allgemeines klares und überzeugendes Kriterium dafür bietet, was als notwendig aus der Unmittelbarkeit herrührend verstanden werden muss, um dann dasjenige festlegen zu können, was nur von dem Tatgericht beurteilt werden kann (das, was aus der Unmittelbarkeit herrührt) und dasjenige, was nach der Hauptverhandlung durch ein Revisionsgericht kontrolliert werden kann (das, was nicht aus der Unmittelbarkeit herrührt). Andererseits beinhaltet diese Methode, so wie sie bis jetzt in Deutschland formuliert und verstanden wurde, keine Ausweitung der Revision, so dass auch Tatfragen neuerlich von einem übergeordneten Gericht überprüft werden könnten, wie es heutzutage die internationale Rechtsprechung zu den Menschenrechte verlangt. Auch die CSJN bietet diesbezüglich keine größeren Genauigkeiten, obwohl sie die deutsche Leistungsmethode übernommen hat. Dieses allgemeine Kriterium wurde in Argentinien jedoch bereits in einer von meinem Kollegen Bouvier und mir sogar schon vor dem Urteil der CSJN ausgearbeiteten und publizierten Arbeit entwickelt.42 Das fragliche Kriterium geht von einer Unterscheidung zwischen Inferenzaussagen und 41 42

Rodríguez Límites, 1997, S. 97, Fn. 135. Siehe diesbezüglich Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 540 ff.

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Unmittelbarkeitsaussagen aus. Inferenzaussagen rühren von anderen Aussagen her und gestalten daher Argumente oder Überlegungen. Als solche können sie von einem Gericht überprüft werden, das sich nicht in dem gleichen epistemischen Zustand befindet, wie das Gericht, vor dem sie vorgebracht wurden, da die Aufgabe der Überprüfung sich in diesen Fällen auf eine Kontrolle von Argumenten oder Inferenzen (d. h., die Beziehung zwischen Prämissen und Schlussfolgerung) begrenzt und daher von jedermann durchgeführt werden kann.43 Die Unmittelbarkeitsaussagen stammen ihrerseits aus einer Subjekt-Welt-Beziehung. Eine Unmittelbarkeitsaussage stützt sich nicht auf andere Aussagen, sondern auf Sinneswahrnehmungen des empirischen Umfeldes.44 Solche Wahrnehmungen sind Teil der persönlichen Sprache des Sprechers und sind daher intersubjektiv mitteilbar, aber nicht kontrollierbar. Meiner Meinung nach sind die Unmittelbarkeitsaussagen daher wirkliche „letzte“ Aussagen, da es „vor“ ihnen keine anderen Aussagen gibt, sondern unmittelbar eine Sinneswahrnehmung vorausgeht.45 Die Richtigkeit der Unmittelbarkeitsaussagen zu kontrollieren, bedeutet nicht, die Gültigkeit eines Arguments, die Durchführbarkeit einer Inferenz etc. zu überprüfen, sondern festzulegen, ob der Sprecher das ihn umgebende Umfeld richtig wahrgenommen hat. Hierzu ist es notwendig, sich mit diesem in epistemischer par conditio zu befinden. Die zentrale Frage ist aber die folgende: Was bewirkt unsere Unterscheidung, damit man sagen kann, auf ihrer Grundlage würden Konsequenzen erzielt, die die Revision wirklich ausweiten? Die Antwort besteht in Folgendem: Im Allgemeinen behandeln die Revisionsgerichte viele Inferenzaussagen so als wären sie Unmittelbarkeitsaussagen, weil sich viele Aussagen (die in einem bestimmten Kontext wie Schlussfolgerungen aussehen) aus verständlichen argumentationswirtschaftlichen Gründen auf implizite Prämissen stützen, d. h., auf andere Aussagen, die das Gericht nicht verdeutlicht, die es aber stillschweigend voraussetzt, um sein Argument zu errichten.46 Ein Argument oder eine Überlegung, deren Schlussfolgerung sich auf implizite Prämissen stützt, ist ein Enthymem.47 Es ist daher notwendig, klar zwischen Unmittelbarkeitsaussagen und enthymematischen 43

Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 540 ff. Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 540 ff. 45 Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 540 ff. 46 Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 539. Es wäre in der Tat wenig praktisch – und außerdem kaum machbar –, zu fordern, dass die Richter alle Prämissen verdeutlichen, auf welche sie ihre Schlussfolgerungen in den unzähligen Argumenten, die ein Urteil enthält, stützen. Angesichts der enormen argumentativen Last, die dies bedeuten würde, wären die Urteile auf diese Weise wahrscheinlich sogar unklarer. 47 Vgl. diesbezüglich Díez/Moulines Fundamentos, 1999, S. 49 f; Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 538 ff. 44

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Inferenzaussagen zu unterscheiden, um nicht dem aufgezeigten Irrtum anheim zu fallen. Denn eine enthymematische Inferenzaussage (d. h., die Schlussfolgerung einer Überlegung, die ihre Prämissen nicht verdeutlicht) kann, wenn sie nicht aufmerksam untersucht wird, wie eine „letzte“ Aussage, also wie eine Unmittelbarkeitsaussage aussehen. In Wirklichkeit ist es jedoch eine Inferenzaussage, da sie sich auf eine andere Aussage stützt, die als Prämisse wirkt, welche aber nicht verdeutlicht wurde.48 Das Erkennen und Rekonstruieren von Enthymemen verlangt selbstverständlich eine große Anstrengung von den Kontrollierenden. Dies ordnet die CSJN im „Casal“-Urteil auch ausdrücklich an: Die Revisionsgerichte sollen den größten Kontrollaufwand betreiben.49 Die hier vorgeschlagenen Unterscheidungen können daher hilfreich sein, weil sie diese Bemühung mit einer soliden theoretischen Grundlage anleiten. Je mehr Enthymeme erkannt werden, umso weiter wird die revisionistische Kontrolle fortschreiten. Denn durch die Verwechselung von Enthymemen (d. h., Inferenzaussagen, die sich auf implizite Prämissen stützen) mit Unmittelbarkeitsaussagen wird die Menge der vermeintlich nicht kontrollierbaren Aussagen eines Urteils künstlich erhöht. Interessant ist, dass dies erreicht wird, ohne dass der vom traditionellen Rechtsprechungsstandard gesetzte Rahmen der Einhaltung des Satzes vom „zureichenden Grund“ im Geringsten überschritten wird.50 Es handelt sich nämlich nur darum, eine Kontrolle der Richtigkeit der in einem Urteil verwirklichten Inferenzen durchzuführen, und zwar gerade in dem Sinne, ob die (expliziten oder impliziten) Prämissen eine genügende induktive Unterstützung der Schlussfolgerungen bieten, was schon immer Inhalt der Revisionskontrolle war.51 Für diese neue Ausweitung der Revision ist daher auch weder in Argentinien noch in Deutschland irgendein gesetzgeberischer Wandel notwendig. So sind wir zu einer Schlussfolgerung über die Ausdehnung des Unmittelbarkeitskonzepts gelangt, welche zu einer wirklichen Ausweitung der revisionistischen Kontrollmöglichkeiten ermächtigt: Nach dem hier Vertretenem ist das, was als von der Unmittelbarkeit umfasst verstanden wird, 48

Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 538 ff. CSJN, Fallos, 328:3399, Abs. 23 und 24. 50 In Deutschland wird es seit langem angewandt, siehe zum Beispiel schon RGSt 73, 248. Seit den 30. Jahren erweiterte das RG die Kontrollmöglichkeit von Tat- und Beweisfragen durch die Revision. Seiner Ansicht nach stellt es auch einen Rechtsfehler (und einen Fehler des materiellen Rechts) dar, wenn das Tatgericht es unterließ, eine plausible Möglichkeit zur Erklärung der Tatsachen zu untersuchen, die sich von der Erklärung im Urteil unterscheidet und zu einem anderen Ergebnis führen würde; vgl. hierzu Frisch FS Eser, 2005, 265. Dieses Kriterium ist mit der in Argentinien sog. „razón suficiente“ („zureichender Grund“, Anm. d. Ü.) gleichzusetzen. 51 Vgl. Pérez-Barberá/Bouvier NDP 2004/B, 545. 49

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tatsächlich etwas anderes als das, was die Revisionsgerichte sowohl in Argentinien als auch in Deutschland hierunter bist jetzt (explizit oder implizit) verstanden haben. Für sie ist nicht nur die Sinneswahrnehmung an sich, sondern auch die diesbezügliche Stellungnahme des Richters direkt durch die Unmittelbarkeit bedingt. Nach dem hier vorgestellten Kriterium betrifft diese direkte Konditionierung hingegen nur Aussagen, die ohne irgendeine Vermittlung auf Sinneswahrnehmungen des Tatgerichts bezüglich seines empirischen Umfeldes – das sich in diesem Fall auf das Geschehen in der Hauptverhandlung beschränkt – gestützt sind. Dies folgt daraus, dass die Aussage, die eine Stellungnahme des Tatrichters aufgrund einer bestimmten Sinneswahrnehmung ausdrückt (eine „Bewertung“), schon eine Inferenzaussage ist, da sie sich auf andere, wahrscheinlich implizite Aussagen stützt – die jedoch genauso gut verdeutlicht werden können –, nämlich auf die Aussagen, die es ermöglichen, den Wert dieses Beweiselements mit dem anderer Beweise zu vergleichen. Dies soll am folgenden Beispiel verdeutlicht werden: „Die Aussage von X begünstigt den Beschuldigten Y.“ Dies ist eine typische Schlussfolgerung, in welcher der Richter zu dem von einem Beweismittel Vorgebrachten Stellung nimmt, wobei diese Stellungnahme von dem in der Hauptverhandlung Wahrgenommenen abhängt. Die Schlussfolgerung rührt jedoch nicht direkt von dieser Wahrnehmung her, sondern von impliziten AussagenPrämissen, wie zum Beispiel: „Diese Aussage stimmt mit der von A überein.“; „Die Aussage von A gibt Y ein Alibi.“, etc. All dies, also die Rekonstruktion eines Enthymems und die Kontrolle der Richtigkeit von Inferenzen, kann daher sehr gut in der Revision überprüft werden. Es sind viele andere Beispiele denkbar, aber dies würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es sollte aber dennoch klar werden, dass es nicht richtig ist, a priori zu behaupten, dass zum Beispiel Aussagen über die Glaubwürdigkeit von Zeugen in der Revision kontrollierbar oder nicht kontrollierbar seien. Das gleiche gilt für jeden anderen Bereich, der mit der Beweiswürdigung verbunden ist. Alles hängt davon ab, ob es sich um Inferenzaussagen oder um Unmittelbarkeitsaussagen in dem hier erklärten Sinne handelt. Die Herausforderung besteht also darin, „sich zu bemühen“ zu ergründen, was eine Aussage stützt: ob es eine andere (explizite oder implizite) Aussage oder eine Sinneswahrnehmung ist. Es ist also zu behaupten, dass das gerade Skizzierte, mit seinem Schwerpunkt auf der Unterscheidung zwischen Inferenzaussagen und Unmittelbarkeitsaussagen, nicht nur ein präziseres Verständnis der Leistungsmethode bietet, sondern auch eine angemessene analytische Rekonstruktion des sehr weiten Kriteriums darstellt, das in Argentinien im Bereich der Revision seit dem „Casal“-Urteil der CSJN gilt, welches wirklich viel weiter geht als das in Deutschland immer noch übliche Kriterium.

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IV. Die subjektive Begrenzung der Flexibilisierung des Rechtsmittels Zum Abschluss muss in diesem Punkt eine grundlegende Klarstellung erfolgen: Diese Flexibilisierung bestimmter formaler Bedingungen der Revision zur Erreichung einer größeren Ausdehnung des revisiblen Bereiches gilt nur zugunsten des Beschuldigten, nicht zugunsten der Strafverfolgungsbehörden. Eine andere Schlussfolgerung ist auch unter Berücksichtigung der wörtlichen Bedeutung bzw. der ständigen Auslegung der Art. 8.2.h AMRK und 14.5 IPbpR durch die Rechtsprechung nicht möglich. Diese supranationale Regel ist das Einzige, was die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, ein weit reichendes oder flexibles Rechtsmittel gegen das Taturteil zu schaffen und sie bezieht sich nur auf den Beschuldigten. Hiermit soll nicht behauptet werden, dass die Staatsanwaltschaft kein Revisionseinlegungsrecht hat. Dies muss Gegenstand einer eigenen Diskussion sein, welche die Grenzen der vorliegenden Arbeit überschreiten würde.52 Ich möchte damit nur sagen, dass einstweilen nichts daran hindert, die traditionellen formellen Beschränkungen der Revision für die Staatsanwaltschaft oder den Privatkläger aufrecht zu erhalten. Dies beeinträchtigt die Waffengleichheit zwischen Beschuldigtem und Ankläger nicht, es garantiert sie im Gegenteil sogar, da der Beschuldigte gemäß den Besonderheiten des Strafprozesses notwendigerweise eine schwächere prozessuale Position innehat, als der Ankläger.

52

Zu dieser Diskussion in Argentinien siehe statt vieler Ferrante Garantía, 1995, S. 17 ff; Maier DPP I, 1996, S. 708 ff; Pastor Nueva imagen, 2001, S. 133 ff; Díaz Cantón Motivación, 2005, S. 159 ff.

VI. Europäisches, außereuropäisches und supranationales Strafrecht

Von der juristischen Entwicklungshilfe zum Rechtsdialog Prolegomena zu einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts ERIC HILGENDORF

I. Einleitung Claus Roxin gehört heute zu den bekanntesten Rechtswissenschaftern der Welt. In Ostasien, der Türkei, in Südamerika und in vielen anderen Regionen wird sein Name in einem Atemzug mit Feuerbach, Binding, von Liszt, Radbruch und Jescheck genannt. Seine Schriften sind in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt, und seine theoretischen Ansätze, etwa die Lehre von der „objektiven Zurechnung“, werden in Japan, Korea und China ebenso diskutiert wie in der Türkei und in der Spanisch sprechenden Welt. Dieser gewaltige Einfluss erregt Respekt und Bewunderung, und darüber hinaus bei denen, die an der internationalen Wirkung der deutschen Strafrechtslehre Interesse haben, auch Dankbarkeit: Der Jubilar ist der heute einflussreichste internationale Botschafter der deutschen Strafrechtswissenschaft. Es erscheint deshalb nicht unangemessen, in einer ihm gewidmeten Festschrift ein Thema zu behandeln, das bislang vernachlässigt wurde: die Frage nach den Voraussetzungen und Chancen einer künftigen internationalen Orientierungsfunktion des deutschen Strafrechtsmodells unter den Bedingungen der Globalisierung, die längst auch das Wissenschaftssystem erfasst hat.1 In einer globalisierten Welt werden rein national rechtliche Lösungsansätze zunehmend fragwürdig. Internationaler Vergleich, Abstimmung und vorsichtige Angleichung des Rechts sind die Forderungen der Zeit, wenn man nicht unmittelbar staatenübergreifende rechtliche Regelungen schaffen will, jeweils vorbereitet und flankiert durch eine international eng kooperierende Rechtswissenschaft. Allerdings scheint es die deutsche Jurisprudenz 1

R. Stichweh Universität in der Weltgesellschaft, 2010 (Luzerner Universitätsreden Nr. 19); ausf. N. Stehr Wissenschaftspolitik. Die Überwachung des Wissens, 2003, S. 245 ff.

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mit der Umsetzung dieser Einsichten und Postulate nicht eilig zu haben. Vor allem die Strafrechtswissenschaft ist nach wie vor überwiegend national orientiert, auch wenn diese Fixierung auf ein „ptolemäisches Weltbild“ im Recht2 zunehmend kritisiert wird. Die Rechtsvergleichung wird vor allem im Zivilrecht auf hohem Niveau gepflegt, im öffentlichen Recht und im Strafrecht fristet sie eher noch ein Schattendasein. Neue Initiativen, etwa in Richtung auf eine Methodendebatte für den Strafrechtsvergleich, zeigen aber, dass sich die Situation zu ändern beginnt.3 Die Etablierung von juristischen Entwicklungspartnerschaften mit anderen Staaten wird in Deutschland schon seit geraumer Zeit von Organisationen wie der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Fördereinrichtungen wie der Volkswagen- oder Fritz Thyssen-Stiftung oder von großen politischen Stiftungen wie der Konrad Adenauer-Stiftung (KAS), der Hanns Seidel-Stiftung (HSS), der Friedrich Ebert-Stiftung (FES) oder der Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNS) unterstützt. Besondere Verdienste kommen dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Alexander von Humboldt-Stiftung zu, mit deren Hilfe Studierende und ausgezeichnete jüngere Wissenschaftler aus dem Ausland nach Deutschland geholt werden und umgekehrt Deutsche im Ausland studieren und forschen können. Dies allein reicht aber nicht aus, um die Position der deutschen Wissenschaft im weltweiten Wettbewerb zu sichern und zu stärken.4 Auch die Wissenschaft selbst muss sich stärker in der internationalen Zusammenarbeit engagieren.

II. Internationalisierung des Rechts und der Rechtswissenschaft Wir erleben gegenwärtig eine Internationalisierung der Wissenschaft. Dies betrifft vor allem die Naturwissenschaften unter Einschluss der Lebenswissenschaften Biologie und Medizin. Aber auch die rechtswissenschaftliche Forschung greift zunehmend über den bloß nationalen Horizont hinaus. Zum einen zwingen internationale Forschungsverbünde in den Natur- und Lebenswissenschaften die Jurisprudenz dazu, ebenfalls eine grenzüberschreitende Perspektive einzunehmen. Ein Beispiel bildet die Diskus2

Ich übernehme diesen Ausdruck von Christoph Schönberger VRÜ 43 (2010), 6, der ihn allerdings für die Verfassungsvergleichung verwendet hat. 3 Vgl. etwa S. Beck, Ch. Burckard, B. Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, 2011. 4 Dazu auch R. Gruhlich (Hrsg.), Stategies to Win the Best. German Approaches in International Perspective. Proceedings of the Second Forum of the Internationalisation of Sciences and Humanities, December 5 – 7, 2008, Berlin. Abrufbar unter http://www.humboldtfoundation.de/web/iab-forum-2008.html.

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sion über Strafbarkeitsrisiken in der grenzüberschreitenden Stammzell- und Embryonenforschung.5 Zum anderen unterstützen die großen Forschungsförderorganisationen in zunehmendem Maße vor allem inter- bzw. transnationale Projekte, auch in der Jurisprudenz, und erzwingen so eine Öffnung der bislang bloß nationalstaatlich orientierten rechtswissenschaftlichen Forschung. Die nationalstaatliche Aufsplitterung des Rechts und der Rechtswissenschaften, die in Europa heute noch dominiert, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein gab es eine gesamteuropäische Rechtswissenschaft auf der Basis des gemeinen (römischen) Rechts.6 Ursache für die Re-Internationalisierung heute sind vor allem der Wegfall des Ost-West-Gegensatzes und das Auftreten neuartiger grenzüberschreitender, oft globaler Regelungsprobleme. Folgende, sich teilweise überlagernde Problemgruppen lassen sich unterscheiden:7 Noch am ehesten den traditionellen Problemstellungen verwandt sind (eine bloß nationale Politik überfordernde) Probleme wie Umweltverschmutzung und andere grenzüberschreitende Umweltgefahren (z. B. der Betrieb unsicherer Atomkraftwerke), grenzüberschreitende Flüchtlingsströme oder die Arbeitsmigration in wohlhabendere Staaten. Derartige Probleme lassen sich grundsätzlich durch zwischenstaatliche Kooperationen lösen. Andere Problemstellungen sind dagegen nicht auf einige wenige (benachbarte) Staaten zu begrenzen, sondern betreffen die ganze Welt. Ein aktuelles Beispiel hierfür bildet die Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und 2009; andere Beispiele sind der Klimawandel, der internationale Terrorismus und die Internetkriminalität. Internationale Probleme dieser Art erfordern internationale Regelungen, was Rechtspolitik wie Rechtswissenschaft vor neuartige Herausforderungen stellt. Ein verwandtes Problemfeld bildet der Zugang zu und die Verteilung von globalen öffentlichen Gütern wie Luft und Wasser. Viele Aufgaben, die in das hier skizzierte Problemfeld fallen, werden seit jeher vom Völkerrecht übernommen (z. B. die Verhütung und Regulierung von Kriegen). Ein neues, sehr wichtiges Arbeitsgebiet ist die Errichtung eines internationalen Klimaregimes. In den Bereich des Strafrechts fällt schließlich die erfolgreiche Errichtung eines Völkerstrafgerichtshofes. Ein dritter Problemtyp betrifft global auftretende, aber nicht ohne weiteres durch internationale Regulierung zu lösende Phänomene wie die Bildung von unregierbaren Megastädten, Unterernährung ganzer Bevölke5

Hilgendorf ZRP 2006, 22; Valerius NStZ 2008, 121. Grimm, Rechtswissenschaft – eine internationale Disziplin, in Schütte (Hrsg.), Wettlauf ums Wissen. Außenwissenschaftspolitik im Zeitalter der Wissensrevolution, 2008, S. 135. 7 Ähnlich Messner in: Meyns (Hrsg.), Handbuch Eine Welt. Entwicklung im globalen Wandel, 2009, S. 103. 6

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rungsteile oder gesellschaftliche Fragmentierung, die als Endphase von (grundsätzlich nicht unerwünschter, weil freiheitsbedingter und Freiheit fördernder) gesellschaftlicher Pluralisierung droht. Derartige Phänomene ähneln sich weltweit, ohne dass gleiche Phänomene notwendigerweise miteinander in Zusammenhang stehen müssten. So dürften sich viele Probleme in Megastädten wie Istanbul, Kairo, Mexiko City, New York, Peking, Schanghai, Seoul und Tokyo ähneln, ohne dass es zwischen ihnen direkte Interdependenzverhältnisse gibt. Derartige Probleme werden auch in Zukunft in erster Linie von den nationalen Regierungen und den nationalen Gesetzgebern geregelt werden müssen; es entsteht jedoch ein „weites Feld für internationale Lerngemeinschaften: Erfahrungen anderer Länder und Regionen können systematisch ausgewertet werden, bi- und multilaterale Pilotprojekte zur Lösung ähnlich gelagerter Probleme werden denkbar.“8 Ein vierter, besonders schwierig zu lösender Problemtyp sind Interdependenzprobleme zwischen globalen Phänomenen, etwa wenn Finanzmarktkrisen in den entwickelten westlichen Staaten in anderen Regionen der Welt Armut und Hunger hervorrufen und Regierungen destabilisieren und dadurch wiederum Migrationsbewegungen in die entwickelteren Staaten hinein hervorgerufen werden. Wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstand in einigen Staaten kann auf der Armut anderer Staaten beruhen und noch dazu die Umwelt weltweit belasten, vom einseitigen Verbrauch beschränkter natürlicher Ressourcen ganz zu schweigen. Die Bewältigung derartiger Politikfelder wirft erhebliche Probleme auf, zumal internationale Organisationen wie WTO oder IWF wegen ihrer Zuständigkeitsbeschränkungen meist nur jeweils einen Aspekt behandeln können.9

III. Grenzen und Möglichkeiten der (Straf-)Rechtswissenschaft Betrachtet man die erwähnten Problemfelder im Zusammenhang, so fällt auf, dass sich hier zwar in der Tat juristische Regelungsprobleme stellen, dass aber die anstehenden Aufgaben von der Jurisprudenz allein nicht gelöst werden können. Es handelt sich um in hohem Maß die Zuständigkeit von Einzeldisziplinen überschreitende interdisziplinäre (oder besser: transdisziplinäre) Problemstellungen. Des Weiteren verdient Hervorhebung, dass es sich bei den skizzierten Problemstellungen, selbst wenn sie in den Zuständigkeitsbereich der Rechtswissenschaft fallen, kaum um primär strafrechtliche bzw. strafrechtswissenschaftliche Aufgaben handelt. Geht man von einem rechtsstaat8 9

Messner (Fn. 7) S. 105. Messner (Fn. 7) S. 105.

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lichen Strafrechtsmodell aus, so gilt das ultima-ratio-Prinzip auch im internationalen Kontext. Besondere Zuständigkeiten kann das Strafrecht allenfalls bei der Bekämpfung von Phänomenen wie dem internationalen Terrorismus, der globalen Datennetzkriminalität oder auch der Finanzmarktkriminalität für sich beanspruchen. Ein anderes wichtiges Beispiel für einen sinnvollen Einsatz strafrechtlicher Mittel im internationalen Kontext bildet das Völkerstrafrecht, das seit dem Wegfall des Ost-WestGegensatzes einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hat. Auch das im Entstehen begriffene Europäische Strafrecht gehört in diesen Zusammenhang. Wegen seiner besonderen kulturellen Verankerung und seiner engen Verknüpfung mit der staatlichen Souveränität wird das Strafrecht aber noch auf absehbare Zeit ganz überwiegend national orientiert bleiben.10 Dies schließt nicht aus, dass erfolgreiche strafrechtliche Regelungsansätze international Modellcharakter erlangen. Regelungen bestimmter Problembereiche, etwa des Umwelt- oder des Internetstrafrechts, können anderen Staaten als Vorbild dienen, nicht im Sinne eines Maßstabes, der eins zu eins kopiert werden müsste, sondern eher im Sinne eines Regelungsbeispiels, an dessen Stärken man anknüpft, dessen Schwächen man aber zu vermeiden sucht. Auch die Strafrechtswissenschaft ist nicht an nationale Grenzen gebunden, sondern nimmt, etwa im Rahmen des Strafrechtsvergleichs oder, wie man traditionellerweise sagt, der „Strafrechtsvergleichung“, andere Strafrechtsordnungen mit in den Blick.

IV. Außenwissenschaftspolitik – Wissenschaftsaußenpolitik Ein mit dem Rechtsvergleich zusammenhängender, dennoch aber eigenständiger neuer Tätigkeitsbereich ist die „Außenwissenschaftspolitik“ bzw. die „Wissenschaftsaußenpolitik“ des Rechts. Der Begriff der „Außenwissenschaftspolitik“ wurde, soweit ersichtlich, von dem früheren Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, Georg Schütte, in die Debatte eingeführt. In einem Artikel für die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ schrieb er 2006, die Globalisierung der Wirtschaft und der Wissenschaft habe „die deutsche Wissenschaft in eine neue Phase katapultiert: eine Phase internationaler Kooperation – und Konkurrenz. Im industriellen Zeitalter begegnete Deutschland den internationalen Herausforderungen für die nationale Wirtschaft mit einer Außenwirtschaftspolitik. In der neuen Zeit globaler Wissensvernetzung und Innovationskonkurrenz braucht Deutschland eine

10

Dazu auch das „Lissabon-Urteil“ BVerfGE 123, 267.

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Außenwissenschaftspolitik.“11 Schütte bezog sich dabei insbesondere auf die Konkurrenz der Wissenschaftssysteme um die besten Forscher, die Vermeidung von „brain drain“, also der Abwanderung von begabten Wissenschaftlern in andere Länder, die Notwendigkeit neuer Schnittstellen zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung sowie einen besseren Schutz geistigen Eigentums im globalen Wettbewerb. Bald darauf griff die Friedrich Ebert-Stiftung den Faden auf und organisierte eine Tagung mit dem Titel „Wissenschaftsaußenpolitik. Deutschland als Knotenpunkt im weltweiten Wissensnetzwerk“.12 In ihrer Einleitung erklärte Anke Fuchs, die damalige Vorsitzende der Friedrich Ebert-Stiftung, „95 Prozent des weltweiten Wissens“ entstünden außerhalb Deutschlands. „Um Forschung und Entwicklung zu betreiben und Innovationen zu ermöglichen, ist Zugang zu diesem Wissen erforderlich. Nicht zuletzt lassen sich globale Fragen wie der Klimawandel und Energiesicherheit – oder auch die Finanzkrise – nur im internationalen Austausch lösen. Wissenschaft ist international, Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung sind aber immer noch weitgehend national ausgerichtet.“13 Auch wenn unklar ist, wie die Quantifizierung („95 %“) des inner- und außerhalb Deutschland entstehenden Wissens zustande kommt, erscheint das Konzept einer Internationalisierung von Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung doch einsichtig. Es gehe, so Fuchs, darum, Wissenschaft weiter zu internationalisieren und deutsche Wissenschaftler besser in internationale Netzwerke einzubinden. Außerdem müsse Deutschland zu einem „weltoffenen Land“ werden, das für ausländische Wissenschaftler attraktiv sei und es ihnen leicht mache, hier zu arbeiten. „Im Zentrum von Wissenschaftsaußenpolitik steht daher das Ziel, Deutschland zu einem Knotenpunkt im weltweiten Wissensnetzwerk zu machen.“ Dieses Ziel stimmt mit der Strategie der deutschen Bundesregierung zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung überein, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Februar 2008 vorstellte.14 Darin werden folgende Aufgaben benannt: Die Forschungszusammenarbeit mit den weltweit Besten soll gestärkt werden. Zu diesem Zweck for11

Die Zeit, Ausgabe 16 vom 12. 4. 2006, S. 83. Vgl. auch ders. (Hrsg.) Wettlauf ums Wissen (Fn. 6); zusammenfassend ders. in: Simon, Knie, Hornbostel (Hrsg.) Handbuch Wissenschaftspolitik, 2010, S. 151 ff. 12 Borgwardt (Hrsg.) Wissenschaftsaußenpolitik. Deutschland als Knotenpunkt im weltweiten Wissensnetzwerk. Konferenzbericht der Veranstaltung vom 13. November 2008, Friedrich Ebert-Stiftung, 2009. 13 Zitiert nach: Konferenzbericht (Fn. 12) S. 7. 14 Deutschlands Rolle in der globalen Wissensgesellschaft stärken. Strategie der Bundesregierung zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung, vorgelegt im Februar 2008, abrufbar unter http://www.bmbf.de/pub/Internationalisierungsstrategie.pdf.

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dert die Bundesregierung, die Kooperation deutscher Forscher mit den besten und innovativsten Wissenschaftlern außerhalb Deutschlands zu intensivieren. Des Weiteren sollen Innovationspotenziale international erschlossen werden. Dies bedeute, dass deutsche Unternehmen mit den führenden und neu entstehenden High-Tech-Standorten und den kreativsten Zentren für Forschung und Entwicklung weltweit zusammenarbeiten sollten. Darüber hinaus soll die Kooperation mit Entwicklungsländern in Bildung, Forschung und Entwicklung nachhaltig gestärkt werden. Die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit und die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien müsse besser aufeinander abgestimmt werden. Schließlich postuliert die Regierung, dass Deutschland international Verantwortung übernehmen und globale Herausforderungen bewältigen solle. Deutschland müsse durch sein Forschungs- und Innovationspotential zur Bewältigung der globalen Klima-, Ressourcen, Gesundheits-, Sicherheits- und Migrationsherausforderungen beitragen. Ein Jahr darauf, im Januar 2009, stellte das deutsche Auswärtige Amt die „Initiative Außenwissenschaftspolitik“ vor.15 Ziel der Initiative ist es, einen zusätzlichen Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit in Bildung und Forschung zu leisten. Dazu sollen sog. „Wissenschafts- und Innovationshäuser“ im Ausland errichtet werden, die bereits bestehende oder zukünftige Angebote deutscher Wissenschaftseinrichtungen vor Ort bündeln. Des Weiteren ist geplant, in ausgewählten Partnerländern unter Beteilung deutscher Hochschulen „Exzellenzzentren der Forschung und Lehre“ zu errichten. Auf diese Weise soll ein Netz von „Leuchttürmen“ wissenschaftlicher Zusammenarbeit geschaffen werden. Hochqualifizierte ausländische Akademiker seien mit attraktiven Stipendienangeboten nach Deutschland zu holen, um hier zu studieren, zu promovieren oder in der Forschung zu arbeiten. Alumni-Netzwerke (das Auswärtige Amt nennt insbesondere Alumni des DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung) sollen die internationale Zusammenarbeit erleichtern. Schließlich soll auch das internationale Angebot zum Erlernen der deutschen Sprache qualitativ und quantitativ ausgebaut werden. Dazu werden zusätzliche Stipendien für ausländische Sprachlehrer zur Weiterbildung in Deutschland in Aussicht gestellt; darüber hinaus sollen moderne Technologien wie das Internet zum Einsatz kommen.

15

www.auswaertiges-amt.de/awp.

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V. Prämissen einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts Auch wenn die Sprache der skizzierten Verlautbarungen und Absichtserklärungen bisweilen formelhaft und wenig konkret anmutet, scheint mir die Idee einer Außenpolitik der Wissenschaft, und damit auch der Rechtswissenschaft, wichtig und zukunftsweisend zu sein. Ein erster Schritt müsste wohl darin bestehen, die Problemlage realistisch, und das heißt: ohne die traditionelle nationalstaatliche Verengung, zu erfassen. Deutschland steht heute als eines der Kernländer des „civil law“ in Konkurrenz zu den Ländern, die angelsächsisches Recht praktizieren, d.h. vor allem zu England und zu den USA.16 Im Weltmaßstab scheint das case law an Bedeutung zu verlieren, dies wohl auch deshalb, weil neue technologische Herausforderungen am ehesten durch einen Gesetzgeber, und nicht durch einen auf alte Rechtsfälle blickenden Richter, bewältigt werden können. Eine Wissenschaftsaußenpolitik des Rechts hat zum zweiten zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der Außenwirkung des Rechts deutliche Unterschiede zwischen Zivilrecht, Strafrecht und (sonstigem) öffentlichem Recht bestehen. Das BGB ist weltweit rezipiert worden, v.a. in Ostasien und in Südamerika. In diesen Ländern ist der Einfluss des deutschen Zivilrechts und der deutschen Zivilrechtswissenschaft stark.17 Noch ausgeprägter ist die weltweite Rezeption des deutschen Strafrechts. Japan und Korea orientieren sich eng am deutschen Strafrechtsmodell, und über diese Länder hat deutsches Strafrecht auch in China Einfluss gewonnen.18 Auch in Südamerika ist der Einfluss des deutschen Strafrechts erheblich, ebenso schließlich in der Türkei. Aus dem öffentlichen Recht hat etwa die deutsche Ausprägung der Verfassungsgerichtsbarkeit international Einfluss genommen, u. a. auf viele Staaten der früheren Sowjetunion.19 Zu erwähnen sind schließlich auch allgemeine Kooperationen auf dem Gebiet der Rechtspolitik.20 Die Zeit eines einseitigen Rechtsexports ist jedoch vorbei.21 Dies wird gerade mit Blick auf die ostasiatischen Länder sehr deutlich. Südkorea und Japan haben mit Deutschland wirtschaftlich gleichgezogen; die Gesellschaften dort sind weit entwickelt, in manchen Bereichen, etwa der Internettechnik, sogar weiter als Deutschland. China kann schon aufgrund seiner Größe 16

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Initiative „Law made in Germany“ des Bundesministeriums für Justiz (www.lawmadeingermany.de), und dazu die Beiträge von Kamphausen DRiZ 2009, 2 und Jahn DRiZ 2009, 5; vgl. auch schon Budras DRiZ 2008, 225 und Gehb DRiZ 2008, 222. 17 Für China vgl. nur Sun Rabels Z 71 (2007), 644. 18 Dazu die Beiträge in Hilgendorf (Hrsg.) Ostasiatisches Strafrecht, 2010. 19 Arnold ZöR 61 (2006), 1. 20 Exemplarisch Busse ZG 2010, 193. 21 Andere Formen der Rechtsübernahme beschreibt eindrucksvoll Jung ZStW 121 (2009), 467.

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und seiner uralten Kultur europäisches Recht nicht einfach übernehmen. Die Zukunft gehört deshalb nicht dem einseitigen Rechtsexport, sondern dem Rechtsdialog unter Gleichen.22 Ein wichtiger Aspekt eines solchen Dialogs ist gegenseitiges Verständnis und der Abbau von Missverständnissen, also „interkulturelle Kompetenz“, die als neue Schlüsselqualifikation auch in die juristische Ausbildung eingeführt werden muss.23

VI. Ein Modell einer internationalen juristischen Zusammenarbeit Wie könnten konkrete Schritte einer zukunftsweisenden juristischen Zusammenarbeit aussehen? Folgende acht Aspekte scheinen mir von besonderer Bedeutung zu sein:24

1. Wissenschaftleraustausch Gute wissenschaftliche Kontakte beginnen mit persönlichen Begegnungen. Harmonische menschliche Beziehungen sind eine ganz wesentliche, sogar unverzichtbare Grundlage für jede längerfristig tragfähige wissenschaftliche Zusammenarbeit, in der Jurisprudenz ebenso wie in anderen Disziplinen. Am Beginn einer fruchtbaren wissenschaftlichen Partnerschaft stehen deshalb in aller Regel wechselseitige Besuche, verbunden mit Vorträgen und Diskussionen.

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Terminologisch glücklich ist deshalb die Bezeichnung „Rechtsstaatsdialog“ für die Kontakte zwischen dem Büro für legislative Angelegenheiten beim chinesischen Staatsrat und dem deutschen Bundesministerium der Justiz, welche seit Juni 2000 gepflegt werden. Allerdings gerät der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog aus politischen Gründen immer wieder ins Stocken, was auch damit zusammenhängt, dass das Programm nicht von der Wissenschaft, sondern von den genannten politischen Stellen koordiniert wird. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang das Würzburger Universitätsprojekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (www.gsik.de). 24 An einem anderen Ansatz orientieren sich die „Schweizer Richtlinien für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern“, die die Stadien einer erfolgreichen Projektzusammenarbeit wie folgt strukturieren: gemeinsame Zielvereinbarung, Aufbau wechselseitigen Vertrauens, Informationsteilung und Netzwerkentwicklung, Teilung der Verantwortung, Schaffung von Transparenz, fortlaufende Kontrolle und Bewertung der Zusammenarbeit, Verbreitung der Resultate, Anwendung der Resultate, Erhöhung der Forschungskapazitäten, Aufbau neuer Projekte auf dem Erreichten (vgl. die Guidelines for Research in Partnership with Developing Countries. 11 Principles. Swiss Commission for research Partnership with Developing Countries (KFPE), 1998, abrufbar unter http://www.kfpe.ch/key_activities/publications/guidelines/guidelines_e.php).

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2. Studentenaustausch und Doktorandenaustausch Ein zweiter wichtiger Schritt ist der Austausch von Studenten. An vielen Universitäten gibt es inzwischen Programme, die speziell auf die Bedürfnisse auswärtiger Studenten zugeschnitten sind. Zu dem Austausch von Studierenden tritt der Austausch von Doktoranden. Sie sollten idealer Weise bei ihrer Ankunft die Sprache ihres Gastlandes bereits gut beherrschen und ihr Promotionsprojekt sollte zumindest in den Grundzügen feststehen.

3. Stipendienprogramme Der Austausch von Studierenden und Doktoranden wird wesentlich erleichtert, wenn der Aufenthalt im fremden Land finanziell gefördert werden kann. In Deutschland existieren zahlreiche Institutionen, die derartige Finanzierungen ganz oder zum Teil übernehmen. Zu nennen sind vor allem der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), aber auch die verschiedenen Parteistiftungen.25 In manchen Fällen ist es möglich, ausländischen Studierenden und jungen Wissenschaftlern Mitarbeiterverträge an Lehrstühlen zu geben.26 Besondere Bedeutung kommt der Alexander von Humboldt-Stiftung zu, mit deren Hilfe vor allem der Aufenthalt exzellenter Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler in Deutschland finanziert werden kann.

4. Gemeinsame Tagungen und andere gemeinsame Projekte Die wichtigste Form einer Kooperation über den Austausch von Personen hinaus ist die Durchführung gemeinsamer Tagungen. Thematisch sollten diese Tagungen Probleme betreffen, die für alle Beteiligten von Bedeutung sind. Andere Projekte betreffen etwa die gemeinsame Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen für größere Regelungsprobleme, etwa im Zusammenhang mit Internetkriminalität, Umweltgefährdungen oder prozessualen Fragen.27 Wichtig bei allen diesen Projekten ist, dass die ausländischen Partner nicht bloß partizipieren, sondern bereits bei der Projektplanung und Projektstrukturierung als gleichberechtigte Partner eingebunden waren.28

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Vgl. oben I. Schwierigkeiten bereitet allerdings häufig das universitäre Dienstrecht, das die Anstellung von Ausländern auf Hilfskraft- und Mitarbeiterstellen erschwert. Hier ist dringend Abhilfe erforderlich. 27 Zu nennen ist etwa das in vielen Ländern intensiv diskutierte Problem der Zulässigkeit von „plea bargaining“. 28 Vgl. dazu auch die in Fn. 24 erwähnten „Schweizer Richtlinien“. 26

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5. Gemeinsame Publikationen Tagungen und andere gemeinsame Projekte lassen sich durch gemeinsame Publikationen dokumentieren. Derartige Publikationen helfen, das Erarbeitete zu verbreiten, und bilden das Fundament für weitere Kooperationsprojekte. Im Idealfall erscheinen solche Publikationen zweisprachig, doch ist dies, schon wegen der Kosten der Übersetzung und der Zeit, die für die Übersetzungen benötigt wird, nicht immer zu leisten.

6. Übersetzungen Ein ambitioniertes Projekt bilden Übersetzungen wissenschaftlicher Arbeiten.29 Schon seit vielen Jahren werden Texte deutscher Wissenschaftler, vor allem aus dem Strafrecht, aber auch aus dem Zivilrecht und aus dem öffentlichen Recht, in fremde Sprachen übertragen. Diese Arbeit war sehr wichtig und hat geholfen, die rechtswissenschaftliche Partnerschaft zwischen Deutschland und dem Ausland auf eine solide Grundlage zu stellen. Heute ist es jedoch zunehmend von Bedeutung, auch Texte ausländischer, etwa ostasiatischer, südamerikanischer oder türkischer Rechtswissenschafter in die deutsche Sprache zu übertragen. Derartige Übersetzungsprojekte sind unverzichtbar, wenn zwischen den Strafrechtswissenschaftlern unterschiedlicher Länder ein echter Dialog zustande kommen soll. Die Zeit, in der nur einseitig deutsche Texte in fremde Sprachen übersetzt wurden, sollte vorbei sein.

7. Institutionell verfestigte Zusammenarbeit: Zentren, Doktorandenprogramme Eine langfristige Zusammenarbeit setzt eine gewisse institutionelle Verfestigung der Kooperation voraus. Am Anfang steht eine Kooperation zwischen einzelnen Personen oder Lehreinheiten (Lehrstühlen), es folgen Rahmenverträge zwischen Fakultäten oder ganzen Universitäten. Gemeinsame Zentren, die unterschiedlich strukturiert sein können, erleichtern die Kooperation auf bestimmten Gebieten. Von Bedeutung kann auch die gleichberechtigte Beteiligung an Entwicklungsprojekten der GTZ (seit 1.1.2011 GIZ) oder einer anderen außeruniversitären Organisation (etwa eines Ministeriums) sein. Ein Projekt für die Zukunft sind gemeinsame Doktoranden29 Dazu umfassend Frank u.a. (Hrsg.), Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch, 2 Bände 1993 (mit grundlegenden Darlegungen zur Problematik juristischer Übersetzungen aus der Feder von Gizbert-Studnicki, Maier, Maciag, Murakami, Poczobut, Schwartz, Shiyake und von Wyk in: Frank u.a. (Hrsg.), a.a.O., Bd. 1 S. 305 ff.

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programme, in denen besonders begabte Doktoranden je einen ausländischen und einen deutschen Betreuer haben und in beiden Rechtssystemen zu Hause sind.

8. Sicherstellung der Rahmenbedingungen rechtswissenschaftlicher Arbeit Ein sehr wichtiger, leider aber oft übersehener Aspekt rechtswissenschaftlicher Zusammenarbeit betrifft die Sicherstellung angemessener Rahmenbedingungen. Die deutsche – und man darf wohl sagen: die gesamte europäische – Rechtswissenschaft befindet sich heute in einer schwierigen Situation, weil sich Kontext und Leitbild wissenschaftlicher Arbeit verändert haben. Die Naturwissenschaften prägen das Bild, das Politiker von der Wissenschaft haben, und vielfach wird versucht, die Geistes- und Sozialwissenschaften – unter Einschluss der Rechtswissenschaft – an den Stil und die Arbeitsweise der Naturwissenschaften anzupassen. Dazu gehören auch bestimmte Verfahren der Evaluation und der Messung wissenschaftlicher Leistung, z. B. durch das Zählen von Zitaten und die Bewertung von Zeitschriften nach dem sog. „impact-Faktor“. Aus Gründen, die hier nicht näher ausgeführt werden können, gibt es derzeit eine erhebliche Dominanz angelsächsischer und v.a. US-amerikanischer Wissenschaftsindizes,30 die selbst auf rechtswissenschaftliche Arbeiten angewendet werden. Es handelt sich hierbei um eine Art von modernem Wissenschaftsimperialismus. Ziel einer künftigen internationalen Zusammenarbeit sollte auch sein, diesen sehr problematischen Tendenzen gemeinsam entschlossen entgegenzutreten.

VII. Zusammenfassung Die weltweite Ausstrahlung der deutschen Strafrechtswissenschaft, wie sie sich eindrucksvoll noch einmal im Werk von Claus Roxin zeigt, darf nicht länger als selbstverständlich angenommen werden. Es bedarf vielmehr besonderer Anstrengungen, um im globalen Wettbewerb der Rechtssysteme zu bestehen. Dazu gehört insbesondere der Übergang vom einseitigen Rechtsexport und juristischer Entwicklungshilfe hin zu einem echten Rechtsdialog unter Partnern. Die Reflexion auf Voraussetzungen und Chancen einer erfolgreichen internationalen Zusammenarbeit fördert eine Reihe

30

Dies gilt v.a. für den sehr weit verbreiteten „Science Citation Index“ (SCI), der meist der Berechnung des „impact Faktor“ zugrunde gelegt wird.

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von Gesichtspunkten zutage, die Grundlage einer künftigen Außenwissenschaftspolitik des Rechts sein können.

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I. Annäherung Der hochgeschätzte Lehrmeister Claus Roxin hat mit großer Hingabe viele der wichtigen Themen des Strafrechts und des Strafprozessrechts untersucht, weshalb er zu Recht als einer der wichtigsten Rechtswissenschaftler der heutigen Zeit auf internationaler Ebene angesehen wird. 1 In seinen neuesten Werken fragt er nach den zukünftigen Aufgaben der Strafrechtswissenschaft2, wobei er auf die Notwendigkeit hinweist, die übernationalen Grundsätze des Strafrechts zu verankern. Er geht davon aus, dass es nur eine Rechtswissenschaft gibt, an deren Entwicklung die Wissenschaftler aller Länder mitwirken sollten. Um deutlich zu machen, was durch nationale Einschränkungen auf rechtlicher Ebene geschieht, erinnert uns Roxin an das Werk von Blaise Pascal, dessen „Gedanken“, worin dieser sich über die „spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt“, lustig macht3. Es ist offenkundig, dass Grenzen abgebaut werden müssen, wenn es sich um strafrechtliche Fragestellungen einer gewissen Größe handelt, jedoch immer unter Rücksichtnahme auf die Menschenrechte, welche durch die aufeinander folgenden internationalen Konventionen geformt sind. Dies ist 1

Es ist bemerkenswert, wie viele Bücher ihm zu Ehren sowohl in Deutschland (so z. B. die Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, und die Festschrift für Claus Roxin zum 75. Geburtstag, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 5/2006), wie auch auf der ganzen Welt (in Spanien, Portugal, Argentinien, etc.) veröffentlicht wurden. 2 Seine Teilnahme am Kongress „Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, Rückbesinnung und Ausblick“, an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 3. bis 6. Oktober 1999, ist besonders relevant. Dieser Kongress wurde in einem 2000 von Eser/Hassemer/Burkhardt hrsg. Buch unter demselben Titel festgehalten. Es gibt auch eine spanische Ausgabe davon, hrsg. von Francisco Muñoz Conde, mit dem Titel „La ciencia del Derecho penal ante el nuevo milenio“, 2004. 3 Roxin Die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft, 2000, S. 378. Pascal sagt: „Plaisante justice qu’une rivière borne. Vérité au-deçà des Pyrénées, erreur au-delà“, Blaise Pascal, Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets –nº 60-294, in Pensées, Fragment 94, Mercure de France, 1976. Der Begriff „plaisante“ wurde teilweise in diesem Kontext als „mutig“ übersetzt, aber seine wirkliche sehr ironische Bedeutung ist Witz oder Komik.

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keine Lösung, die in allen Fällen anwendbar ist, weil die Forderung nach einer universellen rechtlichen Hegemonie auch negative Folgen haben kann, z. B. wenn einige Regierungen sich anmaßen, den Anspruch darauf zu haben, ihr Recht auf Festnahme mutmaßlicher Verbrecher auf der ganzen Welt ausüben zu können, ohne die grundlegenden Voraussetzungen der Achtung vor der Person bzw. der Hoheitsgewalt des anderen Staates zu erfüllen, wie es aktuell im Hinblick auf einige Gesetze der USA (z. B. den „Military Commissions Act of 2006“)4 zu verzeichnen ist. Der Weg zu einem strafrechtlichen System ohne Grenzen ist besonders einfach im Bereich des internationalen Wirtschaftsstrafrechts. Diese Art von Vergehen war Thema unzähliger Studien in Europa, was gemeinsame Parameter geschaffen hat, die in einigen Jahren die Durchsetzung ähnlicher Modelle wie das der europäischen Strafverfolgung ermöglichen werden: Schutz finanzieller Interessen der Europäischen Gemeinschaft, Betrug bei Subventionen der Gemeinschaft, Vergehen der Geldwäsche, etc. 5 Es scheint, als erhöben die europäischen Regierungen wenig Einwände gegen die internationale Verfolgung solcher Vergehen. Hier beschäftigt uns jedoch vor allem die Situation vieler Staaten, in welchen auf die eine oder andere Weise das Recht eingeschränkt werden konnte und auch danach durch verschiedene Handlungen die Ausführung der Gerechtigkeit verhindert wird. Ich möchte mich in erster Linie mit der Übergangsjustiz (transitional justice) während des schwierigen Übergangs von einer Diktatur zur Demokratie befassen, welcher mehr oder minder erfolgreich im 20. Jahrhundert von verschiedenen Ländern wie Deutschland, Spanien, Jugoslawien und fast ganz Südamerika durchlebt wurde 6. Hierbei treten gemeinsame Probleme auf und werden übereinstimmende Lösungen angeboten: Forderungen nach Straffreiheit von unmittelbaren und mittelbaren Straftätern bei schlimmen Verbrechen, Erklärungen von Selbstamnestie, Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern des „Vergessens“ und denjenigen, die die Wiedergewinnung der geschichtlichen 4 Diese Regelung, erneuert im Jahre 2009, wurde von Menschenrechtlern heftig kritisiert, da sie Verletzungen der Grundfreiheiten erlaubt, indem sie Aussagen unter Zwang zulässt und die Folter von Häftlingen nicht in Frage stellt, etc., siehe Amnesty International, Military Commissions Act of 2006 – Turning bad policy into bad law (aus schlechter Politik schlechte Gesetze machen), http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR51/154/2006. Zweifelsohne bezieht sich die grundsätzliche rechtliche Debatte der USA ausschließlich auf die Unmöglichkeit, sich auf die Vorgehensweise des Habeas Corpus für nordamerikanische Bürger zu berufen. 5 Vgl. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, 1976; Dannecker JZ 1996, 870. 6 Dies war das zentrale Thema des Humboldt-Kollegs, welches von „La transformación jurídica de las dictaduras en democracias y la elaboración jurídica del pasado“ handelte und vom 7. bis 9. Februar 2008 an der Universidad Pablo de Olavide von Sevilla unter Mitwirkung von Francisco Muñoz Conde und Thomas Vormbaum stattfand.

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Erinnerung bzw. – in ausschließlich strafrechtlichen Termini – die Anwendung fast universeller dogmatischer Formeln fordern wie, was in der deutschen und lateinamerikanischen Rechtsprechung sehr verbreitet war, der durch Roxin geprägten Theorie über die mittelbare Täterschaft durch Machtapparate. Der erste Präzedenzfall von internationalem Völkerstrafrecht, auf den man nachdrücklich Bezug nimmt, fand in Deutschland im Rahmen der Nürnberger Prozesse und in Japan im Rahmen der Prozesse von Tokio statt. Diese Prozesse sind ein Meilenstein in der Geschichte ohnegleichen, da mit ihnen nicht nur diejenigen strafrechtlich verfolgt wurden, die im Zweiten Weltkrieg Grausamkeiten, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, sondern sie auch eine Mahnung an die gesamte Menschheit sein sollten im Hinblick auf die Konsequenzen, die diejenigen in Zukunft zu erwarten hätten, welche ähnliche Verbrechen begehen würden. Zweifelsohne freilich war die Botschaft von Nürnberg und Tokio ziemlich zweideutig. Zum einen arbeiteten die Gerichte nur mit einer Auswahl von Fällen, weswegen viele Kriegsverbrechen und besonders schwere Vergehen ungeahndet blieben – teilweise, weil die Verantwortlichen geflohen waren und Zuflucht in Drittländern gesucht hatten, in anderen Fällen, weil man es einfach unterließ, hochgradig in die Taten verwickelte Personen anzuklagen. Vor allem aber der Umstand, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die Siegermächte begangen hatten, nicht geahndet wurden, führte klar zu einer Entzauberung jeglicher Idee vom geschichtlichen Meilenstein – ist doch die Moral, die wir aus den Prozessen von Nürnberg und Tokio ziehen können, die: Nur wer auf der Seite der Verlierer steht, muss für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Völkermord einstehen! Auf diese dramatische Weise entstand das internationale Völkerstrafrecht mit Gerichtshöfen, vor denen nie all diejenigen erschienen sind, die hätten erscheinen sollen. Dieses Beispiel mag zumindest teilweise dazu dienen zu erklären, warum im Hinblick auf die unterschiedlichen Diktaturen bzw. antidemokratischen Bewegungen, welche auf der ganzen Welt im 20. Jahrhundert existierten, man nie wirklich die Möglichkeit erwog, deren Anführer vor Gerichte zu stellen, vor welchen sie strafrechtlich geahndet worden wären, oder zu verdeutlichen, dass es als ausreichend betrachtet wurde, um der strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, Gesetze zur Selbstamnestie zu verabschieden, die von der internationalen Gemeinschaft nicht angezweifelt werden konnten. Alle vertrauten darauf zu siegen! Wir können mit einer gewissen Bitterkeit feststellen, dass tatsächlich viele der Diktatoren, die für schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, in Straffreiheit leben oder gelebt haben, da die internationale Justiz nicht fähig war, entsprechend den Forderungen der Allgemeinen Erklärung der Men-

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schenrechte der UNO von 1948 und den nachfolgenden internationalen Konventionen in diesem Bereich zu handeln. Glücklicherweise wurde nicht in allen Fällen Straffreiheit gewährt. Der Aufbau einer Übergangsjustiz wurde nicht auf die Prozesse von Nürnberg oder Tokio begrenzt, vielmehr konnte seither in verschiedenen Situationen, unter großem Aufwand, die Verfolgung und Verurteilung von Personen erreicht werden, die in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. In diesem Zusammenhang muss man das wichtige internationale Engagement hervorheben, welches die Gründung von „ad hoc“-Gerichten für ExJugoslawien7 und Ruanda8 und natürlich die Gestaltung des Internationalen Strafgerichtshofes, gemäß den Verträgen von Rom 19989, ermöglicht hat; hierbei handelt es sich um eine Initiative, die im internationalen Rahmen noch nicht auf die Unterstützung wichtiger Länder wie der Vereinigten Staaten von Amerika, Indien, Iran, Israel, Pakistan, Russland oder China zählen kann.10 In diesem Zusammenhang möchte ich einige Beispiele nennen, in welchen das internationale Strafrecht die vorliegenden Konflikte nicht ausreichend hat bewältigen können, da die antidemokratischen Regierungen erreicht haben, dass die Bestrafungen geringer, unbedeutend oder nicht existent waren, womit jeglicher Gerechtigkeit entgegen gewirkt wurde.

II. Der Spanische Bürgerkrieg Der Spanische Bürgerkrieg, welcher am 18. Juli 1936 begann, war zweifelsohne eine der blutigsten und tragischsten Episoden der spanischen Ge7

Am 25. Mai 1993 gründete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof zur Verfolgung der internationalen Verbrechen in Ex-Jugoslawien. Das Argument für die Gründung waren die stetigen Berichte von generellen Verletzungen des Allgemeinen Menschenrechts (Völkermord, Folter, Vergewaltigungen, „ethnische Säuberung“), die in diesem Gebiet ab dem 1. Januar 1991 begangen wurden. Der Sicherheitsrat legte fest, dass alle Mitgliedstaaten der UNO dazu verpflichtet seien, das Gericht zu unterstützen. Das Statut des Gerichtshofes, welcher seinen Sitz in Den Haag hat, legt die konkurrierende Gesetzgebung fest (Art. 9.2), d. h., dass der Internationale Gerichtshof eine Vormachtstellung gegenüber den nationalen Gerichten hat, um die Verantwortlichen zu verurteilen. 8 Am 8. November 1994 gründete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Internationalen Gerichtshof zur Verurteilung der Verantwortlichen des Völkermordes und anderer schwerwiegender Vergehen gegen die Allgemeinen Menschenrechte, welche in Ruanda begangen worden waren. Der Sitz dieses Gerichtshofes ist in Arusha (Tansania). Auch in diesem Fall wird die konkurrierende Gesetzgebung angewandt (Art. 4). 9 Das Statut trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Im Gegensatz zum System derjenigen „ad hoc“Gerichte, die als Beispiel galten, besagt Art. 1 des Statuts, dass der Zugriff des Gerichtshofes ergänzend zu den Prozessen vor der nationalen Strafgerichtsbarkeit sei. 10 Am 8. September 2010 waren diese Verträge von 113 Staaten angenommen.

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schichte. Während des Krieges waren die in Europa in Kraft befindlichen Rechtssysteme überwiegend solche, welche die Gewalt verteidigten: Nazideutschland, das faschistische Italien und die Sowjetunion11. Diese drei Regimes, zusammen mit dem von Franco, verwirklichten bewusst jede Art von Autoritarismus. Der Staat war allmächtig und seine Funktionen breiteten sich aus. Wenn man sich auf das höchste Interesse des Staates berief, war alles erlaubt. Währenddessen wurde das Individuum kleiner und sah alle seine Grundrechte schwinden, die seit der Französischen Revolution eingeführt worden waren. Die Beendigung des Bürgerkrieges war der Beginn einer großen Unterdrückung. Es etablierte sich eine sinnverkehrte „Umkehrjustiz“, wie auch Marino Barbero Santos bestätigt: “Es ergab sich auf diese Weise das bittere Paradoxon, dass diejenigen, die sich nicht bewaffnet gegen die Republik erhoben hatten, sondern ihr treu geblieben waren, nun wegen Unterstützung des Aufstandes bestraft wurden“12. Nach Untersuchungen wurden 260.000 Republikaner standrechtlich erschossen, und es wurde nachgewiesen, dass es zwischen 1936 und 1962 in Spanien ca. 100 Konzentrationslager gab, die als regelrechte Zentren für Haft und Folter galten und in denen keine Form von Grundrechten eingehalten wurde. Zweifelsohne ist es immer noch unmöglich, genaue Zahlen zu nennen, wie viele Personen vom Franco-Regime umgebracht wurden, was das Wesen der systematischen Vernichtung des „republikanischen Feindes“ deutlich macht13. Diese Säuberung bzw. Vernichtung des republikanischen Sektors wurde noch ergänzt durch die weitgreifende Freisprechung von der Verantwortung an den durch die Sympathisanten der Nationalen Partei verübten Verbrechen. Das Gesetz vom 23. September 1939 betrachtet als “nicht strafbar solche Taten politisch-sozialer Art, die zwischen dem vierzehnten April Neunzehnhundertdreißig und dem achtzehnten Juli Neunzehnhundertdreiunddreißig begangen wurden“, und entschuldigt somit die schwersten Verbrechen – einschließlich des Mordes – ausgeübt von Personen, die „angetrieben waren vom hingebungsvollsten Patriotismus und die Ideale verteidigten, durch welche der ruhmreiche Sieg gegen die Volksfront erreicht werden konnte“. Hierbei ging es um „Personen, bei denen mit Sicherheit davon ausgegangen werden konnte, dass ihre Ideologie mit der Nationalistischen Bewegung übereinstimmte, immer 11

Vgl. Barbero Santos Política y Derecho penal en España, 1977, S. 62. Vgl. Barbero Santos (Fn. 11) S. 68. Auf ähnliche Weise bestätigt auch Portilla Contreras, dass „es fast ironisch wirkt, wenn man darüber nachdenkt, dass diejenigen als Aufrührer angesehen wurden, welche die konstitutionelle Gesetzmäßigkeit verteidigten gegenüber denjenigen, die sie zerstörten“, vgl. Portilla Contreras La ideología del Derecho penal durante el nacional catolicismo franquista, in: Fernández-Crehuet López/Manuel Hespanha (Hrsg.), Franquismus und Salazarismus: Legitimation durch Diktatur?, 2008, S. 102. 13 Vgl. Portilla Contreras (Fn. 12) S. 101, vor allem von Bedeutung: Anm. 3. 12

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dann, wenn die Taten aufgrund ihrer politisch-sozialen Beweggründe als Protest gegen die antipatriotische Bewegung und deren Regierung angesehen werden konnten, die durch ihr Verhalten den Aufstand provoziert hatten“14. Diese ungerechte Lösung wurde von Barbero Santos als umgekehrte Amnestie bezeichnet, da sie nicht zu Gunsten der Besiegten, wie es doch normal zu sein scheint, sondern der Sieger ausfiel15. Francisco Franco hatte bis zum Zeitpunkt seines Todes, nach 40 Jahren an der Regierung, die absolute Macht inne, während die politische Opposition verboten war16. Ein Pakt des Vergessens erlaubte einen friedlichen Übergang zur Demokratie, welcher durch das Amnestiegesetz 46/1977 vom 15. Oktober geschützt wurde, was ein Modell der Versöhnung durch Straffreiheit voraussetzte, da offenkundig alle durch Beamte begangenen Verbrechen amnestiert wurden „gegen die Ausübung des Rechtes jeder einzelnen Person, welches durch das Gesetz anerkannt ist“17. Der Übergang wurde unmittelbar von den letzten Protagonisten der Diktatur durchgeführt, welche dadurch versuchten, ihre antidemokratische Vergangenheit auszumerzen und somit frei von jeglicher Verantwortung zu bleiben. Die Missbräuche und Verbrechen, die während des Bürgerkrieges und in den langen Jahren des diktatorischen Systems begangen wurden, bleiben mit Sicherheit unbestraft. Zweifelsohne darf der Übergang von der Diktatur zum demokratischen System und der politische Preis, der manchmal gezahlt werden muss, um einen friedlichen Wandel zu ermöglichen, in der Geschichte und in der Erinnerung dessen, was wirklich passiert ist, nicht für immer Spuren hinterlassen. Das Gesetz zur historischen Erinnerung von 2007 hat in gewissem Sinne versucht, diese Situation im Sinne einer Wiedergutmachung zu bereinigen. So fördert es z. B. das Auffinden der Opfer, die in Massengräbern begraben sind, und deren Identifizierung. Es wird damit ganz allgemein versucht, die Opfer moralisch zu entschädigen, aber in keinem einzigen Falle führt dies zu strafrechtlichen Konsequenzen oder finanziellen Entschädigungen. Es wird nur generell die Ungerechtigkeit aller Festnahmen, Strafen und gegen 14

Vgl. das Gesetz vom 23.9.1939, Spanischer Staatsanzeiger Nr. 273 vom 30.9.1939. Vgl. Barbero Santos (Fn. 11) S. 70. 16 Vgl. Muñoz Conde Revista Penal 22, 2008, 70. Einer der eindeutigsten Fälle war der des Ex-Ministers Manuel Fraga Iribarne, Vermittler in den Verträgen von Moncloa, unterzeichnet am 26. Oktober 1977 unter Beteiligung von Adolfo Suárez, Felipe González, Santiago Carrillo und Fraga selbst, der sich weigerte, den politischen Teil der Verträge zu unterzeichnen. Fraga sicherte sich seine eigene Straffreiheit hinsichtlich zahlreicher Taten, wie z. B. der Hinrichtung des militanten Kämpfers gegen Franco, Julián Grimau, welcher von Fraga selbst vor der internationalen Presse in den sechziger Jahren verteidigt wurde, vgl. Lacasta-Zabalza Rev. Instituto Bartolomé de las Casas Nr. 6, 2001, S. 134. 17 Vgl. Preston Las tres Españas del 36, 1998, S. 211. Zu den strafrechtlichen Aspekte der Transition vgl. Terradillos Basoco JoJZG 2009, 1 ff. 15

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Personen gerichteter Gewaltakte verkündet, die, sowohl im Bürgerkrieg, als auch in der darauffolgenden Diktatur, aufgrund eindeutiger politischer und ideologischer Beweggründe geschehen sind. Aktuell können wir hervorheben, dass im Mai 2010 vor dem Obersten Gerichtshof von Argentinien eine Klage eingereicht wurde, die Untersuchungen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche in Spanien zwischen dem 17. Juli 1936 und dem 15. Juni 1977 begangen wurden, in Argentinien forderte. Der Antrag wurde abgelehnt, da behauptet wurde, dass das Weltrechtsprinzip in Argentinien nicht rechtsgültig sei. Es erscheint wirklich paradox, dass die spanischen Republikaner, die in den deutschen Konzentrationslagern (Mauthausen, Sachsenhausen, Flossenbürg, etc.) festgehalten wurden, vor der spanischen Justiz Gehör gefunden haben, indem diese den Klageantrag, der eingereicht wurde, um die durch die SS-Totenkopf Sturmbann18 begangenen Verbrechen zu untersuchen, und in dem vor allem die Auslieferung von Johann Leprich, Anton Tittjung, Josias Kump und Iwan (John) Demjanjuk aus den USA gefordert wurde, anerkannt hat, während dieselbe spanische Justiz unter Berufung auf das Amnestiegesetz von 1977 sich weigert, die Verbrechen des Franquismus zu untersuchen. Ob dieser Beispiele ist es nicht falsch, von einem sonderbaren „Modell spanischer Straffreiheit“ zu sprechen.

III. Die Straffreiheit in Lateinamerika und die mittelbare Täterschaft durch organisatorische Machtapparate Die große Bedeutung des Werkes von Roxin im Bereich der Täterschaftslehre vermag niemand in Frage zu stellen. Die zahlreichen Auflagen seines monumentalen Werkes „Täterschaft und Tatherrschaft“19 sind der offenkundigste Beweis seiner außerordentlichen Forschungen. In diesem Zusammenhang hat Roxin sehr innovative Theorien aufgestellt, wie die der mittelbaren Täterschaft durch Organisationsherrschaft. Diese Vorstellung wurde von ihm erstmals im Jahr 1963 geäußert, um einen soliden Grund für die Täterschaft des Angeklagten im berühmten „Fall Eichmann“ zu finden.20 In seinem Ursprung war dies für Verbrechen gedacht, die im Rahmen staat18

So die Entscheidung vom 17. Juli 2008 des Juzgado Central de Instrucción de la Audiencia Nacional, Madrid. 19 Bis hin zur 8. Auflage, 2006. 20 Roxin GA 1963, 193 ff, auch wenn der Fall „Eichmann“ mit großen geistigen Anstrengungen verbunden war, wurde die praktische Umsetzung von Roxins Theorie erst später durch den BGH (St 40, 218) gestützt, als dieser diejenigen als Verantwortliche in mittelbarer Täterschaft aufgrund Organisationsherrschaft betrachtete, die in der ehemaligen DDR für die Tötungen durch die Mauerschüsse verantwortlich waren.

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licher Machtausübung begangen wurden (Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate). Das heißt, dass die Theorie für innerhalb von totalitären Systemen begangene Delikte formuliert wurde, vor allem für die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus. Mit der Zeit wurde es zu einem dogmatischen Konzept, welches von verschiedenen Obersten Gerichtshöfen genutzt wurde, um die strafrechtliche Verantwortung der Anführer der politischen Unterdrückung in Lateinamerika zu begründen. Insofern, basierend auf der Willensherrschaft über die Tat, geht man von verschiedenen Formen mittelbarer Täterschaft aus, die sich an der Art des Mittels orientieren (wer unter Zwang handelt, aus einem Irrtum heraus etc.). Eines der in Betracht zu ziehenden Mittel der Willensherrschaft ist der organisatorische Machtapparat. Roxin nennt eine Reihe von Voraussetzungen, um in solchen Fällen die Herrschaft über die Tat dem dahinterstehenden Subjekt zuzuschreiben21. Besonders wichtig ist dabei die Notwendigkeit der Losgelöstheit von der Rechtsordnung. Nach den Theorien Roxins ist dieses Modell der Täterschaft nur auf rechtsgelöste Organisationen oder Apparate anwendbar, weshalb es nicht dazu verwendet werden könne, strafrechtliche Verantwortung von Betrieben oder Unternehmen zu begründen, welche Verbrechen im Bereich der Wirtschaft oder der Umwelt begehen. Jedenfalls aber sind auch alle totalitären Regierungen rechtsgelöst. Es ist hierbei sehr wichtig hervorzuheben, dass die Täter solcher Delikte sich nicht durch die Rechtsnormen ihres eigenen, unter ihrer Herrschaft befindlichen Staates beschützt fühlen können, da sich die Loslösung von der Rechtsordnung nicht nur auf den nationalen rechtlichen Rahmen bezieht, sondern vor allem auf die internationale Rechtsordnung, d. h. die Normen, welche die Menschenrechte unabhängig von nationalen Grenzen schützen. Diese Überlegung ist von grundlegender Wichtigkeit im Hinblick auf die Erklärungen von Selbstamnestie, welche unter den antidemokratischen Regierungen Lateinamerikas sehr verbreitet sind. Die regionale Politik Lateinamerikas war zwischen 1970 und 1990 vom Ende des Kalten Krieges und der politischen Rolle der Vereinigten Staaten geprägt, welche im Hinblick auf die Menschenrechte offenkundig gewalttätige Diktaturen – im Sinne einer Art von Kampf gegen den Kommunismus und zur Verteidigung der westlichen Werte – mit dem Argument unterstützte, damit den Einfluss Kubas und der Sowjetunion in diesem Gebiet zu verhindern. Unter diesem Vorwand verloren viele Bürger ihre Rechte, vor allem das auf Freiheit, Gesundheit und Leben. Hierbei handelte es sich um eine wahrhafte Eskalation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Geschehen, das ungerechtfertigt die grundlegenden Formen des menschlichen Miteinanders in diesem Teil der Welt zerstörte. 21

Vgl. Roxin AT II S. 46 ff.

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a) Argentinien Während der Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) ereigneten sich unzählige Verletzungen der Menschenrechte, ein unerschöpflicher Katalog von Straftaten, von denen bis heute viele ungeklärt sind, aber offenkundig stattgefunden haben und rechtlich nachgewiesen sind. Die jeweiligen Regierungschefs ordneten das „Verschwinden“ von tausenden Personen an, welche vorher in geheime Festnahmelager geschafft worden waren und von denen viele hingerichtet wurden. Nach dem Ende der Diktatur kam dem diese Verbrechen aufarbeitenden Urteil der Nationalen Berufungskammer vom 9. Dezember 1985 gegen die höchsten Verantwortlichen der Militärjunta besondere Bedeutung zu. In dieser Entscheidung bemaß man die Verantwortung der Generäle anhand der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischen Machtapparats, da die obersten Verantwortlichen die Pläne zu der dann durch abhängige Organisationen ausgeführten Vernichtung genehmigten und überwachten. In diesem Urteil wird ausdrücklich der These von Roxin Folge geleistet22. Zweifelsohne war die weitere rechtliche Behandlung nicht einfach, da das Schlusspunktgesetz vom Dezember 1986 und das Befehlsnotstandsgesetz vom Juni 1987, welche beide von demokratisch gewählten Regierungen erlassen worden waren, vorsahen, alle Verantwortlichen in Straffreiheit zu belassen. Im Laufe der Jahre und auf Grund des großen internationalen Drucks von Seiten der Gerichte und Institutionen in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland23 wurden die entlastenden Gesetze 2005 für nichtig erklärt und seit 2007 hat der Oberste Strafgerichtshof die Wiederaufnahme zahlreicher Prozesse zugelassen.

22

Es ist hierbei wichtig hervorzuheben, dass das endgültige Urteil, welches vom Obersten Strafgerichtshof am 30. Dezember 1986 gefällt wurde, die Figur des mittelbaren Täters nicht anwendet, sondern die Taten als Mittäterschaft beurteilt. 23 Als Beispiel erinnern wir daran, dass in Spanien 2005 der am argentinischen Krieg beteiligte Ex-Marineoffizier Adolfo Scilingo verurteilt wurde, der seine Beteiligung an den Todesflügen zugab, bei welchen die Häftlinge (bei lebendigem Leibe) ins Meer geworfen wurden. Seine Haftstrafe war höher als 640 Jahre. Im März 1998 wurde in Deutschland die „Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für in Argentinien verschwundene Deutsche“ gegründet, welche versucht, die Vergehen gegen die Menschenrechte, die an Deutschen und Deutschstämmigen verübt wurden, gerichtlich zu verfolgen, indem man die Schuldigen vor die jeweiligen deutschen Gerichte bringt. So wurde inzwischen wegen der Entführung und des Mordes an der deutschen Soziologin Elisabeth Käsemann im Jahr 1977, Tochter des berühmten Professors und Theologen Ernst Käsemann, vor der Staatsanwaltschaft Tübingen Strafanzeige erstattet.

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b) Chile Das chilenische Militärregime übernahm am 11. September 1973 gewaltsam die Macht. Nach Jahren der Verübung schwerster Straftaten gegen die Menschlichkeit wurde der Übergang zur Demokratie in Chile von den obersten Verantwortlichen der Diktatur vorgenommen, vor allem vom ExPräsidenten Augusto Pinochet, der im Jahr 1978 das Dekret 2191 erließ, welches der Selbstamnestie gewidmet war. Ohne jedweden Zweifel beschloss der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof 2006, dass Chile die Rechtsgültigkeit dieses Dekrets, welches Verbrechen gegen die Menschlichkeit als straffrei befand, nicht länger aufrecht erhalten könne24. In diesem Land macht jedoch der Oberste Gerichtshof alle Versuche, Untersuchungen wiederaufzunehmen, unmöglich, indem er sich auf die Existenz einer „Judikative, welche die Straffreiheit verteidigt“, beruft.25 Die allgemein der Diktatur gegenüber wohlmeinende chilenische Justiz hat wiederholt die Verjährung aller seinerzeit verübten Straftaten erklärt.

c) Peru Von Bedeutung ist hier vor allem das Urteil, das am 7. April 2009 von einer Sonderstrafkammer des Obersten Gerichtshofs der Republik Peru in der Strafsache gegen den Ex-Präsidenten Fujimori gefällt wurde. In dieser Entscheidung wurde detailliert die Theorie von Roxin untersucht, von seinen ersten Ausführungen bezüglich des Falles „Eichmann“ bis hin zu den neuesten Entwicklungen26. Man hielt es für erwiesen, dass der Ex-Präsident einen organisatorischen Machtapparat geschaffen hatte, welcher sich unter seiner Herrschaft befand, da er genügend Befehlsmacht besaß, um die direkte politische und militärische Führung im Kampf gegen den Terrorismus innezuhaben. Er gründete Organisationen mittels Einheiten und Strukturen, die vom Geheimdienst des Staates unterstützt wurden, deren Ziel unter anderem die – mittels bestimmter Vorgehensweisen des Geheimdienstes unter Beihilfe des Militärs vollzogene – körperliche Vernichtung von Mitgliedern und Sympathisanten terroristischer Gruppierungen war. Es ist nachgewiesen, dass diese Einheiten schreckliche Gemetzel an denjenigen verübten, die ver-

24

Dieses Urteil wurde am 26.9.2006 im Falle von Almonacid Arellano gefällt, welcher 1973 ermordet wurde. Der chilenische Staat wurde für diese Tat verurteilt. 25 Vgl. Hormazábal Malaree La transición de la dictadura a la democracia: el caso chileno, in: Muñoz Conde (Hrsg.), La transformación jurídica de las dictaduras en democracias y la elaboratión jurídica del pasado: Humboldt- Kolleg, 2009, S. 192. 26 Vgl. Rechtssache A.V. 19-2001, Urteil vom 7.4.2009, Rn. 723 ff.

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dächtigt wurden, den Terrorismus zu unterstützen 27. Demgemäß wurde Fujimori als Täter von 25 Morden, vier Verbrechen der schweren Körperverletzung und zwei Entführungen zur Höchststrafe von 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Man muss dabei bedenken, dass die peruanischen Gerichte sich schon zuvor auf die Theorie der Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate bezogen hatten, um den Anführer der Terroristengruppe „Leuchtender Pfad“, Abimael Guzmán, wegen „der Macht über die Gruppe und da er die politische und militärische Kontrolle über den ‚Leuchtenden Pfad‘ seiner Position wegen und der Hierarchie innerhalb des Zentralkomitees bzw. der Zentralverwaltung wegen innehatte“ zu verurteilen28.

d) Brasilien Die brasilianische Diktatur begann am 31. März 1964 und dauerte bis zum Jahre 1985. Innerhalb der nicht-demokratischen Regierungen Südamerikas war sie die Erste, und zugleich war Brasilien das letzte jener Länder, das die Diktatur beendete. Das diktatorische Regime erließ am 28. August 1979 das Gesetz 6683, welches als Erklärung der Selbstamnestie verstanden werden kann. Mit ihm befreite es sich von der strafrechtlichen Verantwortung für das Begehen aller Art von politischen Verbrechen und sonstigen Verbrechen aus politischer Motivation, wobei das Gesetz ausschließlich diejenigen begünstigte, die im Sinne des Staates gehandelt hatten. Wenn man sich auf dieses Gesetz zur Selbstamnestie bezieht, muss deutlich gemacht werden, dass bis auf den heutigen Tag die direkten und mittelbaren Täter des Falles der „Guerrilla von Araguaia“, d. h. die Verantwortlichen für Festnahme, Folter, Mord und Verschwinden von mindestens 70 Perso-

27 Es geht um Taten, die unter Namen wie „Barrios Altos“ und „La Cantuta“ bekannt wurden. Im Falle „Barrios Altos“ ermordete eine Gruppe peruanischer Soldaten 15 Personen und verletzte 4 weitere schwer, welche sich auf einem Fest befanden, auf dem sie Spenden für die Renovierung ihrer Häuser sammelten. Die tatsächlichen Täter wurden frei gesprochen, was eine bedeutende Strafe für den peruanischen Staat von Seiten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (San José, Costa Rica) im Urteil vom 14. März 2001 nach sich zog. An der Universität von La Cantuta wurden am 18. Juli 1992, unter dem Vorwand, Informationen über subversive Gruppierungen zu erhalten, 9 Studenten und ein Professor festgenommen und hingerichtet; ihre Leichname wurden eingeäschert und an einem nahe liegenden Berg begraben. 28 So drückt es das Urteil des peruanischen Obersten Gerichtshofes im Falle Fujimori aus, wobei es auf das vollstreckbare Urteil der Zweiten vorübergehenden Strafkammer des Obersten Gerichtshofes vom 14. Dezember 2007 verweist.

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nen zwischen 1972 und 1975, weiterhin straffrei sind 29. Ein jüngster Versuch, dieses Gesetz der Selbstamnestie für nicht anwendbar zu erklären, wurde vom Obersten Gerichtshof Brasiliens am 29. April 2010 abgelehnt.

IV. Das Weltrechtsprinzip Das Weltrechtsprinzip ist eines der geeignetsten Werkzeuge, um die Straffreiheit der Täter schlimmster Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche auf der Welt begangen werden, zu verhindern, wenn die Täter in ihrem Heimatstaat aufgrund eigens dafür bestimmter Gesetzgebung, wie im Fall von Gesetzen zur Selbstamnestie, oder angesichts der faktischen Machtausübung von der strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen bleiben. Dieses Prinzip findet seine historischen Grundlagen im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verfolgung der Piraterie, welche schon im französischen Gesetz vom 10. April 1825 für die Sicherheit der Schifffahrt und des maritimen Handels enthalten war. Das Weltrechtsprinzip erlaubt die Verfolgung und die Bestrafung in einem anderen Staat als demjenigen, in dem die Taten verübt wurden, basierend auf der Schwere der begangenen Verbrechen (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord etc.) und unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters. Auf diese Weise werden die Interessen, welche die gesamte internationale Gemeinschaft betreffen, geschützt, auch wenn die Verbrechen nicht unter der nationalen Gesetzgebung des richtenden Staates verübt worden sind. Sich auf dieses Prinzip berufend haben die Gerichte verschiedener Länder in Europa begonnen, schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche in den Diktaturen Lateinamerikas, vor allem im Falle von Argentinien und Chile, begangen worden sind, strafrechtlich zu verfolgen. Auf diese Art werden zwei Probleme gelöst. Auf der einen Seite steht die Gewährleistung einer Auferlegung von Strafe im Falle auch von Staaten, welche die Verfolgung selbst schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterlassen30. Auf der anderen Seite werden ebendiese Staaten auf diese Weise dazu gezwungen, ihre rechtlichen Institutionen zu verbessern, um unrechtmäßig geschlossene Prozesse wieder neu zu öffnen, die Unrechtmäßigkeit von Gesetzen zur Selbstamnestie zu erklären und die Berufung auf Verjährung zu verbieten. 29

Dieser Fall wurde vor kurzem vor den Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht (San José, Costa Rica) und das Urteil, welches von großer Bedeutung für die Klärung der vorliegenden Problematik ist, wird in den nächsten Monaten gefällt. 30 Wie in Spanien im Falle Scilingo, ausgeführt in Fußnote 23.

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Die spanische Justiz konnte die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt bewegen, als sie das Weltrechtsprinzip im Falle von Pinochet anwendete31. Zweifelsohne hat diese Art von Prozessen für Unruhe und Unbehagen unter den Politikern auf der ganzen Welt gesorgt. Wegen des starken internationalen Drucks hat die spanische Regierung mittels des Abgeordnetenhauses die Anwendung des Weltrechtsprinzips in Spanien begrenzt, indem verschiedene Voraussetzungen hinzugefügt wurden, die es vorher nicht gab: dass die mutmaßlichen Täter sich in Spanien befinden müssen, dass es Opfer spanischer Staatsangehörigkeit gibt, dass es eine relevante Verbindung zu Spanien gibt, und vor allem, dass in einem anderen zuständigen Land oder vor einem internationalen Gericht kein Verfahren, welches eine Untersuchung und eine tatsächliche Verfolgung dieser Verbrechen einschließt, eingeleitet wurde (Art. 23.4 des Gerichtsverfassungsgesetzes, erneuert durch das Grundgesetz 1/2009).

V. Schluss Die Übergangsjustiz wird angesichts ihrer Erfolge im schwierigen Übergang von Diktatur zu Demokratie meist positiv bewertet. Offenkundig wurden seitens der Gerichte in Nürnberg und Tokio, denjenigen zu ExJugoslawien und Ruanda, denen in Argentinien und Peru, etc. wichtige Urteile gesprochen und notwendige Strafen verhängt. All diese Verfahren teilen die Eigenschaft, dass die Strafen den Verlierern von kriegerischen Auseinandersetzungen bzw. den auf der Flucht befindlichen Verantwortlichen leidvoller, ungeordneter politischer Regimes auferlegt wurden. Zweifelsohne sind auch die in und bei den hier genannten Ländern und Gerichten zu verzeichnenden Misserfolge sehr bedeutungsvoll. Noch schwerwiegender ist jedoch die in anderen Ländern, wie heutzutage z. B. in Chile oder Brasilien, zu beklagende Straffreiheit. Wenn man angesichts all dessen Bilanz ziehen will, muss positiv bewertet werden, dass das von Roxin geschaffene Modell der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate auf internationaler Ebene angenommen wurde. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass dieser wissenschaftliche Versuch, welcher dabei hilft, sich über die Grenzen des Flusses hinwegzusetzen, neuer Werkzeuge bedarf, um eine ernstzunehmende und immer weniger spaßhafte internationale Strafjustiz zu schaffen.

31 Zu diesem Fall kann die Monographie von López Garrido zu Rate gezogen werden, García Arán/Ferré Olivé u. a. (Hrsg.), Crimen internacional y Jurisdicción Universal. El caso Pinochet, 2000.

Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtsetzung der Europäischen Union – Eine Zwischenbilanz – MONIKA HARMS UND PAMELA KNAUSS

I. Einleitung Im Strafrecht war das erste auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung basierende Rechtsinstrument des Rates der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl.1 Dieses Ereignis liegt nunmehr fast 10 Jahre zurück. Aus Anlass des Geburtstags des Jubilars soll ein Resümee der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im strafrechtlichen Bereich gezogen werden.

II. Rückblick/Entwicklung Unser Augenmerk liegt zunächst auf einem kurzen Rückblick der Entwicklung des Prinzips im strafrechtlichen Bereich.2

1. Entwicklung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Warenverkehrsfreiheit entwickelt.3 In der sog. Dassonville-Entscheidung4 sah der Europäische Gerichts1

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 ff. 2 Zur Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Zivil- und Handelsrecht der Europäischen Union vgl. Peers CML Rev. 2004, 18 ff. 3 Vgl. zum gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund des Prinzips auch Hecker Europäisches Strafrecht § 12 Rn. 56 f; Zeder ÖJZ 2009, 996; ausführlich: Juppe Die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in Europa, 2007, S. 36 ff und Scheuermann Das Prinzip

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hof jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßig Beschränkung an.5 In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung stellte er in der sog. Cassis de Dijon-Entscheidung6 klar, dass die Handelszulassung in dem Staat, in dem sich die Ware bereits rechtmäßig im Verkehr befindet, auch in anderen Staaten anerkannt werden muss. Damit war der Grundstein für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – im Dienste der Erweiterung der Wirtschaftsfreiheit der Bürger – gelegt.7 Die Rechtsprechung sah sich zur Entwicklung dieses Prinzips veranlasst, nachdem eine vollständige Harmonisierung der Rechtsordnungen auf Unionsebene nicht machbar erschien.8

2. Übernahme des Prinzips im Strafrecht Der Europäische Rat beauftragte auf seiner Tagung 1998 in Cardiff den Rat und die Kommission einen Aktionsplan zu der Frage vorzulegen, wie die Bestimmungen des Vertrags von Amsterdam über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts am besten umzusetzen seien.9 Ziff. 45 f) des Ende 1998 angenommenen Aktionsplans sah die Einleitung eines Prozesses zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen und ihrer Vollstreckung innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages vor. Das bisher geltende „traditionelle“ Rechtshilferecht wurde als zu langsam und zu wenig effizient der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europäischen Strafrecht, 2009, S. 23 ff. 4 EuGH Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 ff. 5 EuGH Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 (852); Konkret hatte Belgien in diesem Fall eine Echtheitsbescheinigung für schottischen Whisky verlangt, die vom Importeur der bereits in Frankreich ordnungsgemäß im freien Verkehr befindlichen Ware schwerer zu besorgen war, als wenn er den Whisky unmittelbar aus Großbritannien eingeführt hätte. Hierin sah der Europäische Gerichtshof eine Behinderung der Warenverkehrsfreiheit. 6 EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (664); Der EuGH statuierte, die Festlegung eines Mindestweingehalts für einen Branntwein stelle ein europarechtswidriges Handelshemmnis dar, wenn es sich um die Einfuhr von in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten alkoholischen Getränk handele. 7 Die zwingende Anerkennung stand unter dem Vorbehalt nationaler Regelungen, die in zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls oder expliziten vertraglichen Ausnahmeregelungen ihre Rechtfertigung fanden; vgl. hierzu Böse FS Maiwald, 2003, 235 m. w. N. 8 Grützner/Pötz/Kreß-Böse Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Vor § 78 IRG Rn. 10 m. w. N. 9 Vgl. Ziff. 1 des Aktionsplans des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vom 3. Dezember 1998, ABl. C 19 vom 23.1.1999, S. 2.

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angesehen, was insbesondere an dem teilweise großen Entscheidungsspielraum des ersuchten Staates festgemacht wurde, einem Ersuchen zu entsprechen oder nicht10: Der ersuchende Staat habe häufig lange auf die Entscheidung des ersuchten Staates zu warten; überdies sei oft unsicher, zu welchem Ergebnis der ersuchte Staat im Hinblick auf das Ersuchen komme.11 Am 15. und 16. Oktober 1999 schließlich trat der Europäische Rat in Tampere zu einer Sondertagung über die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union zusammen. 12 In den Schlussfolgerungen zu vorgenannter Tagung betonte der Europäische Rat, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit werden und für Urteile als auch für andere Entscheidungen gelten sollte.13 Ferner sollten Rat und Kommission bis Ende 2000 ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung annehmen.14 Aus dieser Vorgabe resultierte ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht, das 24 Einzelmaßnahmen enthielt.15 Mittlerweile ist der überwiegende Teil der dortigen Rechtsetzungsvorschläge bereits formell angenommen.16

3. Inhalt des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung Nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ist eine justizielle Entscheidung eines EU-Mitgliedstaates in einem anderen EU-Mitgliedstaat ohne weitere Zwischenschritte (insbesondere ohne inhaltliche Prüfung und Exequaturentscheidung) als gleichwertig zu einer eigenen Entscheidung 10 Vgl. hierzu die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen im Strafrecht, Brüssel 26. Juli 2000, KOM (2000) 495 endgültig, S. 2. 11 Vgl. hierzu die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen im Strafrecht, Brüssel 26. Juli 2000, KOM (2000) 495 endgültig, S. 2. 12 Einleitung der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Tampere. 13 Nr. 33 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Tampere. 14 Nr. 37 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Tampere. 15 ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 10 ff. 16 So der Rahmenbeschluss 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln, ABl. L 196 vom 2.8.2003, S. 45 ff; der Rahmenbeschluss 2009/829/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft, ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20 ff oder der Rahmenbeschluss 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27 ff.

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anzuerkennen.17 Mittels des Prinzips erlangt die anerkannte Entscheidung Wirkung außerhalb des Staates, in dem sie erlassen wurde. Folglich verliert dieser – der Vollstreckungsstaat – die Souveränität, die auf seinem Gebiet zu vollstreckenden Entscheidungen vollständig zu kontrollieren. Freilich setzen die bereits verabschiedeten Rechtsinstrumente zur gegenseitigen Anerkennung18 das Prinzip in der Europäischen Union nicht gänzlich um.19 Vielmehr enthalten alle Rahmenbeschlüsse Möglichkeiten für den ersuchten Staat, die Vollstreckung der Entscheidung aus – abschließend in den Rahmenbeschlüssen genannten Gründen – abzulehnen. Darüber hinaus allerdings besteht eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit. Auch die bei den einzelnen Instrumenten regelmäßig mögliche Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit durch den ersuchten Staat, soweit es sich nicht um eine der festgelegten 32 Katalogtaten20 handelt, schränkt den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung insoweit ein. Eine automatische Anerkennung justizieller Entscheidungen scheidet indes aufgrund der erheblichen Eingriffsintensität im Strafrecht aus, soweit die verfahrensrechtlichen Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union so unterschiedlich sind, wie es sich momentan darstellt.21

4. Stand der Umsetzung der Rahmenbeschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen in der Bundesrepublik Deutschland Von bislang neun verabschiedeten Rahmenbeschlüssen zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen22 sind bislang vier in deutsches Recht umge17

Vgl. Hackner/Trautmann DAR 2010, 71; Heine Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Rahmen des Europäischen Strafverfahrens, 2009, S. 70; Juppe (Fn. 3) S. 36; Peers CML Rev. 2004, 10; Schünemann FS Szwarc, 2009, 119; Vogel ZStW 2004, 401 f; Zeder JRP 2009, 176. 18 Diese sind in Fn. 23 genannt. 19 Vgl. Grützner/Pötz/Kreß-Böse Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Vor § 78 IRG Rn. 11 zum Rahmenbeschluss 2003/577/JI; Kaiafa-Gbandi ZIS 2006, 528 spricht von einer „quasi-automatischen“ Anerkennung. 20 Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2003/577/JI, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 ff. Diese Liste ist in allen Rahmenbeschlüssen zur gegenseitigen Anerkennung enthalten. Darüber hinaus enthält der Rahmenbeschluss 2005/214/JI, ABl. L 76 vom 22.3.2005, S. 16 ff in seinem Art. 5 Abs. 1 noch sieben weitere Kategorien von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Teilweise sehen die Rahmenbeschlüsse die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vor, hinsichtlich des Verzichts auf die beiderseitige Strafbarkeit einen Vorbehalt zu erklären und damit die beiderseitige Strafbarkeit zu ermöglichen, vgl. z. B. Art. 7 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27 ff. Vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser Deliktsliste: Peers CML Rev. 2004, 26 ff. 21 Vgl. hierzu einige Beispiele bei Scheuermann (Fn. 3) S. 139 ff. 22 Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 ff; Rahmenbeschluss 2003/577/JI, ABl. L 196 vom 2.8.2003, S. 45 ff; Rahmenbeschluss 2005/214/JI, ABl. L 76 vom 22.3.2005, S. 16 ff; Rahmenbeschluss 2006/783/JI, ABl. L 328 vom 24.11.2006, S. 59 ff;

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setzt worden.23 Die Umsetzung betrifft die vier Rechtsakte, bei denen die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist, wobei die Umsetzungsfristen zum Teil erheblich überschritten wurden. Die Umsetzungsfrist der übrigen Rahmenbeschlüsse läuft im Jahr 201124 bzw. 201225 aus; es ist allerdings damit zu rechnen, dass der Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung26 aufgrund der Verhandlung eines neuen, umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüberschreitenden Beweiserlangung (Europäische Ermittlungsanordnung) in den europäischen Gremien, welches die Beweisanordnung ersetzen soll,27 nicht mehr in nationales Recht umgesetzt werden wird. Mit der schleppenden Umsetzung der Rahmenbeschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung hat sich Belgien im Vorfeld seiner Präsidentschaft mit einem Arbeitspapier28 beschäftigt. Hieraus geht hervor, dass lediglich der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bislang in allen Mitgliedstaaten umgesetzt wurde; die weiteren drei Rahmenbeschlüsse, deren Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist, sind in vielen Mitgliedstaaten noch

Rahmenbeschluss 2008/947/JI, ABl. L 337 vom 16.12.2008, S. 102 ff; Rahmenbeschluss 2008/909/JI, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27 ff; Rahmenbeschluss 2008/978/JI, ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 72 ff; Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24 ff; Rahmenbeschluss 2009/829/JI, ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20 ff; Vgl. zur Zusammenfassung des Inhalts der Rahmenbeschlüsse Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 26 ff. 23 Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, BGBl. I 2006, S. 1721; Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union, BGBl. I 2008, S. 995; Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen und des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren, BGBl. I 2009, S. 3214; Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, BGBl. I 2010, S. 1408. 24 Rahmenbeschluss 2008/947/JI, ABl. L 337 vom 16.12.2008, S. 102 ff; Rahmenbeschluss 2008/909/JI, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27 ff; Rahmenbeschluss 2008/978/JI, ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 72 ff; Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24 ff. 25 Rahmenbeschluss 2009/829/JI, ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20 ff. 26 ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 72 ff. 27 ABl. C 165 vom 24.6.2010, S. 22 ff, Erwägungsgrund 15. Vgl. auch ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1 ff (Stockholmer Programm), S. 12. Dort ersucht der Rat die Kommission „ein umfassendes System vorzuschlagen, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung, das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst“. 28 Ratsdokument 11193/10 COPEN 137 Eurojust 58 EJN 19.

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nicht umgesetzt.29 Somit ist der Europäische Haftbefehl der bislang einzige Rahmenbeschluss, der flächendeckend angewandt wird.30

5. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und Harmonisierungskompetenzen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Obwohl das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bereits seit Verabschiedung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Grundlage der Vielzahl der genannten Rahmenbeschlüsse war,31 ist seine primärrechtliche Normierung erst durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erfolgt.32 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union erhält ergänzend eine Vielzahl an Vorschriften zum Erlass von Min-

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Vgl. Ratsdokument 11193/10 COPEN 137 Eurojust 58 EJN 19, S. 3 und S. 15 f: Nur 23 Mitgliedstaaten haben bislang den Rahmenbeschluss 2003/577/JI, 15 Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss 2005/214/JI sowie 11 Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss 2006/783/JI in nationales Recht umgesetzt. Zu beachten ist jedoch, dass Rahmenbeschlüsse in dem genannten Dokument erst dann als umgesetzt gelten, wenn deren Umsetzung auf Europäischer Ebene kommuniziert wurde. Die Bundesrepublik Deutschland ist in der dortigen Tabelle daher – neben dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI – lediglich mit einer weiteren Umsetzung (des Rahmenbeschlusses 2003/577/JI) vermerkt. 30 Hierzu auch Zeder JRP 2009, 184; ders. ÖJZ 2009, 995. – Deshalb schlug Belgien vor, die Umsetzung von europäischer Seite aus nicht nur zu überwachen, sondern die mit der Umsetzung in nationales Recht betrauten Behörden bei der Umsetzung zu begleiten, diese so zu erleichtern und zu beschleunigen, Ratsdokument 11193/10 COPEN 137 Eurojust 58 EJN 19, S. 2. Darüber hinaus wurde eine Reihe an praktischen Maßnahmen zur Erleichterung der Anwendung der Instrumente in den Raum gestellt, Ratsdokument 11193/10 COPEN 137 Eurojust 58 EJN 19, S. 6 ff; vgl. auch das Stockholmer Programm, ABl. C vom 4.5.2010, S. 14, in welchem eine „stärkere Begleitung der Umsetzung der Rechtsvorschriften der Union“ propagiert wird. 31 Siehe oben unter II. 4. 32 In der Vergangenheit gab es bereits Kritik an der Anwendung des Prinzips, weil dieses nicht über eine ausdrückliche Rechtsbasis im EUV verfügte und daher zweifelhaft sei, ob die Europäische Union aufgrund einer ihr übertragenen Kompetenz gehandelt habe; vgl. KaiafaGbandi ZIS 2006, 527. Im AEUV heißt es nunmehr bei den allgemeinen Vorschriften in Art. 67 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): „Die Union wirkt darauf hin, … durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen … ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“ Im Kapitel der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bestimmt Art. 82 Abs. 1 UA. 1 S. 1 AEUV: „Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen …“. Art. 82 Abs. 1 UA. 2 lit. a) AEUV regelt ergänzend, dass „das Europäische Parlament und der Rat … gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen (erlässt), um Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird“.

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destvorschriften sowohl in Bezug auf das prozessuale Strafrecht 33 als auch in Bezug auf materielles Strafrecht.34 Die Zielrichtung der zukünftigen Rechtsetzung ist in diesem Bereich somit primärrechtlich vorgezeichnet.35

III. Gegenseitige Anerkennung contra Harmonisierung? Die gegenseitige Anerkennung, welche die nationalen Strafrechtsordnungen im Wesentlichen unberührt lässt, führt zu einer erweiterten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das jeweilige nationale Straf- bzw. Strafprozessrecht wird dabei im Einzelfall mittels der gegenseitigen Anerkennung auf dem Gebiet der Europäischen Union durchgesetzt. Insoweit nimmt das Prinzip größtmögliche Rücksicht auf die Souveränität und Identität der einzelnen Mitgliedstaaten und deren Kompetenz zur national individuellen Ausgestaltung des Straf- und Strafprozessrechts, das wegen seiner Eingriffstiefe und seiner historischen Entwicklung maßgeblich zur Identität des Staatswesens beiträgt.36 Eine (vollständige) Harmonisierung des Strafrechts innerhalb der Europäischen Union hingegen würde 33 Art. 82 Abs. 2 AEUV sieht den Erlass von Mindestvorschriften vor, die a) die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten, b) die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren, c) die Rechte der Opfer von Straftaten sowie d) sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens, die zuvor vom Rat durch Beschluss bestimmt worden sind, betreffen. 34 Art. 83 Abs. 1 UA. 1 S. 1 AEUV erlaubt die Festlegung von Mindestvorschriften in Bezug auf Straftaten und Strafen im Bereich besonders schwerer Kriminalität. Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität (Art. 83 Abs. 1 UA. 2 AEUV) – vgl. hierzu auch das Stockholmer Programm, ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 15 – wobei diese Liste (je nach Entwicklung der Kriminalität) durch Beschluss des Rates auf andere Bereiche ausgedehnt werden kann (Art. 83 Abs. 1 UA. 3 AEUV). Abschließend bestimmt Art. 83 Abs. 2 AEUV die Zulässigkeit des Erlasses von Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen auch dann, wenn die entsprechende Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften unerlässlich für die Durchführung der Politik der Union sind und bereits zuvor auf diesem Gebiet Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. 35 Zur möglichen Entstehung eines Europäischen Strafrechts im engeren Sinne nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages vgl. Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 8 Rn. 18 ff. 36 Vgl. hierzu das BVerfG in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09). Hier betont das Verfassungsgericht besonders, dass die nationale demokratische Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen besonders empfindlich berührt wird, weswegen die vertraglichen Kompetenzgrundlagen im Lissabonner Vertrag insoweit strikt – im Sinne von eng – auszulegen seien (Rn. 358); Vgl. auch Weber Europarecht S. 89; Weber Jahrbuch Öffentliche Sicherheit, 2006/2007, S. 391.

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einen erheblichen Eingriff in die Nationalstaatlichkeit der Mitgliedstaaten bedeuten. Sie ist in nächster Zukunft nicht zu erwarten, auch weil die europäischen Ermächtigungsgrundlagen zu neuer Rechtsetzung im strafrechtlichen Bereich auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (keine Kompetenz-Kompetenz) und dem Subsidiaritätsprinzip basieren.37 Eine umfassende Kompetenz der Union zur Vereinheitlichung des gesamten materiellen und prozessualen Strafrechts gibt es somit nicht. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und die Rechtsharmonisierung bedingen einander,38 das heißt, die gegenseitige Anerkennung setzt ein gewisses Maß an Harmonisierung voraus.39 Durch die Angleichung der Vorschriften wird es dem anerkennenden Mitgliedstaat erleichtert, die fremde Entscheidung als eigene zu akzeptieren, weil seine sich selbst auferlegten Maßstäbe erfüllt sind.40 Das gegenseitige Vertrauen in die verschiedenen Rechtsordnungen untereinander wird gestärkt.41 Jedem Mitgliedstaat obliegen Schutzpflichten (jedenfalls) in Bezug auf seine eigenen Staatsangehörigen. Eine Verkehrsfähigkeit jedweder strafrechtlichen Maßnahme und strafrechtlichen Entscheidung in der gesamten Union ohne Ablehnungsmöglichkeiten ist damit ausgeschlossen. Die Anerkennung ohne inhaltliche Überprüfung mit eingeschränkten Ablehnungsgründen, wie sie der gegenseitigen Anerkennung im strafrechtlichen Bereich zugrunde liegt, setzt somit zwingend eine Angleichung der jeweiligen Standards – sowohl im prozessualen als auch im materiellen Bereich – voraus. Andererseits kann die gegenseitige Anerkennung die Rechtsangleichung bis zu einem gewis-

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Art. 5 Abs. 2 und 3 EUV. Vgl. auch Weber Integration 2006, S. 60 unter Bezugnahme auf die unklaren Begriffsbestimmungen der Deliktsliste in den Rahmenbeschlüssen der gegenseitigen Anerkennung. 39 Heine (Fn. 17) S. 72; Peers CML Rev. 2004, 5; Scheuermann (Fn. 3) S. 139; Ausführlich zur gegenseitigen Anerkennung und Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten: Andreou Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen in der Europäischen Union, 2009, S. 340 ff. 40 Vgl. auch Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen, Brüssel 26. Juli 2000, KOM (2000) 495 endgültig, S. 5 sowie die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, Brüssel 19. Mai 2005, KOM (2005) 195 endgültig, Rn. 18. 41 Zum bislang nach seiner Ansicht nur mangelhaft vorhandenen Vertrauen untereinander vgl. Zeder JRP 2009, 177; Sumalla FS Tiedemann, 2008, 1419 weist darauf hin, dass gegenseitiges Vertrauen auch gegenseitige Kenntnis der unterschiedlichen Rechtssysteme voraussetze. Vgl. zum gegenseitigen Vertrauen auch Andreou (Fn. 39) S. 43 f und Juppe (Fn. 3) S. 43. 38

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sen Grad entbehrlich machen,42 so dass eine „Komplettharmonisierung“ des prozessualen und materiellen Rechts nicht erforderlich ist. Aus der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf dem Gebiet der Union folgt somit – wenn auch mit geringer Geschwindigkeit und mit reichlich spätem Beginn43 – eine Harmonisierung der gegenseitigen Standards.44 Eine Gegenläufigkeit der gegenseitigen Anerkennung zur Harmonisierung kann indes nicht festgestellt werden.

IV. Probleme der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht Bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht haben sich verschiedentlich Probleme gestellt, von denen die Wesentlichen nachfolgend kurz erörtert werden sollen.

1. Übertragbarkeit des Systems aus den Rechtsvorschriften über den Binnenmarkt auf das Strafrecht? Vielfach45 wird Kritik an der Übertragbarkeit des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung aus den Rechtsvorschriften über den Binnenmarkt auf das 42

Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen, Brüssel 26. Juli 2000, KOM (2000) 495 endgültig, S. 5. 43 Es hätte bereits vor Verabschiedung des Europäischen Haftbefehls eine Angleichung zumindest der prozessualen Standards erfolgen müssen; vgl. zur vernachlässigten Angleichung im verfahrensrechtlichen Bereich auch Zeder JRP 2009, 186. 44 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen im Strafverfahren, ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1 ff; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Belehrung im Strafverfahren, KOM (2010) 392 endgültig; vgl. auch die Legislativvorschläge in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, Brüssel 19. Mai 2005, KOM (2005) 195 endgültig, Rn. 19 ff; vgl. auch Kokott, die in ihrer Stellungnahme zum Expertengespräch beim Unterausschuss Europarecht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 28. November 2007 „Entsteht ein einheitliches Europäisches Strafrecht“, S. 3 mutmaßte, dass die gegenseitige Anerkennung im Strafrecht auf mittelfristige Sicht zu einem gewissen Anpassungs- und Harmonisierungsdruck führen werde, wie sich dies aus der Erfahrung mit der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Grundfreiheiten gezeigt habe. 45 Braum GA 2005, 688; Peers CML Rev. 2004, 23; Schünemann FS Szwarc, 2009, 121 ff; Wehnert FS Dahs, 2005, 526; Zeder JRP 2009, 184 f; Zeder ÖJZ 2009, 996; kritisch auch Fuchs ZStW 116 (2004), 368; Heine (Fn. 17) S. 85 und Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 25. Kritisch beim transnationalen Beweistransfer: Hecker Europäisches Strafrecht § 12 Rn. 58 ff.

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Strafrecht geltend gemacht. Die Gegner wenden insbesondere46 ein, die gegenseitige Anerkennung im Recht des freien Warenverkehrs verfolge andere Ziele als im Strafrecht. Während es beim freien Warenverkehr darum gehe, die nationalstaatliche Regulierung zurückzudrängen, indem der Verkauf eines in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten Erzeugnisses nicht verboten werden könne, gehe es im Strafrecht um Zwangsmaßnahmen.47 Es bestehe hierbei die Gefahr des Unterlaufens nationalstaatlicher Verfahrensgarantien.48 Während sich im europäischen Wirtschaftsrecht eine positive Integrationsleistung vollziehe, gehe es beim europäischen Strafrecht um europaweite Eingriffe in staatlich garantierte bürgerliche Freiheitsrechte.49 Zudem wird bezweifelt, dass die Anwendung des Prinzips im Strafrecht eine positive Leistung für die europäische Integration erbringen könne; im Gegenteil habe das Strafrecht hier nur kontraproduktive Effekte.50 Angeprangert werden ferner die formalen Legitimationsdefizite,51 die sich jedoch mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages entschärft haben. Zwar besteht bei der Übertragung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf das Strafrecht kein Bezug zu einer wirtschaftlichen Grundfreiheit wie dies beim freien Warenverkehr der Fall ist. Auch geht es bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht um die Beschränkung der Freiheit, während es im Wirtschaftsrecht um die Erweiterung der Warenverkehrsfreiheit geht. Allerdings ist die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung auch im Strafrecht geboten.52 Diese stellt die Kehrseite der Freizügigkeit in der Union dar53 und ist innerhalb eines „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ erforderlich. Sie ist ferner durch das Interesse an der wechselseitigen Unterstützung der jeweiligen Strafverfahren geboten.54 Die Freizügigkeit innerhalb der Union hat Straftätern die Begehung von Straftaten in verschiedenen Mitgliedstaaten vereinfacht. Das gemeinsame Interesse an einer effektiven Strafverfolgung rechtfertigt damit auch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen An46

Vgl. zu weiteren Einwänden Juppe (Fn. 3) S. 124 ff. Zeder ÖJZ 2009, 996; Peers CML Rev., 2004, 23; Dieser weist zudem darauf hin, dass im Handels- und Wirtschaftsrecht der Europäischen Union – im Gegensatz zum Europäischen Strafrecht – bereits in weiten Teilen eine Harmonisierung stattgefunden hat. Deshalb sei die analoge Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht letztlich nicht gerechtfertigt. 48 Zeder ÖJZ 2009, 996. 49 Braum GA 2005, 688. 50 Braum GA 2005, 688. 51 Braum GA 2005, 688. 52 So auch Böse FS Maiwald, 2003, 236. 53 Vgl. auch Juppe (Fn. 3) S. 163 54 Vgl. Juppe (Fn. 3) S. 126. 47

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erkennung. Vor diesem Hintergrund ist mit der gegenseitigen Anerkennung der richtige Weg eingeschlagen worden. 55 Dennoch ist in jedem Einzelfall der Schaffung eines neuen Rechtsinstruments, das auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung basiert, besonders auf die Einhaltung der Grundund Verfahrensrechte zu achten, soweit diese nicht bereits europaweit vereinheitlicht sind. Die verstärkte Mitbestimmung des Europäischen Parlaments, des Bundestags- und des Bundesrats56 bei der Europäischen Normsetzung werden zukünftig dazu beitragen, stärker auf die Einhaltung dieser Vorgaben zu achten.57 Die bloße Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) reicht hierbei nicht aus, da diese noch keine Garantie gleicher Standards in den unterschiedlichen Strafverfahren gibt.58 Die in der EMRK verankerten Standards sind zwar europaweit bekannt, werden aber in der internationalen Praxis nicht immer konsequent umgesetzt.59 Zudem ist das Verfahren zur Durchsetzung der Rechte nach der EMRK sehr langwierig. Ferner ist es durch die Gültigkeit des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht und den damit verbundenen stärkeren Rechtseingriffen in die Beschuldigtenrechte angezeigt, das Schutzniveau innerhalb der Europäischen Union gezielt über das der EMRK zu heben.60 55

Gleß ZStW 116 (2004), 361 hingegen meint, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führe – jedenfalls beim Europäischen Haftbefehl – nicht zu sinnvollen Ergebnissen, da die Regelungen nicht auf eine echte Rechtsintegration, sondern auf die Durchsetzung nebeneinander bestehender Strafansprüche gerichtet seien. Solange aber nur Strafverfolgungsmaßnahmen für ein bestimmtes Verhalten wechselseitig anerkannt würden, könne daraus kein funktionierender Rechtsraum entstehen, weil das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch den materiellen Verfolgungsanspruch einbeziehen müsse. 56 Vgl. zur Mitbestimmung des Bundestags und des Bundesrats das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, BGBl. I 2009, S. 3031 ff, das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union, BGBl. I 2009, S. 3022 ff sowie das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, BGBl. I 2009, S. 3026 ff. 57 Vgl. diesbezüglich zur „Notbremse“ im Vertrag von Lissabon: Schünemann, Stellungnahme zu den Fragen an die Sachverständigen für das Expertengespräch im Unterausschuss Europarecht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 28. November 2007 „Entsteht ein einheitliches europäisches Strafrecht?“, S. 13 ff; zur Kritik an der alten Rechtslage: Weber Europarecht S. 96 f. 58 Heine (Fn. 17) S. 73; Vgl. ausführlich zu den Verfahrensgarantien im Strafverfahren im Verhältnis zur EMRK: Polakiewicz ZEuS 2010, 1 ff. 59 Vgl. die Ausführungen der Kommission in ihrem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Kommission, KOM (2004) 328 endgültig, Rn. 10. 60 So auch die Absicht des Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. C 295, S. 3.

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Mit der – nunmehr begonnenen – Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auch zugunsten der Unionsbürger61 sowie der Tätigkeit der Union im Bereich der Rechtsvereinheitlichung bei den Beschuldigtenrechten wird in Zukunft auch die Kritik verstummen, die Tätigkeit der Union im Bereich der gegenseitigen Anerkennung sei lediglich einseitig repressiv, im Sinne einer einfacheren und schnelleren Zusammenarbeit der Behörden, ausgerichtet.62

2. Fehlende Harmonisierung des prozessualen und materiellen Strafrechts? Nicht zu bestreiten ist, dass sowohl die mangelhafte Angleichung des prozessualen als auch des materiellen Strafrechts zu Problemen bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung führen kann und in der Vergangenheit geführt hat.63 Wie bereits oben64 erörtert, geht jedoch mit der zunehmenden Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung innerhalb der Union auch eine Rechtsangleichung – sowohl im materiellen als auch im prozessualen Bereich – einher.65 Vor diesem Hintergrund haben verschiedentlich auf Europäischer Ebene erkannte Probleme in diesem Bereich zu Legislativmaßnahmen geführt66

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Z. B. durch den Rahmenbeschluss 2009/829/JI, ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20 ff oder durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24 ff; Vgl. auch Andreou (Fn. 39) S. 74 f; Bislang war das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eher zu Lasten der Bürger angewandt worden. Zutreffend bezeichnete Satzger diesen Umstand in seiner Stellungnahme, (Fn. 57) S. 18, als „Schieflage zulasten des Beschuldigten“. 62 So beispielsweise Zeder ÖJZ 2009, 996. 63 Vgl. Zeder JRP 2009, 184 f; so z. B. die unterschiedliche Umsetzung der Ablehnungsgründe in den einzelnen Mitgliedstaaten; die Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten hinsichtlich des Erlasses von Abwesenheitsurteilen oder Haftbefehlen oder die unbestimmte Fassung der 32 Listendelikte. 64 Siehe oben unter III. 65 Vgl. zu den Harmonisierungsbemühungen der Union: Zeder JRP 2009, 173 ff; vgl. auch Sumalla FS Tiedemann, 2008, 1415 ff. 66 Z. B Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24 ff; Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen im Strafverfahren, KOM (2010) 82 endgültig; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Belehrung im Strafverfahren, KOM (2010) 392 endgültig; Rahmenbeschluss 2002/475/JI, ABl. L 164 vom 22.6.2002, S. 3 ff; Rahmenbeschluss 2008/919/JI, ABl. L 330 vom 9.12.2008, S. 21 ff; Rahmenbeschluss 2008/841/JI, ABl. L 300 vom 11.11.2008, S. 42 ff; Kaiafa-Gbandi ZIS 2006, 532 kritisiert den ursprünglichen von der Kommission vorgeschlagenen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte [Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union, KOM (2004) 328 endgültig] als nicht ausreichend, weil sich auch dieser mit den relevanten Fragen vor dem Hintergrund

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und somit Schwierigkeiten bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung verringert oder werden diese zukünftig verringern.

3. Gültigkeit des punitivsten Strafrechts Die für den Bürger entstehenden Nachteile durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zeigen sich insbesondere an der Debatte um die Frage der jeweiligen Gültigkeit der punitivsten Strafvorschriften.67 Ist das nationale Strafanwendungsrecht sehr weitgehend und erfasst im Einzelfall auch Straftaten, die im Ausland begangen wurden, 68 so können sich erhebliche Probleme stellen.69 In diesem Fall kann durch die Bundesrepublik Deutschland mittels eines Europäischen Haftbefehls die Auslieferung einer Person aus einem anderen Mitgliedstaat betrieben werden, obwohl der Tatort gar nicht in der Bundesrepublik war und die Tat in dem anderen Mitgliedstaat gar nicht mit Strafe bedroht ist. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Rahmenbeschlüsse der gegenseitigen Anerkennung regelmäßig den Ablehnungsgrund der Territorialität vorsehen70 und es somit jedem Mitgliedstaat vorbehalten bleibt zu entscheiden, inwieweit er bei Straftaten, die auf seinem Territorium oder weder auf seinem noch auf dem Territorium des Ausstellungsstaats begangen wurden, Rechthilfe gewähren möchte.

einer bezweckten Steigerung der Effizienz der Strafverfolgung beschäftige, was für den Verdächtigen inakzeptabel sei. 67 Vgl. hierzu ausführlich Juppe (Fn. 3) S. 135 ff; vgl. auch Kaiafa-Gbandi ZIS 2006, 528 ff und Sumalla FS Tiedemann, 2008, 1418. 68 Beispielsweise im Fall der Einschlägigkeit des Weltrechtsprinzips, vgl. § 6 StGB. 69 Vgl. zu dieser Problematik Weber (Fn. 38) S. 55. 70 Z. B. sieht Art. 4 Nr. 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 ff, vor: „Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die a) nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind; oder b) außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftagen gleicher Art nicht zulassen.“; Vgl. auch Art. 4 Nr. 3 und Art. 4 Nr. 5 zu „ne bis in idem“; Zu „ne bis in idem“ auch Wasmeier ZStW 116 (2004), 321; Art. 7 Abs. 2 d) i) und ii) des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI, ABl. L 76 vom 22.3.2005, S. 16 ff; Art. 9 Abs. 1 l) des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27 ff.

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4. Wegfall der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit Eng mit der Geltung des punitivsten Strafrechts hängt der Wegfall der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zusammen, der in einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiterhin thematisiert wird.71 Ist in einem Mitgliedstaat eine konkrete Handlung mit Strafe bedroht, in einem anderen Mitgliedstaat jedoch nicht (z. B. ein bestimmter Fall des Betruges) und fällt das begangene Delikt unter die 32 Deliktsgruppen, bei denen die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit ausgeschlossen ist, so setzt sich letztlich das strengere Strafrecht durch, wenn ein Mitgliedstaat mit dem strengeren Strafrecht die Auslieferung eines Täters aus einem Mitgliedstaat mit dem weniger strengen Strafrecht betreibt.72 Die Auslieferung ist in diesem Falle dennoch gerechtfertigt, weil der Täter in dem die Auslieferung betreibenden Staat gegen eine Strafnorm verstoßen hat und sich nicht darauf berufen kann, in seinem Aufenthaltsstaat sei diese Tat nicht mit Strafe bedroht. In einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ist ein Ausschluss des Vertrauensschutzes insoweit hinzunehmen.73

5. Verhältnismäßigkeit Verschiedentlich sind in der Vergangenheit Probleme im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, insbesondere bei der Ausstellung Europäischer Haftbefehle, aufgetreten.74 So wurden teilweise in den Mitgliedstaaten Europäische Haftbefehle in Bezug auf Straftaten ausgestellt, die im Vollstreckungs71 Vernimmen-Van Tiggelen Analysis of the future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, S. 9; Vgl. auch Wehnert FS Dahs, 2005, 531. 72 Vgl. hierzu Schünemann GA 2004, 202; Weber (Fn. 38) S. 59. 73 Vogel ZStW 116 (2004), 410 bemerkt zu Recht, dass es letztlich lediglich darum gehe, die Ausübung der begründeten Strafgerichtsbarkeit auch dann zu ermöglichen, wenn sich der Täter nicht (mehr) im territorialen Zugriffsbereich des Ausstellungsstaates befindet, Fuchs ZStW 116 (2004), 368 hingegen fragt sich, warum ausländische Entscheidungen im Inland vollstreckt werden sollen, hinsichtlich derer es an einer Strafbarkeit im Inland fehlt. Zudem ist zu beachten, dass diese Fälle die Ausnahme sind. Wehnert FS Dahs, 2005, 532 spricht insoweit von „Kollateralschäden“, die dadurch behoben werden sollen, dass selbst bei Einschlägigkeit eines Listendelikts die beiderseitige Strafbarkeit zu überprüfen sei. Vgl. zur Notwendigkeit der Harmonisierung der 32 Listendelikte: Andreou (Fn. 39) S. 238; Scheuermann (Fn. 3) S. 156 ff; Weber (Fn. 38) S. 60; Zum „Opt-out“ der Bundesrepublik Deutschland beim Rahmenbeschluss 2008/978/JI, ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 72 ff: Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 37. Vgl. zu den Bemühungen der Bundesregierung zur Harmonisierung der Deliktsliste: BT-Drucks. 16/3680; BT-Drucks. 16/6563; Auf der 2807. Tagung des Rates Justiz und Inneres am 12. und 13. Juni 2007 in Luxemburg hat der Rat das vor allem von der deutschen Bundesregierung betriebene Projekt der Präzisierung der Listendelikte auf einen Zeitpunkt nach der Umsetzung der Europäischen Beweisanordnung verschoben, vgl. Pressemitteilung der 2807. Tagung des Rates Nr. 10267/07, S. 38-40. 74 Vernimmen-Van Tiggelen (Fn. 71) S. 9 f.

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staat ein „harmloses“ Delikt darstellten. Unter anderem führt die Unterschiedlichkeit der Wertschätzung der einzelnen Güter in den Mitgliedstaaten (z. B. bei einem Hühnerdiebstahl) zu solchen Diskrepanzen. Ist ein Ablehnungsgrund nicht gegeben, so hat der Vollstreckungsstaat den Haftbefehl zu vollstrecken, obwohl ein entsprechend inländischer Haftbefehl an der Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) scheitern würde75. Gerade solche Fälle erschüttern das – zur reibungslosen Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung – erforderliche gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre Strafrechtssysteme.76 Probleme in der Zusammenarbeit entstehen, die sich bei einer prozessualen Harmonisierung nicht stellen würden. Dieses Problem wurde bereits ausführlich auf Europäischer Ebene diskutiert und ein entsprechender Hinweis auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Europäischen Handbuch mit Hinweisen zum Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls77 eingefügt. Es bleibt daher abzuwarten, wie sich diese Problematik in Zukunft entwickeln wird.

6. Unübersichtlichkeit der Rechtsgrundlagen Ein weiteres Problem im Bereich der gegenseitigen Anerkennung stellt die Unübersichtlichkeit der Rechtsgrundlagen dar.78 Bereits die Texte der Rahmenbeschlüsse der gegenseitigen Anerkennung sind schwer verständlich.79 Die Hintergründe der Regelungen erschließen sich oft nur denen, die tatsächlich an den Verhandlungen des jeweiligen Rechtsinstruments beteiligt waren, und die hinter den Formulierungen stehenden Kompromisslösungen kennen.80 Gleiche Problembereiche sind teilweise in den unter-

75 Durch die (rahmenbeschlusswidrige) Umsetzung des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 ff in § 73 IRG, ist das Problem für Deutschland entschärft worden. 76 Schünemann FS Szwarc, 2009, 121 betont, es gehe nicht um das Vertrauen der Staaten untereinander sondern um das Vertrauen der Bürger in die Richtigkeit der fremden Rechtsordnung und die Korrektheit der fremden Rechtspflege. 77 Ratsdokument 8216/2/08 REV 2 COPEN 70 EJN 26 EUROJUST 31, S. 14; Vgl. auch die Änderung der entsprechenden Passage des Handbuchs in den Schlussfolgerungen des Rates zum Europäischen Haftbefehl, Ratsdokument 8436/2/10 REV 2 COPEN 95 EJN 8 EUROJUST 42, S. 3 und vgl. den Abschlussbericht über die vierte Runde der gegenseitigen Begutachtungen – „Praktische Anwendung des Europäischen Haftbefehls und der entsprechenden Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“, Ratsdokument 8302/4/09 CRIMORG 55 COPEN 68 EJN 24 EUROJUST 20, S. 15. 78 Vgl. auch Vernimmen-Van Tiggelen (Fn. 71) S. 9. 79 So auch Vernimmen-Van Tiggelen (Fn. 71) S. 19; vgl. auch Zeder JRP 2009, 184; Zeder ÖJZ 2009, 996. 80 Vgl. Vernimmen-Van Tiggelen (Fn. 71) S. 19.

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schiedlichen Rahmenbeschlüssen unterschiedlich geregelt.81 Vergleichbar kompliziert sind die Umsetzungsgesetze, zumindest im deutschen Recht.82

7. Ungenügende Fortbildung der Akteure Daneben bedarf die Vielzahl der (komplex) umgesetzten Europäischen Regelungen der Verbreitung bei den Rechtsanwendern (also Staatsanwaltschaften und Gerichten), damit sie auch in der Praxis angewandt werden. Hieran mangelt es in vielen Mitgliedstaaten.83 Dieses Defizit wurde auch auf Europäischer Ebene erkannt. Das Stockholmer Programm sieht deshalb vor, die Aus- und Fortbildung im Einklang mit Art. 81 und 82 AEUV84 zu unterstützen und zu fördern.85 Die wachsende Popularität des Europäischen Justiziellen Netzes wird diese Entwicklung mit seinen Angeboten und Kontaktmöglichkeiten unterstützen.

81

Z. B. die Regelungen zu den Abwesenheitsurteilen vor Erlass des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24 ff. Die Intention dieser horizontalen Regelung war jedoch nicht ausschließlich die Angleichung der unterschiedlichen Regelungen, sondern auch die Verbesserung der Stellung Betroffener von Abwesenheitsurteilen. Darüber hinaus statuiert das Stockholmer Programm (ABl. C vom 4.5.2010, S. 1 ff, 12), die angenommenen Rechtsinstrumente müssten „benutzerfreundlicher“ werden und „sich auf Probleme konzentrieren, die sich im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit immer wieder stellen … Zur Verbesserung der Zusammenarbeit auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung sollten ferner einige Grundsatzfragen geklärt und die Umsetzung der Rechtsvorschriften durch die Union besser begleitet werden“. Dies auch vor dem Hintergrund, dass teilweise erhebliche Umsetzungsmängel bei den Europäischen Rechtsakten festgestellt wurden (für den Europäischen Haftbefehl: Ratsdokument 11788/07 COPEN 110 EJN 22 Eurojust 41, S. 9 f). Die stärkere Begleitung der nationalen Umsetzung der europäischen Regelungsinstrumente würde auch das Problem der stark unterschiedlichen nationalen Umsetzung etwas eindämmen, hierzu Zeder JRP 2009, 184. Ferner ist eine stärkere Betonung der Evaluierung beabsichtigt, vgl. hierzu bereits die Mitteilung der Europäischen Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedsstaaten untereinander, KOM (2005) 195 endgültig, S. 9 f. 82 Vgl. hier nur die Regelungen in §§ 80 ff IRG. 83 Vgl. auch Vernimmen-Van Tiggelen (Fn. 71) S. 19 ff. 84 Konkret Art. 81 Abs. 2 lit. h) sowie Art. 82 Abs. 1 UA. 2 lit. c) AEUV. 85 ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 13; Vgl. hierzu auch bereits die Mitteilung der Europäischen Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, KOM (2005) 195 endgültig, S. 10 f.

Gegenseitige Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtsetzung der EU 1495

V. Ausblick Trotz der dargestellten praktischen Probleme bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Anwendung dieses Prinzips Lücken schließt, die durch den freien Personenverkehr und die dadurch vorhandene Möglichkeit sich der Strafverfolgung einzelner Mitgliedstaaten innerhalb der Union zu entziehen, verstärkt wurden. Solange eine Harmonisierung des materiellen und prozessualen Strafrechts in der Union aufgrund des erheblichen Eingriffs in die Nationalstaatlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten noch nicht möglich ist, eröffnet das Prinzip eine gute Möglichkeit der Zusammenarbeit. Die praktischen Probleme hierbei sind auch den europäischen Institutionen bewusst. Die gegenseitige Anerkennung, die im Lissabon-Vertrag als tragendes Prinzip genannt ist, wird weiterhin ein wichtiges Instrument der Rechtsetzung der Europäischen Union im strafrechtlichen Bereich darstellen.86 Die daneben im AEUV verankerten Harmonisierungskompetenzen im strafrechtlichen Bereich müssen genutzt werden, um das strafrechtliche Unionsrecht stärker auszubauen.87 Zum einen ist die demokratische Legitimation solch neuer Regelungen nunmehr – unter der Ägide des Lissabonner Vertrages – weniger problematisch als zuvor;88 zum anderen stützt dieses Vorgehen das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten und der Bürger in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union untereinander. Aus den erweiterten europarechtlichen Kompetenzen im strafrechtlichen Bereich folgt ein beschleunigter Prozess der Europäisierung des Strafrechts. Dies stärkt die europäische Zusammenarbeit im strafrechtlichen Bereich und verringert die dargestellten Probleme der gegenseitigen Anerkennung in der praktischen Zusammenarbeit. Die gegenseitige Anerkennung und die Harmonisierung des Rechts bedingen sich gegenseitig. Sie sorgen für eine rechtsstaatliche Verwirklichung der Integration des Strafrechts in Europa. Hierbei ist positiv festzuhalten, dass – durch die Verabschiedung des Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte89 sowie erster 86 Dies folgt auch aus dem Stockholmer Programm, in welchem der Rat betont, dass „die Arbeit im Bereich der gegenseitigen Anerkennung fortgesetzt werden muss“, ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 12. 87 Dass dies erfolgen soll ergibt sich auch aus dem Stockholmer Programm, in welchem der Rat ausführt: „Der Europäische Rat ist der Auffassung, dass es erforderlich ist, die Rechtsvorschriften bis zu einem gewissen Grad aneinander anzugleichen, damit … eine ordnungsgemäße Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ermöglicht wird“, ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 12. 88 Vgl. zur demokratischen Legitimation und parlamentarischen Kontrolle unter dem Vertrag von Lissabon Andreou (Fn. 39) S. 127 f. 89 ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

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Monika Harms und Pamela Knauss

konkreter Rechtsinstrumente hierzu90 – nach einer längeren Phase der Verschärfung der Eingriffsinstrumente in die Rechte der Bürger nun auch konkrete Schritte zum Schutz der Rechte der Betroffenen eingeleitet wurden. Die bislang fehlende Balance zwischen der Tätigkeit des europäischen Gesetzgebers auf dem Gebiet der Interessen der Strafrechtspflege und dem der Interessen der Verteidigung wird sukzessive hergestellt. Diese Entwicklung ist eine notwendige Begleitmaßnahme zur Steigerung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander; sie trägt damit zur effektiven Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei.

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Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen im Strafverfahren, ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1 ff.

Auswirkungen der Europäischen Beweisanordnung auf das deutsche Strafverfahren ROBERT ESSER

I. Einleitung Am 18.12.2008 hatte der Rat der Europäischen Union nach mehr als vier Jahre dauernden Beratungen basierend auf dem EU-Vertragswerk von Nizza den Rahmenbeschluss 2008/978/JI über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen1 angenommen. Der Rahmenbeschluss – ein Instrument der früheren Dritten Säule – war am 19.1.2009 in Kraft getreten und bis zum 19.1.2011 in nationales Recht umzusetzen (Art. 23 Abs. 1 RB). Die Konzeption der Europäischen Beweisanordnung (EBA) geht zurück auf die Beschlüsse des EU-Sondergipfels von Tampere 1999, durch den die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit (PJZS) in Europa erstmals verbindlich vereinbart wurde. Die EBA basiert auf dem dort proklamierten und mittlerweile im Vertrag von Lissabon (vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV) verankerten Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das bis dahin lediglich im Gemeinschaftsrecht (Warenverkehrsfreiheit) bekannt war. Keimzelle des RB war ein Vorschlag der EU-Kommission vom 14.11.2003.2 Das Europäische Parlament war in der Entstehung nur im Anhörungsverfahren beteiligt (vgl. Art. 39 Abs. 1 EUV a. F.).3 Bemerkenswert ist dabei, dass der EP-Ausschuss Recht und Binnenmarkt das Rechtsinstrument von Anfang an abgelehnt und dabei Kritikpunkte formuliert hatte, die der EBA – ebenso dem seit April 2010 in Planung befindlichen Nachfolgemodell EEA (dazu unter IV.) – bis heute entgegengehalten werden.4

1

ABl. EU Nr. L 350 v. 30.12.2008, S. 72; im Folgenden RB. KOM (2003) 688 endg. 3 Der EP-Ausschuss für Justiz und Inneres stimmte dem RB vorbehaltlich einiger Änderungen letztlich zu. 4 In einer endgültigen Stellungnahme vom 15.10.2008 formulierte das EP mehrere Änderungsvorschläge, u. a. ein Recht der Verteidigung auf Beantragung einer EBA. 2

1498

Robert Esser

Auf nationaler Ebene hat die förmliche Umsetzung des RB noch nicht begonnen. Der BT-Rechtsausschuss hatte sich bereits 20045 kritisch zur damals noch im Entwurfsstadium befindlichen EBA geäußert. Ein wesentlicher Kritikpunkt war, dass auf EU-Ebene repressive Maßnahmen vorrangig und vor allem deutlich schneller als die Beschuldigtenrechte harmonisiert werden. Hinzu kam die Kritik an unzureichenden Möglichkeiten, die Vollstreckung einer aus dem Ausland eintreffenden EBA abzulehnen. Erhebliche Bedenken hatten auch die BRAK, der DAV sowie die CCBE geäußert. Schünemann hatte bemängelt, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht zum Rückzug auf den kleinsten gemeinsamen Nenner im Grundrechtsschutz führe.6 Die nachfolgenden Ausführungen sind den Auswirkungen im deutschen Strafverfahrensrecht gewidmet, die sich durch die Umsetzung des RB sowie durch die Anerkennung und Vollstreckung der ab 2011 aus dem Ausland zu erwartenden EBAs abzeichnen. Sodann erfolgt ein Ausblick auf die – noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist für den RB gestartete – belgische Ratsinitiative zur Schaffung einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA).

II. Regelungsgehalt des Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung Der RB 2008/978/JI regelt „die Erlangung von Sachen, Schriftstücken oder Daten aus einem anderen Mitgliedsstaat“ (Art. 1 Abs. 1 RB) zur Verwendung in Strafverfahren sowie Verwaltungsverfahren, gegen deren Ausgang ein in Strafsachen zuständiges Gericht angerufen werden kann (Art. 5 RB). Zu letzteren gehört auch das deutsche Ordnungswidrigkeitenverfahren (vgl. § 68 OWiG). Der grenzüberschreitende Transfer („Erlangung“) soll mit Hilfe eines standardisierten, von den Behörden des EU-Mitgliedstaates, in dem das für die Beweisverwertung relevante Verfahren geführt wird (sog. Anordnungsstaat, Art. 2 lit. a RB), ausgefüllten 13-seitigen Formblattes7 geschehen (sog. Europäische Beweisanordnung – EBA), das den Behörden eines anderen EU-Mitgliedstaates, in dem das relevante Beweismittel vermutet wird (sog. Vollstreckungsstaat, Art. 2 lit. b RB), auf kürzestem Wege übermittelt wird. Im Grundsatz transferierbar über eine EBA ist jedes Beweismittel, dessen Erlangung in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck des Verfahrens 5

Stellungnahme vom 29.9.2004, BT-Drucks. 15/3831. Schünemann ZRP 2003, 187 f. 7 ABl. EU Nr. L 350 v. 30.12.2008, S. 84. 6

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1499

steht (Art. 7 lit. a RB) und dessen Erlangung auch nach nationalem Recht möglich wäre, befände sich das Beweismittel im Inland (Art. 7 lit. b RB). Eine Ausnahme sieht der RB vor für Vernehmungen, Anhörungen und die Entgegennahme von Aussagen (Art. 4 Abs. 2 lit. a RB), für körperliche Untersuchungen einschließlich der Entnahme von DNA-Proben, Fingerabdrücke (Art. 4 Abs. 2 lit. b RB), für Telekommunikationsüberwachungen und verdeckte Ermittlungen (Art. 4 Abs. 2 lit. c RB), für Untersuchungen von bereits vorhandenen Beweismitteln (Art. 4 Abs. 2 lit. d RB), sowie für von Telekommunikationsunternehmen auf Vorrat gespeicherte Daten (Art. 4 Abs. 2 lit. e RB). Allerdings kann sich eine EBA auch auf die vorbezeichneten Beweismittel erstrecken, wenn diese sich schon vor der Anordnung im Besitz des Vollstreckungsstaates befinden (Art. 4 Abs. 4 RB). Das Kernstück der Regelung ist die grundsätzliche Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung der aus einem anderen EU-Mitgliedstaat stammenden EBA für den Staat, in dem sich das benötige Beweismittel mutmaßlich befindet. In strenger Umsetzung des in Tampere beschlossenen Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung soll grundsätzlich keine weitere Prüfung einer solchen EBA (Anordnungsvoraussetzungen und tatsächliche Umstände) durch den Vollstreckungsstaat erfolgen. Es gibt also in Abweichung vom bisherigen Rechtshilferecht keine Exequaturentscheidung (Art. 11 Abs. 1 RB, §§ 48 ff IRG) mehr. Die Anerkennung und Vollstreckung der EBA darf daher im Grundsatz (auch) nicht von der Prüfung der gegenseitigen Strafbarkeit abhängig gemacht werden (Art. 14 Abs. 1 RB). Eine Ausnahme, d. h. die Möglichkeit der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit, besteht nur für den Fall, dass zur Vollstreckung der EBA eine Beschlagnahme oder Durchsuchung (Art. 14 Abs. 3 RB) erforderlich ist – aber selbst in diesem Fall nur dann, wenn sich die EBA entweder nicht auf eine der in Art. 14 Abs. 2 RB aufgeführten Straftaten bezieht (Art. 14 Abs. 3 RB) oder es sich zwar um eine dieser Straftaten handelt, für diese aber im nationalen Recht des Anordnungsstaates eine Mindesthöchststrafe von weniger als drei Jahren vorgesehen ist. Als Ausnahme von diesem strengen Anerkennungs- und Vollstreckungsgebot sind bestimmte Versagungsgründe (Art. 13 RB) sowie Möglichkeiten eines Aufschubs von Anerkennung bzw. Vollstreckung der Anordnung (Art. 16 RB) vorgesehen. Der Aufschub der Anerkennung kommt insbesondere in Betracht, wenn das vom Anordnungsstaat auszufüllende Formblatt unvollständig ist bzw. wenn eine richterliche Bestätigung für eine Durchsuchung oder Beschlagnahme fehlt. Ein Aufschub der Vollstreckung ist möglich, wenn durch sie laufende Straf- und Ermittlungsverfahren beeinträchtigt würden bzw. das Beweismittel in anderen Verfahren gebraucht wird.

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Maßnahmen zur Durchführung der Vollstreckung einer EBA werden nach Maßgabe des nationalen Rechts des Vollstreckungsstaates ergriffen (Art. 11 Abs. 2 RB). Dieser muss alle Möglichkeiten seines nationalen Rechts zur Vollstreckung einer EBA zur Verfügung stellen (Art. 11 Abs. 3 RB). Er kann allerdings – aber eben auch lediglich – im Falle einer Durchsuchung oder Beschlagnahme verlangen, dass die Anordnung im Anordnungsstaat von einem Richter getroffen wird (Art. 11 Abs. 4 und 5 RB). Revolutionär – sieht man von der vergleichbaren Regelung in Art. 4 Abs. 1 des am 2.2.20068 in Kraft getretenen EURhÜbk9 ab – ist die Maxime, dass bei der Vollstreckung der EBA die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren zwingend einzuhalten sind – solange diese nicht gegen die wesentlichen Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaates verstoßen (Art. 12 S. 1 RB). Auf diese Weise soll die Verwertbarkeit der zu erhebenden Beweise vor den Gerichten des Anordnungsstaates, in den die gewonnenen Sachen etc. im Zuge der Vollstreckung der EBA transferiert werden, sichergestellt werden.10 Das Recht des späteren Forums bestimmt also die konkrete Art und Weise der Maßnahme (Beweiserhebung): lex fori regit actum.

III. Umsetzung des RB-EBA im nationalen Recht – rechtsstaatliche Bedenken 1. Faktische Ausweitung zuständiger Stellen für die Anordnung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen „Anordnungsbehörde“ einer EBA kann nach Art. 2 lit. c ii) RB ein Richter (auch das erkennende Gericht oder ein Ermittlungsrichter) oder Staatsanwalt sein, aber eben auch jede „andere […] Justizbehörde, die […] in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren nach nationalem Recht für die Anordnung der Beweiserhebung in grenzüberschreitenden Rechtssachen zuständig ist“. Welches rechtsstaatliche Misstrauen dieser „anderen Justizbehörde“ selbst vom RB selbst entgegengebracht wird, zeigen die in Art. 11 Abs. 4 und 5 RB getroffenen Regelungen,11 wonach Durchsuchungen und Beschlagnahmen von der Vollstreckungsbehörde letztlich verweigert werden können, wenn die Anordnungsbehörde keine klassische Justizbehörde ist. Für andere strafprozessuale Maßnahmen zur Beweiserlangung besteht ein solches Veto-Recht freilich 8

Bekanntmachung v. 22.9.2006, BGBl. 2006 II, S. 1397. ABl. EU C 197 v. 12.7.2000, S. 1; BGBl. 2005 II, S. 650. 10 Zur Problematik Heger ZIS 2010, 552 f. 11 Siehe auch RB-Erwägungsgrund Nr. 8. 9

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1501

nicht. Gerichte in Deutschland müssen sich – wenn es zu einer europaweiten Umsetzung des RB kommen sollte – darauf einstellen, staatsanwaltschaftliche, u. U. sogar polizeiliche Anordnungen aus dem Ausland mit dem Ziel der Beweisgewinnung befolgen zu müssen – ein verfassungsrechtlich unhaltbarer Angriff auf traditionelle rechtsstaatliche Kontrollmaximen.

2. Abschwächung des präventiven gerichtlichen Rechtsschutzes Für bestimmte mit einer Beweiserhebung verbundene strafprozessuale Zwangsmaßnahmen sieht das deutsche Strafverfahrensrecht zum Schutz der Betroffenen einen Richtervorbehalt vor, den das BVerfG in vielen Fällen auch verfassungsrechtlich mit formalen Anforderungen abgesichert hat. Dass dieses strafprozessuale Modell angewandten Verfassungsrechts bei der Vollstreckung einer EBA ins Wanken gerät, soll am Beispiel der Wohnungsdurchsuchung veranschaulicht werden. Wäre Gegenstand einer EBA die Durchsuchung einer von Art. 13 GG geschützten Räumlichkeit, so hätte die zuständige deutsche Vollstreckungsbehörde (Art. 2 lit. d, Art. 3 RB) die EBA „ohne jede weitere Formalität“ anzuerkennen (Art. 11 Abs. 1 RB) und unverzüglich alle erforderlichen und im nationalen Recht üblichen Maßnahmen zu treffen. Maßgeblich für die konkrete Durchführung der Maßnahme wäre das deutsche Strafprozessrecht, wobei die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren zwingend einzuhalten wären – sofern diese nicht gegen wesentliche Rechtsgrundsätze des deutschen Strafprozessrechts verstoßen (Art. 12 RB). Erforderliche Maßnahme zur Vollstreckung der EBA wäre im Falle der Wohnraumdurchsuchung ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss (§ 105 Abs. 1 S. 1 StPO). Das BVerfG hat für die Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung hohe Hürden aufgestellt.12 Es betont, dass das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG nur in besonders schwerwiegenden Fällen eingeschränkt werden dürfe; angesichts der Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung müsse gerichtlicher Rechtsschutz auch nach Erledigung der Maßnahme zulässig sein.13 Sind Berufsgeheimnisträger von der Durchsuchung betroffen (z. B. bei der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei), mahnt das BVerfG eine besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismä-

12

Vgl. zuletzt BVerfG Beschl. v. 31.8.2010, 2 BvR 223/10; BVerfG StV 2009, 452. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Annahme eines die Wohnungsdurchsuchung rechtfertigenden Tatverdachtes auch BVerfG StraFo 2010, 405 f. 13 BVerfGE 96, 27 = NJW 1997, 2163.

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ßigkeit an.14 Bei Anordnung der Durchsuchung hat der Richter „eigenverantwortlich den zur Anordnung erforderlichen Tatverdacht zu überprüfen“. Die Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung hat er je nach Lage des Einzelfalls in seinem Beschluss explizit darzulegen.15 Insbesondere muss er in seinem Beschluss den „Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, in dem die Zwangsmaßnahme durchgeführt wird“.16 Schließlich dient der richterliche Beschluss gerade dazu, die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten.17 Wie ein deutscher Richter diese verfassungsrechtlichen Vorgaben bei Anordnung einer Durchsuchung zur Vollstreckung einer EBA einhalten soll, erscheint kaum vorstellbar: Als Richter des Vollstreckungsstaates erhielte er aus dem Anordnungsstaat lediglich ein dreizehnseitiges ausgefülltes Formblatt, das ihm Aufschluss über die sachlichen Gründe für die Anordnung geben soll. Darüber hinausgehend hätte er von Deutschland aus kaum Möglichkeiten, den behaupteten Verdacht eigenverantwortlich zu überprüfen, wie es das BVerfG aber gerade verlangt. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in Bezug zu dem im Anordnungsstaat geführten Verfahren i. S. von Art. 5 RB wäre ihm sogar verwehrt: dies wäre allein eine Angelegenheit des Anordnungsstaates (vgl. Art. 7 S. 1 lit. b, S. 2 RB). Hinzu kommt, dass das Formblatt vom Anordnungsstaat in deutscher Sprache auszufüllen bzw. zu übersetzen wäre, was stets mit gewissen sprachlichen Ungenauigkeiten und der Gefahr eines Informationsverlustes verbunden wäre.18 Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der durch Art. 13 GG i. V. m. § 105 Abs. 1 StPO garantierte präventive richterliche Rechtsschutz bei der Vollstreckung einer EBA in Form einer Durchsuchung erheblich eingeschränkt wäre, wenn ein deutscher Ermittlungsrichter den erforderlichen Beschluss nach den Vorgaben des RB erlassen müsste. Kann der Ermittlungsrichter den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 13 GG auf der Basis der ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen (Formblatt) nicht entsprechen, so müsste ihm die Möglichkeit eröffnet sein, die Vollstreckungsmaßnahme unter Hinweis auf die nationale Verfassung abzulehnen. Eine solche Möglichkeit gibt ihm der RB allerdings gerade nur für Formvorschriften und Verfahren, die der Anordnungsstaat ausdrücklich angibt (Art. 12 RB). Verstoßen die vom Anordnungsstaat angegebenen Formen 14

BVerfG NStZ-RR 2008, 177. BVerfGK 1, 126 = NJW 2003, 2669; für OWi-Verfahren vgl. BVerfG NVwZ 2007, 1049. 16 BVerfG Beschl. v. 31.8.2010, 2 BvR 223/10, Rn. 26. 17 BVerfGE 103, 142 (151 f) = NJW 2001, 1122. 18 Deutschland könnte allerdings auch eine EBA in anderen Sprachen akzeptieren (Art. 6 Abs. 2 S. 2 RB). 15

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und Verfahren gegen diesen ordre public, so führt dies allerdings nicht etwa dazu, dass die Anerkennung und/oder Vollstreckung der EBA vollständig versagt werden dürfte: Der Vollstreckungsstaat muss dann auf die ihm bekannten Formen und Verfahren ausweichen – bis zur Versagungs-Grenze der „Unmöglichkeit“ (Art. 13 Abs. 1 lit. c RB). Einen über Art. 12 RB hinausgehenden, allgemeinen Verfassungsvorbehalt kennt der RB dagegen gerade nicht, was auch angesichts des mit ihm intendierten Zieles – Erleichterung des Rechtshilfeverkehrs – zugegebenermaßen systemwidrig wäre. Kritik und Bedenken reichen aber weiter: Wäre die Anordnungsbehörde einer EBA weder eine gerichtliche Stelle noch ein Staatsanwalt sondern eine „andere Justizbehörde“ i. S. von Art. 2 lit. c ii) RB, so könnte die Vollstreckungsbehörde – wenn es sich um eine Durchsuchung handelt – die Vollstreckung von einer Bestätigung der EBA im Anordnungsstaat abhängig machen (Art. 11 Abs. 4 RB).19 Mit der deutschen Zuständigkeits- und Kontrollhierarchie von Richter und Staatsanwalt im Falle der Durchsuchung – gefestigt durch strenge Vorgaben des BVerfG in den letzten Jahren20 – ist es aber nicht in Einklang zu bringen, dass diese Möglichkeit schon dann entfallen soll, wenn ein Staatsanwalt die Bestätigung vornimmt (vgl. Art. 11 Abs. 4 S. 1 RB). Die Vollstreckungsbehörde, die laut Art. 11 Abs. 4 S. 1 RB die Bestätigung verlangen kann, muss zudem nicht zwingend identisch sein mit der gerichtlichen Stelle (Ermittlungsrichter), die konkret zur Vollstreckung der EBA (Durchsuchungsbeschluss) aufgerufen ist, so dass sich die Frage stellt, ob auch ein Ermittlungsrichter unter Berufung auf Art. 11 Abs. 4 S. 1 RB den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses verweigern könnte, unabhängig davon, ob die Vollstreckungsbehörde (mutmaßlich das Bundesamt für Justiz) selbst entsprechende Bedenken geäußert hat. Eine solche Möglichkeit bestünde nur dann, sofern das deutsche Recht sie ausdrücklich vorsähe (Art. 16 Abs. 3 S. 2 a. E. RB). Abgesehen von dieser besonderen Konstellation der „anderen Justizbehörde“ als Anordnungsbehörde bestünde eine Möglichkeit zum Aufschub von Anerkennung oder Vollstreckung der EBA nur in den begrenzten Fällen des Art. 16 RB.

19

Deutschland könnte eine solche richterliche Bestätigung obligatorisch vorschreiben (Art. 11 Abs. 5 RB). 20 BVerfGE 103, 142 = NJW 2001, 1121; BVerfGK 2, 176 = NJW 2004, 1442; BVerfGK 7, 392 = NVwZ 2006, 925; BVerfGK 9, 287 = NJW 2007, 1444.

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3. Verbot der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch im Falle der Durchsuchung? Bleiben wir im vorgenannten Beispiel einer aus dem Ausland eintreffenden EBA, die den Erlass eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses im Inland erforderlich macht. Und rufen wir uns nochmals die Forderung des BVerfG in Erinnerung, wonach der Richter bei Anordnung der Durchsuchung verfassungsrechtlich (Art. 13 GG) gehalten ist, „eigenverantwortlich den zur Anordnung erforderlichen Tatverdacht zu überprüfen“ und den „Tatvorwurf so beschreiben [muss], dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, in dem die Zwangsmaßnahme durchgeführt wird“.21 Bedeutet diese Forderung nicht auch und gerade, dass der Richter sich vergewissern muss, wegen welcher Tat und des ihr im deutschen Recht entsprechenden Delikts er die Anordnung unterschreibt? Das läuft letztlich auf eine Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit hinaus. Wie verhält sich der RB-EBA dazu? Wie bereits erwähnt, darf die Anerkennung und Vollstreckung einer EBA im Grundsatz nicht von der beiderseitigen Strafbarkeit der zugrundeliegenden Rechtsverstöße abhängig gemacht werden (Art. 14 Abs. 1 RB). Eine Ausnahme besteht zwar bei Durchsuchungen (Art. 14 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 RB). Liegt allerdings eine Katalogtat nach Art. 14 Abs. 2 RB vor, für die im Anordnungsstaat eine Mindesthöchststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe angedroht ist, so darf die beiderseitige Strafbarkeit unter keinen Umständen geprüft werden – d. h. auch nicht bei einer zur Vollstreckung der EBA erforderlichen Durchsuchung.22 Gesetz den Fall, in unserem Beispiel wäre die Anordnung der Durchsuchung wegen des Verdachts einer Katalogtat i. S. von Art. 14 Abs. 2 RB mit entsprechender Mindesthöchststrafe erforderlich, wäre es dem deutschen Richter also verwehrt, seinen verfassungsrechtlichen Pflichten nachzukommen. Den darin liegenden Verstoß gegen Art. 13 GG könnte der Betroffene zwar prinzipiell vor dem BVerfG rügen; das höchste deutsche Gericht hat sich aber bei der Gewährung verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in den letzten Jahren weit hinter die Gerichte der Union zurückgezogen23 – und müsste erst überzeugt werden, diese ausgewogene Zurückhaltung wieder aufzugeben. 21

BVerfG Beschl. v. 31.8.2010, 2 BvR 223/10, Rn. 26. Die Bundesrepublik hat sich allerdings die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch bei Terrorismus, Cyberkriminalität, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Sabotage, Erpressung und Schutzgelderpressung sowie Betrug vorbehalten; vgl. ABl. EU Nr. L 350 v. 30.12.2008, S. 92. 23 BVerfGE 73, 339 = NJW 1987, 577 – Solange II; BVerfGE 102, 147 = NJW 2000, 3124 – Bananenmarktordnung; BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, 2267 – Vertrag von Lissabon; BVerfG NJW 2010, 3422 – Mangold; hierzu Esser in: Sieber/Brüner/Satzger/v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 56 Rn. 12 ff. 22

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Vor den Gerichten der Union könnte der Betroffene den Durchsuchungsbeschluss des deutschen Richters ebenfalls nicht angreifen: Gegenstand einer Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) können (neben Gesetzgebungsakten) nur Handlungen von Unionsorganen sein und eine Grundrechtsbeschwerde kennen weder das Unionsrecht im Allgemeinen noch die Charta der Grundrechte im Besonderen.

4. Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz trotz Rechtswegspaltung? Die Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle verdeutlichen die Notwendigkeit eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes auf einfachgesetzlicher Ebene. Bereits früh in die Kritik geraten waren die Regelungen zum (gerichtlichen) Rechtsschutz gegen eine EBA. Art. 18 Abs. 1 RB sieht vor, dass ein Rechtsbehelf gegen die Anordnung und Vollstreckung einer EBA vor einem Gericht des Vollstreckungsstaates bestehen muss. Sachliche Gründe für den Erlass der Anordnung können allerdings nur vor dem Gericht des Anordnungsstaates angefochten werden (Art. 18 Abs. 2 RB). Inhaltlich ist zudem eine Beschränkung von Rechtsmitteln auf Fälle möglich, in denen die EBA mit Zwangsmitteln vollstreckt wird (Art. 18 Abs. 1 S. 2 RB).24 Eine Aufspaltung des Rechtsschutzes vor den Gerichten des Anordnungsund des Vollstreckungsstaates gerät augenscheinlich mit dem Gebot eines effektiven Rechtsschutzes in Konflikt, das in Art. 47 Abs. 1 EUC im Falle der Verletzung eines durch das Recht der Union garantierten Rechtes – dazu gehört auch das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 7 EUC)25 – ausdrücklich eingehalten werden muss. Da es sich bei der Anerkennung und Vollstreckung einer EBA eindeutig um die „Durchführung des Rechts der Union“ handelt, müsste im nationalen Recht dem von einer Vollstreckungsmaßnahme Betroffenen ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht zur Verfügung stehen. Bereits stärker konturiert als Art. 47 Abs. 1 EUC ist diese Forderung in dem über die EMRK verbundenen Rechtsraum des Europarates. Art. 13 EMRK normiert das Recht auf eine wirksame Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz, die mit der Behauptung einer konventionswidrigen Behandlung befasst werden kann. Mit dem Gebot eines wirksamen („effektiven“) Rechtsschutzes dürfte auf den ersten Blick die vorgenannte Aufgliederung des Rechtsschutzes gegen eine EBA vor Gerichten des Anordnungs- und des Vollstreckungsstaates kaum akzeptabel sein. Eine wirksame Beschwerdemöglichkeit setzt nach der Rechtsprechung des EGMR 24 25

Kritisch hierzu Roger GA 2010, 40. So schon EuGH Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst, Slg. 1989, 2859 = NJW 1989, 3080.

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zwar nicht voraus, dass die Beschwerdeinstanz die Kompetenz hat, die angegriffene Entscheidung aufzuheben, jedoch muss sie in der Lage sein, eine angemessene Entschädigung („adequate redress“) zuzusprechen.26 Zwar vertritt der EGMR die These, dass verschiedene Rechtsmittel, die für sich allein genommen keine wirksame Beschwerdemöglichkeit darstellen, zusammengenommen den Erfordernissen des Art. 13 EMRK gerecht werden können.27 Dass sich zwei nationale Rechtsbehelfe zu einem insgesamt „wirksamen“ Rechtsbehelf ergänzen können, mag auch einleuchten. Wie dies bei zwei Rechtsbehelfen in – im Extremfall – zwei vom Wohnsitzstaat des Betroffenen unterschiedlichen Rechtsordnungen mit ggf. unterschiedlichen Sprachen der Fall sein sollte, ist allerdings kaum vorstellbar – zumal im Falle einer inhaltlichen Aufteilung der Prüfungskompetenz in das „Ob“ (sachliche Gründe) im Anordnungsstaat und in das „Wie“ (Art und Weise der Vollstreckung) im Vollstreckungsstaat. Hier wird deutlich, dass Art. 13 EMRK mit der Möglichkeit eines „addierten Rechtsschutzes“ eine rein innerstaatliche Perspektive verfolgt.

5. Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener Beweise Ungelöst ist die Frage, welche Rechtsfolge ein Verstoß gegen bestimmte Regelungen des RB (z. B. die Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung [TKÜ] mit anschließender Übermittlung der Beweise an den Anordnungsstaat) in der Praxis nach sich zieht, insbesondere, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Verstoß zu einem Beweisverwertungsverbot im gerichtlichen Verfahren des Anordnungsstaates führt. Ebenfalls noch nicht gelöst ist das Problem, ob unter Verstoß gegen das Recht des Vollstreckungsstaates und damit rechtswidrig erhobene und über eine EBA erlangte Beweise im Verfahren des Anordnungsstaates verwertbar sind. Dass die Regelung solcher Verwertungsfragen sowohl im RB als auch im RL-E 26

EGMR Chitayev u. a. ./. Russland, 18.1.2007; Mikadze ./. Russland, 7.6.2007; Silver u. a. ./. UK, 25.3.1983, Series A Nr. 61 = EuGRZ 1984, 147; Klass ./. Deutschland, 6.9.1978, Series A Nr. 28 = NJW 1979, 1755; Rotaru ./. Rumänien, 4.5.2000, ECHR 2000-V = ÖJZ 2001, 74; Al-Nashif ./. Bulgarien, 20.6.2003, ÖJZ 2003, 344; Peck ./. UK, 28.1.2003, ECHR 2003-I = ÖJZ 2004, 651 verneinend für Medienkommission, die keinen Schadensersatz zusprechen kann; vgl. ferner Frowein/Peukert EMRK, 2009, Art. 13 Rn. 3, 6; Grabenwarter EMRK, 2009, § 24 Rn. 114; Meyer-Ladewig EMRK, 2006, Art. 13 Rn. 15; zu Art. 2 Abs. 3 IPbpR vgl. Nowak CCPR Commentary, 2005, Art. 2 Rn. 68 je m. w. N.; Volkert JZ 2002, 557. 27 EGMR Silver u. a. ./. UK (Fn. 26); Lithgow u. a. ./. UK, 8.7.1986, Serie A Nr. 102 = EuGRZ 1988, 350; Leander ./. Schweden, 26.3.1987, Serie A Nr. 116; Chahal ./. UK, 15.11.1996, Rep. 1996-V = NVwZ 1997, 1093, § 145; Abdolkhani u. Karminia ./. Türkei, 22.9.2009, § 107; Kudla ./. Polen, 26.10.2000, ECHR 2000-XI = NJW 2001, 2694, § 157; Jaremowicz ./. Polen, 5.1.2010, § 69; Grabenwarter (Fn. 26) § 24 Rn. 114; Meyer-Ladewig (Fn. 26) Art. 13 Rn. 13; dagegen Frowein/Peukert (Fn. 26) Art. 13 Rn. 6.

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unterblieben ist, dürfte kompetenzrechtliche Gründe haben, maßgeblich aber auch auf das Subsidiaritätsprinzip zurückzuführen sein. Nach jetzigem Stand hätte eine rechtswidrige Erhebung von Beweisen in Anerkennung einer EBA jedenfalls nicht zur Folge, dass die (weitere) Vollstreckung der EBA, d. h. die Übermittlung der Beweise, zwingend ausgesetzt werden müsste. Immerhin kann der Vollstreckungsstaat dies entscheiden (vgl. Art. 18 Abs. 6 RB). In vielen Fällen dürften die Beweise zunächst übermittelt und in das Strafverfahren des Anordnungsstaates eingeführt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die nationale Rechtsprechung zu Beweisverwertungsverboten europaweit höchst unterschiedlich und in einigen Staaten sehr restriktiv ausgestaltet ist,28 besteht damit die Gefahr, dass die Beweise zunächst einmal im Verfahren Beachtung finden.

6. Verwerfungen im paritätischen Beweisantragsrecht „Anordnungsbehörde“ und damit Initiator für eine EBA kann nur eine Justizbehörde sein (Art. 2 lit. c RB) – nicht aber der Verteidiger oder gar der Beschuldigte. „Unmittelbaren“ Zugriff auf die EBA im Ermittlungsverfahren haben daher nur die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.29 Der Verteidiger bzw. der Beschuldigte kann in diesem vorbereitenden Stadium des eigentlichen gerichtlichen Verfahrens eine Beweiserhebung im Ausland mit Hilfe einer EBA lediglich unter Hinweis auf den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO) anregen. Auch über Eurojust gibt es für die Verteidigung keine Möglichkeit, eine (entlastende) Beweiserhebung vor Abschluss der Ermittlungen zu erzwingen. Gleiches gilt für einen Antrag auf Vornahme einzelner Beweiserhebungen im Zwischenverfahren (§ 201 Abs. 1 StPO), dessen Ablehnung zudem unanfechtbar ist (§ 201 Abs. 2 S. 2 StPO). In der Hauptverhandlung verbessert sich die Position des Beschuldigten nur unwesentlich. Er kann eine Beweiserhebung im Ausland auf der Grundlage einer EBA zwar jederzeit anregen (Beweisermittlungsantrag) und auch förmlich beantragen (§ 244 Abs. 1 StPO), erhält damit aber weiterhin keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Instrument des grenzüberschreitenden Beweistransfers – im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft, die prinzipiell nicht gehindert ist, auch im Hauptverfahren noch selbstständig Beweise zu sichern und dabei direkten Zugang zur EBA hätte. Um einen Verstoß gegen die Grundsätze der Waffengleichheit in dieser sensiblen Phase des Verfahrens zu vermeiden, wäre es geboten, den Staatsanwalt schon formal als Anordnungsbehörde i. S. von Art. 2 lit. c i. V. m. Art. 3 RB auszuschließen. 28

Vertiefend Gleß JR 2008, 317. Im nationalen Recht wäre eine weitere Beschränkung (z. B. Ausschluss der Staatsanwaltschaft) möglich (Art. 3 Abs. 1 RB). 29

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7. Formen versteckter Verfolgungshilfe Die EBA erstreckt sich auch auf alle weiteren Sachen, Schriftstücke oder Daten, die die Vollstreckungsbehörde bei der Vollstreckung entdeckt und ohne weitere Ermittlungen als relevant für die Verfahren erachtet, für deren Zweck die EBA erlassen wurde (Art. 2 Abs. 6 RB). Die Vollstreckungsbehörde unterrichtet die Anordnungsbehörde sofort in jeder beliebigen Form, wenn sie bei Vollstreckung der EBA zu der „Auffassung gelangt, dass es sachgerecht sein könnte, Ermittlungshandlungen durchzuführen, die zunächst nicht vorgesehen waren, […]“ damit die Anordnungsbehörde weitere Maßnahmen ergreifen kann (Art. 17 Nr. 1 lit. a RB). Derart subtile Formen der „operativen“ Zusammenarbeit von Anordnungs- und Vollstreckungsstaat – oder besser gesagt der „Zuarbeit“ des Vollstreckungsstaates – gehen deutlich über den Rahmen eines Instrumentes zur Erleichterung des Beweistransfers (siehe jetzt „Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis“ in Art. 82 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV) hinaus und verleihen der Forderung nach einer Verbesserung des (gerichtlichen) Rechtsschutzes (s. o.) noch stärkeres Gewicht.

8. Verzicht auf Schutzgarantien für die Vollstreckung Ein zentraler Kritikpunkt ist schließlich der weitgehende Verzicht auf Schutzgarantien im Regelungskonzept des RB-EBA – in Abkehr von entsprechenden Vorschlägen im RB-Entwurf, etwa zum Nemo-teneturGrundsatz und zur Art und Weise von Durchsuchungen (vgl. Art. 12 RBE).30 Das Vertrauen auf die Beachtung der in der Rechtsprechung des EGMR gefestigten Beschuldigtenrechte ist nur begrenzt nachvollziehbar,31 hält man sich die Fallzahlen in Straßburg, vor allem die Zahl der Verurteilungen auf strafprozessualem Gebiet, vor Augen. Eine ausdrückliche Einbeziehung grundlegender Schutzstandards in ein Rechtsinstrument zum grenzüberschreitenden Beweistransfer erscheint vor diesem Hintergrund unumgänglich.

IV. Von der Europäischen Beweisanordnung (EBA) zur Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) Bemerkenswert ist, dass noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist für den RB-EBA Arbeiten an einer noch weiter reichenden Maßnahme zur Erlan30 31

Vgl. Roger GA 2010, 40. Kritisch bereits Esser BRAK-Mitt. 2007, 53.

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gung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedsstaat begonnen haben. Die Kommission hatte zur Vorbereitung ihres eigenen für 2011 geplanten RiL-Vorschlags bereits Ende 2009 ein entsprechendes Grünbuch als Diskussionsgrundlage aufgelegt.32 Seit April 2010 liegt nun völlig überraschend eine Initiative mehrerer Mitgliedstaaten mit einem konkreten Vorschlag für eine auf Art. 82 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV gestützte Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen vor,33 die Teile des Grünbuches aufgreift. Ziel der geplanten Richtlinie ist die Bündelung der einzelnen zum Beweistransfer vorliegenden Rahmenbeschlüsse34 zu einer einzigen Richtlinie,35 die nun auch im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen als Regelungsinstrument zur Verfügung steht (Art. 82 Abs. 2 S. 1 AEUV). Kernelement soll eine sog. Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) werden. Die nationalen Parlamente sind bereits mit dem Entwurf befasst worden. Der Deutsche Bundestag hat auf Vorschlag des Rechtsausschusses36 die Bundesregierung aufgefordert, den unter Federführung Belgiens entstandenen RL-E in seiner vorgelegten Form abzulehnen.37 Der Vorschlag sieht die Aufhebung des RB-EBA vor (Art. 29 Abs. 2 RLE). Die geplante EEA soll für alle Ermittlungsmaßnahmen möglich sein außer für die Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe (Art. 3 Abs. 2 lit. a RL), für eine TKÜ mit unmittelbarer Weiterleitung (Art. 3 Abs. 2 lit. b RL-E), sowie für eine TKÜ, soweit sich die Zielperson nicht im Vollstreckungsstaat aufhält (Art. 3 Abs. 2 lit. c RL-E). Wesentliche Neuerungen im Vergleich zum RB-EBA resultieren aus der (theoretischen) Erkenntnis, dass das bisherige standardisierte Verfahren (Anordnung statt Rechtshilfeersuchen, vorgegebene Formulare, feste Fristen) nicht auf alle Maßnahmen passt. Bei einzelnen Maßnahmen soll auf ihre jeweiligen Besonderheiten Rücksicht genommen werden. 32 „Erlangung verwertbarer Beweise zur Verwendung in Strafverfahren in anderen Mitgliedsstaaten“, KOM (2009) 624 v. 11.11.2009; hierzu: Schünemann/Roger ZIS 2010, 92. 33 ABl. EU Nr. C 165 v. 24.6.2010, S. 22. 34 Neben dem RB-EBA gibt es noch den aus dem Jahr 2003 stammenden Rahmenbeschluss 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. EU Nr. L 196 v. 2.8.2003, S. 45); zur Umsetzung im nationalen Recht siehe Gesetz v. 6.6.2008 (BGBl. I, S. 995). 35 Der Erlass eines RB ist mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1.12.2009 nicht mehr möglich. Die bereits in Kraft getretenen RB behalten aber ihre Wirksamkeit; siehe Art. 9 des Protokolls Nr. 36 zum Vertrag von Lissabon, ABl. EU Nr. C 83 v. 30.3.2010, S. 322. 36 Beschluss des Deutschen Bundestages, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234. 37 BT-Beschluss, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234, S. 5 f.

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Bei Maßnahmen, die ohne Zwangsmittel vollstreckt werden können, soll keine Ablehnung der Vollstreckung (z. B. verfassungsrechtlich denkbar aus Gründen des Datenschutzes oder zum Schutz von Persönlichkeitsrechten) mehr möglich sein. Hinsichtlich des Rechtsschutzes verweist der Entwurf auf nationale Rechtsbehelfe (Art. 13 RL-E). Die Sachgründe für den Erlass einer EEA können weiterhin – trotz der bereits zur EBA formulierten Kritik (III. 4.) – nur vor einem Gericht des Anordnungsstaates angefochten werden.

V. Kritik am Richtlinienentwurf EEA Auch gegen die geplante Richtlinie zur EEA erhebt sich vielfältige, zum Teil heftige Kritik, vor allem gegen die weiterhin unflexible Regelung zur Möglichkeit der Ablehnung der Vollstreckung. Art. 10 RL-E nennt abschließend Ablehnungsgründe, wobei ein allgemeiner Ordre-publicVorbehalt nach wie vor nicht vorgesehen ist: „Wesentliche Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaats“ setzen weiterhin nur den vom Anordnungsstaat „ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren“ Grenzen (Art. 8 Abs. 2 RL-E), so dass der Vollstreckungsstaat der Verkehrsfähigkeit strafrechtlicher Beweise auch auf der Grundlage einer EEA nur sehr begrenzt rechtsstaatliche Bedenken entgegensetzen kann38 – insbesondere nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Man muss schon an der Notwendigkeit der Einführung einer EEA ernstlich zweifeln, wenn deren Initiatoren sich nicht einmal des bereits von der EBA abgedeckten Spektrums des Beweismitteltransfers bewusst sind und fehlerhaft davon ausgehen, dass sich die EBA nur auf „bereits erhobene Beweismittel“ beziehe, d. h. offensichtlich die Regelung des Art. 4 Abs. 4 RB (s. o. II.) grundlegend missverstehen.39 Ein weiterer zentraler Kritikpunkt ist, dass der RL-E zu einem Zeitpunkt auf den Weg gebracht wird, zu dem der RB-EBA noch gar nicht umgesetzt ist.40 Der ursprüngliche Zeitplan der Kommission sah den Legislativvorschlag für die EEA erst für 2011 vor.41 In einigen EU-Mitgliedstaaten ist

38 BT-Beschluss, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234, S. 5 f; vgl. auch Lelieur ZIS 2010, 596 ff, der auf die unterschiedlich hohen Schutzstandards in den Mitgliedsstaaten am Beispiel Frankreichs hinweist. 39 Vgl. RiL-E, Erwägungsgrund Nr. 4. 40 BT-Beschluss, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234, S. 2. 41 KOM (2010) 171, S. 19; vgl. auch BR-Beschluss v. 12.2.2010, BR-Drucks. 906/09.

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bislang nicht einmal das EURhÜbk42 aus dem Jahr 2000 in nationales Recht umgesetzt worden.43 Selbst grundsätzliche Befürworter des RL-Entwurfs gestehen ein, dass derzeit noch keine gesicherte empirische Basis über den tatsächlichen Nutzen der gegenseitigen Anerkennung von Beweisen in Strafverfahren besteht.44 Grundsätzlich wird eingewandt, der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung passe nicht für das Straf- und Strafverfahrensrecht; in diesem Bereich seien die Regeln der traditionellen Rechtshilfe ausreichend. Letztere seien zu Unrecht in Misskredit geraten und in der Praxis hinreichend effizient.45 Vor allem aber wird die Beibehaltung der Grundregel lex fori regit actum gefordert, um angesichts der unterschiedlichen Standards in den Mitgliedstaaten Widersprüche im Vollstreckungsstaat zu vermeiden.46 Ein weiteres Problem ist in den verschiedenartigen nationalen Beweiserhebungsregeln in den EU-Mitgliedstaaten zu sehen, denen die geplante EEA nur unzureichend Rechnung trägt. Diese lassen einem Beweis im Anordnungsstaat häufig eine andere Bedeutung zukommen als im Vollstreckungsstaat. Als Lösung böte sich an, entweder allgemeine Beweiserhebungsregeln für alle Beweisarten vorzusehen oder spezifische Beweiserhebungsregeln für jede einzelne Beweisart zu formulieren. Allerdings würde eine weitreichende und tiefgreifende Regelung der Beweiserhebungsregeln in der Richtlinie nicht mehr mit der Subsidiaritätsklausel des Art. 82 Abs. 2 S. 1 AEUV in Einklang zu bringen sein. Mehr als eine fragmentarische Regelung, die in der Sache allerdings nicht weiterhilft, wäre von der Rechtsgrundlage im AEUV nicht gedeckt.47 Ferner wird Kritik geäußert hinsichtlich der Bestimmtheit der Anordnung, insbesondere gegen den Katalog an Straftaten, bei denen die beiderseitige Strafbarkeit nicht mehr zu prüfen sein soll.48 Hierzu hat das BVerfG unmissverständliche Vorgaben formuliert.49 Einigen Deliktsgruppen, so etwa dem Terrorismus, kommt lediglich tatbestandsähnlicher Charakter zu. So genügt letztlich die Einschätzung eines einzelnen Mitgliedstaates, ob ein solches Delikt vorliegt.50 Der Deutsche Bundestag jedenfalls lehnt eine 42

Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vom 29.5.2000, ABl. EG Nr. C 197 v. 12.7.2000, S. 1. 43 So z. B. in Italien, vgl. Allegrezza ZIS 2010, 570. 44 Bachmaier/Winter ZIS 2010, 588. 45 Ambos ZIS 2010, 557 f. 46 Ambos ZIS 2010, 565 f; Busemann ZIS 2010, 555. 47 Ebenso Busemann ZIS 2010, 555. 48 BT-Beschluss, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234, S. 5. 49 BVerfG NJW 2002, 1941 = StV 2002, 345 m. Anm. Wehnert/Mosiek. 50 Hierin wird in der Literatur ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG gesehen; siehe Ahlbrecht NStZ 2006, 72: „beliebig einsetzbares trojanisches Pferd“;

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Erweiterung derjenigen Deliktsgruppen, bei denen die gegenseitige Strafbarkeit nicht geprüft werden darf, über das im RB festgelegte Niveau hinaus ab.51 Schließlich ist zu kritisieren, dass aus Art. 1 Abs. 1 RL-E nicht eindeutig hervorgeht, ob eine EEA nur als gerichtliche Entscheidung oder aber auch als behördliche Entscheidung (vgl. Art. 2 lit. a i) RL-E) ergehen kann. In anderen EU-Mitgliedstaaten ist ebenfalls Kritik laut geworden. Angesichts der im RL-E zu Tage tretenden Tendenzen einer Vernachlässigung der Rechte des Beschuldigten bestehen in der französischen Literatur große Sorgen, dass sich diese Tendenz auch in der anstehenden Reform des französischen code de procédure pénale niederschlagen wird.52 Freilich gibt es auch Stimmen aus der Praxis, die den RL-E befürworten, die praktische Bedeutung des Paradigmenwechsels vom „Ersuchen“ hin zu einer „Anordnung“ der Beweiserhebung angesichts mannigfaltiger bi- und multilateraler Rechtshilfeabkommen der Mitgliedsstaaten für gering halten und die grundsätzliche Tendenz, Entscheidungskompetenzen von den Vollstreckungsstaaten auf die Anordnungsstaaten zu übertragen, für im Grunde wünschenswert halten.53

VI. Fazit „Die […] praktizierte Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung, die keine allgemeine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen vorsieht, ist gerade auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität (Art. 23 Abs. 1 GG) ein Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren.“54 Es bedarf aber zuvor einer Angleichung verfahrensrechtlicher Beschuldigtenstandards und einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit im Detail. Ab 2011 ist erstmals mit dem Eintreffen von EBAs aus dem Ausland vor deutschen Gerichten und Strafverfolgungsbehörden zu rechnen.55 Der Vorschlag für eine EEA kommt daher deutlich zu früh. Die förmliche Umsetvgl. auch Kotzurek ZIS 2006, 128; anders aber der EuGH Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 = NJW 2007, 2237, §§ 51 ff bzgl. des Deliktskatalogs im RB-EuHB. 51 BT-Beschluss, Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 GG v. 7.10.2010, BT-Drucks. 17/3234, S. 5. 52 Vgl. Lelieur ZIS 2010, 590. 53 Schierholt ZIS 2010, 568. 54 BVerfG Beschl. v. 18.7.2005, NJW 2005, 2291 (EuHB-Gesetz). 55 Für die Zeit vor dem 19.1.2011 (Ablauf der Umsetzungsfrist, Art. 23 RB) galten die bisherigen Rechtsinstrumente zur Rechtshilfe in Strafsachen (Art. 22 RB).

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zung des RB-EBA – Überarbeitung des IRG – hat offiziell noch nicht einmal begonnen. Als misslich erweist sich zudem der Umstand, dass ab 2011 vermutlich zwei unterschiedliche Vorschläge zur Einführung einer EEA vorliegen werden: Neben dem seit April 2010 diskutierten Vorschlag Belgiens (Ratsinitiative) ist ein weiterer Vorschlag der Kommission zu erwarten. Dass die Prüfung und Erörterung von zwei Vorschlägen zur selben rechtlichen Thematik die inhaltliche Abstimmung eher erschwert als erleichtert und am Ende in einem – nicht nur sprachlich – unzureichend abgestimmten Dokument enden kann, hat nicht zuletzt die Richtlinie über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen im Strafverfahren56 gezeigt. Fragen des Beweisrechts haben stets das wissenschaftliche Interesse des Jubilars zu wecken vermocht.57 Nicht zuletzt sein Bemühen um die Grundlagen und Grenzen der Beweisverbotslehre lassen zweifelsfrei den Schluss zu, dass eine menschenrechtlich und rechtsstaatlich einwandfreie Ausgestaltung des grenzüberschreitenden Beweistransfers in Strafsachen in Europa eine Forderung darstellt, der sich auch der Jubilar ohne jedes Zögern verschreiben würde. Möge er die derzeitige Umsetzung und weitere Entwicklung europäischer Rechtsinstrumente zu dieser spannenden Materie des Verfahrensrechts bei stets guter Gesundheit und fortwährender akademischer Schaffenskraft in den nächsten Jahren weiter kritisch verfolgen und begleiten.

56 ABl. EU Nr. L 280 v. 26.10.2010, S. 1 ff. Zur Entstehungsgeschichte der Richtlinie Esser (Fn. 23) § 53 Rn. 56 ff. 57 Roxin JZ 1992, 923; ders. NStZ 1999, 149; ders. NStZ 2007, 616; ders. StV 2009, 113.

Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechtskraft“? HELMUT SATZGER

I. Einleitung Rechtskraft ist ein elementarer Bestandteil jeder Rechtsordnung, da dem Recht eine friedensstiftende Funktion zufällt. Es dient dazu, Konflikte mit dem Anspruch auf Endgültigkeit zu beenden. Der Ausdruck dieser Endgültigkeit im Prozess ist die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen. Gerade im Strafrecht ist dies von erheblicher Bedeutung, weil der Auslöser eines Strafverfahrens ein Verhalten ist, das mutmaßlich einen für die Gesellschaft elementaren Wert – ein Rechtsgut – schuldhaft gefährdet oder verletzt hat, so dass der Täter einen erheblichen Eingriff in seine Grundrechte in Form einer Freiheits- oder Geldstrafe „verdient“ und der Staat gleichzeitig ein sozialethisches Unwerturteil in Form der Verurteilung über ihn spricht. Mit dem Urteil soll es dann aber sein Bewenden haben, und zwar eben ab demjenigen Zeitpunkt, in dem dieses unanfechtbar wird, also „in Rechtskraft erwächst“. Auf Basis dieses Urteils soll – im Falle einer Verurteilung – die Strafe vollstreckt werden können; im Falle des Freispruchs soll sich der Beschuldigte grundsätzlich darauf verlassen können, nicht wieder mit dem Vorwurf im Rahmen eines Strafverfahrens konfrontiert zu werden. In diesem Sinn wird Rechtskraft in allen Strafprozessrechtslehrbüchern ähnlich umschrieben. In dem Lehrbuch des Jubilars etwa heißt es: „Rechtskraft bedeutet die Unanfechtbarkeit einer Entscheidung im Rahmen desselben Prozesses (Beendigungswirkung); daneben zieht sie die Vollstreckbarkeit des Urteils nach sich (Vollstreckungswirkung).“ Diese – als formelle Rechtskraft bezeichneten – Wirkungen werden dann durch die materielle Rechtskraft ergänzt, die auf der formellen Rechtskraft aufbaut. Wieder in den Worten Roxins: „Die materielle Rechtskraft bewirkt, dass die rechtskräftig abgeurteilte Sache nicht noch einmal zum Gegenstand eines anderen

Für die Mithilfe bei der Erstellung dieses Beitrags bin ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Rechtsreferendar Dr. Felix Walther zu großem Dank verpflichtet.

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Verfahrens gemacht werden darf; das Strafklagerecht ist verbraucht (Sperrwirkung).“1 Wenn die Rechtskraft damit ein „Eckstein“ jeder Strafverfahrensordnung ist, so stellt sich die – hier thematisierte – Frage, was dies für die Europäische Rechtsordnung bedeutet, insbesondere für das sich zweifellos herausbildende Strafverfahrensrecht der Europäischen Union. Wir befinden uns insoweit in einem als dynamisch zu bezeichnenden Prozess. Die Union bezeichnet sich selbst als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ und setzt den Grundsatz der „gegenseitigen Anerkennung“ ein, um das Territorium aller Mitgliedstaaten der EU als „einheitlichen Rechtsraum“ auszugestalten. De facto zielt die Union damit auf die Herausbildung einer – allerdings nicht notwendig einheitlichen – europäischen Straf(prozess)rechtsordnung, die prima facie ebenso wie die deutsche Rechtsordnung einer Beendigungs-, Vollstreckungs- und Sperrwirkung strafrechtlicher Entscheidungen – kurzum einer Rechtskraft – bedarf. Im Kontext der EU geht es natürlich in erster Linie um eine transnationale Rechtskraft. Von Interesse sind Fragen wie diese: Kann ein in Italien – nach dortigem Recht – „rechtskräftig“ verurteilter Täter wegen „derselben Tat“ nochmals in Deutschland verurteilt werden, natürlich stets vorausgesetzt, dass deutsche Gerichte nach dem deutschen Strafanwendungsrecht (§§ 3 ff StGB) zu einer Aburteilung unter Anwendung deutschen Strafrechts grundsätzlich berufen sind? Und hier beginnt das Problem: Traditionell begnügte man sich in Lehrbüchern mit dem Hinweis darauf, dass Art. 103 Abs. 3 GG und die daraus fließende Sperrwirkung nur für die deutsche Gerichtsbarkeit Geltung hätten. Auch der Jubilar verfährt in seinem 1998 zuletzt unter seiner Ägide neu aufgelegten Lehrbuch so. Dies ist angesichts des Stands der Entwicklungen am Ende des letzten Jahrtausends mehr als verständlich. Als geradezu fortschrittlich muss hervorgehoben werden, dass Roxin bereits auf Art. 54 SDÜ und vertiefende Literatur zur internationalen Dimension verwies.2

II. Formelle und materielle Rechtskraft im deutschen Recht Entsprechend der oben genannten begrifflichen Unterscheidung wird im deutschen Recht der Eintritt der formellen Rechtskraft als notwendige Voraussetzung für die materielle Rechtskraft angesehen.

1 Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., § 50 Rn. 23, ebenso in der von Schünemann fortgeführten 26. Aufl., § 52 Rn. 1. 2 Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., § 50 Rn. 23.

Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechtskraft“?

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Formell rechtskräftig ist zunächst jedes strafrechtliche Urteil3, egal ob verurteilenden oder freisprechenden Inhalts, und zwar immer dann, wenn es unanfechtbar ist;4 auch ein Strafbefehl ist – wegen seiner Gleichstellung mit einem rechtskräftigen Urteil in § 410 III StPO – voll der Rechtskraft fähig.5 Wichtigste Wirkung der formellen Rechtskraft ist der Eintritt der materiellen Rechtskraft: Die Strafklage bzgl. des dem Urteil zugrunde liegenden Prozessgegenstands, also bzgl. der Tat, ist „verbraucht“. Ne bis in idem! Durchbrechungen dieser Beendigungswirkung sind zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, bedürfen aber – zumindest soweit sich diese zum Nachteil des Beschuldigten auswirken – der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung6: Neben den Ausnahmekonstellationen der §§ 44 ff. StPO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), § 357 StPO (Revisionserstreckung auf Mitangeklagte) und § 95 Abs. 2 BVerfGG (Aufhebung des Urteils nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde) ist hier vor allem das Wiederaufnahmeverfahren (§§ 359 ff. StPO) zu nennen.

III. Rechtskraftwirkung auf internationaler Ebene Da Art. 103 Abs. 3 GG die Einmaligkeit der Strafverfolgung durch deutsche Gerichte garantiert7 und keine allgemeine Regel des Völkerrechts existiert, die es gebietet, die Strafverfolgung gegen eine Person wegen eines Lebenssachverhaltes zu unterlassen, dessentwegen sie bereits in einem anderen Staat verfolgt und rechtskräftig abgeurteilt worden ist8, stellt sich die Frage nach spezielleren internationalen Rechtskraftregelungen. Mehrere internationale Abkommen enthalten Vorschriften über die strafrechtliche Rechtskraftwirkung: Sowohl Art. 14 Abs. 7 IPBR als auch Art. 4 des 7. Protokolls zur EMRK verbieten explizit eine erneute Verfolgung oder Bestrafung, allerdings nur „in einem Strafverfahren desselben Staates“. Auch diese internationalen Garantien gehen also nicht über ein innerstaatliches ne bis in idem hinaus. Im Ergebnis kommt eine Berücksichtigung ausländischer Entscheidungen in Deutschland demnach nur im Rahmen der Strafzumessung (§ 51 Abs. 3 StGB) und der Verfahrenseinstellung nach § 153c Abs. 2 StPO in Betracht. Die deutsche Rechtsordnung ist hier – im 3

Zur Rechtskraftfähigkeit sonstiger Entscheidungen s. nur Roxin PdW StPO Fälle 490 ff. Maunz/Dürig-Schmid-Aßmann Art. 103 GG Rn. 295. 5 S. nur Meyer-Goßner § 410 StPO Rn. 12. 6 Zu Extensionen zugunsten des Verurteilten s. z. B. Satzger Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 678 ff. 7 St. Rspr. seit BVerfGE 12, 62 (66). 8 Dies wäre ein Aspekt, der über Art. 25 GG Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden würde, s. BVerfGE 75, 1. 4

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Vergleich zu benachbarten Staaten, wo oftmals auch eine ausländische Erstentscheidung die Strafklage verbraucht9 – eindeutig zurückhaltend.

IV. Ein transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU 1. Der Hintergrund: die Ziele der EU Die Ziele der EU, insbesondere das eingangs beschriebene Ziel der Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums, in den Worten des Art. 3 Abs. 2 EUVertrag die Schaffung eines „Raum[s] der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem […] der freie Personenverkehr gewährleistet ist“, wird durch ein derart nationales Verständnis der Rechtskraft von vornherein untergraben. Ein in einem Mitgliedstaat rechtskräftig Verurteilter bzw. Freigesprochener soll, überschreitet er die Grenze eines anderen Mitgliedstaats, nicht davon ausgehen müssen, abermals mit einem Strafverfahren überzogen werden zu können. Dies würde evident die Freizügigkeit der EU-Bürger behindern. Anders wäre dies hingegen, wenn auf jede Tat stets nur das Strafrecht eines Mitgliedstaates anwendbar wäre, wenn also konkurrierende Strafansprüche nicht existierten. Dieser Zustand mag wünschenswert sein, so weit sind wir allerdings noch (lange) nicht10: Die Szenarien einer Internationalisierung der (organisierten) Kriminalität führen nämlich nicht nur zu einer an sich begrüßenswerten engeren Zusammenarbeit der nationalen Ermittlungsstellen, sondern darüber hinaus zu immer weiter reichenden nationalen Strafansprüchen. Paradoxerweise wird dann gerade diese Ausdehnung des Geltungsbereichs mitgliedstaatlicher Strafvorschriften auch noch von Unionsseite selbst forciert. Wenn nämlich aus dem unionsrechtlichen Loyalitätsgebot (s. Art. 4 Abs. 3 EUV) folgen soll, dass die Mitgliedstaaten Rechtsgüter der Union in gleichem Maße wie nationale Rechtsgüter strafrechtlich zu schützen haben,11 so läuft dies genauso zwangsläufig auf Mehrfachzuständigkeiten hinaus wie die in jedem EURechtsakt zu findenden und von den Einzelstaaten umzusetzenden Regelungen über die Gerichtsbarkeit. Dass aber die (auch nur latente) Möglichkeit einer Mehrfachverfolgung innerhalb der Union ohne effektive ne bis in 9 Näher Kruck Der Grundsatz 'ne bis in idem' im Europäischen Kartellverfahrensrecht, 2009, S. 127 ff.; Mansdörfer Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 57 ff. 10 Ansätze, auf Unionsebene zu einer Zuständigkeitskonfliktvermeidung zu gelangen, markieren das Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem (KOM (2005) 696 endg.) sowie zuletzt der Rahmenbeschluss zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten (ABl. EU 2009 L 328/42). 11 Dazu Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 9 Rn. 25 ff.

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idem-Regelung im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Grundfreiheiten steht, erscheint evident. Auf der anderen Seite waren auf Grund politisch motivierter Vorbehalte viele Nationalstaaten jahrelang nicht bereit, ausländische Entscheidungen ohne Weiteres anzuerkennen, was am geringen Ratifikationsstand des im Jahre 1970 im Rahmen des Europarats entstandenen Europäischen Übereinkommens über die internationale Geltung von Strafurteilen und des Europäischen Übereinkommens über die Übertragung der Strafverfolgung von 1972 ablesbar ist.12 Aber auch im Rahmen der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft waren die Fortschritte anfangs begrenzt. Zwar war der ne bis in idem-Grundsatz auch in der Rechtsprechung des EuGH bereits frühzeitig anerkannt worden.13 Allerdings wurde dabei der Tatbegriff so eng gefasst, dass eine mehrfache Sanktionierung derselben Verfehlung seitens der Gemeinschaft einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits durch ein (vertikales) ne bis in idem nur selten anzunehmen war.14 Nachdem selbst das 1987 geschlossene Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über das Verbot der doppelten Strafverfolgung (EG-ne-bis-in-idemÜbereinkommen)15 am mangelnden Ratifizierungswillen der (meisten) europäischen Staaten gescheitert war, gelang der „Durchbruch“ eines zwischenstaatlichen horizontalen ne bis in idem schließlich mit dem – mittlerweile in den Rechtsrahmen der EU überführten – Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19.6.1990.16

2. Der erste Schritt: Art. 54 SDÜ Art. 54 SDÜ, der in den treffenden Worten des Jubilars ein „teileuropäische[s] ne-bis-in-idem […] geschaffen hat“17, lautet: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

12

Zu diesen beiden Übereinkommen (ETS Nr. 70 bzw. 73) s. http://conventions.coe.int. EuGH - verb. Rs. 18 u. 35/66 - Slg. 1966, 178; EuGH Urt. v. 20.4.1999 - verb. Rs. T305/94 u.a., Slg. 1999, II-935 f. 14 Meyer-Eser Kommentar zur EU-Grundrechtecharta, Art. 50 Rn. 3. 15 BGBl. 1998 II S. 2227 f; dazu umfänglich Kniebühler Transnationales „ne bis in idem“, 2005, S. 161 ff. 16 Zur Entstehungsgeschichte Stein Zum europäischen ne bis in idem nach Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, 2004, S. 45 ff. 17 Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., § 50 Rn. 23 a. E. 13

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Schon die rechtstechnische Grundlage der Vorschrift ist bemerkenswert: Mit der rechtskräftigen Aburteilung in einem Vertragsstaat, die jede andere Vertragspartei im Grundsatz zu respektieren hat, findet sich hier das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in einer geradezu atypischen Funktion wieder.18 Gemeinhin wird diesem Prinzip eine einseitige Funktion im Hinblick auf die Vereinfachung und Effektivierung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung beigemessen. Damit hat es sich – leider – zumeist als Instrument zur Aushöhlung von auf nationaler Ebene bestehenden Beschuldigtenrechten erwiesen und in dieser Funktion viel (m. E. berechtigte) Kritik erfahren.19 Im Rahmen von Art. 54 SDÜ hingegen entfaltet dieses Prinzip eine eindeutig beschuldigtenfreundliche Wirkung, profitiert doch gerade der Beschuldigte davon, dass die Staaten eine in einem anderen Staat gefällte Entscheidung auf ihrem Territorium als strafklageverbrauchend anerkennen müssen. Eine Eigenheit verdient jedoch besondere Erwähnung: Während im Rahmen der innerstaatlich wirksamen Garantie eines ne bis in idem – sei es durch Art. 103 Abs. 3 GG, sei es durch die oben genannten internationalen Instrumente – die fehlende Vollstreckung der Erstentscheidung nichts am Verbot der Doppelverfolgung ändert, konnte man sich bei Art. 54 SDÜ nicht auf eine derart weitreichende Anerkennung ausländischer Verfahrensabschlüsse einigen. Hier ist die abermalige Verfolgung – die amtliche Überschrift des 3. Kapitels des SDÜ („Verbot der Doppelbestrafung“) ist insoweit zu eng geraten20 – nur bei Vorliegen einer der drei genannten Alternativen des sog. Vollstreckungselements ausgeschlossen. Der Hintergrund für diese halbherzige Zuerkennung transnationaler Rechtskraft ist unschwer zu ermitteln: Begibt sich ein durch ein Strafgericht eines Mitgliedstaates Verurteilter etwa durch Flucht in einen anderen Mitgliedstaat, so ist zumindest dann, wenn keine Möglichkeiten zur Rückführung dieser Person in den Urteilsstaat zum Zwecke der Strafvollstreckung (durch Auslieferung) besteht, nicht verständlich, warum allein das formelle Faktum des „Verurteilt-Seins“ in einem Mitgliedstaat eine effektive Bestrafung in einem anderen Staat ausschließen soll. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass eine Rückholung nun – durch Einführung des Europäischen Haftbefehls – in durchaus erheblichem Umfang (dazu sogleich) problemlos möglich wird.

18

Stein (Fn. 16) S. 51 f; Gleß ZStW 116 (2004), 362 ff. Näher Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 25 m. w. N. 20 Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner-Schomburg Art. 54 SDÜ Rn. 10; ders. StV 1997, 384. 19

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3. Inhaltliche Erweiterung durch Art. 50 EU-Grundrechtecharta? Warf Art. 54 SDÜ – worauf noch näher einzugehen sein wird – von Anfang an gravierende Auslegungsprobleme auf, so haben sich die Probleme seit Inkrafttreten des Europäischen Reformvertrages von Lissabon nicht gerade verringert. Denn mit dem Reformvertrag hat zugleich (s. Art. 6 I EUV n. F.) die EU-Grundrechtecharta (GrCh) in (fast21) allen Mitgliedstaaten rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Der darin enthaltene Art. 50 normiert nun ebenfalls den transnationalen ne bis in idem-Grundsatz: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Erkennbar geht dieser Art. 50 GrCh insoweit über Art. 54 SDÜ hinaus, als das Eingreifen des Doppelverfolgungsverbots nicht mehr von einer Vollstreckung der ersten Strafe abhängt. Für die EU, könnte sie wirklich als „einheitlicher Rechtsraum“ betrachtet werden, wäre dies die einzig sinnvolle Regelung: Art. 50 GrCh wäre dann auf europäischer Ebene die entsprechende Vorschrift zu Art. 103 Abs. 3 GG, beide garantieren ein rechtsordnungsinternes ne bis in idem. Man könnte dann mit Fug und Recht behaupten, innerhalb der EU gehe es nun „wie innerhalb eines ‚normalen‘ Staates“22 zu. Rechtstechnisch ist aber zunächst zu klären, in welchem Verhältnis die beiden Vorschriften zueinander stehen, die unter unterschiedlichen Voraussetzungen eine transnationale Rechtskraftwirkung auslösen und grundsätzlich nebeneinander gelten.23 Dass es sich um eine praktisch höchst relevante Frage handelt, zeigt die Tatsache, dass alsbald nach Inkrafttreten der Grundrechtecharta ein deutsches Gericht genau mit dieser Problematik konfrontiert wurde.24 Ab Herbst 2009 musste sich der deutsche Staatsangehörige Heinrich Boere wegen mehrfachen Mordes vor dem LG Aachen verantworten. Er war angeklagt, im Jahre 1944 als SS-Mitglied in den Niederlanden an den sog. „Silbertanne-Morden“25 beteiligt gewesen zu sein. Nach seiner Flucht in die Bundesrepublik war Boere später im Oktober 1949 in Abwesenheit von einem Amsterdamer Gericht wegen jener Taten zu einer lebens21 Zu den das Vereinigte Königreich und Polen betreffenden Ausnahmen s. Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon. 22 Reichling StV 2010, 238. 23 Das SDÜ gilt als europäisches Sekundärrecht (vgl. EuGH Urt. v. 11.02.2003 - verb. Rs. C-187/01 u. C-385/01, Slg 2003, I-1345, Rn. 3 ff.) auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort, vgl. Art. 9 Protokoll Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen (ABl. EU 2008 C 115/322). 24 Zum Folgenden Burchard/Brodowski StraFo 2010, 180 f. 25 Hierbei handelte es sich um Vergeltungsmorde an niederländischen Zivilisten, nachdem es zu Widerstandsaktionen gegen die deutschen Besatzer gekommen war.

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langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. In der Folgezeit waren niederländische Ersuchen um Auslieferung bzw. Vollstreckungsübernahme erfolglos geblieben.26 War nun wegen der bereits erfolgten Verurteilung (ohne Vollstreckung) in den Niederlanden gemäß Art. 50 GrCh jede weitere Verfolgung in Deutschland ausgeschlossen? Soweit hierzu überhaupt Stellungnahmen vorliegen, wird teilweise argumentiert, dass der im Range von europäischem Sekundärrecht stehende Art. 54 SDÜ durch den später in Kraft getretenen, dem Primärrecht zugehörigen Art. 50 GrCh verdrängt worden sei, so dass es für die Anwendung des grenzübergreifenden Doppelbestrafungsverbots auf ein „Vollstreckungselement“ nicht mehr ankomme.27 In einem Raum, in dem Geld-, Bewährungs- und Freiheitsstrafen gegenseitig anerkannt würden, so dass sie auch in einem Mitgliedstaat vollstreckt werden könnten, in dem sie nicht erlassen worden seien, bestehe für ein solches Vollstreckungselement kein Bedürfnis mehr. Auch banne der Europäische Haftbefehl die befürchtete Gefahr, ein Straftäter könne sich seiner Strafe durch Flucht in einen anderen Mitgliedstaat entziehen. Auf Basis dieser Ansicht bestünde also bereits heute eine umfassende europäische materielle Rechtskraftwirkung verfahrensbeendender Entscheidungen in den Mitgliedstaaten. Mit dieser Argumentation würde man dem „Status quo“ der derzeitigen Entwicklung auf europäischer Ebene aber nicht gerecht. Ein „europäischer Rechtsraum“ bzgl. der transnationalen Strafverfolgung besteht eben noch nicht. Besonders die häufig angeführten transnationalen Vollstreckungsmöglichkeiten eines Europäischen Haftbefehls, womit auch der BGH in seinem Vorlagebeschluss zum Kretzinger-Urteil bereits vor Inkrafttreten von Art. 50 GrCh das Vollstreckungserfordernis in Zweifel gezogen hatte28 (ohne damit allerdings beim EuGH Gehör zu finden29), stellen insoweit noch kein ausreichendes Äquivalent dar: Der Europäische Haftbefehl ist nach seiner derzeitigen Ausgestaltung von vornherein nicht bei allen strafrechtlichen Verurteilungen in einem EU-Staat anwendbar, sondern erst ab einer Mindesthöhe30; außerdem besteht – jenseits des abschließend aufgeführten Katalogs von „Kriminalitätsphänomenen“31 – die Möglichkeit, die Übergabe von der beiderseitigen Strafbarkeit des Täterverhaltens abhängig

26 Ein erstes Ermittlungsverfahren in der Bundesrepublik wurde 1984 nach § 170 II StPO eingestellt. 27 Anagnostopoulos FS Hassemer, 2010, 1136 f; Heger ZIS 2009, 408; ders. HRRS 2008, 415; Reichling StV 2010, 237. s. auch Böse ZIS 2010, 612. 28 BGH NStZ 2006, 108. 29 S. EuGH NJW 2007, 3415; dazu abl. Anagnostopoulos FS Hassemer, 2010, 1135 f. 30 S. Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses (ABl. EG 2002 L 190 v. 17.07.2002, S. 1 ff.). 31 Zur Kritik an der Vagheit des Deliktskatalogs s. nur Schünemann GA 2002, 507 f.

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zu machen.32 Schließlich enthält der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (obligatorische und fakultative) Ablehnungsgründe, die einer Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls entgegenstehen können.33 Anders als bei rein national geprägten Sachverhalten sind hier also durchaus Fälle denkbar, in denen sich der Verurteilte durch Flucht in ein anderes EULand der Vollstreckung der Strafe effektiv entziehen kann.34 Ein transnationaler Strafklageverbrauch lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt insoweit rechtspolitisch nicht rechtfertigen. Das LG Aachen35 hat im Ergebnis ebenso entschieden. Nicht einfach ist allerdings die korrekte Begründung: Kaum bestreiten kann man zunächst, dass der neue Art. 50 GrCh seinem Wortlaut nach auf die vorliegende Fallgestaltung anwendbar ist: Zwar spricht Art. 51 Abs. 1 GrCh davon, dass die Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. Dass ein nationales Gericht, welches die justizielle Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates gerade auf Grundlage des europäischen (!) Prinzips der gegenseitigen Anerkennung anerkennt, nicht Unionsrecht durchführt, lässt sich aber kaum vertreten,36 zumal andernfalls Art. 50 GrCh mangels supranationaler Strafgewalt der Union weitgehend leer liefe. Auch die amtlichen Erläuterungen zur Grundrechtecharta stellen klar, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Union definierten Grundrechte jedenfalls dann zu beachten haben, „wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“37. Demgegenüber gilt es – im Einklang mit dem LG Aachen – hervorzuheben, dass Art. 54 SDÜ nicht durch Art. 50 GrCh – als abschließend zu verstehende Spezialvorschrift – verdrängt wird.38 Denn im europäischen Primärrecht finden sich durchaus Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen von Art. 54 SDÜ – auch und gerade das Vollstreckungselement – in den Schutzbereich von Art. 50 GrCh einbezogen werden sollen. Art. 52 Abs. 1 GrCh schreibt vor, dass „jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und 32

S. Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses (ABl. EG 2002 L 190 v. 17.07.2002, S. 1 ff.). S. Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses (ABl. EG 2002 L 190 v. 17.07.2002, S. 1 ff.). 34 Zur nach wie vor bestehenden Gefahr des „forum fleeing“ s. Hecker Europäisches Strafrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 38; Zöller FS Krey, 2010, 519 f. 35 StV 2010, 237 = StraFo 2010, 190. 36 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 68; ebenso mit anderer Begründung Burchard/Brodowski StraFo 2010, 181 f m. w. N. 37 ABl. EU 2007 C 303/31. 38 Früh erkannt von Mansdörfer (Fn. 9), S. 242. 33

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den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Der zweite Absatz von Art. 52 GrCh lautet: „Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, erfolgt im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen.“ Daraus ergibt sich – unter Rückgriff auf die deutsche verfassungsrechtliche Terminologie – zum einen, dass Art. 50 GrCh unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt steht, der seinerseits wiederum durch „SchrankenSchranken“ (v.a. Verhältnismäßigkeit, Wesensgehaltsgarantie) begrenzt wird. Zum anderen sieht die Charta offensichtlich selbst vor, dass die durch sie garantierten Grundrechte nur in einem durch – auch schon bestehendes – europäisches Recht vorgegebenen Rahmen gewährleistet werden. Bestätigt wird die Richtigkeit dieser Auslegung von den amtlichen Erläuterungen39 zu Art. 50 GrCh, die ebenfalls davon ausgehen, dass die durch Art. 54-58 SDÜ bewirkten Einschränkungen des ne bis in idem-Grundsatzes von Art. 52 Abs. 1 GrCh abgedeckt werden. Denn dort heißt es zum Gewährleistungsgehalt des ne bis in idem-Grundsatzes: „Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union, siehe die Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens[.] […] Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel ‚ne-bis-inidem‘ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Artikel 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt“. Dieses auf den ersten Blick vielleicht verblüffende Ergebnis40 erstaunt deutlich weniger, wenn man sich vergegenwärtigt, dass hier im europäischen Recht gleichsam die gewohnte gesetzgeberische Reihenfolge verändert wurde: Die grundrechtliche und unter Gesetzesvorbehalt stehende (umfassende) Gewährleistung wird über eine bereits bestehende Regelung zum Doppelbestrafungsverbot „gestülpt“; aus der ursprünglich isolierten Gewährleistung des europäischen ne bis in idem wird somit – nachträglich und ohne Veränderung des Textes des Art. 54 SDÜ – eine den Gesetzesvorbehalt ausfüllende, konkretisierende und letztlich (bzgl. des Vollstreckungselements) begrenzende Norm.41 Damit bleibt Art 54 SDÜ weiterhin die von den Gerichten anwendbare Vorschrift. Da dieser – als grundrechtseinschränkende Norm – nunmehr allerdings hierarchisch unter dem Art. 50 GrCh angesiedelt ist, ist die höherrangige Charta-Vorschrift bei der Ausle39

ABl. EU 2007 C 303/31. Ebenso etwa Hecker Europäisches Strafrecht § 13 Rn. 38 f; Brodowski ZIS 2010, 383, Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179 ff. 41 Burchard/Brodowski StraFo 2010, 184; s. auch Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 68. 40

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gung des Art. 54 SDÜ zu beachten, was letztendlich die bisher bereits weite (beschuldigtenfreundliche) Auslegung des Doppelverfolgungsverbots stützt. Die hier vertretene Auffassung hat nun auch höchstrichterlichen Segen durch den 1. Senat des BGH erfahren.42 In seiner jüngsten Entscheidung vom 25.10.201043 kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass „kein Zweifel [besteht], dass der Grundsatz ‚ne bis in idem’ auch im Blick auf Art. 50 GrCh nur nach Maßgabe von Art. 54 SDÜ gilt.“ Der zugrunde liegende Sachverhalt war dabei dem vom LG Aachen entschiedenen Fall überaus ähnlich: Der Angeklagte war im Jahr 1944 Führer der 1. Kompanie des deutschen Gebirgspionierbataillons 818 und in dieser Eigenschaft (mit)verantwortlich für die Ermordung mehrerer italienischer Zivilisten im Rahmen einer Vergeltungsaktion für Partisanenangriffe. Er wurde hierfür in Abwesenheit bereits im Jahr 2006 durch ein italienisches Gericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Somit war entscheidungsrelevant, ob allein die Existenz dieses italienischen Urteils – unabhängig von einem Vollstreckungselement – ein Verfahrenshindernis für die abermalige Aburteilung in Deutschland begründet. Als letztinstanzliches Gericht ist der BGH grundsätzlich verpflichtet, entscheidungserhebliche Fragen über die Auslegung von Unionsrecht dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen (vgl. Art. 267 III AEUV). Der 1. Senat tut dies angesichts der angeblichen Klarheit der Rechtslage nicht und beruft sich somit auf die sog. „acte-clair-Doktrin“ des EuGH. Danach ist jedoch ein Absehen von einer Vorlage durch letztinstanzliche Gerichte nur in ganz engen Grenzen erlaubt, wenn nämlich die richtige Anwendung des EU-Rechts derart „offenkundig“ ist, dass „keinerlei Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“. Diese Schlussfolgerung dürfe ein nationales Gericht allerdings nur ziehen, wenn es „überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“.44 Angesichts der bisherigen Erörterungen und der völligen Neuheit dieser Frage muss ernsthaft bezweifelt werden, dass diese (engen) Voraussetzungen als erfüllt betrachtet werden dürfen, zumal die Rechtfertigung dieser Doktrin im strafrechtlichen Kontext besonders problematisch erscheint.45 Eine verlässliche und europaweit einheitliche Klarstellung dieser wichtigen Frage wäre zudem für die zukünftige Praxis in den Mitgliedstaaten hilfreich gewesen. Es mag sein, dass der Senat bei seiner Entscheidung durch das hohe Alter des 42 Ebenso der 2. Strafsenat in seiner Revisionsentscheidung zum oben erwähnten Urteil des LG Aachen (Beschl. v. 1.12.2010, 2 StR 420/10). 43 BGH NStZ-RR 2011, 7. 44 Grundlegend zur acte-clair-Doktrin: EuGH Urt. v. 6.10.1982 - Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (Rn.16). 45 Zur Kritik an der Anwendung der acte-clair-Doktrin in strafrechtlichen Verfahren s. ausführlich Satzger (Fn. 6) S. 661 ff m. w. N.

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Angeklagten und die mit einer Vorlage verbundenen Verfahrensverzögerung beeinflusst war. Für die Anwendung der „acte-clair-Doktrin“ sind dies aber keine erheblichen Faktoren, so dass die Nichtvorlage europarechtlich letztlich nicht zu rechtfertigen war46 und auch aus wissenschaftlicher Sicht nur bedauert werden kann.

V. Rechtskraftwirkung nach Maßgabe der EuGHRechtsprechung zur Auslegung des Art. 54 SDÜ Von Anfang an erwies sich die Interpretation des – nach wie vor entscheidenden – Art. 54 SDÜ als höchst problematisch. Dies verwundert wenig, wenn man berücksicht, dass die dort verwendeten „Kernbegriffe“ zwar durchaus in jedem Mitgliedstaat – aus den dort geltenden ne bis in idem-Vorschriften – bekannt sind, in jedem Staat aber unterschiedlich verstanden werden. Welche „Entscheidung“ ist der Rechtskraft fähig? Wann tritt „Rechtskraft“ ein? Was bedeutet „Tat“? Und schließlich: Wann gilt eine Strafe als „vollstreckt“? Die Interpretationsschwierigkeiten wurden überdeutlich, solange die Zuständigkeit zur Auslegung des Art. 54 SDÜ – wie anfänglich – allein bei den nationalen Gerichten lag; dies führte zu einem Auslegungschaos, indem etwa nationale Einstellungsentscheidungen, die selbst nach dem Recht des Einstellungsstaates keinen Strafklageverbrauch nach sich zogen, durch das ausländische Zweitgericht mit Rechtskraftwirkung i. S. des Art. 54 SDÜ „belegt“ wurden.47 Nach Überführung des Schengen-Besitzstandes in die (ehemalige) dritte Säule der Union durch das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union im Jahre 199748 fiel glücklicherweise dem EuGH – bedingt durch eine entsprechende Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs gem. Art. 35 Abs. 1 EUV a. F. durch den jeweiligen Mitgliedstaat49 – das Auslegungsmonopol für Art. 54 SDÜ und die darin enthaltenen europarechtlich zu definierenden Begrifflichkeiten zu, was im Ergebnis zu relativ klaren Interpretationsleitlinien und letztlich zu einem weiten Anwendungsbereich des Doppelverfolgungsverbots in der EU führte.

46 Hierdurch ist – da auch der EuGH als gesetzlicher Richter eingestuft wird – Art. 101 I 2 GG tangiert, vgl. BVerfGE 75, 223 (245). 47 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 69. 48 ABI. EG 1997 Nr. C 340/93. 49 Für Deutschland vgl. das EuGH-Gesetz vom 6. August 1998 (BGBl. I S. 2035).

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1. Die Grundlinie des EuGH Der EuGH hat durch eine Reihe von Entscheidungen eine weitgehend konsistente Rechtsprechung zur Interpretation des Art. 54 SDÜ gefunden. Dabei ist sein – einleuchtender – Ausgangspunkt eine grundsätzlich autonome Auslegung des Art. 54 SDÜ. Der EuGH kommt hier durchgängig zu einer weiten Anerkennung einer Sperrwirkung verfahrensbeendender Entscheidungen des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten. Er beruft sich dabei auf die von dieser Norm intendierte möglichst weitgehende Wahrung der Freizügigkeit einer in einem Mitgliedstaat abgeurteilten Person: Sie soll nicht dadurch von einem Grenzübertritt abgehalten werden, dass sie Sorge haben muss, wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat erneut verfolgt zu werden. Diese Grundüberlegung spiegelt sich in der Interpretation sämtlicher Kernbegriffe des europäischen ne bis in idem wider.

2. „Rechtskräftige Aburteilung“ a) In seinem ersten Grundsatzurteil in der Rechtssache Gözütok und Brügge vom 11.2.200350 ging es um die Sperrwirkung nichtrichterlicher Verfahrenseinstellungen. In Rede stand eine staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 StPO sowie eine einverständliche Beendigung eines niederländischen Strafverfahrens durch die dortige Staatsanwaltschaft gegen Geldzahlung (sog. transactie, s. Art. 74 I niederländisches Strafgesetzbuch). Der EuGH sah beide Formen der Verfahrensbeendigung ohne gerichtliche Beteiligung als „rechtskräftig abgeurteilt“ i. S. von Art. 54 SDÜ an. Der Gerichtshof stellte sich damit gegen die zumindest in Deutschland bis dahin herrschende Ansicht, die in jedem Fall eine Entscheidung durch ein Gericht vorausgesetzt hatte.51 Der Gerichtshof beruft sich darauf, dass Personen aus Mitgliedstaaten, die in weitem Ausmaß von außergerichtlichen Verfahrenserledigungen Gebrauch machen, in der effektiven Wahrung ihres Rechts auf Freizügigkeit gehemmt würden, wenn man den Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ auf Entscheidungen mit richterlicher Mitwirkung begrenzte. Der Gerichtshof präzisierte die Anforderungen an die rechtskräftige Aburteilung weiter, so dass sich letztlich folgende drei Kriterien52 benennen lassen: Es muss eine verfahrensbeendende Entschei50

EuGH Urt. v. 11.2.2003, verb. Rs. C-187/01 u. C-385/01, Slg 2003, I-1345. BGH NStZ 1998, 151 f m. Anm. v. d. Wyngaert und Lagodny; BayObLG StV 2001, 263; Stein (Fn. 16), S. 468 ff; Vogel FS Schroeder, 2006, 888; Grotz StraFo 1995, 102; OLG Hamburg wistra 1996, 195. 52 S. Vogel/Norouzi JuS 2003, 1061; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 72. 51

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dung einer zur Mitwirkung am Strafverfahren berufenen Behörde vorliegen, diese muss Ahndungswirkung aufweisen und die Strafklage muss nach nationalem Recht endgültig verbraucht sein. b) In der Rechtssache Miraglia53 betont der EuGH, dass für den Strafklageverbrauch zumindest eine sachliche Würdigung der Angelegenheit im anderen Staat erforderlich sei, so dass eine Verfahrenseinstellung dann keinen Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ herbeiführe, wenn die Staatsanwaltschaft im anderen Mitgliedstaat beschlossen habe, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil im anderen Staat die Strafverfolgung wegen derselben Tat eingeleitet worden sei. Der EuGH begründet dies zum einen damit, dass eine solche Entscheidung ohne Beurteilung des dem Beschuldigten angelasteten Verhaltens erlassen würde. Zum anderen würde damit im Ergebnis jede Strafverfolgung behindert. Durch das Verfahren im Zweitverfolgerstaat bestünde ein Verfahrenshindernis im Erstverfolgungsstaat und umgekehrt, so dass sich die beiden eingeleiteten Verfahren gegenseitig blockieren würden. c) In der Rechtssache Turansky54 wies der EuGH mit Nachdruck auf die Bedeutung von Art. 57 SDÜ hin, wonach die Strafverfolgungsbehörden sachdienliche Rechtsauskünfte, beispielsweise über die genaue Art einer im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats erlassenen Entscheidung, einholen können. Hätten im zugrunde liegenden Fall die österreichischen Behörden von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, so hätten sie in Erfahrung bringen können, dass eine Verfahrenseinstellung durch slowakische Polizeibehörden nach dortigem Recht ein jederzeitiges Wiederaufgreifen des Verfahrens zuließ und schon deshalb einer nochmaligen Verfolgung (in Österreich) nicht entgegen stehen konnte. In expliziter Bestätigung dieses Urteils hat der EuGH jüngst, in der Rechtssache Gaetano Mantello55, kurzum formuliert: „Ob ein Urteil rechtskräftig im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses ist, bestimmt sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem dieses Urteil erlassen wurde.“

3. Der Tatbegriff des Art. 54 SDÜ Von Anfang an barg der zentrale Begriff der „Tat“ – wegen der unterschiedlichen nationalen Konzepte – die Gefahr, bei der Auslegung von Art. 54 SDÜ schwierige Probleme zu bereiten.56

53

EuGH Urt. v. 10.03.2005 - Rs. C-469/03, Slg. 2005, I-2009. EuGH Urt. v. 22.12.2008 - Rs. C-491/07, Slg. 2008, I-11039. 55 EuGH Urt. v. 16.10.2010 - Rs. C-261/09, (Rn. 46). 56 Vgl. Grützner/Pötz/Kreß-Grotz Art. 54 SDÜ Fn. 1. 54

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a) Grundlegend hat der EuGH in der Rechtssache Van Esbroeck57 einen vom nationalen Verständnis gelösten, nach autonomen Kriterien zu bestimmenden europäischen prozessualen Tatbegriff entwickelt. Demnach sei das einzige maßgebende Kriterium für die Anwendung von Artikel 54 SDÜ das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, so dass etwa bei einem grenzüberschreitenden Transport von Betäubungsmitteln die Ausfuhr dieser Stoffe aus dem einen Staat und die unmittelbar darauffolgende Einfuhr derselben in den anderen Staat grundsätzlich als dieselbe Tat anzusehen seien, selbst wenn durch dieses Verhalten unterschiedliche Tatbestände erfüllt würden. Die Irrelevanz der einschlägigen nationalen Strafvorschriften begründet der EuGH damit, dass hierdurch aus rein formalen Gründen eine Einschränkung der Sperrwirkung bewirkt würde, was der von Art. 54 SDÜ intendierten weitreichenden Wahrung der Freizügigkeit zuwiderliefe. Weiter beruft sich der Gerichtshof darauf, dass die Vertragsparteien durch das SDÜ ein gegenseitiges Vertrauen in die Strafverfolgungssysteme der anderen Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht hätten, welches eben gerade unabhängig von einer Harmonisierung der Strafvorschriften Bestand haben müsse, so dass die nationalen Tatbestände in ihrer gegenwärtigen Form kein Maßstab für den Tatbegriff sein dürften. b) In der Rechtssache Van Straaten58 setzte der Gerichtshof seine extensive und beschuldigtenfreundliche Rechtsprechung fort: Es komme – und hier werden für den deutschen Betrachter die Parallelen zum deutschen Tatbegriff59 auch terminologisch noch deutlicher – entscheidend auf das Vorliegen eines nach räumlichen und zeitlichen Kriterien zusammenhängenden Tatsachenkomplexes an. Nicht entscheidend sei hingegen die Identität der Tatbeteiligten und –mittel. Der Rechtssache Kretzinger lag ein ausführlich begründeter Vorlagebeschluss des BGH60 zugrunde. Hier hatte der Angeklagte zweimal von Dritten aus Nichtmitgliedstaaten nach Griechenland eingeschmuggelte Zigaretten per Lkw von Griechenland auf einer über Italien und Deutschland führenden Route ins Vereinigte Königreich transportiert. Er war deswegen durch ein italienisches Gericht wegen der Einfuhr geschmuggelten Tabaks nach Italien und des dortigen Besitzes sowie wegen des Unterlassens der Zahlung der Grenzabgabe für den Tabak bei der Einfuhr in Abwesenheit verurteilt worden. Im Anschluss verurteilte ihn das LG 57 EuGH Urt. v. 9.3.2006 - Rs. C-436/04, Slg. 2006, I-2333; zur Eigenständigkeit des Tatbegriffs jüngst erneut EuGH Urt. v. 16.11.2010 - Rs. C-261/09 (Rn. 38). 58 EuGH Urt. v. 28.9.2006 – Rs. C-150/05, Slg. 2006, I-9327. 59 S. hierzu nur Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., § 20 Rn. 5. 60 BGH NStZ 2006, 106 m. Anm. Lagodny.

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Augsburg im Hinblick auf die Übernahme der Zigaretten in Griechenland wegen Hehlerei an den griechischen Einfuhrabgaben. In Konsequenz seiner Van Esbroeck-Entscheidung wenig überraschend, neigte der Gerichtshof61 auch in diesem Fall der Annahme einer einheitlichen Tat zu und hob insbesondere die Irrelevanz der von den Tatbeständen der Erstverurteilung abgedeckten unterschiedlichen rechtlichen Interessen hervor. Der BGH zog in seiner Folgeentscheidung62 die Konsequenz aus dem EuGH-Urteil und stellte das Verfahren insoweit ein. Durchaus interessant ist jedoch, dass der 5. Senat in einem obiter dictum eine Zäsur des (europarechtlichen) Tatbegriffs für Fälle einer grundsätzlich einheitlichen Schmuggelfahrt erwog, wenn es zu einer wesentlichen Unterbrechung derselben oder einem längeren Zwischenlagern der Schmuggelware komme oder wenn der genaue Ablauf der Fahrt zu deren Beginn noch nicht feststehe. Eine derartige „Zäsurwirkung“ lässt sich mit den vom EuGH entwickelten Kriterien sicherlich vereinbaren und ist zur rechtspolitisch sinnvollen Restriktion der Sperrwirkung geeignet. c) Mittlerweile hat der EuGH, und zwar in der Rechtssache Kraaijenbrink63, erstmals selbst eine gewisse Relativierung seines extensiven Tatverständnisses vorgenommen. Zu beurteilen war die Verantwortlichkeit einer Drogenhändlerin, die in den Niederlanden u.a. wegen der Weitergabe von Drogengeldern verurteilt worden war und sodann wegen des zeitlich sich teilweise überschneidenden Eintauschens der Gelder von einem belgischen Gericht abermals wegen Geldwäsche verurteilt werden sollte. Der Gerichtshof betonte hier, dass eine Tatidentität überhaupt nur bei einer „objektiven Verbindung“ der jeweils als Tatmittel fungierenden Geldmittel in Frage komme. Eine solche Verbindung und damit der für eine Tat erforderliche Konnex werde jedenfalls nicht alleine durch einen „Gesamtvorsatz“ hergestellt. d) Im Ergebnis scheint sich hier ein Tatbegriff herauszubilden, der – trotz der grundsätzlich europarechtlich-autonomen Auslegung durch den EuGH – dem deutschen Tatbegriff sehr nahe kommt.64 Der deutsche Rechtsanwender befindet sich hier also in durchaus bekannter Umgebung, zumal ein ganz ähnliches Verständnis auch dem vom EGMR geprägten Tatbegriff der EMRK zugrunde liegt.65

61

EuGH Urt. v. 18.7.2007 - Rs. C-288/05, Slg. 2007, I-6442. BGHSt 52, 275 = NJW 2008, 2931 m. Anm. Rübenstahl; dazu auch Bender wistra 2009, 179; Heger HRRS 2008, 413; Kische wistra 2009, 162. 63 EuGH Urt. v. 18.7.2007 - Rs. C-367/05, Slg. 2007, I-6619. 64 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 10 Rn. 77. 65 Anagnostopoulos FS Hassemer, 2010, 1136 f. 62

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4. Das Vollstreckungselement Wie gesehen bleibt auch nach dem Inkrafttreten des Art. 50 GrCh das Vollstreckungselement relevant. Mit der Frage, wann ausländische Strafen vollstreckt sind oder werden bzw. nicht mehr vollstreckt werden können, mussten sich deutsche Juristen bisher nur bedingt – v.a. im Rahmen des § 51 Abs. 3 StGB – befassen. Erste Entscheidungen des EuGH lassen – insoweit konsequent – auch hier ein weites Verständnis erwarten. So hat der Gerichtshof in der bereits erwähnten Rechtssache Kretzinger entschieden, dass eine zur Bewährung ausgesetzt Freiheitsstrafe „gerade vollstreckt“ wird, sobald das Urteil vollstreckbar geworden ist und solange die Bewährungszeit dauert. Anschließend, nach Ablauf der Bewährungszeit, sei die Strafe als „bereits vollstreckt“ im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen. Eine andere Auslegung würde zu dem absurden Ergebnis führen, dass der tatsächlich vollstreckte Freiheitsentzug als Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen wäre, während bewährungsfähige Sanktionen, die normalerweise wegen weniger schwerer Straftaten verhängt werden, eine erneute Strafverfolgung ermöglichen würden.66 Die entgegengesetzte Ansicht hatte einst das OLG Saarbrücken67 vertreten, das freilich einen besonders gelagerten Fall zu entscheiden hatte, in dem neben einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe auch eine Geldstrafe verhängt worden war. Allerdings hatte der Angeklagte die Geldstrafe noch nicht bezahlt. Hier stellte sich dann also die interessante Frage, ob die Tatsache, dass ein (selbständiger?) Teil der insgesamt verhängten Strafe – die Geldstrafe – noch nicht vollstreckt worden war, einem Strafklageverbrauch entgegenstand, obwohl die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe auf Bewährung nach dem eben Gesagten als „gerade vollstreckt“ angesehen werden kann. Dies wird teilweise unter Verweis auf die Schutzfunktion des Art. 54 SDÜ abgelehnt.68 Bedenkt man aber eine etwas modifizierte Fallkonstellation, so erscheint es bedenklich, pauschal ausreichen zu lassen, dass irgendein Teil der ausgesprochenen Strafe die Anforderungen des Vollstreckungselements erfüllt: Wird der Beschuldigte zu einer unbedingten Freiheitsstrafe und zu einer Geldstrafe verurteilt und bezahlt er vor Haftantritt die Geldstrafe, flieht sodann aber in einen anderen Mitgliedstaat, so stellt sich ernsthaft die Frage, ob aufgrund der bloßen Zahlung der Geldstrafe „die Strafe“ gerade vollstreckt wird und Strafklageverbrauch eintreten darf. Hier wird deutlich, dass in ihrer Funktion Geld- und Freiheitsstrafe nicht unabhängig nebeneinander stehen, sie vielmehr als „Gesamtsanktion“ 66

EuGH Urt. v. 18.7.2007 - Rs. C-288/05, Slg 2007, I-6442 (Rn. 42 f). OLG Saarbrücken StV 1997, 359 m. abl. Anm. Schomburg StV 1997, 383. 68 Ambos Internationales Strafrecht § 12 Rn. 53; Hecker Europäisches Strafrecht § 13 Rn. 40 ff, 45. 67

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zu betrachten sind. Man wird hier nicht um eine Wertung herumkommen: Nicht ausreichend ist es, wenn die (Gesamt-)Sanktion letztlich nur in einem geringgewichtigen Punkt vollstreckt wird oder ist. Die Strafe muss vielmehr im Hinblick auf ihren Kern (und das wird – wenn eine Freiheitsstrafe verhängt worden ist – regelmäßig diese sein) das Vollstreckungselement erfüllen. Eine nicht alltägliche Konstellation lag auch der zweiten Entscheidung zu diesem Themenfeld in der Rechtssache Bourquain69 zu Grunde. Hier war der in der französischen Fremdenlegion dienende deutsche Beschuldigte wegen der Erschießung eines Kameraden in Frankreich in fluchtbedingter Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Jedoch war nach französischem Recht eine Vollstreckung schon aus Rechtsgründen nicht möglich, weil der Verurteilte gegen ein Abwesenheitsurteil zwanzig Jahre lang Einspruch einlegen kann. In Frage stand also, ob dem nunmehr vor dem LG Regensburg wegen Mordes Angeklagten der Strafklageverbrauch des Art. 54 SDÜ zu Gute kommen würde, obwohl die Erststrafe in Frankreich zu keinem Zeitpunkt vollstreckbar gewesen war. Die vorlegende Strafkammer tendierte dazu, die Frage zu verneinen und konnte sich dabei immerhin auf den Wortlaut „nicht mehr vollstreckt werden kann“ berufen, woraus man folgern könnte, dass es zumindest einmal einen Zeitpunkt gegeben haben muss, in dem eine Vollstreckung möglich war. Der Gerichtshof trat diesem Argument freilich entgegen und bezog die in Rede stehende Formulierung alleine darauf, dass im Zeitpunkt der Zweitentscheidung die fragliche Entscheidung „nicht mehr vollstreckt“ werden könne. Auch der Zweck des transeuropäischen Verbots der Doppelbestrafung spreche für eine solche Lösung, denn ein einmal Verurteilter solle nicht dadurch in seiner Freizügigkeit beeinträchtigt werden, dass er eine erneute Verurteilung fürchten müsse.

VI. Abschließende Betrachtung zum Status quo einer Europäischen Rechtskraft im Strafrecht Es lässt sich somit sagen, dass durch Art. 50 GrCh und Art. 54 SDÜ wesentliche Grundlagen für eine „europäische Rechtskraft“ im Hinblick auf verfahrensbeendende Entscheidungen im Strafverfahren gelegt worden sind. Der wesentliche Unterschied zum Konzept der materiellen Rechtskraft im nationalen Recht besteht – noch – im Erfordernis eines Vollstreckungselements. Dieses ist jedoch nur der durchaus berechtigte Vorbehalt im Hinblick auf den bislang eben unvollendeten „einheitlichen Rechtsraum“. Je 69

EuGH Urt. v. 11.12.2008 – Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425.

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mehr sich das Territorium der EU-Staaten allerdings einem solchen annähert, je leichter es also insbesondere wird, die in einem Staat Verurteilten oder Beschuldigten durch einen Europäischen Haftbefehl oder ähnliche Instrumente von einen Mitgliedstaat in einen anderen zu verbringen, desto mehr wird dieser „Sicherungsvorbehalt“ hinfällig. Darin darf kein Plädoyer für eine vorschnelle Entwicklung in diese Richtung gesehen werden; vielmehr ist die Herausbildung eines solchen „einheitlichen Rechtsraums“ von zahlreichen Vorbedingungen abhängig; unumgänglich ist etwa eine Harmonisierung der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte, und dies nicht nur in Randbereichen und nicht lediglich auf einem Minimalniveau. Zwar ist die EU dabei, in dieser Richtung – wenn auch zögerlich – Boden gutzumachen.70 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung geht jedoch leider – auch in anderen Bereichen – viel zu schnell über nicht zu leugnende rechtliche und tatsächliche Unterschiede hinweg und verschließt die Augen vor den nach wie vor erheblichen Differenzen zwischen den Rechtsordnungen der EU-Staaten. Augenfällig ist jedoch, dass das europäische Recht im Zusammenhang mit dem ne bis in idem-Grundsatz, also in einem Bereich, in dem sich die gegenseitige Anerkennung gerade beschuldigtenfreundlich auswirkt, unter einen expliziten (Vollstreckungs-)Vorbehalt gestellt wird und damit implizit den Charakter des einheitlichen Rechtsraums als Fiktion eingesteht. In anderen Anwendungsbereichen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, wo dieses sich zu Lasten des Beschuldigten auswirkt, fehlt ein solcher allgemeiner Vorbehalt nämlich. Im Vordergrund stand bislang die Sperrwirkung, also die materielle Rechtskraftwirkung verfahrensbeendender Entscheidungen. Von zumindest theoretischem Interesse ist – und dies sei abschließend nur kurz angemerkt – auch die europarechtsbedingte Relativierung der formellen Rechtskraft derartiger Entscheidungen, etwa dann, wenn es um die Frage geht, ob eine „grenzüberschreitende Durchbrechung der Rechtskraft“ möglich ist bzw. sein soll. Nehmen wir das Beispiel eines in Frankreich Verurteilten, der in Deutschland das Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 StPO betreiben möchte, um so die Rechtskraft der französischen Verurteilung zu durchbrechen. Denkbar wäre auch umgekehrt, dass – in den gesetzlichen Grenzen eines Mitgliedstaats – eine Wiederaufnahme zu Lasten des Beschuldigten nach einem (formell rechtskräftigen) Freispruch durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats erfolgt. Beide Szenarien scheinen prima facie natür70 S. etwa den Rahmenbeschlussvorschlag der Kommission über bestimmte Verfahrensrechte im Strafverfahren (KOM (2004) 328 endg.), den Ende 2009 vom Rat angenommenen Fahrplan zur Stärkung der Beschuldigtenrechte (ABl. EU 2009 Nr. C 295/1), den Vorschlag für eine Richtlinie über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Strafverfahren (KOM (2010) 82 endg.) sowie den Vorschlag für eine Richtlinie über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren (KOM (2010) 392 endg.).

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lich absurd. Rechtskraft und Wiederaufnahme sind systematisch aufeinander bezogen und rechtsordnungsintern miteinander verknüpft. Allerdings läge es durchaus in der „Logik“ des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, dass auch eine Wiederaufnahmeentscheidung (oder das entsprechende Äquivalent) aus einem Mitgliedstaat in der gesamten EU als „einheitlichem Rechtsraum“, also letztlich in allen anderen Mitgliedstaaten der EU, als „rechtskraftdurchbrechend“ anzuerkennen sein müsste. All dies ist bislang wohl nicht angedacht; spielt man diesen Gedanken aber einfach durch, so zeigt sich hieran meines Erachtens erneut, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nur mit großer Vorsicht umgesetzt werden darf. Die formelle Rechtskraft erscheint daher bislang nur unter einem Aspekt europäisiert, nämlich insoweit, als sie notwendige Voraussetzung für die mittlerweile weitreichende europäische materielle Rechtskraftwirkung ist – also für die transnationale Sperrwirkung verfahrensbeendigender Entscheidungen in Europa. Die nationalen Vorschriften des Erstverfolgerstaats erlangen dabei im Hinblick auf die Möglichkeit, ein Strafverfahren fortzuführen, nach der in den Rechtssachen Turansky71 und Gaetano Mantello72 deutlich zum Ausdruck kommenden Ansicht des EuGH entscheidende Bedeutung für das europäische ne bis in idem.73 Für den Fall, dass bereits der Erstverfolgerstaat selbst keine Abschlusswirkung anerkennt, ist dies einleuchtend. Im Übrigen sollte man der Rechtsordnung des Erstverfolgerstaates zwar eine (starke) indizielle Bedeutung beimessen, der vom EuGH nun angedeutete „Automatismus“ geht meines Erachtens dann aber doch zu weit: Nicht anders als der „Tatbegriff“ des Art. 54 SDÜ muss auch der Terminus der „rechtskräftigen Aburteilung“ ein europäischer Begriff sein, der grundsätzlich einer autonomen Auslegung bedarf. Dass dies sinnvoll ist, zeigt sich etwa an der Konstellation außergerichtlicher Einstellungsentscheidungen: Sollen hier die Konturen eines ne bis in idem nicht gänzlich verschwimmen und soll den Mitgliedstaaten insoweit kein Freiraum für beliebige – unter Umständen auch konkrete Personen schützende – Einstellungsentscheidungen gegeben werden, so bedarf es klarer, restriktiver Mindestanforderungen für die Bejahung der „abschließenden Wirkung“.74 Dies wäre dann quasi ein ordre public-Vorbehalt, der ohnehin eine

71

EuGH Urt. v. 22.12.2008 - Rs. C-491/07, Slg. 2008, I-11039. EuGH Urt. v. 16.10.2010 - Rs. C-261/09, (Rn. 46). 73 Ein nationales Verständnis unter gänzlichem Abstellen auf die verfahrensabschließende Wirkung im Erstverfolgerstaat hat bereits früh Hecker Europäisches Strafrecht § 13 Rn. 36, vertreten. 74 Zu konkreten Vorschlägen s. etwa Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl., § 12 Rn. 46 f, der darauf abstellt, ob gegen die verfahrensbeendende Entscheidung nur bei Auftreten von Nova eine Wiederaufnahme möglich ist. 72

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wichtige und sinnvolle Begrenzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung (auch in anderen Bereichen) darstellen sollte.75

75 Vgl. hierzu etwa Satzger in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 150 f.

Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit: Eine europäische Perspektive DULCE M. SANTANA VEGA

I. Der Begriff Diskriminierung: Allgemeines Unter Diskriminierung versteht man eine ungleiche juristische Behandlung, die einer Person oder einer Gruppe gegenüber anderen zuteil wird, ohne dass es dafür eine rechtliche oder rationale Grundlage gibt. In einem ersten Moment wird die Gleichheit als Ausrottung der juristischen Unterschiede je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe dargestellt. Beim Übergang vom Liberalstaat zum Sozialstaat1 entwickelt sich der Kampf um die formelle Gleichheit zum Kampf um die materielle Gleichheit. Ein dritter Moment in der Entwicklung des Grundrechts auf Gleichheit zeigt sich im Kampf um die Nichtdiskriminierung, durch den sich die subjektiven Kriterien der Nichtdiskriminierung progressiv ausbreiten: von Rasse, Religion oder Ideologie auf das Geschlecht, die sexuelle Ausrichtung oder Krankheit, wobei es zu offenen Aufzählungen wie in Artikel 14 der spanischen Verfassung von 1978 kommt. Zu dieser Entwicklungsphase gehören auch die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte und positive Maßnahmen.2 Zusammengefasst kann man sagen, dass auf die Unfehlbarkeit und notwendige und unumgängliche Universalität oder Allgemeinheit der Normen eine Aufnahme von Einfügungen subjektiver Rangordnung folgt, die mit

1 Zoco Zabala Prohibición de distinciones por razón de sexo. Derecho comunitario, nacional y autonómico, 2008, S. 28, zeigt wie man im vom deutschen Grundrecht befürworteten Sozialstaat versucht, die Forderungen einer Rechtsnorm, die es gestattet begründete Unterschiede einzufügen, mit der Forderung, dass die Normen so universell wie möglich sein sollen als Antwort auf ein System, das auf dem Vorhandensein einer heterogenen Gesellschaft basiert, in Übereinstimmung zu bringen. 2 Giménez Glück Una manifestación polémica del principio de igualdad: acciones positivas moderadas y medidas de discriminación inversa, 1999, S. 58 ff; sowie in: Estado social y acciones positivas: Especial consideración de las personas mayores y de las personas con discapacidad; Mª Dolores Díaz Palarea; Dulce Mª Santana Vega Marco jurídico y social de las personas mayores y de las personas con discapacidad, 2008, S. 41 ff.

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objektiven Problemen3 verknüpft sind. Die Gleichheit ist nicht weiter Tatbestand oder Ausgangspunkt, um zum Endziel zu werden, was eine ständige Berichtigung der faktischen Unterschiede4 verlangt. Sie ist nicht länger Garantie für ein gutes Funktionieren der Gesellschaft, um sich darauf zu konzentrieren, Gleiches gleich zu behandeln und Ungleiches ungleich, sodass der Gesetzgeber des Sozialstaates das Auftreten der juristischen Unterschiede, die er festlegt, zu rechtfertigen hat und deren Zweck angemessen zu sein hat, wobei er so die realen und tatsächlichen Ungleichheiten, die in der Gesellschaft5 herrschen, zum Ausdruck bringt. Der augenscheinliche Widerspruch zwischen der formellen Gleichheit (alle Bürger gleich zu behandeln) und der tatsächlichen Gleichheit (die Notwendigkeit, dass diejenigen, die sich in einer untergeordneten Position befinden, eine Position der realen Gleichberechtigung erreichen können) wird in dem Maße überwunden, in dem der Auftrag der Gleichbehandlung eine gleiche Behandlung für alle festlegt, sofern diese nicht diskriminierend ist, wobei Unterschiede, die auf objektiven und angemessenen Gründen basieren, nicht verhindert werden können. Diese fortgeschrittene Problemstellung der Gleichbehandlung ist in der spanischen Verfassung (CE) von 1978 verankert, nicht nur als Grundrecht (Artikel 14 CE), das die Diskriminierung aus sämtlichen „persönlichen oder sozialen Bedingungen oder Umständen“ ächtet, sondern auch als höherer Wert der Rechtsordnung (Artikel 1.1 CE). Zudem wird dieser in Artikel 9.2 CE festgehaltene Auftrag, der sich an alle öffentlichen Behörden richtet und sie dazu anhält, die Bedingungen zu fördern, damit die Gleichbehandlung des Individuums und der Gruppen, in die sich dieses integriert, real und effektiv ist, sowie die Hürden zu beseitigen, die deren Vollkommenheit verhindern oder erschweren und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben erleichtert. Hierzu werden in Kapitel III einige Leitsätze der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die näher auf diese Erklärung eingehen, ausgeführt. Innerhalb der Europäischen Union ist aufgrund des Grünbuchs „Gleichstellung sowie Bekämpfung von Diskriminierungen in einer erweiterten Europäischen Union” der Vorschlag einer Rahmenstrategie gegen die Diskriminierung und für die Chancengleichheit für alle hervorzuheben. Im Jahr 2000 wurden zwei Richtlinien (Richtlinie 2000/43/EG und 2000/78/EG)

3 Villacorta Mancebo Principio de igualdad y legislador: arbitrariedad y proporcionalidad, como límites (probablemente insuficientes), REP (130), 2005, S. 40 . 4 Rubio Llorente La forma del poder (Estudios sobre la Constitución), 1997, S. 656. 5 Santamaría Pastor VVAA, El principio de igualdad en la Constitución española, Ministerio de Justicia, 1991, S. 1285.

Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit in Europa 1539

verabschiedet, die eine unmittelbare und mittelbare Diskriminierung6 aufgrund von Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Ausrichtung7 verbieten. Zusammen mit diesen Richtlinien hat die Kommission eine „Rahmenstrategie gegen die Diskriminierung und für die Chancengleichheit für alle“8 entwickelt, mit der sie die Begleitmaßnahmen, die dazu ausgerichtet sind, die Gesetzgebung gegen Diskriminierung wirksam umzusetzen und durchzusetzen, unterstützen möchte. Diese sind folgende: Verbreitung von Information, Sensibilisierung, Erfahrungsaustausch, Weiterbildung, Zugang zur Gerichtsbarkeit, etc., alle innerhalb des Programms PROGRESS (Gemeinschaftsprogramm für Beschäftigung und soziale Solidarität). In die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde in umfangreicher und detaillierter Weise in den Artikeln 20 bis 23 das Recht auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung aufgenommen, und in Artikel 11 werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Information wiedergegeben, wobei dieser in seiner Anerkennung den Bezug darauf, dass es keine Hindernisse oder nationalen Einschränkungen geben darf („ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen“), einschließt.

II. Der Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 Als Ergebnis dieser Entwicklung beim Kampf um Gleichberechtigung verabschiedete der Rat den Rahmenbeschluss 2008/913/JI vom 6 Gem. den vorgenannten Richtlinien (Art. 1.2 bzw. 2) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, „wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde” und mittelbare Diskriminierung, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich”. 7 Hier sollte hinzugefügt werden: Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Die Richtlinie empfiehlt, die Beschäftigungsquote von Frauen zu erhöhen, an der Bekämpfung der mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung, der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und allen Angelegenheiten in Sachen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu arbeiten; Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen; Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. 8 KOM (2005) 224 Amtsblatt der Europäischen Union C 236 v. 24. 09. 2005.

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28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, dessen Umsetzungsfrist am 28. 11. 2010 endet. In diesem Rahmenbeschluss legt er, nachdem er in seinem Erwägungsgrund 6 bekennt, dass die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht auf den Bereich des Strafrechts beschränkt werden darf und sich auf die strafrechtliche Bekämpfung besonders schwerer Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu beschränken hat, die Notwendigkeit einer Annäherung der strafrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten auf folgenden Grundlagen fest9: 1. Man werde sich auf Straftaten beziehen müssen, die auf dem Gebiet der Europäischen Union begangen wurden, eingeschlossen solche, die von den Medien mit Sitz in der Europäischen Union begangen wurden. In diesem Punkt geht der Rahmenbeschluss von dem aus, was man als „europäisches Territorialitätsprinzip“ bezeichnen könnte, welches mit dem Grundund Ausgangsprinzip bei der Umsetzung der nationalen Strafgesetze im Einklang steht. Andererseits ist es auffallend, wenn man sich klar macht, dass eine der Hauptangriffsquellen auf das Gleichheitsprinzip und somit Aufbau oder Anstachelung zur rassistischen oder fremdenfeindlichen Diskriminierung jene ist, die durch die Medien entsteht, insbesondere, wenn diese der Wiedergabe- oder Verbreitungsweg der politischen Tätigkeit bestimmter Parteien, Wirtschafts- oder Meinungsgruppen sind. Diese Verantwortung wird gut durch die Bestrafung der natürlichen Person, die im Namen oder in Vertretung von juristischen Personen- oder Sozialmedien handelt, ausgedrückt, welche das im spanischen Strafgesetzbuch mittels „einer in Form einer Kaskade beschränkten strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ tun, bei der zudem die Verantwortlichkeit von materiellen Gehilfen und Begünstigern (Art. 30) ausgeschlossen ist und gegebenenfalls mittels Auferlegung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Personen in jenen Rechtsordnungen, in denen dies vorgesehen ist.10

9 Die Grupo de Estudios de Política Criminal Alternativas al tratamiento jurídico de la discriminación y de la extranjería, 1998, S. 31, betont, dass die Diskriminierung „mit sozialen Strategien überwunden werden muss”; Portilla Contreras Delitos relativos a la discriminación, weist in A. Asúa Batarrita, Jornadas sobre el nuevo Código penal de 1995, 1998, S. 238 ff., auf die Widersprüchlichkeit und Heuchelei hin, die die Aufnahme dieser Verbrechen in das subsidiäre Strafrecht bedeutet, während eine diskriminierende Politik in der Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung verankert ist, wobei nicht erwähnt wird, dass das Strafrecht bei marginalisierten Sektoren der Gesellschaft oft angewendet wird, wodurch eine weitere Diskriminierung und Marginalisierung erfolgt.

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Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen Personen wurde kürzlich von der Reform des spanischen Strafgesetzbuches (LO 5/2010) mit dem System des Numerus clausus

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2. Rassistische oder fremdenfeindliche strafbare Handlungen müssen von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der EU ausgeführt werden oder von einer juristischen Person mit Sitz in der Europäischen Union. Diese Bestimmung ist vom globalen Verständnis der Diskriminierung aus schwer zu verstehen, denn es besteht die Möglichkeit der „umgekehrten Diskriminierungen“, das heißt, solche, die von oder durch die Mitglieder von Minderheiten gegenüber Personen oder Gruppen der vorhandenen Mehrheit in einer bestimmten Gesellschaft ausgehen, die zwar von der Anzahl her in der Minderheit sind, jedoch nicht außer Acht gelassen werden dürfen, denn auch sie bedeuten einen Angriff auf den politischen Pluralismus und das friedliche Zusammenleben. Auch sollten solche nicht vergessen werden, die von einer Minderheit gegen eine andere (Juden gegen Moslems oder umgekehrt auf europäischem Grund und Boden entstehen). Darüber hinaus steht diese Aussage im Widerspruch zu dem, was in Abschnitt 1 festgestellt wird (EU-Territorialitätsprinzip) und ist aus politischkrimineller Sicht unbefriedigend, da es erhebliche Lücken im Strafraum verursacht (kanadischer Neonazi oder US-amerikanische juristische Person mit Gesellschaftssitz in Europa, die diskriminierende Delikte gegen einen jüdischen Angehörigen eines EG Staates verüben). 3. Rassistische Beweggründe haben als erschwerender Umstand zu gelten oder sind in jedem Fall bei der Festlegung des Strafmaßes zu berücksichtigen. Der Rahmenbeschluss grenzt die Liste der Beweggründe für Diskriminierung hinsichtlich ihrer Bestrafung auf Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder die nationale oder ethnische Herkunft ein, das heißt, auf den Rassismus oder die Fremdenfeindlichkeit. Wie man sehen kann, ist die Aufzählung redundant, denn die Rasse, ein anderer Begriff für Ethnie, bedeutet, eine andere Hautfarbe (weiß, schwarz, gelb oder rot) zu haben. Weder das Geschlecht noch die sexuelle Ausrichtung, Behinderung oder Krankheit, Kriterien, die nichtsdestotrotz in anderen Richtlinien über die Strategie bei der Bekämpfung der Diskriminierung mit nichtstrafrechtlichen Maßnahmen11 erwähnt werden, sind eingeschlossen. Unverständlich ist, warum insbesondere das Geschlecht und die sexuelle Ausrichtung aus dem Bereich des strafrechtlichen Schutzes ausgeschlossen wurden, trotz der zahlreichen homophoben Angriffe, die es immer noch in der Union gibt, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass es größere Schwierigkeiten gibt, zu einer Einigung zu gelangen, wie man aus Erwägungsgrund

eingeführt, das heisst nur in Bezug auf bestimmte Verbrechen, wobei Antidiskriminierungsverbrechen nicht eingeschlossen sind. 11 Wie das bei der Richtlinie 2000/78/EG (Artikel 1) der Fall ist.

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10 des vorgenannten Rahmenbeschlusses12 ersehen kann. Aber dies zeigt, dass es notwendig ist, diese anderen Beweggründe zu sammeln, zumindest als Warnung in den EU-Ländern, die solch diskriminierenden Beweggründen keine besondere Aufmerksamkeit schenken.13 Der Rahmenbeschluss definiert nicht die Begriffe Rasse oder Ethnie, jedoch aber die der Religion und Abstammung. Die – menschliche – Rasse wird als Gruppe von menschlichen Wesen, die sich im Allgemeinen durch ihre Hautfarbe und andere anatomische Merkmale unterscheiden, definiert und so von der Ethnie unterschieden, die innerhalb einer Rasse oder Mischung dieser Menschengruppen bestimmt werden kann, die sich durch ihre kulturellen Merkmale (Roma, Kurden, etc.) identifizieren. Der Begriff Religion wird in Erwägungsgrund (8) des Rahmenbeschlusses als „religiöse Überzeugungen oder Weltanschauungen“, durch die Personen definiert werden, bezeichnet. Die nationale Herkunft bezieht sich auf die Zugehörigkeit einer Person zu einer Nation, entweder weil sie deren Staatsangehörigkeit besitzt oder weil sie dort geboren ist, obwohl sie diese nicht besitzt. Dieser Diskriminierungsgrund führt zur Fremdenfeindlichkeit und zusammen mit dem Rassismus, mit dem sie sich überschneiden kann (Person schwarzer Rasse und israelischer Staatsangehörigkeit), sind sie die Hauptgründe für Diskriminierung. Der Begriff Nation wird als Gemeinschaft mit souveräner Rechtspersönlichkeit auf internationaler Ebene gesehen. Der Bezug auf die nationale Herkunft ist jedoch lockerer und kann auch Regionen oder Gemeinschaften einschließen, die nicht solcher Natur sind. Auffallend ist, dass auf die Abstammung Bezug genommen wird, die traditionell als Form der Bindung einer Person zu ihren Erzeugern verstanden wird, aber als Diskriminierungskriterium in den europäischen Ländern an Bedeutung verloren hat (eheliche oder uneheliche Kinder, eine außer- oder voreheliche Geburt, Kinder von ledigen Müttern). Der Erwägungsgrund (7) klärt jedoch darüber auf, dass der Begriff Abstammung sich „im Wesentlichen auf Personen oder Gruppen von Personen bezieht, welche von Perso12

„Der vorliegende Rahmenbeschluss hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, im nationalen Recht Bestimmungen zu erlassen, mit denen der Geltungsbereich von Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben c und d auf Straftaten ausgeweitet wird, die sich gegen eine Gruppe von Personen richten, die durch andere Kriterien als Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft, wie etwa den sozialen Status oder politische Überzeugungen, definiert sind”. 13 S. Bericht von Amnesty International www.es.amnesty.org/temas/minorias-sexuales/, der besagt, dass Homophobie äußerst beunruhigend ist, vor allem in den osteuropäischen Ländern.Vgl. auch Elvira Perales Interdicción de discriminación por razón de orientación sexual. Comentario a la Sentencia del Tribunal Constitucional 41/2006 Teoria y Realidad Constitucional (20), 2007, S. 655 ff.

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nen abstammen, die anhand bestimmter Merkmale (z. B. Rasse oder Hautfarbe) identifiziert werden könnten, wobei jedoch nicht alle diese Merkmale unbedingt weiter bestehen. Dennoch können diese Personen oder Gruppen von Personen aufgrund ihrer Abstammung Hass oder Gewalt ausgesetzt sein”. Definitiv ist die Abstammung, auf die hier Bezug genommen wird, rassistisch, ethnisch oder religiös und wird so zum Verbindungskriterium, mit dem man versucht den Schutzbereich der rassistischen und/oder fremdenfeindlichen Diskriminierung zu erweitern. Damit zeigt sich eine besondere Besorgnis über die Integration zweiter oder dritter Generationen von Personen einer anderen Rasse oder Staatsangehörigkeit in die europäische Gesellschaft, in die die Vorfahren auswanderten und die Integrationsprobleme, zu denen es in Frankreich, Deutschland oder Spanien mit ihren Nachkommen gekommen ist (Vandalismus in den Einwanderervierteln in Frankreich, Schulabbruch von muslimischen Mädchen, das Problem des Tragens eines Kopftuches oder einer Burka an Schulen, etc.), sind nicht gerade wenige. 4. Die Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere und Öffentlichkeit, unter Strafe gestellt werden müssen, sind: a) Die öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe. b) Die Begehung einer der in Buchstabe a genannten Handlungen durch öffentliche Verbreitung oder Verteilung von Schriften, Bild- oder sonstigem Material. c) Das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Sinne der Artikel 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, das gegen eine Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe gerichtet ist, die nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definiert werden, wenn die Handlung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt; d) Das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Verbrechen nach Artikel 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. August 1945 gegenüber einer Gruppe von Personen oder einem Mitglied einer solchen Gruppe, die nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definiert werden, wenn die Handlung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt.

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Der wichtigste problematische Aspekt, den diese Handlungen des Rahmenbeschlusses darstellen, auf die wir aus Gründen der Länge dieser Arbeit nicht näher eingehen können, ist der vorhandene Mangel an Einklang zwischen den Handlungen des Verleugnens, der gröblichen Verharmlosung oder des Billigens und dem, was in den verfassungsrechtlichen Texten und in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung geäußert wird, die diese über die Meinungsfreiheit und den politischen Pluralismus ausführen. Tatsächlich erklärte das spanische Verfassungsgericht (Urteil 235/2007, 7-11) den in Satz 1 von Artikel 607 des spanischen Strafgesetzbuches enthaltenen Ausdruck „verleugnen oder“ für verfassungswidrig und nichtig, weil es davon ausging, dass es die Verbreitung von Ideen und Lehren14 bestrafe. In diesem Sinne kritisieren die spanischen Strafrechtler die Bestrafung der Handlungen des Billigens und der Verleugnung, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und die bloȕe Apologie des Terrorismus weil diese eine Einschränkung der Meinungsfreiheit implizieren und zudem von einem Zeichen für die Schwäche der demokratischen Systeme15 ausgehen, sofern die vorgenannten Ausdrücke nicht zur Gewalt gegen Personen oder die öffentliche Ordnung drängen oder eine Verletzung des Grundsatzes der Beschränkung darstellen, wie das bei den Handlungen des Aufrufs zum Hass der Fall ist. 14 Artikel 607.2 des spanischen Strafgesetzbuches (CPE) bestraft in Kapitel II über die Straftat des Völkermordes „jedwede Art der Verbreitung von Ansichten oder Lehren, welche die im vorhergehenden Absatz dieses Artikels tatbestandlich erfassten Straftaten leugnen oder rechtfertigen oder die Rehabilitierung von Regimen oder Einrichtungen anstreben, die Verhaltensweisen schützen, die solche Taten hervorbringen, mit Gefängnis von einem Jahr bis zu zwei Jahren“.. Mehr noch, das Urteil des Obersten Gerichtshofs Spaniens vom 4.7.1994 äußerte bereits in Zusammenhang mit der Billigung des Terrorismus, dass in dem Maße, in dem sich diese auf rein ideologische Fragen bezieht, deren Bestrafung gegen Artikel 20 der Verfassung verstoße. U.a. Grupos de Estudio de Política Criminal Manifiesto sobre diversidad cultural y política criminal, 30.3.1996, wurde bereits angezeigt. Feijoo Sánchez in: Rodríguez Mourullo/Jorge Barreiro, Comentarios al Código penal, 1997, S. 1423; García Rivas Comentarios al Código penal, 2007, S. 1119. Vgl. auch BVerfG 8-12-2010 (BvR 1106/08). und u.a. Luther El antinegacionismo en la experiencia jurídica alemana y comparada (trad. F. J. Durán Ruiz), REDCE (9), 2008, S. 25, „Im Allgemeinen scheint die deutsche verfassungsrechtliche Gesetzgebung sehr entschieden und auf eine Optimierung der Instrumente der sozialen Prävention ausgerichtet. Das Bundesverfassungsgericht selbst fordert immer eine Suche nach weniger steifen Auslegungsalternativen sowohl in Bezug auf die Gesetze wie auch der Ausdrücke die Ziel einer eventuellen Beschuldigung sind. 15 Cancio Melía in: A. Jorge Barreiro, Comentarios al Código penal, 1997, S. 1275 f, bewertet die Einführung dieser Bestimmung negativ, weil er die Rechtfertigung für zweifelhaft hält, denn es scheint, als wolle man nur die Funktion des sozialen Erziehers des Strafrechts einführen. Díaz García-Conlledo Protección y expulsión de extranjeros en Derecho penal, 2007, S. 372 ff; Tamarit I Sumalla in: G. Quintero Olivares/Morales Prats (Coord.), Comentarios al Código penal, B. III, 2008, S. 935 f.; auf die Verunglimpfung, Santana Vega El delito de ultrajes a España y sus Comunidades Autónomas CPC (99) 2009, S. 49 ff,

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Der Rahmenbeschluss ist sich der Gefahren, die die Strafbarkeit dieser Handlungen für die Meinungsfreiheit mit sich bringt, bewusst. Deshalb erklärt Artikel 7 bei der Ausführung von Erwägungsgrund (15) ausdrücklich, dass: a) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten. b) Dieser Rahmenbeschluss verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die im Widerspruch zu Grundprinzipien stehen, die sich aus Verfassungsüberlieferungen ergeben und die Vereinigungsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien, betreffen; er verpflichtet sie auch nicht dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die in Widerspruch zu Bestimmungen stehen, die die Rechte und Verantwortlichkeiten sowie die Verfahrensgarantien für die Presse oder andere Medien regeln, wenn diese Bestimmungen sich auf die Feststellung oder Begrenzung der Verantwortlichkeit16 beziehen. Nachdem nun die Handlungen beschrieben wurden, die in den Mitgliedstaaten zum Straftatbestand erhoben werden sollten, wird es gestattet, den Geltungsbereich dieser einzuschränken: a) Er gestattet es, „nur Handlungen unter Strafe zu stellen, die in einer Weise begangen werden, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören, oder die Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen darstellen“. b) In Zusammenhang mit dem „Verweis auf Religion soll er zumindest Handlungsweisen erfassen, die als Vorwand für die Begehung von Handlungen gegen eine nach Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definierte Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe dienen“. Somit scheint der Rahmenbeschluss es zu erlauben, die Religion genauso wie im Fall der Abstimmung als Verbindungskriterium zwischen dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit hinzustellen. c) In Zusammenhang mit den Handlungen „der Leugnung oder gröblichen Verharmlosung der in Absatz 1 Buchstaben c und d genannten Verbrechen“ können Mitgliedstaaten diese „nur dann unter Strafe stellen, wenn ein nationales Gericht dieses Mitgliedstaats oder ein internationales Gericht sie 16

Innerhalb der Sonderbestimmungen in Bezug auf die Festsetzung oder Beschränkung der Verantwortlichkeit im Falle der freien Meinungsäußerung der Medien ist die sogenannte „Strafrechtliche Verantwortlichkeit in Kaskadenform” zu zitieren, die in Artikel 30 CPE für „Straftaten und Übertretungen, die unter Verwendung mechanischer Verbreitungsmittel begangen werden“, und in diesem Fall „sind weder die Gehilfen noch diejenigen strafrechtlich verantwortlich, die die Taten persönlich oder tatsächlich gefördert haben“.

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endgültig festgestellt haben oder wenn ausschließlich ein internationales Gericht sie endgültig festgestellt hat“. Nichtsdestotrotz steht die Liste der Handlungen, die der Rahmenbeschluss enthält, mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Einklang, auf die zu einem späteren Zeitpunkt Bezug genommen wird und in der es eine klare Neigung zur Bekämpfung der Diskriminierung hin gibt, welche auf Kosten der Meinungsfreiheit erfolgt. Unabhängig von der Umsetzung der oben genannten Verhaltensformen in strafrechtliche Tatbestände fordert der Rahmenbeschluss, als allgemeines Grundkriterium, den Niederschlag der diskriminierenden Gründe als erschwerenden Umstand (Fall des erschwerenden Umstands aus den diskriminierenden Beweggrüngen von Art. 22.4 des spanischen Strafgesetzbuchs) oder zumindest als Element, das das Strafmaß im Prozess der Individualisierung dieser erhöht. 5. Die Höchststrafe für diese Straftatbestände hat mindestens bei einer Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren zu liegen. Diese konfuse Abfassung ist als Forderung zu verstehen, dass der strafrechtliche Rahmen zumindest ein Mindeststrafmaß von einem Jahr und ein Höchstmaß von drei Jahren vorsieht. Gemäß Erwägungsgrund (13) des Rahmenbeschlusses hat das festgesetzte Strafmaß in jedem Fall „wirksam, angemessen und abschreckend“ vom materiellen Standpunkt aus und „gemeinsam und miteinander vereinbar“ vom zwischenstaatlichen und institutionellen Standpunkt aus zu sein. Daher wird nicht ausgeschlossen, dass die EU selbst „gemäß dem in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union genannten und Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der europäischen Gemeinschaft niedergelegten Subsidiaritätsprinzip Maßnahmen treffen kann“. 6. Alle Antidiskriminierungsdelikte oder zumindest die schwerwiegendsten sind von Amts wegen strafrechtlich zu verfolgen (Art. 8), was sich durch die Tatsache rechtfertigt, dass die Opfer solcher Straftaten „häufig besonders gefährdet sind und vor gerichtlichen Schritten zurückschrecken“ (Erwägungsgrund 11). Aber diese Rechtsnorm hat auch die Wirkung, den öffentlichen Charakter der Antidiskriminierungsdelikte zu verstärken, wie dies bei einem Vergleich traditioneller, im Allgemeinen auf Antrag eines Beteiligten verfolgbaren Straftaten wie Verleumdung und Beleidigung mit der Straftat des Aufrufs zum Hass oder zur Diskriminierung, die Beeinträchtigungen der Ehre mit sich bringen, deutlich wird, welche als persönliche Würde gegenüber Personen oder Gruppen betrachtet wird und so die öffentliche Dimension zum Ausdruck bringt, die diskriminierende Äußerungen im Gegensatz zu jenen anderen mit sich bringen, die auf zwischenmenschlicher Ebene gehalten werden, wobei Letztere viel größeren Einfluss auf die soziale Integration der Betroffenen nehmen.

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III. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg über die diskriminierende freie Meinungsäußerung Im Unterschied zu dem, was im Konflikt zwischen der freien Meinungsäußerung und den Grundrechten auf Ehre und Privatsphäre geschieht, deren Rechtslehre, obwohl in stetiger Überarbeitung und Entwicklung, bereits eine klassische Frage ist, gilt dies nicht für die Harmonisierung zwischen der freien Meinungsäußerung und dem Grundrecht, nicht diskriminiert zu werden als negativen Aspekt des Grundrechts auf Gleichbehandlung, die Gegenstand neuster Erkenntnisse ist. Seit den achtziger Jahren in Spanien und davor in Europa erlebt man das Wachstum von den Phänomenen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie das Erscheinen von Zeitschriften und Verlagen dieser Ideologie, insbesondere neonazistische oder neofrankistische. Sie breiteten sich, zumindest in Spanien, im Schutze des Nichtvorhandenseins einer verbietenden Gesetzgebung aus.17 In den letzten Jahren wird der Erfolg von rechtsextremen Parteien durch rassistische und/oder fremdenfeindliche Wahlreden und Vorschläge unterstützt, was die Möglichkeiten einer Teilnahme dieser Personen am sozialen Leben, aufgrund der Tatsache, dass sie einer Minderheit18 angehören, in Gefahr bringt. In diesem Szenario wird der sanktionierende Eingriff als Einschränkung für die freie Meinungsäußerung und den politischen Pluralismus, dessen Notwendigkeit, Angemessenheit und Rechtmäßigkeit als etwas Durchführbares in den antidemokratischen Staaten bezweifelt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass solche Fälle zu einer Rechtsprechung geführt haben, die nicht immer frei von Widersprüchen vonseiten des EGMR ist.

1. Leading Cases Den Ausgangspunkt in diesem Sachgebiet bildet Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die freie Meinungsäußerung,19 wobei in Artikel 14 das Verbot der Diskriminierung20 festgelegt wird. 17 Mit Verweisung auf die Rechtsvergleichung, u.a.: Borja Jimenez Violencia y criminalidad racista en Europa occidental: la respuesta del Derecho penal, 1999, S. 17 ff; Landa Gorostiza La intervención penal frente a la xenofobia. Problemática general con especial referencia al „delito de provocación” del art. 510 del Código penal, 2000, S. 39 ff. 18 Vgl. u. a. Mir Puig Derecho penal, Parte general, Reppetor, 2008, S. 163. 19 „ (1) Jeder hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, dass die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen

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Die Harmonisierung dieser zwei Bestimmungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war nicht einfach, wenngleich die bedeutendsten Fälle der letzten Jahre hauptsächlich auf die Ausübung der politischen Tätigkeit bezogen waren, wobei die Bilanz positiv ausfällt und der Nichtdiskriminierung Vorzug gibt. Unter den Fällen, die wir hervorheben können, sind Folgende besonders nennenswert: a) Fall Soulas und Faye gegen die Französische Republik (Urteil des EGMR vom 10.07.2008, Abs. 35). In diesem Fall werden Ausdrücke aus dem Buch mit dem Titel „La Colonisation de l’Europe“ und Untertitel „Discours vrai sur l’immigration et l’Islam“ geschrieben von G. Faye und herausgegeben im Jahr 2000 von SEDE, deren Direktor G. Soulas war. In diesem Buch wird behauptet, dass die jungen Leute aus dem Maghreb und südlich der Sahara strafbare Tätigkeiten ausführten, nicht nur in der Absicht sich zu bereichern, abgeleitet von der angeborenen Unfähigkeit, sich in ein normales Wirtschaftsleben zu integrieren, sondern auch, motiviert durch ein Gefühl des antieuropäischen Rassismus mit der Perspektive, das Gebiet zu erobern und eine islamische Republik zu gründen. In dem Buch wird eine Sprache verwendet, die die des Militärs imitiert, denn es wird darauf angespielt, dass es in Frankreich aus Rachsucht einen „ethnischen Bürgerkrieg“ gäbe, der z. B. durch die rituelle Vergewaltigung von europäischen Frauen materialisiert werde, was an einem konkreten Fall veranschaulicht wird. b) Fall „Litauischer Kalender 2000” (Urteil des EGMR vom 04.11.2008), herausgegeben von Frau Danut Balsyt Lideikien gegen die Republik Litauen. Das Gericht der Republik Litauen, das den Fall beurteilt hat, berücksichtigt die Erklärung der Regierung, die darauf hinweist, dass nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Republik am 11.03.1990, Angelegenheiten in Zusammenhang mit der räumlichen Integration und nationalen Minderheiten heikel gewesen wären. Die Veröffentlichung des besagten litauischen Kalenders 2000 rief negative Reaktionen und Beschwerden bei den diplomatischen Vertretern Russlands, Polens und Weißrusslands hervor. In den Texten, die nach Datum hinzugefügt wurden, wureinem Genehmigungsverfahren unterwerfen. (2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind“. 20 „Der Genuss der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten muss ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden”.

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de ein aggressiver ethnozentrischer Nationalismus zum Ausdruck gebracht. So zum Beispiel handelte der Text vom 15.6. von den „Sowjetbürgern, die mit Hilfe kommunistischer Kollaborateure die Macht innehatten, darunter zahlreiche Juden, die seit mehr als einem halben Jahrhundert Völkermord begingen und die Kolonisierung der litauischen Nation durchführten“. Im Text vom 23.6. steht: „Im Jahr 1944, in Dubingiai und seiner Umgebung, tötete Armia Krajoava brutal mehr als hundert Litauer (...), darunter Frauen, Kinder, Säuglinge und ältere Menschen. Das war die Art, in der die Polen im Krieg ihre ethnische Säuberung durchführten ...“. Auf der Rückseite des Kalenders ist eine Karte der Republik Litauen, auf der die Nachbarländer Weißrussland, Polen und Russland mit dem Ausdruck „Ländereien der litauischen Ethnie unter vorübergehender Besetzung“ bezeichnet zu sehen sind. c) Fall Daniel Feret gegen das Königreich Belgien (Urteil des EGMR vom 16.7.2009). In diesem Urteil führte der Beschwerdeführer Daniel Feret, Mitglied der politischen Partei „Front National“ unter anderem folgende Aktionen durch: aa)Veröffentlichung eines Flugblattes mit dem Titel „Engagiert euch, bei dem was euch betrifft“, auf dem er unter anderem Folgendes forderte: Vorrang für Belgier und Europäer bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, Rückführung von Einwanderern, Umwandlung von Heimen für politische Flüchtlinge in Heime für belgische Obdachlose, Schaffung einer getrennten Sozialversicherung für die Einwanderer. bb) Herausgabe eines Flugblattes mit dem Titel „Programm der Front National“, in dem unter anderem die dauerhafte Niederlassung von außereuropäischen Familien verhindert werden solle, ethnische Gettos zu bilden seien sowie das Volk von der Gefahr des erobernden Islams zu retten sei. cc) Herausgabe eines Flugblattes mit dem Titel: „Rue des Palmiers: ein Flüchtlingsheim vergiftet das Leben der Anwohner“. dd)Veröffentlichung eines Plakates mit dem Titel „Es ist der Couscous Clan“, auf dem eine verschleierte Frau dargestellt wird und ein Mann mit Turban, die ein Schild mit der Aufschrift „Der Koran sagt: Tötet die Ungläubigen bis ein Blutbad fließt“ halten. Darunter stand mit roten Buchstaben: „FN sagt Nein!“. d) Fall Bürgermeister von Seclin gegen die Französische Republik (Urteil des EGMR vom 16.7.2009). Dieses erst kürzlich gefällte Urteil weist ebenfalls die Klage des besagten Bürgermeisters ab, der sich ebenfalls auf den bereits zitierten Art. 10 der Konvention berief. Die diskriminierenden Tatbestände beziehen sich auf Äußerungen des Bürgermeisters während einer Versammlung des Gemeinderates der angegebenen Stadt, in der dieser im Beisein von Journalisten seine Absicht verkündete, israelische Produkte in seiner Gemeinde zu boykottieren, insbesondere Fruchtsäfte. Diese Äußerungen wurden ebenfalls in der Zeitung „La Voix du Nord“ veröffentlicht, worin ausdrücklich festgehalten wird, dass diese Maßnahme ein Protest

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gegen die antidemokratische Politik geführt nicht vom israelischen Volk sei, das für den Bürgermeister nicht zur Diskussion stand, sondern gegen einen Mann, Herrn Sharon, der der Schuldige der Gräueltaten sei und der keine Entscheidung der UNO respektieren würde und weiterhin Menschen niedermetzeln lasse, ohne gegen die extremistischen Palästinenser vorzugehen, die seiner blutigen Politik ein Alibi gäben. Nach Vorlage von Beschwerden bei der Staatsanwaltschaft, sowohl von Privatpersonen als auch vom nordisraelischen Kulturverein, leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen den Bürgermeister ein, in dem sie ihn des Aufrufs zur nationalen, rassischen und religiösen Diskriminierung beschuldigte, durch Wort, Schrift oder ein audiovisuelles Mittel, wobei sie sich auf Artikel 23 und 24 des französischen Pressegesetzes vom 29.06.1881 berief. Das Tribunal Correctionnel Lille sprach den Beschwerdeführer frei, wobei sie sich darauf berief, dass die Diskriminierung nicht Personen oder Personengruppen betraf, sondern Produkte (israelische Fruchtsäfte). Daher wurde dieser Tatbestand nicht in die vorgenannten Bestimmungen aufgenommen. Der Bürgermeister handelte in Ausübung seiner freien Meinungsäußerung, die ihm Artikel 10 der Europäischen Konvention für Menschenrechte zuerkennt. Gegen das besagte Urteil erhob die Staatsanwaltschaft auf Antrag des Justizministeriums Einspruch, wobei sie im Jahr 2003 eine Neubewertung der Tatbestände als Diskriminierung beantragte, aber jetzt definiert unter Artikel 225-1, begangen von einer öffentlichen Amtsperson, da es sich um die Behinderung der normalen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit handelt (Straftat nach Artikel 432.7 des französischen Strafgesetzbuches und mit drei Jahren Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von 45.000 Euro unter Strafe gestellt wird), wobei die Staatsanwaltschaft bei dem Aufruf des Bürgermeisters davon ausging, dass dieser aufgrund seiner Stellung als öffentliche Amtsperson und Vertreter des Staates bei der Ausübung seiner Aufgaben unparteiisch zu sein hat und auch nicht die Regierungsbehörden ersetzen kann, indem er einen Boykott ausländischer Produkte anordnet. Das Berufungsgericht Douai akzeptierte die neue Bewertung der Tatbestände durch die Staatsanwaltschaft nicht, erklärte das in erster Instanz gefällte Urteil aber für nichtig und verurteilte den Bürgermeister wegen Aufruf zur Diskriminierung basierend auf dem vorgenannten Gesetz von 1881 zu einer Geldstrafe von 1000 Euro. Das Berufungsurteil begründet den Aufruf zur Diskriminierung anhand der Tatsache, dass der Boykott der aus Israel stammenden Produkte „aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation ein übliches Hindernis bei der Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Produzenten darstelle ..., es berücksichtigte die israelische Staatsangehörig-

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keit, um ihre Entscheidung zu unterstützen ... und ersuchte die Gemeinde die Nation zu berücksichtigen, die der Regierungschef vertrat“.

2. Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte In den gerade dargestellten Fällen wurden die Beschwerdeführer von den nationalen Gerichten wegen Diskriminierung verurteilt, worauf sie sich an den EGMR wandten. Alle beriefen sich auf die Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, auf die sich Art. 10 der Konvention bezieht, wobei alle in diesem Sinne abgewiesen wurden. Aus der Gesamtheit der Begründungen des vorgenannten Gerichtshofs in den gerade dargestellten Fällen und anderen ähnlichen Fällen kann man eine Reihe an Schlussfolgerungen ziehen, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich der Lösung des Konflikts zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht, nicht diskriminiert zu werden, zusammenfassen. a) Für den EGMR ist die Meinungsäußerung die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, die sich durch Pluralismus, Toleranz und Offenheit auszeichnet und so die Vorbedingungen für die Ausübung der Demokratie21 bildet. Daher misst der EGMR dieser Freiheit aufgrund ihres allgemeinen Interesses in Bezug auf die politische Debatte große Bedeutung bei, auch wenn diese bestimmte Grenzen nicht überschreiten darf in Bezug auf den Respekt, hauptsächlich gegenüber den Rechten anderer, auch wenn es ihr gestattet ist, auf ein gewisses Maß an Übertreibung oder Provokation22 zurückzugreifen. b) Die Meinungsfreiheit umfasst nicht nur gut aufgenommene oder als harmlos oder unbeteiligt anzusehende Informationen und Ideen, sondern auch jene anderen die anstoßen, brüskieren oder beunruhigen. Daher haben die Einschränkungen der freien Meinungsäußerung von Artikel 10 der Konvention von strikter Auslegung zu sein und die Notwendigkeit der Einschränkung ist überzeugend23 zu belegen. c) Es unterliegt den nationalen Behörden, zu bewerten, ob eine „dringende soziale Notwendigkeit“ besteht, die die beschlossenen Einschränkungen rechtfertigen kann. Dazu verfügen sie über einen gewissen Ermessensspielraum24, obwohl es dem Gerichtshof unterliegt, in letzter Instanz zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der freien Meinungsäußerung in 21

Urteil des EGMR, Fall Özgür Gündem gegen die Türkei (EGMR, 2000, 94). Urteil des EGMR vom 16.07.2009, Fall Bürgermeister von Seclin gegen die Französische Republik, Abs. 33. 23 Vgl. auch Urteil des EGMR vom 23.09.1994, Abs. 37. 24 Urteil des EGMR vom 26.04.1979, Fall Sunday Times gegen das Vereinigte Königreich, Abs. 62. 22

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Übereinstimmung gebracht wird, die Artikel 10 der Konvention festlegt und ob die angeführten Gründe, die von den nationalen Behörden geltend gemacht werden, „ausreichend begründet“ sind sowie ob die getroffenen Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zwecken25 stehen. d) Von dieser Konzeption des Rechts auf freie Meinungsäußerung ausgehend sieht der Gerichtshof die diesbezüglich festgelegten Grenzen aus diskriminierenden Beweggründen in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig an, und man habe der Bekämpfung rassistischer Reden gegenüber einer unverantwortlichen Äußerung der freien Meinung, die die Würde und Sicherheit bestimmter Bevölkerungsgruppen26 angreift, Vorrang zu geben. e) Gleichfalls bekräftigt der Gerichtshof, dass man Politikern eine besondere Verantwortung in Bezug auf diskriminierende Äußerungen abzuverlangen habe, insbesondere bei Wahlreden. Diese hätten ein besonderes Maß an Schutz zu genießen, besonders während des Wahlkampfes, damit sie ihre Wähler überzeugen. Aus dem gleichen Grund dürfen diskriminierende Äußerungen aufgrund der größeren Auswirkungen, die diese bei der Verbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben können, nicht erlaubt sein. In jedem Fall kann die Stellung als Parlamentarier nicht nur einen strafmildernden Umstand darstellen, sondern der Gerichtshof ruft auch in Erinnerung, wie wichtig es ist, dass Politiker im Allgemeinen die Worte bei ihren öffentlichen Reden mäßigen, um die Intoleranz27 nicht zu fördern. f) Der Gerichtshof geht davon aus, dass die Anstachelung zum Hass nicht unbedingt einem Aufruf zu einem Gewaltakt zu folgen hat und auch nicht zu einer anderen Straftat. Damit diese gegeben ist, reicht es aus, dass Handlungen wie einen bestimmten Teil der Bevölkerung oder dessen Gruppen28 zu beschimpfen, lächerlich zu machen oder zu verleumden, aufeinandertreffen. g) In jedem Fall ist ein strafrechtliches Vorgehen mit Umsicht zu verwenden, insbesondere wenn es andere Mittel gibt, um den ungerechtfertigten Angriffen und Kritiken der Gegner29entgegen zu stehen.

25

Urteil des EGMR vom 04.11.2008, Fall Litauischer Kalender, Abs. 83 ff. Urteil des EGMR vom 16.07.2009, Fall Daniel Feret gegen das Königreich Belgien, Abs. 71 ff. 27 Urteil des EGMR vom 06.07.2006, Fall Erbakan gegen die Türkei, Abs. 64. 28 Urteil des EGMR vom 16.07. 2009, Fall Daniel Feret gegen das Königreich Belgien, Abs. 73. 29 Urteil des EGMR vom 09.06.1998, Fall Incal gegen die Türkei, Abs. 54; im gleichen Sinne, Urteil des EGMR vom 04.11.2008, Fall Litauischer Kalender, Abs. 81. 26

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IV. Schlusserwägungen Schon vor Jahren wies Roxin in Zusammenhang mit dem sogenannten deutschen Wirtschaftswunder auf die Gefahr der leichten „Flucht ins Strafrecht“ hin30. Es hat sich seitdem jedoch herausgestellt, dass es sich nicht um ein einmaliges oder einzelnes Phänomen handelte, sondern dass es seitdem ständig wiederkehrt und nicht nur den staatlichen Eingriff in die wirtschaftlichen Belange der kollektiven oder supraindividuellen Rechtsgüter betrifft31, sondern dies auch unter dem Vorwand der Sicherheit, des punitiven Populismus oder einer verschärften symbolischen Funktion des Strafrechts zum Ausdruck gebracht wird.32 Demgegenüber müsste man immer wieder die von Roxin vorgeschlagene abgestufte Handlungsrichtlinie und andere Bestandteile des alternativen Projekts fordern, ohne dieser die Befugnis zu entziehen, weil sie einfach nur klassisch und nicht technisch neu ist, denn sowohl früher als heute vertritt sie „das gute Strafrecht“, subsidiär und fragmentär, wenn es darum geht, darüber zu entscheiden, eine strafrechtliche Antwort auf ein soziales Problem zu geben. An erster Stelle müsste man auf eine angemessene Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik zurückgreifen, und zwar sind Programme zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung für das Phänomen der Immigration und kulturellen und religiösen Diversität, die diese mit sich bringt, ausschlaggebend, wenn es darum geht, sich den sozialen, durch diskriminierende Situationen entstandenen Situationen zu stellen. An zweiter Stelle, wenn diese nicht ausreichend oder wirkungslos sind, müsste man auf nicht strafrechtliche Maßnahmen zurückgreifen: Geldbußen, die Auflösung oder Einstellung verschiedener Tätigkeiten innerhalb des sanktionierenden Verwaltungsrechts sind hier ratsamer als der Eingriff des Strafrechts.33 Schließ30 Roxin Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1976, S. 45 ff. In diesem Sinn ist es zu bedauern, dass die Europäische Union schon nach kurzer Zeit, ohne die Ergebnisse der Artikulierung ihrer Antidiskriminierungsrichtlinien und des Programms PROGRESS abzuwarten, übereilt auf eine Harmonisierung der Strafgesetzgebung gedrängt hat, um gegen die Diskriminierung zu kämpfen, und zwar nicht in ihren gravierendsten und verletzendsten Modalitäten, sondern klägliche nationale Antworten wiederholend, einen vorzeitigen Eingriff in gefährliche Verhaltensweisen mit einem hohen Grad an Unbestimmbarkeit aufzwingt. 31 Santana Vega La protección penal de los bienes jurídicos colectivos, 2000, S. 105 ff; ders. Funciones del Derecho penal y bienes jurídico-penales colectivos, AP (9) 2001, S. 146. 32 Díez Ripolléz Derecho penal simbólico y los efectos de la pena, AP (1), 2001, S. 5 ff; Roxin Strafrecht AT I, § 2 Rn. 25 ff; ders. Dependencia e independencia del Derecho penal con respecto a la política, la filosofía, la moral y la religión” (trad. D.M. Santana Vega), ADPCP (59), 2006, S. 15 ff; Voß Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, 1989, S. 7 ff. 33 Vergl. BVerfG in seinem Urteil vom 18. März 2003, in dem es die NPD für legal erklärte, weil es der Meinung war, dass man nicht beweisen könne, dass die Klage der Illegalisierung von 2003 nach einem langen Prozess verweigert wurde, als ans Licht kam, dass ein Großteil

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lich, wenn diese anderen beiden Stufen des Eingriffs ihre Unzulänglichkeit oder Unwirksamkeit gezeigt haben, ist nur dann ein Eingriff des Strafrechts34gerechtfertigt. Das verlangbare Mindestmaß, um einen strafrechtlichen Eingriff im Kampf gegen die diskriminierende freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen, hat sich an der Verletzung oder Gefährdung der strafrechtlichen Güter, die wesentlich für die Teilnahme von Personen am sozialen Umfeld sind, zu messen und an den Gruppen, aus denen sich diese zusammensetzen. Sie darf sich jedoch nicht auf den rein handelsrechtlichen Bereich ausbreiten, in dem der verwaltungsrechtliche Eingriff mehr als ausreichend ist, wie das im Fall des Bürgermeisters von Seclin geschah, der ein gutes Beispiel dafür ist, wie schädlich eine Überschreitung des punitiven Eingriffs35 für die freie Meinungsäußerung sein kann. Auf gleiche Art und Weise scheint der EGMR in eine contraditio in terminis zu geraten, denn zuzulassen, dass die freie Meinungsäußerung die radikalsten oder provokativsten Tatbestände umfasst, endet damit, dass die Klagen von Fällen, in denen die Verurteilten oft nichts anderes getan haben als sich im Kontext der politischen Tätigkeit auf diesen Grenzgebieten zu bewegen, abgewiesen werden.36 Auf der anderen Seite, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit „dringenden sozialen Bedürfnissen“ zu unterwerfen, einem ebenso weiten wie unbestimmten Begriff, der zudem auch noch von den nationalen Behörden der von den Nachrichtendiensten angesammelten Informationen von an die Spitze dieser rechtsextremen Formierung infiltrierten Polizeispitzeln stammte. 34 Roxin Strafrechtliche Grundlageprobleme, 1973, S. 14 ff. 35 In diesem Sinne, die abweichende Stimme des Richters Jungwiert (Urteil des EGMR vom 16.09.2009), der sich auf das stützte, was a) in Seclin oder einem anderen Ort als Debatte von allgemeinem Interesse anzusehen ist, in dessen Rahmen ein bestimmter Grad an Übertreibung erlaubt ist; b) die demokratische Gesellschaft solch eine Debatte oder einen Aufruf zum Handeln zu tolerieren hat und diese sogar manchmal herbeizuführen hat, wobei die Äußerungen des Bürgermeisters Meinungsäußerungen sind oder eine politische Stellung bezüglich einer aktuellen internationalen Angelegenheit darstellen; c) die französischen Gerichte berücksichtigten die Absicht des Beschwerdeführers im allgemeinen Kontext der Angelegenheit nicht, weder auf internationaler Ebene (Eskalation der Gewalt im israelisch-palästinensischen Konflikt) noch auf lokaler: Die Aussagen wurden im Gemeinderat gemacht und den Mitgliedern wurde gestattet, gegen diese Entscheidung Protest zu erheben und dem Beschwerdeführer, sich direkt zu äußern. Das erst kürzlich gefällte Urteil des BVerfG vom 22.2.2011 (1 BvR 699/06, Rn. 103) erklärt „eine ‚Wohlfühlatmosphäre’ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt“. 36 Carbonell Mateu/Orts Berenguer VVAA, Estudios penales en Homenaje al Profesor Cobo del Rosal, 2005, S. 181 ff sind der Meinung, dass „eine demokratische Gesellschaft notwendigerweise auch eine pluralistische Gesellschaft ist, wo Diskrepanzen als positiver Wert gelten.“ Daher weisen sie darauf hin, in dem sie die Schlussfolgerungen der Studiengruppe Grupo de Estudio de Política Criminal zitieren, „dass man im Rechtstaat das Strafrecht gegen den politischen Gegner benutzt”.

Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit in Europa 1555

bestimmt werden muss, bedeutet, den Handlungsbereich der Meinungsfreiheit vom konjunkturellen Auf und Ab der nationalen und internationalen Politik eines konkreten Staates abhängig zu machen, der zudem auch noch dem wirtschaftlichen oder geostrategischen Druck ausgesetzt ist, welcher sich nie günstig auf Meinungen, die vom Status quo abweichen, auswirkt. Ein Beweis dieser Behauptung ist, dass alle aufgeführten Urteile, auf nationaler Ebene mit einer Verurteilung endeten und die Beschwerden vor dem EGMR abgelehnt wurden, der wenig Bereitwilligkeit dafür zeigt, die Festlegung der vorgenannten Bedürfnisse zu widerlegen, außer in Bezug auf tangenzielle Aspekte (Abwägen des Strafmaßes), aber nie von Grund auf (Freispruch/Verurteilung). Wenn man die vorgenannten nationalen verfassungsrechtlichen Rechtsprechungen mit der des EGMR vergleicht – für den Kampf gegen die Diskriminierung aber zum Nachteil der Meinungsfreiheit – versteht man, welche Schwierigkeit darin liegt, die Bestimmungen von Artikel 11.1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Bezug darauf, dass die Meinungs- und Informationsfreiheit jeder Person „ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen“ anzuerkennen ist, zu erfüllen. Mehr noch, Fälle von Leugnung oder Verharmlosung sollten nicht strafrechtlich bestraft werden.37 Indem man der Möglichkeit folgt, die der Rahmenbeschluss 2008/913/JI vom 28.11.2008 bietet, sollte der Eingriff des Strafrechts gegenüber der freien Meinungsäußerung damit umschrieben werden, nur Handlungen unter Strafe zu stellen, die in einer Weise begangen werden, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören, oder die Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen darstellen, insbesondere wenn sie bei einer politischen Gegenüberstellung oder Ideendebatte stattfinden. Das europäische Recht stellt sich in diesem Jahrhundert der Herausforderung, die Integrationspolitiken zu vereinen mit dem Gemeinschaftsvermögen der Grundrechte, die in den nationalen Verfassungen und Abkommen angesammelt werden wie die freie Meinungsäußerung, die Gleichberechtigung, der Respekt gegenüber der sexuellen Ausrichtung oder die religiöse Freiheit und ganz besonders die schwere Aufgabe zu meistern hat, eine 37 Jakobs Theorie, Estudios de Derecho penal (trad. E. Peñaranda Ramos), 1997, der Klimadelikte, die als Gruppe von Straftaten verstanden werden, die den Schutz des öffentlichen Friedens zum Ziel haben, oder was das Gleiche ist, den Schutz eines für die Beachtung des Rechts favorablen Klimas, bedeuten eine Beeinträchtigung des Schädlichkeitsprinzips und der Meinungsfreiheit gegenüber rein mündlichen Äußerungen, wobei die von Mir Puig angezeigte Unterscheidung zwischen „Rechtsgut und strafrechtlichem Rechtsgut als Grenze des Ius puniendi“, in El Derecho penal en el Estado social y democrático de Derecho, 1994, S. 159 ff, beachtet wird.

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dünne rote Linie zwischen diesen und jenen zu ziehen, ein Prozess, der nicht vom Strafrecht geleitet werden kann, nicht einmal durch einen sanktionierenden, staatlichen oder gemeinschaftlichen Eingriff. Die Bekämpfung der Diskriminierung darf nicht vom Strafrecht geleitet werden und auch die freie Meinungsäußerung oder der politische Pluralismus, unverzichtbare Fundamente der europäischen Demokratien, dürfen nicht geopfert werden, indem die Äußerung von übertretenden oder minderwertigen Ideen, innerhalb oder außerhalb der politischen Tätigkeit unter Strafe gestellt wird, außer in jenen Fällen, die einen Aufruf zur Gewalt oder Störung der öffentlichen Gewalt nach sich ziehen, mit der entsprechenden Beschränkung der Möglichkeiten zur Teilnahme von Minderheiten am sozialen Leben, wobei eine rein abstrakte Gefahr, die die Exteriorisierung dieser vertritt, nicht ausreichen darf, um dem Strafrecht Eintritt zu gewähren.

Ist die deutsche Strafrechtsdogmatik auf die strafrechtliche Problematik Mexikos anwendbar? ENRIQUE DÍAZ-ARANDA

I. Einleitung Es ist bekannt, dass die Verbrechenslehre als dogmatisches System in Deutschland mit der Veröffentlichung des Handbuchs des Strafrechts von Franz von Liszt im Jahr 1886 entstanden ist. Deren Struktur zur Analyse des Verbrechens wurde später durch die Entdeckung des strafrechtlichen Tatbestandes durch Ernst Beling1 vervollständigt. Daraus ging das sogenannte „klassische System“ hervor, das das Verbrechen als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung beschrieben hat. Seitdem hat die deutsche Strafrechtsdogmatik großen Einfluss in allen Ländern sämtlicher Kontinente, die der römisch-kanonischen Rechtstradition angehören, ausgeübt. Die erheblichen historischen, kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Unterschiede zwischen Deutschland und Mexiko lassen aber Bedenken aufkommen, ob die Erkenntnisse der deutschen Strafrechtsdogmatik überhaupt auf die mexikanische Rechtswirklichkeit anwendbar sind. Aus dieser Überlegung heraus möchte ich in diesem kurzen Beitrag anhand von einigen Tatsachen und praktischen Fällen versuchen aufzuzeigen, warum die deutsche Strafrechtsdogmatik dennoch für uns sehr bedeutsam ist und bleibt.

II. Einfluss deutscher Strafrechtsdogmatik in Mexiko Zu Beginn der Thematik ist erwähnenswert, dass in Mexiko insgesamt 33 Strafgesetzbücher gelten: ein Bundesstrafgesetzbuch und 32 Strafgesetzbücher in den Teilstaaten und dem Bundesdistrikt. Einige dieser Strafgesetzbücher weisen eine große Influenz deutscher Strafrechtsdogmatik auf. Ins1

Beling Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 91.

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besondere das Strafgesetzbuch des Bundesdistrikts aus dem Jahre 2000, das von einem Schüler Hans Welzels2 entworfen worden ist, folgt deutlich in seinen Bestimmungen der finalen Handlungslehre. Das Bundesstrafgesetzbuch, das im Jahr 1931 erlassen worden ist, hat sich am Anfang maßgeblich an der italienischen Strafrechtsschule orientiert. Spätere Änderungen orientierten sich dann mehr an der deutschen Strafrechtslehre. Zwischen dem Jahr 1984 und dem Jahr 1994 existierten zum Beispiel drei Arten der strafrechtlichen Zurechnung: Vorsatz, Fahrlässigkeit und „preterintención“, eine Art von Zurechnung die zwischen den beiden anderen Positionen liegt. Die deutschen Beiträge zur Lehre der erfolgsqualifizierten Verbrechen haben aber klargestellt, dass diese „Mischkategorie“ verschwinden sollte, da nicht gerechtfertigt werden kann, dass ein vorsätzliches Verhalten nur deshalb höher bestraft wird, weil der Erfolg zufälligerweise gravierender ausgefallen ist, als vom Täter gewollt. Ein Beispiel: Jemand, der sich in einem Schwimmbad aufhält, möchte einen anderen Badegast erschrecken oder verletzen und schubst ihn in das Schwimmbecken. Dieser schlägt im Zuge des Stoßes mit seinem Kopf auf den Schwimmbeckenrand. Dadurch tritt unmittelbar der Tod ein. Der Täter sollte in diesem Fall nur wegen vollendeter vorsätzlicher Körperverletzung bestraft werden, weil der Unwert seines Handelns in der Körperverletzung liegt, nicht aber in einem Totschlag. Hierin liegt der Grund, warum das Bundesstrafgesetzbuch seit dem Jahr 1994 nur noch zwei Formen der Verbrechensbegehung kennt: Vorsatz und Fahrlässigkeit.

III. Strafrechtsdogmatik versus Strafrechtsgesetzgebung Die Fortschritte der Strafrechtsdogmatik werden aber nicht immer vom Gesetzgeber beachtet und in die Bestimmungen des Strafgesetzbuches aufgenommen. Dies muss auch nicht notwendig so sein, liegt doch die Aufgabe der Dogmatik gerade in der Aufarbeitung und Diskussion komplexer Sachverhalte, bei denen der mexikanische Gesetzgeber eine eher fallbezogene Lösung bevorzugt hat. Nach Artikel 304 Bundesstrafgesetzbuch wird z. B. eine Körperverletzung auch dann als tödlich bewertet, wenn bewiesen werden kann, dass „diese bei einer anderen Person nicht zum Tode geführt hätte“ (Absatz II) und dass „der Tod den Körperbau des Opfers als Ursache hatte ...“ (Absatz III). Angenommen zwei junge Männer, die sich in einer Bar treffen, streiten sich um die Gunst einer Dame. Auf ein Wortgefecht folgen Schläge, wobei der eine dem anderen eine Platzwunde an der Lippe zufügt. Dieser verblutet und stirbt, weil er Bluter ist. Nach den zitierten 2

Welzel Das Deutsche Strafrecht, 1969, S. 59-138.

Anwendbarkeit deutscher Strafrechtsdogmatik in Mexiko?

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Bestimmungen müsste er mit einer Freiheitsstrafe von 12 bis 24 Jahren wegen Totschlags rechnen, und nicht wegen einer in weniger als 15 Tagen heilenden Körperverletzung, die nur mit drei bis acht Monaten Gefängnis bestraft wird (Artikel 289 Bundesstrafgesetzbuch). Der zuletzt zitierte Artikel könnte mit der reinen kausalen Lehre der conditio sine qua non, die im Zusammenhang des klassischen Systems von Liszts3 entwickelt wurde, untermauert werden. Aber die neuen Auslegungskriterien, die die normative Zurechnungslehre Claus Roxins4 zum Verhaltenserfolg entwickelt hat, zeigen, dass im oben genannten Fall ein Faustschlag gegen den Mund nur das Risiko einer Körperverletzung und nicht das Risiko des Todes in sich trägt. Folglich ist dem jungen Täter „normativ“ die Körperverletzung zuzurechnen, nicht aber der „kausal“ von ihm verursachte Tod. Zugegebenermaßen hat der mexikanische Gesetzgeber manchmal die Exzesse, zu denen der Kausalismus führen kann, durchaus wahrgenommen. Aber anstatt es der Strafrechtsdogmatik zu überlassen, die gesetzlichen Bestimmungen zu interpretieren und deren Reichweite auszuloten, hat er immer wieder die Initiative ergriffen, um dem Kausalzusammenhang fallbezogen Grenzen zu setzen. Angenommen das Opfer eines Überfalls erleidet eine Schnittwunde am Bauch. Eine Operation rettet ihm das Leben, aber einige Tage danach stirbt es an einer Bauchfellentzündung, die von einem in seinem Körper vergessenen Stück Mullbinde herrührt. Nach der rein kausalen Verbrechenslehre hat der Täter den Ursachenzusammenhang, der zum Tode geführt hat, in Gang gesetzt, und folglich ist er für diesen verantwortlich. Der Gesetzgeber hat es aber bevorzugt, selbst die Lösung dieses Falles zu liefern. Artikel 305 Bundestrafgesetzbuch besagt: „eine Körperverletzung gilt nicht als tödlich, auch wenn das Opfer stirbt ..., wenn die Ursachen einer Verschlimmerung später eintreten, wie die Verwendung von positiv schädlichen Arzneimitteln, gescheiterte Operationen, Exzessen oder fahrlässiges Verhalten des Opfers oder der Personen in seinem Umkreis“. Es ist offensichtlich, dass der mexikanische Gesetzgeber durch diese Bestimmung Rechtssicherheit schaffen wollte. Es war aber nicht nötig, eine spezifische gesetzliche Bestimmung wie diese zu schaffen. Denn dieselbe Lösung kann mit Hilfe der Lehre der adäquaten Verursachung, die von Mezger5 im Jahr 1920 im Zusammenhang mit seiner Fortentwicklung des neoklassischen Strafrechtssystems entwickelt wurde, erreicht werden. Seitdem ist bekannt, dass das Verhalten des Täters im oben genannten Fall eine Körperverletzung adäquat verursachen kann, nicht aber den Tod. Die normative Zurech3

Von Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1919, S. 115-180. Roxin AT I, 1997, S. 287-453. 5 Mezger AT I, 1960, S. 41-65, 162-195. 4

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nungslehre, die wir im Fall des Bluters angewandt haben, bietet somit eine solidere Grundlage für dasselbe Ergebnis. Zu Fragen bleibt allerdings noch, welche strafrechtliche Verantwortung die Mitglieder eines Ärzteteams tragen. Nach der kausalen Lehre wären der Chefchirurg, der Anästhesist und die Krankenschwestern für den tatbestandsmäßigen Erfolg verantwortlich. Hierbei muss aber bedacht werden, dass in einer Arbeitsorganisation, wie der in einem Operationssaal vorherrschenden, jedes Mitglied eine eigene Rolle und damit spezifische Sorgfaltspflichten erfüllen muss. Danach hat die Krankenschwester, die für die chirurgischen Instrumente zuständig ist, die spezifische Pflicht, die Wundverbände vor und nach der Operation zu kontrollieren. Deshalb muss ihr und nicht den anderen Mitgliedern des Operationsteams im genannten Beispiel normativ der Tod des Patienten zugerechnet werden. Dieses Ergebnis lässt sich wiederum auf die Lehre der normativen Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolgs stützen.

IV. Notwendigkeit der Strafrechtsdogmatik als Korrektiv Offenbar können die fallbezogenen Tatbestandsbeschreibungen des mexikanischen Gesetzgebers der großen Vielfalt an strafrechtlich relevanten Konstellationen nicht gerecht werden. Deshalb sollte er abstraktere Regelungen bevorzugen und – wie bereits mehrfach angedeutet – der Strafrechtsdogmatik die Aufgabe der Auslegung überlassen. Es ist aber auch eine Tatsache, dass uns hierfür an eigenen angemessenen theoretischen Entwicklungen fehlt. Hieraus resultiert letztlich der fruchtbare Boden, den die deutsche Strafrechtsdogmatik in Mexiko vorfindet, um bei der Lösung von komplexeren Fällen ihren Beitrag zu leisten.

1. Ausloten objektiver Erfolgsverantwortlichkeit anhand von Pflichtenstellungen In diesem Zusammenhang können wir uns an den Fall des Tanzlokals „Lobohombo” vor einigen Jahren in Mexiko Stadt erinnern. Um 4 Uhr morgens hat ein Kurzschluss an der elektrischen Leitung ein Feuer verursacht, das sich wegen der vorhandenen entzündbaren Materialien (Vorhänge, Stuhlbezüge aus Plastik usw.), die nicht mit einem chemischen Verfahren gegen Feuergefährlichkeit behandelt worden waren, sehr schnell ausbreiten konnte. Die verbleibenden Gäste konnten das Lokal nicht mehr durch die Eingangstür verlassen, weil diese von den Licht- und Tonapparaten, die sich genau oberhalb der Tür befanden und eingestürzt waren, blockiert war. Die Opfer konnten auch nicht durch den Notausgang fliehen, weil dieser von

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den Kellnern mit Tischen und Stühlen verstellt worden war, um zu verhindern, dass die Gäste aus dem Lokal entwichen, ohne zu zahlen. Schlimmer war aber noch die Tatsache, dass sich die die Feuerwehr, als sie eintraf, nicht mit Wasser versorgen konnte. Denn der Wasseranschluss, der im Lokal für solche Fälle installiert worden war, war nicht mit dem Wasserleitungssystem verbunden, d. h. es handelte sich lediglich um einen „falschen“ Anschluss. Das alles widerspricht den Bestimmungen des Gesetzes für die Inbetriebnahme von gewerblichen Lokalen im Bundesdistrikt. Die Folge des Feuers war schließlich der Tod von 21 Personen; viele andere wurden verletzt. Bis heute hat die Staatsanwaltschaft des Bundesdistrikts ein Ermittlungsverfahren lediglich gegen den Besitzer des Lokals, mit dem Namen Iglesias, eingeleitet. Ungeachtet dessen können wir aber anhand der Zurechnungskriterien feststellen, wem die Sorgfaltspflicht oblag, diese Gefahrenquellen innerhalb des von den relevanten Normen definierten Rahmens zu überwachen. Insofern ist es etwas zu voreilig, nur den Besitzer des Lokals strafrechtlich belangen zu wollen, da sich die Grundlage für die Zurechnung eines strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens nicht auf die Eröffnung eines Tanzlokals stützt, sondern auf die Kenntnis des Inhabers über das Fehlen von Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen und seine Entscheidung, das Lokal trotz dieser Unregelmäßigkeiten in Betrieb zu halten. Hat der Besitzer aber die erwähnten Sicherheitsmängel nicht gekannt und die Aufsicht für die Erfüllung der Sicherheitsmaßnahmen auf den Ingenieur oder Werkmeister delegiert, und haben diese ihrerseits ihm glaubhaft machen können, dass die relevanten Normen beachtet wurden, dann wäre der Erfolg des Todes und der Verletzungen der Opfer dem Ingenieur oder Werkmeister zuzurechnen, oder wer auch immer die Pflicht hatte, solche Gefahrenquellen zu kontrollieren. Leider konnte der Besitzer des „Lobohombo“ bis heute nicht festgenommen werden. Deshalb kann man auch nicht a priori feststellen, ob ihm die Todesfälle und Verletzungen zugerechnet werden können oder nicht. Die Staatsanwaltschaft sollte aber jedenfalls auch gegen die am Bau und an der Inbetriebhaltung des Lokals beteiligten Personen ermitteln. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auch bekannt, dass das Lokal mit Genehmigung der Kreisverwaltung in Betrieb genommen wurde. Hier wird aber wieder die Lehre der normativen Erfolgzurechnung relevant: Denn es wäre sicherlich übertrieben, dem Chef der Kreisverwaltung den Erfolg zurechnen zu wollen, nur weil dieser die Genehmigung unterzeichnet hat, oder dem Chefinspektor, weil er den Sichtvermerk für die Inbetriebnahme ausgegeben hat. Vielmehr haben diese Behörden bestimmt nur auf der Grundlage eines Gutachtens gehandelt, das die Erfüllung aller Sicherheitsvorkehrungen und -maßnahmen bestätigt hat. Demgegenüber ist es offensichtlich, dass die Todesfälle und Verletzungen auch dem Inspektor zugerechnet werden könn-

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ten, der darauf zu achten hatte, dass alle Sicherheitsmaßnahmen und vorkehrungen, die nach der Verordnung für Bauwerke im Bundesdistrikt angeordnet sind, eingehalten wurden, nämlich: angemessene elektrische Anlagen (Artikel 122, 255 und 271), Lage der Licht und Tonschalter (Artikel 168 und 169), chemische Behandlung von Materialien und Stoffen mit einem feuerverzögernden Verfahren (Artikel 116, 118 bis 123, 182, 286 und 255), funktionierende Notausgänge (Artikel 94, 95 und 102) und Wasserleitungsanschlüsse für die Feuerwehr (Artikel 56, 274, 275 und 286). Wie bereits erwähnt wird allerdings bis heute leider nur der Besitzer des Lokals gesucht, und es wird gegen niemand anderen ermittelt.

2. Verantwortungsrestriktion über Schutzzweckgedanken In einem anderen Fall, der sich in Mexicali, einer Stadt an der Grenze zu den USA, zugetragen hat, hatte ein Architekt, der von einer Unternehmergruppe für den Bau eines Einkaufszentrums unter Vertrag genommen wurde, eine Anzahlung von 40 Tausend US Dollar gefordert. Die Unternehmen gaben ihm einen Scheck einer mexikanischen Bank über den oben genannten Betrag. Sie unterschrieben den Vertrag und der Architekt verließ das Gebäude, um Lebensmittel auf der anderen Seite der Grenze, in Calexico, Kalifornien, zu kaufen. Als er nach Mexiko zurückkehrte, meldete er beim Zoll keine Waren an, da er nur Lebensmittel im Wert von 250 Dollar gekauft hatte und die Bewohner der Grenzzone für bis zu 400 Dollar Lebensmittel kaufen dürfen. Die „Steuerampel“ hat aber, nach dem Zufälligkeitsprinzip, rot angezeigt und der Scheck wurde bei dem Architekten gefunden. In diesem Fall war der Staatsanwalt der Meinung, dass Artikel 105 Absatz XIII des Bundssteuergesetzbuches anzuwenden sei, welcher wie folgt lautet: „Diejenige Person, die beim Verlassen oder Zurückkommen in das Land beim Zoll nicht anmeldet, dass sie einen Betrag in bar oder als Scheck, oder in einer Kombination beider, mitbringt, der mehr als 30 000 US Dollar beträgt, wird mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren bestraft ...“ Es ist offensichtlich, dass das Verhalten des Architekten genau dem gesetzlichen Tatbestand entspricht. Allerdings erlangt hier ein anderes Kriterium der Zurechnungslehre an Relevanz: der „Normschutzzweck“. Dieses Kriterium besagt, dass man bei der Bewertung der Handlung den Zweck, welchen der Gesetzgeber vor Augen hatte, als er die relevante Bestimmung schuf, berücksichtigen sollte. In diesem Fall war es die Absicht des Gesetzgebers – der die genannte Bestimmung am 31. Dezember erlassen hatte – die Steuerhinterziehung in der Einfuhr und Ausfuhr von Kapital sowie die Geldwäsche zu verhindern. Es ist offensichtlich, dass im beschriebenen Fall weder der eine noch der andere vom Gesetzgeber teleologisch vorgesehene Tatbestand zutrifft, weil das Kapital nie das Land verlassen hat (es war nur

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ein Stück Papier), und es war auch keine Geldwäsche, weil das Unternehmen der Geschäftsleute legal zustande gekommen war. Die Anwendung dieses Kriteriums hat deshalb die Bestrafung des Architekten verhindert.

3. Grenzen subjektiver Handlungsverantwortlichkeit Ein weiteres Zeichen deutschen Einflusses kann schließlich in der Anerkennung des Verbotsirrtums als Strafausschließungsgrund gesehen werden. Als Beispiel dient folgender Fall: Ein Indianer aus den Bergen Oaxacas, der nach Mexiko Stadt ausgewandert ist, hat in der ersten Woche seines Aufenthalts sexuellen Verkehr mit seiner Tochter. Obwohl er den Tatbestand des Inzests erfüllt hat, kann ihm sein Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden, da es in der Gemeinschaft, wo er sein ganzes Leben verbracht hat, Brauch und Sitte ist, solche Art von inzestuösem Verkehr zu haben, solange die Frau des Mannes und Mutter des Kindes einverstanden ist. Hierbei ist anzumerken, dass ein solches Kriterium vor der Gesetzesreform von 1984 unmöglich gewesen wäre, da ein konträrer Gesichtspunkt vorherrschend war, nämlich, dass die Unkenntnis des Gesetzes nicht von seiner Befolgung befreit. Dieses Prinzip war ursprünglich in Artikel 14 des Zivilgesetzbuches festgelegt und die mexikanischen Strafrechtler hatten es übernommen, ohne auf den großen kulturellen Rückstand, in dem sich die indianischen Gemeinden befinden, Rücksicht zu nehmen. Diesen Gemeinden kann man aber schwerlich die Nichtbefolgung solcher Normen zum Vorwurf machen, die ihnen beizubringen, der Staat bisher nicht imstande gewesen war.

V. Plädoyer für Strafrecht als „ultima ratio“ Bisher habe ich den Einfluss gezeigt, der die deutsche Strafrechtsdogmatik entweder auf die Strafreform oder auf die Auslegung der strafrechtlichen Normen in Mexiko ausgeübt hat. Ziel war es, das mexikanische Strafrecht auf die Maßstäbe des demokratischen Rechts- und Sozialstaates umzustellen. Allerdings ist in den letzten Jahren die Kriminalität enorm gestiegen. Es wird angenommen, dass 97 % der Straftaten ungeahndet bleiben, und die wichtigste Maßnahme rechtspolitischer Natur, die der mexikanische Staat ergriffen hat, ist die fortwährende Erhöhung von Strafandrohungen, was letztendlich zu unannehmbaren Extremen geführt hat. Dies zeigt sich beispielsweise gerade bei der Reform des Bundesstrafgesetzbuches vom 5. August 2004, wonach ein Absatz „D“ in Artikel 366 eingefügt wurde. Danach kann mit 15 bis 40 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden, wer eine sogenannte „Express-Entführung“ begeht, d. h. eine Freiheitsberaubung von weniger als 5 Tagen. Was der mexikanische Gesetzgeber damit eigentlich

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unter Strafe stellen wollte, ist das Verhalten derer, die einen anderen seiner Freiheit berauben, um ihn zum Geldautomaten zu führen, Geld abzuheben und die Person solange festzuhalten, bis sie am nächsten Tag wieder Geld vom Automaten abheben kann. Aber diese Reform hat zwei ernste Probleme: Das erste Problem ist die notorische Ambivalenz des Tatbestandes, der nicht nur die eigentliche Express-Entführung mit einbezieht, sondern allgemein alle Arten von Freiheitsberaubung unter 5 Tage erfasst. Das zweite Problem ist die übermäßige Strafe, die für diese Verhaltensweise vorgesehen wird. Denn wenn Totschlag mit einer Freiheitsstrafe von 12 bis 24 Jahren bestraft wird, kann es nicht richtig sein, eine Freiheitsberaubung mit 15 bis 40 Jahren zu ahnden. Damit wird auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Strafandrohung verletzt, d. h. dass kein Verhältnis mehr besteht zwischen der Bedeutung des Rechtsguts und dem Grad seiner Verletzung durch das unter Strafe gestellte Verhalten. Die Verzweiflung des mexikanischen Staates wird dadurch sichtbar, dass die Strafen unverhältnismäßig erhöht werden. In einigen Bundesstaaten möchte man schon die Todesstrafe wieder einführen. Vor diesem düsteren Panorama können uns die Postulate des funktionalistischen Systems Claus Roxins wieder nützlich sein: Danach soll die Kriminalität in erster Linie durch kriminalpolitische Maßnahmen bekämpft werden, während das Strafrecht nur als „ultima ratio“ eingesetzt werden soll. In diesem Sinne ist es notwendig, dass der Staat Maßnahmen wie die folgenden in Angriff nimmt: x

Stärkung der Erziehung und der Werte innerhalb der Familie

x

Aufsicht über den Inhalt der Sendungen und Mitteilungen, die von den Kommunikationsmedien verbreitet werden, um soweit wie möglich die Ausbreitung von Gewalt zu verhindern

x

Ergreifung solcher ökonomischer Maßnahmen, die die Einfügung der Mehrheit der Bevölkerung in den Produktionsprozess und den Arbeitsmarkt fördern

x

Angemessene Besoldung der Polizei, um der Korruption vorzubeugen, und Einführung von Ausbildungsprogrammen, die dazu führen, dass die Polizei das Vertrauen und den Respekt der Gesellschaft wieder genießt.

Gewiss gibt es in Deutschland auch Theorien, deren Anwendung bei uns eher zu größeren Problemen führen könnte. Ich meine zum Beispiel den normativistischen Funktionalismus von Günter Jakobs6, wonach die Norm 6

Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 46.

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dadurch ihre Geltung erlangt, dass sie vom demjenigen Organ erlassen wird, das von der Verfassung dazu ermächtigt ist. In diesem Fall müssten alle Normen, die wir bisher analysiert hatten, ohne wenn und aber angewandt werden und könnten nicht in Frage gestellt werden, weil sie vom Bundeskongress in Ausübung der Befugnisse, die im Artikel 73 Absatz XII der Bundesverfassung vorgesehen sind, erlassen worden sind. Hierbei sollten wir aber nicht vergessen, dass die demokratische Konsolidierung der Institutionen noch nicht vollkommen ist und solche Ansätze als theoretische Grundlage für eine autoritäre Regierung herhalten könnten. Wir sollten auch nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass die öffentliche Sicherheit zu einem der drei größten Probleme im Land geworden ist. Deshalb sollten wir äußerst vorsichtig mit den Lehren umgehen, die wir uns zu eigen machen wollen.

VI. Fazit Glücklicherweise bietet uns die deutsche Strafrechtsdogmatik einen großen Reichtum an Erkenntnissen und Kriterien, mit deren Hilfe wir die komplexen strafrechtlichen Fragen, mit denen wir stetig konfrontiert werden, angemessen lösen können. In diesem Sinne bleibt die Hoffnung, dass die Kommunikation und Beziehungen über die Sprachbarriere hinweg weiter gedeihen kann. Indem wir uns weiter von ihr nähren, können wir jedenfalls einen wichtigen Beitrag zur Errichtung eines echten sozialen und demokratischen Rechtsstaats leisten.

Die Gesetzgebungstheorie: Eine Grenze für die Ausweitung des Strafrechts? Ihre Entwicklung und Perspektiven in Argentinien Zugleich eine vergleichende Darstellung* EUGENIO C. SARRABAYROUSE

I. Einleitung Claus Roxin ist der bedeutendste Strafrechtsdogmatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was durch unwiderlegbare Daten bestätigt wird: Die von ihm erarbeiteten Theorien werden heute an den abgelegensten Orten unseres Planeten angewandt,1 seine Darlegungen sind Objekt permanenter Studien, neuer Ausarbeitungen und der Anerkennung.2 Eines seiner grundlegenden Anliegen war es, das Strafrecht einzugrenzen. Davon zeugen seine wissenschaftliche Aktivität und die Prinzipien, die ihn sein ganzes akademisches Leben lang antrieben. Seit seiner Teilnahme am

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Es ist mir eine große Ehre, an dieser Festschrift für den geschätzten Prof. Roxin mitzuwirken. Dank seiner Gastfreundschaft und Großzügigkeit kann ich nicht nur über ein DAADStipendium mit ihm am Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften der Ludwig Maximilians Universität München studieren, sondern habe außerdem und grundlegend von seiner Genügsamkeit und Bescheidenheit gelernt – Eigenschaften, die alle, die ihn persönlich kennen lernen, überraschen und bewegen. Das Gleiche geschah auch auf seiner Reise nach Feuerland im Oktober 2009, an der ich das Glück hatte teilzunehmen und deren Echo noch heute nachhallt, da alle Teilnehmer an den Tagungen zu seiner Ehre sich gerne an seine Präsenz, zusammen mit seiner wunderbaren Frau Dr. Imme Roxin, in diesem abgelegenen Winkel der Erde erinnern (siehe die Chronik über die Reise nach Feuerland Incardona, www.terragnijurista.com.ar/infogral/visita.htm). 1 Siehe z. B. OLG Feuerland, 23.09.2003, „Sciurano“ (Irrtum und Irrtumverbot); 30.03.2005, „Araníbar“ (systematische Darstellung des Deliktaufbaus); 07.11.2005, „Avendaño Avendaño“ (Theorie der Strafe); 19.05.2009, „Nieto“ (Täterschaft); 18.08.2009, „Wolaniuk“ (audiovisuelle Beweise). 2 Schneider Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus, 2004, S. 271; Schroeder FS Androulakis, 2003, 668.

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Alternativ-Entwurf 19663 orientierte sich seine Arbeit am Schaffen eines freien, konstitutionellen, resozialisierenden und die Menschenrechte achtenden Strafrechts, welches auf dem subsidiären Rechtsgüterschutz und der Schaffung eines kriminalpolitisch orientierten Systems fundiert. Trotzdem zeigt uns die aktuelle juristische Realität, dass sich das Strafrecht noch weiter von diesen Zielen fortbewegt: inflationär, expansiv, weit entfernt von seinen ursprünglichen Prinzipien, „symbolisch”, kurz und gut neopunitivistisch und neoinquisitiv.4 Die Strafe hat eine neue soziale Bewertung gewonnen, die eine tiefe Spaltung zwischen der Mehrheit der Juristen und der sie umgebenden Wirklichkeit aufzeigt: Von den politischen Machthabern wird statt Toleranz und Milde Strenge und die Fähigkeit, Strafen zu verhängen, gefordert. Hinzu kommen die Forderungen der „Risikogesellschaft”5 mit ihrer neuen Auslegung der individuellen Freiheit und der Gefahren sowie die Rufe aus allen Gesellschaftsschichten nach mehr Strafrecht. Auf diese Weise wurde die Verhängung von Strafen zu einem standardisierten Reaktionsmodell. Nicht nur „abweichende Verhaltensweisen” sind sanktionsfähig, sondern auch Randpersonen und störende Situationen: Im Jargon der Disziplin haben sich alle diese Verhaltensweisen in „strafbare” verwandelt. Immer mehr Klagen über die Freizügigkeit der Gesellschaft, die nachgiebigen Prozesse bei „Jugendkriminalität” und die Belastungen, die von den „Obdachlosen” ausgehen, richten sich gegen die verfassungsrechtlichen Skrupel, welche verhindern, dass der populäre Ruf nach Eliminierung der Sexual- oder Gewaltstraftäter erfüllt wird. So hat sich das Strafrecht in ein „soziales Allheilmittel” verwandelt. Das führt zu dem Paradoxon, dass es in Wirklichkeit gar nicht mehr notwendig ist, über die Strafe nachzudenken und sie zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu ist das, was legitimiert und gerechtfertigt werden muss, ihre Infragestellung und Kritik:6 Zu all dem kommt, dass das Opfer in Erscheinung tritt, was den

3

Siehe Roxin in: Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 461 f. 4 Eine detaillierte Beschreibung der aktuellen Situation des Strafrechts siehe in Pastor Recodificación penal y principio de reserva de código (Rekodifizierung und das Prinzip des Vorbehaltes des Gesetzbuches), 2005, S. 15; auch Maier FS Hassemer, 2010, 483; zum Konzept des symbolischen Strafrechts siehe Hassemer FS Roxin, 2001, 1004; Ortiz de Urbina Gimeno Teoría de la legislación y Derecho penal (Gesetzgebungslehre und Strafrecht), Manuskript, S. 31; zur Situation in Deutschland siehe Albrecht Kriminologie, 2005, S. 1, m. w. N.; Silva Sanchez La expansión del Derecho penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades postindustriales, 2001 (deutsche Fassung, Die Expansion des Strafrechts, 2003). Bezüglich der Strafrechtsreformen und -ausdehnung in Argentinien siehe Aboso Reformas al Código penal (Die Strafrechtgesetzbuchreformen), 2005. 5 Über den Begriff „Risikogesellschaft” grundlegend Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993. 6 Kunz/Mora Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, S. 253 ff.

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„Täter” (den „Verbrecher”) aus dem Mittelpunkt rückt und somit für manche einen wirklichen Paradigmenwechsel verursacht.7 Von diesen Feststellungen ausgehend hat die Strafdogmatik mittels verschiedener Strategien versucht, diese Ausdehnung zu bremsen: Fortführung und Vertiefung der Analyse der Rechtsgütertheorie,8 Untersuchung der Anwendbarkeit des Ultima-Ratio-Prinzips, Entwicklung alternativer Lösungsmöglichkeiten zur Strafverhängung. Außerhalb des Strafrechtsbereichs wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine Wiedergeburt der Gesetzgebungslehre bemerkbar. Diese Wissenschaft befasst sich heute weniger mit der Anwendung des Rechts als mit seiner Schaffung, mit dem Moment der Normenproduktion, d. h. mit der Erzeugung und Entstehung des Gesetzes, dem „unreinen“, aber ausschlaggebenden Moment, in dem sich die Politik in Recht verwandelt.9 Diese Disziplin stand bisher kaum in Verbindung mit dem Strafrecht. Jenseits der traditionellen Beteiligung der deutschen Professoren an der Ausarbeitung der Strafgesetze10 ist in den letzten Jahren eine gewisse Scheidung zwischen dem deutschen Gesetzgeber und dem Strafrechtsdogmatiker zu beobachten.11 Wie wir außerdem sehen werden, gibt es – vorbehaltlich jener Beteiligung – wenige Arbeiten, die versuchen, die Strafdogmatik mit der Gesetzgebungslehre zu verbinden. Das Ziel unserer Tätigkeit ist es zu analysieren, ob sie in irgendeiner Weise bei der Aufgabe, das Strafrecht zu begrenzen und zu rationalisieren, dienlich sein kann. Hierfür werden wir die aktuellsten Entwicklungen in der europäischen Gesetzgebungslehre analysieren, um danach zu untersuchen, was sich diesbezüglich in Argentinien zuträgt, im Besonderen bei der Verbindung zum Strafrecht. Letztendlich werden wir versuchen aufzuzeigen, welchen Nutzen ihre Bearbeitung haben könnte. Weniger als mit der Vertiefung des Hergangs dieses Themas in Deutschland wird sich die Arbeit damit befassen, zu erklären, was in Argentinien geschieht. Auf diese Weise werden wir anstreben, einige der vielen Lehren 7

Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 13 ff; vgl. auch Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007. 8 Vgl. Roxin in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 135-150; siehe auch Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel, 2003. 9 Zapatero De la jurisprudencia a la legislación (Von der Jurisprudenz zur Gesetzgebung), Doxa 15-16, 1994, S. 770. 10 Vgl. den o. g. Alternativ-Entwurf 1966. 11 Vogel weist darauf hin, „...es scheint freilich, dass der Gesetzgeber zunehmend bereit ist, mit dieser Tradition zu brechen...“ (vgl. FS Roxin, 2001, 106). Siehe dort auch mehr Details, Kritiken und zusätzliche Literatur über die Tradition der Zusammenarbeit zwischen dem Gesetzgeber und den deutschen Professoren.

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unseres weisen Geehrten in die Praxis umzusetzen: die internationale Beschaffenheit der Strafrechtswissenschaft, die es uns durch Kontakte zu ausländischen Kollegen erlaubt, die sozialen und kulturellen Ursachen strafbaren Verhaltens wahrzunehmen, aber auch die Unterschiedlichkeit strafbarer Reaktionen darauf weitaus besser zu verstehen. So werden wir uns bemühen, die Ähnlichkeit der uns betreffenden Probleme zu erkennen und gemeinsame Lösungen zu suchen.12

II. Die Gesetzgebungslehre: Eine neue Wissenschaft? Die Sorge um das Gesetz ist nichts Neues und geht auf längst vergangene Zeiten zurück. Das Wort „Gesetz“ hat in der Geschichte immer wieder seine Bedeutung gewechselt,13 aber wenn wir es heute gemeinhin gebrauchen, dann denken wir automatisch an eine niedergeschriebene juristische Norm, die durch das Parlament (von den Volksvertretern) im Wege eines besonderes Verfahrens erlassen wurde. Diese Vorstellung des Gesetzes als Ausdruck eines kollektiven Willens, welcher durch eine generelle und abstrakte Regel ausgedrückt wird, reicht etwas mehr als 200 Jahre zurück, genauer gesagt bis zur Französische Revolution und der Entstehung des Rechtsstaates. Zusammen mit diesem entstand auch eine „gesetzestreue“ Ideologie, welche das Gesetz auf einen Thron erhob und es als absolut gerecht erachtete, abseits jeglicher Begrenzung oder Kontrolle, da es ja just aus dem Willen des Volkes hervorgegangen war. So wurde ein essenziell legislativer Staat geformt, in dem das Recht im strengen Sinne herrschte. Letztendlich entwickelte sich der Rechtsstaat in Europa als legislativer Staat, und in seinen Anfängen bedeutete das ganz einfach die Unterwerfung der Verwaltung und des Richters unter das Gesetz.14 Aus diesen Gründen erlangte das Gesetz eine maßgebende Bedeutung. Parallel zur Umsetzung dieser Ideen finden wir in Europa die ersten Abhandlungen über die Gesetzgebung und ihren Nutzen bezüglich der Ein12

Roxin (Fn. 3) S. 467. Die Durchsicht eines jeglichen Philisophie- oder Rechtsgeschichtelehrbuches wird uns zeigen, dass die Berufungen darauf konstant sind. Siehe z. B. Naucke Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 2000, S. 9, 29, wo das „Gesetz“ gemäß verschiedener Autoren analysiert wird. Auch hat jeder Wissenschaftszweig eine eigene „Gesetzesauffassung“. Wir beziehen uns nur auf das juristische Konzept. Zu diesen Gesichtspunkten siehe Franz ZG 2008, 140 f; Nino Introducción al análisis del derecho (Einführung in die Analyse des Rechts), 2001, S. 148 f; siehe auch Zapatero El arte de legislar (Die Kunst der Erlassung des Gesetzes), 2009, S. 13. 14 Vgl. Gascón Abellán/García Figueroa La argumentación en el derecho (Die Argumentation im Recht), 2005, S. 19-21 ff.; über die geschichtliche und philosophische Evolution des Gesetzeskonzepts, vgl. Marcilla Cordoba Racionalidad legislativa (Gesetzgeberische Rationalität), 2005, S. 29 ff. 13

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schränkung willkürlicher Machtausübung, welche im Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert dargelegt wurden (mittels der Werke von Voltaire, Montesquieu, Beccaria und Rousseau).15 Aus dieser Zeit stammen auch monumentale Studien wie „La scienza della legislazione“ von Filangieri, welcher in sieben Bänden versuchte, die Regeln mit den Mitteln und die Theorie mit der Praxis zu verbinden, um so eine Gesetzgebungswissenschaft aufzubauen.16 Übers ganze darauf folgende Jahrhundert hinweg findet man Arbeiten aus der angelsächsischen Welt, die sich sowohl mit den Techniken der Normenredaktion als auch mit doktrinären Besorgnissen rund um dieses Thema befassen. Um die Bedeutsamkeit jener Studien hervorzuheben, genügt es, Autorengrößen wie Bentham, Austin, Llewellyn oder R. Pound zu zitieren, während vom Kontinent Ihering und, schon aus dem 20. Jahrhundert, Gény, Ripert, Capitan oder Carbonier genannt werden können.17 Der auf die Politik angewandte Rationalismus und die Forderung nach mehr Bestimmtheit und Sicherheit angesichts des Partikularismus des Ancien Regime zusammen mit dem normativen Machtmonopol in Händen des Staates drückten sich auf zweierlei Arten aus: die Kodifizierung, um das Studium des geltenden Rechts zu erleichtern, und die Gesetzgebungskunst, die bessere Gesetze versprach.18 Hiermit könnte bestätigt werden, dass das Studium der Gesetzgebung eine Disziplin darstellt, deren Alter auf eine über 200jährige Tradition zurückblicken kann. Trotzdem teilen viele Autoren diese Sichtweise nicht. Sie beteuern, dass das Interesse an der Gesetzgebungslehre viel neuer sei und datieren seine Entstehung auf die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts.19

15 Zu diesem Gesichtspunkt hebt Noll hervor, dass die genannten Autoren mit ihren Postulaten den Nutzen aufzeigten, den die Gesetzgebung der Menschheit bringen könnte, auch wenn ihre empirischen Analysen großen Teils inkorrekt waren und in Vergessenheit geraten sind; siehe Noll Gesetzgebungslehre, 1973, S. 60. 16 Voß Symbolische Gesetzgebung, 1989, S. 8; auch Filangieri La scienza della legislazione, 1855, S. 6. 17 Zapatero (Fn.9) S. 770. Schneider hebt bezüglich Deutschlands hervor, dass die Regeln, die zur Verabschiedung guter Gesetze befolgt werden sollten, schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Universitäten von Halle und Frankfurt an der Oder studiert wurden; siehe, Gesetzgebung, 2002, S. 3-9. 18 Zapatero (Fn.13) S. 13. 19 So Karpen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtssprechungslehre, 1989, S. 20; andere Autoren verweisen auf das Werk von Peter Noll (Fn. 15) als einer der Meilensteine dieser neuerlichen Aufmerksamkeit bezüglich der Gesetzgebung; Günther JuS 1978, 8; Voß (Fn. 16) S. 10; Zapatero (Fn. 9) S. 774 f. Ein weiterer Wegbereiter des wiederaufkeimenden Interesses an der Gesetzgebungstheorie ist der frühzeitig bei einem Verkehrsunfall verstorbene Professor Jürgen Rödig; zu seinen Werken und Arbeiten siehe Baden GS Rödig, 1978, 110 ff.

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Entgegen dieser Haltung weist Sigrid Emmenegger darauf hin, dass die Gesetzgebungslehre im Allgemeinen ein ungeschichtliches Selbstverständnis hatte: „Die Rechtsphilosophen betrachten ihre Fragestellungen selten als neu; sie sehen sich vielmehr mit ihren großen Vorgängern in einem beständigen Dialog. Einen solchen Dialog führt die Gesetzgebungstheorie nicht. [...] Nahezu alle Vertreter der Gesetzgebungstheorie verzichten [...] darauf, sich in ihren Arbeiten auf ältere Schriften zu beziehen.“20 Sogar die Gesetzgebungslehre besteht darauf, eine gänzlich neue Schöpfung zu sein. Diese Stellung einzunehmen, würde sie von den traditionellen methodologischen Konflikten der Rechtswissenschaft befreien. Emmenegger beteuert, dass diese Sichtweise dennoch zwei wichtige Risiken birgt: nämlich, zum einen sie in eine vorübergehende Mode des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verwandeln und zum anderen auf Grund dieser fehlenden historischen Reflexion das schon viel früher erreichte Argumentationsniveau zu verlieren. Trotz dieser unterschiedlichen Ansichten kann nicht geleugnet werden, dass in den letzten 40 Jahren das Augenmerk auf die Gesetzgebung zugenommen hat, und es ist ein stark wachsendes Interesse an Studium und Verbesserung der Gesetzesschaffungsaufgabe festzustellen. In diesem Sinne spricht Werner Maihofer von einer zweiten Gesetzgebungslehre, die sich von der ersten durch ihre Legitimierungsstrategie grundlegend unterscheidet.21 Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution scheint es außerdem, als seien die Probleme, welche die Aufklärer zu lösen versucht hatten, in all ihrer Stärke wieder zu Tage getreten: die Vervielfältigung der Quellen des Rechts, die Unmenge von Regelungen, die für die Auslegung geltenden unbestimmten Prinzipien und die Vorherrschaft der Verfassung gegenüber der des Gesetzes.22 In der Gegenwart hat diese „neue“ Lehre zum Ziel, die gesetzgeberische Vorgehensweise als Entscheidungsprozess zu konzipieren, dessen Rationalität durch die Befolgung bestimmter „rationeller-Gesetzgeber“-Modelle gesteigert werden kann. Hierfür werden Ratschläge gegeben, wie die verschiedenen Phasen des gesetzgeberischen Vorgehens und die Evaluation der erhaltenen Ergebnisse aussehen sollten.23 Und genau dies ist das entscheidende Merkmal der neuen Arbeiten. 20

Vgl. Kindermann Gerechtigkeit als Problem der Gesetzgebungstheorie ARSP 20 (1984) 141-142; das Zitat wurde entnommen aus Emmenegger Gesetzgebungskunst, 2006, S. 3 f. 21 Die erste Gesetzgebungstheorie basierte auf dem vor und nach der Französischen Revolution ausgearbeiteten natürlichen Recht; die zweite wird im Gegensatz dazu durch das Recht zur Selbstbestimmung legitimiert; siehe Maihofer Nachwort zur Fragestellung, Rechtstheorie XIII, 1988, S. 408 ff. 22 Zapatero (Fn. 9) S. 15. 23 Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 4) S. 34 f.

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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wurden die folgenden Gründe aufgezählt, die das wiedererwachte Interesse an der Gesetzgebungsaufgabe erklären.

1. Veränderung der traditionellen juristischen Sichtweise Der dogmatische Jurist hat den Ausgangspunkt für seine Arbeit immer bei den erlassenen Rechtsnormen gefunden und so die grundlegenden Aspekte der Gesetzesentstehung außer Acht gelassen, nämlich, was genau die Aufgabe der Gesetzgebungsinitiative oder der Ordnungsgewalt bestimmt, wie die Gründe des zu lösenden Problems zu analysieren sind, wie die sprachliche, logisch-formale, pragmatische, teleologische und ethische Rationalität der Rechtsnorm erreicht werden kann.24 Die Theorien der juristischen Argumentation richteten ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf den Gesetzesanwender. Jenseits der Unterschiede, auf welche die politische Theorie traditionell hinweist (der Richter löst eigens diejenigen Konflikte, die ihm unterbreitet werden), stellt es sich als schwierig heraus, eine klare und absolute Differenzierung zwischen den Aufgaben des Gesetzgebers und jenen des Richters vorzunehmen. Diese Aufgaben erscheinen noch verschwommener, wenn man einmal an die Arbeit der Verfassungsgerichte und an die Ausübung der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit denkt.25 Unbeschadet der Diskussion, welche die verschiedenen Schulen über die Reichweite der Gesetzesauslegung führen, ist es wahr, dass sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter Gesetze schaffen und anwenden.26 Dennoch ist die Tätigkeit des Gesetzgebers nicht so streng geregelt, und er ist wesentlich besser imstande, die gesellschaftliche Realität einzuschätzen, als der Richter. In letzter Zeit wird die Auffassung vertreten, dass ein eindeutigerer Unterschied zwischen Richter und Gesetzgeber vielleicht in dem Verfahren besteht, dem die richterliche Tätigkeit unterliegt, d. h. der Richter muss objektiv, unabhängig und unbestechlich sein, kann nicht willkürlich ersetzt werden und ist durch prozessuale Regeln in seinem Tun beschränkt. Dies

24 Zapatero (Fn.9) S. 769 f. In diesem Sinne Atienza Contribución a una teoría de la legislación (Beitrag für eine Theorie der Gesetzgebung), 1997, S. 17; Mainhofer betont, dass Kelsen ausdrücklich eine globale juristische Denkform ausschloss (Fn. 21) S. 404; siehe auch Karpen (Fn. 19) S. 20 f.; Bulygin in: Alchourron/Bulygin (Hrsg.), Análisis lógico y Derecho (Logische Analyse und Recht), 1991, S. 411 ff. 25 Bulygin in: ders./Atienza/Bayón (Hrsg.), Problemas lógicos en la teoría y práctica del Derecho (Logische Probleme in der Theorie und Praxis des Rechts), 2009, S. 75 ff. 26 Guastini Jurisdicción y sistema jurídico (Gerichtsbarkeit und juristisches System), 2007, S. 225 ff.

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gilt nicht für den Gesetzgeber, welcher sogar die Bestimmungen, die ihn in seiner Tätigkeit einschränken, aufheben kann.27

2. Wertverlust des nationalen Rechts gegenüber anderen normativen Quellen Ein anderer bedeutender Grund in diesem Aufwertungsprozess der legislativen Studien ist die immer größere Schwierigkeit, das Recht auf staatliches Recht zu reduzieren: Besonders was Europa betrifft, so zwingt die Internationalisierung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens die Staaten zunehmend dazu, Gesetzesnormen zu importieren und diese jenseits der Landesgrenzen produzierten Regelungen auf die eigenen Bürger zu übertragen.28 Im Falle Argentiniens ist außerdem ein Prozess zunehmender Abhängigkeit der inneren Gesetzgebung zu beobachten, und zwar bezüglich der internationalen Menschenrechtsabkommen und sogar der Entscheidungen von Stellen, die mit der Ausführung jener Abkommen beauftragt sind. Diese Bewegung, die ihren Anfang mit der Entscheidung des Obersten Argentinischen Gerichtshofs (Corte Suprema de la Justicia de la Nación) im Fall „Ekmekdjian“ nahm, festigte sich mit der Verfassungsreform von 1994, trat ab 2004 verstärkt hervor und vertiefte sich mit mehreren aufeinander folgenden Urteilen. 29 Das Erscheinen dieser neuen normativen Quellen führt unweigerlich dazu, dass die Lehre der Vorherrschaft des Parlaments – als einzigem und unfehlbarem Normenhersteller – in Frage gestellt wird und dass die Notwendigkeit, das legislative Produkt zu verbessern, zu Tage tritt.

3. Neue Funktionen des Staats, legislative Inflation und symbolische Gesetzgebung Auf diese Weise wird auch diskutiert, ob die neuen, dem Staat zugewiesenen Funktionen (sozusagen der Übergang einer liberalen zu einer sozialen Auffassung) einen Einfluss auf die Aufwertung der Gesetzgebungslehre haben. Die Ausführung öffentlicher Investitions- und Dienstleistungsprogramme „[...] erlaubt die Feststellung, dass der Gesetzgeber nicht immer die 27

Noll (Fn. 15) S. 54 ff; Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 4) S. 5 f. Zapatero (Fn. 9) S. 772. 29 Siehe die Entscheidung des argentinischen BGH (Corte Suprema de la Justicia de la Nación), Fall „Ekmekdjian, Miguel A. c / Sofovich, Gerardo”; über die Spannungen zwischen innerem und internationalem Recht, siehe den Fall E.224.XXXIX, „Espósito, Miguel Ángel s / incidente de prescripción de la acción penal promovido por la defensa”, vom 23.12.2004. 28

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verfolgten Ziele erreicht, was eine immer ausgeklügeltere Evaluierung der Projekte erfordert [...].“30 Ein anderes wichtiges Element ist die wachsende legislative Inflation, die zur Dunkelheit der Rechtsnormen und der durch fehlerhafte Gesetzesabfassung entstandenen Unsicherheit kommt. Sie zwingt die Lehre und die Gesetzgeber selbst dazu, andere normative Techniken zur wirkungsvolleren sozialen Kontrolle zu studieren und Verfahren zur Gesetzesabfassung einzuführen, die auf die Bürgerrechte mehr Rücksicht nehmen.31 Schließlich werden auch, als weiterer Grund für die Notwendigkeit der Rationalisierung der gesetzgeberischen Arbeit, die symbolischen Gesetze erwähnt. Das „symbolische Gesetz“ widerspricht dem Ideal, demzufolge seine Anwendung optimale Wirkungen hervorrufen soll. Die symbolischen Gesetze haben den Anschein eines Gesetzes, d. h. sie zielen von vornherein nicht darauf ab, in der Praxis wirkungsvoll zu sein. Wie diverse empirische Forschungen gezeigt haben, können starke emotionale Zustände bei der Bevölkerung den Wunsch nach gesetzgeberischen Maßnahmen hervorrufen, von Roxin sehr gut beschrieben,32 durch kriminalisierende Tendenzen ausgedrückt, welche das Volk beruhigen und eine stärkeres Handlungsvermögen bekunden sollen.33

4. Definition, Zweige und Vorgehensweisen der Gesetzgebungslehre Ausgehend vom bereits Dargelegten können wir bestätigen, dass die Gesetzgebungslehre, die Wissenschaft der Gesetzgebung, des Gesetzgebers, des Gesetzgebungsverfahrens und des Gesetzes das Produkt dieses Verfahrens ist. In der Gegenwart beschränkt sie sich nicht mehr nur auf formale Gesetze, sondern schließt auch juristische Normen voll und ganz mit ein; infolgedessen wird bekräftigt, dass sie die Wissenschaft der Rechtsschaffung ist. Als solche analysiert sie das Verhalten der Gesetzgebungsorgane, begnügt sich aber nicht mit der Untersuchung, sondern versucht, neue Verhaltensregeln zu etablieren. Deshalb handelt es sich um eine praxisorientierte Wissenschaft des Seins und des Sollens. Ihre Zielsetzung ist nicht auf die juristischen Normen beschränkt, sondern beinhaltet auch die soziale Realität, auf die sich das Gesetz bezieht und in der es wirkt, da sich beides gegenseitig beeinflusst. Die Gesetzgebungstheorie weist fünf Zweige oder Arbeitsfelder auf: 30

Zapatero (Fn. 9) S. 773. Zapatero (Fn. 9) S. 773; kategorisch Karpen „…Die Klage ist allgemein, es gebe zu viele und zu schlechte Gesetze…” (Fn. 19) S. 13; Bulygin (Fn. 24) S. 409 f. 32 Roxin AT I § 2 Rn. 23. 33 Voȕ (Fn. 16) S. 25-34. 31

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a) Analyse der Möglichkeiten und Grenzen bei der Ausarbeitung und Vermittlung von Kenntnissen über Gesetzgebung (Gesetzgebungstheorie im strengen Sinn); b) Untersuchung der Grundbegriffe von Norm, Gesetz und Gesetzgebung (Gesetzgebungsanalytik); c) Analyse der Gesetzgebungsorgane und -verfahren (äußeres Gesetzgebungsverfahren) und zugleich der Methoden zu ihrer Beeinflussung und Steuerung (Gesetzgebungstaktik); d) Untersuchung juristisch-politischer und theoretischer Erwägungen zur Entscheidung über das Erlassen von Gesetzen (inneres Gesetzgebungsverfahren) und wie man „gute“, „korrekte“, „komplette“ und „wirksame“ Gesetze produziert könnte (Gesetzgebungsmethodik); e) Entwicklung allgemeiner Regeln über die Gestaltung von Gesetzen, ihre Gliederung, Systematik, die treffende Sprache, usw. (Gesetzgebungstechnik).34 Innerhalb dieser verschiedenen Zweige ist die Gesetzgebungsmethodik von besonderer Relevanz, da sie ein gutes Gegenmittel zur Vermeidung der bereits genannten symbolischen Gesetze darstellen kann. Sie versteht das Gesetzgebungsverfahren als einen Entscheidungsprozess, dessen Rationalität zunehmen kann. Was ihre Methode betrifft, so ist die Gesetzgebungslehre per se eine interdisziplinäre Wissenschaft. Der interdisziplinäre Beitrag beschränkt sich nicht auf die Sozialwissenschaften (Rechtssoziologie, Sozialpsychologie, u. a.), sondern beinhaltet auch grundlegend Beisteuerungen der Naturwissenschaften und diverser Technologien. Das Miteinbeziehen der Biotechnologie, der Biomedizin und der Biosicherheit („Biosecurity“) sind unvermeidbar für den Prozess der Normenschaffung in den Bereichen Umwelt, Nahrungsmittelsicherheit oder Verbraucherschutz, um nur einige Beispiele zu nennen.

III. Was kann die Gesetzgebungstheorie zum Strafrecht beitragen? Die Schaffung von Strafnormen ist von Anfang an durch bestimmte Prinzipien stark eingeschränkt. Das Hauptprinzip ist zweifellos das Legalitätsprinzip mit seinen Auswirkungen sowohl für den Gesetzgeber als auch für den Richter: das Bestimmheitsgebot, das Analogieverbot, die Abschaffung der Gewohnheit als Rechtsquelle, das Rückwirkungsverbot. Außerdem hat sich die Lehre darum gekümmert, andere Prinzipien aufzustellen, welche 34

Karpen (Fn. 19) S. 15; Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 4) S. 59.

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die gesetzgeberische Aktivität in diesem Bereich einschränken sollten: das Rechtsgüterschutz-, das Subsidiaritäts- und das Ultimo-Ratio-Prinzip, welche alle engstens miteinander verflochten sind. Aber wie wir zuvor schon angedeutet hatten, haben es diese Prinzipien trotzdem in keiner Weise geschafft, die Ausweitung des Strafrechts aufzuhalten. Die Gesetzgebungstheorie selbst hat bei den strafrechtlichen Studien einen Randplatz eingenommen. Wenn es auch als überwunden betrachtet werden kann, das Paradigma des Strafrechtsjuristen, der sich ausschließlich der Dogmatik und der Anwendung des Strafrechts widmet, fernab von dessen Schaffung und von der Kriminalpolitik, so sind doch die Kommunikationswege zwischen diesen Tätigkeiten alles andere als ein Idealfall. In diesem Sinne weist Monika Voß darauf hin, dass der Gedanke an eine allgemeine Gesetzgebungslehre nicht bedeutet, sie aus der Perspektive einer Wissenschaft auf eine einheitliche Behandlung zu begrenzen; diese allgemeinen Studien müssen sich in einem besonderen Teil eingliedern, der auf jeden einzelnen juristischen Bereich eingeht.35 Nur wenige Arbeiten haben versucht, die Gesetzgebungstheorie und das Strafrecht auf diese Weise miteinander zu verbinden. In Deutschland haben drei Autoren mit ihren Werken, welche das Thema umfassend behandeln, diese Annäherung versucht: Monika Voß, Gregor Stächelin und Peter Lagodny.36 Hinzu kommen diverse Aufsätze, worunter sich jener von Joachim Vogel in der Festschrift für Roxin besonders hervorhebt. 37 Ganz allgemein und ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu wollen, kann gesagt werden, dass sich diese Werke grundlegend auf die politische Theorie von Jürgen Habermas stützen. In Argentinien ragen währenddessen die Arbeiten von Daniel Pastor, Julio Maier und Marcelo Sancinetti heraus. Der Erste der genannten Autoren hebt in einer gründlichen und ausführlichen Arbeit hervor, dass die Rückkehr zur Wissenschaft der Strafgesetzgebung durch das furchtbare Ausmaß an Unordnung, Chaos, Ineffizienz, Manipulation der gegenwärtigen Strafgesetzgebung erfolgt. Seine grundlegenden Thesen und Vorschläge sind folgende: 35

Voȕ (Fn. 16) S. 12. Voȕ (Fn. 16); Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat. Normative und empirische materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis, 1998; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996. 37 Cfr. Vogel (Fn. 11); Günther (Fn. 19) S. 8 ff; Hettinger GA 1995, 399 ff; Hobe in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1988, S. 185 ff; Maiwald in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S. 120 ff; Pohl in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 172 ff; Schreiber in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 178 ff; Waldmann KrimJ 1979, 102 ff. 36

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a) Die Verfassung schreibt der Strafgesetzgebung nicht nur einen bestimmten Inhalt vor, sondern auch eine Art der gesetzgeberischen Methodologie: die Kodifizierung (welche in dieser Form eine Auswirkung des Legalitätsprinzips wäre). In diesem Sinne und mit einem Zitat von Luigi Ferrajoli bekräftigt er, dass „[...] heute die Zeit einer Gesetzgebungswissenschaft ist, die die gegenwärtige entkodifizierende Tendenz überwindet, die die Rolle des Gesetzes im Rechtsstaat wiederherstellt und ebenso die verbindliche Legalität, indem diese fest in den Schutz der Grundrechte gestellt wird [...].“38 b) Damit die Rückkehr zur Kodifizierung wirksam wird, müssen noch andere zusätzliche Bedingungen erfüllt werden: die Reduzierung der strafbaren Tatbestände auf ein erträgliches Minimum und die Festlegung einer Reihe von zusätzlichen Garantien: So wirkt das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes wie eine Metagarantie der Kodifizierungssystematik. Zugleich schlägt Pastor vor, diverse Subprinzipien aufzustellen. Auf diese Weise soll ein einziges Gesetzbuch alle Straf-, Prozess- und Gerichtsverfassungsvorschriften beinhalten. Es wäre keine Norm gültig, die sich außerhalb dieses Gesetzbuches befände.39 Das neue Strafgesetzbuch, im Licht der genannten Anforderungen betrachtet, kann nur einmal im Jahr mittels eines besonderen Gesetzes reformiert werden. Außerdem ist nach dem Quorum-Subprinzip eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich, um die Reform der kodifizierten Strafgesetzgebung zu billigen. Und schließlich müssen die Rekodifizierung des Strafgesetzbuches und seine jährlichen Reformen außerhalb der legislativen Kammern diskutiert und ausgearbeitet werden. Mit den Rechtstexten sollten diejenigen Universitätsprofessoren aus den Gebieten Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, welche die besten Referenzen haben, beauftragt werden (Subprinzip des geschlossenen Buches).40 Unsererseits stimmen wir im Allgemeinen mit den Darlegungen von Pastor überein, aber wir glauben, dass jegliches Programm, welches das Strafrecht einzuschränken beabsichtigt, sich gleichzeitig um die Auslegung des Strafgesetzes kümmern muss. Außerdem dürfte die demokratische Legitimierung des Gesetzgebers nicht vergessen werden, jenseits von den Fehlern, welche dieser tagtäglich begeht. Auf der anderen Seite wäre es ein lobenswertes Ziel, eine vollständige strafrechtliche Rekodifizierung zu realisieren, aber vielleicht kurzfristig politisch unerreichbar. Währenddessen könnte über weniger ehrgeizige, aber unmittelbar wirkungsvollere Alternativen nachgedacht werden. 38

Pastor (Fn. 4) S. 12, 146 ff, mit Zitat von Ferrajoli Derecho y razón (spanische Übersetzung), 1995, S. 449. 39 Pastor (Fn. 4) S. 154 ff, 171, 178 ff und 182 ff. 40 Pastor (Fn. 4) S. 235 ff.

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Julio B. J. Maier hat sich in seinen jüngsten Arbeiten mit der Krise des Strafrechts beschäftigt und Vorschläge formuliert, wie die gegenwärtige Situation gelöst werden könnte.41 Er ersucht nicht nur eine Reduzierung der strafbaren Verhaltensweisen, sondern auch ihre Einstellung in ein einziges Gesetzbuch (mit der Abschaffung des sog. Nebenstrafrechts), um auf diese Weise die rationelle Anwendung der Strafnormen und die tatsächliche Rechtskraft des Legalitätsprinzips zu gewährleisten. Er schlägt auch die Zweidrittelmehrheit für die Verabschiedung von Gesetzesänderungen vor. Marcelo Sancinetti seinerseits entwirft eine Regulierung des Allgemeinen Teils des Strafrechts, welches so knapp wie möglich sein solle – eine minimale Vorlage, um eine freiere Entwicklung der strafdogmatischen Postulate zu erlauben.42 Wir glauben, zumindest in Argentinien, dass die Figur des professionellen Gesetzesberaters stärker hervorgehoben werden sollte. Um unseren Vorschlag zu erläutern, müssen wir einige Vorabbetrachtungen durchführen: Es gibt drei Initiativmodelle in der Gesetzesabfassung: das angelsächsischen Modell, das kontinental-europäische und das präsidenzielle. Letzteres ist den USA zu Eigen und den lateinamerikanischen Ländern, die bei der Verabschiedung ihrer Verfassungen diesen Aspekt des nordamerikanischen Modells übernommen haben. Im angelsächsischen System konzentriert sich die Abfassung von Gesetzesentwürfen auf ein spezielles Stelle, welches mit dieser Aufgabe betraut ist: das Office of Parliamentary Counsel43, das weisungsgebunden arbeitet. Anschließend wird der Entwurf vom Kabinett verabschiedet. So wird ganz klar zwischen zwei verschiedenen Momenten differenziert: zum einen die Gesetzesabfassung und zum anderen dessen Verabschiedung, ein äußerst politisches Verfahren.44 Im Gegensatz dazu ist beim kontinental-europäischen Modell normalerweise das jeweilige Ministerium zuständig für Gesetzesentwürfe, die in sein

41 Siehe ¿Es posible todavía la realización del proceso penal en el marco de un Estado de Derecho? (Ist das Strafverfahren noch praktikabel?, Vortrag gehalten auf dem 17. Fachsymposium „Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?”, veranstaltet von der Alexandervon-Humboldt-Stiftung, Bamberg, 1.-5. Oktober 2000) veröffentlicht in der Zeitschrift ¿Más Derecho? n° 1, 2001; ders. in: Rivera (Hrsg.), Homenaje a Roberto Bergalli (FS Bergalli), 2006, S. 295 ff. 42 Sancinetti Dogmática del hecho punible y ley penal (Dogmatik der Straftat und Strafgesetz; Zweisprachige Ausgabe), 2003, S. 15 ff. 43 Über die Geschichte und die Entwicklung dieses Instituts, siehe Zapatero (Fn. 13) S. 220 ff; auch Bartole in: ISAPREL, Lezione di técnica legislativa, 1988, S. 1 ff. 44 Zapatero (Fn. 13) S. 220 ff.

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Eugenio C. Sarrabayrouse

Fachgebiet fallen; dies ist ein Fall des dekonzentrierten Regierungsmodells zur Gesetzesabfassung.45 Beim präsidenziellen System hingegen können Gesetzesentwürfe in beiden legislativen Kammern vorgelegt werden; außer in den Fällen, für welche die Verfassung ausdrücklich eine bestimmt Kammer vorsieht. Im Falle Argentiniens kann auch die Exekutive Gesetze vorschlagen und muss diese auch billigen (durch Ausübung des Veto-Rechts). Es besteht kein Zweifel daran, dass die Juristen in all diesen Systemen eine ausschlaggebende Rolle bei der Normenabfassung spielen. Heute gibt es im argentinischen System keine Gesetzesberater. Deshalb zielt unser Vorschlag darauf ab, diese Art von Beamten zu etablieren, um so die Gesetzesabfassung zu einer spezialisierten Aufgabe zu machen, der eine professionelle Ausbildung zu Grunde liegt, was sich positiv auf die Gesetzgebung im Allgemeinen und auf die Strafgesetzgebung im Besonderen auswirken würde. Es ist unvermeidlich, dass die Aufgabe dieser Beamten stark mit jener der Gesetzgeber verbunden sein wird, mit welchen ein flüssiger und permanenter Dialog zu Stande kommen muss. Bei der Normenabfassung wird meist zwischen fünf sehr differenzierten Abschnitten unterschieden: 1. Bestimmung der Ziele; 2. Analyse und Auswahl des besten normativen Instruments; 3. Textplanung und Einfügen des Textes in die gesetzlichen Regelungen; 4. Abfassung des Entwurfs; 5. Revision des Entwurfs. Wenn auch bezüglich der Strafnormen all diese Schritte Relevanz haben, so sind doch sowohl die Bestimmung der Ziele als auch die Analyse und Auswahl des besten normativen Instruments von besonderer Wichtigkeit. Hier erweist es sich als unumgänglich, sich auf die Kriminologie zu berufen. Auch sollte in der zweiten Phase die Durchführung von Studien verlangt werden, die es zum Beispiel erlauben festzustellen, ob die angestrebten Ziele mit der Verabschiedung einer Strafnorm in der Praxis erreichbar sind. Für diesen Gesichtspunkt müssten Kontrollen eingeführt werden, anhand derer nach Verabschiedung der Strafgesetze festgestellt werden kann, ob nachträgliche Korrekturen oder Modifikationen nötig sind; hier 45

In diesem Punkt ist die deutsche Erfahrung sehr wichtig. Das Verfahren besteht aus drei verschiedenen Stufen: Zuerst wird der Entwurf von der zuständigen Abteilung des Ministeriums verfasst; dann machen das Departement und das Ministerium dasselbe. Am Ende wird ein Fragebogen über die Notwendigkeit und Effektivität des Entwurfes ausgefüllt. Das Bundesministerium der Justiz ist zuständig für die juristische Überprüfung des Textes; Zapatero (Fn. 13) S. 217 ff; siehe die Webseite des Bundesministeriums der Justiz, http://www.bmj.bund.de/enid/0,0/Aufbau_und_Organisation/Der_Gang_des_Gesetzgebungsverfahrens_19i.html?druck= 1, Anfrage vom 05.04.2010.

Die Gesetzgebungstheorie: Grenze für die Ausweitung des Strafrechts? 1581

könnten wieder die Kriminologie und andere empirische Wissenschaften eine wichtige Hilfestellung leisten. Ebenso müsste eine klare Kriminalpolitik etabliert werden, die wirklich den liberalen Prinzipien unseres Strafrechts unterliegt. Beim Betrachten der letzen 25 Jahre argentinischer Geschichte, in denen die Demokratie als Staatsform zurück gewonnen wurde, offenbart sich ein Zickzackkurs in der Kriminalpolitik: Sie hebt sich hervor durch die Verfolgung grausamer Verbrechen, die von der letzten Militärdiktatur begangen wurden, und auch durch schlichtweg widersprüchliche ideologische Sinneswandel bezüglich des Umgangs mit der sog. „Unsicherheit“ (siehe nur das von Maier ironisch so betitelte „Blumbergstrafrecht“46 und die von der gegenwärtigen Regierung verfolgte Politik bezüglich der Unterdrückung sozialer Demonstrationen – Straßenblockaden in Stadt und Land – oder der freiwilligen Waffenabgabe). Anderer grundlegender Aspekt ist die Abfassung des normativen Textes. Wenn wir auch der Meinung sind, dass weder die Mehrdeutigkeit noch die Unbestimmtheit der normativen Texte jemals gänzlich entfernt werden können, so kann doch die Anwendung präziser und korrekter Abfassungstechniken dazu beitragen, dass diese Eigenschaften der natürlichen Sprache nur noch minimal ins Gewicht fallen. Unser Vorschlag schließlich ist eher bescheiden: Einstellung von sachverständigen Beamten, die mit der Normenabfassung betraut werden; dies wird zu besseren Gesetzen im Allgemeinen und zu besseren Strafgesetzen im Besonderen führen. Es stellte sich auch als notwendig heraus, die Aufgabe des Gesetzgebers mit den empirischen Wissenschaften zu verknüpfen, speziell mit der Kriminologie. Außerdem müssen wir bestimmte strafrechtliche Prinzipien überdenken, die wie unumstößliche Dogmen erscheinen, in der Praxis aber wenig zur Eingrenzung der Aufgabe des Gesetzgebers beigetragen haben, und den Techniken zur Gesetzesabfassung besondere Aufmerksamkeit schenken, um die Mehrdeutigkeit und die Unbestimmtheit so weit wie möglich zu verringern.

46

Maier Blumbergstrafrecht, Zeitschrift Nueva Doctrina Penal 2004 A, 1 f. Mit diesem Name bezeichnet Maier eine Strafrechtsreform, die der Vater eines Entführungsopfers sehr stark beeinflusst hat. Die Lehre hat diese Reform kritisiert, weil sie unsystematisch war.

Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie SHIZHOU WANG

1. Einführung Die Straftheorie findet sich in den unterschiedlichen Staaten dieser Welt auch in unterschiedlichen Teilen deren strafrechtswissenschaftlicher Systeme. In der Bundesrepublik Deutschland und in zahllosen anderen Staaten ist die Verbrechenslehre im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches angesiedelt. Aber auch die Strafvollzugsgesetze spiegeln in der Regel nicht nur die Strafzwecke, sondern auch die Straftheorie insgesamt wider. Demgegenüber besteht das System des geltenden chinesischen Strafgesetzes, im Hinblick nicht nur auf die rechtlichen Regelungen, sondern auch auf der Ebene der Theorie, nach wie vor lediglich aus Delikten und Sanktionen. Dieser Zustand ist im Zuge der historischen Entwicklung entstanden, wird aber im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auch immer weiter verbessert. Dabei steht die Entwicklung der chinesischen Straftheorie jetzt an einer geschichtlich wichtigen Schwelle. Entsprechend der fortschreitenden Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, entwickelt sich auch die chinesische Straftheorie sehr positiv, mit dem Ziel, das Bedürfnis nach besserer sozialer Sicherheit und Ordnung zu befriedigen. Als ein Bestandteil der Strafrechtswissenschaft bildet die Straftheorie einen Schwerpunkt bei der Forschung über die Basistheorie der chinesischen Strafrechtswissenschaft und ihrer Reform. In den letzten Jahren haben die Strafrechtswissenschaftler in China schon viel über die theoretische Stellung des Strafzwecks in der Strafrechtswissenschaft, über die Todesstrafe und über die Reform der Nicht-Freiheitsstrafe diskutiert, in der Hoffnung, auf diese Weise den richtigen Strafzweck zu erkennen, einen praktischen Weg zur Abschaffung der Todesstrafe zu finden und die Sanktionierungsmaßnahmen zu vervollkommnen, damit eine fortschrittliche Strafordnung und eine zur modernen Gesellschaft passende Straftheorie entwickelt werden kann.

Ich danke Frau Siyu Chen, LL.M. an der Peking-Universität, und Frau Haiying Lue, LL.D. an der Freien Universität Berlin, für ihre Hilfe bei der deutschen Sprache.

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Shizhou Wang

2. Die theoretische Stellung des Strafzwecks Gemeint ist hiermit die Frage nach der Stellung des Strafzwecks im theoretischen System der Strafrechtswissenschaft. Nach der h. L. in China sind einfach Straftaten die Voraussetzung für Strafen, und Strafen Folge der Straftaten.1 Deshalb wird die Straftheorie systematisch hinter der kriminologischen Theorie angeordnet, und diese theoretische Anordnung übt starken Einfluss auf beide Theorien aus. Durch die Trennung des Strafzwecks und der kriminologischen Theorie wird zunächst die Legitimation der Strafe beeinflusst. Zwar wird das „Sollen der strafrechtlichen Sanktionen“ (im Folgenden: das Strafbarkeitssollen) im chinesischen strafrechtlichen Theoriesystem unter dem Begriff der Straftat behandelt, jedoch erst nachrangig nach zwei anderen Merkmalen einer Straftat, nämlich der „schweren Sozialschädlichkeit“ und der „Strafgesetzwidrigkeit“. Das bedeutet, dass eine Tat nur anhand dessen als Straftat beurteilt wird, ob sie strafrechtlich sanktioniert werden soll. Das heißt, dass es bei dem Merkmal des Strafbarkeitssollens nicht darauf ankommt, ob und wie das Strafgesetz gerecht funktioniert. Am Anfang des Prozesses, in dessen Zuge die chinesische Rechtsordnung erstellt worden ist, war der Grundsatz „Keine Strafe ohne ausdrückliche Regelungen im Gesetz“ nicht anerkannt. Angesichts dessen spielt das Kriterium des Strafbarkeitssollens als Ergänzung zum Befund der schweren Sozialschädlichkeit eine gewiss nicht unbedeutende Rolle bei der Verhinderung einer missbräuchlichen Anwendung der Strafe. Diese relativ einfache Theorie entsprach anfänglich, als die chinesische Wirtschaft noch auf einer niedrigen Entwicklungsstufe stand, den Anforderungen der Rechtsordnung und der sozialen Sicherheit. Aber wenn die Volksrepublik China nun in eine neue Zeit hineinwächst, wobei unser Staat im Hinblick auf Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur umfassende Fortschritte macht, tritt hinsichtlich einer theoretischen Struktur, in der die Legitimation der Strafe hauptsächlich auf der Sozialschädlichkeit einer Straftat beruht, das Problem zutage, dass eine solche Struktur im Konflikt mit dem Grundsatz „Keine Strafe ohne ausdrückliche Regelungen im Gesetz“ steht und man die Strafbarkeit einer Begehung ohne tatsächliche Schäden im Rahmen dieser Struktur nur schwer begründen kann. Die Forschung über den Zweck der Strafe setzt den Begriff der Strafe voraus. Aber bei der Frage, was Strafe überhaupt ist, besteht in China noch ein Verständnisproblem. Nach der herrschenden Lehre wird Strafe in erster Linie aufgrund des Strafgesetzes definiert, was heißt, dass Strafen die nach strafrechtlichen Regelungen auf Entziehungsschmerzen basierenden 1

Vgl. Shoufen Liu Eine Übersicht über die Strafrechtswissenschaft, 2000, S. 180 f. Diese Lehre findet sich noch in vielen anderen strafrechtlichen Lehrbüchern und Aufsätzen.

Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie

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schwersten Zwangsmaßnahmen sind, die von staatlichen Justizorganen gegen Straftäter angewandt werden. In der chinesischen Rechtsordnung gibt es jedoch noch keine Regelungen, die ausschließlich die Rechtsprechungsorgane, nämlich die Volksgerichtshöfe in China, beauftragen, strafrechtliche Zwangsmaßnahmen mit Entziehungsschmerzen, insbesondere punitive Maßnahmen wie Freiheitsbeschränkung und -entziehung zu verhängen. Wegen der unvollständigen Definition der Strafe wird theoretisch ein Spielraum für entsprechendes Tätigwerden administrativer Organe belassen: So besteht etwa für die Polizei die Möglichkeit, verwaltungsrechtliche Sanktionen zu verhängen. Beispielsweise können nach dem chinesischen „Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen die soziale Sicherheit“, dem sogenannten chinesischen Ordnungswidrigkeitengesetz (chinOWiG), die Polizeiorgane im Sinne von administrativer Haft jemanden auch ohne gerichtliches Verfahren bis zu maximal 20 Tage in Haft nehmen. Darüber hinaus existiert das von den chinesischen Juristen, vor allem den Strafrechtswissenschaftlern, heftig kritisierte System der Umerziehung durch (körperliche) Arbeit, bei dem die Zeitdauer einer Freiheitsbeschränkung oder -entziehung bis zu maximal 4 Jahren betragen kann. Dieses System ist nach wie vor der Hauptansatzpunkt der Strafgesetzreform in China geblieben. Nur wenn man die chinesische strafrechtswissenschaftliche Theorie so verändert, dass man die Freiheitsentzugssanktionen ausschließlich als Strafe einstuft und den NichtRechtsprechungsorganen die Verhängung von Freiheitsstrafe verbietet, kann man beim Aufbau des chinesischen Strafrechtssystems weitere Fortschritte erzielen. In der Strafzwecktheorie muss man sich zunächst für eine Funktion der Strafe entscheiden. Nach der h. L. in China wird verneint oder zumindest nicht klar behauptet, dass es der Zweck der Strafe ist, Kriminalität vergeltend zu sanktionieren. Es wird vielmehr die Kriminalitätsprävention als Strafzweck angesehen. Dabei wird das Verhältnis zwischen Spezialprävention und Generalprävention nach h. L. grundsätzlich durch das sogenannte „Gesetz der Einheit der Gegensätze“ erklärt: Beide Präventionsformen sind zu beachten, keine von ihnen ist zu vernachlässigen.2 Es geht aber die der Spezial- und der Generalprävention zu ziehende Basisgrenze verloren, wenn die Vergeltungstheorie im theoretischen System der chinesischen Strafrechtswissenschaft überhaupt nicht anerkannt wird, obwohl jenes System doch auf dem Wunsch beruht, Strafmissbrauch zu vermeiden. Auch ist es schwierig, ein konsequentes theoretisches System auszubilden, wenn man

2

Vgl. Wenyuan Qi (Hrsg.), Die Strafrechtswissenschaft, 1999, S. 265.

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Shizhou Wang

einerseits die punitive Funktion der Strafe zugesteht,3 andererseits aber die Vergeltungstheorie verneint. Trotz der heftigen Debatte in der Strafrechtswissenschaft über die Wahl des Strafzwecks ist die integrierte Theorie mittlerweile schon zur Grundtendenz der Entwicklung der modernen Strafrechtswissenschaft in China geworden. 4 Aufgrund der Forschungsergebnisse der Strafrechtswissenschaft und der aktuellen Situation in China bin ich der Meinung, dass eine auf der Präventionsfunktion basierte integrierte Theorie nach verschiedenen Strafarten und Strafstufen die richtige Wahl für die chinesische Strafzwecktheorie darstellt.5 Diese Wahl ist eigentlich eine Kombination von zwei einzelnen integrierten Theorien: Erstens wird, blickt man auf die verschiedenen Strafarten, in der Todesstrafe grundlegend die Theorie der gerechten Vergeltung 6 und in den anderen Strafarten die Präventionstheorie gespiegelt. Diese Kombination der beiden Aspekte macht die erste integrierte Theorie aus. Mit der zweiten ist die Kombination von verschiedenen institutionellen Verwendungsstufen der Strafe gemeint. In den rechtlichen Regelungen wird vor allem die Theorie der Generalprävention reflektiert, während im Rechtsprechungsverfahren mehr die Theorie der Spezialprävention und die Vergeltungstheorie sowie in der Strafvollstreckung besonders die Theorie der Spezialprävention zur Geltung gelangt. Die hier vertretene Lehre wird auch von der Staatsregierung beachtet.7 Die Strafzwecktheorie fungiert als ein Grundmittel der modernen Strafrechtswissenschaft beim Nachweis der Legitimation der Strafe. Deswegen sollte sie als eine Voraussetzung oder ein Bestandteil der Erörterung der Kriminalitätstheorie im Allgemeinen Teil des Strafgesetzes eingeordnet werden. 8 Diese Theorie bietet im Vergleich mit der Theorie der Sozialschädlichkeit zwei wesentliche Vorteile beim Nachweis der Legitimation der Strafe: Erstens bietet die Strafzwecktheorie eine gesellschaftlich allgemein anerkannte, rationale, normative und gerechte Basis für die Strafe an, 3

Siehe z. B. Mingxuan Gao (Hrsg.), Die Grundsätze der Strafrechtswissenschaft, 1994, S. 27 ff. 4 Vgl. Roxin AT I S. 53 ff. 5 Vgl. Shizhou Wang Die moderne Theorie über den Strafzweck und die Chinesische Auswahl, Cass Journal of Law, Vol. 3, Heft 25 (2003), 146. 6 In China unterscheidet man die Todesstrafe in Todesstrafe ohne Bewährung und Todesstrafe mit zweijähriger Bewährung. Im ersteren Fall findet sich damit die Vergeltungstheorie und im letzteren die Präventionstheorie repräsentiert, vgl. Shizhou Wang Journal der PekingUniversität für Philosophie und Sozialwissenschaften, Vol. 41, Heft 3, 2004, 89 ff. 7 So erzielte der Aufsatz „Die moderne Theorie über den Strafzweck und die chinesische Auswahl“ (vgl. Fn. 5) im Jahr 2006 bei dem vom Justizministerium der Volksrepublik China ausgelobten Zweiten Nationalpreis für juristische Lehrbücher und wissenschaftliche Forschungsergebnisse den dritten Preis im Bereich der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. 8 Vgl. Roxin AT I S. 37 ff.

Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie

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um die möglichen Schäden zu vermeiden, die entstehen, wenn ungeachtet der fortschreitenden Weiterentwicklung der Gesellschaft die Theorie der Sozialschädlichkeit ohne Grenzen oder nur undeutlich begrenzt zur Anwendung gelangt. Zweitens hilft es der strengen Einhaltung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne ausdrückliche Regelungen im Gesetz“, wenn mit ihr der auf der Theorie der Sozialschädlichkeit beruhenden Verwendung der Analogie die theoretische Basis entzogen wird. Auf die Bedeutung der theoretischen Stellung des Strafzwecks wird in der Reform der chinesischen Strafrechtswissenschaft denn auch besonders aufmerksam gemacht.9

3. Der Versuch einer Abschaffung der Todesstrafe Es ist zu beklagen, dass es noch viele mit Todesstrafe belegte Straftatbestände im chinesischen Strafgesetz und Todesurteile in der gerichtlichen Praxis gibt. Aber mittlerweile besteht in der chinesischen Strafrechtswissenschaft kein großer Streit mehr darüber, dass die Todesstrafe endlich abgeschafft werden muss. Auch die Kommunistische Partei Chinas als Regierungspartei hat schon im Jahr 1956 das Ziel gesetzt, die Todesstrafe Schritt für Schritt vollständig abzuschaffen.10 Das derzeit vor den Chinesen stehende Problem liegt darin, wie man die Todesstrafe abschafft. Eine sofortige Abschaffung ist politisch und gesellschaftlich unpraktikabel, wie man jedoch das Ziel schrittweise erreicht, ist ein seit Jahren in der Strafrechtswissenschaft lebhaft diskutiertes Thema. Wenn man in China nach einer möglichen Lösung dafür sucht, muss man zuerst den Inhalt von „Abschaffung der Todesstrafe“ richtig verstehen. Es ist international allgemein anerkannt, dass die Abschaffung der Todesstrafe grundsätzlich in drei verschiedenen Formen erfolgen kann: alle Todesstrafen gesetzlich abzuschaffen, Todesstrafen nur noch zum Teil (im Prinzip bei militärischen Straftaten) gesetzlich beizubehalten und – im Sinne einer tatsächlichen Abschaffung – Todesstrafen in der gerichtlichen Praxis nicht mehr zu verhängen. Gegenwärtig wird in China die Politik verfolgt, „die Todesstrafe beizubehalten, aber streng zu kontrollieren“. Dies weist Gemeinsamkeiten mit der soeben genannten tatsächlichen Abschaffung der Todesstrafe auf, weil die strenge Kontrolle der Todesstrafe letztlich zur Nicht-Anwendung der Todesstrafe führt.

9

Vgl. Shizhou Wang/Xiaomin Liu Forum der Politik und Rechtswissenschaft, Heft 6/2004, S. 8. 10 Vgl. Shaoqi Liu (ehemaliger Staatspräsident) Der politische Bericht im VIII. Parteitag der KP Chinas, Auswahlband I