FERNSEHEN - NETFLIX - YOUTUBE: Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten 9783839454817

Wie viel altes Fernsehen steckt in Netflix und YouTube? Um ihre ästhetischen und strukturellen Ähnlichkeiten zum Fernseh

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German Pages 372 Year 2020

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FERNSEHEN - NETFLIX - YOUTUBE: Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten
 9783839454817

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Christian Richter FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE

| Band 58

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kulturund Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Marie-Luise Angerer, Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Christian Richter (Dr. phil.), geb. 1981, ist Medienwissenschaftler und Referent für Medienbildung. Er lehrt unter anderem an der Universität Potsdam in den Disziplinen Medienwissenschaft und Erziehungswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Programmgeschichte des Fernsehens, Mechanismen, Strategien und Ästhetik von On-Demand-Angeboten, Populäre Serialität, Medialität von Achterbahnen sowie Medienbildung und Digitale Bildung.

Christian Richter

FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten

Für Anne und Anton, meine 'Ohana.

Das vorliegende Buch ist unter dem Titel »Netflix und YouTube als FERNSEHEN 4.0 – Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Televisionizität von On-Demand-Portalen« als Dissertationsschrift von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam angenommen und dort im Mai 2019 verteidigt worden. Die Gutachter waren Prof. Dr. Heiko Christians (Universität Potsdam) & Prof. Dr. Jan Distelmeyer (Fachhochschule Potsdam).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld; nach einem Entwurf von Christian Richter Umschlagcredit: Foto von Tero Vesalainen/Shutterstock.com; bearbeitet durch Christian Richter Lektorat: Christian Richter unter Mithilfe von Nancy Grimm, Anika Grollmuß, Candy Jankowski und Monika Trutt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5481-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5481-7 https://doi.org/10.14361/9783839454817 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

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Inhalt Vorwort | 9

1. VORSPANN Einleitung | 15

Fallbeispiele: „Would you like to learn more?“ | 15 Mythen des Digitalen | 21 Televisionizität | 24 Projekt: Fernsehen – Netflix – YouTube | 25 Untersuchungsgegenstand: On-Demand-Angebote | 27 YouTube und Netflix als Fernsehen | 30 Fernsehen als Bezugssystem | 34 Die Fernsehhaftigkeit des Fernsehens | 37 On-Demand-Angebote als Erzählmaschinen | 40

2. VOM PROGRAMM ZUR PROGRAMMIERUNG Architekturen & Ästhetiken | 47

Fallbeispiel: „YOUTUBE WILL MICH TÖTEN!“ | 47 Zwischen den Innen- und Außenseiten des Systems | 50 Räume und Metaphern | 53 Zeigen und Verbergen | 55 Algorithmen & Datenverarbeitung | 63

Erfassung und Eingaben | 63 Meta-Daten und Schlagworte | 64 Nutzungsdaten | 65 Kuration und Aggregation | 68

3. FLOW Programme & Verweise | 73

Fallbeispiel: „Gleich bei uns im Fernsehgarten“ | 73 Medium der verschwindenden Gegenwart | 79 Medium der kontinuierlichen Ankündigung | 83 Medium der Segmentierung | 86 Medium des linearen Flusses | 88 (Ober-)Flächen & Interfaces | 95

Vom Flow zum Clip | 95 Szenen auf Wanderschaft | 99 On-Demand-Plattformen als (ideale) Bibliotheken | 102 Zeitliche Abfolgen und räumliche Ordnungen | 107 Anschlüsse & Vorschläge | 111

Fortlauf ohne Interaktion (Autoplay) | 111 Ästhetik der Möglichkeiten | 116 Mehr vom Gleichen | 123 Narrative & Verkettungen | 129

Fortsetzung folgt… | 129 Komplexe Kombinationen | 130

4. SERIALITÄT Wiederholung & Konstanz | 145

Fallbeispiel: Monster oft the Week | 145 Fernsehen der Wiederkehr | 148 Serielle Formen jenseits von Fernsehen | 151 Die serielle Natur von YouTube | 152 Die Bedeutung der Serie für Netflix | 154 Binge Watching | 155 Serialität als ökonomische Form | 157 Stabilität & Verlässlichkeit | 161

Feste Abläufe und ihre Aufrechterhaltung | 161 Kosmische Zyklen und das Programmschema des Fernsehens | 163 Kontinuität und ihr Beitrag zur Sicherheit | 166

Liturgischer Strom und die Synchronisation der Gesellschaft | 168 Zyklen und Rhythmen bei YouTube und Netflix | 170 Erschaffung individueller Rituale | 175 Veränderung & Varianz | 181

Die Lebendigkeit der Abweichung | 181 Episoden und Fortsetzungen | 186 YouTube als Loopingbahn | 189 Zirkulation als digitalizitäre Form von Serialität | 196 Alternativen & Adaptionen | 203

Serialität als Datenbank | 203 Linearität in nicht-linearen Angeboten | 205

5. LIVENESS Gleichzeit | 215

Fallbeispiel: „Naked by the end of the song“ | 215 Medien der Simultaneität | 216 Fernsehen im Gegenwartsmodus | 218 Echtzeit | 223

Fallbeispiel: „It sounds boring… because it is.“ | 223 Fernsehen als Beschleunigung | 225 Fernsehen als Entschleunigung | 226 Erzählzeit und erzählte Zeit | 232 Die Handlung pausiert | 234 Durchlässigkeit für Leben | 239 Neues Fernsehen wie früher | 241 Live on YouTube | 243 Echtheit | 247

(Un-)Möglichkeiten der Manipulation | 247 Bedeutungsvolle Pannen | 250 Gesten der Imperfektion | 253 Inszenierungen des Authentischen | 256 Ungeschnittene Wahrheiten | 262

6. ADRESSIERUNGEN Televisionizitäre Adressierungen | 271

Fallbeispiel: „Welcome to Washington“ | 271 Lenkung von Aufmerksamkeit | 273 Entlang der Vierten Wand | 276 Ein- und Ausschlüsse | 279 Simulierte Unterhaltungen | 283 Attraktion[en] | 285

Gesten des Zeigens im frühen Kino | 285 Diegetische Welten & exhibitionistische Blicke | 288 Jahrmarktschreier und Fernsehansagerinnen | 291 YouTube der Attraktion[en] | 293 Adressierungen bei YouTube | 295

Fallbeispiel: „Me at the zoo“ | 295 Fragen der Begrüßung | 298 Imitationen des Fernsehbildes | 301 Textuelle Ansprachen | 304 Fallbeispiel: „Meint Ihr das auch?“ | 306 Sprunghaftes Adressieren | 310 Fallbeispiel: „Willst Du mich damit beleidigen?“ | 313 Zielgerichtete Kommunikationen | 314 Dialogische Attraktionen | 316 Einverständnisse | 319

7. ABSPANN Neue Version verfügbar | 323

Re-Visualisierung | 323 Remediatisierung | 327 Formatierung | 330 „They say all good things must come to an end…“ | 336

ANHANG Verzeichnis QR-Codes für Videos | 341 Quellen | 343

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Vorwort

Zwei Tage bevor ich diese Zeilen schreibe, werden die diesjährigen Nominierungen für den Primetime Emmy Award bekannt gegeben – also die Nominierungen für den wichtigsten amerikanischen Fernsehpreis. Auf Produktionen im Auftrag des Unternehmens Netflix fallen diesmal insgesamt 160 Nominierungen, wodurch der On-Demand-Anbieter das Feld mit deutlichem Abstand zu traditionellen Fernsehsendern und Networks wie HBO, NBC oder ABC anführt. Zugleich werden einige kleine Produktionen für Videoplattformen wie YouTube mit einzelnen Nominierungen bedacht. Die Nachrichtenmeldung unterstreicht meine Annahme, dass Inhalte von Netflix oder YouTube allgemein als eine Version von Fernsehen wahrgenommen werden. Denn offenbar lassen sich diese internetbasierten und eigentlich fernsehfremden Angebote derart irritationsfrei in die Fernsehwelt einfügen, dass sie sogar von der amerikanischen Fernseh-Akademie1 honoriert werden. Dieses Phänomen möchte ich näher untersuchen und auch die Anfänge der Entwicklung in den Blick nehmen. Es stellt sich mir daher die Frage: Wie viel altes Fernsehen steckt in den neuen Angeboten? Um eine Antwort zu finden, werde ich einem Blick auf OnDemand-Dienste wie Netflix und YouTube aus der Perspektive des Fernsehens werfen. Hierbei dienen mir klassische Fernsehtheorien als Ausgangspunkt, um inhaltliche, strukturelle und ästhetische Ähnlichkeiten, aber auch Verschiebungen, aufzudecken und zu beschreiben. So schält sich letztlich ein Verständnis von FERNSEHEN heraus, das auch solche Online-Angebote erfasst. Das vorliegende Buch ist als Dissertationsschrift entstanden und im Frühjahr 2019 von der philosophischen Fakultät der Universität Potsdam angenommen worden. Ihm liegt eine arbeitsintensive und herausfordernde Ausarbeitung zugrunde, die davon geprägt war, mit der komplexen Vielschichtigkeit und stetigen

1 | Der Emmy-Award wird vergeben von der „Academy of Television Arts & Sciences“.

10 | FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE

Veränderlichkeit von gleich drei medialen Anordnungen umgehen zu müssen. Um dennoch eine zielgerichtete Argumentation verfolgen zu können, war es unumgänglich, sich eine geradlinige Schneise durch die verzweigten Angebote zu schlagen. Dieses Vorgehen verlangte eine konsequente Beschränkung auf zentrale Kernaspekte, wohlwissend, dass viele ebenso spannende Fragestellungen und Perspektiven vernachlässigt werden mussten. Entsprechend entfaltet sich die anschließende Diskussion der On-Demand-Angebote entlang vier charakteristischer Parameter des Fernsehens und weniger entlang einzelner Funktionen oder Interface-Gestaltungen der Online-Dienste. Hinzu kommt, dass die Plattformen Netflix und YouTube einer fortwährenden Veränderung unterliegen. Neue Funktionalitäten, Formate oder Ausspielwege werden eingeführt und Anpassungen der grafischen Oberflächen sowie der prozessierenden Algorithmen vorgenommen. Mit ihnen wird in der Regel auf Änderungen rechtlicher Rahmenbedingungen, auf neu entwickelte Monetarisierungsstrategien oder auf ein verändertes Nutzungsverhalten reagiert. Nicht selten verbinden sich mit ihnen auch Verschiebungen der inhaltlichen Zusammensetzung der Angebote. Oft vollziehen sich solche Veränderungen in kürzeren Intervallen als bei Anordnungen, die über eine längere Geschichte verfügen, weil sich die vergleichsweise eher jungen Plattformen noch im Prozess der eigenen Ausdifferenzierung befinden. Die nachfolgenden Überlegungen basieren vorwiegend auf Beobachtungen, die zwischen den Jahren 2014 und 2019 vorgenommen wurden. Allein in diesem Zeitraum wurden von YouTube das kostenpflichtige Unterangebot YouTube Red (später „YouTube Premium“) sowie eigene Applikationen mit veränderten Oberflächen für Kinder („YouTube Kids“), Musikvideos („YouTube Music“) und Computerspiele („YouTube Gaming“) verfügbar gemacht. Netflix stellte im gleichen Zeitraum die Offline-Verfügbarkeit seiner Serien mithilfe einer Download-Funktion vor sowie eine zusätzliche Schaltfläche im Menü, die das Überspringen eines Vorspanns ermöglicht. Darüber hinaus kam die folgenreiche #MeToo-Debatte auf, in deren Rahmen massive systematische sexuelle Belästigungen an Arbeitsplätzen (insbesondere in der Unterhaltungsbranche) bekannt und diskutiert wurden. Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs wurden dabei auch gegen den Schauspieler Kevin Spacey vorgebracht, der in meiner Analyse aufgrund seiner (ehemaligen) Bedeutung für die Außenwirkung des Unternehmens Netflix dennoch eine zentrale Funktion einnehmen muss. Eine Untersuchung an Netflix und YouTube gleicht somit dem Vermessen eines Hauses, das sich noch im Bau befindet. In diesem Sinne sind das vorliegende Buch und die darin enthaltenden Erläuterungen stets im Kontext ihrer Entstehungszeit zu werten.

Vorwort | 11

… Dankbar bin ich den Professoren Heiko Christians und Jan Distelmeyer, die mir während der Entstehungszeit stets mit wertvollen Hinweisen zur Seite standen und mich immer wieder mit kritischen Fragen herausgefordert haben. Heiko Christians hat es zudem ermöglicht, dass mein Manuskript im Rahmen der Reihe „Metabasis“ beim transcript-Verlag veröffentlicht wird. Finanzielle Unterstützung erhielt ich von der Studienstiftung des deutschen Volkes, die sich mir äußerst kooperativ und unbürokratisch zeigte. Ein wichtiger Faktor waren auch die vielen Studierenden, die an meinen Lehrveranstaltungen teilnahmen und viele meiner nachfolgenden Überlegungen interessiert verfolgten und intensiv diskutierten. Danken möchte ich ebenso Nancy Grimm, Anika Grollmuß, Candy Jankowski und Monika Trutt die gerade in der letzten Phase unter großem Zeitdruck bereit waren, das Manuskript oder Teile davon gegenzulesen und zu kommentieren. Mein größter Dank gebührt meiner wunderbaren Ehefrau Anne, die mir unzählige Male den Rücken freigehalten und dabei allzu oft selbst zurückgesteckt hat. Sie hat mit ihrer geduldigen und verständnisvollen Unterstützung mehr zur Entstehung dieses Buches beigetragen, als ich es hier in Worte fassen kann. Ihr und unserem bezaubernden Sohn Anton Jasper möchte ich dieses Buch widmen.

Potsdam, im Juli 2020

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1. Vorspann

15

Einleitung

FALLBEISPIELE: „WOULD YOU LIKE TO LEARN MORE?“ Im Juli 2018 wird über den Firmen-Account von Ronnie Welch, der Gründerin der amerikanischen PR-Agentur CWR & Partners, LLP, eine E-Mail an wahrscheinlich hunderte oder gar tausende potenzielle Interessierte versandt. Sie enthält keine konkrete Anrede, einige sprachliche Fehler sowie einen indirekten Aufruf, sich mittels Kryptowährung am Crowdfunding für eine Firma zu beteiligen. Auch ein Besuch der Website der Agentur liefert kaum darüber hinausgehende Informationen. Eine Nachricht und ein Vorgang, wie er längst alltäglich geworden ist. Ob es sich dabei um eine seriöse Anfrage oder doch um eine SPAM- oder Phishing-Nachricht handelt, bleibt letztlich unklar, aber auch unerheblich. Entscheidender als die Frage, ob mit der E-Mail sensible Daten, Geld oder beides erschlichen werden sollen, ist ein Blick auf die Formulierungen, mit dem das Interesse für das (vermeintlich) lohnende Geschäft geweckt werden soll. Unter dem vielsagenden Betreff „Changing times of Television, broadcast source...“ wirbt sie für die Investition in einen malaysischen Anbieter für Sportübertragungen, der nichts Geringeres als eine Weiterentwicklung des Fernsehens verheißen würde: The way we watch television very continuously throughout the years. Not only has the old ‚tube‘ changed, but the broadcasts coming from it have gone from local airwaves, to cable TV, to broadband TV, to satellite TV, and now we watch services like Apple TV, Hulu, Netflix, etc. We are watching as blockchain technology is allowing for us to watch live streaming television programming from anywhere in the world. One company, SportsFix, is applying the blockchain technology so that we can watch our sports no matter where we are in the world. Giving viewers the ability to decide exactly what they want to see from their sports at a fraction of the cost of

16 | VORSPANN

other services. SportsFix is currently streaming its blockchain OTT platform in Malaysia and Indonesia, and it is doing a round of funding via an ICO to deliver its programming worldwide. Would you like to learn more?1

In diesen Zeilen kommt zum Ausdruck, dass sich der technische Übertragungsweg des Fernsehens in einem stetigen Wandel befunden und mit der BlockchainTechnologie2 eine neue Qualität erreicht hätte. Demnach böte die beworbene Plattform SportsFix seinen Nutzenden den weltweit verfügbaren Empfang („from anywhere in the world“) eines stark individualisierbaren Programms („giving viewers the ability to decide exactly what they want“) zu einem günstigen Preis („at a fraction of the cost of other services“). In dieser Beschreibung dessen, was jenes neue Fernsehen zu leisten vermag, verbirgt sich zugleich ein Verständnis, von welchen Schranken und Unzulänglichkeiten das alte Fernsehen geprägt sei. Ein anderes Beispiel, dessen Fundstelle nicht ein E-Mail-Postfach, sondern die Videoseite YouTube darstellt: Dort ist unter dem programmatischen Titel „Warum YouTube das bessere Fernsehen ist“3 ein knapp zwölfminütiges Video zu finden, in dem der damals 22-jährige Viktor Roth, Betreiber und Hautprotagonist des Kanals „iBlali“, dem Fernsehen ein ähnlich negatives Zeugnis ausstellt: Wenn man Fernsehen hat, gibt es bestimmte Grundsätze, an die man sich richten muss. Auf YouTube kann man quasi das machen, was man will. […] In meinem Fall ist das so, das, was ich mache, gibt es auch im Fernsehen nicht. Ich weiß, dass sich viele Leute dafür interessieren. Das ist dieser, ich nenne es mal ‚9gag‘-Humor. Weil ich persönlich darauf stehe, habe ich damit angefangen, nicht weil ich mir dachte, viel-

QR-Code Video 1

leicht gefällt es den anderen Leuten. Ich glaube, das ist auch ein bisschen das Geheimnis hinter YouTube, man denkt nicht erst nach, bevor man einen Kanal macht,

1 | Original-Wortlaut aus der unaufgefordert erhaltenen E-Mail von Ronnie Welch vom 06. Juli 2018, die inhaltlich und grammatikalisch unverändert wiedergegeben wird. 2 | Blockchain = kryptographische Verkettung von Datensätzen. 3 | Das Video umfasst ein Interview, das der Journalist Thilo Mischke im Auftrag der Zeitschrift „Stern“ mit Viktor Roth führt. Es entstand im Rahmen der begleitenden Berichterstattung zum Deutschen Webvideopreis 2014 und wurde auf dem YouTubeKanal von „Stern“ veröffentlicht. Die nachfolgend zitierten Passagen stammen aus dem Gespräch und wurden zur Übersichtlichkeit gekürzt. Auslassungen sind markiert.

Einleitung | 17

was könnte den anderen gefallen, sondern man denkt darüber nach, was gefällt mir. Was will ich machen und dann zieht man die Leute an, denen das auch gefällt. […] Ich persönlich schaue gar kein Fernsehen mehr, einfach nur, weil mich das Programm gar nicht mehr anspricht. Bei YouTube hast Du eine größere Vielfältigkeit meiner Meinung nach. […] Jeder kann einen YouTube-Kanal aufmachen, unabhängig davon, ob er erfolgreich wird oder nicht. Jeder kann einen YouTube-Kanal machen und drehen und machen was er will. Das ist halt das Geile. Keiner kann beispielsweise zu ProSieben gehen und eine Fernsehsendung starten. Auf YouTube ist so etwas möglich.4

Obwohl sich Roths Argumente auf andere Eigenschaften beziehen, wird in ihnen wie in der eingangs zitierten E-Mail eine Vorstellung von Fernsehen deutlich, die von einschränkenden Vorgaben und inhaltlichen Limitierungen geprägt ist. Im Kontrast dazu werden sowohl das neue internetbasierte Fernsehen von SportsFix als auch die Möglichkeiten von YouTube übereinstimmend als insgesamt freier und weniger generalisierend typisiert. Es sind Umgebungen, welche die individuellen Wünsche ihrer Nutzenden besser aufgreifen könnten. Was sie im Gegensatz zum Fernsehen im Stande sind zu leisten, drückt sich im entscheidenden Satz der E-Mail aus: „Giving viewers the ability to decide exactly what they want to see […]“5 Ein drittes und vorerst letztes Beispiel liefert der in mehrfacher Hinsicht bezeichnende Auftritt des amerikanischen Schauspielers Kevin Spacey auf dem Edinburgh International Television Festival im Jahr 2013.6 Als erstem Schauspieler überhaupt oblag es ihm dort, die seit 1976 jährlich stattfindende, traditionsreiche James MacTaggart Memorial Lecture abzuhalten – eine Aufgabe, die bis dahin vor allem von Produzent*innen, Regisseur*innen und Fernsehdirektor*innen übernommen wurde. Kurz zuvor war die erste Staffel seiner Serie HOUSE OF CARDS7 veröffentlicht worden, in der Spacey den machthungrigen und skrupellosen US-amerikanischen Politiker Frank Underwood verkörpert, der sich im Laufe der Handlung aus der zweiten politischen Reihe bis ins Oval Office des

4 | Gekürztes Transkript des Videos: stern: iBlali: Warum YouTube das bessere Fernsehen ist. In YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/BO0aOhQO4Ok [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 5 | Noch einmal das Zitat aus der E-Mail von Ronnie Welch. 6 | Edinburgh International Television Festival 2013: Vom 22. bis 24. August 2013 im Edinburgh International Conference Centre in Edinburgh, Großbritannien. 7 | House of Cards, USA 2013 - 2018.

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Weißen Hauses intrigiert. Bei HOUSE OF CARDS handelt es sich um die erste Serie, die nicht von einem konventionellen Fernsehsender in Auftrag gegeben wurde, sondern vom amerikanischen Unternehmen Netflix und damit von einem Online-Dienst, der Filme und serielle Formate zum Abruf anbietet. Sie ist auch die erste Serie, bei der Netflix auf seine veränderte Distributions-Strategie zurückgriff, die seitdem fest mit dem Dienst verbunden ist. Anstatt die einzelnen Episoden (meist) wöchentlich zu dosieren, wie es „seit den Tagen des SchwarzWeiß-Fernsehens“ üblich war8, wurden die Folgen einer Staffel von HOUSE OF CARDS jährlichen „auf einen Schlag“9 veröffentlicht. Dadurch standen jeweils alle 13 Episoden einer Staffel frei von zeitlichen Beschränkungen, Sendeplänen oder einer vorgegebenen Reihenfolge zur selben Zeit zur Verfügung. 10 Während seiner Ansprache am 22. August 2013, in der Kevin Spacey das Fernsehen der Zukunft nach seinen Vorstellungen skizzierte, schilderte er einen voranschreitenden Wandel innerhalb der Branche sowie einen veränderten Anspruch der Zuschauenden, der ein fundamentales Umdenken bei den Verantwortlichen der Studios und Sender und ein QR-Code Video 2 Abweichen von bisherigen Konzeptionen auslösen müsse. Auch wenn er es nicht eindeutig benannte, verwies er mit diesen Äußerungen unzweifelhaft auf die en-bloc-Veröffentlichungsstrategie von HOUSE OF CARDS, die den Nutzenden weniger Vorgaben bezüglich Sendezeiten und Ausstrahlungsrhythmen auferlegen würde. Im Zentrum seiner Rede, die er immer wieder mit persönlichen Erlebnissen bebilderte, stand damit die Forderung nach mehr Freiheiten und Selbstbestimmungsmöglichkeiten – und zwar in einem doppelten Sinne. Sowohl für die Kreativen während des Produktionsprozesses, als auch für die Zuschauenden, die das Ergebnis rezipieren. Obwohl Spacey nur selten den Namen des Online-Angebots verwandte, blieben zu keinem Zeitpunkt während seines 40-minütigen Vortrags Zweifel daran, dass das, was er als Zukunft des Fernsehens beschrieb, stets als ein Synonym für Netflix zu verstehen war. Entsprechend gipfelte die leidenschaftliche Motivationsansprache in dem zentralen Appell:

8 | Stelter: New Way to Deliver a Drama. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2m70bx1 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 9 | Hanfeld: Der Haifisch liebt das Blut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (OnlineAusgabe). Unter: http://www.faz.net/-gqz-7j8p5 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 10 | Grandinetti: From Primetime to Anytime. In: Barker / Wiatrowski (Hrsg.): The Age of Netflix, S. 11.

Einleitung | 19

The audience wants the control. They want freedom. [...] Give people what they want – when they want it – in the form they want it in […].11

An diesem Abend stand Spacey mit jedem Wort und seiner weltweiten Berühmtheit, seiner (damals noch vorhandenen) internationalen Anerkennung und seiner jahrelangen Erfahrung im Film- und Fernsehgeschäft für Netflix ein und forderte genau diejenigen Aspekte, welche die Eckpfeiler der Vermarktungsstrategie von Netflix bilden. In ausdrücklicher Abgrenzung zum traditionellen Fernsehen, wo sich die Zuschauenden den dogmatischen Vorgaben eines festgelegten Programms auf unbeweglichen Geräten zu beugen hätten, verkauft das Unternehmen nämlich in erster Linie die verlockende Zusage: „Whatever show you want, whenever you want, on whatever screen you want“12. Oder, wie es lang auf der Startseite von Netflix zu lesen war:

Abbildung 1: Titelbild der ehemaligen deutschen Startseite von Netflix.13 Dahinter verbirgt sich das Versprechen, demzufolge sich mit der Nutzung von Diensten wie SportsFix, Netflix und YouTube ein Zugriff auf eine reichhaltigere Auswahl, ein souveräner Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Angebot sowie eine größere Unabhängigkeit von äußeren Vorgaben verbindet. In ihnen zeigt sich die Erfüllung des oft bemühten Bildes des „Zuschauers als sein eige-

11 | Edinburgh Television Festival: Kevin Spacey | James MacTaggart Lecture 2013 | EITF. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/oheDqofa5NM [aufgerufen am 27. Januar 2020], ca. 24:40 Min. & 25:00 Min. 12 | Lotz: The Television Will Be Revolutionized, S. 3. 13 | Screenshot über: https://www.netflix.com/de/ [angefertigt am 14. Juli 2015].

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ner Programmdirektor“14. Ein Bild, das vom digitalen PayTV-Anbieter DF-1 in dessen Werbekampagne zu seinem „Neuen Fernsehen“ prominent platziert und um einen Slogan ergänzt wurde, der nahtlos an die Versprechen von Ronnie Welch und Kevin Spacey anschließt: „Sehen Sie, was Sie wollen, wann Sie wollen.“15 Kurz: In derartigen Formulierungen drückt sich ein Versprechen nach (mehr) Freiheit aus, welches das alte Fernsehen nicht zu realisieren vermag. Vielmehr erfährt dieses eine grundsätzliche Abwertung als ein starres, unbewegliches, unkreatives und ineffizientes System, das den dogmatischen Begriff „Massenmedium“ derart verinnerlicht hat, dass ihm sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsebene jegliche Individualisierbarkeit abgesprochen wird. In diesem Verständnis wird Fernsehen als ein repressives Medium wahrgenommen, das eher seine Nutzenden kontrolliert und weniger als ein Medium, das durch seine Nutzenden kontrolliert wird.16 An der für die Skizzierung der On-Demand-Dienste einheitlich genutzten Rhetorik ist das häufige Heranziehen des alten Fernsehens zur Bestimmung der neuen Anordnungen auffällig. Deren Leistungsfähigkeit wird offenbar ausschließlich vor diesem Hintergrund evident. Etwa erläutert Kevin Spacey die ihm bei der Produktion von HOUSE OF CARDS entgegengebrachte kreative Freiheit vor dem Hintergrund des dogmatischen Pilotierungsverfahrens amerikanischer TV-Sender, während YouTuber Viktor Roth die Unabhängigkeit von institutionellen Genehmigungen im Vergleich zum Platzieren einer neuen Show im Programm des Fernsehkanals ProSieben veranschaulicht. Die Botschaft ist unmissverständlich und lautet stets gleich: Die favorisierten Angebote sind dem Fernsehen vorzuziehen und befänden sich deswegen in Lauerstellung, das überholte Medium endlich ablösen zu können. Obwohl Spacey, Roth, Welch und viele andere Vertreter*innen ihrer Branche(n) bestrebt sind, ihre Aktivitäten mit solchen Zuschreibungen vom als unzulänglich empfundenen Fernsehen abzugrenzen und eine größtmögliche inhaltliche oder strukturelle Distanz aufzubauen, offenbaren sie in der Anwendung derartiger Analogien, die Existenz eines gemeinsam geteilten Kerns und evozieren zwischen beiden Sphären eine Nähe. Diese Nähe zwischen On-Demand-Angeboten und Fernsehprogramm gilt es nachfolgend ausführlich zu untersuchen.

14 | Jüngst nutzte MJ Robinson die Formulierung „television programmers“, um das Umherspringen der Nutzenden zwischen verschiedenen (Video)Angeboten zu verbildlichen (Robinson: Television On Demand, S. 25). 15 | Die Werbekampagne wird ausführlich von Markus Stauff besprochen. (Stauff: Das neue Fernsehen, S. 61.) 16 | Vgl. Strangelove: Post-TV, S. 21.

Einleitung | 21

MYTHEN DES DIGITALEN In den zitierten Beschreibungen des alten Fernsehens und der neuen Umgebungen kommen Vorstellungen zum Ausdruck, die eng mit den Hoffnungen an sowie mit den Annahmen über das Digitale und das Analoge verbunden sind. Der Medienwissenschaftler Jan Distelmeyer hat solche immer wieder formulierten Erwartungen, Versprechen und Ängste eingehend untersucht und erkennt in Aspekten wie Vernetzung, Freiheit, Aktivität/Partizipation, Ermächtigung, Flexibilität und Immaterialität dominante Motive, die dem Digitalen wiederkehrend zugesprochen werden.17 Im Umkehrschluss wird das (vermeintlich) antonyme Analoge mit Attributen wie Linearität, Beschränktheit, Passivität, Starrheit oder Ortsgebundenheit assoziiert. Es sind exakt jene Parameter, die oft dem alten Fernsehen zugesprochen werden. Eine solche Zuschreibung fußt auf der Auffassung, das facettenreiche Medienspektrum durch eine simple Einteilung nach Push- und Pull-Medien abbilden zu können.18 Hierbei bezieht sich der Präfix „Push“ auf eine permanent von Außenstehenden gesteuerte Anlieferung von Inhalten, die nur zum Zeitpunkt ihrer Übertragung angenommen werden kann. Als Gegenpol dazu beschreibt der Zusatz „Pull“, dass Inhalte dauerhaft und zeitunabhängig zur Verfügung stehen und für eine Nutzung individuell aktiviert werden müssen. In dieser Dichotomie wird das als vorbestimmt wahrgenommene Fernsehen gewöhnlich als Push-Medium klassifiziert, derweil das Internet, welches sich gänzlich durch die Kontrolle der Nutzenden vollziehen würde, als Idealtypus für Pull-Medien gilt. Diese unterkomplexe Logik macht eine einfache Gleichung auf, die Jan Distelmeyer treffend verkürzt: „Analoge Medien machen passiv, digitale aktiv.“19 Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein dialektisches Verhältnis, das einer definitorischen Symbiose gleicht. Analoges Fernsehen lässt sich scheinbar am besten als ex negativo gegenüber digitalen Medienformen beschreiben. Die Vorzüge, die dem Digitalen zugesprochen werden, werden gleichzeitig nur im Kontrast zum Analogen fassbar. Deutlich wird in der Gegenüberstellung zugleich, dass eher holzschnittartige Idealbilder und vereinfachte Archetypen gegeneinander in Stellung gebracht werden. Hier werden Medien, Geräte und Plattformen weniger als komplexe und

17 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 99 - 112. 18 | Aufgebracht wurde das Konzept erstmals hier: Kelly / Wolf: Push! In: Wired, 5-03. 19 | Distelmeyer: Digitalisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 168f.

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vielschichtige Anordnungen verhandelt, sondern als feststehende Stereotype. Entsprechend werden solche Sendungen, technische Erweiterungen oder künstlerische Experimente ausgeblendet, welche den Zuschauenden eine mittel- oder unmittelbar Teilhabe an der Gestaltung des Fernsehprogramms ermöglichten. Es stehen weniger tatsächliche mediale Eigenschaften, als angenommene Zuschreibungen im Vordergrund. Analoges Fernsehen und digitale Angebote treten in dieser strikten Kontrastierung lediglich als Topoi in Erscheinung. Dieser Vorgang erinnert an das viel zitierte Beispiel „China“, das Roland Barthes in seinem berühmten Werk „Mythen des Alltags“ (1957) verwendet, um die mythische Bedeutung von Begriffen zu erläutern. Demnach umfasst der Mythos „China“ abseits dessen, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse im Land darstellen, all jene Vorstellungen, die sich „bis vor noch nicht langer Zeit ein französischer Kleinbürger“ vom Begriff „China“ gemacht hat. Er umfasse dann „jene besondere Mischung von Glöckchen, Rikschas und Opiumhöhlen“ 20 und damit Imaginationen, Behauptungen, Erfahrungen und Stereotype, die als kulturelle Formation und gemeinschaftlicher Konsens für das fernöstliche Land angenommen werden. Was folglich mit dem Begriff „China“ verbunden wird, ist seine kollektive, gesellschaftlich verhandelte Aufladung, die auf einer historisch gewachsenen, diffusen und verkürzten Vorstellung des komplexen Gegenstands basiert. In dieser Verkürzung liegen zugleich der Reiz des Mythos und die Grundbedingung für seine hartnäckige Verbreitung und Verfestigung. Schließlich werden durch ihn vielschichtige Gegenstände überhaupt erst (er)fassbar, denn der Mythos… […] beseitigt die Komplexität der menschlichen Handlungen, verleiht ihnen die Einfachheit der Wesenheiten, unterdrückt jede Dialektik, jeden Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare; er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, ausgebreitet in der Evidenz; er legt den Grund für eine glückliche Klarheit. Die Dinge tun so, als bedeuteten sie von ganz allein.21

Diese vermeintliche Klarheit ist jedoch nur eine scheinbare. Die darin ausgedrückten Vorstellungen sind nämlich allenfalls vage und konturlos, denn… […] das im mythischen Begriff enthaltene Wissen [ist] wirr, ein aus unscharfen, unbegrenzten Assoziationen bestehendes Wissen. Man muß diese Offenheit des Begriffs betonen; er ist keineswegs eine abstrakte, gereinigte Essenz, sondern ein form-

20 | Barthes: Mythen des Alltags, S. 266. 21 | Ebd., S. 296.

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loser, instabiler, nebelhafter Niederschlag; seine Einheit und sein Zusammenhang sind vor allem funktional bedingt.22

Hierin zeigt sich, dass Begriffe nicht verlässlich sein können, weil sie eben nicht die Sache selbst sind und auch keine neutrale Instanz bilden. Stattdessen sind sie aufgefüllt mit Erwartungen, Zuschreibungen und Vorstellungen, die sich performativ noch verfestigen, je öfter der Begriff und seine Aufladungen verwendet werden. Der Mythos pflanzt sich fort, in dem Moment, in dem man über ihn spricht. Barthes zieht aus dieser Feststellung letztlich die Konsequenz, dass die Verwendung von Wortschöpfungen unvermeidlich ist, um diesem Dilemma zu entkommen. Nur die Nutzung von Neologismen ermöglicht ein Sprechen über Mythen, ohne sie dabei selbst noch zu befördern. Sie ermöglichen eine Offenlegung der zugrundeliegenden Mechanismen und setzen diesen zugleich ein nutzbares Konzept entgegen. Für die mythische Vorstellung von China schlägt Barthes daher den Begriff der „Sinität“ vor. Mit dem Begriff des „Digitalen“ verhält es sich nun in ähnlicher Weise wie mit dem Begriff „China“, denn auch seine Zuschreibungen haben sich längst vom technischen Ursprung einer 0-und-1-Operation entkoppelt und repräsentieren mittlerweile all die aufgezeigten Hoffnungen und Utopien um (Inter-)Aktivtät, Freiheit, Individualität und Flexibilität. Jan Distelmeyer spricht sich daher in mehreren Publikationen dafür aus, die mythische Aufladung des „Digitalen“ ebenso durch die Nutzung eines Neologismus zu verdeutlichen und schlägt dafür den Terminus der „Digitalizität“ vor. 23+24 Um diesen mythischen Begriff [des Digitalen], der mehr vor- als beschreibt, nicht zu reproduzieren und ihn dennoch zu verhandeln, um seine Strahlkraft zu untersuchen, habe ich mich im Rückgriff auf Roland Barthes und Tom Holert für den Neologismus Digitalizität entschieden. Mythische Begriffe operieren auf ihre Art. Sie stellen her, was sie vermeintlich nur repräsentieren. Darum soll mit Digitalizität explizit von jener Aufladung gesprochen werden, die sonst eher implizit mitspricht und diese kulturelle Formation gleichsam natürlich erscheinen lässt.25

22 | Ebd., S. 264. 23 | U.a. In: Distelmeyer: Machtzeichen, S. 98ff; Oder in: Distelmeyer: Digitalisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 171; Oder in: Distelmeyer: Das flexible Kino, S. 174. 24 | Den Begriff „Digitalizität“ leiht Distelmeyer von: Holert: Globodigitalizität, S. 14ff. 25 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 99.

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In den zitierten Charakterisierungen von Netflix und YouTube werden diese Marken wiederholt mit Zuschreibungen und Erwartungen wie Unabhängigkeit, Zeitsouveränität, Ermächtigung oder Passgenauigkeit verbunden und befördern ein mythisches Verständnis von On-Demand-Angeboten, das sich fortlaufend reproduziert und eng mit den Vorstellungen der Digitalizität verwoben ist. Zugleich transportieren die Marken jene inhaltliche und visuelle Nähe zum analogen Fernsehen, das zwar mit sicherem Abstand, aber dennoch stets in Sichtweite zu den digitalen Angeboten verortet wird. Ihre mythische Aufladung bezieht sich daher sowohl auf die digitalizitären „Whatever-Whenever-On-Whatever-ScreenYou-Want“-Versprechungen als auch auf jene Nähe-und-Distanz-Relation zwischen den neuen On-Demand-Angeboten und dem alten analogen Fernsehen.

TELEVISIONIZITÄT Um diese spezifische mythische Kopplung zwischen Fernsehen und Digitalizität, die im Zentrum der Wahrnehmung von Angeboten wie Netflix und YouTube steht, sprachlich fassen zu können, soll für sie als direkte Antwort auf Distelmeyers Vorschlag im Folgenden der Begriff der „Televisionizität“ genutzt werden. Sie beschreibt eine Fernsehhaftigkeit, die sich in den digitalen Umgebungen von On-Demand-Angeboten präsentiert. Sie umfasst die Modifikationen und Erweiterungen, die aus einem veränderten technischen Vollzug gewährt werden, aber auch die dabei beständig betriebene inszenierte Nähe zum Fernsehen. Der Begriff verhandelt somit die digitalizitären Verheißungen bezüglich Freiheit, Individualität und Flexibilität, die sich dennoch eng an den Vorstellungen des Fernsehens orientieren. Er soll zum Ausdruck bringen, dass mediale Umgebungen wie Netflix und YouTube zwar als Fernsehen inszeniert werden, zugleich aber kein Fernsehen sind und auch keines sein wollen. Auf diese Weise stehen sie sowohl für die Zukunft als auch für das Ende des Fernsehens.26 Televisionizität beschreibt also jenes in den On-Demand-Plattformen zu beobachtende Fernsehen jenseits des Fernsehens. Es handelt es sich um ein Fernsehen, das sich entkoppelt hat von einem TVSignal, von festen Sendezeiten und Ausstrahlungsrhythmen, von Programmabläufen und Programmzeitschriften, von Sendern und Sendeanstalten, von Redaktionsstrukturen und Einschaltquoten, von Staatsverträgen und Rundfunkbeiträgen. Es ist ein Angebot, das sich unabhängig von Satellitenantennen, Kabelan-

26 | Arnold: Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy. In: McDonald / Smith-Rowsey (Hrsg.): The Netflix Effect, S. 50.

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schlüssen und Fernsehapparaten in heimeligen Wohnstuben entfaltet. Ein Angebot, das dennoch genügend Bezugspunkte aufweist, um als eine Version von Fernsehen wahrgenommen zu werden. Fernsehen wird hier in dialektischer Weise zum Referenzrahmen erhoben und zugleich als Antagonist für die eigene Abgrenzung in Stellung gebracht. Die zitierten Angebote inszenieren sich als eine Intervention gegen das Fernsehen und bilden zugleich dessen Optimierung aus. Diesen scheinbar gegenläufigen Zustand von simultaner Nähe und Distanz gilt es zu beschreiben. Und es gilt zu ergründen, wodurch Fernsehen ausgerechnet dort zum Ausdruck kommt, wo mit Vehemenz beteuert wird, es überwinden zu wollen.

PROJEKT: FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE Die vorliegende Diskussion will wesentliche Differenzen und Verschiebungen zwischen den Untersuchungsgegenständen freilegen und den genannten marketingstrategischen oder journalistischen Zuschreibungen eine (medien-)wissenschaftlich fundierte Analyse gegenüber stellen. Dabei wird weniger ein Beweis dafür angestrebt, dass die Online-Dienste über viele Gemeinsamkeiten mit dem Fernsehen verfügen und daher als etwas Ähnliches wahrgenommen werden, denn diese Annahme bildet das Fundament der Untersuchung. Vielmehr sollen mithilfe einschlägiger Fernsehtheorien Anordnungen wie Netflix und YouTube ausführlich auf ihre Fernsehhaftigkeit hin untersucht werden, um zu identifizieren, welche vormals dem Fernsehen zugeschriebenen Eigenschaften von ihnen übernommen werden und inwiefern sich dabei Verschiebungen ergeben. Auf welche Weise zeigt sich die wahrgenommene Fernsehartigkeit der Dienste? Woraus speist sie sich? Welche Gemeinsamkeiten sind erkennbar und inwiefern unterscheidet sich die Fernsehartigkeit von YouTube und Netflix von jener originären Fernsehartigkeit des Fernsehens? Oder kurz: Wie viel altes Fernsehen steckt in den neuen Angeboten? Die Beantwortung dieser Fragen wird immer wieder an die Anfänge der besprochenen Plattformen zurückführen und sich die Argumentation damit häufig auf Beispiele und Texte aus einer Zeit stützen, in denen sich die internetbasierten Angebote gerade begannen, für ein breites Publikum zu etablieren. Schließlich – so die Annahme – wurden damals bereits strategische Ausrichtungen und technische Grundlagen in die Dienste eingeschrieben, die ihren Gebrauch noch heute prägen. Sie bestimmen oft, welche Versprechungen und Erwartungen noch immer mit On-Demand-Plattformen verbunden werden.

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In der Auseinandersetzung wird zudem die Auffassung unter Druck geraten, was (noch) zu verstehen ist unter dem Medium, das einst als Fernsehen bekannt war („a Medium Once Known as Television“27). Daher soll sie zugleich dazu dienen, ein Verständnis von Fernsehen zu entwickeln, das jene televisionizitären Neuformierungen und die mit ihr einhergehende Abkehr von einst konstitutiven Elementen berücksichtigt. Das Ziel besteht darin, eine Sichtweise auf Fernsehen aufzuspannen, die sowohl altes Fernsehen als auch neue televisionizitäre Angebote umfasst und damit weder auf institutionellen, inhaltlichen und strukturellen Parametern fußt, noch sich aus einem Konnex zum Rundfunk ableitet. Im Fokus steht damit letztlich die banal klingende, aber komplexe Frage, was Fernsehen im Zeitalter von Netflix und YouTube ist. Die angestrebte Spurensuche nach Fernsehhaftigkeit in fernsehfremden Umgebungen zielt jedoch weniger darauf ab, welche Inhalte und Umgebungen dem Fernsehen (noch) zuzuordnen sind. Fruchtbarer erscheint die Fragestellung, inwieweit Angebote fernsehhaft arrangiert und präsentiert werden; ob sie als fernsehhaft wahrgenommen werden. Fernsehen wird auf diese Weise zu einer Frage der Inszenierung und arrangiert sich um spezifische Formen, wie Inhalte gestaltet, aufbereitet und getaktet werden. Es gerät in dieser Auffassung zu einem ästhetischen Moment, das auch in diesem Sinne einer Analyse unterzogen und als solcher beschrieben werden muss. Es wandelt sich in diesem Verständnis zu einem Format und damit zu einem Zustand, der als eine neue Version von Fernsehen aufgefasst werden kann. Die Arbeitsweise folgt hierbei im geografischen und kulturellen Sinne einer mitteleuropäischen (deutschsprachigen) Prägung und wird sowohl Fernsehen als auch die On-Demand-Angebote aus dieser kulturellen Tradition heraus fassen, die wiederum eng mit der anglo-amerikanischen Kultur verschränkt ist. Das Augenmerk wird daher insbesondere auf deutschsprachige Angebote gelegt sowie auf jene, die in Deutschland empfang- oder abrufbar sind. Dementsprechend sind vorrangig Texte von deutschsprachigen oder anglo-amerikanischen Autor*innen zitiert. Die Auswahl der herangezogenen Theorien und Belege sind das Ergebnis komplexer Entscheidungsprozesse auf Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit einem umfangreichen Materialkorpus. Aller wissenschaftlichen Gründlichkeit und methodischer Abwägung zum Trotz handelt es sich dabei letztendlich um subjektive Entscheidungen, die ebenso zugunsten anderer Autor*innen, anderer Publikationen oder anderer Beispiele ausfallen könnten. Eine nur leicht veränderte Akzentuierung würde an entscheidender Stelle zu weitreichenden

27 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 24.

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Verschiebungen der Untersuchung führen. Zur Nachvollziehbarkeit und aus wissenschaftlicher Transparenz sind die getroffenen Entscheidungen stets dokumentiert. Insofern versteht sich die Arbeit in Teilen oder insgesamt ausdrücklich als Diskussionsbeitrag und -anstoß, der eine mögliche Deutungs- und Interpretationsweise von On-Demand-Diensten anbietet.

UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND: ON-DEMAND-ANGEBOTE Sogenannte On-Demand-Angebote sind internetbasierte Dienste, die audiovisuelle Beiträge für einen individuellen und jederzeitigen Abruf bereitstellen.28 Oft wird für sie ebenso das Synonym „Streaming-Dienst“ verwendet, wobei dieser Begriff sprachlich weniger auf die Abrufmöglichkeit abzielt, sondern auf die technische Beschaffenheit der Übertragung. Gleichwohl sind beide Ausdrücke eng miteinander verknüpft. Für die Etablierung von solchen Umgebungen bildet ein optimierter Videostream nämlich die entscheidende Voraussetzung und damit eine Technik, die eine „simultane und gekoppelte Übertragung und Wiedergabe“ erlaubt.29 Dadurch ist eine Datei bereits zu nutzen, auch wenn sie noch nicht vollständig heruntergeladen ist.30 Hierbei wird das entsprechende Video in kleinen Datenpaketen abgerufen, die sich nach ihrer Sichtung verflüchtigen und anschließend keine Spur auf den Festplatten und Endgeräten der Nutzenden hinterlassen.31 Längst haben sich On-Demand-Angebote bei Millionen von Nutzenden weltweit durchgesetzt und sie ergänzen ihre Media-Sets in selbstverständlicher Weise. Sie als neue Umgebungen zu beschreiben, bleibt eigentlich nur noch in der Abtrennung zu anderen, früher eigenführten medialen Umgebungen stimmig. Für den mittlerweile umfangreichen Markt an Anbietern werden zwei exemplarische Stellvertreter ausgewählt, um nicht nur über allgemeine Anordnungen sprechen, sondern konkrete Untersuchungsgegenstände heranziehen zu können. Dieser Zugewinn an Anschaulichkeit und Konkretheit erfolgt um den Preis, dass die gewonnen Erkenntnisse zuweilen nicht ohne spezifische Anpassungen auf andere Angebote übertragen werden können.

28 | on demand = auf Nachfrage. 29 | Krautkrämer et. al.: Editorial. Von Strömen und Sturzbächen. In: montage AV, S. 5. 30 | Robinson: Television On Demand, S. 25. 31 | Prelinger: The Appearance of Archives. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 269.

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Derzeitig lässt sich das Spektrum der Anbieter stark vereinfacht in zwei Ausprägungen kategorisieren. Der eine Kreis ist durch solche Angebote gekennzeichnet, deren Inhalte ausschließlich durch die Betreibenden (also aus einer Quelle) befüllt werden und bei denen Nutzende ihre individuelle Auswahl lediglich aus einem begrenzten Angebot („a finite datalogue of content from which the viewer selects“32) treffen können. Ihre Nutzung ist oft mit einem gebührenpflichtigen Abonnementen-System verbunden, das ausschließlich zahlenden Kund*innen einen Zugang zum Videoarchiv gewährt, in dem dann Titel frei von Werbeunterbrechungen für einen jederzeitigen und wiederholten Abruf bereit stehen. Zu ihnen gehören Dienste wie Amazon Prime Video, JoynPlus, Hulu, Crackle, Apple TV+ oder Disney+33, die meist sowohl eigenproduzierte als auch lizensierte Inhalte anbieten. Für sie soll das Angebot Netflix als exemplarischer Stellvertreter herangezogen werden, weil es durch die erste Produktion einer eigenen (Fernseh-)Serie eine Vorreiterstellung einnimmt. Mit seinem Ursprung als Unternehmen für den Verleih und Versand von DVD-Filmen richtet Netflix seine Auswahl konsequent auf HollywoodBlockbuster und aufwendige Titel von Major Studios aus. In der Folge sind auf der On-Demand-Plattform ausschließlich professionelle Hochglanz-Produktionen und weder Amateur-Videos noch halblegale Mitschnitte zu finden. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Angebot von Netflix soll immer wieder anhand der Serie HOUSE OF CARDS vorgenommen werden. Diese ist derart eng mit der Etablierung von Netflix als On-Demand-Service verwurzelt ist, dass sie als kennzeichnend für die Wesenszüge des Anbieters vermutet werden kann. Schließlich setzte die „flagship show“34 den Ton für die strategische Neuausrichtung des Unternehmens, das sich seit 2013 verstärkt über Eigenproduktionen und

32 | Arnold: Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy. In: McDonald / Smith-Rowsey (Hrsg.): The Netflix Effect, S. 51. 33 | In diese Kategorie lassen sich ebenso die Mediatheken von ARD / ZDF sowie einiger privater Rundfunkanbieter einordnen, die ihr Angebot kostenfrei zur Verfügung stellen. Ein Upload von Videos durch Nutzende ist dort in der Regel nicht vorgesehen. 34 | Sternbergh: The Post-Hope Politics of ‚House of Cards‘. In: New York Times Magazine (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/1egx66n [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Den Begriff „flagship“ verwendet auch: Coyle: Netflix Show ‚House Of Cards‘ Is A Big Gamble. In: The Huffington Post (Online-Ausgabe). Unter: http://www.huffingtonpost.com/2013/01/24/netflix-show-house-of-cards_n_ 2545332.html [aufgerufen am 15. April 2015].

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exklusive Inhalte („own original programming“ 35) in Anschlag zu dem bringt, was bisher unter dem Begriff Fernsehen verstanden wurde. „Es ist das Werk“, um es mit Worten des Journalisten Michael Hanfeld auszudrücken, „mit dem die Online-Plattform Netflix [...] das klassische Fernsehen herausfordert.“ 36 Diesen weitestgehend geschlossenen Systemen gegenüber stehen Angebote, deren Inhalte von den Nutzenden selbst online gestellt werden können und deren Umfang auf diese Weise potenziell unendlich ist. Hierbei ist es unerheblich, ob es sich bei den veröffentlichenden Instanzen um Amateure oder professionelle Firmen handelt. Entscheidend ist, dass auf den Seiten die Videos von vielfältigen Quellen stammen und ihre Auswahl nicht ausschließlich von den Seitenbetreibenden getroffen wird. Diese Angebote erlauben in der Regel eine entgeltfreie Nutzung und finanzieren sich durch die Einbindung von Werbung im Umfeld der Videos. Zu ihnen können die Seiten und Applikationen von Vimeo oder Dailymotion ebenso gezählt werden wie die Netzwerke Facebook, Instagram, TikTok oder Snapchat. Mit etwa zwei Milliarden Videoaufrufen pro Tag dominiert YouTube dieses Segment und gilt längst als Standard für onlineverfügbares Bewegtbild („the default online moving-image archive“37), weswegen dieses Beispiel als Anschauungsobjekt dienen soll. Die Herausforderung wird darin liegen, aus dem umfangreichen, nicht zentral kuratierten und stetig wachsenden Angebot,38 solche Videos und Kanäle auszuwählen, die als exemplarisch für die Funktions- und Wirkungsweisen der gesamten Seite gelten. Dies wird im Laufe der Untersuchung an den entscheidenden Stellen erläutert. Eine besondere Betrachtung erfahren sogenannte Videoblogs (kurz: Vlogs), die das Feld des UserCreated-Contents dominieren und in vieler Hinsicht als die markanteste Gattungen der Seite gelten.39

35 | Stanley: Political Animals That Slither. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2rI7kpm [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 36 | Hanfeld: Der Haifisch liebt das Blut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (OnlineAusgabe). Unter: http://www.faz.net/-gqz-7j8p5 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 37 | Prelinger: The Appearance of Archives. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 269. 38 | Gemäß dem unternehmenseigenen Blog wird pro Minute mehr als 100 Stunden neues Videomaterial hochgeladen. (The YouTubeTeam: Here’s to eight great years. In: Official Blog. Broadcast Yourself. Unter: https://youtube.googleblog.com/2013/05/ heres-to-eight-great-years.html [aufgerufen am 27. Januar 2020]). 39 | Burgess / Green: The Entrepreneurial Vlogger. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 94 & 96.

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YOUTUBE UND NETFLIX ALS FERNSEHEN Eine enge Beziehung zwischen YouTube und Fernsehen resultiert für William Uricchio schon daraus, dass die mediale Essenz beider Anordnungen in der Veröffentlichung und Verbreitung von audiovisuellem Material („core business that turns on the distribution of videos“40) besteht. Verstärkt wird dieser Effekt für die Autoren Pelle Snickars und Patrick Vonderau noch dadurch, dass ein Großteil der über YouTube abrufbaren Videos ihren Ursprung im Fernsehprogramm hat und bereits dort ausgestrahlt wurde.41+42 Zusätzlich zu diesen von Außenstehenden formulierten Gemeinsamkeiten knüpft die Plattform selbst an einige technisch, inszenatorisch und rhetorisch vertraute Muster an und sucht in diesem Vorgehen geradezu die Nähe des Fernsehens. Zu diesen Rückgriffen zählt William Uricchio neben der im Namen des Unternehmens ausgeführten Referenz auf frühere Bildröhren („the discursive resonance of the ‚Tube‘ in ‚YouTube‘“) auch die Aufteilung des Angebots in Kanäle („structuring of content into ‚channels‘“) sowie den vorgenommenen Verweis auf Fernsehübertragungen im lang genutzten Slogan „Broadcast Yourself“.43 Jan Distelmeyer erweitert diese Aufzählung um die Gestalt des Videoabspielfensters, das mit seinem 16:9-Verhältnis auf ein reines Fernsehformat und gerade keinen Kinostandard aufsetzt.44 Hierdurch wird die Übertragung des eigenen Angebots auf ein Fernsehgerät begünstigt, die das Unternehmen seit 2009 als einen technischen Ausspielweg in seine Software-Applikationen integriert hat45 und seinen Nutzenden kostenlos zur Verfügung stellt. Seitdem können sich YouTube-Videos

40 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 26. 41 | Snickars / Vonderau: Introduction. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 15. 42 | Mit dieser Einverleibung von nicht originär für die Plattform produzierten Inhalten, durchläuft YouTube gemäß Joan Kristin Bleicher eine ähnliche Entwicklung wie das Fernsehen, bei dem anfangs ebenso bestehende kulturelle und mediale Angebote integriert wurden, bevor sich erst „im Verlauf der 1950er Jahre schrittweise eigenständige Angebotsformen“ herausbildeten. (Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 178f.) 43 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 26. 44 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 132. 45 | Snickars / Vonderau: Introduction. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 15.

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und Fernsehprogramm zusätzlich zu ihren inhaltlichen und rhetorischen Überschneidungen auch eine gemeinsame Geräteoberfläche teilen.46 Andersherum bietet die Plattform unter dem Titel „YouTube TV“ einen kostenpflichtigen Zusatzdienst an, über den (bisher nur in den USA) das laufende „Live“-Programm der 60 größten TV-Sender unabhängig vom Vorhandensein eines TVAnschlusses angesehen werden kann. Eine Verbindung zwischen Fernsehen und Netflix stellt auch Kevin Spacey in seiner Keynote auf dem Edinburgh Television Festival zumindest auf sprachlicher Ebene her. Um das kreative Potenzial des Unternehmens zu betonen, verweist er nicht auf andere Webserien, nicht auf Filme, nicht auf Romane und nicht auf andere serielle Formen. Stattdessen verweist er ausschließlich auf die Fernsehproduktionen THE SOPRANOS, RESCUE ME, HOMELAND, SIX FEET UNDER, DEXTER, DAMAGES, SONS OF ANARCHY, OZ, THE WIRE, TRUE BLOOD, BOARDWALK EMPIRE, MAD MEN, GAME OF THRONES und BREAKING BAD.47 Durch die Auswahl dieser Referenzen und die von ihm vorgenommene Einreihung von HOUSE OF CARDS in diese Aufzählung, misst er seine Serie ebenso nach Fernsehmaßstäben. Dies ist jedoch keine einmalige Unachtsamkeit, denn mindestens an zwei anderen Stellen, beschreibt er HOUSE OF CARDS als eine Fernsehserie, obwohl sie nicht im Fernsehen stattfindet: I just sort of entered into television even though we’re the new television show that isn’t on television.48 und It’s sort of like we’re the new television series that isn’t on television.49

46 | Eine Übertragung von Videos, Filmen und Serien auf ein Fernsehgerät bietet das Unternehmen Netflix seinen Abonnenten durch Kooperationen mit Google Chromecast, Amazon Fire TV und zahlreichen Herstellern von Fernsehapparaten ebenso an. 47 | Edinburgh Television Festival: Kevin Spacey | James MacTaggart Lecture 2013 | EITF. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/oheDqofa5NM [aufgerufen am 27. Januar 2020], ca. 13:45 Min. 48 | Transkript des Videos: Edinburgh Television Festival: GEITF 2013 – The Post MacTaggart Interview: Kevin Spacey. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ oheDqofa5NM [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 49 | Coyle: Netflix Show ‚House Of Cards‘ Is A Big Gamble. In: The Huffington Post (Online-Ausgabe). Unter: http://www.huffingtonpost.com/2013/01/24/netflix-showhouse-of-cards_n_2545332.html [aufgerufen am 15. April 2015].

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In zahlreichen journalistischen Besprechungen der Serie lassen sich ähnliche Gleichnisse finden, etwa indem Matt Roush sie als „feels like first-rate TV“50 beschreibt, indem Brian Lowry sie als „credible, premium-TV-worthy exercise“51 deklariert oder indem Jake Coyle die Serie bereits mit ihrer ersten Staffel als „immediately ready for TV-viewing gluttony“52 einstuft. In allen drei Aussagen wird deutlich, dass die Produktion nicht bloß als eine einfache Fernsehserie, sondern sogar als eine herausragende Fernsehserie – als eine Idealform des Genres – wahrgenommen wird. Offenbar knüpft sie in ihrer Ästhetik, Narration und Struktur entgegen allen formulierten Abgrenzungsbemühungen dennoch nahtlos an das an, was historisch mit dem Begriff Fernsehen verbunden wird. Diese feste Anbindung der Serie an das Fernsehen setzt sich bis in den zugehörigen englischsprachigen Eintrag von Wikipedia fort, wo neben dem Titel der Zusatz „U.S. TV series“ vermerkt ist.53 Mit dem Wort „Fernsehserie“ trug der entsprechende deutsche Eintrag für lange Zeit einen vergleichbaren Zusatz.54+55

50 | Roush: The Weekend Playlist. In: TV Guide (Online). Unter: http://www.tvguide. com/news/weekend-playlist-cards-1060203/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 51 | Lowry: Review: ‚House of Cards‘. In: Variety (Online). Unter: http://variety.com/ 2013/tv/reviews/house-of-cards-1117949118/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 52 | Coyle: Netflix Show ‚House Of Cards‘ Is A Big Gamble. In: The Huffington Post (Online-Ausgabe). Unter: http://www.huffingtonpost.com/2013/01/24/netflix-showhouse-of-cards_n_2545332.html [aufgerufen am 15. April 2015]. 53 | (Art.) House of Cards (U.S. TV series). In: wikipedia.org (Englische Ausgabe). Unter: https://en.wikipedia.org/wiki/House_of_Cards_%28U.S._TV_series%29 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 54 | (Art.) House of Cards (Fernsehserie). In: wikipedia.org (Deutsche Ausgabe). Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/House_of_Cards_%28Fernsehserie%29 [aufgerufen am 21. September 2018]. 55 | Diese Einordnung war unter den Wikipedia-User*innen äußerst umstritten, wie den Versionsgeschichten des Eintrags zu entnehmen ist. Seit seiner Aufsetzung ist er mehrfach von der Kategorie „Webserie“ auf „Fernsehserie“ und umgekehrt verschoben worden. Jede Änderung wurde mit einer ausführlichen Diskussion unter den User*innen begleitet. Bezog sich die Debatte anfangs ausschließlich auf die Einordnung der Serie HOUSE OF CARDS, entwickelte sich daraus bald die grundsätzliche Fragestellung, wie mit Serien umzugehen ist, deren ursprüngliche Erstveröffentlichung auf einem Online-Dienst erfolgt. Im April 2019 wurde diese Diskussion schließlich dadurch aufgelöst, dass jeglicher Zusatz entfernt wurde und er nun schlicht unter dem Titel „House of Cards“ geführt wird.

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Abbildung 2: Titel der deutsch- und englischsprachigen Wikipedia-Einträge.56 Darüber hinaus wurde allein die erste Staffel der Serie dreifach mit dem amerikanischen Emmy-Award geehrt was sie zur ersten „online only show“ beförderte, die mit einem solchen Preis bedacht wurde.57 Bei dem Emmy handelt es sich jedoch um eine Auszeichnung, die von der Academy of Television Arts & Sciences vergeben wird und folglich herausragende Leistungen im Bereich des Fernsehens honoriert. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Nähe zum Fernsehen leistet die Serie dabei selbst, ist doch zu Beginn jeder Episode darin zu lesen: „Created For Television By Beau Willimon“.

Abbildung 3: Im Vorspann ordnet sich die Netflix-Serie HOUSE OF CARDS selbst dem Bereich Fernsehen zu.58

56 | Screenshots von den Einträgen [angefertigt am 21. September 2018]. 57 | Sottek: Netflix challenges the TV establishment with Emmy wins for ‚House of Cards‘. In: The Verge (Online-Ausgabe). Unter: http://www.theverge.com/2013/9/22/ 4759754/netflix-challenges-the-tv-establishment-with-emmy-wins-for-house-of [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 58 | Screenshot aus dem Vorspann der Serie HOUSE OF CARDS.

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Zwar erscheinen die Angebote von Netflix und YouTube aufgrund ihrer voneinander abweichenden Historie, ihrer unterschiedlichen ästhetischen Erscheinungen sowie in den Graden, in denen die Zusammensetzung des Programms durch die Nutzenden mitbestimmt werden kann, als zueinander stark divergente mediale Anordnungen. Sie eint jedoch, dass sie inhaltliche, inszenatorische sowie strukturelle Parameter des Fernsehprogramms und damit spezifische Strategien des Fernsehens aufgreifen, um daraus eine Wiedererkennbarkeit abzuleiten und einen Orientierungspunkt für das eigene Angebot zu markieren. Es ist dieser geteilte Fixpunkt, der eine Verbindung zwischen den beiden grundverschiedenen Umgebungen herstellt; es ist ihre jeweilige ausgestellte Fernsehhaftigkeit, die ihre gemeinsame Untersuchung im vorliegenden Buch rechtfertigt.

FERNSEHEN ALS BEZUGSSYSTEM Wenn in der nachfolgenden Auseinandersetzung Fernsehen zum Lineal erhoben wird, an dem sich On-Demand-Angebote wie Netflix und YouTube ausrichten, stellt sich die Frage, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist. Diese Frage ist diffizil, handelt es sich beim Fernsehen doch um einen komplexen und in mehrfacher Hinsicht volatilen Gegenstand, dem es zudem an einer „autorisierten Geschichte“ 59 mangelt. So ist es etwa medienwissenschaftlich und kulturhistorisch nicht selten in eine Linie mit dem (Kino-)Film gestellt worden, wodurch vor allem die gemeinsame Nutzung von audiovisuellen und bewegten Bildern in den Fokus der Betrachtung rückt. Der amerikanische Medienwissenschaftler William Uricchio plädiert jedoch dafür, Fernsehen aus dieser für ihn limitierenden kinematographischen Tradition herauszulösen und in einer historischen Analyse den Blick ebenso auf die Zeiterfahrung zu richten.60 Mit seiner Fähigkeit, Informationen in ein und demselben Zeitpunkt einfangen und ausstrahlen zu können, stünde das Fernsehen dem Telegraphen erheblich näher als dem Kino, das ausschließlich mit lange vor einer Aufführung aufgezeichneten Bildern operiert. Bei der Erfindung der Nipkow-Scheibe als eine technische Grundlage des Fernsehens61 wäre demnach die Tatsache weniger bedeutend, dass mit ihr visuelle Informationen kodiert, übertragen und dekodiert werden konnten, als die Möglichkeit, dass dieser komplexe Prozess mithilfe der Apparatur nahezu simul-

59 | Keilbach: Die vielen Geschichten des Fernsehens. In: montage AV, S. 32. 60 | Uricchio: Medien, Simultaneität, Konvergenz. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 289ff. 61 | Ebd., S. 294.

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tan erfolgte. Der deutsche Medienwissenschaftler Knut Hickethier verweist hingegen in seinen Darstellungen des Fernsehprogramms häufig auf dessen Ähnlichkeit mit dem Programm des Radios, das ebenfalls von einer „Tendenz zur Aufhebung aller zeitlichen Begrenzungen“ und einem „Drang nach Unendlichkeit“ gekennzeichnet sei.62 Autor*innen wie Neil Postman63 oder Manfred Spitzer64, welche die televisionäre Technologie vor allem kritisieren und als gefährlich einstufen, charakterisieren sie und ihr Programm wiederum häufig im Kontrast zum Buch oder zur Literatur vergangener Jahrhunderte, woraus sie eine geringe narrative Komplexität des Mediums ableiten. Die spezifische visuelle Leistungsfähigkeit des Fernsehens bleibt hierbei oft unberücksichtigt und wird wahlweise zur hektischen Überforderung oder inhaltsverdrängenden Nebelkerze degradiert. Viele weitere Konstellationen ließen sich ergänzen, um zu verdeutlichen, welche weitreichenden Differenzen sich aus verschiedenen historischen Blickwinkeln auf Fernsehen ergeben. Zu diesem Ergebnis kommt schließlich auch William Uricchio wenn er schreibt: Over the past 130 years, television has been imagined and deployed as a set of practices that make use of a shifting technological base, including the telephone, radio, film and, most recently, the networked computer. Each of these dispositifs brought certain affordances to light, and each inflected these concepts in distinctive ways. 65

Aus einer identischen Herleitung heraus, schätzt die Medienwissenschaftlerin Judith Keilbach „die Geschichte des Fernsehens für unerreichbar“ ein. Sie schlägt stattdessen für das Fernsehen vor, „Geschichten, in denen seine Vielfalt berücksichtigt und seine Heterogenität offensichtlich wird“, zu erzählen.66 Die eindeutige Bestimmung des Gegenstands Fernsehens aufgrund seiner Historie schlägt somit fehl, weil er sich gerade nicht nur in eine historische Linie einordnen lässt und jeder Versuch einer Fixierung von der jeweils gewählten Perspektive in Abhängigkeit steht. Alternativ ließe sich Fernsehen über die Beschreibung charakteristischer Eigenschaften definieren. Hierbei wäre es hilfreich, wenn sich eine zeitliche Konstanz bezüglich der relevanten Merkmale er-

62 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S. 424. 63 | U.a. In: Postman: Das Verschwinden der Kindheit. 64 | U.a. In: Spitzer: Vorsicht Bildschirm! 65 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 35. 66 | Keilbach: Die vielen Geschichten des Fernsehens. In: montage AV, S. 38.

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kennen ließe, um auf diese als verlässliches Gerüst aufbauen zu können. Genau diese Stetigkeit fehlt dem Gegenstand Fernsehen jedoch, denn… […d]ie historische Betrachtung macht sichtbar, daß sich das Fernseh-Dispositiv mehrfach gewandelt hat und wieder neuen Veränderungen unterworfen ist […].67

Allein in den 1990er Jahren – konkretisiert Joan Kristin Bleicher diese Aussage – haben sich durch „Digitalisierung, Frequenzerweiterungen sowie Entwicklungen der Produktions- und Empfangstechnik das Fernsehen und seine Ordnungsmodelle grundlegend“68 verändert. Für William Uricchio sind es Erweiterungen wie die Einführung des Kabelfernsehens, die Durchsetzung der Fernbedienung oder das Aufkommen von heimischen Aufzeichnungstechniken, durch welche die Fernseherfahrung einen stetigen Wandel („changing ‚regime of representations of television‘“) erfahren hat.69 Die Erfindung der Magnetaufzeichnungstechnik, die den Sendern ermöglicht, flächendeckend Aufzeichnungen auszustrahlen und nicht ständig live senden zu müssen, die Ausweitung des Angebots auf ein 24-stündiges Programm, die Ablösung von hochfrequenten Funkwellen durch digitale Datenpakete, das Hinzutreten von PayTV-Angeboten, auf denen bestimmte Filme zu konkreten Zeiten abgerufen bzw. freigeschaltet werden können oder der Ersatz der 4:3-Röhren-Mattscheiben durch HD-fähige 16:9-LEDBildschirme mit Diagonalen über 50 Zoll könnten Uricchios Aufzählung vollenden. Solche „vielfältigen und fortlaufenden Modifikationen, denen das Fernsehen in seiner bisherigen Geschichte durchgehend ausgesetzt war“ 70, machen es definitorisch schwer fixierbar, weswegen die genannten Autor*innen für die Beschreibung dynamische Modelle entwickeln. Markus Stauff führt diesen Gedanken fort und erhebt die Wandelbarkeit und Unstetigkeit des Mediums sogar zu dessen „konstitutivem Faktor“. 71 Zu diesen stetig voranschreitenden Veränderungen in seiner dispositiven Anordnung tritt die hohe Komplexität des Gegenstands hinzu. So wird FERNSEHEN (bewusst in einer Schreibweise, die sowohl Substantiv als auch Verb sein kann)

67 | Hickethier: Dispositiv Fernsehen. In: montage AV, S. 81. 68 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 181. 69 | Uricchio: Television & Next Generation: In: Spigel / Olsson (Hrsg.): Television after TV, S. 168. 70 | Stauff: Das neue Fernsehen, S. 8. 71 | Ebd.

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je nach gewählter wissenschaftlicher Perspektive als unterschiedliches Phänomen wahrgenommen: Denn Fernsehen ist Technik, Institution und Programm, aber eben auch Seismograph der Gesellschaft, ‚Produkt der gesellschaftlichen Modernisierung und zugleich Transmissionsriemen sozialer Veränderungen‘, Medium der Öffentlichkeit, Kulturtechnologie, ein Modus der Weltwahrnehmung, ein Gerätekasten im Wohnzimmerschrank, eine ästhetische Erfahrung, ein Dispositiv, Teil eines medialen Ensembles, Bilder & Töne, Alltagspraxis, Zuschauen & Mitmachen usw. 72+73

Ebenso wenig, wie die Geschichte des Fernsehens rekonstruiert werden kann, lässt sich das Fernsehen als ein Medium beschreiben – weder historisch, technisch, institutionell noch phänomenologisch. Wie aber kann angesichts dieser Heterogenität in sinnvoller und praktikabler Weise über FERNSEHEN gesprochen werden? Wie die vielen technischen, kulturellen und historischen Facetten berücksichtigt werden? In welcher Form bildet es für die televisionizitären Angebote und ihre Nutzenden Referenzpunkte aus?

DIE FERNSEHHAFTIGKEIT DES FERNSEHENS Einen Ausweg vermögen die zitierten Besprechungen der Netflix-Serie HOUSE OF CARDS anbieten, in denen sie übereinstimmend als ideale Fernsehserie beschrieben wird, obwohl diese gar nicht für ein Fernsehprogramm konzipiert ist. Einen weiteren Fingerzeig liefert ein erneuter Blick auf die eingangs zitierten Annahmen über das alte Fernsehen sowie auf die am Fernsehen orientierten Zuschreibungen, die mit Netflix und YouTube verbunden werden. Wie bereits festgestellt, handelt es sich hierbei um verkürzte und holzschnittartige Vorstellungen, die eher mit Gemeinplätzen als mit medienwissenschaftlich fundierten Thesen operieren. In diesen kurzsichtigen Darstellungen zeigt sich nämlich aller Heterogenität des Mediums zum Trotz ein gemeinsamer Konsens darüber, was als FERNSEHEN wahrgenommen wird. Ähnlich wie ein kollektives, mythisches

72 | Keilbach: Die vielen Geschichten des Fernsehens. In: montage AV, S. 31. (Das eingebettete Zitat stammt aus: Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 1.) 73 | Mit diesem Ansatz übereinstimmend definiert Lynn Spigel das alte Fernsehen als einen facettenreichen Gegenstand, der bestimmt würde durch „technologies, industrial formations, government policies, and practices of looking.“ (Spigel: Introduction. In: Spigel / Olsson (Hrsg.): Television after TV, S. 2.)

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Verständnis davob besteht, was das Digitale verspricht, existiert offenbar eine diffuse, aber breite Übereinkunft darüber, was als fernsehhaft wahrgenommen wird. Anstelle also weitere Aufwände darauf zu verschwenden, den Begriff Fernsehen zu definieren, soll sich der Blick des Buches auf jene wahrgenommene Fernsehhaftigkeit richten und diese ins Zentrum der Untersuchung rücken. Diese Fernsehhaftigkeit beschreibt folglich die Vorstellung des passiven, vorgeschriebenen Fernsehens mit seinen als beschränkt wahrgenommenen Eingriffsmöglichkeiten. Ohne Zweifel haben sich die Fernsehzuschauenden niemals nur passiv gegenüber dem Fernsehprogramm verhalten. Gewiss hat es viele Interaktions-Bemühungen gegeben, doch haben diese Aspekte für eine fernsehhafte Wahrnehmung eben keine Relevanz. Wenn MJ Robinson unter dem Titel „Television On Demand“74 die Transformationsprozesse des Fernsehens im Zusammenhang mit digitalen Übertragungsmöglichkeiten und internetbasierten Diensten sowie die kulturellen und rezeptiven Veränderungen ausformuliert, mag dies ein zeitgemäßes und differenziertes Bild des Fernsehens ermöglichen, doch sind genau solche Veränderungen gerade nicht mit dem Begriff Fernsehhaftigkeit gemeint. Er ist hier – ähnlich wie der Mythos bei Roland Barthes – ein Bild, das nur sehr eindimensional und oberflächlich ist und der tatsächlichen Natur des Fernsehens nicht gerecht werden kann. Fernsehhaftigkeit ist eine Fiktion von dem, was FERNSEHEN ist. Es ist eine Fiktion, die davon losgelöst ist, welche Eigenschaften das beschriebene Medium tatsächlich ausgebildet hat. In seiner umfangreichen Abhandlung definiert der Medienwissenschaftler Markus Stauff analoges Fernsehen als Negativfolie eines digitalen/interaktiven Fernsehens und fasst damit pointiert zusammen, was Fernsehhaftigkeit meint. Es ist… […] ein analoges Fernsehen, das ein strikt vorgegebenes Programm ausstrahlt, dem die Zuschauerinnen und Zuschauer weitgehend passiv folgen müssen. Ihnen bleibt – einer häufigen Kennzeichnung zufolge – nur die Wahl zwischen An- und Ausschalten.75

Im gegenwärtigen, allgemeinen Sprachgebrauch lassen sich für dieses Verständnis Behelfsformulierung wie „klassisches“ oder „traditionelles“ Fernsehen finden, die allesamt das zum Ausdruck bringen, was Fernsehhaftigkeit meint. Es ist eine Vorstellung, die nur im Kontrast zur Digitalizität und zu digitalizitären Angeboten wie Netflix und YouTube konsistent und verständlich bleibt, weswegen

74 | Robinson: Television On Demand. 75 | Stauff: Das neue Fernsehen, S. 61f.

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häufig der Begriff „lineares Fernsehen“ in Abgrenzung zu den individualisierbaren On-Demand-Angeboten verwendet wird. Diese Wortwahl rückt insbesondere die Programmstruktur des Fernsehens in den Fokus, die linear und damit als zeitlich nacheinander gereiht abläuft. Sie definiert das Medium vorrangig über dessen Funktion, einen stetig laufenden Zeitplan ausbilden zu müssen. 76 Aus dem Blickfeld geraten in dieser Formulierung seine technischen Übertragungswege, seine Bildqualität oder seine Einbindung in häusliche Umgebungen. Ob das lineare Programm über ein analoges Funksignal oder in Form eines Streams empfangen wird, macht für dessen Empfindung als lineare Abfolge zunächst keinen Unterschied. Fernsehhaftigkeit bezieht sich folglich auf eine rezeptive und ästhetische Wahrnehmung und weniger auf eine technische Realisierung. Eine Auswahl, der Aspekte, die zu den Wesensmerkmalen einer Fernsehhaftigkeit gehören könnten, liefert ein kurzer Essay, den William Uricchio unter dem Titel „The Future of a Medium Once Known As Television“ im „YouTube Reader“ veröffentlicht hat. Darin stellt er bereits im Jahr 2009 eine Relation zwischen YouTube und Fernsehen her und liefert auf diese Weise eine zentrale Inspiration und Grundlage für die nachfolgende Untersuchung. Im Laufe des 14seitigen Textes arbeitet er sich an einer Reihe von Kennzeichen des Fernsehens ab und beschreibt überblicksartig, welche Verschiebungen diese im Laufe der Zeit und im Vergleich zu YouTube erfahren haben. Zu diesen Eigenschaften, die trotz eines stetigen Wandels des Mediums durchgehend identifizierbar bleiben, gehört neben der Fähigkeit des Fernsehens, Live zu senden („its potential for liveness“)77 und verstreute Publika gemeinsam zu erreichen („ability to aggregate dispersed publics“)78 insbesondere ein Aufbau des Programms in Form eines Flows („Television adheres to the same notions of flow that characterized the earliest days of broadcasting“)79. Durch diese Aufzählung schlägt Uricchio eine produktive Minimalbeschreibung von Fernsehhaftigkeit vor, die als Leitbild für die nachfolgende Untersuchung gelten soll. Somit lässt sich Fernsehhaftigkeit mit drei Schlagworten beschreiben: Liveness, Flow und Adressierung.80

76 | Lotz: The Paradigmatic Evolution of U.S. Television… In: Icono, S. 133. 77 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 31. 78 | Ebd., S. 33. 79 | Ebd., S. 32. 80 | „Adressierung“ dient hier als Entsprechung für die Fähigkeit, verstreute Publika ansprechen zu können.

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Diese Liste soll zusätzlich um das Merkmal „Serialität“ erweitert werden, das angesichts der engen Verknüpfung der Plattform Netflix mit einer Serie (nämlich HOUSE OF CARDS) eine dezidierte Betrachtung verlangt. Untermauert wird diese Entscheidung von Aussagen des Medienwissenschaftlers Knut Hickethier, der in vielen Publikationen nachweist, dass „Serie und Programmfernsehen in einem engen, unlösbaren Verbund“81 zueinander stehen und Serialität maßgeblich die Wahrnehmung des Fernsehens prägt. Unterstützt wird seine Haltung von den Medienwissenschaftler*innen Benjamin Beil, Lorenz Engell, Jens Schröter, Herbert Schwaab und Daniela Wentz, die in einem gemeinsamen Text ebenso feststellen, dass „kein anderes Medium so stark von der Form der Serie geprägt“ ist wie das Fernsehen. Für sie gilt: „Serialität ist der vorherrschende strukturelle und temporale Modus des Fernsehens.“82 Wo Roland Barthes seine „Sinität“ noch als eine „besondere Mischung von Glöckchen, Rikschas und Opiumhöhlen“ umschrieb, soll sich Fernsehhaftigkeit nachfolgend als besondere Mischung aus den Größen Flow, Serialität, Liveness und Adressierung herausschälen.

ON-DEMAND-ANGEBOTE ALS ERZÄHLMASCHINEN Diese vier Parameter bilden das Muster aus, an dem entlang die On-DemandAngebote betrachtet werden. Sie offenbaren zugleich, dass sich die Wahrnehmung von Fernsehhaftigkeit in erster Linie auf sichtbare Inhalte und Erfahrungen im Gebrauch des Mediums bezieht. Übertragungstechniken oder institutionelle Bedingungen bleiben den Zuschauenden meist verborgen und erhalten deshalb in der allgemeinen Wahrnehmung nur eine untergeordnete Präsenz. In der fernsehhaften Fiktion stellt sich das Fernsehen als reine „Erzähl- und Bildmaschine“ dar, die für seine Rezipierenden „nur in Formen ihrer textlichen und visuellen Oberflächenstruktur, also in Form des Programms als mediale Botschaft erkennbar“ wird.83 Es zeigt sich vor allem als „Erzählmaschine“84 und damit als

81 | Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, S. 7. 82 | Beil et. al: Die Serie – Einleitung in den Schwerpunkt. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft, S.13. 83 | Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz, S. 148. 84 | Dieser Begriff wird von Knut Hickethier etabliert. U.a. In: Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, S. 13.

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Programmmedium. Über FERNSEHEN zu reden, heißt im fernsehhaften Sprechakt vorrangig über Programm zu reden. Um mit vergleichbaren Koordinatensystemen arbeiten zu können, sollen im Umgang mit den internetbasierten Videoplattformen Netflix und YouTube entsprechend deren angebotene Auswahl, ihre audiovisuellen Artefakte sowie deren Darstellungen analysiert werden. Technische Prozesse der Übertragung, die Funktionsweise der Datenbanksysteme, rechtliche Diskurse oder die Ausprägung genutzter Geschäftsmodelle stehen nicht im Zentrum des Interesses. Stattdessen sind es Fragen danach, wie sich Fernsehhaftigkeit oder Televisionizität auf den Mattscheiben und Bildschirmen inszeniert, strukturiert und präsentiert. Eine Untersuchung des Fernsehens, das seinen zugeschriebenen Kern in einer Linearität und als reduziert wahrgenommenen Selbstgestaltungsmöglichkeiten des Programms findet, lässt zudem eine Nutzung von Video-, Festplatten- oder Online-Rekordern als Teil der medialen Anordnungen unberücksichtigt. Diese Einschränkung ist in Bezug auf das Fernsehen noch unschädlich, werden die Geräte doch trotz ihrer weiten Verbreitung kaum genutzt, weil es interessanter wäre, sich in das laufende Programm einzuschalten.85 Weitreichendere Konsequenzen scheint eine Konzentration einzig auf die angebotenen Beiträge für die Auseinandersetzung mit YouTube zu haben, besteht doch in der Auflösung der Grenzen zwischen professionellen und Amateur-Produktionen ein Kernversprechen der Plattform, das sich im ehemaligen, aber weiterhin ikonischen Slogan „Broadcast Yourself“ widerspiegelt. Tatsächlich aber zeigt sich auch hier, dass nur ein Bruchteil der Nutzenden von dieser Möglichkeit wiederkehrend Gebrauch macht. Für den gesamten Web 2.0-Bereich hat sich längst die sogenannte Ein-Prozent-Regel (oder „90-9-1“Regel) etabliert, die weniger als wissenschaftliches Gesetz als eine Faustregel einzuordnen ist. Sie besagt, dass gerade ein Prozent der Nutzenden von OnlineCommunities regelmäßig etwas zu ihnen beitragen, während neun Prozent sich nur gelegentlich beteiligen und 90 Prozent die Angebote ohne das Veröffentlichen eigener Beiträge lediglich beobachten würden. Oder anders gewendet: In Online-Communities stammen 90 Prozent der Beiträge von nur einem Prozent der Nutzenden. Die Prozentzahlen können je nach Modell etwas variieren, weisen aber stets auf ein ähnliches Verhältnis. Eng verbunden wird diese Erkenntnis mit dem dänischen Internetforscher Jakob Nielsen, der die Anzahl der Autor*innen von Beiträgen auf Wikipedia und von Rezensionen bei Amazon mit den jeweiligen Klickzahlen ins Verhältnis setzt und daraus seinen Dreisatz ablei-

85 | Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 489.

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tet.86 Viele weitere Autor*innen haben Nielsens Ansatz um weitere Beispiele ergänzt, die allesamt eine ähnliche Verteilung offenbaren.87 Unter ihnen befindet sich Antony Mayfield, der versuchte, diese Regel für die Plattform YouTube zu verifizieren. Er vermutet auf Basis der Upload- und Klickzahlen über den Zeitraum der ersten 18 Monate nach ihrer Gründung, dass sogar nur in 0,07 Prozent der Nutzungen ein Video hochladen würde.88 Auch wenn es sich dabei methodisch allenfalls um einen Überschlag oder eine Annäherung als um eine exakte Berechnung handelt, lässt sie erahnen, dass das Angebot von YouTube entgegen aller partizipativen Versprechungen in überwältigender Mehrheit als reines Programmmedium genutzt wird. Zu diesem Schluss kommen ebenso die Autoren Pelle Snickars und Patrick Vonderau und halten fest: [A]ccording to the so-called ‚90-9-1 rule‘, that 90 percent of online audiences never interact, nine percent interact only occasionally, and one percent do most interacting, ordinary You-Tube users hardly see themselves as part of a larger community. The typical ‚YouTuber‘ just surfs the site occasionally, watching videos and enjoying it.89

Im Angebot von Netflix ist das Hochladen von Videos durch die Nutzenden erst gar nicht vorgesehen. So innovativ und medienwissenschaftlich spannend Nutzungsformen wie das Anfertigen von Fernseh-Aufnahmen oder das Hochladen eigener Videos auch sein mögen, scheinen sie im tatsächlichen Gebrauch der medialen Anordnungen faktisch über eine geringe Relevanz zu verfügen. Deswegen werden diese technischen Vorgänge und die damit zusammenhängenden strategischen, marketingbezogenen oder kulturellen Aspekte in den nachfolgenden Ausführungen keine Beachtung erfahren – wohl aber an bestimmten Stellen die Effekte und Verspre-

86 | Nielsen: The 90-9-1 Rule. In: nngroup.com. Unter: https://www.nngroup.com/ articles/participation-inequality/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 87 | Demnach schwanken die Anteile je nach Plattform zwischen 89 und 98 Prozent. 88 | Diese Berechnung basiert auf Werten, die von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlicht wurden. Mayfield setzt die durchschnittliche Anzahl der täglichen VideoUploads (65.000) mit der durchschnittlichen Anzahl der täglichen Video-Abrufe (100 Mio.) ins Verhältnis. Er erhält eine Relation, in der jedem Upload 1.538 Views gegenüberstehen. Dokumentiert ist das Vorgehen in einem Beitrag auf Mayfields Blog: https://www.antonymayfield.com/2006/07/17/0-60-in-under-18-months-youtubedominates-online-video/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 89 | Snickars / Vonderau: Introduction. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 12.

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chungen, die daraus resultieren, etwa wenn bestimmte Videos hochgeladen oder kommentiert werden. Das vorliegende Buch beschäftigt sich somit nicht mit den Produktionsbedingungen des Programms, weder fürs Fernsehen noch für YouTube oder Netflix, sondern einzig mit ihrer jeweiligen Präsenz oder Repräsentanz. Es ist daher nicht sein Anspruch, die Plattformen in ihrer Gänze zu erfassen und zu untersuchen. Vielmehr sollen sie auf ästhetische Aspekte hin betrachtet werden – Aspekte, die sich aus einer verkürzten Wahrnehmung des Fernsehens ableiten lassen. Dieser Ansatz wird eher inhaltliche oder ästhetische Merkmale als charakteristisch für das Fernsehen festschreiben und weniger Ausstrahlungs- und Empfangstechniken, zeitliche Anordnungen oder institutionelle Strukturen. Das Ziel besteht schlussendlich darin, einen Blick auf den Begriff FERNSEHEN freizulegen, der diesen weniger mit einem bestimmten Medium verknüpft, sondern ihn als ein Inszenierungsmittel auffasst; als eine spezifische Form, wie Inhalte gestaltet, aufbereitet und strukturiert werden.

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2. Vom Programm zur Programmierung

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Architekturen & Ästhetiken

FALLBEISPIEL: „YOUTUBE WILL MICH TÖTEN!“ Im Dezember 2016 war innerhalb der YouTube-Community ein regelrechter Aufschrei zu vernehmen, als sich eine Vielzahl internationaler und teils namhafter Kanalbetreibender*innen (u.a. H3H3, Pewdiepie, Markiplier und Jacksepticeye) unter dem Schlagwort „YouTube is Broken“ über eine von ihnen wahrgenommene Veränderung der Plattform beschwerten. Als Beispiel für diese sehr umfangreiche und hunderte Videos umfassende Diskussion sollen zwei Beiträge aus Deutschland die vorgebrachten Hauptvorwürfe und vornehmlich formulierten Auswirkungen zusammenfassen. Wie in vielen ihrer Pendants finden Sie einen Ausdruck in minutenlangen Anklagen und dramatischen Schilderungen der eigenen Existenzängste. Diesen Weg wählt auch Clemens Korella, der auf seinem Kanal „ClemensAlive“ unter dem theatralischen Titel „YOUTUBE WILL MICH TÖTEN!“ seine Situation folgendermaßen darlegt: Ich kann Euch mal einen kleinen Überblick zeigen, wie mein Kanal gerade aussieht. Über 4.000 De-Abonnenten in einem Monat. Mein ganzes Leben lang auf YouTube habe ich jeden Monat immer Abonnenten dazu bekommen. Auf einmal mache ich in einem Monat minus 4.000 Abonnenten und sogar noch mehr. Zusätzlich werden den Abonnenten die Videos nicht mal mehr richtig angezeigt. Und dadurch sind die Views

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natürlich auch total im Keller. Mein Kanal hat jetzt in den letzten 30 Tagen, obwohl ich genauso viel hochgeladen habe, wie sonst auch immer, nur noch ein Fünftel so viele Views wie noch vor zwei Monaten. Ein Fünftel. Siebenhundertirgendwastausend Aufrufe in einem Monat. Das ist nichts. […] Anfang dieses Jahres hatte mein Kanal viereinhalb Millionen Aufrufe im Monat, jetzt sind es 700.000. […] YouTube

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hat seinen Algorithmus umgestellt und sie sagen selbst, sie sind nicht schuld daran. Ich habe ein öffentliches Statement gefunden von YouTube in einem offiziellen Forum. YouTube sagt dazu: ‚Sorry, nicht unsere Schuld. Ist alles Einbildung.‘ […] Und YouTube stellt irgendwie öfters mal Sachen um, ohne vorher Bescheid zu sagen. […] Wir haben gar keine Chance uns darauf einzustellen. Wir haben gar keine Chance darauf zu reagieren, weil YouTube einfach von heute auf morgen sagt, wir haben da mal was zum Ändern.1

Ein ähnliches Bild beschreibt Kelly Svirakova auf ihrem Kanal „Kelly MissesVlog“ in einem Video, das den nicht minder überspitzten Titel „Meine YouTube Karriere ist zu Ende“ trägt und am selben Tag veröffentlicht wurde. Auch sie zieht zur Erläuterung die statistische Auswertung ihrer bisherigen Videos heran und konzentriert sich an einer Stelle des knapp elfminütigen Monologs auf die Recommendations – also auf die Anzahl, wie häufig ihre Beiträge anderen Nutzenden empfohlen werden: Meine Recommendations sind so dramatisch gesunken. Um Euch das mal in Zahlen zu zeigen. Die Analytics sagen, Video, bevor das ganze Trara angefangen hat, 63 Prozent über Videovorschläge – also das, was Ihr auf der Seite seht, alles was recommended wird quasi. Und meine Videovorschläge von meinem aktuellsten Video, das das VR-Video ist, 8,8 Prozent. Von über 60 Prozent auf 8,8 Prozent. Sowas passiert, wenn

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YouTube seinen Algorithmus geändert hat, davon gehen zumindest alle aus. […] Ich hab’ schon immer gewusst, dass ich von dieser Plattform YouTube extrem abhängig bin und wenn die einen nicht mehr auf dem Schirm haben wollen, dann bist Du einfach abgeschossen. […] Das ist einfach so schwierig und jetzt wird einem so schmerzhaft bewusst, dass man nicht selber den Content auf YouTube steuert, sondern dass der YouTube-Algorithmus und YouTube selber den Content auf dieser Seite steuert. Das ist jetzt wirklich schmerzhaft zu sehen.2

1 | Gekürztes Transkript des Videos: ClemensAlive: YOUTUBE WILL MICH TÖTEN! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/wFibnP_iMNQ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Auslassungen sind markiert. 2 | Gekürztes Transkript des Videos: Kelly MissesVlog: Meine YouTube Karriere ist zu Ende. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/qWdp8enl-pw [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Auslassungen sind markiert.

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In beiden Aussagen wird zunächst deutlich, wie sehr das Geschäftsmodell von YouTube und damit der Erlös von Personen wie Kelly Svirakova und Clemens Korella auf Klicks und Abonnements ausgerichtet ist und in welchem erheblichen Umfang diese wiederum von ihrer Präsenz in den individuellen Vorschlagslisten abhängen. Darüber hinaus scheinen selbst solche Akteure, die von der Veröffentlichungen ihrer Videos auf der Plattform YouTube ihren Lebensunterhalt bestreiten, nicht um deren exakte Funktionsweise zu wissen, was sich immer dann schmerzlich offenbart, wenn Modifikationen an einem oder mehreren der grundlegenden Prozesse vorgenommen werden. Die Größe der Auswirkungen, die Svirakova und Korella aus nur kleinen Änderungen im System ableiten, spricht der zugrundeliegenden Programmierung eine substanzielle Bedeutung zu. Deren Einfluss ist offenbar derart maßgeblich, dass sie die eigentlichen Inhalte ihrer Videos unbedeutend macht. Was ihnen stattdessen bleibt, sind Vermutungen, Gerüchte oder eigene empirische Untersuchungen, um sich der Antwort anzunähern, welche Normen sie künftig zu erfüllen haben, damit sie vom System wieder stärker bevorzugt werden. Der Algorithmus, von dem sie in personifizierter Form und nur in der Einzahl reden, wird in dieser Zuschreibung zu einer ominösen, fast lebendigen Bedrohung, auf deren Wohlwollen sie angewiesen sind. Eine Art willkürliches Monstrum, auf das sie zwar keinen Einfluss nehmen können und dessen Forderungen unbekannt bleiben, das sie aber nur mit dem richtigen Futter gnädig halten können. Plattformen wie YouTube zeigen sich in solchen Darstellungen als Umgebungen, in der eine entmenschlichte und konsequente Auswahl rein anhand vordefinierter Parameter vorgenommen wird. Sie zeigen sich als Umgebungen, die programmiert sind. Dabei bleibt verborgen, wie genau und unter welchen Vorgaben und Bedingungen die entsprechenden Prozesse ablaufen. Diese Eigenschaft erkennt der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler nicht nur in Angeboten wie YouTube, sondern spricht sie sämtlichen programmierten Umgebungen zu. Gegenwärtige Computer sind alles andere als transparent, und gerade Kittler hat immer wieder beklagt, dass die Entwicklung von Hard- und Software die Nutzer Schritt für Schritt davon abdrängt, überhaupt ein strukturelles Verständnis dessen zu erreichen, was sich im Rechner abspielt.3

Diese Beobachtung erfährt Bestärkung durch Alexander Galloway, für den das undurchschaubare Verfahren, bei dem einzig die Ergebnisse eines Wirkens, nicht

3 | Winkler: Prozessieren, S. 305.

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aber das Wirken selbst nachvollzogen werden können, eine gängige Praxis des neuen Jahrtausends bildet. Er hat solche Anordnungen als „Black Box“ bezeichnet – nämlich als einen (metaphorischen) Kasten, in dem man zwar erkennen könne, was in ihn hineingeht und auch herausgeht, aber unsichtbar bliebe, was darin passiert.4 Die Algorithmen, die auf Videoplattformen prozessieren, können als ebensolche Black Boxen verstanden werden, schließlich scheint niemand der User von YouTube vollends zu verstehen, wie YouTube im Inneren funktioniert.

ZWISCHEN DEN INNEN- UND AUßENSEITEN DES SYSTEMS Dieser Sichtweise liegt ein Verständnis zugrunde, in dem On-DemandPlattformen wie YouTube in getrennte Bereiche zerfallen – nämlich in eine für die Nutzenden sichtbare Außenseite, auf der sich die Videos und ihre Verfügbarkeiten manifestieren, sowie in eine mysteriöse Innenseite, in der die Programmierungen verschleiert sind. Der Verhandlung zwischen diesen beiden Seiten kommt in der praktizierten Inszenierung von Televisionizität offenbar eine untersuchenswerte Schlüsselrolle zu. In seiner Abhandlung „Interface Culture“ erklärt der amerikanische Autor Steven Johnson das zentrale Dilemma von Computernutzung in anschaulicher und verständlicher Weise. Er schreibt: Ein Computer denkt – wenn Denken das richtige Wort dafür ist – in winzigen elektrischen Impulsen, die entweder einen ‚Ein‘- oder ‚Aus‘-Zustand darstellen, eine Null oder eine Eins. Menschen denken in Worten, Vorstellungen, Bildern, Lauten, Assoziationen. Ein Computer, der nichts weiter tut als Sequenzen von Nullen und Einsen zu manipulieren, ist nichts weiter als eine ungewöhnlich ineffiziente Addiermaschine. Damit die Magie der digitalen Revolution überhaupt stattfinden kann, muß sich ein Computer dem Benutzer auch darstellen, und zwar in einer Sprache, die dieser versteht.5

Diese von Menschen verstehbare Veranschaulichung maschineller Prozesse zu gewährleisten, stellt die Aufgabe von Interfaces dar, weshalb der Begriff im einfachsten Sinne eine Software meint, die „Interaktion zwischen Benutzer und Computer“ ermöglicht.

4 | Galloway: Black Box, Schwarzer Block. In: Hörl (Hrsg.): Die technologische Bedingung, S. 273f. 5 | Johnson: Interface Culture, S. 24.

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Die Schnittstelle dient als eine Art Übersetzer, der zwischen den beiden Parteien vermittelt und die eine der anderen verständlich macht. Mit anderen Worten: Die von der Schnittstelle beherrschte Beziehung ist semantischer Natur und wird eher durch Sinn und Ausdruck gekennzeichnet als durch physische Kraft.6

Thomas Elsaesser erläutert sein Verständnis des Begriffs am Beispiel des Internetsurfens als eine Ebene, die in Form von Algorithmen, Codes und Protokollen meist unsichtbar und für gewöhnliche Nutzende undurchschaubar, operiert. Das Interface biete den Filter, die Membran oder das User-freundliche Gesicht an, das zwischen Maschine und Menschen steht. [There] is nothing but the filter, membrane or user-friendly face – the ‚interface‘, in short – between stupid but infinitely patient (and performative) machines, running on programmes relayed to gates and switches (electric-electronic dominoes, one might say), and intelligent but increasingly impatient (as well as accident-prone) humans, requiring visual representations that provide a sense of recognition and self-presence, relayed through words, sound and above all: images.7

In seinem Bild zeigt sich das Interface als eine grafische Oberfläche, die aber ähnlich wie bei Johnson vor allem Übersetzungsarbeit leistet und ein Dolmetschen zwischen dem Drinnen des Computers und seinem Draußen arrangiert. In dieser Funktion markiert auch Marianne van den Boomen das „Kerngeschäft“ („core business“) von Graphical User Interfaces. Es bestehe demnach im… […] translating machine states and processes into human-readable stable signs, and translating user action into machine-readable processes and states.8

In den Erläuterungen von Steven Johnson, Thomas Elsaesser und Marianne van den Boomen drückt sich ebenso eine Vorstellung des Computers als ein Objekt mit zwei Seiten aus. Als ein Objekt, das sich aus einer menschlichen und einer technischen Seite zusammensetzt. Diese zwei Bereiche des Computers (bzw. von „New Media“ im Generellen) nennt Lev Manovich zum einen die „kulturelle“ Ebene („cultural layer“) und zum anderen die „Computerebene“ („computer lay-

6 | Ebd. 7 | Elsaesser: Constructive Instability. In: Lovink / Niederer (Hrsg.): Video Vortex Reader, S. 29. 8 | van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 36.

52 | VOM PROGRAMM ZUR PROGRAMMIERUNG

er“).9 Dabei stellt letztere die aus der Sicht des Computers gesehene innere Seite dar, in der Daten und Operationen in Strukturen von „Listen, Tabellen und Feldern“ existieren. Es ist die Seite, in der Motive von Bildern keine Bedeutung haben, sondern lediglich ihre Dateigrößen, ihre Datentypen, ihre angewandten Kompressionsverfahren und die RGB-Werte der Pixel relevant sind. Jenseits dieser Seite, auf der kulturellen Ebene des Computers, dominieren hingegen für Menschen wiedererkennbare Objekte, Textdateien mit grammatikalisch korrekten Sätzen oder virtuelle Räume, die sich am vertrauten Kartesischen Koordinatensystem orientieren. Es ist die Seite, die Menschen deswegen versteht, weil sie zu ihrer Kultur gehört und Darstellungen nutzt, die mit der menschlichen Kultur verbunden sind.10 Zwischen diesen beiden Ebenen übersetzt oder vermittelt nun das Interface, wobei den Menschen die Computerebene verborgen bleibt und mit ihr auch die Prozesse, die im Inneren des Geräts ablaufen, etwa wenn auf der kulturellen Ebene in der Datenbank von YouTube nach neuen Videos von Kelly Svirakova oder Clemens Korella gesucht wird. Üblicherweise werden die Ausdrücke Benutzeroberfläche und Graphical User Interface als synonyme Begriffe verwendet, wodurch diese Oberflächen allesamt als Formen von Interfaces aufgefasst werden. Florian Cramer und Matthew Fuller merken allerdings an, dass es daneben noch weitere Schnittstellen gäbe, die oft im wissenschaftlichen Diskurs aus dem Blick gerieten. Demnach umfasse der Begriff Interface ebenso… • Hardware, die Nutzende mit Hardware verbindet (z.B. Maus, Keyboard, Bild-

schirm) • Hardware, die Hardware mit Hardware verbindet (z.B. Interconnection-Points,

BUS-Systeme) • Software, die Hardware und Software verbindet (z.B. Treiber) sowie • Routinen und Protokolle, die zwischen Software und Software ablaufen (z.B.

Schnittstellen zur Anwendungsprogrammierung). 11 Damit erweitern die Autoren den Begriff über eine reine Darstellungsfunktion hinaus und wenden ihn auch auf Bauteile, Geräte und Programme an. Interfaces markieren in dieser Sicht nicht nur Übertragungspunkte zwischen Mensch und

9 | Manovich: The Language of New Media, S. 63. 10 | Ebd. 11 | Cramer / Fuller: Interface. In: Fuller (Hrsg.): Software Studies, S. 149.

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Maschine, sondern auch zwischen mehreren Maschinen oder zwischen Bereichen innerhalb derselben Maschine und beschränken sich eben nicht nur auf Software. Dieser nur winzige Ausschnitt aus der medienwissenschaftlich geführten Debatte rund um den Interface-Begriff belegt, dass dieser höchst offen, vage und interpretationsfähig ist. Längst hat sich um ihn ein umfangreicher Diskurs entsponnen, in dem der Begriff definiert, erweitert, modifiziert und ausgelegt wird. Mehrfach wird das Interface in diesem Zusammenhang in die Nähe des Begriffs Medium gerückt und behauptet, dass es ihn sogar ersetzen könne. Eine nachvollziehbare Sichtweise, schließlich basieren beide Begriffe auf einer Vermittlung (Übersetzung) zwischen (mindestens) zwei Instanzen, an deren gemeinsamer Grenze sie stehen. Dementsprechend ließe sich auch der Bildschirm – die Mattscheibe – eines Fernsehapparates als Interface lesen, der zwischen Menschen und Fernsehsignalen vermittelt, indem er die für den menschlichen Körper nicht erfassbaren Funkwellen oder Datenpakete in eine kulturell lesbare Fernsehsendung übersetzt. Diese Diskussion kann und soll an dieser Stelle weder nachgezeichnet, weitergeführt oder gar entschieden werden. Der Medienwissenschaftler Jan Distelmeyer hat sich bemüht, all die verschiedenen Positionen in einem prägnanten Satz zu vereinen, der recht vage formuliert wirkt, aber angesichts der Komplexität der Materie kaum konkreter lauten kann: Es [das Interface] materialisiert sich in den Operationen, die wir mit Interfaces explizit durchführen. Interfaces sind die (Schnitt)Stellen, an denen wir Computer für und mit uns realisieren.12

RÄUME UND METAPHERN Eine zentrale Funktion von Interfaces besteht darin, einen handhabbaren Zu- und Umgang mit den in der Computerebene vorgehaltenen gigantischen Datenmengen einzurichten. Durch die Option, von potenziell allen Nutzenden erweitert zu werden, expandiert beispielsweise das Angebot von YouTube um etwa 100 Stunden Videomaterial pro Minute.13 Es ist längst zu einer Sammlung angewachsen, die aufgrund ihres Umfangs nur schwer überschaubar oder überhaupt

12 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 26. 13 | The YouTubeTeam: Here’s to eight great years. In: Official Blog. Broadcast Yourself. Unter: https://youtube.googleblog.com/2013/05/heres-to-eight-great-years.html [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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erfassbar ist. Eine solche buchstäblich unvorstellbare Größe aber sei typisch für digitale Daten- und Informationsräume, wie Steven Johnson bereits im Jahr 1999 (also noch vor der Gründung von YouTube und Netflix als On-Demand-Dienst) feststellt. Als Möglichkeit, „sich den Datenraum vorzustellen […] oder sich ein Bild von all dieser Komplexität zu machen“14 hätte sich das Prinzip einer kognitiven Kartographie etabliert, mit deren Hilfe sich solche große Datenmengen bewältigten, filtern und strukturieren ließen. Dieses Verfahren des „Bitmappings“ umfasse „die Visualisierung digitaler Muster“15 in einer räumlichen Anordnung – also die Darstellung von Daten als einen Informationsraum, in den man eintauchen kann, den man erforschen und dessen Elemente man (scheinbar) berühren kann. In diesem Verständnis zeigten sich Medien nicht mehr als eine Verlängerung oder Prothese des menschlichen Körpers. Sie bilden einen Ort ab, den der Mensch erfassen kann. Zum ersten Mal stellte man sich eine Maschine nicht als Anhängsel unseres Körpers vor, sondern als Umgebung, als einen zu erforschenden Raum. Man konnte sich in diese Welt hineinprojizieren, sich in ihr verlaufen, über Dinge stolpern. Diese Welt war eher Landschaft als Maschine […].16

Die Grundlage für dieses Verfahren bestünde in der Nutzung räumlicher Metaphern, die bei der Etablierung von Computern immer wieder angewendet würden. Hier wäre vor allem der Desktop-Metapher eine zentrale Bedeutung zuzuschreiben, die den Computer als eine räumliche Anordnung veranschaulicht – als einen Schreibtisch, auf dem Dokumente abgelegt, verschoben und bearbeitet werden können.17 Zusammen mit der Einführung von Icons und Symbolen, die auf dem Desktop (mittelbar etwa mit Hilfe einer Maus) angefasst werden können, unterscheide sich diese Vorstellung grundlegend von älteren Darstellungsformen, die sich beispielsweise als reine Textebenen zeigten und durch textuelle Eingaben gesteuert wurden. Damit die Illusion des Informationsraums funktionieren kann, muß man fähig sein, sich die Hände schmutzig zu machen, Dinge zu bewegen, Dinge zu bewirken. An dieser Stelle kam die direkte Manipulation ins Spiel. Statt unverständliche Befehle in die Maschine zu tippen, konnte der Benutzer einfach auf etwas zeigen, dessen Inhalt

14 | Johnson: Interface Culture, S. 28. 15 | Ebd., S. 30. 16 | Ebd., S. 34. 17 | Ebd., S. 59f.

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ausweiten oder ihn quer über den Bildschirm ziehen. Statt den Computer anzuweisen, eine bestimmte Aufgabe auszuführen – ‚Öffne diesen Ordner‘ –, schienen die Benutzer das jetzt selbst zu tun.18

Die Desktop-Metapher, die Apple und Microsoft für ihre Heimcomputer noch immer nutzen, hätte sich deswegen durchgesetzt, weil sich der Mensch Orte und räumliche Anordnungen schlicht besser vorstellen kann.19 Die Datenströme des digitalen Zeitalters sind nur demnach beherrschbar, weil sie sich als Orte und Flächen präsentieren. Entsprechend sind die Oberflächen von Plattformen wie Netflix und YouTube ebenso als Orte zu verstehen, die erforscht und entdeckt werden können. Sie etablieren Räume, auf denen sich gut merken lässt, an welcher Stelle die Einstellungen für ein Video abgerufen werden können. Erst diese räumliche Projektion ihrer unermesslichen Datenbanken ermöglicht eine Nutzung der On-Demand-Dienste. Sie ermöglicht ihren alltäglichen Gebrauch.

ZEIGEN UND VERBERGEN Mithilfe räumlicher Metaphern erlauben computerbasierte Medien, das „fremdartige neue Territorium“ der Datenräume zu vermessen und sich in ihrer „verwirrenden Umgebung zurechtzufinden“ 20. Dabei fungieren auf der grafischen Oberfläche nicht selten bildliche Darstellungen als Schaltflächen, mit deren Hilfe die Daten kontrolliert, gelenkt oder aktiviert werden können. In ihrer plastischsten Form sind es Buttons, aber ihre Darstellungsformen gehen weit darüber hinaus. Sie reichen von den Schaltflächen, mit deren Hilfe sich ein Kanal abonnieren lässt, bis zum Vorschaubild eines Videos, mit dem es angesteuert und gestartet werden kann. Bei YouTube stellt sogar das Video selbst eine Schaltfläche dar, da es ein Klick in die Bildfläche zum Halten oder zum Weiterlaufen bringt.21 Doch nicht nur auf Plattformen wie Netflix oder YouTube, sondern auf nahezu sämtlichen computerbasierten Oberflächen sind „klick- und berührbare Erscheinungen“22 zu finden, mit denen „sich Computer und ihre Versprechungen für und mit uns realisieren“.23 Für Jan Distelmeyer bilden sie deswegen ein

18 | Ebd., S. 31. 19 | Ebd., S. 61. 20 | Ebd. S. 50. 21 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 130. 22 | Ebd., S. 192. 23 | Ebd., S. 97.

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„Kernstück“24 der Oberflächeninszenierungen, denn sie würden einen erheblichen Beitrag dafür leisten, wie wir uns Rechner vorstellen. 25 Um ihren besonderen Status beschreiben zu können, bezeichnet er ausgehend von einer Idee des Künstlers Harun Farocki diese Darstellungen in mehreren Veröffentlichungen als „operative Bilder“, die einzig in ihrem technischen Vollzug aufgingen und zu keiner Erbauung oder Belehrung entstanden seien.26 Das Wort „operativ“ solle dabei … […] das Augenmerk darauf zu lenken helfen, dass das Bild weniger ‚für sich‘ und einem potenziellen Betrachter gegenüber steht, sondern ganz zum Bestandteil einer elektronisch-technischen Operation wird.27 Sie sind und werden Teil zielgerichteten Handelns, das nach Kontrolle strebt. Mit ihnen soll ich Herr über Angebote und Maschinenleistungen werden können.28

Operative Bilder haben demnach keinen ästhetischen Eigenwert mehr, sondern sind einzig als Repräsentanten einer „mathematisch-technischen Operation“29 gefragt. Es sind Gebrauchsbilder. Sie werden gebraucht, sind Teil unseres Gebrauchs, setzen Prozesse in Gang und sind Anwendungen, deren Einsatz etwas auslöst. Darüber hinaus verweist die Rede von Gebrauchsbildern auf eine mir sehr wichtige Alltäglichkeit: Sie sind gebräuchlich, sind gewöhnlich. Unser Umgang mit ihnen ist eingespielt.30

In der grafischen Oberfläche von YouTube fungieren unter anderem Thumbnails als operative Bilder und repräsentieren die anwählbaren Szenen und Videos. Sie werden ergänzt um Icons wie die Glocke, das Home-Symbol, die Lupe im Suchfeld oder das YouTube-Logo, das zur Startseite führt. Die gesamte Oberfläche wird von solchen Gebrauchsbildern dominiert, die lediglich um einige wenige textuelle Ergänzungen erweitert werden.

24 | Ebd., S. 94. 25 | Ebd., S. 98. 26 | Ebd., S. 94. 27 | Distelmeyer: Hausbesetzung. In: Christians / Mein (Hrsg.): In Da House, S. 279. 28 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 133f. 29 | Ebd., S. 96. 30 | Ebd., S. 97.

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Abbildung 4: Die Oberfläche der Startseite von YouTube wird dominiert von operativen Bildern.31 Bildlichkeit beherrscht auch die Benutzeroberfläche von Netflix, auf der die operativen Bilder nur sehr vereinzelt um nicht-bildliche Schrift ergänzt werden. Während bei YouTube der Titel des Videos als Text außerhalb des Vorschaubildes angezeigt wird, ist er auf der grafischen Oberfläche von Netflix Teil des operativen Bildes und eine bildliche Form für sich allein. Lediglich die Bezeichnungen der Rubriken, denen Filmvorschläge zugeordnet werden, sind durch Textelemente markiert. Der Rest der Oberfläche geht vollständig in operativen Bildern auf.

Abbildung 5: Operative Bilder bestimmen auch das Auswahlmenü von Netflix.32

31 | Screenshot von https://www.youtube.com (Ausschnitt) [angefertigt am 17. Juli 2020]. 32 | Offizielles Pressematerial von Netflix (Titel: „German PC-Microsoft UI“), zur Verfügung gestellt via: https://media.netflix.com [heruntergeladen am 28.07.2020].

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Anders als bei YouTube, wo die (operativen) Vorschaubilder meist zufällig generierte Standbilder aus den betreffenden Videos sind33, werden bei Netflix häufig Filmposter oder DVD-Coverbilder verwendet. Die Oberfläche verlässt sich damit auf eine tradierte Ästhetik, deren Umgang seit Jahrzehnten aus dem Alltag bekannt ist und den gesamten Diskurs der Kinowerbung (vom Aufbau der Plakate über die Schriftgestaltung bis zur Wiedergabe einer Stimmung durch Farbgebung) in sich birgt. Welchen erheblichen Einfluss die individuelle Gestaltung der operativen Bilder auf das Nutzungsverhalten des Publikums haben kann, erläuterte Todd Yellin, Vice President of Product Innovation von Netflix, im Jahr 2016 auf der jährlichen Konferenz der amerikanischen „National Association of Broadcasters“. Demzufolge würde das Unternehmen permanent Tests mit dem Ziel durchführen, das Design des Menüs, insbesondere die Gestalt und Größe von Vorschaubildern und Programmkacheln, zu optimieren. Etwa berichtet Yellin davon, dass das letztlich für die Serie JESSICA JONES34 genutzte Motiv im Vergleich zu anderen getesteten Varianten den Abruf der Serie um bis zu sieben Prozent gesteigert hätte. Deswegen wäre es nach der Online-Stellung einer Serie üblich, über alle Nutzenden hinweg zunächst für eine Woche mehrere Vorschaubilder parallel zu testen, bevor anhand der Nutzungsdaten ausgewertet wird, welches Motiv das jeweilige operative Bild final beinhalten soll.35 Unabhängig davon, ob Operationen durch Vorschaubilder, Icons, posterartige Embleme oder Piktogramme außerhalb des Bildes oder als zusätzliche Ebene über dem Video repräsentiert werden, in jedem Fall… […] geben uns diese Zeichen Anzeichen, was wir mit ihnen tun können (z.B. einen Internetbrowser starten). Sie tun dies, weil und während sie gleichzeitig die Vielzahl jener Prozesse unpräsentiert lassen, die sie damit in Gang setzen und auf die sie dabei angewiesen sind (z.B. das Wirken von Protokollen).36

Sosehr sie zu einer Aktion einladen und ausstellen, welcher Vorgang durch sie in Gang gesetzt werden kann, sosehr verschleiern sie welche Vorgänge hinter der grafischen Benutzeroberfläche im naheliegenden Rechner oder auf den entfern-

33 | Nur ausgewählte Kanäle dürfen selbstgewählte Vorschaubilder hochladen. 34 | Jessica Jones, USA 2015 - 2019. 35 | Lückerath: Und was testet Netflix gerade bei Ihnen so? In: DWDL.de. Unter: http://dwdl.de/sl/479d76 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 36 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 94.

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ten Servern ablaufen. Sie repräsentieren Funktionen, verbergen aber zugleich die dahinter ablaufende prozessuale und materielle Komplexität des Rechners („the processual and material complexity“), die sich den Erfahrungen der Nutzenden gänzlich entziehen. Für dieses dialektische Prinzip des Zeigens und Nichtzeigens wählt Marianne van den Boomen den treffenden Begriff der Depräsentation („depresentation“).37 Sie zeigt sich, wie Hartmut Winkler ergänzt, darin… […] dass nur eine Minderheit der Nutzer selbst Programme schreibt, also die Erfahrung macht, auf welche Weise Maschine, Programmiersprache / Compiler, Programm und Eingabedaten tatsächlich zusammenwirken. Nutzer vielmehr nutzen Programme, und deshalb heißen sie so; und wenn digitale Medien ‚programmable media‘, oder Nutzer ‚digital natives‘ genannt werden, so sind dies fragwürdige Euphemismen. In vieler Hinsicht also verdeckt die Maschine, was sie tatsächlich tut.38

Den Nutzenden zeigen sich Plattformen wie Netflix und YouTube als reine, nutzerfreundliche Oberflächen, die einzig aus Verfügbarkeiten bestehen, nicht aber aus technischen Peripherien oder informatischer Datenverarbeitung. In der Verdunkelung von Vielschichtigkeit und im Ausblenden des technischen Zustandekommens von ästhetischen Erfahrungen ist eine entscheidende Begründung für die Wahrnehmung der Plattformen als intransparente Anordnungen und verdächtige Black Boxen zu suchen. Der Vorzug dieses Vorgehens besteht darin, dass es komplexreduzierend wirkt und einen wichtigen Beitrag dafür leistet, um überhaupt mit derartig beziehungsreichen und multidimensionalen Systemen umgehen zu können. Hinzu kommt, dass die genutzten Bildlichkeiten, Symbole, Icons und Buttons ausschließlich Zugriffsmöglichkeiten anzeigen. Sie präsentieren nur, was man mit ihn machen kann, welche Operationen mit ihnen in Gang gesetzt werden können, weswegen ihnen eine „Ästhetik der Verfügung“ 39 anhaftet. Auf der Oberfläche sind dagegen keine Hinweise darauf zu entdecken, welche Möglichkeiten nicht bestehen oder verweigert werden. Allenfalls gibt nach einer Interaktion eine Fehlermeldung einen entsprechenden Hinweis. Eine Negativ-Liste von ausgeschlossenen Operationen existiert nicht. Auf diese Weise offerieren Interfaces Freiheit und Interaktivität, verbergen aber gleichzeitig, dass die darunter liegende Interaktion zwischen Mensch und Maschine auf programmierten Pro-

37 | van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 36. 38 | Winkler: Prozessieren, S. 83. 39 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 34.

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zessen basiert, die restlos vordefiniert sind und keinerlei Abweichung zulassen. Diesen dialektischen Zustand hat Jan Distelmeyer treffend als eine „endlose Bewegung zwischen Verfügen und Sichfügen“ bezeichnet und beschäftigt sich in seinem Buch „Machtzeichen – Anordnungen des Computers“ mit den daraus resultierenden Fragen nach Kontrolle und Macht. Für ihn ist der Computer deshalb… […] eine Machtmaschine, deren Interfaces Schaltstellen, Mittel und Bühnen eines permanenten Ringens um Einfluss bilden.40

Oder noch pointierter: „Du hast alle Freiheiten, die Dir eingeräumt werden.“ 41 Ein Leitspruch, der auf alle Interfaces und damit auch auf die Oberflächen von Netflix und YouTube zutrifft, denn auch dort werden (Zugriffs-)Möglichkeiten (z.B. der Start eines Videos) angeboten, zugleich aber Operationen (z.B. Ändern der Beschreibung fremder Videos) verhindert.42 Hierin wird deutlich, wie eng der Zugriff auf die Daten(-banken), mit der Gestaltung ihrer Übersetzer/Vermittler verknüpft ist – wie erheblich die Programmierung und (Aus-)Gestaltung des Interfaces den Umgang und das Operieren mit dem Computer bestimmt. Es zeigt sich, wie eng die Innen- und Außenseite oder die Computerund kulturelle Ebene über das Interface miteinander gekoppelt sind. So ist es nicht verwunderlich, wenn Lev Manovich festhält: […] die Wahl eines bestimmten Interface ist zu einem solchen Grade durch den Inhalt des Werkes bedingt, dass es nicht als separate Ebene vorstellbar ist. Das heißt, die Wahl eines bestimmten Interfaces ist so stark mit dem Inhalt des Werkes verknüpft, dass das Interface nicht als separate Ebene vorstellbar ist. Inhalt und Interface verschmelzen zu einer Einheit und lassen sich nicht mehr gesondert betrachten. 43

40 | Ebd., S. 29f. 41 | Jan Distelmeyer auf dem Workshop „Politiken des Interfaces“ der AG Interfaces von der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) am 10. Juni 2016 in Potsdam. 42 | Für Michael Stranglove offenbart sich hinter solchen offenen und verborgenen Beschränkungen oft die Logik eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, in dem die monetäre Verwertbarkeit von (Medien-)Produkten an die Limitierung und Hoheit über deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist. (In seinem Buch kommt dies mehrfach zum Ausdruck. u. a.: Strangelove: Post-TV, S. 29.) 43 | Manovich: Das Interface als Kategorie der Mediengeschichte. In: Engell / Vogl (Hrsg.): Mediale Historiographien, S. 166.

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Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich drei Punkte kondensieren, die sich mit allen vorgestellten Auffassungen des Interfaces vereinbaren lassen: 1. Interfaces sind (unter anderem) Schnittstellen zwischen Menschen und Ma-

schinen, die den Menschen einen Zugriff auf Maschinen ermöglichen.44 2. Interfaces entfalten sich auch in grafischen Oberflächen von Websites. 3. Die Oberflächen von YouTube und Netflix stellen Formen von Interfaces dar.

44 | Mit dem Ausdruck „Maschinen“ werden ebenso Daten und Datenbanken erfasst.

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Algorithmen & Datenverarbeitung

ERFASSUNG UND EINGABEN Der Gebrauch von On-Demand-Interfaces wie Netflix und YouTube ist maßgeblich geprägt von vordefinierten Programmsequenzen, die automatisiert in der Innenseite des Systems ablaufen. Die Herausforderung ihrer Programmierung liegt laut Frank Kessler und Mirko Tobias Schäfer darin, dass diese nur maschinenverständliche Informationen („machine-readable information“) verarbeiten können, der Inhalt von Videos aber menschlich-kulturell codiert ist.1 Der Algorithmus als Teil der „Computerebene“ wäre schlicht nicht in der Lage, aus einem Video herauszulesen, was dessen Inhalt ist. Dennoch soll er etwa aus einer maschinellen Computerdatenbank Vorschläge und Empfehlungen generieren, die einen kulturell-semantischen Zusammenhang gemein haben. Dies aber lässt sich nur mit der Beihilfe von Menschen erreichen, die den Algorithmus mit technisch zu verarbeitenden Angaben versorgen. Die dafür erforderlichen Daten sind (stark vereinfacht) in zwei Gruppen zu unterteilen, die in voneinander abweichenden Verfahren gewonnen werden und mit verschiedenen Problemlagen behaftet sind. Hierbei handelt es sich einerseits um beschreibende Angaben, die in der Regel jedem Beitrag im Angebot der Plattformen zugeordnet sind und andererseits um Informationen, die aus dem Umgang der Nutzenden mit den Beiträgen errechnet werden.

1 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 281.

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META-DATEN UND SCHLAGWORTE Zu den sogenannten „Meta-Daten“ gehören neben dem textuellen Titel eines Videos, dessen verbale Videobeschreibung und der Zuordnung zu einer Kategorie ebenso die vergebenen „Tags“, die den Inhalt eines Videos in Form von Schlagwörtern kurz und prägnant, aber möglichst genau charakterisieren sollen. Für die Plattform Netflix erfolgt diese Verschlagwortung hingegen durch ein 30-köpfiges Team anhand von 180 Faktoren, zu den neben naheliegenden Angaben wie den beteiligten Schauspieler*innen ebenso Hinweise zur Stimmung, zur Farbgestaltung, zur Art des Humors oder zum Grad der Gewalt gehören. Dies legte Mike Hastings, der „Director of Enhanced Content“ des Unternehmens, in einem Vortrag offen.2 Die Produktion von Meta-Daten und die Lieferung der nötigen Informationen für die Algorithmen verbleiben somit im Unternehmen und können deswegen als einheitlich und in sich kohärent angenommen werden. Bei YouTube obliegt die Eingabe und Bearbeitung der Meta-Daten eines Videos ausschließlich der Person(en), die den Kanal betreibt, auf dem es hochgeladen wird. Die entsprechende Abfrage erfolgt noch im Verlauf des Uploads. Hier liegt die Datenhoheit in dezentralisierter Form bei den Nutzenden, sie ist allerdings strikt zugeteilt und limitiert. Da bei YouTube keine gesamtverantwortliche Instanz existiert, die das Hochladen und Beschreiben der Videos redaktionell überwacht, erfolgt auch die Vergabe der Meta-Daten dezentral und damit für jeden Upload individuell. Wie bei Netflix verbleibt das Recht dazu jedoch ausschließlich bei den Personen, die die Objekte zur Verfügung stellen. Den Zuschauenden wird darauf kein Einfluss gewährt, obwohl gerade für sie die Videoempfehlungen und Oberflächenarrangements aus diesen Daten errechnet werden. Das Beifügen von Meta-Daten ist überdies keine profane Angelegenheit, da bei diesem Vorgehen bildliche und akustische Inhalte mithilfe von textuellen Angaben und Werten beschrieben werden. Mit diesem Prozess geht ein Medienwechsel einher, der zwangsläufig Transformationsprozesse in sich birgt – vor allem, wenn dabei auch Stimmungen und Farbgestaltungen erfasst werden sollen. Darauf, dass sich Bilder nur schwer sprachlich erfassen lassen, weist der Professor für Psychiatrie Irvin Yalom in seinem Buch „Die Liebe und ihr Henker“ hin: Das Bewusstsein denkt in Bildern, muss aber, um sich mitzuteilen, Bilder in Gedanken und diese wiederum in Sprache umsetzen. Dieser Weg vom Bild über den Ge-

2 | Lückerath: Und was testet Netflix gerade bei Ihnen so? In: DWDL.de. Unter: http://dwdl.de/sl/479d76 [aufgerufen am 27. Januar 2020].

Algorithmen & Datenverarbeitung

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danken zur Sprache ist trügerisch. Ihn beschreiten heißt, Verluste in Kauf nehmen: der Reichtum, die fließende Qualität des Bildes, seine außerordentliche Formbarkeit und Flexibilität, seine persönlichen, nostalgischen und emotionalen Schattierungen – all das geht verloren, wenn das Bild in Sprache gepresst wird.3+4

Vor diesem Hintergrund erscheint es recht fraglich, ob die von den hochladenden Instanzen vorgenommenen Beschreibungen immer mit den Vorstellungen aller Nutzenden deckungsgleich sein können. Dies dürfte umso unwahrscheinlicher sein, wenn für die Vergabe von Meta-Daten wie bei YouTube keine einheitlichen Vorgaben, Begriffe oder Systematiken als Grundlage dienen und deswegen Abermillionen Personen ihre Videos nach eigenem, ganz persönlichem Ermessen deskribieren. Erschwerend kommt hinzu, dass – wie Kessler und Schäfer anführen – das Verfahren unterwandert wird, wenn absichtlich Fehlinformationen in Form von populär angenommenen Begriffen und Schlagworten vergeben werden (z.B. „XXX Porn XXX“).5 All diese Faktoren können einen störenden Einfluss auf die Ermittlung von Suchergebnissen und Videoempfehlungen sowie auf die Inszenierung der Oberflächen haben und das Erleben der Angebote maßgeblich prägen.

NUTZUNGSDATEN Die Vergabe von Schlagworten und Meta-Daten ist nur eine Quelle, aus denen sich die Algorithmen von On-Demand-Plattformen speisen, denn ebenso sind Gebrauchsweisen und Interaktionen mit den Videos relevant.

3 | Yalom: Die Liebe und ihr Henker, S. 254. 4 | Argumentative Unterstützung erhält Irvin Yalom von Michel Foucault, der zwischen Bild und Sprache ebenfalls eine nie auszuräumende Differenz erkennt: „Sprache und Malerei verhalten sich irrreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche, das, was ,man zu sagen im Begriff ist.“ (Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 38.) Friedrich Nietzsche schreibt indessen, dass die Sprache am Versuch scheitern würde, Musik nachzuahmen, denn die Sprache würde nie das tiefste Innere der Musik nach außen tragen können. (Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 55.)

5 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 283.

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In fact, every single click on one of the links to a clip, however random or accidental this choice may be, does feed into the database as well. Every interaction with the YouTube site leads to a trace in the system and becomes a record relevant to the statistics that can be read at the surface as an indicator for ‚popularity‘. Such acts of ‚implicit participation‘, of which most users are probably unaware, are actually the backbone of the entire operation. The participation, in other words, is implemented into the software design.6

Neben den Meta-Daten sind jegliche Interaktionen mit Videos („views, likes, clicks and more“7) maßgebliche Größen für die Datenbanken und die auf sie zugreifenden Algorithmen. Deren Berücksichtigung aber erfolgt, ohne dass die einzelnen Personen während ihrer Nutzung spüren oder nachverfolgen können, wann welche Daten in welcher Weise vom System erfasst werden. Ähnlich unklar bleibt, wie die einzelnen Elemente gegeneinander gewichtet oder miteinander kombiniert werden, um daraus die gewünschten Angaben zu berechnen. Einmal mehr offenbart sich die Programmierung von YouTube als Black Box. Das Unternehmen Netflix sammelt ebenfalls detaillierte Informationen aus dem Nutzungsverhalten seiner Kund*innen und zieht diese für strategische Entscheidungsprozesse heran. Demnach hätte Ted Sarandos, der Chief Content Officer von Netflix, nach der Vorstellung der Serie HOUSE OF CARDS durch Regisseur/Produzent David Fincher und Hauptdarsteller Kevin Spacey zunächst die Nutzungsdaten seines Dienstes gezielt ausgewertet: He [Ted Sarandos] looked at the data. He found that Mr. Spacey and Mr. Fincher’s films were pretty popular among subscribers to Netflix’s streaming service. So were the films and TV shows in the category Netflix called ‚political thrillers‘.8

Insbesondere die aus der Auswertung der Daten ableitbaren Erfolgsaussichten hätten letztlich zum Auftrag geführt, zwei Staffeln der Serie ohne die vorherige Herstellung einer Testfolge produzieren zu lassen.9

6 | Ebd., S. 285. 7 | Allocca: Videocracy, S. 10. 8 | Stelter: A Drama’s Streaming Premiere. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2m6ZVOz [aufgerufen am 27. Januar 2020].

9 | Kevin Spacey bestätigt diese Darstellung, indem er die Verantwortlichen von Netflix in seiner Keynote auf dem Edinburgh Television Festival folgendermaßen zitiert: „We’ve run our data and it tells us that our audience would watch this series. We don’t need you to do a pilot.“ (ca. 23:55 Min.)

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Wie die Medienwissenschaftlerin Sarah Arnold schreibt, geht die Datenerhebung bei Netflix deutlich über diese reine Auswertung der Abrufzahlen einzelner Filme hinaus. Netflix […] acquires insights on overall, total audience patterns and behaviors. It can assess the performance of individual assets (TV show or films) much more closely and with much greater accuracy. […] It can assess individual user engagement with great detail, measuring how users engaged (through interactions such as scroll, select, pause, return to interface).10

Wie kleinteilig und trennscharf die Auswertung der Nutzungsdaten vorgenommen werden kann, demonstriert das Unternehmen regelmäßig anhand gezielter Veröffentlichungen, die werbewirksam lanciert und dankend von großen Redaktionen, Foren und Online-Diensten aufgegriffen werden. So ist einer im September 2015 veröffentlichten Pressemitteilung zu entnehmen, dass sich für jede Serie exakt der Zeitpunkt ermitteln lasse, ab wann sie die Zuschauenden „am Haken“ hätte. Gemeint wäre damit die „Schlüsselfolge“, nach der „70 Prozent der Zuschauer im Anschluss die gesamte restliche Staffel“ geschaut hätten. Im Fall von HOUSE OF CARDS würde Frank Underwoods Rückkehr in seine Heimatstadt11 jenen Punkt markieren, an dem „es für die Zuschauer kein Zurück mehr gab und sie endgültig zum Fan der Serie wurden“. Die Analyse belege zudem, dass diese Momente national variieren und die Menschen in den Niederlanden einer Serie schneller „verfallen“ würden als jene in Australien und Neuseeland.12 So interessant solche Berechnungen zunächst klingen mögen, erfüllt ihre Veröffentlichung in erster Linie die Funktion einer Leistungsschau für die Präzision der implementierten Algorithmen. Dennoch belegen sie, wie sich die gewonnenen Datenmengen nahezu grenzenlos analysieren, miteinander kombinieren und in beliebige Zielgruppen unterteilen lassen, um daraus Rückschlüsse für die Zusammensetzung und Gestaltung des eigenen Angebots abzuleiten. Mögen sie an der Oberfläche zwar auch bei der von Menschen vorgenommenen Vergabe von Produktionsaufträgen berücksichtigt werden, entfalten sie ihre volle Wirkmäch-

10 | Arnold: Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy. In: McDonald / Smith-Rowsey (Hrsg.): The Netflix Effect, S. 53f.

11 | Dies erfolgt in Episode 3 von Staffel 1 („Chapter 3“). 12 | Netflix Press-Release: Do You Know When You Were Hooked? Unter: https://media. netflix.com/en/press-releases/do-you-know-when-you-were-hooked-netflix-does [aufgerufen am 20. Januar 2020].

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tigkeit, indem sie durch die Programmierung der Plattform automatisiert verarbeitet und sowohl in die Gestaltung der individualisierten Benutzungsoberflächen als auch in die für jeden Nutzenden spezifisch errechneten VideoEmpfehlungen einfließen. Auf diese Weise realisieren die Daten (zumindest potentiell) eine für jeden Nutzenden passgenaue Erscheinung des Angebots und bilden die Grundlage für das „personalisierte Sehen“ („personalized viewing“) 13, das so sehr zum Markenkern des Unternehmens wurde und als entscheidendes Kriterium fortwährend gegen das Fernsehen herausgestellt wird.

KURATION UND AGGREGATION Die Angebote, welche die Unternehmen Netflix und YouTube den Kund*innen mit ihren Diensten unterbreiten, realisieren sich in und um ihre Interfaces und Algorithmen, die strikt vordefinierte Zugriffsmöglichkeiten auf Datenbanken gewähren. Hierbei greifen sie auf Informationen zurück, die auf der kulturellen Ebene des Computers von Menschen in Form von Eingaben erbracht und diese vom System auf der Computerebene in Zahlenwerte überführt und verarbeitet werden. Diese Mensch-Maschine-Kopplungen aus Datenproduktionen und Rechenprozessen bestimmen maßgeblich den Umgang und die Erfahrung mit OnDemand-Diensten. Sie bilden das Fundament für ihre televisionizitären Versprechungen, die sich um Zuschreibungen wie Ermächtigung, Freiheit und Flexibilität formieren. Sie inszenieren eine Kultur, welche die Autorin MJ Robinson als „Curatorial Culture“ beschreibt und aus der Überzeugung erwächst, sich mithilfe von Plattformen wie Netflix und YouTube durch den zeitsouveränen Abruf von Serien und Filmen jederzeit und überall ein individuelles Angebot zusammenstellen zu können. Diese Annahme aber ist für Robinson eine scheinbare, denn tatsächlich werde den Nutzenden nur eine Wahl aus einem vorsortierten Katalog gewährt. Vielmehr maskiere sich hier etwas als menschliche Eingabe, was eigentlich eine im Voraus ausgeführte, automatisierte Auswahl ist. 14 Aus diesem Grund wäre auch der Begriff „curatorial“ missleitend, den die Autorin aus dem Kunst- und Ausstellungskontext herleitet und folgendermaßen fasst:

13 | Arnold: Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy. In: McDonald / Smith-Rowsey (Hrsg.): The Netflix Effect, S. 49.

14 | Robinson: Television On Demand, S. 22.

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The curator is ‚one who has a charge‘ and that this charge involves ‚guardianship‘ or ‚stewardchip‘ as well as management. Curators are those with substantial knowledge of the holdings of an institution, an understanding of the nature and location of those holdings, and the ability to make those items accessible and contextually meaningful for those who wish to view them (and articulate the value one has found in them).15

Die begrenzten Wahlentscheidungen, die Nutzende durch die Interfaces von Netflix und YouTube eingeräumt bekommen, grenzt Robinson strikt von ihrem Verständnis von Kuration ab und besetzt sie stattdessen mit dem englischen Begriff „choose“.16 Im Transfer dieser Feinheiten gelangt eine deutsche Übersetzung an ihre Grenzen, doch lässt sich dieses Verhältnis am ehesten anhand der Differenzen zwischen den Wörtern Wahl (als Gegenstück zu „choose“) und Auswahl (als Gegenstück zu „curation“) verdeutlichen. Zugleich spricht sich Robinson dagegen aus, programmierte, technische Algorithmen, die aus verschiedenen Daten individuelle Angebote zusammenstellen, mit dem Begriff Kuration zu beschreiben. Zwar würden auch diese umfangreichen Content sortieren, organisieren und selektieren, im Gegensatz zu menschlichen Kuratoren etwa in Museen oder in den Programmabteilungen von Fernsehsendern wären sie jedoch nicht in der Lage, den Kontext und die Qualität von Objekten zu bewerten. Ihr Prozessieren basiere vielmehr auf dem Sammeln und Verarbeiten von Meta-Daten und Nutzungsdaten und nicht auf einem Verständnis von Inhalten oder ausgelösten Emotionen. Hingegen würde bei der Kuration eine Auswahl von Menschen getroffen werden, die auf ihren kulturellen Erfahrungswerten und damit auf einer menschlichen Expertise basiert.17 Letztlich entscheidet sich Robinson dafür, die automatisierte Auswahl, die in der Computerebene im Unterschied zur Kuration ohne menschliche Expertise abläuft, mit dem Begriff der Aggregation („aggregation“) zu belegen. Der fundamentale Unterschied zwischen Kuration und Aggregation besteht somit im Vorliegen oder Fehlen einer menschlichen Vermittlung und Bewertung („human agency and evaluation“) im Auswahlprozess. Aus diesen Vorgängen resultiert entweder ein kuratiertes und einheitlich geltendes Programm oder eine Vielzahl aggregierter Angebote, die automatisiert einzig für die jeweils singuläre Kombination aus spezifischem Inhalt, spezifischem Nutzenden und spezifischem Zeitpunkt errechnet werden.

15 | Ebd., S. 20. 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 23.

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Während also bei der Kuration durch menschliche Entscheidungen ein konkretes Programm erstellt wird, liegt jeder Aggregation eine Programmierung zugrunde, in der lediglich die Bedingungen und Gewichtungen von zu verarbeitenden Informationen festgelegt werden, um daraus individualisierte Angebote und Darstellungen automatisiert errechnen zu lassen. Hierin nun offenbart sich die entscheidende Voraussetzung für die digitalizitäre Reformierung von Fernsehen. Sie vollzieht sich in der Abkehr eines festen Programms zugunsten der Einführung einer programmierbaren Maschine, die Zugriffsmöglichkeiten auf Datenbanken organisiert. Anders gewendet: Alle digitalizitären Versprechen, alle Hoffnungen, alle Befreiungen, die mit den televisionizitären Plattformen gegenüber fernsehhaften Anordnungen verbunden werden, manifestieren sich in und um einen vollzogenen Wechsel vom Programm zur Programmierung. Auf Kevin Spaceys markanten Netflix-Slogan „Give people what they want – when they want it – in the form they want it in“18 lässt sich deshalb mit drei kurzen Worten antworten: A good programming.

18 | Transkript des Videos: Edinburgh Television Festival: Kevin Spacey | James

Mac-

Taggart Lecture 2013 | EITF. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ oheDqofa5NM [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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3. Flow

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Programme & Verweise

FALLBEISPIEL: „GLEICH BEI UNS IM FERNSEHGARTEN“ Mit der Ausstrahlung seiner ersten Ausgabe im Jahr 1986 gehört der ZDF FERNSEHGARTEN1 nach über 30 Jahren längst zum Inventar des deutschen Fernsehprogramms und präsentiert während der Sommermonate im wöchentlichen Rhythmus nach eigenen Angaben „Musik, Spaß und gute Laune vom Mainzer Lerchenberg“2. In ihrer Konzeption als Varieté-Sendung, in der sich Musikauftritte zeitgenössischer Künstler*innen mit akrobatischen Darbietungen, Tiergeschichten, Spielen, Kochrezepten und Interviews mit Prominenten abwechseln, vereint die Show eine Vielzahl wesentlicher Merkmale in sich, die eng mit einer Fernsehhaftigkeit verbunden sind. Nicht zufällig, ließe sich daher behaupten, trägt die Sendung den Begriff FERNSEHEN als programmatischen Fingerzeig bereits im Titel. Hierbei erhält jede Ausgabe ein übergeordnetes Thema, das im Verlauf der Ausstrahlung eine wiederholte, sprachliche Herausstellung erfährt und zu dem für jeden Programmpunkt ein (oft konstruierter) Bezug hergestellt wird. Die nachfolgend exemplarisch herangezogene Ausgabe vom Sonntag, dem 22. Juli 2018 steht unter dem Motto „Tierisch gut“ und beginnt mit dem ausgiebigen Applaus des anwesenden Publikums, das auf dem Freigelände des ZDFSendezentrums auf Tribünen oder an Gartentischen rund um einen weißen Pavillon platziert ist. Aus diesem tritt die Moderatorin Andrea Kiewel hervor, tanzt zur eingespielten Musik und schreitet eine kurze Treppe hinab, die in einem

1 | ZDF Fernsehgarten, D seit 1986. 2 | Beschreibung der Sendung auf der offiziellen Website des ZDF. Unter: https://www.zdf.de/show/zdf-fernsehgarten [aufgerufen am 13. September 2017].

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kleinen Podest aus rotbraunen Holzplanken endet. In der Hand hält sie ein großes orange-schwarzes Mikrofon mit dem Logo der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt ZDF sowie mit dem Schriftzug der Sendung versehene Karteikarten. Noch bevor der Applaus vollends verstummt ist, beginnt sie zu sprechen: Vielen Dank, sehr lieb von Ihnen. Herzlich Willkommen im ‚Tierisch gut‘FERNSEHGARTEN. Willkommen auch Ihnen zu Hause, liebe Fernsehzuschauerinnen, liebe Fernsehzuschauer. […] Setzen Sie sich ruhig hin. [Sie blickt gen Himmel.] Es wird heute heiß. Wir chillen einfach ein bisschen rum. Also, ‚Tierisch gut‘ heißt es heute bei uns im FERNSEHGARTEN. Was bedeutet das? Einerseits haben wir heute Menschen hier, die beispielsweise Handstand auf Fäusten machen und dabei Bretter zerschlagen. Andererseits haben wir auch Tiere hier, die Sachen richtig gut können. Zum Beispiel unsere Suchhündin Speedy, die etwas später hier bei uns im ‚Tierisch gut‘- FERNSEHGARTEN meinen lieben Kollegen Steven Gätjen unter Ihnen allen hier [sie macht einen schweifenden Blick über das Publikum] und Sie sind so Pi-mal-Daumen dreieinhalb bis viertausend Live-Zuschauer – finden wird. Ja, das kann Speedy. Okay, eine heiße Woche liegt hinter uns und es wird ja immer noch heißer. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging – obwohl wir als FERNSEHGARTEN-Truppe den Sommer lieben und der Sommer ist der FERNSEHGARTEN und der FERNSEHGARTEN ist der Sommer – kamen wir uns gelegentlich in unseren Büros ohne Klimaanlage so vor.3

Es wird ein kurzer Ausschnitt eingespielt, der einen an einem Laptop sitzenden Affen zeigt und den Kiewel mit einem imitierten sächsischen Dialekt synchronisiert. Als das Fernsehbild wieder zurück auf die Moderatorin wechselt, die sichtlich vom Clip amüsiert ist, setzt sie ihre Nummer fort: Aber, es ist Sonntag und wir haben alle frei. Deswegen ist das Leben jetzt genau so.4

Wieder folgt ein kurzer Film, der diesmal einen auf dem Wasser treibenden Otter umfasst, den sie abermals vertont – nun in einem imitierten Berliner Dialekt. Sowohl Wortbeiträge als auch Einspielungen beziehen sich dabei auf eine zum Zeitpunkt der Produktion in Deutschland anhaltenden Hitzewelle, die auf diese Weise passend zum Überthema der Sendung mithilfe tierischer Referenzen aufgearbeitet wird.

3 | Transkript der Sendung: ZDF Fernsehgarten, D 2018, Ausgabe vom 22. Juli 2018, ca. 01:10 Min. Auslassungen sind markiert.

4 | Ebd., ca. 02:35 Min.

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Im Anschluss kündigt Andrea Kiewel weitere Höhepunkte der bevorstehenden Ausgabe an, zu denen sie einige exotische Papageien-Arten zählt, die – wie ein kurzer Umschnitt auf die Vögel beweisen soll – im nahegelegenen Gartenhaus bereits auf einen Besuch der Moderatorin warten würden. Doch bevor man sich den Tieren widmen könne, würden noch weitere Attraktionen anstehen: Gleich nach der ersten Musik stelle ich Ihnen die wichtige Arbeit von ‚Rettern auf vier Pfoten‘ vor. [Es werden die entsprechenden Personen und Tiere gezeigt] Da sind sie schon. Nämlich, die belgische Schäferhündin Speedy, den Border-CollieSchäferhund-Mix Leico, Australian Shepherd Eileen, Australian Shepherd Mae-Uma und – jetzt alle ein gemeinschaftliches ‚Ah ist die süß‘ – das ist Pepper, elf Wochen alt. Sie kann noch nichts, aber das richtig gut. Also gleich, Rettungshunde zeigen, wie sie Menschen finden. Gleich bei uns im FERNSEHGARTEN.5

Am Ende der ersten musikalischen Darbietung steht Andrea Kiewel an einer Wiese am Rande des Fernsehgeländes, wo sie mit einigen Vertreter*innen des „BRH Bundesverband Rettungshunde e.V.“ spricht und sich über die Arbeit des Vereins aufklären lässt. Nachdem zwei Hunde ihr Können vorgeführt und Menschen in simulierter Not geborgen haben, wendet sich Kiewel der bisher noch unbeteiligten Hündin Speedy zu, die sie – wie sie mehrfach bemerkt – für eine „ganz besondere Hündin“ hält. Die Moderatorin spielt hierbei erneut auf jenen Programmpunkt an, den sie bei der Eröffnung der Sendung bereits angekündigt hat und nun ein weiteres Mal erklärt: Also, mein lieber Kollege Steven Gätjen ist da. Der Steven wird ein Kleidungsstück ausziehen. Speedy wird daran riechen. Wir verstecken Steven und Speedy wird Steven, so hat sie mir jedenfalls vorhin ihr Hundeversprechen gegeben, innerhalb dieser viertausend Leute suchen und finden. […]6

Doch nicht nur Speedy kann das Interesse der Moderatorin auf sich ziehen; nicht minder begeistert zeigt sie sich von der schwarzen Hündin Peppa, die sie als „so niedlich“ beschreibt und beinahe mit dem Gestus einer Beruhigung verspricht… Peppa werden wir etwas später noch sehen, weil niedlich muss doppelt sein. Und dann der große Einsatz von Speedy. Sie sollten auf gar keinen Fall, liebe Zuschauerinnen, liebe Zuschauer, meine afrikanischen Achatschnecken verpassen. Die können

5 | Ebd., ca. 03:50 Min. 6 | Ebd., ca. 14:35 Min.

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bis zu einem halben Meter groß werden. […] Und warum die bei uns im ‚Tierisch gut‘-FERNSEHGARTEN sind, das verrate ich Ihnen etwas später.7

Es folgt der Auftritt des Sängers Markus, der sein Lied „Spring ins Blau“ wieder vor dem kleinen Pavillon vorträgt, an dem die Show vor wenigen Minuten eröffnet wurde. Als die letzten Töne des Liedes verklingen, ist Andrea Kiewel bereits aus dem Off zu hören, bevor das Bild umschneidet und sie nun auf dem blauen Laufsteg in der Mitte eines großen Pools zeigt. Um sie herum stehen und sitzen Zuschauende am Beckenrand, die sie in ihrem Moderationstext direkt anspricht. Vielen Dank, Markus. Und bevor ich Ihnen sage, was wir mit Markus gleich noch vorhaben, begrüße ich erstmal das allercoolste Pool-Publikum. Wow, kaum bin ich bei Ihnen, kommt die Sonne raus. […] Gleich stelle ich Ihnen eine Dolmetscherin für deutsche Gebärdensprache bei uns vor und sie wird den Mega-Hit von Markus ‚Ich will Spaß‘ live für alle, die – naja, sagen wir mal schlecht oder eben gar nicht hören können, die darauf angewiesen sind – mittels Gebärden begleiten. Das passiert gleich bei uns.8

Zuvor betritt noch ein Athlet den Laufsteg, der dort im Handstand einige Holzbretter zerschlägt sowie mit „Glasperlenspiel“ eine weitere Band, die erneut am Pavillon ihren aktuellen Titel präsentiert. Mittlerweile befindet sich Andrea Kiewel am anderen Ende der Spielfläche, wo zwei Palmen vor einer Weltkugel drapiert sind. Dort leitet sie den nächsten Programmpunkt ein, der aus einem Interview mit dem Moderator Steven Gätjen besteht und den sie freudig ankündigt: Ich freue mich jetzt auf einen tierisch-tollen Kollegen, den ich sehr schätze und den ich feiere, um mal mit unseren Worten zu sprechen. Und mit dem Sie, liebe Zuschauerinnen und liebe Zuschauer, ab Dienstag – also übermorgen – um die Welt reisen können. Die Weltreise hat er nicht allein gemacht. Darüber reden wir gleich, aber jetzt muss er erstmal selber herauskommen. Herzlich Willkommen, einen fetten Applaus für Steven Gätjen.9

Ehe die beiden jedoch über die angekündigte Weltreise sprechen können, muss Gätjen getreu dem Motto der heutigen Ausgabe noch offenbaren, welche Tiere er favorisiert. Es sind Geparden und Wale.

7 | Ebd., ca. 15:20 Min. 8 | Ebd., ca. 19:35 Min. 9 | Ebd., ca. 32:45 Min.

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Nachdem die Informationen ausgetauscht sind, leitet Kiewel das Gespräch auf die geplante Aktion mit Hündin Speedy und erläutert ihrem Gast den Ablauf: Pass auf, wir haben nachher… und dann reden wir über die Sendung… was wirklich Tolles mit Dir vor. Ganz genau gesagt, hat Speedy etwas mit Dir vor. Speedy findet Dich. […] Du gibst Speedy was von Dir, dann nimmt sich Speedy Deinen Geruch auf. Es sollte etwas sein, das Du lange anhattest und wirklich auch nach Dir riecht. […] Dann verstecken wir Dich hier irgendwo und Speedy wird Dich finden. 10

Dem im Vorfeld abgesprochenen Vorhaben stimmt Gätjen zu und scherzt, ein T-Shirt mitgebracht zu haben, das er bereits seit Weihnachten ununterbrochen trägt. Kiewel lacht und lenkt den Dialog zur versprochenen Weltreise: Jetzt zu der Weltreise, die den wunderbaren – ich finde das ganz entzückend – [Titel trägt] nicht in 80 Tagen um die Welt, sondern MIT 80 JAHREN UM DIE WELT. Dienstag, 22.45 Uhr, also übermorgen, Viertel vor elf abends, wenn es schon wieder ein bisschen kühler ist und man gern zu Hause ist, startet die Reise.11

In knappen Worten beschreibt Gätjen seine Reise, die er, wie sich herausstellt, im Rahmen einer mehrteiligen Dokumentation12 mit sechs 80-jährigen Senioren vorgenommen hat. Er schildert einige kurze Anekdoten aus der Produktionszeit, die von der Regie mit Ausschnitten aus den entsprechenden Episoden bebildert werden. Zum Abschluss des Gesprächs wiederholt Andrea Kiewel noch einmal die exakten Sendetermine der neuen Reihe und verweist dann auf die PapageienBar des FERNSEHGARTENS, wo sie Steven gleich wieder sehen wird. Doch zuvor folgt ein Auftritt des Sängers „Eagle-Eye Cherry“. Inmitten der Papageien und im Beisein ihrer Besitzerin Heike erklärt Kiewel dann ein weiteres Mal den bevorstehenden Auftritt der Suchhündin Speedy, der aber im geplanten Ablauf noch immer nicht an der Reihe ist. Zunächst folgen nämlich auf die Papageien noch die Musikauftritte der Band „Körner“ und der Sängerin Sarah Lombardi sowie die bereits angekündigte Übersetzung des Titels „Ich will Spaß“ in Gebärdensprache. Rund 75 Minuten sind schließlich vergangen, bis die versprochene Suche von Speedy eingelöst wird und es der Hündin tatsächlich gelingt, den im Publikum versteckten Moderator aufzuspüren.

10 | Ebd., ca. 34:50 Min. 11 | Ebd., ca. 35:50 Min. 12 | Mit 80 Jahren um die Welt, D seit 2018.

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Mit dem geglückten Kunststück verbindet sich zugleich das Ende des Mitwirkens von Steven Gätjen am weiteren Verlauf der Sendung, weswegen er von Kiewel verabschiedet wird. Dies erledigt sie allerdings nicht ohne einen abermaligen Wink auf seine bevorstehende Sendereihe zu geben. Ich danke Dir Steven und würde gern nochmal darauf hinweisen. Es ist ein wirklich ganz, ganz besonderes, eine ganz besondere und feine Sendung am kommenden Dienstag – also übermorgen, 22.45 Uhr. MIT 80 JAHREN UM DIE WELT […] Gleich gibt es bei uns tolle Tipps von meinem lieben Kollegen Flo Weiß […], wenn Sie mit dem Hund in den Urlaub fahren wollen. Jetzt aber wieder Musik.13

In diesem Rhythmus und Tempo setzt sich die Show fort: Es folgen weitere musikalische Darbietungen, die versprochenen Urlaubs-Tipps, die angekündigte Präsentation der Achatschnecken sowie ein Body-Artist, der die Körper zweier Models als Papageien anmalt. Kurz vor 14.00 Uhr steht Andrea Kiewel am Rande der zentralen Spielfläche zwischen den Rängen, bedankt sich erst bei ihrem Team für diese „wirklich tolle“ Sendung und spricht dann in die Kamera: Noch ist es ja nicht Nacht. Und es soll eine heiße Nacht werden. Die ganze nächste Woche. Mega-Sommer. Über 30 Grad deutschlandweit. […] Der Fernsehgarten ist nächste Woche wieder für Sie da. Ich sag Ihnen gleich womit.14

Zuvor lässt sie einen weiteren Clip einspielen, der diesmal eine Gruppe von Pinguinen zeigt, die sie erneut synchronisiert und damit den narrativen Bogen zum Beginn der Sendung schließt. Erst danach folgt die Verabschiedung, die nicht nur offenbart, welche Gäste am kommenden Sonntag im FERNSEHGARTEN unter dem Motto „Mallorca“ erwartet werden, sondern zudem noch Hinweise darauf enthält, welche Höhepunkte das weitere Programm des ZDFs noch bereithält. Nächsten Sonntag, unser aller Lieblings-FERNSEHGARTEN […] 11.50 Uhr. AnnaMaria Zimmermann, Jürgen Drews, Loona, Jürgen Milski, Markus Becker, Olaf Hennig, Peter Wackel, Tim Toupet und Alm-Klausi. […] Otto Waalkes feiert heute 70. Geburtstag. Deswegen gibt es heute Abend um 22.00 Uhr einen tollen Film: GEHEIMAKTE OTTO WAALKES – HARRY HIRSCH AUF SPURENSUCHE. Und morgen die VOLLE KANNE mit zwei Känguru-Babys. Tschüss, Ihre Kiwi. 15

13 | Ebd., ca. 1:18:58 Min. 14 | Ebd., ca. 1:57:15 Min. 15 | Ebd., ca. 1:58:29 Min.

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MEDIUM DER VERSCHWINDENDEN GEGENWART Die zitierten Passagen verdeutlichen den hohen Grad an Gegenwartsbezogenheit der Ausgabe und ihre gezielte Ausrichtung auf den konkreten Ausstrahlungszeitpunkt am Sonntagmittag. Hierbei liefern insbesondere die Hinweise zum derzeitigen Wetter („Es wird heute heiß.“ und „Es soll eine heiße Nacht werden.“) entscheidende Beiträge zur „Aktualität der Fernsehbotschaft“16 und deswegen zu einer Verhaftung der Ereignisse in der Gegenwart der Ausstrahlung. Schließlich sind Anspielungen auf das Wetter bereits bei einem Ansehen der Ausgabe im Laufe der nachfolgenden Woche – unter Umständen sogar nur wenige Stunden nach der Ausstrahlung im Fernsehprogramm – nicht mehr aktuell. Nichts ist so alt wie das Wetter von gestern. Dieser absolute Gegenwartsmodus, in den sich das Fernsehbild auf diese Weise versetzt, wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass es „Live“ übertragen wird und einen „Kommunikationstyp“ einnimmt, „den nur das Fernsehen kennt“17. Dieses fernsehhafte Spezifikum aber soll an dieser Stelle noch unberücksichtigt bleiben. Noch stärker als Hinweise auf das derzeitige Wetter prägen fortwährende Ankündigungen auf noch kommende Gäste, Auftritte und Aktionen den Gesamteindruck der Sendung. Sie ist gekennzeichnet von einem ständigen Ersetzt-Werden der derzeitigen Programmpunkte durch nachfolgende (versprochene) Höhepunkte. So befindet sich die Moderatorin Andrea Kiewel noch im Gespräch mit der Papageien-Besitzerin, während sie bereits ankündigt, welche noch beeindruckendere Höchstleistung die Hündin Speedy in wenigen Minuten erbringen wird. Oder, noch vor dem Auftritt des Handstand-Läufers verspricht Kiewel, dass der zweite Aufritt des Sängers Markus gleich besonders sehenswert sein wird. Nach jeder Ausgabe, nach jedem Abschnitt, nach jedem Augenblick wartet in der Dramaturgie ein weiterer Moment, eine weitere Passage, eine neue Episode, die ihre Vorgänger ersetzt und noch zu übersteigern versucht. Das Fernsehprogramm ist bestimmt von einer ständigen Auflösung seiner Bilder, die sogleich durch neue Ereignisse aufgefüllt und gegen neue ausgetauscht werden. Aus der resultierenden Vergänglichkeit einzelner Ausgaben leitet der amerikanische Philosoph Stanley Cavell in seiner erstmals im Jahr 1979 erschienenen Theorie eine

16 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 65.

17 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 188.

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Flüchtigkeit des Fernsehens ab.18 Er formuliert diese in Abgrenzung zum (Kino-) Film, den er aufgrund seiner Abgeschlossenheit und Singularität für geeignet hält, mehrmals betrachtet zu werden und der daraus sogar eine Steigerung seines Wertes ziehen könne. Beim Fernsehen würden hingegen Einzelwerke keine derartige Beachtung erfahren. Vielmehr seien es eher die Formate als übergeordnete Rahmung und weniger ihre einzelnen Einheiten, die erinnert würden: Nicht das einzelne Werk ist unvergesslich, kostbar oder wert, untersucht zu werden, sondern die Sendung, das Format; nicht dieser oder jener Tag von I LOVE Lucy, sondern die Sendung als solche.19

Nicht die einzelne Ausgabe des FERNSEHGARTENS – ließe sich dieser Gedanke paraphrasieren – ist entscheidend, sondern die Reihe als solche. Eine Reihe, die einzig daraus erwächst, dass eine Folge stets durch eine nachfolgende aktualisiert und ersetzt wird. Ähnlich wie Cavell wählt der Medienwissenschaftler Lorenz Engell für seine Beschreibung des Fernsehens ebenfalls den Umweg über eine Differenz zum Medium Film, denn in seinem Aufsatz zum „Operative[n] Gedächtnis des Fernsehens“ aus dem Jahre 2011 schreibt er: Wo der Film Bewegungen aufzeichnet und die dabei entstandenen Bilder dann verbreitet, da handelt es sich beim Fernsehen grundsätzlich um flüchtige Bilder, die verbreitet werden und dabei zumeist sofort wieder zerfallen.20

Wie Cavell bescheinigt auch Engell dem Fernsehen eine Flüchtigkeit, die sich für ihn allerdings weniger aus einem ständigen Ersetzt-Werden oder der Einbettung einzelner Werke in eine Reihung ergibt, sondern aus einer ständigen Zersetzung seiner Bilder. Dies habe vor allem technische Gründe, denn im Gegensatz zum Film befänden sich die elektronischen Röhrenbilder „im Zustand des unausgesetzten Geschrieben-Werdens“, die keinen Bestand hätten und sowohl im engeren Sinne als auch im Vergleich zum gespeicherten Film niemals wirklich vorhanden wären. Deswegen bliebe das Fernsehen „in seinem spezifischen

18 | Hiermit ist eine andere Flüchtigkeit als im vorangegangenen Kapitel gemeint. Diese bezog sich noch auf die gesellschaftlich und zeitlich nicht fixierten Aufladungen, die mit einem Begriff in mythischer Weise verbunden werden. Hier nun bezieht sich die Flüchtigkeit auf das Programm des Fernsehens, welches als unbeständig erscheint.

19 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 129.

20 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 117.

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Kern bis heute ein Übertragungs- und Verbreitungs-, aber kein Aufzeichnungsund Speichermedium“.21+22 Daraus leitet er schließlich eine permanente Gegenwärtigkeit des Fernsehens ab, die er folgendermaßen formuliert: Seine Bilder [des Fernsehens] behaupten keinen Bestand in der Zeit, sie sind nicht zeitresistent. Fernsehsendungen laufen ab in der Gegenwart der jeweiligen Ausstrahlung; sie müssen jeweils jetzt betrachtet werden. 23

In ihrem vielbeachteten Aufsatz „Information, Krise, Katastrophe“ befasst sich Mary Ann Doane mit diesem Phänomen noch intensiver und stellt fest, im Fernsehen würde eine Information gezeigt werden, … […] um punktuell zu sein; sie besetzt einen Moment der Zeit und wird dann an die Erinnerung verloren. Das Fernsehen erzielt Gewinn daraus, für das Vergessenwerden zu produzieren. Während das Informationskonzept selbst die Möglichkeiten von Speicherung und Wiederherstellung impliziert (wie in der Computertechnologie), bleibt dem Fernsehen der Begriff des Speicherns im großen und ganzen eine fremde Idee.24

Das Fernsehen im Sinne einer Fernsehhaftigkeit verfügt demnach aufgrund einer endlosen Produktion von Momenten, die nur deswegen in der Zeit platziert werden, um direkt wieder vergessen zu werden, über keinen eigenen Gedächtnisspeicher. Dieser fehlende Speicher verhindert einen ständigen Zugriff auf vergangene Momente und erlaubt einen erneuten Zugang zu ihnen nur, „wenn die Archivalien in den erneuten, je gegenwärtigen Programmfluss eingespeist wer-

21 | Ebd. 22 | Längst besteht für das Publikum die technische Möglichkeit, vollständige oder Teile von Fernsehausstrahlungen mithilfe von Video-, DVD-, Festplatten- oder Kassettenrekordern im heimischen Umfeld aufzuzeichnen und demzufolge zu speichern. Hierbei wäre allerdings fraglich, inwieweit diese Aufzeichnungen, die mithilfe externer Geräte angefertigt werden, als Bestandteil des eigentlichen Fernsehapparats zu werten sind. Selbst bei Aufnahmen, die von Fernsehgeräten etwa auf einen USB-Stick oder einer externen Festplatte abgelegt werden, muss die Speichereinheit und damit das entscheidende Element von außen hinzugefügt werden. Sie ist kein originärer Bestandteil der eigentlichen Anordnung.

23 | Ebd. 24 | Doane: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 107.

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den.“25 Dies könne als komplette Wiederholung (z.B. die jährliche Wiederaufführung von DINNER FOR ONE26 zu Silvester27) oder in Form von selbstreferenziellen Rückblicken, Spielshows oder Best-Ofs28 erfolgen. Allenfalls kann das Fernsehen dazu beitragen, innerhalb der Gesellschaft ein kulturelles Gedächtnis auszubilden, wenn sich die Menschen an gesehene Programme und an vom Fernsehen begleitete Ereignisse erinnern. Dann aber stellt es weder einen eigenständigen Speicher für Informationen noch eine Möglichkeit, eigene Erinnerungen auszulagern, dar. Wir können uns zwar anlässlich des Fernsehens erinnern – und dann meist an das Fernsehen – , aber wir können uns nichts mit Hilfe des Fernsehens merken. 29

Sein andauerndes „Gegenwärtig-Sein“30, seinen „durchgehend präsentischen Charakter“31 und seine beharrliche Fabrikation von Vergessen habe das Fernsehen gemäß des Fernsehwissenschaftlers Knut Hickethier mit dem Radio gemein, das ebenfalls keine Speicherfunktion kenne und dessen Inhalte genauso flüchtig erscheinen.32 Diese Parallele wird im weiteren Lauf der vorliegenden Argumentation noch eine gewichtige Bedeutung erfahren. Vorerst aber bleibt festzuhalten, dass Fernsehhaftigkeit (und deren Sendungen wie dem FERNSEHGARTEN) vom Eindruck bestimmt ist, dass es stets „genau im gegenwärtigen Moment stattfindet“33. Sie nimmt einen immerwährenden Zustand ein, den Stephen Heath treffend als „endlos verschwindende Gegenwart“ („endlessly disappearing present“)34 beschrieben hat.

25 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 117 . 26 | Dinner For One, D 1963. 27 | Hickethier: The Same Procedure. In: Felix et. al. (Hrsg.): Die Wiederholung, S. 59. 28 | Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz, S. 156f.

29 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 117. 30 | Doane: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 102.

31 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 44.

32 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S. 424.

33 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 65.

34 | Heath: Representing Television. In: MeIlencamp (Hrsg.): Logics of Television, S. 267.

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MEDIUM DER KONTINUIERLICHEN ANKÜNDIGUNG So sehr sich Fernsehhaftigkeit in einem ständigen Gegenwartsmodus befindet und ihre „Jetzigkeit“ („nowness“) kontinuierlich betont35, so wenig hält sie dieses Verharren im absoluten Präsens aus und verweist ständig auf künftige, nichtgegenwärtige Ereignisse. Im FERNSEHGARTEN ist dies immer dann zu beobachten, wenn die Moderatorin Andrea Kiewel noch während eines laufenden Programmpunkts schon weitere Auftritte und Aktionen ankündigt. Besonders evident wird dies in der „Papageien-Bar“, wo Kiewel mitten im Gespräch mit der Papageien-Besitzerin Heike einmal mehr den noch anstehenden Auftritt der Suchhündin Speedy anpreist: Heike, Gleich machen wir mit Steven noch etwas ganz Tolles, denn dann kommt wieder Speedy ins Spiel, der kein Papagei ist. Speedy ist eine belgische Schäferhündin. Speedy wird […] ein T-Shirt von Steven bekommen […] und dann verstecken wir Steven oben auf der Fläche und dann muss Speedy erst den Weg nachgehen und ihn dann finden.36

Unmittelbar im Anschluss an die neuerliche Ankündigung setzt sie die Unterhaltung mit der Papageien-Mutter unbeirrt mit einer Frage zum Transport der Tiere fort und beendet etwa zwei Minuten später auch diesen Programmpunkt. Sie tut dies, indem sie zwei aufeinander folgende musikalische Aufführungen gemeinsam ansagt und auf diese Weise sprachlich in Konkurrenz zueinander setzt: Wir machen jetzt zwei Musiken hintereinander weg. Aus dem Album ‚Zurück zu mir‘ ist die Single Nummer zwei fertig und wird veröffentlicht. Das ist ein ganz, ganz wunderbarer Song. Wir freuen uns sehr auf Sarah. Aber zuerst gibt es Konfetti für die Seele. Das ist Neue Deutsche Pop-Poesie aus seinem Debüt-Album – auch eine Premiere im FERNSEHGARTEN. ‚Bist Du da?‘, so heißt der Titel und er heißt Körner.37

Der Appell hinter solchen Äußerungen kann nur lauten:

35 | Doane: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 109.

36 | Transkript der Sendung: ZDF Fernsehgarten, D 2018, Ausgabe vom 22. Juli 2018, ca. 52:30 Min. Auslassungen sind markiert.

37 | Ebd., ca. 54:20 Min.

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Halten Sie das Gespräch über die Papageien durch oder halten Sie die erste Musiknummer durch, die wirklich gute Unterhaltung und die tatsächlichen Höhepunkte warten bereits auf Sie. Dafür müssen Sie nur die im Vergleich dazu weniger unterhaltende Gegenwart überstehen. Derartige Verweise auf zukünftige (also gerade nicht gegenwärtige) Momente können vor, nach oder während einzelner Sendungen wie dem FERNSEHGARTEN auftreten und durchsetzen in mannigfaltiger Weise bereits seit Aufnahme des Sendebetriebs das gesamte Fernsehprogramm. Die Vorwegnahme des Zukünftigen geschieht hier explizit in Form der Ansage, der Vorschau, der Programmtafel, des Trailers, Teasers und Appetizers. Diese Praxis hat sich schon ganz früh verkörpert in der für das Fernsehen der 1950er und 60er Jahre ikonischen Figur der Ansagerin. Sie hat sich dann, verstärkt durch Einblendungen, Laufschriften und Off-Stimmen, als sehr nützlich erwiesen insbesondere im Zusammenhang mit der enormen Komplexitätssteigerung des Fernsehens der 1980er Jahre.38

Seit den 1990er Jahren – darauf weist Klaas Klaassen in seinem Beitrag hin – wird diese Ankündigung hauptsächlich durch einen verstärkten Einsatz von Trailern („Zusammenschnitt von Höhepunkten“39) realisiert. Trailer werden in (fast) jede Unterbrechung der Sendungen eingefügt, sei es nach einem Werbeblock oder den Kurznachrichten, in sehr kleinteilige Sendeformen wie dem Frühstücksfernsehen oder zwischen zwei Sendungen. Sie weisen auf kommende Programmereignisse hin. Rund 25.000 dieser Selbstverweise wurden 1994 von deutschen Fernsehveranstaltern ausgestrahlt und addieren sich damit auf eine ganze Sendestunde pro Tag und Programm.40

Innerhalb von Sendungen wie dem ZDF FERNSEHGARTEN können diese Ankündigungen auf andere Programme etwa durch sprachliche Hervorhebungen der Sendezeiten einer neuen Reihe („[…] am kommenden Dienstag – also übermorgen, 22.45 Uhr“) oder durch inhaltliche Anknüpfungspunkte („Und morgen die

38 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 118. 39 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“ In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 44. 40 | Klaassen: „Morgen, Gleich, Jetzt...“ In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 218.

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VOLLE KANNE41 mit zwei Känguru-Babys“) erfolgen. Obwohl sich diese Verweise auf künftige Ereignisse beziehen und damit über die eigentliche Sendung hinausreichen, tritt in der Art, wie die enthaltenen Zeitinformationen formuliert sind, zugleich die Gegenwärtigkeit der Fernsehausstrahlung hervor. Schließlich liegen für Angaben wie „morgen“ oder „übermorgen“ die Referenzpunkte im Jetzt und sind nur am spezifischen Tag der (Live-)Ausstrahlung gültig. Eine weitere Ausprägung wie auf künftiges Programms verwiesen werden kann, bildet der Besuch des Moderators Steven Gätjen, der im ZDF FERNSEHGARTEN von seinen Erfahrungen bei der Produktion MIT 80 JAHREN UM DIE WELT berichtet und sogleich ausgewählte Momente aus der noch auszustrahlenden Sendung zeigen lässt. Während Andrea Kiewel mit der mehrmaligen Wiederholung der Sendezeiten als Variante einer traditionellen Fernsehansagerin fungiert, kommt Gätjen mit seiner Darstellung der Höhepunkte die Rolle eines menschlichen Trailers zu. Ergänzt wird dieses Zusammenspiel aus Ansagen, Anekdoten und Ausschnitten durch mehrere grafische Einblendungen, die zusätzlich auf die besprochene Sendung referenzieren.

Abbildung 6: Grafischer Hinweis während einer Ausgabe des ZDF FERNSEHGARTENS, der auf eine andere Sendung verweist.42

41 | Volle Kanne, D seit 1999. 42 | Screenshot aus der Ausgabe vom 22. Juli 2018 über die ZDF-Mediathek [angefertigt am 01. August 2018].

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Für das Fernsehen hält Lorenz Engell diesen ständigen „Verweis auf das je Nachfolgende“ für konstitutiv und notwendig, denn ohne ihn „zerfiele es in ein Diskontinuum isolierter Gegenwartsmomente“ 43. Dem Programm liegt in diesem Verständnis eine dialektische Struktur zugrunde, da der Zusammenhalt der unzähligen und fortwährend produzierten, in der Gegenwart verhafteten Augenblicke, gerade durch die „Ankündigungen kommender Sendungen“, durch die „Hinweise auf spätere Sendungen“, durch den Verweis auf „Zukünftiges“44 aufrecht erhalten wird. Erst durch diesen „futurischen Aspekt“ 45 erscheint die Abfolge der punktuellen und flüchtigen Bilder als ein Ganzes. Oder anders formuliert: Der Ausblick auf die Zukunft hält zusammen, was in der Gegenwart vergeht.

MEDIUM DER SEGMENTIERUNG In der Auffassung von Fernsehhaftigkeit als eine Aneinanderreihung von gegenwärtigen Momenten, wie sie übereinstimmend von Mary-Ann Doane, Lorenz Engell und Knut Hickethier beschrieben wird, spiegelt sich eine grundlegende Ordnung des Programms wider, in der Kleinteiligkeit das vorherrschende Prinzip bildet. Entsprechend ließe sich Engells Charakteristik des Programms als ein „Diskontinuum isolierter Gegenwartsmomente“ ebenso als eine Ansammlung aus zueinander unabhängigen Bruchstücken umformulieren. So besteht im FERNSEHGARTEN zwischen den einzelnen Musikauftritten, den Tierdarbietungen und dem Gespräch mit dem Gast Steven Gätjen (abgesehen von einem konstruierten Motto) kein innerer Zusammenhang. Sie ergeben keine kohärente Narration, bauen inhaltlich nicht aufeinander auf und lassen sich in ihrer Reihenfolge beliebig vertauschen. Vielmehr sind sie durch den äußeren Rahmen der Sendung (das Bühnenbild, das On-Air-Design, die Moderation etc.) verbunden, der die nötige Kohärenz zwischen den Bruchstücken herstellt. Es ist dieses zusammenhanglose Aufeinanderfolgen einzelner Einheiten, die Neil Postman als typisch für das Fernsehen bezeichnet und in seiner Anklage „Wir amüsieren uns zu Tode“ insbesondere in den amerikanischen Nachrichten kritisiert 46.

43 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 118. 44 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 44.

45 | Ebd. 46 | Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, S. 123ff.

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In seinen erstmals im Jahr 1982 unter dem Titel „Visible Fictions: Cinema, Television, Video“ veröffentlichten Überlegungen zum „Fernsehen als kulturelle Form“ erkennt auch der Film- und Medienwissenschaftler John Ellis eine von Teilstücken beherrschte Komposition in Nachrichten und in aktueller Berichterstattung47, erweitert dieses Muster aber explizit auf die gesamtes Struktur des Fernsehens. Zwar, so leitet er seine Erläuterung ein, sei das Fernsehen prinzipiell in der Lage, einzelne Werke zu zeigen, die „intern sehr kohärent sind“ und meint damit „Hollywood-Filme“, „Fernsehfilme“ und „Spezialereignisse“. Doch stellten diese Elemente lediglich Ausnahmen dar, da sich der „überwiegende Teil von dem, was im Fernsehen gezeigt wird“ an einem anderen Modell orientiere. Nicht Serien, Filme, Shows oder einzelne Sendungen bildeten die Basiseinheit, sondern „das Segment, dem weitere Segmente folgen, ohne dass sie einen Bezug zueinander haben müssen.“48 Anstelle eines einzelnen kohärenten Textes, wie er für das Unterhaltungskino typisch ist, bietet Fernsehen voneinander weitgehend getrennte Segmente: kleine aufeinander folgende Einheiten von Bildern und Tönen, die eine maximale Dauer von fünf Minuten zu haben scheinen. Diese Segmente sind in Gruppen organisiert, welche entweder nur einfache Ansammlungen darstellen (wie Nachrichtenbeiträge oder Werbeblöcke) oder durch Wiederholung und Abfolge einen gewissen Zusammenhang erhalten (wie die Gruppe von Segmenten, aus denen Serien bestehen). Die Fernseherzählung findet durch diese Segmente hindurch statt, besonders in Serien, die eine zentrale Problematik oder einen Konflikt eher wiederholen, statt ihn endgültig zu lösen.49

Dieses Verfahren erstrecke sich „auf fast alles, was das Fernsehen zeigt“ 50 und bilde daher seine grundlegende Organisationsform. Denkt man an einen Kleingarten, in dem eine Abwechslung von Nutzpflanzen, Zierpflanzen, Bäumen und Rasen zur Erholung vorgeschrieben ist – der also ebenfalls aus verschiedenen Segmenten zusammengesetzt ist – erscheint der ZDF FERNSEHGARTEN mit seinen Musikabschnitten, seinen Service-Einheiten und seinen Spielelementen als öffentlich-rechtliches, televisionäres Pendant zur deutschen Kleingartenkultur und führt neben dem zentralen Begriff „Fernsehen“ ebenso den Zusatz „Garten“ als Sinnbild einer Parzellierung des Programms nicht zufällig im Titel. Ähnlich

47 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 56.

48 | Ebd., S. 49. 49 | Ebd., S. 45. 50 | Ebd., S. 52.

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wie ein (Fernseh-)Garten, der trotz seiner unterschiedlichen Beete und Bäume, trotz seiner verschiedenen Pflanzen und Blumen und trotz seines Gemenges aus Landschaften und Vegetationen als einheitliche Ordnung wahrgenommen wird, wird das Fernsehprogramm trotz seiner „Zersplitterung in immer kleinere selbständige Einheiten“51 als in sich geschlossene Ganzheit rezipiert und besprochen. Offenbar ist es in der Lage, seine „Fragmentierung“52 effektiv zu kaschieren.

MEDIUM DES LINEAREN FLUSSES Einen ersten verbindenden Mechanismus konnte Lorenz Engell bereits durch das von ihm beobachtete andauernde Verweisen auf zukünftige Programmelemente liefern. Die Fragmentierung erreicht die Verschleierung allerdings nicht allein. Vor allem die permanente Gegenwärtigkeit, die alle Augenblicke eint – so leitet er aus dem Aufsatz von Mary-Ann Doane ab – wandle die „extreme Fragmentierung, die das Fernsehen betreibt“ in „einen unteilbaren großen Zusammenhang“ um.53 Die bereits erwähnte Flüchtigkeit stellt demnach nicht bloß einen Zustand dar, der das Zustandekommen von Fernsehbildern beschreibt, sie steigt in dieser Lesart zum entscheidenden alles verbindenden Attribut sämtlicher Programmsegmente auf. Weil alles im Fernsehen gegenwärtig erscheint und alles ständig zerfällt, erscheint alles als ein Ganzes. Doch solche Flüchtigkeit kann schwerlich eine gesellschaftliche Relevanz erzeugen und scheint gegen die Natur des Menschen zu arbeiten, die eher stabile, konstante und andauernde Verhältnisse anstrebt. Deswegen findet das Fernsehen einen entscheidenden Kniff, diesen Mangel effektiv zu verbergen. Die Flüchtigkeit des Angebots wird vergessen gemacht durch die Permanenz des Sendens, die immer wieder ein neues Angebot bereithält und dadurch den (vom Ideal her) unaufhörlichen Fluss des Angebotenen produziert. 54

51 | Klaassen: „Morgen, Gleich, Jetzt...“ In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 221.

52 | Altman: Fernsehton. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 396.

53 | Engell: Fernsehtheorie zur Einführung, S. 171. 54 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S. 424.

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Ohne die Möglichkeit einer Speicherung vermag einzig ein unaufhörliches Senden die fehlende Fixierung der Bilder auszugleichen. Wie in einer industriellen Fabrikanlage sichert der nie abbrechende Nachschub an sich auflösenden Momenten eine Stabilität des Austausches, eine Stabilität der Veränderung, eine Stabilität des Fließens. Oder, um es in den Worten des Theologen Günther Thomas auszudrücken: Die rasche Substitution kompensiert sozusagen den Dauerzerfall der symbolischen Welt des Fernsehens. […] Unendliches Senden, das den Unterschied zwischen dem immer Gleichen und dem stets aktuell Neuen fast verschwinden läßt.55

Das Modell eines permanenten Sendens bezog Knut Hickethier im Jahr 1991 noch auf das Radioprogramm, das ähnlich wie das Fernsehprogramm ebenfalls unfähig ist, seine Inhalte zu speichern. Daher weist er sogleich darauf hin, dass die Konzeption des Radios später vom Fernsehprogramm übernommen wird. Aufgrund dieser strukturellen und technischen Nähe beider Sphären lässt sich ebenso Heinz Schwitzkes Schilderung des permanenten Programms heranziehen, obwohl er sie bereits im Jahr 1963 für das damalige Radio aufgestellt hat. Der Rundfunk ist dann in der Geschichte der Menschheit das erste Unternehmen, das versucht, den Zeitfluß ohne Lücke auszufüllen – wobei es nun nicht einmal mehr darauf ankommt, daß dies gleichmäßig mit Musik geschieht. Alles ist zu bloßen Zeitbruchstücken geworden, Musik jeder Art und Wort jeder Art, ja sogar (in den Gottesdienstübertragungen) das Wort der Kirche. Das permanente Programm ist schließlich nichts anderes als die zum Tönen gebrachte empirische, additive Zeit selbst, die melodisch tickende Totenuhr, der Nenner, auf den sich die ganze Welt bringen läßt. Es hört nie auf, es tönt möglichst nicht zwanzig, sondern vierundzwanzig Stunden des Tags und von nun an alle Wochen und Monate und Jahre bis ans physische Weltende.56

Genau hierin, in der „Aufhebung aller zeitlicher Begrenzungen und seinem Drang nach Unendlichkeit“, schält sich für Knut Hickethier eine Qualität heraus, in der sich das Radio (und damit auch das Fernsehen) von den bis dahin etablierten Medienformen abhebt.57 Schließlich verfügten etwa das Varieté oder das frü-

55 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 471. 56 | Schwitzke: Das Hörspiel, S. 29. 57 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S. 424.

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he Kino über ein abgeschlossenes Programm, das wiederum aus zeitlich beschränkten Aufführungen zusammengesetzt war. Wenn aber – so Hickethiers Konsequenz daraus – das Fernsehangebot permanent sendet und damit ständig verfügbar ist, könne man anders als beim Theater nicht mehr davon ausgehen, dass „jede Aufführung von einem neuen Publikum“ gesehen wird und könne „Sendungen nicht fortlaufend wiederholen“. Aus der Annahme, alle potenziellen Zuschauenden und Zuhörenden hätten eine Sendung schon bei ihrer ersten Präsentation verfolgt, resultiere schließlich der beschriebene „Aktualitätszwang“ des Fernsehens.58 Die Permanenz des Sendens erlaubt keinen Stillstand, sie kennt keinen Anfang und keinen Endpunkt. Sie liegt immer vor und erzeugt einen ständig fortschreitenden Bilderstrom, der unaufhaltsam fließt – unabhängig davon, ob das Fernsehgerät eingeschaltet und in den Strom eingeklinkt ist. Diese Vorstellung des Fernsehens als „ständiger Fluss des Gesendeten“59 ist selbstverständlich keine neue Erkenntnis. Sie wurde bereits im Jahr 1974 von Raymond Williams identifiziert und in seinem Buch „Television: Technology and Cultural Form“ beschrieben. Dort stellt er fest: Was angeboten wird, ist – in alter Terminologie gesprochen – kein Programm diskreter Teilelemente mit spezifischen Einfügungen, sondern ein geplanter Flow, in dem die tatsächliche Abfolge keineswegs der (in Programmzeitschriften) veröffentlichten Sequenz von Programmelementen entspricht, da diese Sequenz durch die Einfügung einer weiteren Art von Sequenz transformiert wird; mit dem Effekt, dass diese Sequenzen gemeinsam den wirklichen Flow, die wirkliche ‚Rundfunkübertragung‘ ausmachen.60

Er argumentiert, dass das Fernsehen nicht mehr als Programmreihung aus voneinander abgetrennten, disparaten und aufeinander folgenden Einheiten vorliegen würde. Vielmehr wäre es durch einen „Flow“ gekennzeichnet, in dem seine zeitliche Struktur und die der durch ihn verbundenen Einheiten unbestimmt bleiben.61 Erreicht werde dies, weil der Ablauf durch ständige Unterbrechungen durchsetzt sei, weil die Übergänge zwischen den dadurch entstehenden Segmenten verschleiert seien und innerhalb einer Sendung ständig auf andere verwiesen

58 | Ebd., S. 429. 59 | Ebd., S. 423f. 60 | Williams: Programmstruktur als Sequenz oder flow. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 37.

61 | Ebd., S. 40.

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werde.62 Daraus resultiere eine Wahrnehmung des Fernsehens, in der sich die einzelne Sendung, Show oder Serie im Programmfluss nahezu auflöst. Deswegen werde nicht mehr davon gesprochen, „die Nachrichten“ oder „ein Fernsehspiel“ oder „Fußball“, sondern schlicht davon „Fernsehen geguckt“ zu haben.63 In Williams Betrachtung – so fassen sie Jörg Adolph und Christina Scherer zusammen… […] wird das Programm nicht als eine Abfolge diskreter Elemente verstanden, sondern als etwas fließendes, als ein Prozeß in Bewegung.64

Diesen konstitutiven Prozess gilt es in der Fernsehkommunikation in einem doppelten Sinne stets in Gang zu halten. Einerseits hat das Fernsehprogramm immer genügend Nachschub bereitzuhalten, damit der Flow niemals versiegt. Andererseits besteht die Herausforderung, diesen so effektiv, so mitreißend, so nahtlos und so einheitlich zu gestalten, dass ein Ausstieg aus ihm erschwert, wenn nicht gar verhindert wird. Während der einzelne Film dafür sorgen muß, daß das Publikum sich wieder von ihm verabschiedet, führt das Fernsehen dem Zuschauer Beharrlichkeit vor – es liegt ihm primär daran, daß nicht abgeschaltet wird, daß der Fluß aufrechterhalten bleibt.65

Während der (Kino-)Film beim Beginn der Aufführung seine ökonomische Arbeit dadurch absolviert hat, dass er das Publikum zum Lösen einer Eintrittskarte (oder zum Kauf einer DVD) bewegt hat, beginnt für das Fernsehen seine eigentliche Arbeit erst nach dem Einschalten, die darin besteht, die Zuschauenden so lang wie möglich festzuhalten. Dazu tragen die von Williams dargelegte Auflösung der Ränder von Sequenzeinheiten, die Vermeidung von inhaltlichen und visuellen Brüchen sowie der konstante Verweis auf künftige Abschnitte des Flows (z.B. durch Trailer) bei. Das Flow-Modell von Raymond Williams ist seit seiner erstmaligen Veröffentlichung mehrfach diskutiert, erweitert und ausdifferenziert

62 | Ebd., S. 37ff. 63 | Ebd., S. 41. 64 | Adolph / Scherer: Begriffe und Funktionen: In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 66.

65 | Klippel / Winkler: „Gesund ist, was sich wiederholt“. Hickethier (Hrsg.): Aspekte der Fernsehanalyse, S. 124.

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worden (z.B. durch Tania Modelski66 und Rick Altman67). Die Mehrzahl der Autor*innen übernimmt hierbei jedoch Williams Kerngedanken, dass sich das Fernsehprogramm als fortlaufender Bilderstrom arrangiert, in den die Zuschauenden durch ihre Wahl eintauchen und wieder heraustreten würden („audiences may dip in and out as they choose“68). Deswegen soll diese breit anerkannte Vorstellung von Fernsehhaftigkeit für die weitere Argumentation den Ausgangspunkt markieren. Etwa zur gleichen Zeit, in der Raymond Williams erstmals seine Überlegungen zum Flow vorgestellt hat, begann der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi denselben Begriff für eine besondere psychische Verfassung von Menschen zu nutzen. Mit dieser meint er ein „rauschhaftes Glücksgefühl“ oder den „selbstvergessenen Zustand, der eintreten kann, wenn der Mensch in seiner augenblicklichen Beschäftigung völlig aufgeht und eins wird mit sich und der Umwelt“.69 Wie er an anderer Stelle am Beispiel des Bergsteigens schreibt, läge der Zweck des Flows nicht in der Suche nach einem Gipfel, sondern einzig darin, den Zustand des Flows aufrechtzuerhalten. („The purpose of the flow is to keep on flowing, not looking for a peak or utopia but staying in the flow.“70) Hierin zeigt sich zwar eine Überschneidung zum stets fortlaufenden Flow des Fernsehens, dennoch beziehen sich beide Auffassungen auf voneinander getrennte Phänomene. Sie beschreiben entweder, wie der Ablauf des Fernsehprogramms gestaltet ist oder einen Zustand, der durch die Ausführung bestimmter Tätigkeiten im Inneren von Menschen ausgelöst werden kann. Für die vorliegende Untersuchung, die sich einzig mit der Art und Weise befasst, wie sich Fernsehhaftigkeit zeigt und nicht fragt, welche seelischen Befunde sich bei deren Rezeption einstellen können, ist deswegen nur das erste Verständnis und damit der Flow im fernsehtheoretischen Sinne nach Raymond Williams maßgeblich. Nicht nebensächlich erscheint in diesem Zusammenhang die Wahl der Metapher als Fluss, in der sich einerseits die Nahtlosigkeit und Homogenität der fließenden

66 | Modelski: Die Rhythmen der Rezeption. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft.

67 | Altman: Fernsehton. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft.

68 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 32.

69 | Csikszentmihalyi: Fernsehsucht. In: Spektrum der Wissenschaft, S. 75. 70 | Csikszentmihalyi: flow, S. 54.

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Elemente abzeichnet und zugleich die unendliche Natur des Stroms. 71 Dieses Bild korrespondiere laut Knut Hickethier mit der Auffassung, dass sich das Erzählen von Geschichten und das Leben als solches ebenfalls als ein Fluss zeigen würden. Der Film, so formulierte es schon Siegfried Kracauer in seiner 1960 (also schon zur Fernsehzeit) erschienenen ‚Theorie des Films‘, sei als ein ‚Fluß des Lebens‘ zu verstehen. Filme tendierten dazu, so Kracauer, ‚physisches Sein in seiner Endlosigkeit einzufangen‘ und besäßen deshalb eine ‚Affinität zum Kontinuum des Lebens‘ oder ‚Fluß des Lebens‘, also zum ‚abschlußlosen, offenen Leben‘, zum ‚Strom materieller Situationen und Geschehnisse mit allem, was sie an Gefühlen, Werten, Gedanken suggerieren‘. Was Kracauer für den in seinen zeitlichen Dimensionen noch sehr begrenzten Film skizziert, gilt ungleich stärker für das Fernsehen. Darin liegt die große Plausibilität des Fluß-Modells für das Programmfernsehen, daß sich das Fernsehen auf diese Weise der Wirklichkeit mit seinem unendlichen, verwirrenden Geschehensflüssen annähert und ein Bild der Wirklichkeit oder richtiger: der verschiedenen Wirklichkeiten zu geben scheint.72+73

Genauso wesentlich wie die Erkenntnis, dass sich die Sendungen des Fernsehens als „Programmfluss von Erzählungen“74 realisieren, ist die Feststellung, dass sie in eine „lineare Folge von Zeiteinheiten, von Zeitrastern unterschiedlicher Län-

71 | Das Verständnis des Programms als Stroms (Flow) ist abzutrennen von der Technologie, die im Internet ein Ansehen von Videodateien, noch während sie heruntergeladen werden, ermöglicht (Stream). Wie Mathias Denecke feststellt, sind diese scheinbar intuitiv verständlichen Begriffssetzungen bei näherer Betrachtung unproduktiv. Zwar würden mit Flow und Stream absichtlich verschiedene Begriffe genutzt, um Analogfernsehen und Internet-TV gegeneinander abzugrenzen, doch führe deren gemeinsame zugrundeliegende Metaphorik eines Fließens auf sprachlicher Ebene zur Aufhebung der angestrebten Differenzierung (vgl. Denecke: Zuschauen zwischen Flow und Internet-TV. In: montage AV, S. 23). 72 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 35. 73 | Die Nähe des Fernseh-Flusses zum „Fluss des Lebens“ und zum „Fluss der Wirklichkeit“ wird im Zusammenhang mit dem Begriff „Liveness“ erneut in den Vordergrund rücken. 74 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 178.

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ge“ gebracht werden75, also dass dies „auf einer linearen Zeitschiene“76 erfolgt. Seine lineare (weder sprunghafte noch rückwärtige) Ausrichtung bedingt einen beschränkten Zugriff auf das Programm und verlangt eine spezifische Nutzungsweise, die es von televisionizitären Angeboten wie Netflix und YouTube trennt und von Irene Neverla folgendermaßen beschrieben wird: Das Fernsehen bietet ein Programmangebot in linearer Abfolge an. Die einzelnen Sendungen können nur nacheinander und zu der von der Institution vorgesehenen Zeit rezipiert werden. Zwar wird diese lineare Abfolge aufgefangen durch zyklische Elemente und zum Teil auch durch die Technik des Videorecorders, doch verbleibt für die Zuschauer in jedem Fall die Notwendigkeit, ihre Fernsehnutzung zeitgestalterisch zu steuern. Sie müssen sich über das Programm im Vorfeld informieren, sie müssen selektieren und Entscheidungen treffen.77

Sowohl das Fernsehprogramm mit seinen unendlichen Geschichten als auch der FERNSEHGARTEN mit seiner nie abbrechenden Serie an Auftritten und Aktionen gleichen als Fluss einer mächtigen Naturgewalt, die (aus Sicht der Zuschauenden) außerhalb der eigenen Kontrolle liegt und nicht angehalten oder gestoppt werden kann. Ein Aufstauen mag zwar punktuell möglich sein, verhindert aber nicht, dass immer mehr (Programm) nachfließt. Unaufhaltsam und reißend bahnt sich der stetige Strom seinen vorgezeichneten Weg, sodass man in ihn nur eintauchen, mit ihm schwimmen oder sich von ihm treiben lassen kann. Wer nicht aufpasst, droht von ihm mitgerissen zu werden und kann sich nur schwer wieder aus ihm befreien. Dabei kennt er nur eine Fließrichtung, die unumkehrbar ist und kein Zurück kennt. Die Idee der linearen Bewegung, die zwar ohne Ziel verläuft, aber dennoch zielgerichtet nur einen (zeitlichen) Kurs kennt, ist eine derart zentrale Komponente von Fernsehhaftigkeit geworden, dass dieses lineare Fernsehen längst als Synonym für das Medium an sich und als Gegenbegriff zu den abzugrenzenden On-Demand-Diensten verwendet wird.

75 | Ebd., S. 181. 76 | Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz, S. 148. 77 | Neverla: Fernseh-Zeit, S. 74.

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VOM FLOW ZUM CLIP Die Eingabe der Wortfolge „zdf fernsehgarten“ im Suchfeld von YouTube offenbart eine reichhaltige Auswahl an Clips, Videos und Ausschnitten aus der Sendereihe. Die Videotitel verraten, dass deren TV-Ausstrahlung mitunter einige Jahre zurückliegt. Aktiviert man den auf der grafischen Oberfläche von YouTube zur Verfügung gestellten Suchfilter und reduziert die Auswahl auf diejenigen Beiträge, die in „dieser Woche“ hochgeladen wurden, verbleiben (fast) ausschließlich Videos, die aus der jüngsten ausgestrahlten Ausgabe stammen. In dieser Darstellung außerhalb eines kuratierten Fernsehprogramms zerfällt die ursprünglich durch einen Flow zusammengehaltene Sendung in ihre Einzelsegmente, die nun außerhalb dieses verbindenden Rahmens isoliert abrufbar sind. Den FERNSEHGARTEN ereilt in dieser Zergliederung ein Schicksal, das er mit vielen Angeboten aus dem Programmfluss des Fernsehens teilt, denn auch für die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher ist im Bestand von YouTube… […] eine Fragmentarisierung bestehender Informations- oder Unterhaltungssegmente erkennbar. Aus dem Sendungskontext gelöste Nachrichtenmeldungen oder Magazinbeiträge lassen sich als eigene Videos abrufen.1

Da sich solche Videos „unmittelbar auf Fernsehinhalte beziehen“, präsentiere sich die Plattform YouTube für Bleicher als ein „Echoraum des Fernsehens“.2 Erheblich ist hierbei ihr Hinweis, dass es sich bei den abrufbaren Videos um Segmente, Beiträge, Einlagen oder Einheiten handelt – also gerade nicht um 1 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 188.

2 | Ebd., S. 177.

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vollständige Sendungen. Dies ist ebenso in den Suchergebnissen von YouTube zum „zdf fernsehgarten“ zu erkennen, unter denen ausschließlich Auftritte von Musikkünstler*innen, nicht aber komplette Ausgaben zu finden sind. Für Bleicher geht mit dieser „Konzentration auf einzelne Szenen oder Bildfolgen“ ein Herauslösen aus ihrem ursprünglichen narrativen Kontext der Handlungsstruktur einher, wodurch ihre Einordnung „nur in Beziehung zu […] der traditionellen Fernsehausstrahlung“ gewährleistet werden kann. 3 Sie sind ohne ihren eigentlichen Bezugsrahmen kaum vollständig verstehbar und verweisen deswegen trotz ihrer Dekontextualisierung weiterhin stark auf ihren Ursprung. Die bei YouTube abrufbare Auswahl zum FERNSEHGARTEN lässt nicht nur vollständige Sendungen aus, sie scheint sich vielmehr auf die als Höhepunkte empfundenen Segmente der Sendungen zu beschränken. Sie konzentriert sich auf (vermeintlich) besonders unterhaltsame Momente. Die Entscheidung, welche Abschnitte als solche Highlights zu bewerten und deswegen speicherungswürdig sind, obliegt nun allerdings nicht mehr dem Fernsehen (nicht den jeweiligen Redaktionen), sondern liegt einzig in den Händen der User*innen, die aus sehr individuellen und persönlichen Gründen entscheiden, welche Abschnitte sie hochladen und auf diese Weise hervorheben.4 Gewöhnlich aber weist das Fernsehprogramm durch künftige Ankündigungen, sprachliche Zuweisungen oder inszenatorische Aufladung selbst darauf hin, was seine Highlights sind.5 Eine Verlagerung der Hoheit des Exzerpierens kann deswegen zu merklichen Verschiebungen in der Wahrnehmung und Präsentation einer Sendung führen. So ist aufgrund der mehrfach von Andrea Kiewel geäußerten Ankündigungen anzunehmen, dass in der zitierten Ausgabe des FERNSEHGARTENS das Segment, in dem Suchhündin Speedy den Moderator Steven Gätjen erschnüffelt, den zentralen Programmhöhepunkt der Sendung bilden soll. Von den Nutzenden wird es offenbar nicht als derart herausragend und speicherungswürdig eingeschätzt, da es in den Suchergebnissen bei YouTube nicht zu entdecken ist.

3 | Ebd., S. 188. 4 | Diese Aussage bezieht sich auf Sendungen wie den ZDF FERNSEHGARTEN, die Clips ihrer Ausgaben nicht selbstständig hochladen. Viele Redaktionen von Sendungen wie THE TONIGHT SHOW STARRING JIMMY FALLON (USA seit 2014) oder das NEO MAGAZIN ROYALE (D 2013 - 2019) nehmen dies auf dafür angelegten YouTubeKanälen selbst vor, sodass dort die Entscheidungshoheit weiter bei den Redaktionen verbleibt. Dies schließt nicht aus, dass Ausschnitte von User*innen zusätzlich aufgrund einer persönlichen Wahl hochgeladen werden und die „offizielle“ Auswahl ergänzen. 5 | Vgl. Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz, S. 156f.

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Abbildung 7: Auflistung der Suchergebnisse von YouTube zu den Schlagworten „zdf fernsehgarten“; gefiltert mit Hochladedatum „Diese Woche“6

6 | Screenshot über YouTube.com (Ausschnitt) [angefertigt am 25. Juli 2018].

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Die Kriterien, nach denen sich dies richtet, bleiben den übrigen Nutzenden in der Regel verborgen – nur ausnahmsweise können Titel oder Videobeschreibung eines Videos oder die Ausrichtung des Kanals einen Hinweis darauf liefern. Weil die Kriterien aber weder einheitlich noch verbindlich sind und gewöhnlich keine Abstimmung der Nutzenden untereinander vorgenommen wird, tritt das mehrfache Hochladen desselben Segments häufig auf, wobei die einzelnen Videos dann bezüglich ihrer Qualität, ihrer Beschreibung sowie ihren Anfangs- und Endpunkten (und damit auch in ihrer Länge) variieren können. So sind etwa die Auftritte von Glasperlenspiel und Joey Heindle im FERNSEHGARTEN gleich mehrfach in den Suchergebnissen aufgeführt – mal mit Kiewels Anmoderation, mal ohne. Angesichts ihrer individualisierten Speisung bildet für die Autoren Frank Kessler und Mirko Tobias Schäfer das Depot von YouTube eine nur „inkohärente Sammlung von erinnerungswürdigen TV-Momenten“7 heraus. Wählt man nun in den Sucherergebnisse etwa den Clip „Glasperlenspiel ‚Schloss‘ (ZDF-Fernsehgarten 22.07.2018)“8 an, setzt der Ausschnitt aus der Sendung unmittelbar mit dem Auftritt der Interpreten an. Die im ursprünglichen Sendungsablauf vorangestellte Anmoderation von Andrea Kiewel ist bei dem für eine Veröffentlichung auf YouTube angefertigten Ausschnitt gänzlich entfernt worden. Es fehlen die Übergänge zwischen den Auftritten sowie die Verweise auf das spätere Programm und damit die Scharniere, durch welche die disparaten Segmente zu einem einheitlichen Flow verbunden werden. Selbst wenn in einigen Clips die Ankündigungen der Moderatorin belassen werden, verlaufen diese nun ins Leere, da das versprochene Programmelement in der YouTube-Ordnung nicht mehr im Anschluss folgt. Stattdessen wird die als Fluss konzipierte Sendung auf einige wenige Musikauftritte eingedampft, die als Essenz des Programm-Flows übrig bleiben. Auf diese Weise werden die Momente von all ihren Flow-Überresten und programmstrategischen Effekten befreit. Ohne ihre Verweise auf Gegenwart und Zukunft werden sie entzeitlicht und verlieren ihre ursprüngliche Gegenwärtigkeit. Sie verlieren ihre inhaltliche Flüchtigkeit. Als Kompensation aber wird in den Titeln der Version das Datum des ursprünglichen Ausstrahlungstermins festgehalten und damit eine Verankerung in der Zeit auf verbaler/deskriptiver Ebene erreicht. Ein Zusammenhang zwischen den ursprünglich in einer zeitlichen und semantischen Reihung verbundenen Ausschnitten ergibt sich nun vor allem aus ihren jeweiligen Videobeschreibungen.

7 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 282.

8 | Juris Georg 1: Glasperlenspiel ‚Schloss‘ (ZDF-Fernsehgarten 22.07.2018). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/_yGU3QxjAw8 [mittlerweile gelöscht].

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SZENEN AUF WANDERSCHAFT Hinter dem für die meisten Nutzenden längst alltäglichen Verfahren des Hochladens eines TV-Ausschnitts bei YouTube verbirgt sich kulturpraktisch die Herauslösung eines Abschnitts aus dem Gesamtkontext einer längeren Erzählung. Ein solcher Umgang mit Medieninhalten hat eine weit zurückreichende kulturgeschichtliche Tradition, wie Heiko Christians in seinem Buch „Crux Scenica“ anschaulich und detailliert belegt. Hierbei identifiziert er die „Szene“, als entscheidende Form, in der sich eine solche Entnahme vollziehen würde. Erst mit ihrer Hilfe ließen sich aus einem „Wahrnehmungsstrom kleinere Sinneinheiten heraus […] modellieren“, wobei ihr dies vor allem durch ihre „Kürze oder Überschaubarkeit“ bei gleichzeitiger „Beibehaltung einer Struktur aus Anfang, Mitte und Ende“ gelingen würde.9 Als eine typische Situation für eine solche szenische Entnahme schildert Christians den gemeinsamen Austausch über einen gerade gesehenen Kinofilm: Man unterhält sich angeregt, nähert sich einem ersten Urteil mit der Schilderung prägnanter Szenen. Solche Szenen werden zusammengetragen und sollen zunächst ein Für oder Wider (die Qualität des Films) wahrscheinlicher machen. Einigt man sich nicht, hat jedes Lager zumindest seine Lieblingsszenen. Anders, das ist zu vermuten, lässt sich über einen Film in einer solchen Situation auch gar nicht reden, denn das Ganze des Films ist schwer zu adressieren. Man wählt zwangsläufig aus, erinnert sich nur an Einzelheiten oder einzelne Zusammenhänge. Irgendwie ist das Ganze ja auch in diesen isolierten Szenen präsent.10

Ähnlich kann der Ablauf bei der Fragmentierung von Fernsehsendungen wie dem FERNSEHGARTEN angenommen werden, bei der nicht irgendwelche wahllosen Segmente mit einer völlig beliebigen Länge oder lediglich Bruchstücke eines Songs entnommen werden. Stattdessen verfügen sie mit ihrem Ausgangspunkt bei der Anmoderation, mit der Beibehaltung des vollständig vorgetragenen Liedes und mit dem anschließenden Applaus über eine eigene narrative Dramatik innerhalb des entstehenden Clips. Sie verfügen über eine Struktur, die sich aus einem Anfang (einer Einführung), der Mitte (dem Verlauf) und einem Ende (einem Abschluss) zusammensetzt. Es werden aus dem FERNSEHGARTEN ausschließlich kurze und überschaubare Szenen herausgelöst. Eine Begründung für dieses Vorgehen findet Heiko Christians in der fehlenden Fähigkeit des mensch-

9 | Christians: Crux Scenica, S. 10. 10 | Ebd., S. 27.

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lichen Geistes, komplexe Zusammenhänge und umfangreiche Erzählungen als Ganzes zu erfassen. Vielmehr müsse man… […] um überhaupt etwas verarbeiten zu können, zuerst etwas heraussehen (selektieren) und dann zusammensehen (synthetisieren) – und damit vorinterpretieren. Man interpretiert immer weiter, schrittweise und mit Blick auf ein Größeres, eine Einbettung, einen Zusammenhang, den man sich aber wiederum erst interpretierend – aneignet.11

Als Voraussetzung für diesen Prozess wäre es jedoch notwendig, dass jede dafür genutzte Szene über sich hinaus deuten und als Stellvertreter oder Abkürzung des übergeordneten Ganzen dienen kann. Nur auf diese Weise ließen sich komplexe Gegenstände schrittweise mithilfe von Szenen erarbeiten. In dieses Muster kann auch die Zerlegung des FERNSEHGARTENS eingeordnet werden – als eine Möglichkeit, sich seinen umfangreichen Gesamttext zugänglich machen zu können. Immerhin beträgt die Originallänge der Fernseh-Ausstrahlung 120 Minuten. Die Szene stellt sich folglich als ein hermeneutisches „Werkzeug oder Tool“12 dar und das Zerlegen von Gesamtwerken in Szenen als eine Kulturtechnik, um sich einem „zunächst unübersichtlichen und unzugänglichen Ganzen“ 13 nähern zu können. Diese Praktik findet nicht nur bei der Erarbeitung von Kinofilmen und Fernsehsendungen wie dem FERNSEHGARTEN Anwendung, sondern erfasst sämtliche Erfahrungen, Geschichten und Erzählungen jeglicher medialer Form, denn… [… m]it solchen zunächst frei geschnittenen oder ausgewählten Szenen können wir in der Kommunikation über einen Text, ein Theaterstück, eine Alltagswahrnehmung oder eben einen Film leichter operieren.14

Gänzliche Werke wie ein Film oder eine vollständige Ausgabe des FERNSEHGARTENS, die ohnehin nur schwer zugänglich sind, lassen sich zudem schlicht aufgrund ihres Umfangs weniger leicht verbreiten und in einen medialen Umlauf bringen. Aber ist aus einem Werk eine Szene…

11 | Ebd. 12 | Ebd., S. 36. 13 | Ebd., S. 22. 14 | Ebd., S. 27.

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[…] erst einmal herausgelöst, festgehalten oder sogar für eine solche Fixierung produziert worden, so ist sie teilbar und verteilbar unter An- und Abwesenden.15

Die entfesselte Szene kann zirkulieren und durch den medialen Kosmos wandern, was ihr insbesondere in einer sozialen Netzwerkumgebung wie YouTube eine essenzielle Zugangsvoraussetzung und einen signifikanten Gebrauchsvorteil beschert. Die Möglichkeit, sie in der Gestalt von Szenen in Umlauf bringen zu können, macht Texte aller Art erst anschlussfähig und zu einem Ausgangspunkt von Kommunikation. Dies aber ist kein neutraler Prozess, der die Szene unberührt und unverändert weiterträgt. Durch ihre Zirkulation kann sie sich… […] mit anderen Szenen zu wechselnden Geschichten verbinden. Sie wird schnell, mit ihrer Verbreitung, auch zum Gegenstand von Kommentaren, Bewertungen und Variationen.16

Hierbei kann es zu Transformationen, Adaptionen und Umformungen kommen, die zuweilen in einer völligen Entkoppelung von der jeweiligen Ausgangsform münden. Deshalb spricht Heiko Christians der Szene die Eigenschaft eines „shifters“ zu, der wie „eine nicht hemmende Weiche“ Verschiebungen ermöglicht oder herbeiführen kann.17 Roman Marek beleuchtet diesen Prozess für die Plattform YouTube ausführlich und erhebt das Zirkulieren von Szenen zu einem eigenständigen kulturellen Prozess.18 Die digitale Technik würde Amateur*innen geradezu ermutigen, eine Form der Bearbeitung von Szenen vorzunehmen, die bisher nur professionellen Personen, wie etwa Bildmischer*innen beim Fernsehen, vorbehalten war.19 Der ständige Wandlungsprozess kenne verschiedene Modi und Formen, die von einer identischen über eine ikonoklastische bis zu einer nachahmenden reiche und dabei stets zwischen Redundanz und Varianz changiere.20 In der Zerlegung von Sendungen in YouTube-taugliche Szenen zeichnet sich ein Kulturverfahren ab, das auf der Aufhebung eines linearen Flusses zugunsten einer zeitsouveränen und leichter verfügbaren Auswahl basiert. Hierbei führt das

15 | Ebd., S. 20. 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 24. 18 | Marek: Understanding YouTube, S. 75. 19 | Ebd., S. 302. 20 | Ebd., S. 75ff.

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Hochladen der „effektiven und plastischen Unterteilungen“21 zu einer Speicherung der sonst flüchtigen Bilder, die eigentlich im Moment ihrer Ausstrahlung zerfallen und nur dann noch einmal reaktiviert werden können, wenn sie erneut in den Programmfluss eingefügt werden. Über den Umweg YouTube wird eine der Fernsehausstrahlung fremde Speicherung realisiert und das in das Medium eingeschriebene Vergessen überwunden. Was einst einzig für die Gegenwart angefertigt wurde, ist mithilfe einer Umgehungslösung fixiert und in einen Zustand überführt, der einer Fernsehhaftigkeit derart fremd ist, dass die verfügbargemachten Videos kaum noch als FERNSEHEN zu fassen sind, wenngleich sie ihre Herkunft etwa durch die Beibehaltung eines Senderlogos oder durch entsprechende Hinweise in der Videobeschreibung nicht verschleiern. Dieser vollzogene Verbund des Fernsehens mit dem Internet markiert deshalb für Lorenz Engell den möglichen „Beginn eines ganz eigenen, neuen Mediums“.22

ON-DEMAND-PLATTFORMEN ALS (IDEALE) BIBLIOTHEKEN Im Festhalten von eigentlich flüchtigen Momenten des Fernsehprogramms zeigt sich die vielschichtige Plattform YouTube in der Gestalt eines Speichers – in der Gestalt einer Art Archiv. Rick Prelinger weist jedoch darauf hin, dass YouTube kein Archiv im eigentlichen Sinne sein könne, weil die permanente Konservierung von Original-Dokumenten („permanent preservation of original documents“) dort nicht angestrebt werde, sondern eher die Zugänglichkeit von Kopien für die Bevölkerung. YouTube sei deswegen eher mit einer Bibliothek vergleichbar.23 Dennoch räumt er ein, dass YouTube von der Öffentlichkeit durchaus als Archiv angesehen werde und wegen seiner geringen Zugangsbeschränkungen und seines Umfangs überdies als die Idealform eines Archivs.24 Diese Glorifizierung ergebe sich insbesondere daraus, dass im Umgang mit

21 | Christians: Crux Scenica, S. 22. 22 | Engell: Erinnern/Vergessen. In: Blanchet / Köhler (Hrsg.): Serielle Formen, S. 117. 23 | Die Aussage stammt aus einem Beitrag von Rick Prelinger in einer OnlineDiskussion, aus der Frank Kessler und Mirko Tobias Schäfer zitieren. Dagegen wenden sie ein, dass eine Bibliothek auf einem gemeinsamen und verbindlichen Regelwerk basieren würde, das auf YouTube nicht existent sei. (Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 277.) 24 | Prelinger: The Appearance of Archives. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 268.

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YouTube keine Schwierigkeiten mit der Kompatibilität und Abspielbarkeit von (Datei-)Formaten auftreten würden. Anders als in klassischen Film-Archiven, in denen die Exponate teilweise in veralteten Formaten („outdated formats“) vorlägen25 und deswegen auch ihre Abspiel-Geräte mitarchiviert werden müssten26, erzeuge YouTube die Illusion, dass diese technischen Komponenten bedeutungslos seien.27 Dieser Effekt aber könne nur erzielt werden, weil das gesamte Material durch ein Videokomprimierungsverfahren als kleinster gemeinsamer Nenner („lowest-common-denominator“)28 hindurch und nach dessen Parametern konvertiert wird. Neben der Nutzung einer zirkulationsfähigen Form (als Szenen), erlaubt jene Datenreduktion die Wanderung der Videos, weswegen Auflösung und Qualität eines Uploads so zu wählen sind, dass das Ergebnis möglichst leicht verbreitet werden kann und nicht danach, wie es der Film ästhetisch verlangt.29 Der angewandte Video-Codec fungiert hier als universeller Gleichmacher, der alle Formate schluckt, einebnet und miteinander in Verbindung setzt.30 Als ein Pendant zum Flow des Vergessens und der Gegenwärtigkeit des Fernsehprogramms vereint es heterogenes Material und disparate Segmente zu einem als Einheit wahrnehmbaren Bilderstrom. Dieser aber setzt sich größtenteils aus Szenen zusammen, die einem Fernseh-Flow entnommen, nun fixiert und ihrer technischen Flüchtigkeit beraubt sind. Meist nur beiläufig und als von den User*innen häufig ungeplantes Nebenprodukt bildet sich durch die Nutzung von YouTube als Produktionsmedium und die angestrebte Zirkulation von Material eine umfangreiche Sammlung an Sketchen, Trailern, Snippets, Teasern, Footage oder Clips – eine umfangreiche Sammlung an Szenen31 – heraus, die weder geplant organisiert, noch willentlich beabsichtigt wird. Auch hierin unterscheidet

25 | Ebd., S. 271. 26 | Basaldella: Archivieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 62f. 27 | Prelinger: The Appearance of Archives. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 271. 28 | Ebd. 29 | Menotti: Objets Propagés: In: Lovink / Mile (Hrsg.): Video Vortex Reader II, S. 73. 30 | Anfangs wurde die Komprimierung auf Basis eines Flash-Container-Formats durchgeführt (vgl. Prelinger: The Appearance of Archives. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 271). Mittlerweile werden anstelle des Flash-Formats vor allem die eigenentwickelten Kompressions-Codecs VP9 und AV1genutzt. Bei diesen technischen Lösungen werden die Quellen verschiedener Formate ebenfalls in einen einheitlichen Standard umcodiert und komprimiert. 31 | Christians: Crux Scenica, S. 22.

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sich die Plattform von traditionellen Filmarchiven, deren Hauptzweck in der Herausbildung eines Bestands besteht. In traditionellen und physischen Archiven können aus Kapazitätsgründen „nur bestimmte Dokumente aufbewahrt“32 werden. Sie sind naturgemäß gezwungen, Auswahlprozesse und Entscheidungen, welches Exponat archivierwürdig ist, zu durchlaufen. Nicht jeder Gegenstand findet daher seinen Weg in das Archiv. Ähnlich verhält es sich mit der Kapazität eines Fernsehsenders, die auf eine maximale Programm-Länge von 24 Stunden pro Tag limitiert ist und ebenso eine Auswahl verlangt, welche Beiträge in den Bilderstrom aufgenommen werden.33 Im Unterschied dazu scheint die Sammlung von YouTube unendlich erweiterbar und volle Regale ein niemals eintretender Zustand zu sein, sodass zunächst jeder gewünschte Beitrag ohne jegliche Begründung oder Rechtfertigung der Sammlung zugeführt werden kann. Die Auswahl der Objekte stammt somit nicht von einer einzigen Instanz. Sie wird nicht von ernannten Kurator*innen getroffen, sondern obliegt allen Menschen, die gewillt sind, Videos bei YouTube hochzuladen. YouTube oder Flickr bieten die Möglichkeit, dass potenziell jeder Objekte in das Archiv laden kann, teilhaben und somit auch theoretisch mitbestimmen kann, was aufgenommen wird und was nicht.34

Die Auswahl, was in ein (Geschichts-)Archiv gehört, war bisher auch eine Frage von Herrschaft, die nun, wo potenziell jeder am Prozess mitwirken kann, eine entscheidende Verschiebung erfährt. Die durch die Zusammensetzung von Archiven vorgenommene Geschichts- oder Diskursschreibung folgt dort keiner einheitlichen Richtung mehr, sondern setzt sich aus unzähligen subjektiven Sichtweisen und Impulsen zusammen. Trotz der Möglichkeit einer schier unbegrenzten Erweiterung des Bestands von YouTube ist der Verbleib eines Videos und der ständiger Zugriff für die Nutzenden nicht dauerhaft gewährleistet. Jegliches Material kann ebenso schnell verschwinden, wie es eingestellt wird – etwa durch eine Verletzung der Nutzungs-

32 | Basaldella: Archivieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 58. 33 | Lotz: Portals, Abschnitt: Chapter 1 / How Does Nonlinear Curation Differ from Linear Scheduling? 34 | Basaldella: Archivieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 67.

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bedingungen seitens der Kanalbetreibenden.35 Wird ein Kanal auf Anordnung oder aus freiem Willen gelöscht – wie etwa im Mai 2016 beim deutschsprachigen YouTuber Simon Wiefels (alias Simon Unge) 36 geschehen – sind auch die mit dem Kanal verlinkten Videos nicht mehr aufrufbar und verschwinden aus dem wahrnehmbaren Bereich des Archivs. Zwar weisen Frank Kessler und Mirko Tobias Schäfer darauf hin, dass die Community regelmäßig gelöschte Videos an anderer Stelle erneut hochlädt (das ist ebenfalls bei Simon Unge geschehen), wodurch eine gewisse Stabilität erzeugt wird, eine Garantie stellt dieses Verhalten dennoch nicht dar. Insbesondere Urheberrechtsverletzungen, welche mithilfe der Content ID-Methode37 zu erkennen versucht werden, können zu nachträglichen Sperrungen von bereits verfügbaren Videos führen. Während traditionelle (Film-)Archive also die Entscheidung vorher treffen, welches Exponat in den Bestand aufgenommen wird und nur diese dann in das bestehende System integrieren, verläuft dieser Auswahlprozess bei YouTube in umgekehrter Weise. Hier findet ein negatives Aussieben des Bestands statt, weil ein Objekt zunächst hochgeladen und erst im Anschluss überprüft wird, ob es überhaupt verbleiben darf. Der Zugang zu jeglichem Material in der YouTube-Bibliothek hängt für die Zuschauenden somit von anderen Personen oder den Betreibenden der Plattform ab und entzieht sich (ähnlich wie die Zusammensetzung des Fernsehprogramms) der eigenen unmittelbaren Kontrolle. Durch die Gefahr einer jederzeitigen Entfernung von Zugriffsmöglichkeiten auf Videos (meist ohne Vorwarnung) können diese aus Sicht der Zuschauenden ebenso verschwinden – ebenso zerfallen – wie Bilder im Fernseh-Flow. Während jedoch beim Fernsehprogramm der Zerfall garantiert ist und lediglich die Wiedereinbindung einer Sendung oder eines Segments einen unverhofften, erneuten Zugriff ermöglicht, suggerieren YouTube-Videos einen ewig möglichen Abruf und das wahrgenommene Archiv

35 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 286. 36 | Dieser Vorfall wird im Kapitel „Liveness“ ausführlicher untersucht. 37 | Dazu heißt es in der YouTube-Hilfe: „Urheberrechtsinhaber können ein System namens Content ID verwenden, um ihre Inhalte auf YouTube im Handumdrehen zu identifizieren und zu verwalten. Auf YouTube hochgeladene Videos werden geprüft und mit einer Datenbank verglichen, in der Dateien gespeichert sind, die von Rechteinhabern an uns übermittelt wurden.“ (Unter: https://support.google.com/youtube/ answer/2797370?hl=de [aufgerufen am 27. Januar 2020].) Von den registrierten Videos wird ein digitaler Fingerabdruck erstellt, der anschließend mit allen bereits vorhandenen und neu zugefügten Titeln abgeglichen wird. Eine Übereinstimmung kann die Sperrung des Videos zur Folge haben.

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einen stabilen Bestand. Weil Videos tatsächlich davon bedroht sind, jederzeit und unverhofft entfernt zu werden, haben sie ihren Platz im Archiv lediglich unter einem andauernden Vorbehalt, der nie in eine verlässliche Sicherheit überführt wird. In den bisherigen Überlegungen zum Flow blieb das Unternehmen Netflix mit seinem Angebot noch unberücksichtigt, was vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass dort in der Regel keine Ausschnitte aus Fernsehsendungen zirkulieren – allenfalls komplette Serien(-folgen), die ursprünglich für eine Ausstrahlung im Fernsehprogramm hergestellt wurden. Wenn über die sie Serien wie BREAKING BAD38, THE WALKING DEAD39 oder MAD MEN40 abrufbar sind, kann die Plattform ebenso als ein „Echoraum des Fernsehens“41 eingestuft werden, wenngleich diese anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Da das Hochladen und Einstellen neuer Objekte ausschließlich von Unternehmensseite erfolgen kann und damit streng limitiert ist, legen weder die verfügbaren Videos noch das Interface eine Zirkulation ihrer Beiträge nahe. Wie bei einem klassischen, physischen Filmarchiv besteht für die Nutzenden keinerlei Möglichkeit, die bestehende Sammlung von Netflix zu erweitern. Sie wird einzig durch das Unternehmen selbst auf Basis erworbener Lizenzen und strategischer Entscheidungen gefüllt. Dadurch gerät sie im Vergleich zu YouTube deutlich stringenter und ist frei von Doubletten. Einzelne Episoden lassen sich zudem weder außerhalb der Plattform Netflix teilen oder in externe soziale Netzwerke und Websites einbetten. Netflix hat die Zugänge zu seinen Angeboten derart technisch formatiert und konzipiert, dass sie nur mit größten Anstrengungen aus ihrem Kontext gerissen werden können und deswegen so angelegt sind, die Plattform nicht zu verlassen.42

38 | Breaking Bad, USA 2008 - 2013. 39 | The Walking Dead, USA seit 2010. 40 | Mad Men, USA 2007 - 2015. 41 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 177. 42 | Gabriel Menotti weist drauf hin, dass auf Plattformen wie YouTube die Zirkulation von Videos im Vordergrund stehen und weniger Fragen nach Urheber- oder Autorenschaft. Weil ein Beitrag dort nur sichtbar und damit relevant wird, wenn er wandert, sind nicht die Autor*innen, sondern die Verbreitenden für die Existenz eines Videos verantwortlich und deswegen mit den Videos (in Form von Kanälen) verknüpft. (Menotti: Objets Propagés: In: Lovink / Mile (Hrsg.): Video Vortex Reader II, S. 70 - 80.)

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Obwohl sich die Organisation des Sortiments von Netflix stärker noch als jenes von YouTube dem Verständnis eines Archivs von Rick Prelinger annähert, steht dort ebenso wenig die Bewahrung eines Originals im Interesse, als abermals die Zugänglichmachung von Kopien. Ähnlich wie YouTube zeigt sich Netflix deswegen eher als eine Bibliothek, deren Bestand ebenso wenig stabil ist. Läuft die oft nur für einen begrenzten Zeitraum erworbene Lizenz für eine Serie oder einen Film aus, wird nach deren Ablauf der Zugriff entfernt.43 Im Hilfe-Center des Dienstes heißt es dazu: Netflix zeigt die Ablaufdaten von Serien und Filmen an, um sicherzustellen, dass Sie keine unserer großartigen Inhalte verpassen. Sie sehen ein Ablaufdatum, wenn der Titel innerhalb der nächsten 30 Tage aus dem Angebot genommen wird. Sie finden das Ablaufdatum an den folgenden Orten: - Auf der Detailseite der Serie bzw. des Films. - Im Bereich Meine Liste, sofern Sie die manuelle Sortierung aktiviert haben. (Nur USA).44

In Internetforen, Onlineblogs und Medienseiten lassen sich deshalb Listen finden, in denen diejenigen Titel zusammengetragen wurden, deren Zugriff in naher Zukunft nicht mehr möglich sein wird. Unter dem Titel „Letzte Chance“ 45 erwecken sie einen zeitlichen Druck, der ein sofortiges Handeln (also ein Anschauen) nahelegt, damit das jeweilige Angebot nicht ähnlich wie eine Sendung im Fernseh-Flow ungesehen zerfällt.

ZEITLICHE ABFOLGEN UND RÄUMLICHE ORDNUNGEN Das Herauslösen von Ausschnitten aus der linearen Abfolge des Fernseh-Flows erlaubt die Erstellung eines (subjektiven) Konzentrats aus der Fülle des Fernseh-

43 | Cory Baker und Myc Wiatrowski beschreiben das Angebot als „ever-changing Netflix library“, das sich seinen Nutzenden ständig mit neuen Inhalten zeigt, um Kündigungen von Abonnements dauerhaft zu unterbinden. (Barker / Wiatrowski: Introduction. In: Barker / Wiatrowski (Hrsg.): The Age of Netflix, S. 2.) 44 | Aus dem Hilfe-Center von Netflix. Unter: https://help.netflix.com/de/node/41298 [aufgerufen am 08. September 2017]. 45 | U.a. erscheint auf der Seite http://www.newsslash.com eine monatliche Übersicht, der „Netflix-Inhalte, die im [laufenden Monat] verschwinden“.

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programms. Dabei ist etwa über das Angebot von YouTube nicht nur die Auswahl der (verfügbaren) Highlights, sondern auch die Reihenfolge ihrer Rezeption individuell wählbar. Wie Heiko Christians mit Verweis auf Jan Distelmeyer feststellt, ist das selektive Vorgehen – diese Beschränkung auf Highlights, dieses Herauspicken von medialen Rosinen – spätestens seit der massenweisen Verbreitung von DVDs als eine Form des Umgangs mit Medieninhalten längst etabliert. Der Unterpunkt ‚Chapter‘ oder ‚Kapitel‘, den jedes Standard-Menü einer DVD anbietet, hatte eine Zeit lang noch die Besorgnis erregt, dass Filme nur mehr selektiv, auf Höhepunkte hin, nicht mehr ‚vollständig‘ rezipiert würden. Diese Besorgnis erscheint heute geradezu anachronistisch. Kommerzielle Plattformen wie YouTube mit nahezu unerschöpflichen Ressourcen haben die Zerlegung aller erdenklichen Filmprodukte in Szenen unterschiedlichster Länge derart vorangetrieben, dass ein an Ganzheit orientierter Mediengebrauch eine Möglichkeit unter vielen ist.46

Neben der Fragmentierung und Kondensation eines ehemals kohärenten Werks markiert vor allem dessen gewandelte Präsentationsform die maßgebliche mediale Verschiebung, die mit der Einführung von DVD-Menüs einherging. In der „Visualisierung der Kapiteleinheiten“, so stellt Jan Distelmeyer selbst fest, realisiere sich eine Ordnung, … […] die den ehemals linear erfahrenen Film nun parzelliert in der Fläche vorlegt und quasi als anzusteuernde Datenbank-Elemente auffächert.47

Was Distelmeyer für das DVD-Menü beschreibt, lässt sich in analoger Weise für die Darstellung der Suchergebnisse von YouTube zum „zdf fernsehgarten“ übertragen. Die Sendung, die einst von einem linearen Fluss bestimmt war und eine Form zeitlicher Anordnung darbot, wird zu einem „räumlichen Arrangement“48. Diese zentrale Abweichung erkennt ebenso Joan Kristin Bleicher und stellt fest, das Fernsehprogramm nutzt „kontinuierliche Erzählformen […], um seine lineare Programmstruktur mit Inhalten zu füllen“, während das Angebot von YouTube eher eine „Mosaikstruktur“49 aufweise. Eine vormals zeitliche Abfolge

46 | Christians: Crux Scenica, S. 28f. 47 | Distelmeyer: Das flexible Kino, S. 173. 48 | Zündel: Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen. In: montage AV, S. 36. 49 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 188.

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wandelt sich zu einer flächigen Darstellung. Aus einem Nacheinander wird ein Nebeneinander. In dieser Verschiebung drücke sich für Hartmut Winkler das entscheidende Wesensmerkmal von On-Demand-Angeboten aus: Meine Behauptung ist, dass Video on Demand die Zeitachse der bewegten Bilder ganz grundsätzlich in Frage stellt. Video on Demand bedeutet, dass in ein Bewegtbilduniversum, das bis dahin dominant linear organisiert war, eine Logik der Auswahl einbricht, die selbst keiner Linearität und keinem zeitlichen Ablauf mehr folgt. 50

In seinem Aufsatz „Apparat – Dispositiv – Programm“ wendet Knut Hickethier den Programmbegriff auf verschiedene Sphären an und leitet seine Herkunft aus dem Theater ab, wo das Programm ursprünglich an einen festen Ort gebunden war.51 Erst bei seiner Überführung zum Rundfunk (Radio und Fernsehen) habe er sich zu einer zeitlichen Ordnung gewandelt, die von einer nachgeordneten Abfolge bestimmt ist. Zunächst hätte sich dahinter lediglich eine Ankündigung verborgen, was gesendet werden soll, erst im Laufe der Zeit habe sich daraus ein Verständnis entwickelt, welches das gesamte Angebot umfasst. Das Programm liefere nun eine Ankündigung und das Angekündigte selbst.52 Bei der Übernahme von Sendungen und Szenen in das Angebot von YouTube und Netflix wandelt sich das mittlerweile als zeitliche Struktur aufgefasste Programm abermals – nämlich wieder zurück zu einer Ordnung, die wie einst beim Theater an einen Ort gebunden ist – nur, dass es sich diesmal nicht um einen physischen Ort handelt. Eine verbindliche und zwingende Abfolge, auf deren Verlauf kein Einfluss besteht, stellt sie nun nicht mehr dar. Gerade in dieser Auflösung feststehender Sequenzen liegt ein Kern-Versprechen von televisionizitären Umgebungen. Um diesen Sachverhalt zu veranschaulichen greift Winkler auf eine prinzipiell unterkomplexe, aber in diesem Zusammenhang hilfreiche Dichotomie von „Und-Medien“ und „Oder-Medien“ zurück.53 In dieser Terminologie versteht er Und-Medien als Anordnungen, „die auf die syntagmatische Folge setzen, auf Anreihung, Kontinuität und Gleiten, auf räumliche Nähe ohne markierte Grenzen und auf den kontinuierlichen Fluss der Zeit“. Demgegenüber wären Oder-

50 | Winkler: Zugriff auf bewegte Bilder. In: Hillgärtner / Küpper (Hrsg.): Medien und Ästhetik, S. 323. 51 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S.426f. 52 | Ebd., S. 423f. 53 | Winkler: Zugriff auf bewegte Bilder. In: Hillgärtner / Küpper (Hrsg.): Medien und Ästhetik, S. 326.

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Medien solche, „die eine Entscheidung fordern, so dass im Fortgang nur eine der gestellten Alternativen wirksam bleiben kann.“ Hierbei merkt er selbst an, dass beide Bereiche in Reinform kaum vorstellbar sind, dennoch würde die „funktionale Perspektive“ dafür sensibilisieren, „wo der Schwerpunkt und die besondere Stärke einer medialen Anordnung liegt“. Aus seiner daraus resultierenden Überlegung zu On-Demand-Videos lässt sich für die im vorliegenden Buch untersuchten Phänomene folgende Ableitung festhalten: In DVD-Kapitelmenüs ebenso wie in den Angeboten von Netflix und YouTube greift die Auswahl-Logik von Oder-Medien auf das Feld von (ursprünglichen) Und-Medien zu. Die Auflistung der Suchergebnisse von YouTube liefert deswegen weniger eine Ankündigung, sondern eine Vorschau darauf, welche Videos als nächstes gesendet werden, sofern diese von den Nutzenden angewählt werden. Anstelle eines kuratierten Programmablaufs stellen sie lediglich aggregierte Programmoptionen in Aussicht und schlagen Programmelemente vor, die durch eine Anwahl aktiv vom Publikum in eine zeitliche Reihenfolge gebracht werden müssen. Der bisher für das Fernsehen gebrauchte Programmbegriff muss folglich, um für OnDemand-Videos weiterhin gelten zu können, sehr gedehnt werden. Zielführender könnte ihre Annahme als ein Hypertext sein, wie ihn Jay D. Bolter kennzeichnet: [E]ine Sammlung miteinander verbundener Elemente; die Verbindungen, seine Links, markieren eine Reihe möglicher Lektüren. Jede dieser Lektüren wird realisiert durch eine Interaktion zwischen dem Leser und der verlinkten Struktur. 54

Bolter liefert hiermit ein nutzbares Modell, das nahezu passgenau den Aufbau der Suchergebnisse von YouTube abzubilden scheint und mit dem derartige Ordnungen erfasst werden können. Ein anderes Konzept hat Geert Lovink ausdrücklich für YouTube vorgeschlagen. Er versteht die Plattform als Datenbank, auf die mithilfe der Suchmaske zugegriffen werden kann und deren Einträge vor allem als horizontale und vertikale Listen räumlich inszeniert werden. Dann aber sind die Sucherergebnisse keine Darstellungen eines kuratierten Programms, sondern visualisieren jeweils Abschnitte der zugrundeliegenden Datenbank: We no longer watch films or TV; we watch databases. Instead of well-defined programmes, we search one list after another. 55

54 | Bolter: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens. In: Münker / Roesler (Hrsg.): Mythos Internet, S. 43. 55 | Lovink: The Art of Watching Databases. In: Lovink / Niederer (Hrsg.): Video Vortex Reader, S. 9.

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Anschlüsse & Vorschläge

FORTLAUF OHNE INTERAKTION (AUTOPLAY) Das Fernsehprogramm ist geprägt von einem stetig fließenden, niemals endenden Programmfluss, der sich als eine geordnete lineare, zeitliche Abfolge („as a structured linear sequence over time“1) von Segmenten verwirklicht. Zu diesem Fernseh-Flow liefert in den Interfaces von On-Demand-Angeboten wie Netflix und YouTube die Funktion des Autoplays ein naheliegendes Pendant. Sie führt dazu, dass sobald ein abgespieltes Video sein Ende erreicht, ein weiteres Video automatisch startet. Ohne jegliche Interaktion durch die Nutzenden entsteht auf diese Weise eine fortlaufende Abfolge, bei der von einem Segment nahtlos in das nächste übergeleitet wird. Es wirkt ein („flow-like“2) Mechanismus, der ähnlich gestaltet zu sein scheint, wie das permanente Senden des Fernsehprogramms. Das Autoplay erzeugt hierdurch auf televisionizitären VideoPlattformen eine ähnliche Endloszeit, wie sie Irene Neverle für die „Kontinuität“ des Fernsehprogramms 3 beschrieben hat: Endloszeit meint, daß [...] Produktions- und Reproduktionsprozesse unendlich erscheinen, indem Anfangspunkte, Endpunkte und Pausen überflüssig werden. 4

Sowohl in den Interfaces von YouTube als auch von Netflix ist diese Funktion voreingestellt und bildet dem vom System angeratenen und bevorzugten Modus. Soll dieser nicht genutzt werden, ist er manuell und absichtlich außer Betrieb zu setzen. Während das Deaktivieren auf der Oberfläche von YouTube nahezu je1 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 33. 2 | Lotz: The Paradigmatic Evolution of U.S. Television… In: Icono, S. 138. 3 | Neverla: Fernseh-Zeit, S. 74. 4 | Ebd., S. 59.

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derzeit vorgenommen werden kann, gelingt dies bei Netflix ausschließlich über einen in einem Untermenü versteckten Regler. In beiden Fällen wird das Autoplay dann für alle Videos außer Betrieb gestellt, sodass generell kein weiteres Video an ein vorangegangenes selbstständig anschließt.

Abbildung 8: Videoansicht des Clips mit automatisiert beigefügten Videoempfehlungen. (Unten: Vergrößerter Ausschnitt).5 Eine weitere Möglichkeit für das Umgehen des voreingestellten Autoplays wird in der Regel im unmittelbaren (zeitlichen) Übergang zwischen zwei Videos und in Form einer Interaktionsfläche gewährt, mit welcher der Start des bevorstehenden Videos unterbunden werden kann. Als Zeitfenster, in denen die User*innen auf dieses Angebot reagieren können, räumen sowohl YouTube als auch Netflix derzeit eine Spanne von wenigen Sekunden ein, die in Form eines Countdowns heruntergezählt werden. Gleichzeitig bieten sie an, die Wartezeit zu überspringen, um das angekündigte Video direkt zu starten.

5 | Screenshot vom Video: Juris Georg 1: Glasperlenspiel ‚Schloss‘ (ZDF-Fernsehgarten 22.07.2018). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/_yGU3QxjAw8 [angefertigt über YouTube.com (Browser-Ansicht) am 25. Juli 2018; mittlerweile gelöscht].

Anschlüsse & Vorschläge | 113

Abbildung 9: Autoplay-Funktion im Interface von YouTube. Am Ende eines Videos startet automatisch das nächste.6 Welches Video folgt, wird während des Übergangs angekündigt, aber unveränderlich vorgegeben. Im Interface von YouTube entspricht dessen Auswahl stets der obersten Position aus den Vorschlägen, die zu jedem Video von einem komplexen Algorithmus aggregiert und auf der rechten Seite in Form einer (weiteren) Liste visualisiert wird. Im Interface von Netflix tritt dieses Verhalten insbesondere bei Episoden von Serien auf, wodurch die jeweils nächste Folge (aus der innerhalb einer Staffel durchnummerierten Reihung) eigenständig startet. Dieser Vorgang liest sich im Hilfe-Center von Netflix folgendermaßen: Wenn Sie sich über Netflix.com oder die Netflix-App eine Serie oder einen Titel mit mehreren Folgen ansehen, spielt die Netflix-Post-Play-Funktion nach einem kurzen Countdown automatisch die nächste Folge ab.7

Die von Netflix stets formulierte Aufforderung zum „Binge-Watching“, also das Ansehen von gleich mehreren Episoden einer Serie in einer Sitzung, wird mit 6 | Screenshot vom Ende des Clips von Glasperlenspiel [angefertigt über YouTube.com (Browser-Ansicht) am 25. Juli 2018]. 7 | Aus dem Hilfe-Center von Netflix. Unter: https://help.netflix.com/de/node/2102 [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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diesem Verfahren mit und durch das Interface vollzogen und hebt die Aufteilung einer Serie in einzelne Folgen nahezu auf. Erst am Ende einer Serienstaffel setzt die vordefinierte Netflix-Post-Play-Funktion eine Zäsur und führt zu einem Stillstand der Wiedergabe, verweist aber sogleich darauf, dass das nächste selbstlaufende Paket nur einen Klick (oder ein Touch) entfernt ist, sofern von der entsprechenden Serie weitere nachfolgende Staffeln zur Verfügung stehen.

Abbildung 10: Autoplay-Funktion im Interface von Netflix. Am Ende einer Serienfolge startet automatisch die nächste.8 Ohne an dieser Stelle erneut zu intensiv auf die zugrunde liegende Programmierung einzugehen, lässt sich feststellen, dass sich die durch das System getroffene Auswahl der durch die Autoplay-Funktion automatisch gestarteten Videos aus den vorangegangenen Titeln ableitet. Diese setzen einen Lauf in Gang, der einer binären Natur folgt und exakt zwei Wahlmöglichkeiten zulässt. Entweder kann das Autoplay aktiv unterbrochen werden, wodurch die Videowiedergabe (vorerst) zum Erliegen kommt, oder die aggregierte Entscheidung des programmierten Systems wird akzeptiert und dem Fluss des Angebots gefolgt. Die daraus resultierende Logik gestaltet sich analog zu den Umgangsmöglichkeiten mit dem Flow des Fernsehprogramms, der für seinen Bilderstrom ebenso lediglich ein Ein- und Ausklinken (eine Akzeptanz oder Verweigerung), aber keine Mitgestal-

8 | Screenshot der grafischen Benutzeroberfläche in der Netflix-App für Android-Tablets am Ende einer Episode der Serie HOUSE OF CARDS (hier: Staffel 1, Episode 1) [angefertigt am 14. August 2018].

Anschlüsse & Vorschläge | 115

tung der Zusammensetzung zulässt. Für den Strom des Fernsehens hat Thomas Günther festgestellt, dass dieser „nur angenommen werden“ kann und „anders als die profane Arbeit, kein Handeln, kein Werk“ verlange, sondern nur „Aufmerksamkeit und damit verbunden ein Opfer an Zeit.“9 Zumindest für die Funktion des Autoplays lässt sich diese Aussage bedenkenlos auf die Interfaces von Netflix und YouTube übertragen, wenngleich in beiden Modellen Aufmerksamkeit keine wirklich notwendige Bedingung zu sein scheint, fließt doch der Strom sowohl beim Fernseh-Flow als auch beim Autoplay selbst dann weiter, wenn die Beachtung abgelenkt oder das Zimmer verlassen wird.10 Hier zeigt sich in den internetbasierten Plattformen ein Verhalten, das Herbert Schwaab dem Internet im Jahr 2012 noch grundsätzlich abgesprochen hat. Stattdessen schätzte er das selbstständige Fließen von Inhalten als derart charakteristisch für das analoge Fernsehen ein, dass er darin die entscheidende Differenz zum Internet erkennt. Denn im Gegensatz zum Fernsehen, wo das „Endlosprogramm […] auch dann weiterläuft, wenn es nicht angeschaltet ist“, würden sich die Segmente im Internet eben nicht selbst versenden. Schließlich gelte: Das Internet läuft nicht weiter, wenn es nicht an ist; es läuft nicht einmal, wenn es an ist, weil jeder Informationsfluss eines Aufrufs bedarf.11

Diese von Schwaab für das gesamte Internet behauptete Annahme muss dementsprechend zumindest für die Autoplay-Funktionen von Netflix und YouTube eingeschränkt werden, die ein ähnliches Fließen von Segmenten herstellen wie es vom fernsehhaften Endlosprogramm bekannt ist. In der Gestalt des daraus resultierenden Auto-Flows bilden ihre Interfaces eine Art Programm sogar im dop-

9 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 473. 10 | Der Vollständigkeithalber muss darauf hingewiesen werden, dass das Autoplay bei Netflix nicht endlos läuft, sondern nach längerer Zeit eine Interaktion erfordert, um im Gang zu bleiben. Diese Abfrage setzt in der Regel nach einigen Stunden ein, sodass sich bis zu diesem Punkt dennoch automatischer Flow entwickeln kann. Es bedarf eines Klicks, um ihn aufrechterhalten zu können. Im Hilfe-Center von Netflix ist dieser Vorgang folgendermaßen beschrieben: „Wenn Sie sich mehrere Folgen nacheinander angesehen haben, ohne mit dem Player zu interagieren, wird die Meldung ‚Schauen Sie noch?‘ angezeigt, um zu verhindern, dass die Wiedergabe fortgesetzt wird, obwohl Sie gar nicht mehr zuschauen. Die Meldung wird in der Regel ca. 2 Minuten nach Beginn einer Folge angezeigt.“ (Aus dem Hilfe-Center von Netflix. Unter: https://help.netflix.com/de/node/41298 [aufgerufen am 27. Januar 2020]). 11 | Schwaab: ‚Ich weiß ja nicht, was ich suche‘. In: montage AV, S. 126.

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pelten Sinne aus, nämlich einerseits in Form einer Abfolge von Segmenten und anderseits in Form von Ankündigungen darauf, was künftig zu sehen ist. Eine Verschiebung gegenüber dem Fernseh-Flow vollzieht sich jedoch dadurch, dass der Fluss nicht durch eine menschliche Kuration erzeugt wird, sondern er und mit ihm die Vorgaben, welche Videos aneinandergereiht werden, in der Programmierung des Systems verankert und automatisiert errechnet wird. Der Einfluss, der den Nutzenden gewährt wird, ist die Bestimmung des Beginns des Auto-Flows und auf diese Weise die Festlegung des Ausgangspunkts, aus dem sich der Fluss individuell aggregiert. Im Interface von YouTube wird ein Flow für jedes Video, jeden Nutzenden und jeden Zugriffszeitpunkt individuell erzeugt und ist im Gegensatz zum Fernseh-Flow, der stets für das gesamte Publikum einheitlich erscheint, nie universell. Im Modus des Autoplays entledigen sich die Plattformen jedoch ihren prominenten Versprechungen nach Selbstbestimmtheit, denn sie sind im Auto-Flow „nicht mehr auf mich angewiesen.“12 Mit der Einführung dieser Funktion, so lautet Jan Distelmeyers Fazit, eignet sich YouTube (und dieser Schluss lässt sich analog auf Netflix übertragen) … […] ein weiteres Merkmal des Fernsehens an, worauf ja schon der Name, das Logo und der alte Slogan Broadcast Yourself setzten. Der seit Raymond Williams so folgenreich diskutierte ‚Flow‘ des TV-Programms, jenes gewünschte Hinübergleiten von einer Sendung zur nächsten, das bei YouTube schon aus dem Channel-Angebot vertraut ist, wird nun zur Grundeinstellung. Die […] immer wieder behandelten Fragen, ob bzw. inwiefern YouTube nun ‚das neue Fernsehen‘ sei, bekommt damit Unterstützung im Interface.13

ÄSTHETIK DER MÖGLICHKEITEN Das automatisierte Autoplay14 in den Angeboten von Netflix und YouTube mag zwar eine zentrale Funktion sein, die die Rezeptionserfahrung und den Gebrauch der Plattformen maßgeblich bestimmt, sie bildet aber nicht jenes Verhalten ab, das der allgemeinen Wahrnehmung von On-Demand-Diensten entspricht. Sie ist keine Eigenschaft jener Televisionizität, in deren Kern die wahrgenommene zeitsouveräne, eigenmächtige und freie Wählbarkeit von Programmsegmenten

12 | Distelmeyer: Machtzeichen, S. 139. 13 | Ebd., S. 138. 14 | bzw. die „Netflix-Post-Play-Funktion“.

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steht. Zentraler scheint das Versprechen, sich etwa die Segmente des FERNSEHGARTENS (aber auch alle anderen Objekte der Sammlung, auf die ein Zugriff gewährt wird) selbstständig auszuwählen oder auszulassen, sie in eine beliebige Reihenfolge zu ordnen oder mehrfach anzusehen. Einzig den eigenen Vorlieben folgend, lässt sich in den Interfaces von einem zum anderen Video springen und durch die reichhaltigen Datenbanken surfen. Zuweilen stundenlang, wenn man sich – und wer kennt diese Situation mittlerweile noch nicht – endlos von Video zu Video klickt und sich in der Angebotsfülle schier verliert. Auch gänzlich ohne technische Automatisierung kann offenbar eine Art Sog entstehen, der derart einladend und zugleich mitreißend ist, dass es sich als eine Herausforderung für die eigene Willenskraft gestaltet, sich ihm zu entziehen. Diese Erfahrung, sich vom Programm gefangen zu fühlen, hat Raymond Williams bereits im Jahr 1974 für das damalige Fernsehen beschrieben: Weiterhin ist es eine häufige, wenn auch reumütig zugegebene Erfahrung, dass es viele von uns schwierig finden, den Fernseher auszuschalten; und dass wir uns wieder und wieder, auch wenn wir für eine bestimmte ‚Sendung‘ angeschaltet haben, dabei erwischen, wie wir die Sendung danach angucken und die darauf folgende ebenfalls. Dies wird sicherlich durch die Art, in der der flow inzwischen organisiert ist, nämlich ohne eindeutige Einschnitte, verstärkt. Wir können uns schon ‚in‘ etwas Neuem befinden, bevor wir die Energie gesammelt haben, uns aus dem Stuhl zu erheben […].15

Offenbar wirken in Plattformen wie Netflix und YouTube vergleichbare Mechanismen wie beim William’schen (Fernseh-)Flow. Dies aber wäre dann ein Flow, der sich (bei deaktiviertem Autoplay) gerade nicht automatisiert ergibt oder gar von einer äußeren Instanz vorgegeben wird, denn die Filme und Videos müssen selbst ausgewählt und manuell gestartet werden. Er basiert auf einem fortwährenden Auswahl- und Interaktionsprozess, der von der nutzenden Person so lange aufrechtgehalten wird, wie sie jeweils motiviert ist, noch immer einen weiteren Beitrag anzuklicken. Für YouTube hat William Uricchio diese Beobachtung daher gekennzeichnet als den Wandel von einem Flow nach Vorgaben zu einem Flow, der als Bedingung für seinen Fortlauf eine aktive Auswahl verlangt („a shift from flow as default to flow as a condition that requires active selection“ 16).

15 | Williams: Programmstruktur als Sequenz oder flow. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 41. 16 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 33.

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Wie aber entsteht dieser flow-artige Drang, immer noch ein Video anklicken zu wollen, im dem sich eine weitere Facette der Fernsehhaftigkeit von OnlinePlattformen wie Netflix und YouTube ausdrückt? Offenbar gelingt es den Diensten, stets genau die richtigen Videos anzubieten, um die nötige Motivation zum Weitergucken aufrechterhalten zu können. Eine Ursache muss demnach in den weiteren Empfehlungen gesucht werden, die als Ergänzung zu jedem angeklickten Video zusätzlich vorgeschlagen werden. Das Interface von YouTube stellt diese in Form einer Liste rechts neben der Abspielfläche des angeklickten Videos zur Verfügung. Zusätzlich erscheint im Fall der Deaktivierung der Autoplay-Funktion am Ende jedes Videos eine weitere Auswahl von zwölf Videos, die im Videofenster als ein Mosaik (als eine Fläche) angeordnet werden. Wie Frank Kessler und Tobias Mirko Schäfer festhalten, führte jede Wahl eines YouTube-Videos zu einer Einladung oder Empfehlung, immer noch mehr zu schauen („to an invitation, or proposition, to watch more“17). Eine vergleichbare Einladung erhalten die Kund*innen von Netflix, wenn sie einen Titel aus dem Katalog des Dienstes aufrufen und dann mindestens zehn weitere Filme oder Serien vorgeschlagen bekommen, die vom System als „passend“ zur aktuellen Auswahl eingestuft werden. Beide Systeme erschlagen ihre Nutzenden geradezu mit Videoempfehlungen und visualisieren damit den nahezu unerschöpflichen Umfang ihrer Bibliotheken und das daraus resultierende immense Kontingent an aggregierten Wahlmöglichkeiten. Hier ist eine Ästhetik der Möglichkeiten zu erkennen, die sich abermals als Fläche und damit dem Prinzip des Bitmappings folgend in einer räumlichen Anordnung zeigt und die Nutzenden dazu verleiten soll, dran zu bleiben. Beim Unternehmen YouTube, welches sich ähnlich wie das Fernsehprogramm vorranging aus eingeblendeter Werbung finanziert, ist diese Motivation allzu verständlich, verspricht doch ein längeres Verharren auf der eigenen Plattform auch ein häufigeres Wahrnehmen der eingebundenen Anzeigen. Je länger eine Person auf YouTube verweilt – so einfach erscheint die Rechnung – desto mehr Werbebotschaften hat sie gesehen und desto mehr Einnahmen lassen sich daraus generieren. Hier verhält sich das System nahezu identisch zum werbefinanzierten Fernsehprogramm. Bei Netflix aber, das sich durch Abonnements mit festen, monatlichen Beiträgen finanziert und (bisher) frei von Werbespots und Werbeeinblendungen ist18, führen längere Verweildauern für das Unternehmen zu kei-

17 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 280. 18 | Sieht man von Produktplatzierungen und Trailern für das eigene Programm ab. (Stand: Juli 2020)

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nem unmittelbaren finanziellen Vorteil. Daher muss das dortige Bemühen, einen Flow zu entfalten, in erster Linie als ein unternehmensstrategisches Mittel eingestuft werden, dass eine stärkere emotionale Anbindung an die Plattform erzeugen soll. Je tiefer die Kund*innen in den Sog des On-Demand-Angebots hineingezogen werden, je weniger wahrscheinlich ist eine Kündigung ihres laufenden Abonnements. Zugleich werden die Nutzenden auch zeitlich an das bereitgestellte Angebot gebunden und auf diese Weise daran gehindert, sich anderen Plattformen oder televisionären Konkurrenten zu widmen. Beim Netflix-Flow handelt es sich auch um einen Köcher im Verdrängungswettbewerb, mit dem die kostbare Aufmerksamkeit des Publikums vor allem deswegen eingefangen werden soll, damit diese nicht mehr den Mitbewerbern zur Verfügung steht.

Abbildung 11: Videovorschläge zum Titel NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (USA 1993, Henry Selick) in der grafischen Benutzeroberfläche von Netflix.19

19 | Screenshot über die Netflix-App für Android-Tablets [angefertigt am 25. September 2018].

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Die Flankierung eines ausgewählten Titels mit weiteren zum Abruf bereitstehenden Videos führt im Umkehrschluss zu der Situation, dass die getroffene Entscheidung vom Interface permanent hinterfragt wird. Die unzähligen aggregierten Vorschläge fordern dazu heraus, die getroffene Wahl mit dem anbei offerierten Angebot zu vergleichen und abzuwägen, ob nicht ein anderes Video noch größere Unterhaltung verspricht. Drum prüfe, wer sich ewig (an ein Video) bindet, ob sich nicht ein besseres findet. Unter allen Videos herrschen eine ständige Rivalität und ein ewiger Zustand des drohenden Verdrängtwerdens. So wenig, wie das Fernsehprogramm es aushält, in der Gegenwart zu verharren und deswegen ständig mit Verweisen auf verlockende künftige Segmente versucht, sein Publikum interessiert und inaktiv zu halten, so sehr versuchen die Interfaces von Netflix und YouTube mit ihren verlockenden Aussichten auf andere Angebote, jede einmal getroffene Entscheidung zu revidieren und ihre Nutzenden aktiv zu halten. Während also der Flow des Lean-Back- oder Push-Mediums Fernsehen versucht, ein Umschalten zu verhindern, so sehr beabsichtigt der Vorschlags-Flow der Pull-Angebote Netflix und YouTube ein Klicken herbeizuführen. Mit ihrer jeweiligen Absicht, ein Interesse für andere Segmente außerhalb des aktuell-laufenden Programms zu erzeugen, offenbart sich eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Videovorschlägen der televisionizitären Interfaces auf der einen Seite und den Trailern des Fernsehprogramms auf der anderen Seite. Wie groß sie ist, belegt eine Beschreibung der Fernsehtrailer von Klaas Klaassen aus dem Jahr 1997: Die Verweisfunktion des Trailers ist kompatibel zur Hypertextstruktur des Internets, wenn der Trailer von der Zeitstruktur des Programms in die Oberflächen-(Screen-) Struktur des Bildschirms bzw. Betriebssystems wechselt. Das Ziel des Trailers, die Motivation des Zuschauers, ist dann erreicht, wenn der Zuschauer dem Link des Trailers zur Langfassung folgt, sei es mit einem Mausklick oder per Fernbedienung. 20

Rein funktional entsprechen die operativen Vorschaubilder von Netflix und YouTube solchen Programmankündigungen, werden allerdings in Form von Listen aus mehreren nebeneinander dargestellten Vorschlägen und deshalb in einer räumlichen Anordnung angeboten. Der TV-Trailer ist hingegen in den linearen Programmablauf integriert und Bestandteil einer zeitlichen Ordnung. Er ist ein

20 | Klaassen: „Morgen, Gleich, Jetzt...“ In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 238.

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Abschnitt eines Nacheinanders, bei dem kuratiertes Programm und Trailer nicht parallel, sondern zeitlich hintereinander in Erscheinung treten. Im Interface von Netflix verschwinden die räumlich-organisierten Videovorschläge, sobald ein Film oder eine Serienepisode tatsächlich in Gang gesetzt wird. Dann wechselt die Gestaltung der Oberfläche von ihrer ursprünglichen Mosaikstruktur in den Vollbildmodus des Films, der auch die verweisenden Filmposter verdrängt. Ist die Wahl getroffen, akzeptiert das System diese Entscheidung vorerst und stellt keine weiteren verlockenderen Alternativen zur Auswahl.21 Das Verlassen des Vorbildmodus führt jedoch zur vorherigen Mosaikfläche zurück und hat zugleich den Abbruch bzw. das Anhalten des Titels zur Folge. Es ist deswegen im derzeitigen Interface von Netflix nicht möglich, Programm und Vorschläge (Programmhinweise) gleichzeitig zu betrachten. Hier herrscht eine vergleichbare Entweder-Oder-Struktur wie bei Trailern im Fernsehprogramm, die auch kein Nebeneinander von Programm und Trailer kennen. Bei YouTube hingegen bleiben die Vorschlagslisten auch während des Abspielens sichtbar und stehen damit über die gesamte Laufzeit in Konkurrenz zum gerade aktivierten Video. Dieser Zustand kann verändert werden, indem aktiv in den Vollbildmodus gewechselt wird. Erst dann verlieren die Vorschlagslisten ihre Sichtbarkeit. Wo Netflix und YouTube offensichtlich den das Fernsehprogramm maßgeblich bestimmenden Mechanismus des Flows adaptieren und in ihren Interfaces implementieren, ahmt das Fernsehprogramm wiederum deren Benutzeroberflächen nach, indem es ästhetische Stilmittel entwickelt, die ebenfalls räumliche Parallelitäten als Ergänzung zur zeitlich-linearen Abfolge zulassen. Zu erkennen ist dieses Bemühen im Einsatz von Split-Screens etwa im informationsreichen Bild von Nachrichtensendern, im Übergang zwischen zwei Sendungen oder vor und nach Werbeunterbrechungen. Zugleich werden im laufenden Flow vermehrt Einblendungen vorgenommen, in denen Ankündigungen wie ein zusätzlicher Layer über das Programm-Interface gelegt werden. Ähnlich wie die Benutzeroberfläche von YouTube gewährleisten sie ein räumliches Nebeneinander von Programm und Programmhinweis.

21 | Über einen Menüpunkt auf der Bildoberfläche (ein weiteres operatives Bild) sind bei Serien oder Reihen, die aus mehreren Teilen bestehen, weitere Episoden abrufbar.

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Abbildung 12: Beispiele für visuelle Programmverweise in der Sendung ZDF FERNSEHGARTEN.22 Das Bild des Fernsehens ist ebenso wie die Oberflächen von Netflix und YouTube von ständigen Verweisen auf eine Fülle anderer/späterer Angebote und somit von einer Ästhetik des Überangebots dominiert. Ob in Form von Videovorschlägen oder Programmhinweisen in einer Werbeunterbrechung, stets werden im Umfeld des aktuellen Segments Hinweise auf weitere platziert, die ver-

22 | Screenshot aus der Sendung ZDF FERNSEHGARTEN (Ausgabe vom 22. Juli 2018) über die ZDF-Mediathek [angefertigt am 01. August 2018].

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sprechen, noch unterhaltsamer zu sein. Wird eine Fernsehsendung als langweilig empfunden, liefert ein schneller Wechsel des Kanals zu einem potenziell besseren Programm die sofortige Erlösung. Je nach Sichtweise kann das Zappen als unaufhörliche Flucht vor der Langweile oder als ewige Suche nach der immer noch besseren Sendung charakterisiert werden. Stellt sich hingegen ein angeklickter YouTube-Clip als uninteressant heraus, stehen sofort zahlreiche Alternativen zur Verfügung, ihn zu ersetzen. In der Möglichkeit, ungewünschte Programme zu vermeiden, sehen die Autoren Pelle Snickars und Patrick Vonderau daher zwischen dem Umherspringen zwischen verschiedenen Videos bei YouTube eine Nähe zum klassischen Zapping zwischen TV-Kanälen.23

MEHR VOM GLEICHEN Aber, anders als beim Schalten zwischen Fernsehkanälen, wo die parallel laufenden Flows lediglich durch ihre zeitgleiche Übertragungszeit miteinander verkoppelt sind und sich die Palette der Auswahlmöglichkeiten eher zufällig zusammensetzt, besteht bei YouTube eine durch die Programmierung hergestellte semantische Verbindung zwischen den vom System bereitgestellten Vorschlägen.24 Diese schlägt sich vor allem in einer thematischen, inhaltlichen, personellen oder konzeptuellen Nähe zwischen den Beiträgen nieder und drückt sich auch darin aus, dass in früheren Versionen der Benutzeroberfläche über den Vorschlagslisten noch die Überschrift „Ähnliche Videos“ prangte. In der YouTube-Hilfe ist zu dieser semantischen Kausalität folgendes zu lesen: Die nächsten Videos werden neben oder unter dem Video angezeigt, das sich ein Nutzer gerade ansieht. Sie werden basierend auf verschiedenen Faktoren automatisch ausgewählt, beispielsweise anhand des Videos, das gerade wiedergegeben wird. 25

Nach den bisherigen Erkenntnissen ist diese Aussage ebenso auf die Vorschlagslisten von Netflix übertragbar – insbesondere deswegen, weil sie mit den Worten „Passend zu…“ überschrieben werden. Folglich werden die Vorschläge in der

23 | Snickars / Vonderau: Introduction. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 15. 24 | Kessler / Schäfer: Navigating YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 280. 25 | Aus dem Hilfe-Bereich von YouTube.com. Unter: https://support.google.com/ youtube/answer/92651?hl=de [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Weise ausgewählt, dass sie einen (angenommenen) geschmacklichen Anknüpfungspunkt an das gewählte Video bedienen. Die Auswahl folgt einer „Mehrvom-Gleichen“-Logik, die davon ausgeht, dass die Menschen – in ihrer Mediennutzung eher Kontinuität als Abwechslung – eher Verlässlichkeit als Überraschung – anstreben. Ihnen wird anstelle einer breiten Palette aus möglichst unterschiedlichen Angeboten eine homogene Auswahl angereicht, die allenfalls feine Schattierungen umfasst und dadurch ein nahtloses, harmonisches Fließen zwischen den Elementen sicherstellen soll. Es entsteht ein aggregierter Fluss, der vornehmlich durch die Vermeidung von Zäsuren erzeugt wird. Die komplexen Prozesse der Gestaltung eines TV-Programms erläutert der ehemalige Geschäftsführer des Fernsehsenders Sat.1, Roger Schawinski, in seinem Buch „Die TV-Falle“, in dem er seine Erlebnisse als Programmverantwortlicher anhand konkreter Beispiele schildert. Demzufolge wären seine planerischen Aktivitäten vor allem auf das Ziel gerichtet gewesen, die Zuschauenden möglichst lange mit dem eigenen Angebot zu begeistern und ein Umschalten auf einen konkurrierenden Sender zu verhindern. Dazu war insbesondere sicherzustellen, dass die Zuschauenden nach dem Ende eines Segments nicht um- oder abschalten, sondern in das nächste überführt werden. Der Zuschauerfluss von einer Sendung zur nächsten – der Audience-Flow – ist ein zentraler Aspekt jeder Programmierung. […] Die wichtigste Regel ist, dass der Audience-Flow höher ist, wenn es keinen Genrewechsel zwischen den Sendungen gibt. Auf diese Weise erhalten auch schwächere Serien im Anschluss an Top-Produkte tolle Quoten. […] Ein Genrewechsel bringt hingegen generell schwächere AudienceFlows.26

Unterstützung erfährt diese Behauptung durch eine Aussage, die Jan Körbelin, der ehemalige Programmdirektor des Fernsehsenders ProSieben, im Oktober 1997 auf einer Veranstaltung der Adolf Grimme Akademie äußert. Er stellt fest: Der Zuschauer mag keine Brüche oder harten Schnitte in der Programmfarbe, er bevorzugt ‚weiche‘ Übergänge und subtile Wendungen. 27

26 | Schawinski: Die TV-Falle, S. 140f. 27 | Körberlin: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. In: Paukens / Schümchen (Hrsg.): Programmplanung, S. 20.

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In der Planung des Fernsehprogramms findet damit eine Mehr-vom-GleichenLogik breite Anwendung, wie jene, die in den programmierten Prozessen der Interfaces von Netflix und YouTube eingeschrieben ist. In dieser Logik bilden Fernsehprogramme und televisionizitäre Umgebungen eine gewichtige und prägende Schnittmenge. Während die angenommene Homogenität auf den Plattformen jedoch von Algorithmen automatisiert und individualisiert errechnet wird, ist sie im Fernsehprogramm das Produkt eines komplexen Kurationsprozesses, der auf menschlichen Entscheidungen der Programmplaner*innen basiert. Wie sich dieses Verfahren im Fernsehen konkret gestaltet, verdeutlicht ein im Jahr 1992 veröffentlichtes Interview mit Marc Conrad, der wiederum der ehemalige Programmdirektor des Senders RTL war: Wir versuchen bei RTL gerade, an allen Tagen einen homogenen Programmfluss herzustellen. Beispiel Montag: Wir beginnen um 20.15 Uhr mit COLUMBO. Danach kam bislang die deutsche Version von TOP COPS, also AUF LEBEN UND TOD mit Olaf Kracht. COLUMBO hatte zuletzt immer 6,5 Millionen bis 7 Millionen Zuschauer und danach kam Kracht mit 3 Millionen bis 3,5 Millionen, was sehr gut war. Aber: Gegenüber COLUMBO haben wir immer rund 3 Millionen Zuschauer verloren, weil TOP COPS für die nicht mehr interessant genug war. In unserem Archiv hatten wir, fertig synchronisiert, noch Folgen von QUINCY liegen. Es waren zwar viele im Haus hier dagegen, als wir gesagt haben […] montags nehmen wir nach COLUMBO dann QUINCY ins Programm. Die US-Serie stammt von den gleichen Autoren und den gleichen Produzenten wie COLUMBO. Wir haben es versucht und gleich beim ersten Mal erzielte QUINCY auf Anhieb fast 4,5 Millionen Zuschauer. Also haben wir zwischen COLUMBO und QUINCY nur 2 Millionen Zuschauer verloren, wo wir zuvor immer zwischen 3 Millionen und 4 Millionen verloren hatten. […] Dadurch, dass wir an diesem Tag eben diesen homogenen Programmfluss geschaffen haben, haben wir jetzt mit dem Bruchteil der Kosten, die uns vorher entstanden, viel höhere Reichweiten.28

Im beschriebenen Optimierungsprozess bildet vor allem die Einschaltquote die Grundlage, der die entscheidende und einzig maßgebliche Bedeutung zugesprochen wird. Einzig auf Basis dieser Messdaten – besser auf Basis der Verhältnisse der Messwerte zueinander – wird der Programmablauf solange variiert, bis kaum noch Schwankungen in den Relationen auftreten. Die Einschaltquoten stellen für die Programmplanung somit ein vergleichbares Instrument dar, wie die MetaDaten und Nutzungsdaten für die Algorithmen der On-Demand-Plattformen.

28 | Leder / Anschlag: Prophetie ist keine Kunst.

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Mit einer solchen Vergleichbarkeit von Einschaltquoten des Fernsehens und den Nutzungsdaten von Netflix hat sich die Medienwissenschaftlerin Sarah Arnold in ihrem Aufsatz „Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy“ befasst und erkennt neben zahlreichen Gemeinsamkeiten in der Weise, wie die jeweiligen Daten generiert werden, eine entscheidende und folgenreiche Differenz. Während demzufolge die Ermittlung der Einschaltquoten des Fernsehprogramms mithilfe von Messgeräten („peoplemeter“) lediglich von einer ausgewählten Gruppe tatsächlich gemessen und nach Abschluss der Sendung für das gesamte Publikum hochgerechnet würden29, überwachten und personifizierten die Algorithmen von Netflix das Nutzungsverhalten aller User*innen. Abseits des größeren Umfangs des Datenmaterials liege die entscheidende Abweichung darin, dass bei der Ermittlung der Einschaltquoten aus soziokulturellen Parametern – hier sind Faktoren wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Einkommen oder Schulbildung zu nennen – im Voraus Zielgruppen gebildet und deren Verhalten ermittelt wird. Bei Netflix hingegen würden solche Identitäten erst aus dem registrierten Verhalten der Nutzenden – und damit im Nachhinein und (zunächst) unabhängig von soziokulturellen Merkmalen – entstehen.30 Anstelle einer Homogenität, die aufgrund gemeinsamer soziokultureller Eigenschaften angenommen wird, entsteht diese nun mithilfe von Algorithmen auf der Basis eines vergleichbaren Verhaltens. Dies aber sei ein Verfahren, welches ebenso Tücken in sich trägt, wie die panel-basierte Ermittlung der Einschaltquoten. Wie Sarah Arnold in ihrem Aufsatz nachweist, produziere das System im Zusammenspiel mit den hinterlegten Meta-Daten algorithmische Identitäten („algorithmic identity“), die durch statistische Stereotypen geprägt sein und sich aus Abgrenzungen zum Prototyp des weißen Mannes ableiten würden.31 Wo für das Fernsehprogramm im Nachhinein errechnet wird, was gesehen wurde und daraus Rückschlüsse für die Kuration künftiger Programmabläufe abgeleitet werden, versuchen televisionizitäre Anordnungen, das Nutzungsverhalten ihrer User*innen vorauszusagen und gleichen ihre aggregierten Prophezeiungen stetig mit dem tatsächlichen Verhalten ab. Mögen diese Mechanismen zwar in voneinander abweichenden Formen ablaufen, finden sie in ihren jeweiligen Zielsetzungen eine beachtenswerte Nähe zueinander. Schließlich streben Angebote wie YouTube und Netflix, ähnlich wie das Fernsehprogramm, die Gestaltung von

29 | Arnold: Netflix and the Myth of Choice / Participation / Autonomy. In: McDonald / Smith-Rowsey (Hrsg.): The Netflix Effect, S. 53. 30 | Ebd., S. 50. 31 | Ebd., S. 56ff.

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möglichst nahtlosen und irritationsfreien Übergängen zwischen disparaten Segmenten an, um eventuelle Impulse, das jeweilige Interface verlassen zu wollen, unterdrücken zu können. Mit dem Vorhaben, jedem Nutzenden eine Wahl aus dem umfangreichen Angebot bereitzustellen, die möglichst ideal an die eigenen Bedürfnisse und Vorlieben angepasst ist, soll ein „maßgeschneiderter“ 32 Flow entstehen, der bereitwillig angenommen wird. Ein Flow, von dem man sich widerspruchslos treiben lässt. Je wirkungsvoller dies realisiert wird, desto stärker verschwinden allerdings ausgerechnet jene Eigenschaften aus der Wahrnehmung, mit denen sich die Online-Plattformen einst gegen das Fernsehen in Stellung gebracht haben. Die Effekte der identifizierten Algorithmen in Verbindung mit dem Autoplay münden letztlich in der Auflösung des einstigen digitalizitären Versprechens nach nicht vorgegebenen Abläufen und eigenen Steuerungsermächtigungen. Das Ziel einer fortwährenden Optimierung des Flows geht mit einer Verwandlung des eigenen Angebots in einen Zustand einher, der sich kaum besser beschreiben lässt, als mit dem Wort FERNSEHEN.

32 | Lotz: Portals, Abschnitt: Introduction / What Is Internet-Distributed Television?

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Narrative & Verkettungen

FORTSETZUNG FOLGT… Neben den bisher für televisionizitäre Plattformen wie Netflix und YouTube untersuchten Formen des Flows (Autoplay und Videovorschläge), die in direkter Weise an einen oder mehrere Algorithmen gekoppelt sind und sich im Wechselspiel mit dem Menschen durch die Computer-Ebene des Interfaces vollziehen, existiert ein weiteres Vorgehen, das ausschließlich auf kultureller Ebene abläuft und sich einzig aus dem Inhalt der Videos ergibt. Es tritt in seiner effektivsten Ausprägung in Form von offenen Enden auf, deren Abschlüsse im jeweils nächsten Video oder in der nächsten Folge einer Serie versprochen werden. Hier bildet das Abbrechen einer Geschichte auf dem Höhepunkt des Spannungsbogens, um erst nach einer Unterbrechung fortgesetzt zu werden1, das prominenteste Beispiel, welches laut Gabriele Schabacher schon lange vor der Erfindung von FERNSEHEN in Comic-Strips, Fortsetzungsromanen und Filmserien angewendet wurde.2 Die gängige Nutzung eines sogenannten Cliffhangers ist in unterschiedlicher Ausprägung in nahezu allen populär-seriellen (Unterhaltungs-) Formaten zu erkennen. Dies gilt ebenso für das Netflix-Aushängeschild HOUSE OF CARDS3, in dem die Episoden keinen Endpunkt der Geschichte (oftmals nicht einmal einzelner Handlungsstränge) bilden. Stattdessen wird der Fortgang der Erzählung stetig aufgeschoben oder verzögert, sodass die jeweils nächste Ausgabe verspricht, sich mit ihr der finalen Auflösung zu nähern. 1 | Schabacher: Serialisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 502. 2 | Ebd., S. 505. 3 | House of Cards, USA 2013 - 2018.

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In Kombination mit menschlicher Neugier und dem Bedürfnis, unfertige Geschichten und Handlungen abschließen zu wollen, können derartige Verzögerungen, die innere Motivation auslösen, etwa den Weg der Figur Frank Underwood in HOUSE OF CARDS mit jedem zur Verfügung stehenden Kapitel weiterverfolgen zu wollen. Ähnlich wie die Trailer-Kultur des Fernsehprogramms kann aus den (oft indirekten) Ausblicken und Verweisen der Wunsch erwachsen, die Rezeption fortsetzen zu wollen. Im Resultat entsteht eine Art Flow, der eine ebenso mitreißende Wirkung entfalten kann, wie der stets präsente Programmstrom. Dieser basiert jedoch nicht auf einer Aufwartung zusätzlicher, gleichartiger Angebote, sondern wird rein mit narrativen Mitteln erzeugt und entsteht aus der Gestaltung des Handlungsverlaufs. Die vorranginge Aufgabe der verantwortlichen Drehbuchautor*innen besteht daher darin, eine Story mit möglichst vielen retardierenden Momenten zu bestücken, damit das Interesse am entfernten Abschluss der Handlung nie versiegt, denn mit ihr versiegt auch der narrative Flow. Im Gegensatz zum televisionären Programm-Flow, aber auch im Gegensatz zum Auto-Flow und zum Vorschlags-Flow der Algorithmen von On-DemandAngeboten, vermag der narrative Flow, nicht nur einen bereits laufenden Fluss aufrechtzuerhalten, sondern ihn überhaupt erst in Gang zu setzen. Ist er ausreichend effektiv geplant, kann er eine langfristige Wirkung aufbauen, die weit über die jeweils laufende Sitzung hinausreicht. Im Idealfall kann das Interesse derart gesteigert werden, dass er mehrere Monate – manchmal Jahre – anhält, bis die nächste Staffel veröffentlicht wird. Aus dem narrativen Flow resultiert der Impuls, das Fernsehgerät überhaupt einzuschalten oder Online-Dienste zu besuchen. Seine Kraft bezieht er ausschließlich aus der kulturellen Ebene des Interfaces und nicht aus der technischen Computer-Ebene, weswegen selbst Serien, die wie HOUSE OF CARDS gezielt für einen Abruf auf Plattformen wie Netflix produziert sind, diesbezüglich nicht anders operieren als Serien des Fernsehprogramms.

KOMPLEXE KOMBINATIONEN Wo sich der Dienst Netflix in diesem Punkt die Mechanismen und narrativen Prinzipien des Konkurrenten Fernsehen nahezu vollständig einverleibt, offenbart sich in zahlreichen Videos aus dem Angebot von YouTube ein Modell, welches veränderten Gesetzmäßigkeiten folgt und narrative Strategien mit technischen Elementen kombiniert.

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Für dessen Erläuterung sollen Videos des Kanals „BibisBeautyPalace“ herangezogen werden, der seit dem Jahr 2012 von Bianca Claßen (geb.: Heinicke) betrieben wird. Mit knapp 5,9 Millionen Abonnements4 wird sie übereinstimmend als „Deutschlands erfolgreichste YouTuberin“5 bezeichnet und erfährt längst Beachtung über die Grenzen der Plattform hinaus. Innerhalb der Community wird ihre Arbeit äußerst kontrovers aufgenommen und spaltet sie geradezu in zwei unvereinbare Lager – in diejenigen, die ihre Erlebnisse mit Interesse und oft Begeisterung verfolgen und jene, die sie wegen ihrer aufdringlichen Produktplatzierungen, ihrer zahlreichen Werbeauftritte und ihrer eigenen Kosmetik-Marke zum Sinnbild für die Kommerzialisierung von YouTube erklären. Unabhängig davon, auf welcher Seite man sich in dieser Diskussion eher positionieren mag, ist es unstrittig, dass Bianca Claßens Aktivitäten und ihr wirtschaftlicher Erfolg prägend für die Entwicklung, Wahrnehmung und Ausrichtung der Branche sind. Dabei sind ihre Videos jedoch untrennbar mit ihrem heutigen Ehemann Julian Claßen verbunden, der einen eigenen YouTube-Kanal mit derzeit 4,0 Millionen Abonnements6 betreibt. Durch ihre fortwährenden Auftritte auch in den Videos des jeweils anderen bilden sie eine nahezu symbiotische Einheit, die sich auch darin ausdrückt, dass sie als unternehmerische Organisationsform gemeinsam eine GbR betreiben und Bianca Claßen bis zum September 2017 sowohl für ihre eigenen Videos als auch für die ihres späteren Ehemannes als gemäß des Rundfunkstaatsvertrags inhaltlich verantwortliche Person angegeben war. 7 Für die nachfolgende Veranschaulichung, in welcher Weise einzelne YouTubeVideos zu einer Abfolge verkettet werden können, soll ein Video den Ausgangspunkt bilden, das den Titel „Ich bin schwanger :O PRANK“ trägt. Es wurde am 29. Mai 2016 veröffentlicht und entwickelte sich zu dem Beitrag des Kanals, der im Veröffentlichungsjahr am häufigsten angewählt wurde. In der Gesamt-Liste der meistgeklickten deutschsprachigen YouTube-Videos aus dem Jahr 2016 belegt es zudem den sechsten Platz. In ihm versucht Bianca Claßen, ihrem Ehemann einen Streich zu spielen, den sie mit folgenden Worten einleitet:

4 | Stand: Juli 2020. 5 | U.a. In: SZ-Magazin, Ausgabe 27/2017. 6 | Stand: Juli 2020. 7 | Vgl. Kanalinfo vom YouTube-Kanal: Julienco. Unter: https://www.youtube.com/user/ juliencotv/about [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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[flüsternd] Hallihallo meine Lieben zu meinem neuen Video. Ich muss leider so leise reden, weil der Julian drüben liegt und schläft. Wir haben gerade 4.00 Uhr nachts und wir sind gestern Abend in L.A. angekommen. Und alles war wirklich super eng. Ich weiß, ich sehe gerade mega-scheiße aus, aber das hat auch lange gedauert. Ich habe das extra alles so gemacht, wie gerade aufgewacht, oder so. Ich muss jetzt mal hier ein

QR-Code Video 5

bisschen Action rein bringen und deswegen werde ich den Julian jetzt mal versuchen zu pranken und zwar werde ich sagen, dass ich letzte Woche beim Frauenarzt war und schwanger bin.8

Nach weiteren Erklärungen ist im Video zu sehen, wie sich Bianca ins gemeinsame Schlafzimmer des Hotels schleicht, wo Julian schläft. Weil sie beim Bericht über die angebliche Schwangerschaft ins Lachen gerät, löst sich der geplante Streich rasch auf und wird von ihr mit folgender Verabschiedung beendet, die sie direkt in die Kamera spricht, während sich ihr Ehemann im Hintergrund in seine Bettdecke vergräbt: So, Leute, das war’s auch schon mit dem Video. Ich hoffe, es hat Euch gefallen, und auch wenn es direkt aufgeflogen ist, trotzdem Daumen nach oben, wenn Ihr Bock habt, dass ich den Julian irgendwann noch einmal pranke. Eigentlich sind diese kleinen Pranks die allergeilsten, einfach womit der andere überhaupt nicht rechnet. Ich verabschiede mich, wir werden jetzt erstmal langsam wach oder schlafen noch eine Runde weiter. […] Ich verlinke Euch auf jeden Fall am Ende auf Julians Seite nochmal den Prank, wo Julian mich das letzte Mal geprankt hat mit so ganz vielen kleinen mega-asozialen Sachen und hier auf der Seite, wo ich den Julian mal geprankt habe. Da bin ich ihm ordentlich auf den Sack gegangen und er ist irgendwann so ausgerastet, deswegen schaut da auf jeden Fall auch vorbei, wenn Ihr es noch nicht gesehen habt und sonst hoffentlich bis zu meinem nächsten Video. […] Okay Leute, bis zum nächsten Mal. Ich hab’ Euch lieb und sag’ Tschüß.9

In dem Moment, in dem sie auf das Video ihres Ehemannes hinweist, wird das Vorschaubild des entsprechenden Clips an der unteren rechten Bildkante einge-

8 | Transkript des Videos: BibisBeautyPalace: Ich bin schwanger :O PRANK. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/mjYjnjC2d7M [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 9 | Ebd.

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blendet. Der Hinweis auf ihr eigenes früheres Video führt dazu, dass unten links dessen zugehöriges Vorschaubild erscheint. Beide (operativen) Bilder sind Verlinkungen, deren Klick direkt zu den entsprechenden Videos führt.

Abbildung 13: Bianca Claßen verweist am Ende ihres Videos auf zwei weitere mit ihr und ihrem Ehemann.10 Folgt man dem Verweis des rechten Vorschaubilds, gelangt man zu einem Video, welches auf Julian Claßens Kanal gelistet ist. Darin spricht er ebenfalls einleitende Worte in die Kamera: Wunderschönen guten Tag und herzlich Willkommen zu meinem neuen Video und zwar heute ist es wieder so weit. Ich habe die letzten Monate wieder reichlich Videoclips gesammelt, in denen ich der lieben Bianca ein bisschen auf die Nerven gegangen bin. Ob ich sie geprankt habe, ihr einen Streich gespielt habe, ist ja auch egal. Auf jeden Fall bin ich ihr ordentlich auf die Nerven gegangen, denn Ihr habt dafür abge-

QR-Code Video 6

stimmt, weit über 400.000 Daumen-Hochs hat es auf’s letzte Video gegeben. [An dieser Stelle wird das Vorschaubild des genannten Videos eingeblendet, das als Link angeklickt werden kann] Also, gebt mir auf jeden Fall wieder einen Daumen nach oben für dieses Video hier, falls Ihr Bock habt, dass ich diese Reihe einfach fortführe.

10 | Screenshot aus dem Video [angefertigt über YouTube.com (Browser) am 28. April 2019].

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Und, ich hab‘ noch eine Idee. Habt Ihr mal Bock, dass ich versuche, an einem Tag so viele Pranks – Streiche – der Bianca zu spielen, wie es nur geht? Also wirklich den Tag komplett auszuschöpfen, dann gebt dem Video auch mal einen Daumen nach oben.11

An seinen Monolog schließt sich über eine Länge von rund sechs Minuten eine Aneinanderreihung von Szenen an, in denen Julian Claßen seine Ehefrau immer wieder erschreckt. Diese Bilder-Parade beendet er schließlich mit einer Ansage, die er direkt in die Kamera spricht, während Bianca neben ihm steht: Gebt dem Video gern einen Daumen nach oben. [Zu Bianca] Zeig’ mal einen Daumen nach oben. [Nun Bianca] Ja, Daumen nach oben, wenn Ihr wollt, dass ich so etwas auch mal mache. [Wieder Julian] Daumen nach oben, wie gesagt. Und, dann wünsche ich Euch… ach so… und jetzt verlinken wir auf jeden Fall noch einmal den alten Prank, ja, den alten Prank, der ist nämlich auch richtig, richtig durch die Decke gegangen. […] Also, auf jeden Fall, den verlinke ich Euch auch, den alten Teil, der bombt nämlich alles weg und hier auf der anderen Seite hat die Bibi heute auch ein neues Video hochgeladen, das schneidet sie da gerade. Kommt geht doch mal vorbei und lasst Ihr einen Daumen-hoch da. Die mag das. […] Bis zum nächsten Mal, Tschüß.12

Erneut erscheinen zwei operative Bilder, die zu den sprachlich angepriesenen Clips führen. Erneut stammt eines von Julian Claßens Kanal und eines vom Kanal seiner Ehefrau. Das rechte Bild führt nun zu einem Video, in dem Bianca Claßen „abziehbares Make-Up“ herstellt und an sich selbst testet. Am Ende zeigt sie sich im Rahmen ihrer Verabschiedung mit dem Ergebnis ihres Selbstversuchs unzufrieden: Ich habe es geschafft, die Farbe wieder aus meinen Augenbrauen zu entfernen. Leider ist so gut wie gar keine Farbe – bis auf einzelne Punkte zwischen den Härchen – an der Haut kleben geblieben. Das heißt, das hat leider auch nicht wirklich funktioniert und wir sind immer noch auf dem gleichen Ergebnis. Das macht mir immer wieder Spaß, solche Sachen auszuprobieren und wir haben ja auch wirklich schon sehr gei-

QR-Code Video 7

11 | Transskript des Videos: Julienco: Ich PRANKE Bibi :O !!. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/XP3Ti8b3oIE [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 12 | Ebd.

Narrative & Verkettungen | 135

le Sachen ausprobiert und das verlinke ich Euch nämlich jetzt auch. Ich habe nämlich hier einmal Schmink-Schleim hergestellt und der hat wirklich funktioniert. Das war sau-geil. Und auf der Seite verlinke ich Euch natürlich Julians neues Video. Er hat mich über Wochen lang immer wieder mit so kleinen Pranks geärgert, hat das Ganze zu einen Prank-Video zusammengeschnitten. Also schaut da auf jeden Fall auch vorbei, ich muss zugeben, es ist wirklich lustig geworden. Und wenn Ihr wollt, dass ich mich an ihm räche und auch mal so kleine Pranks mit ihm mache und das Ganze zu so einem Video zusammenschneide, dann zeigt mir das auch unbedingt mit einem Daumen nach oben. Ich habe ultra Bock und bin sehr gespannt, was Ihr dazu sagt. Das war’s jetzt wirklich mit dem Video. Ich hoffe, es hat Euch gefallen. Es war mal wieder etwas anderes. Dann wünsche ich Euch noch eine wunderschöne Zeit und bis dann. Ich hab’ Euch lieb. Tschüß.13

Das angewandte Muster dürfte sich an dieser Stelle bereits erahnen lassen, denn ein weiteres Mal werden am Ende des Videos die Links zu anderen Clips durch die Einblendung ihrer Vorschaubilder auf der Videooberfläche eingebettet. Entsprechend verweist Bianca Claßen im Video über den „Schmink-Schleim“14 sprachlich auf ein anderes Video von Julian, in dem dieser „bunten, essbaren Schleim“15 herstellt. Ergänzt werden die operativen Bilder auf den Videooberflächen in der Regel durch das zusätzliche Eintragen der Links in den jeweiligen Videobeschreibungen.

13 | Transskript des Videos: BibisBeautyPalace: Der TEST : Abziehbares Make-Up. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/tfgSA-okP8A [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 14 | Gemeint ist das Video: BibisBeautyPalace: .. mit selbstgemachtem SCHLEIM SCHMINKEN ?! In. YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/xsqcQrhDpPI [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 15 | Gemeint ist das Video: Julienco: Bunter ESSBARER – SCHLEIM. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/BYJisUjtWPk [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Abbildung 14: Am Ende jedes Videos erfolgen Hinweise auf andere Videos.16

16 | Screenshots aus folgenden Videos: [alle angefertigt über Browser am 28. April 2019]. Oben: Ich PRANKE Bibi :O !! ... Julienco; Mitte: Der TEST : Abziehbares Make-Up .. MEGA FAIL ! | BibisBeautyPalace; Unten li: .. mit selbstgemachtem SCHLEIM SCHMINKEN ?! ‫ א‬BibisBeautyPalace; Unten re: Bunter ESSBARER – SCHLEIM – einfach selber machen ! :O // Julienco.

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Durch die ausdrückliche Empfehlung und Bewerbung mindestens eines weiteren Clips, entsteht eine schier endlose Kette, die immer wieder in sich selbst hinein verweist und jedes Video inhaltlich mit anderen verbindet. Die daraus resultierende Abfolge, die vor allem von einer semantischen Kopplung der Inhalte getragen wird, bildet eine Art Programmfluss aus, der einem Fernseh-Flow ähnelt. Allerdings verläuft diese mit einer entscheidenden Abwandlung: Während das System von unabgeschlossenen Serienhandlungen und Trailern im Fernsehprogramm stets in die Zukunft verweist und zum Anschauen der zeitlich oder inhaltlich nachfolgenden Segmente animieren soll, deuten Bianca und Julian Claßen ausschließlich auf ihre früheren Aktionen und damit stets auf bereits veröffentlichte „alte“ Videos. Wo Andrea Kiewel im ZDF FERNSEHGARTEN wiederholt auf noch folgende Aktionen, Auftritte und Sendungen deutet, werden in den Videos bei YouTube bereits vergangene Momente empfohlen. Anstelle eines Versprechens auf bevorstehende Höhepunkte knüpfen sie eine Kette, die zeitlich rückwärts verläuft und die Archiv- und Speicherfunktionen der Plattform ausnutzt. Wo die allgegenwärtigen Verweise auf Zukünftiges das flüchtige Fernsehprogramm zusammenhalten, wird bei YouTube diese Verbindung durch fortwährende Verweise auf eine immer noch weiter zurückliegende Vergangenheit erzeugt. Diesem Flow zu folgen, gleicht einer Zeitreise immer tiefer in die UploadHistorie der Plattform hinein. Die in ihren Ansagen wiederholt formulierten Aufforderungen an die Zuschauenden, ihre Videos mit einem „Daumen hoch“ zu bewerten und auf diese Weise zu signalisieren, dass ihnen der Inhalt gefallen hat, dient als Motivation zur Nutzung der im Interface implementierten Feedback- und Kommunikationsmöglichkeiten. Daraus, so die Behauptung, wolle man ableiten, ob ähnliche Inhalte künftig noch einmal anzubieten seien. Die algorithmische „Mehr-Vom-Gleichen“Logik erfährt durch derartige Abfragen ihre empirische Untermauerung auf kultureller Ebene. Wie schnell dieses System an seine Grenzen stößt, zeigt sich, wenn Julian Claßen im zitierten Video „Ich pranke Bibi“ seine Zuschauenden auffordert, einen Daumen nach oben zu geben, wenn ihnen das Video entweder gefallen hat oder wenn sie sich wünschen, dass die Reihe fortgesetzt werden soll oder wenn er seiner Ehefrau Streiche über die Dauer eines gesamten Tages spielen soll. Die Abstimmung für gleich drei Fragen über ein- und denselben Mechanismus, den jede*r Nutzende jeweils nur einmal pro Video aktivieren kann, führt zu nur schwer interpretierbaren Ergebnissen, die sich nicht eindeutig den drei Konstellationen zuordnen lassen. Die Reduktion der Kommunikation auf den simplen „Daumen-Hoch“-Mechanismus erinnert in seiner Binarität an die viel kritisierte Erfassung der Einschaltquoten für das Fernsehprogramm, bei der

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ebenfalls lediglich aus dem Zustand, ob ein Fernsehgerät ein- oder ausgeschaltet ist, ein Gefallen oder Missfallen und ebenso ein Wunsch nach Fortsetzung abgeleitet wird. Weil der tatsächliche Erkenntnisgewinn aus diesen Eingaben gering ausfallen dürfte und ein Aufruf zum Nutzen der freien Texteingabe im Kommentarbereich unterlassen wird, muss die Aufforderung eher als ein offensives Bemühen gewertet werden, die für den Algorithmus notwendige Datenarbeit ihrer Nutzenden beeinflussen zu wollen. Schließlich besteht Grund zur Annahme, dass derartige Interaktionen vom System mit einer Bevorzugung bei den Videovorschlägen honoriert werden. Es wäre der Versuch, auf der kulturellen Ebene des Interfaces die Computer-Ebene der Plattform zu überlisten und die regelmäßig nötige Fütterung für das Algorithmus-Monster zu gewährleisten. Nicht selten werden solche Aufforderungen zur Interaktion mit der Abstimmung über künftige Segmente verknüpft. So verfährt auch Julian Claßen, wenn er abfragt, ob er an seiner Ehefrau möglichst viele Streiche an einem Tag ausprobieren soll. Dadurch beinhaltet das Video neben den Verweisen auf vergangene Ereignisse ebenso eine Vorschau auf mögliche künftige Programme. Anders als die Fernsehtrailer aber stellen sie diese Zukunft noch zur Disposition und knüpfen sie an eine Bedingung. Sie werden daher eher als eine Variante – als eine Option – angekündigt und nicht wie in Trailern als feststehendes Versprechen auf zukünftige Highlights. Während also beim Fernsehen der programmatische Verlauf der Zukunft Gewissheit erhält und mit ihm die Stabilität des Flusses, bleibt die Zukunft im bei YouTube praktizierten System offen und unklar. Im Gegensatz zum Fernsehprogramm, das über keine eigene Vergangenheit verfügt, ist ihre Existenz bei YouTube das einzige, das gesichert scheint. Eine Rückkehr zum ursprünglichen Video, in dem Bianca Claßen ihrem späteren Ehemann eine Schwangerschaft vortäuscht, offenbart ein weiteres Verweisungsgeflecht, welches einen entscheidenden Beitrag für die Wirkungsmächtigkeit des Systems leistet. In diesem weist sie in einem Nebensatz darauf hin, dass sie und ihr Ehemann gerade in L.A. (Los Angeles) gelandet seien und eröffnet damit eine narrative Geschichte, die im Video selbst kaum von Belang ist. Diese aber liefert den Auftakt für eine Gruppe von Videos, in denen das Paar ihre Erlebnisse in den USA dokumentiert. Ihr dortiges luxeriöses Hotelzimmer veranlasst Julian Claßen direkt zu einem altbekannten Aufruf: „Gebt mir unbedingt mal einen Daumen-Hoch, dann mache ich eine Room-Tour.“17 Das entsprechende Video,

17 | Aus dem Video: Julienco: DIe GEILSTEN SPIELSACHEN aus AMERIKA. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/LsRDHvGVuZc [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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in dem er das Appartement vorstellt, wird drei Tage später auf seinem Kanal veröffentlicht.18 Ein anderer Beitrag, in dem Bianca Claßen und ihr Ehemann gemeinsam auf dem Bett sitzend die „abartigsten Spielzeuge aus Amerika“ testen, wird mit folgenden Sätzen abgeschlossen. So meine Lieben, das war’s auch schon mit dem ersten Teil des Spielzeugs, was wir getestet haben. [Nun Julian] Aber es geht weiter. [Wieder Bianca] Wir haben noch sehr geile andere Sachen und den Teil drehen wir jetzt. Ich verlinke Euch das Video hier auf Julians Seite und auch in der Infobox, falls Ihr mit dem Handy zum Beispiel online seid. […] Ich hoffe, das Video hat Euch gefallen, wenn ja, gebt uns unbedingt einen

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Daumen nach oben und wenn Ihr mich noch nicht abonniert habt, dürft Ihr das gerne hier einmal tun.19

Im angekündigten zweiten Teil wird der angefangene Test nahtlos und ohne optisch erkennbare Differenz fortgesetzt. Der Aufteilung lagen offenbar weniger inhaltliche oder produktionstechnische als vielmehr strategische Beweggründe zugrunde. Und so kann Julian Claßen sein Publikum mit den Worten begrüßen: Herzlich Willkommen zu meinem Video. Und zwar, vielleicht habt Ihr es schon gesehen, vielleicht aber auch nicht, die liebe Bianca von BibisBeautyPalace hat schon ein Video gerade gedreht, in dem wir echt – das hört sich so normal, so billig an, Spielzeug auspacken, aber das ist Spielzeug, das habt Ihr noch niemals gesehen, das wollt Ihr sofort haben.20

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18 | Im Video: Julienco: LAS VEGAS .. Die krasseste Room – Tour. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/G9kEc3_PR2M [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 19 | Transskript des Videos: BibisBeautyPalace: Wir TESTEN die abartigsten SPIELZEUGE aus AMERIKA. In: YouTube.com (Video). Unter: https:// youtu.be/CF46lJKjjK0 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 20 | Transkript des Videos: Julienco: DIe GEILSTEN SPIELSACHEN aus AMERIKA. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/LsRDHvGVuZc [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Abbildung 15: Der Spielzeug-Test wird auf zwei Videos aufgeteilt.21 Zwar bauen sie aufeinander auf und bilden eine gemeinsame Narration aus, können aber aufgrund einer eigenen Anmoderation und Erläuterung ebenso einzeln und losgelöst voneinander existieren. So können beide Videos für die Zuschauenden als Startpunkt dafür dienen, von den gesponnenen Verweisketten mitgerissen zu werden. Dies muss nicht ausschließlich durch eine Verknüpfung von Videos erfolgen, die unmittelbar nacheinander entstanden sind. Ein solcher Verbund lässt sich ebenso durch eine inhaltliche Ähnlichkeit seiner Elemente aufbauen, wenn beispielsweise in Videos mit gegenseitigen Streichen auf weitere Streiche verwiesen und hierdurch ein eigenes Narrativ mit dem Themenschwerpunkt Pranks aus dem Archiv konstruiert wird. Parallel dazu schreibt sich die Geschichte von Bianca und Julian mit jedem neu veröffentlichten Video fort, in denen sie sich nicht nur gegenseitig Streiche spielen oder Produkte testen, sondern auch ihre Beziehung und ihr gemeinsames Zusammenleben zum Inhalt machen. Auf ihren Kanälen zeigen sie, wie sie zusammen Weihnachten feiern22, ihre neue Wohnung beziehen23, die Wandlung ihrer Beziehung wahrnehmen oder sich auf die Geburt ihres gemeinsamen Babys vorbereiten.24 Sie veröffentlichen gegenseitige Vertrauenstests25, offenbaren, was sie

21 | Screenshots aus den Videos (links: vom Kanal: BibisBeautyPalace; rechts: vom Kanal: Julienco) [angefertigt über YouTube.com (Browser) am 27. Juli 2018]. 22 | In: BibisBeautyPalace: Unser WEIHNACHTEN bei 40 °C in Rio de Janeiro ყ჌| BibisBeautyPalace. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/2KVmISq-KE [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 23 | In: BibisBeautyPalace: HIER WOHNEN WIR ... Unsere neue Wohnung ‫ א‬Room Tour | BibisBeautyPalace.In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/xrmetWQMEI [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 24 | In: BibisBeautyPalace: Schwangerschafts-Update - Übungswehen .. ღ ‫ א‬27. SSW | Bibi. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/_3RJ5U_mfqc [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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am jeweils anderen stört26 und ob sie vom Heiratsantrag des anderen enttäuscht sind.27 Wer ihre Videos regelmäßig verfolgt, erhält ein regelmäßiges Update über deren Zusammenleben und damit regelmäßig neue Kapitel aus ihrer gemeinsamen Geschichte. Was die beiden über ihre Kanäle entfalten, gleicht einer Soap Opera, die sich im Radio- oder Fernsehprogramm ständig fortschreibt, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Sie handeln wie Soap Operas vom „puren Alltag“ und von „Übergängen und Abgründen des Gewohnten“.28 Die Videos mit Bianca und Julian Claßen lassen sich kaum treffender beschreiben als mit den Worten, die Tania Modelski für die Figuren von Soap Operas findet: Die Charaktere sind gerade so attraktiv, dass ihr Aussehen nicht vom Geschehen ablenkt, und gerade so begütert, dass sie […] sich über interessantere Probleme den Kopf zerbrechen können, als über Preiserhöhungen im Supermarkt.29

Die Inszenierung und Darstellung ihres gemeinsamen Zusammenlebens ist eine Erzählung, die auf Unendlichkeit angelegt ist und deren Interesse am Fortgang eine weitere Motivation zum Anschauen ihrer Videos bilden kann. Dieser Seifenopern-Effekt ist indessen nicht nur bei Bianca und Julian zu erkennen, auch andere Persönlichkeiten bei YouTube verhandeln in ihren Videos ihr Privatleben und persönliche Entwicklungen, sodass sie eine vergleichbare Wirkung erzielen können.

25 | In: BibisBeautyPalace: TREUE PRANK an Julian ( mit anderem Mädchen ) geht schief .. ყ | BibisBeautyPalace. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ 2XTSHKRI7kc; und In: BibisBeautyPalace: BETRÜGT JULIAN MICH ?! :O ... PRANK | BibisBeautyPalace. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ qf8LIMCpJ6A [beide aufgerufen am 27. Januar 2020]. 26 | In: BibisBeautyPalace: DAS stört mich EHRLICH an Julian in unserer Beziehung | BibisBeautyPalace. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/jXTr_Zuqgy8; und In: Julienco: 5 DINGE die mich EHRLICH an Bibi stören (in unserer Beziehung) | Julienco. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/G64Jdt38wIk [beide aufgerufen am 27. Januar 2020]. 27 | In: BibisBeautyPalace: Ungeschnitten & Ehrlich: Enttäuscht von Heiratsantrag ? გ෮ | Bibi. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/BXsOCBdB11w [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 28 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 157. 29 | Modelski: Die Rhythmen der Rezeption. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 377.

142 | FLOW

Während also die sprachlichen und verknüpften Verweisstrukturen innerhalb der Videos stets rückwärtsorientiert arbeiten, zielt der Content der Kanäle nach dem Prinzip der Unendlichkeit eher auf zukünftige Fortsetzungen ab. Ihre inhaltliche Ausgestaltung soll eine regelmäßige Wiederkehr des Publikums gewährleisten, damit diese bei einer Rückkehr durch die bisher dargestellten Flow-Techniken (Autoplay, Videovorschläge und Verweise auf andere Videos) möglichst lange auf der Plattform gehalten werden. Technische und narrative Strategien greifen somit effektiv ineinander und entfalten erst durch die Kombination der scheinbar gegenläufigen Funktionen ihre ganze Wirkmächtigkeit. Hier zeigt sich außerdem, dass die Möglichkeit, den Flow immer wieder neu in Gang setzen zu können, eng mit einer verlässlichen Wiederkehr von Formen und damit mit ihrer Serialität zusammenhängt. Das aber ist ein Aspekt, den es im nächsten Kapitel zu ergründen gilt.

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4. Serialität

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Wiederholung & Konstanz

FALLBEISPIEL: MONSTER OFT THE WEEK Als im Jahr 1955 der amerikanische Lokalsender WOR TV 9, der im Raum New York City zu empfangen ist, den Zugriff auf die Filmbibliothek des traditionsreichen Filmstudios RKO Pictures erhielt1, begann dieser, erfolgreiche (Kino-) Filme aus den 1930er und 1940er Jahren unter dem Titel THE MILLION DOLLAR MOVIE erstmals im Fernsehprogramm auszustrahlen. Darunter waren zunächst Titel wie MAGIC TOWN2 mit James Stewart, BODY AND SOUL3 mit John Garfield und A DOUBLE LIFE4 mit Ronald Coleman. Bei der Programmierung dieser heutigen Klassiker, die aber bereits damals als Höhepunkte der HollywoodGeschichte angesehen wurden, versprach der Sender wahres „Kino im Wohnzimmer“ und orientierte sich deshalb an den Spielplänen von damaligen Lichtspielhäusern. Dementsprechend wurde derselbe Film innerhalb einer Woche an

1 | Möglich war dies, weil der Kanal im Jahr 1952 vom Reifenhersteller General Tire and Rubber Company übernommen wurde, der noch weitere Stationen in den USA erworben hatte, um dort seine Werbung ausstrahlen zu können. Mit dem Ziel, günstig an Material für das Programm seiner Sender zu gelangen, kaufte General Tire im Jahr 1955 zusätzlich das unter der Führung von Howard Hughes in finanzielle Probleme geratene Filmstudio RKO Radio Pictures und mit ihm den größten Anteil dessen Filmbibliothek. Diese stand nun den hauseigenen Kanälen zur Verfügung (vgl. Finler: The Hollywood Story, S. 212 - 232. Und: Gomery: Television, Hollywood and the Development of Movies Made-For-Television. In: Kaplan (Hrsg.): Regarding Television, S. 122f). 2 | Magic Town (Fremde Stadt), USA 1947, William A. Wellman. 3 | Body and Soul (Jagd nach Millionen), USA 1947, Robert Rossen. 4 | A Double Life (Ein Doppelleben), USA 1947, George Cukor.

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jedem Tag und dazu zwei Mal pro Abend gezeigt. Hinzu kamen noch MatineeVorführungen am Nachmittag des Wochenendes, sodass jeder Titel innerhalb einer Woche bis zu 16 Mal im Programmablauf erschien. 5 Unter den gezeigten Filmen befanden sich später auch Werke wie CITIZEN KANE6, GUNGA DIN7 und einige Fred-Astaire-und-Ginger-Rogers-Filme. Doch kein Titel sollte einen vergleichbaren kulturellen Einfluss erhalten wie die Fernsehpremiere von KING KONG8 im März 1956, bei der eine Sehbeteiligung von über neun Millionen Menschen ermittelt wurde. Dies entsprach knapp 80 Prozent der in der Region über ein Fernsehgerät verfügenden Haushalte und stellte zugleich das größte Publikum dar, das ein Fernsehprogramm (bis dahin) jemals im Raum New York erreichen konnte.9 Dieser überraschend große Zuspruch für einen über 20 Jahre alten Schwarz-Weiß-Film führte zunächst dazu, dass er für eine erneute Kinoauswertung noch einmal veröffentlicht wurde und damit auf die Leinwände zurückkehren konnte. Parallel dazu hatte die Firma Screen Gems10 eine Sammlung von über 550 alten Filmen der Universal-Studios mit der Absicht erworben, diese an TVStationen im gesamten Land zu lizensieren. Die Lokalsender aber zeigten sich wenig interessiert an den Rechten einzelner Filme, sondern bevorzugten umfangreiche Pakete, um mit ihnen ihren enormen Bedarf an sendbarem Material decken zu können. Daher beschloss Screen Gems, die Universal-Rechte bündelweise zu veräußern und schnürte – inspiriert vom enormen Zuspruch der TVPremiere von KING KONG – zunächst ein Paket aus 52 Horror-, Grusel- und Monsterfilmen, das sie den Kanälen zum Kauf anbot. In diesem Bündel, das den werbewirksamen Titel SHOCK THEATRE erhielt, waren Filme wie DRACULA11 mit Bela Lugosi, FRANKENSTEIN12 mit Boris Karloff und THE MUMMY13 erneut mit

5 | Entnommen einem Artikel aus dem „Long Island Star-Journal“ vom 05. März 1956. 6 | Citizen Kane, USA 1941, Orson Welles. 7 | Gunga Din (Aufstand in Sidi Hakim), USA 1939, George Stevens. 8 | King Kong (King Kong und die weiße Frau), USA, 1933, Merian C. Cooper / Ernest B. Schoedsack. 9 | Erb: Tracking King Kong, S. 126. 10 | Zu dieser Zeit war die Tochtergesellschaft der Columbia Studios eigentlich für die TV-Vermarktung des Columbia-Archivs verantwortlich. Sie hatte aber auch ein umfangreiches Archiv von rund 550 Filmen von den Universal-Studios erworben (vgl. Cotter: Vampira and Her Daughters, 113f). 11 | Dracula, USA 1931, Tod Browning. 12 | Frankenstein, USA 1931, James Whale. 13 | The Mummy (Die Mumie), USA 1932, Karl Freund.

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Boris Karloff enthalten14, die aus derselben Zeit wie KING KONG stammten und bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ausschließlich auf Kinoleinwänden zu sehen gewesen waren. Zum Erwerb sprach man außerdem die Empfehlung aus, die Filme von einer markanten, wiederkehrenden Gestalt – einem sogenannten „Horror Host“ – ankündigen zu lassen15, um einerseits die beängstigende Wirkung abschwächen zu können, aber auch um den Einzelwerken einen gemeinsamen Wiedererkennungswert beizufügen. Dieses Vorgehen griff das Prinzip der sogenannten „Spook Shows“ auf, in denen ab den 1930er Jahren in ausgewählten Kinos gruselige Filme um blutige Live-Performances ergänzt wurden. Im Fernsehen wurde diese Idee erstmals von einem kalifornischen Kabelsender im Jahr 1954 übernommen, als dieser in einer nächtlichen Sendung die exotische Vampirfrau „Vampira“ als Ansagerin einsetzte. Sie fungierte nun als Vorlage und Prototyp für die Ausstrahlungsempfehlung, die Screen Gems den Käufern ihres SHOCK THEATRES mitgab. Diese Absatz-Strategie zeigte Erfolg, denn insgesamt erstanden mehr als 90 über die ganzen USA verteilte TV-Stationen das Shock-Paket, von denen die meisten auch die empfohlenen GruselAnsager*innen einführten. Diese simple Idee stellte sich als derart effektiv heraus, dass sie sich bald vom ursprünglichen SHOCK THEATRE löste und auch unabhängig von den Universal-Klassikern bis in die Gegenwart immer neue Varianten hervorbrachte. Die Autorin Elena Watson stellt in ihrem Buch „Television Horror Movie Hosts“ 68 verschiedene Versionen jener „Horror Hosts“ vor, schätzt aber deren vollständigen Umfang über die Jahre hinweg allein in den USA auf über 200 Exemplare, die längst ein eigenes Genre ausbilden. Zu ihnen gehören zwielichtige Monster und Geschöpfe wie Dr. E. Nicky Witty, Dr. Creep, Dr. Shock, Halloween Jack, Baron von Wolfstein, Mr. Lobo, Baron Daemon, Professor Anton Griffin oder Count Gore De Vol, die in ihre geheimen Labore, dunklen Keller oder zerfallenen Villen einladen, um dort Gruselfilme zu zeigen. Alle Varianten folgen dabei einem ähnlichen Ablauf, der meist mit einer Begrüßung des Publikums vor dem eigentlichen Hauptfilm beginnt und sich über weitere Ansagen vor oder nach den Werbeunterbrechungen innerhalb des Films fortsetzt, bevor die Sendung mit einer finalen Verabschiedung beendet wird. Je nach Ausrichtung wird in den Ansagen mal mehr und mal weniger über den Film des Abends gesprochen. Mal wird dieser nur erwähnt, mal werden zusätzliche Informationen zu den Beteiligten oder zur Entstehungsgeschichte geliefert. Im Laufe der Zeit wichen die Ausstrahlungen von filmischen Meilensteinen in den meisten Fällen billigen B-Movies minderer Qualität, die meist eher unfreiwillig

14 | Watson: Television Horror Movie Hosts, S. 18. 15 | Ebd., S. 4.

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komisch als gruselig waren. Entsprechend wandelte sich auch die Mehrzahl der Ansagen von atmosphärischen Darbietungen zu albernen Sketchen, die höchstens in einem losen Zusammenhang mit dem Film standen, sich aber oft über mehrere Ansagen fortsetzten.16 Im Jahr 1992 übernahm auch das deutsche Fernsehprogramm jenes Konzept und führte in HILDE’S WILDE HORRORSHOW17 für kurze Zeit einen weiblichen „Horror Host“ ein, die sichtlich an die Rolle des Dr. Frank Furter aus der ROCKY HORROR PICTURE SHOW18 angelegt war und mit schalen Kalauern auf die bevorstehenden Filme einstimmte. Im Rahmen dieser Sendung liefen mit FRANKENSTEIN, SON OF FRANKENSTEIN19 und DRACULA ebenso Titel aus dem SHOCK THEATRE von Universal, aber auch spätere Werke wie PROM NIGHT20, PHANTASM21, LA NOCHE DEL TERROR CIEGO22 sowie der erste Teil von A NIGHTMARE ON ELM STREET23. Sehr ähnlich verhält es sich mit der Reihe SCHLEFAZ: DIE SCHLECHTESTEN FILME ALLER ZEITEN24, in der die Satiriker Oliver Kalkofe und Peter Rütten ab dem Jahr 2013 im wöchentlichen Abstand Spielfilme (nicht zwingend Horrorfilme) zeigen, denen sie eine minderwertige Qualität zusprechen und daraus deren Unterhaltungswert ableiten. Auch sie umschließen einen Film mit begleitenden Ansagen.

FERNSEHEN DER WIEDERKEHR Eine dezentere, aber dennoch vergleichbare Vorgehensweise lässt sich im deutschen Fernsehprogramm bei nahezu jeder Programmierung von Spielfilmen finden, denn stets werden diese auf festen Sendeplätzen unter einer gleichbleibenden Marke zusammengefasst. Dies gilt für DER PHANTASTISCHE

16 | Eine große Anzahl an Ausschnitten und Interviews mit Beteiligten enthält der Dokumentarfilm: American Scary, USA 2006, John E. Hudgens / Sandy Clark. 17 | Hilde’s Wilde Horrorshow, D 1992. 18 | The Rocky Horror Picture Show, USA 1975, Jim Sharman. 19 | Son of Frankenstein, USA 1939, Rowland V. Lee. 20 | Prom Night (Prom Night – Die Nacht des Schlächters), CAN 1980, Paul Lynch. 21 | Phantasm (Das Böse), USA 1979, Don Coscarelli. 22 | La Noche del terror ciego (Die Nacht der reitenden Leichen), ESP / POR 1971, Amando de Ossorio. 23 | A Nightmare on Elm Street (Nightmare – Mörderische Träume), USA 1984, Wes Craven. 24 | SchleFaZ: Die schlechtesten Filme aller Zeiten, D seit 2013.

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FILM im ZDF, für den SAT.1 FILM FILM, für den MEGA-BLOCKBUSTER von ProSieben oder für das sonntägliche EVENT KINO bei RTL, die allesamt jeweils durch einen eigenen Vorspann eingeleitet wurden oder werden. Ob nun cineastischer Meilenstein, Horrorklassiker oder Trash-Film – die genannten Beispiele haben gemein, dass sie durch konstant wiederkehrende Elemente miteinander verbunden und in einen Zusammenhang gebracht werden. Dies kann durch ein übergreifendes Label, einen einheitlichen Vorspann, einen gleichbleibenden Senderhythmus oder stetig erscheinende Figuren und damit auf narrativer, inszenatorischer oder programmplanerischer Ebene erreicht werden. Darin zeigt sich die allgemeine Tendenz der Fernsehhaftigkeit mit ihrem „grundsätzlich auf regelmäßige Wiederkehr angelegten Programm“, selbst ein „einzelnes, in sich abgeschlossenes Werk“ wie einen Spielfilm „zum Teil einer Reihe“ erheben zu wollen.25 Stets ist das Fernsehprogramm bemüht, wiederkehrende Muster, stabile Rahmen und vertraute Settings zu gestalten. Stets ist es bemüht, serielle Formen auszubilden. Dies beschränkt sich nicht auf Spielfilme und setzt sich in königlichen Hochzeiten, Sportübertragungen und Bundestagswahlen fort. Für all diese dem Wesen nach singulären Ereignisse wurden mit ZDF ROYAL26, mit der SPORTSCHAU27 und mit dem ZDF WAHLSTUDIO wiederkehrende Rahmen etabliert, die serielle Muster erkennen lassen. Eine serielle Erzählung konnte Knut Hickethier ebenso für Fernsehnachrichten28 aufzeigen. Selbst (scheinbar) unvorhersehbare Ereignisse und Katastrophen vermag das Fernsehprogramm durch regelmäßige Sondersendungen wie dem ARD BRENNPUNKT29 in einen seriellen Rahmen zu fassen. Dies setzt sich bis in die kleinsten Segmente, in die Gestaltung von einzelnen Berichten und den darin ausgewählten Bildern fort, in denen ebenso wiederkehrende Muster zu erkennen sind. Heiko Christians veranschaulicht dies am Beispiel von Amokläufen an Schulen, in deren Berichterstattung er einen immer gleichen Ablauf erkennt: Erst zeigt man die Schule aus großer Entfernung (aus der Luft) als Ort des Unfassbaren (gleichsam auf dem Mars gelegen), dann kommt man doch näher heran: Man

25 | Giesenfeld: Serialität als Erzählstrategie in der Literatur. In: Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten, S. 2. 26 | ZDF Royal, D seit 2012. 27 | Sportschau, D seit 1961. 28 | Hickethier: Fernsehnachrichten als Erzählung der Welt. In: Bentele / Haller (Hrsg.): Aktuelle Entstehung von Öffentlichkeit. 29 | ARD Brennpunkt, D seit 1971.

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sieht Absperrungsbänder der Polizei, geduckte Scharfschützen, mit Planen verhüllte Leichen auf dem Schulgrundstück, vorbeihastende Sanitäter, schließlich sich in den Armen liegende Schüler, Blumenaltäre und grobkörnige Schwarzweißphotos der Täter und einiger beherzt eingreifender Opfer, die jetzt für eine Woche Helden heißen müssen – bis neue Details ihre Rolle womöglich relativieren oder sogar umzukehren scheinen.30

Am augenscheinlichsten spiegelt sich der Drang des Fernsehens, serielle Formen zu erzeugen, natürlich in der (Fernseh-)Serie wider, die wie keine zweite Kategorie das Fernsehprogramm dominiert. Allein für das US-Fernsehen wurden im Jahr 2017 über 370 verschiedene Fernsehserien produziert 31, dazu kommen die unzähligen Wiederholungen alter Formate. Die Serialität des Fernsehens erschöpft sich nicht bloß in der offensichtlichen Kategorie der Fernsehserie. Vielmehr bildet sie das maßgebliche Ordnungsprinzip, mit dessen Hilfe nahezu jeder Inhalt – wie ein alter Schwarz-WeißHorrorfilm – in das Programm integriert werden kann. Das in der Seriaität auftretende Zusammenspiel von „Wiederholung und Wiederkehr“ – so hat es Stanley Cavell auf den Punkt gebracht – ist „eine Art Anspruch […], dessen Erfüllung das Fernsehen von all seinen Formaten fordert.“ 32 Das gilt für fiktionale Formate ebenso wie für „Fernsehnachrichten, Talkshows, Reality TV“ 33. Mit der Erfüllung dieses Anspruchs aber geht für Cavell einher, dass im Vergleich zum (Kino-)Film beim Fernsehen jener wiederkehrende Rahmen in den Fokus rückt und dabei die Wertschätzung abgeschlossener Einzelwerke verdrängt. Bei Fernsehserien wird der Rahmen interessanter als das Bild, das er umgibt:

30 | Christians: Amok, S. 26. 31 | Eine Studie des US-Kabelsenders ergab für das Jahr 2017 eine Gesamtsumme von 487 „scripted originals series“. Darunter befanden sich 117 Titel, die von OnDemand-Anbietern wie Netflix, Amazon Prime Video und Hulu stammten. Über die Studie wurde mehrfach berichtet, u.a. In: Otterson: 487 Scripted Series Aired in 2017. In: Variety (Online-Ausgabe). Unter: http://variety.com/2018/tv/news/2017-scriptedtv-series-fx-john-landgraf-1202653856/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 32 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 135. 33 | Schabacher: Serialisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 509.

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Nicht das einzelne Werk ist unvergesslich, kostbar oder wert, untersucht zu werden, sondern die Sendung, das Format; nicht dieser oder jener Tag von I LOVE Lucy, sondern die Sendung als solche.34

SERIELLE FORMEN JENSEITS VON FERNSEHEN Serielle Formatierungen sind allerdings kein Spezifikum von Fernsehhaftigkeit. Auch in anderen Bereichen der Kunst- und Kulturgeschichte lassen sie sich finden – sei es in Fortsetzungsromanen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Zeitungen (insbesondere in anfänglichen Wochen- und Monatszeitungen) aufkamen oder die Zeitung selbst, die einen wiederkehrenden Rahmen für wechselnde Ereignisse und Neuigkeiten bereithält.35 Claudia Stockinger verweist auf das traditionsreiche Familienblatt „Die Gartenlaube“, das ab 1853 regelmäßig erschien und „spezielle Formen und Verfahren des Seriellen“ ausgeprägt hätte, die zu dessen großer Verbreitung maßgeblich beitrugen. Hierzu zählt sie insbesondere den Einsatz fortlaufender Heft-Nummerierungen, fester Rubriken, wiederkehrender Reihen, heftübergreifender Fortsetzungsgeschichten und gezielter HandlungsUnterbrechungen. In ihnen sei bereits eine serielle Ordnung erkennbar, die später als populäre Serialität bezeichnet wird.36 Auch abseits spezifischer Medienprodukte erfährt Serialität einen gewichtigen Stellenwert. Etwa sei für die Autor*innen Regina Bendix, Christine Hämmerling, Kaspar Maase und Mirjam Nast die kindliche Sozialisierung durch Wiederholungen geprägt: Vielleicht ist es ein Lied, das allabendlich den Übergang in den Schlaf versüßt und dem mit der Zeit weitere Strophen beigefügt werden; vielleicht ist es ein Buch, mit dem das portionierte Entfalten von Geschichten, Kapitel um Kapitel, Abend um Abend eingepflanzt wird.37

34 | Cavell: D. Tatsache d. Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte Fernsehwissenschaft, S. 129 & 131. 35 | Berns: Frühformen des Seriellen in Theaterpraxis und Erzählliteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 18f. 36 | Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 12. 37 | Bendix et. al.: Lesen, Sehen, Hängenbleiben. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 295.

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Werner Faulstich schätzt Serialität ergänzend als bedeutungsgenerierendes Formmerkmal für die Dichtung und Poesie ein, denn der Seriencharakter sei „wesenhaft auch im Strophigen […], im Reim, im Versmaß, im Rhythmus, in ihren Bildern, rhetorischen Figuren, Verweisketten.“38 Fundamentaler geht Jörg Jochen Berns vor, wenn er die Buchstabenschrift an sich als ein „seriellkombinatorisches System“ beschreibt, bei dem „ein fixes Quantum von Einzelzeichen zu Zeichenkombinationen anderer semantischer Komplexität (nämlich Silben, Wörtern, Sätzen) zusammengefügt wird“ 39. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern habe „die Serialität von Einzelzeichen, Zeichenkombinationen und ganzen Texten“ zusätzlich erheblich verstärkt. Geradezu endlos ließe sich diese Aufzählung mit unzähligen anderen Beispielen aus allen Bereichen der Kultur- und Kunstgeschichte erweitern, in denen Ordnungen mit wiederkehrendem Aufbau zu entdecken sind.

DIE SERIELLE NATUR VON YOUTUBE Serielle Strukturen lassen sich ebenso im Angebot von YouTube erkennen und haben längst eine derart zentrale Bedeutung erlangt, dass sie von den Nutzenden geradezu eingefordert wird. Dies zumindest brachte Florian Diedrich, dessen Kanal „LeFloid“ mit über drei Millionen Abonnenten40 zu den beliebtesten deutschsprachigen Angeboten des Portfolios gehört, in einem Interview zum Ausdruck: Mittlerweile muss man nur noch ein Video hochbringen, ein Stream auf Twitch machen oder irgendwas. Die Leute fragen sofort, wann wird immer getwicht oder wann wird immer gestreamt oder wann kommt ein Video, welcher Tag, welche Uhrzeit? 41

38 | Faulstich: Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 49. 39 | Berns: Frühformen des Seriellen in Theaterpraxis und Erzählliteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 17. 40 | Stand: Januar 2020 41 | Interview in der Fernsehsendung: JOIZone: D 2014, JOIZ: Ausgabe vom 23. Mai 2014. Ausschnitte sind verfügbar als Video: joiz Germany: LeFloid und Rob Bubble: In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/aaq4BwtryYo [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Der Ursprung für die in diesen Worten zum Ausdruck gebrachten Erwartungen reicht bis an die Anfänge der Plattform zurück, wie sich unter anderem aus Judith Ackermanns Ausführungen herauslesen lässt. Darin rekonstruiert sie die Geschichte der Let’s Play-Videos – also die Geschichte von „Videomitschnitte[n] von Computerspielsitzungen, die mit einem Voice-over-Kommentar der spielenden Person unterlegt sind“42 – die ebenso eng wie VLogs mit der Plattform verbunden sind. Demnach ließen sich bereits ab April 2006 einzelne Kanäle finden, auf denen alte Computerspiele in mehrteiligen Videosammlungen durchlaufen wurden.43 Als eine Art Initialzündung beschreibt sie dann die ab März 2007 vorgenommene Aktivität auf dem Kanal „Deceased Crab“, auf dem über einen Zeitraum von zwei Monaten mitunter mehrfach täglich insgesamt 90 Teil-Videos zum Spiel „La Mulana“ hochgeladen wurden.44 In diesem Zyklus, der – wie Ackermann schreibt – noch immer als Inbegriff und Grundstein des Let’s Play-Genres gilt, zeigt sich, wie sehr Mehrteiligkeit in einer regelmäßigen Taktung einen wesentlichen Bestandteil des Formats und damit für das gesamte Phänomen bildet. Dieses früh gelegte Prinzip, zu deren Etablierung solche mehrteiligen kommentierten Videospiele einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, pflanzte sich schnell über das gesamte Angebot hinweg immer weiter fort und prägt längst sämtliche Bereiche der Plattform. Während das frühe YouTube als fröhliche Sammlung disparater audiovisueller Materialien […] fungierte, das in der bibliophilen Logik des Stöberns seine bevorzugte Nutzungsweise fand, so etabliert sich die Plattform u. a. dank Let’s Play-Videos als stärker kanalbasierter Ort für das ‚Abonnement‘ professionalisierter Inhalte, die notwendigerweise serienförmig strukturiert sind.45

Dass die Plattform YouTube nicht (mehr) als ein Ort für einzelne Inhalte angesehen wird, impliziert schon das Interface, das um Kanäle organisiert ist und Uploads nur innerhalb von Kanälen zulässt. Die Verwendung eines Kanals suggeriert aber, dass dort ein Fluss, ein stetiger Strom hindurchfließt. Ein Kanal wird in der Regel nicht nur für einen singulären Gegenstand angelegt, sondern wenn

42 | Venus: Stilisierte Rezeption. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 19. 43 | Ackermann: Einleitung. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 6ff. 44 | Ebd., S. 8f. 45 | Maeder: Kohärenz, Permutation, Redundanz. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 75.

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erwartet wird, dass mehrere Objekte durch ihn befördert werden sollen.46 Vielmehr wird auf diese Weise zu jedem Video eine Fortführung, eine weitere Variante, ein weiterer Vorgänger oder Nachfolger erwartet. YouTube ist daher weniger ein Ort für Videos als mehr für Videoreihen. Es ist ein Ort, an dem Serialität die entscheidende Komponente bildet, die das umfangreiche Material miteinander verbindet und das äußerst heterogene Angebot zusammenhält.

DIE BEDEUTUNG DER SERIE FÜR NETFLIX In der Positionierung des Unternehmens Netflix nimmt Serialität ebenso einen zentralen Stellenwert ein – hier vorranging in Form der expliziten (Fernseh-) Serie. So ist am Ende jeder Pressemitteilung des Hauses ein wiederkehrender Passus zu lesen, der darauf hinweist, das die 104 Millionen Mitglieder in mehr als 190 Ländern, „täglich über 125 Millionen Stunden Filme und TV-Serien – darunter auch Originalserien, -dokumentationen und -spielfilme“ genießen würden. Weiter heißt es „Mitglieder können Filme und Serien jederzeit, überall und mit fast jedem beliebigen internetfähigen Endgerät unbegrenzt streamen […].“47 Bemerkenswert ist ein weiteres Mal, dass das Unternehmen in seinem Pressetext ausdrücklich den Begriff „TV-Serien“ nutzt und darunter auch seine selbstproduzierten Originalserien fasst. Zumindest in der marktstrategischen Ausrichtung des Unternehmens bildet neben Spielfilmen der Abruf von Serien das Herzstück des Angebots von Netflix. Entsprechend war beim Besuch der Internetpräsenz lang und groß der Hinweis „Serien und Filme jederzeit und überall ansehen“ zu lesen, der zugleich als Begrüßung, Einladung und Ankündigung für bestehende Kunden oder neue Interessierte fungierte. Als auffällig zeigt sich die Reihung der beworbenen Inhalte, die Serien an den Anfang des Satzes stellt und diesen allein auf der sprachlichen Ebene gegenüber „Filmen“ einen Vorrang zuspricht. Dies spiegelt sich ebenso in der Nutzungsweise und den ausgewählten Titeln wider, denn obwohl in der Datenbank Tausende Spielfilme (eigenproduzierte und von Drittfirmen) zur Verfügung ste-

46 | Vgl. Schmidt: Kanalisierien. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. In seinem Beitrag leitet Martin Schmidt her, dass sich mit der Nutzung von Kanälen oft ein Wunsch nach Ordnung und Struktur verbindet. 47 | U.a. In: Netflix Press-Release: Ready, Set, Binge: Unter: https://media.netflix.com/ en/press-releases/ready-set-binge-more-than-8-million-viewers-binge-race-theirfavorite-series [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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hen und das Unternehmen allein im Jahr 2018 über 80 eigenproduzierte Spielfilme veröffentlichte, sind es fernsehartige, serielle Produktionen, die hauptsächlich genutzt werden. Das Unternehmen schätzt, dass Kund*innen etwa 70 Prozent ihrer Verweildauer auf dem Dienst mit (seriellen) Fernsehinhalten und nur 30 Prozent mit Spielfilmen verbringen würden.48

BINGE WATCHING Welche zentrale Bedeutung Serialität für das Unternehmen Netflix einnimmt, wird zudem darin erkennbar, dass man sich dort mit der Umsetzung von HOUSE OF CARDS als erstes Großprojekt ausgerechnet für ein mehrteiliges Format entschieden hat und zugleich ein verändertes Vertriebsmodell für Serien ins Zentrum der Vermarktung rückte – nämlich die Veröffentlichung vollständiger Staffeln im Block anstelle der bis dahin üblichen wöchentlichen Dosierung einzelner Folgen. Ein solches Vorgehen fordert geradezu heraus, sich nicht nur eine einzelne, sondern gleich mehrere Episoden unmittelbar nacheinander anzusehen („viewing of multiple episodes of a show at one sitting“). 49 Ein Verhalten, das gemeinhin mit dem Begriff „Binge-Watching“ umschrieben wird und das seitdem fest mit dem Gebrauch von Netflix verwachsen ist. Gänzlich neu ist dieses Phänomen nicht, denn Marathon-Wochenenden oder „Lange Nächte“, in denen mehrere Folgen einer Reihe hintereinander gezeigt werden, lassen sich schon jahrzehntelang als eine oft anlassbezogene Sonderprogrammierung in den Abläufen der Fernsehsender finden. Diese Vorläufer des Binge-Watchings bezogen sich allerdings noch auf einen festen Ausstrahlungszeitpunkt, der durch ein gemeinschaftliches Rundfunksignal vorgegeben wurde. Dies änderte sich, als ab den 2000er Jahren digitale Aufzeichnungsgeräte wie DVD- und Festplattenrekorder mit Programmierungshilfen wie TiVo und Electronic Program Guides (EPG) vermehrt den kaum für eigene Aufnahmen genutzten Videorekorder ablösten und sich zugleich die Veröffentlichungen von Fernsehserien als DVD-Boxen für Kauf oder Verleih verbreiteten.50 Bis dahin galt noch:

48 | Vgl. Interview mit Ted Sarandos, Chief Content Manager von Netflix. In: Setoodeh: Has Netflix’s Ted Sarandos Rescued (or Ruined) Hollywood? In: Variety (OnlineAusgabe).

Unter:

http://variety.com/2017/digital/features/ted-sarandos-netflix-

original-movies-shonda-rhimes-1202527321/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 49 | Robinson: Television On Demand, S. 35. 50 | Ebd., S. 34.

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Die En-suite-Rezeption von mehr als drei oder vier Folgen (nach der Rückkehr aus dem Urlaub etwa) einer Serie muß demnach als ganz und gar ungebräuchlich angesehen werden.51

Nun aber begann sich mit verbesserten Aufnahmegeräten und DVD-Boxen, das Genre der Fernsehserie zunehmend von ihrer vormalig festen Verankerung in einem Programmablauf zu entkoppeln, da eine unkomplizierte Verfügbarkeit von Serien(-episoden) auch abseits einer TV-Ausstrahlung bestand. Für das Ansehen von mehreren Folgen oder gar ganzer Staffeln war allerdings noch ein Sammeln von Ausstrahlungen im Fernsehprogramm oder ein Warten auf die Veröffentlichung der entsprechenden DVD-Box nötig, was gewöhnlich erst Wochen oder Monate nach der TV-Premiere erfolgte. Mit dem Vorgehen von Netflix, alle Ausgaben einer Staffel von HOUSE OF CARDS auf einmal zu veröffentlichen, änderten sich diese Verhältnisse abermals, denn nun konnte bereits direkt ab der Veröffentlichung Binge-Watching betrieben werden. Die ihnen hierdurch gewährte Ermächtigung, Serien in selbst zusammengestellten Dosierungen ansehen zu können, hätten die Zuschauenden sehr wohlwollend angenommen, wie Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix, aus dem ihm zur Verfügung stehenden Datenmaterial ableiten kann: Our viewing data shows that the majority of streamers would actually prefer to have a whole season of a show available to watch at their own pace.52

In diesem Zusammenhang zeigt sich das Vorhandensein einer sich über mehrere Folgen erstreckenden, fortlaufenden Handlung, als ein Faktor, der das Bingen begünstigt. Der Autor Brian Stelter behauptet daher, die Serie HOUSE OF CARDS

51 | Giesenfeld: Serialität als Erzählstrategie in der Literatur. In: Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten, S. 2 (dort in der Fußnote). 52 | Netflix Press-Release: Netflix Declares Binge Watching is the New Normal. Unter: https://pr.netflix.com/WebClient/getNewsSummary.do?newsId=496 [aufgerufen am 18. September 2015]. 52 | Klode: Guckbefehl: Francis Underwood müssen Sie kennenlernen. In: Stern (OnlineAusgabe). Unter: http://www.stern.de/kultur/tv/house-of-cards-francis-underwoodmuessen-sie-kennenlernen-2069091.html [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 52 | Lotz: Binging Isn’t Quite the Word. In: Antenna (Blog). Unter: http://blog.commarts. wisc.edu/2014/10/29/binging-isnt-quite-the-word/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 52 | Zündel: Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen. In: montage AV, S. 32.

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wäre „expressly designed to be consumed in one sitting“ 53, während die Journalistin Ulrike Klode einen „HOUSE OF CARDS-Marathon“ als „ideale Gucksituation“ empfiehlt, „[...] nur unterbrochen durch den obligatorischen Besuch der Toilette und den Anruf beim Pizza-Service.“54 Die Medienwissenschaftlerin Amanda Lotz weist in einem kurzen Beitrag darauf hin, dass der Begriff „Binge-Watching“ oft einen Blick auf andere Nutzungsmöglichkeiten des „non-linear viewing“ verberge. Schließlich ermögliche das Distributionsmodell von Angeboten wie Netflix auch einen Umgang mit Serien jenseits einer „can’t-stop, watched-a-whole-season-in-two-days possibility“, etwa wenn die Abstände zwischen den Sitzungen unterschiedlich lang sind oder lediglich gezielte Folgen herausgepickt werden. Sie diskutiert daher Formulierungen wie „serial viewing“ und „reading television“, zeigt sich mit diesen aber ebenso unzufrieden.55 Die vorliegende Untersuchung berücksichtigt ausdrücklich auch alternative Nutzungsweisen zum Binge-Watching. Sie findet in ihrer Argumentation jedoch einen Schwerpunkt in jenem Rezeptionsmuster des Marathon-Guckens, da vor allem ein „exzessive[r] Serienkonsum integraler Bestandteil der Selbstvermarktung von Netflix“56 ist.

SERIALITÄT ALS ÖKONOMISCHE FORM Dass sich hinter Serialität mehr als eine narrative Spielart verbirgt, leitet Roger Hagedorn aus anfänglichen Zeitungsformaten, frühen Comic-Strips, den ersten Film-Reihen im Kino sowie den Comedyreihen und Seifenopern zu Beginn der Radio- und Fernsehgeschichte ab. Er erkennt, dass mit seriellen Formatierungen neben der Anstiftung auch den nachfolgenden Abschnitt der jeweiligen Geschichte verfolgen zu wollen, zugleich die Stärkung des Mediums beabsichtigt wird, in dem das Produkt erscheint („to promote the very medium in which they

53 | Stelter: New Way to Deliver a Drama. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2m70bx1 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 54 | Klode: Guckbefehl: Francis Underwood müssen Sie kennenlernen. In: Stern (OnlineAusgabe). Unter: http://www.stern.de/kultur/tv/house-of-cards-francis-underwoodmuessen-sie-kennenlernen-2069091.html [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 55 | Lotz: Binging Isn’t Quite the Word. In: Antenna (Blog). Unter: http://blog.commarts. wisc.edu/2014/10/29/binging-isnt-quite-the-word/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 56 | Zündel: Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen. In: montage AV, S. 32.

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appear“).57 Es ist zugleich eine Strategie, um die Verbreitung und Akzeptanz von Medien gezielt vergrößern und damit die allgemeine Durchsetzung eines Massenmediums beschleunigen zu können. Serialisieren heißt popularisieren. […] serials have been introduced into every medium precisely at the point at which they are emerging as a mass medium: because they constitute a remarkably effective tool for establishing and the developing a substantial consuming public for that medium. Once attracted, that audience is then available and predisposed to consume other texts the particular medium provides. 58

Diesen zentralen Aspekt bringt er schließlich auf den Punkt, indem er schlussfolgert: When a medium needs an audience, it turns to serials.

Dieses Verfahren, das sich für das Verlagswesen und den Buchdruck, das frühe Kino und den Rundfunk bewährt hat, findet in den Angeboten von Netflix und YouTube erneut Anwendung und erklärt, wieso die Unternehmen gerade in ihren Anfängen sehr großen Wert auf die Etablierung von Serien und seriellen Strukturen gelegt haben. Dies hatte offensichtlich das Primärziel, den eigenen Dienst im umkämpften Medienmarkt behaupten und etablieren zu können. Serielle Erzählungen, so schlussfolgerte Gabriele Schabacher aus Hagedorns Überlegungen, verfolgen deshalb auch stets das Ziel, Konsum zu initiieren. 59+60 In dieser Sichtweise verhält es sich mit Medien(-unternehmen) nicht anders, als mit den übrigen Bereichen einer Industriekultur, in denen die stetige Steigerung von Absätzen eine Grundbedingung für die Stabilität des wirtschaftlichen und sozialen Systems darstellt. Es wäre, so hat es Hans Freyer bereits im Jahr 1965

57 | Hagedorn: Doubtless to be continued. In: Allen (Hrsg.): To Be Continued..., S. 28. 58 | Ebd., S. 29. 59 | Schabacher: Serialisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 512. 60 | Für das Familienblatt „Die Gartenlaube“ kann Claudia Stockinger einen gezieltem Einsatz von Fortsetzungsromanen nachweisen. Mithilfe der Platzierung ihrer Auflösungen über ein laufendes Quartal hinaus, sollten sie einer jeweils zum Quartalsende möglichen Kündigung entgegenwirken. Später schreibt Stockinger ergänzend, dass bei dem Magazin auf allen Ebenen die Bereiche „Produktion, Distribution und Rezeption ideologisch eng miteinander“ verknüpft und dem Prinzip der Serialität verschrieben waren. (Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 116ff & 350.)

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formuliert, ein „System, das im Modus des Fortschritts existiert“ und fortwährend bestrebt ist, „alle Faktoren der Steigerung in die Höhe, jedenfalls bis zu dem Optimum zu treiben“. Dazu aber müssten für alle produzierten Waren „zuverlässige Formen des Verbrauchs entwickelt“ und der „Konsum auf ebenso hohe Touren gebracht werden wie der Produktionsapparat“.61+62 Andernfalls gäbe es „einen Stau, die Lager verstopfen sich, die Serie stockt.“63 Freyer beschreibt ein System, dessen Produkte so schnell wie möglich im Konsum aufgezehrt werden müssen und das daher auf dem „glatten Umschlag“ beruht.64 So wird es zur entscheidenden Frage, ob die steigende Produktion von der anderen Seite her durch steigenden Konsum abgesaugt wird, und die Sorge muß sein, daß die Gegenseite Schritt hält, auch wenn sie von sich aus nicht recht willens ist.65

Das System sei deswegen bestrebt, immer neue Varianten des Konsums zu erdenken, die im Idealfall einen noch höheren Verbrauch verlangen. Es produziere daher seine Waren nicht auf Basis einer „naturhaft gegebenen Bedarfslage“, sondern es erzeuge „die Bedürfnisse für die Produkte, die es produziert, laufend mit.“66 Nicht anders verhielt es sich mit der stetigen Ausweitung der Fernsehausstrahlung, deren Umfang seit den 1950er Jahren von wenigen Stunden in der Woche schrittweise zum Rund-Um-Die-Uhr-Programm und von einigen wenigen zu Hunderten Kanälen anwuchs. Erfolgt sind solche Erweiterungen stets mit der Begründung, damit auf gezielte Nachfragen (oder Bedürfnisse) des Publikums zu reagieren – etwa auf Menschen in Schichtarbeit, die das reguläre Programm nicht verfolgen könnten und deswegen ein Tages- und Nachtprogramm bräuchten. Nach dem gleichen Muster gehen Unternehmen wie YouTube und sogar stärker Netflix vor, die ihr Angebot konstant erweitern und dafür verlässliche und ebenso steigende Formen des Konsums einführen müssen. So ist auch die Etablierung des Binge-Watchings, also das Ansehen von gleich mehreren Folgen einer Serie am Stück, als Strategie der Konsumsteigerung zu verstehen.

61 | Freyer: Schwelle der Zeiten, S. 241f. 62 | Freyer beschreibt die Kategorien der Industriekultur nicht als „Tätigkeiten, durch die der Mensch einen heimischen Bezirk abgrenzt und in Kultur nimmt“, sondern fasst sie ausdrücklich als mediales „System von Apparaturen und Organisationen, in das der Mensch sich selbst einbegriffen hat“ auf. (Ebd., S. 225f.) 63 | Ebd., S. 252. 64 | Ebd. 65 | Ebd., S. 241. 66 | Ebd.

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Wo einst eine Folge pro Woche genügte, sollen es heute vier am Stück sein. Netflix propagiert dies nicht nur durch verbale Aufforderungen etwa in den Vorträgen von Kevin Spacey. Das bloße Anbieten ganzer Staffeln mit fortlaufenden Handlungen ohne narrativen Bruch lädt geradezu zum Bingen ein und löst damit die nötige Steigerung des Konsums aus. Vom Konzern ausgerufene Parolen der digitalizitären Befreiung mögen tatsächlich ernst gemeint sein, sie stellen jedoch eher das Feigenblatt dar, hinter dem eine Steigerung des Konsums, eine Loyalität zur Plattform und letztlich eine Stärkung des Mediums angestrebt wird. Unterstützt wird diese Annahme durch die bereits erwähnte Studie des USKabelkanals FX, die neben einem allgemeinen Zuwachs von seriellen Formaten im Fernsehen vor allem eine enorme Steigerung im Bereich der Online-Services (also bei Anbietern wie Netflix) nachweist. Die Unternehmen produzieren stetig mehr Serien. Serien, die auch verbraucht werden müssen.

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Stabilität & Verlässlichkeit

FESTE ABLÄUFE UND IHRE AUFRECHTERHALTUNG Der Atemrhythmus, Alltagsroutinen, wiederkehrende Nahrungsaufnahme oder Weihnachtsbräuche – all das beginnt mit der Geburt und endet endgültig mit dem Tod. Solange sich die Dinge in stabiler Weise wiederholen, solange der stetige Wechsel von Tag und Nacht einen wiederkehrenden, festen Rahmen bildet, solange Serien fortgesetzt werden, solange schreitet das Leben voran. Es lebt, was sich wiederholen kann. Es ist die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die das Herausbilden einer – wie es Werner Faulstich nannte – „Kultur des Seriellen“ auslöst. Wir wollen das Immergleiche und seine Variationen, das Schema und seine Abwandlung, die Innovation als Ausnahme von der Regel. Wenn es Serialität nicht gibt, erfinden wir sie, projizieren sie, denn Sinn entsteht für uns nur durch Verknüpfung von Singulärem zu Serien, zu Zusammenhängen. Die Serie schafft Ordnung. Vertrautheit, bildet das Koordinatensystem unseres Lebens.1

Entsprechend ist es für Hartmut Winkler vor allem die wiederkehrende Gleichartigkeit von Strukturen (das allgegenwärtige Vorliegen von „identische[n] Einheiten“), die einen „wesentlichen Faktor von Stabilität und Orientierung in unserer Alltagswelt“ liefern und auf diese Weise „zu unserem Seelenheil sicher nicht unwesentlich“ beitragen würden.2 Hieraus resultiert die Manie der menschlichen Kultur, sich wiederholende Kreisläufe, feste Abläufe oder Serien in allen Berei1 | Faulstich: Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 51. 2 | Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 38f.

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chen zu erschaffen. Wo noch keine Serie existiert, wird sie erfunden. Es werden einzelne Spielfilme in seriellen Formaten miteinander verkettet und mit ihnen das Versprechen formuliert, dass nach dem aktuellen Titel in absehbarer Zukunft ein nächster folgt, der ähnliche Parameter aufweisen und vergleichbare Regungen im Publikum hervorrufen wird. Für das Fernsehprogramm gängige Verabschiedungsfloskeln („Wir verabschieden uns bis zur nächsten Woche.“) erzeugen das zentrale Versprechen und die beruhigende Vergewisserung, dass die Serie alsbald fortgesetzt und damit aufrechterhalten wird. Nicht anders geht Bianca Claßen auf ihrem YouTube-Kanal „BibisBeautyPalace“ vor, wenn sie ihre Videos beschließt mit Sätzen wie: Okay Leute, bis zum nächsten Mal. Ich hab’ Euch lieb. Tschüß.3

Hierin bringt sie ebenso das zentrale Versprechen zum Ausdruck, ihre bisherige Ansammlung an Videos auch künftig um weitere Einheiten ergänzen zu wollen. Wie andere YouTube-Nutzende typischerweise vorgehen, wenn ihre Serien ins Stocken geraten sind, lässt sich aus gleich zwei Beispielen lesen, die Patricia G. Lange in ihrem Beitrag zum „YouTube Reader“ aufgreift. Zunächst berichtet sie darin von einer Userin, die unter dem Titel „I’m Not Dead“ ihren zeitraubenden Umzug von Los Angeles nach San Francisco schildert. Wie es der Titel des Videos sowie zahlreiche sprachliche Hinweise offenbaren würden, besteht ihr Hauptanliegen jedoch darin zu versichern, noch zu leben – womit in erster Linie gemeint wäre, dass ihr Kanal bei YouTube noch aktiv ist. Diese Aussage versucht sie zu verstärken, indem sie die Veröffentlichung von konkreten Inhalten in Aussicht stellt: Um, just want to let you guys all know that I’m alive. Yes, I wasn’t kidnapped in San Fran, unfortunately. But um, I’ve got a couple of videos coming up. And yes I know I still have to put up my gathering videos. I’m going to do an LA to San Fran video, kill two birds with one stone.4

In einem anderen Video mit dem Titel „Just an update guys“, auf welches sich Patricia G. Lange stützt, beklagt sich der User Ryan über eine derzeit fehlende

3 | Transkript des Videos: BibisBeautyPalace: Ich bin schwanger :O PRANK. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/mjYjnjC2d7M [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 4 | Zitiert nach: Lange: Videos of Affinity on YouTube. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 78.

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Internetverbindung, die in jüngster Vergangenheit zu einer reduzierten Anzahl an Video-Uploads geführt hätte. Wie Lange in ihrem Aufsatz schreibt, kann das Verbindungsproblem im Laufe der Aufnahme behoben werden, sodass Ryan schließlich einen Ausblick auf einen noch von ihm geplanten Clip geben kann. 5 In beiden Videos werden vergangene Hindernisse und daraus resultierende Unregelmäßigkeiten der Upload-Historie als überwunden deklariert und die Ergänzung ihrer bisherigen Ansammlung an Videos um weitere Einheiten versprochen. Sie sichern eine baldige Fortsetzung in gewohnter Form zu. Sie sichern Kontinuität zu.6

KOSMISCHE ZYKLEN UND DAS PROGRAMMSCHEMA DES FERNSEHENS In fernsehhaften Umgebungen hat sich ein Modus von Serialität verfestigt, der seine Produktionseinheiten nahezu ausnahmslos in einer täglichen oder wöchentlichen Taktung ausliefert. Der Ausspruch ‚Same procedures as every year‘, auf den sich Lady und Butler in der alljährlichen Silvestersendung ‚Dinner for One‘ einigen, läßt sich als Motto mit den Abwandlungen ‚every week‘ und ‚every day‘ für alle seriellen Programme verstehen.7

Mit seiner systematischen Wiederkehr und seiner Basis auf einem „Wochen- und Tagesrhythmus entspricht er der zyklischen Zeitstruktur des Alltags der Zuschauer“ 8 und wird deswegen bereitwillig und in breiter Front angenommen.

5 | Ebd., S. 82. 6 | Ein vergleichbares Vorgehen konnte Claudia Stockinger bereits ab 1860 im Familienblatt „Die Gartenlaube“ nachweisen, wo den Lesenden redaktionelle Lücken (z.B. Ausfall eines Segments einer Fortsetzungsreihe oder Nicht-Erscheinen eines bereits angekündigten Textes) explizit erklärt und deren Nachreichung zugesichert wurden. Stockinger findet hierfür Beispiele, in denen die Ausfälle detailliert mit Verzögerungen in der Korrektur oder schwerwiegenden Erkrankungen entschuldigt werden. (Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 159ff.) 7 | Neverla: Fernseh-Zeit, S. 66. 8 | Prugger: Wiederholung Varianz Alltagsnähe. Zur Attraktivität der Sozialserie. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 101.

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Diesen Effekt erkennt und beschreibt ebenso Gabriele Schabacher in ihrem Aufsatz zur Serienzeit: Die Distribution im Fernsehen wird stets auf die Alltagszeit des Zuschauers bezogen. Unterstellt wird eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Wiederholungsstruktur der Serie und den seriellen Strukturen des Alltagslebens, sei es, dass man davon ausgeht, die Sendezeit formiere den Alltag des Zuschauers, oder umgekehrt, man sie dessen Tagesablauf anzupassen sucht […].9

Zu einem vergleichbaren Schluss kommt Hartmut Winkler, wenn er behauptet, die Alltagsnähe von Fernsehserien sei kein Effekt… […] einer bestimmten Themenwahl oder der gewählten Milieus; sie kommt zustande, weil der Diskurs einen bestimmten Typus von Redundanz imitiert, eben jenen Typus, der für die Alltagsvollzüge kennzeichnend ist. Da sich auch im Leben bekanntlich nichts Relevantes ereignet und eine redundanz-geschwängerte, zyklische Zeit die lineare immer wieder dominiert, muß die Serie allein diese Zeitstruktur übernehmen, um Referenz als einen Effekt zu produzieren […]10

Bereits früh zeigte sich dabei, dass neben einem gleichförmigen Abstand zwischen den Einheiten ebenso die Vorhersagbarkeit ihrer Wiederkehr bedeutend ist, weswegen sich für den Rundfunk (Fernsehen und Radio) schnell ein „relativ festes Schema“ herausbildete, das zu einer „leichteren Planung für die ‚Programmmacher‘ und zur besseren Orientierung für den Hörer“ beiträgt.11 Der Theologe Günther Thomas sieht in der Durchsetzung des Programms mit „Rhythmen, Zyklen und Repetitionen“ die entscheidende Ursache für seine „Vertrautheit und ein[en] Eindruck der Verlässlichkeit“. 12 Wie sich diese Mechanismen in einer realen Programmplanung niederschlagen, konkretisiert Marc Conrad, der damalige Programmdirektor des TV-Senders RTL, in einem 1992 geführten Interview auf anschauliche Weise:

9 | Schabacher: Serienzeit. In: Meteling et. al. (Hrsg.): Previously on..., S. 31. 10 | Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 45. 11 | Hickethier: Apparat – Dispositiv – Programm. In: Hickethier / Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur, S. 424. 12 | Thomas: Liturgie und Kosmologie. In: Thomas (Hrsg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens?, S. 98.

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Die ARD-TAGESSCHAU ist ja nur so erfolgreich, weil sie seit Jahren jeden Tag um die gleiche Zeit kommt, und nicht, weil sie so außergewöhnlich gut wäre. Die Nachrichten erzielen auf der ganzen Welt diese unheimlich hohen Einschaltquoten, weil sie überall jeden Tag um die gleiche Uhrzeit zu sehen sind. Wir haben vor zwei Jahren damit angefangen, dass wir bei RTL alles entsprechend gestrippt haben: also jeden Tag das gleiche um die gleiche Uhrzeit. Das macht uns jetzt jeder nach. Ich glaube aber, dass wir schon so weit sind, dass unsere Zuschauer zum Teil auf Programmzeitschriften verzichten können. Die brauchen die gar nicht mehr. Die wissen einfach: Um 14.00 Uhr kommt SPRINGFIELD STORY, um 16.00 Uhr Meiser, montags um Viertel nach acht COLUMBO und so weiter. Dieser Rhythmus ist auch der Grund, warum wir immer weniger Spielfilme ausstrahlen: Dafür muss man ja immer extra in der Programmzeitschrift nachgucken, was wann kommt.13

In analoger Weise zu den Produktionsabläufen der Industriekultur stellt Irene Neverla für das Fernsehen fest, dass die „Verregelmäßigung industrieller Produktion“ nicht nur zur gewünschten Kontinuität, sondern ebenso zu einer größeren „Gleichförmigkeit“ und „Standardisierung der Produkte“ führt. Dies bezieht sie jedoch weniger auf inhaltliche Aspekte, als vielmehr auf deren zeitlicher Ausprägung, denn wie sie weiter schreibt, werde das Fernsehprogramm überwiegend von „15-, 30-, 45- oder 90-Minuten-Blöcken“14 dominiert, hinter denen sich einzelne Sendungen verbergen. Zwar wäre jede Sendung noch einmal durch Teilbeiträge unterteilt – John Ellis würde diese „Segmente“ nennen – doch das beherrschende Muster bilden jene Blöcke, in denen das Programm geordnet ist und in die sich nahezu jeder Inhalt einordnen lassen muss. So ist die allabendliche TAGESCHAU15 immer 15 Minuten lang und endet jeder TATORT16 nach exakt 90 Minuten – ganz gleich, ob die jeweilige Nachrichtenlage oder erzählte Geschichte eigentlich mehr oder weniger zeitlichen Raum benötigen würde. Neverla bedient sich in diesem Zusammenhang bei Knut Hickethier und übernimmt seine Beschreibung des Programms als „Kästchenschema“ 17, das zur allumspannenden Grundstruktur des Fernsehprogramms erwächst. In diesem festen Kästchenschema, das von Wiederkehr und Wiedererkennbarkeit geprägt ist, gerät die Fernsehserie mit ihrer „Abhängigkeit der Einzelfolgen vom Gesamtzusammenhang“ geradezu „zum Prototyp für die gesamte Programmpräsentati-

13 | Leder / Anschlag: Prophetie ist keine Kunst. 14 | Neverla: Fernseh-Zeit, S. 64. 15 | Tageschau, D seit 1952. 16 | Tatort, D seit 1970. 17 | Ebd., S. 65.

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on“.18 Es offenbart sich, was Helmut Schanze beschrieben und Knut Hickethier aufgegriffen hat: Nicht nur einzelne Sendungen sind seriell, sondern das gesamte Programm.19

KONTINUITÄT UND IHR BEITRAG ZUR SICHERHEIT Günther Thomas hat sich mit den Effekten, die aus den wiederkehrenden Strukturen des Programms resultieren, intensiv beschäftigt und ihnen eine gesellschaftsstabilisierende Bedeutung zugesprochen. Demnach sei die moderne Gesellschaft von einem stetigen Wandel geprägt, durch den nahe Verwandtschaftsbeziehungen, lokale Gemeinschaften, religiöse Kosmologien und Traditionen eine immer geringere Wertigkeit einnehmen und deswegen nicht mehr in der Lage wären, die nötige Konstanz und Sicherheit herzustellen. Sie könnten jedoch durch verlässliche abstrakte Gesellschaftssysteme ersetzt werden, die an ihrer Stelle eine stabilisierende Wirkung entfalten.20 Das Fernsehen mit seinem Kästchenmuster aus beständigen Wiederholungen, so stellt Thomas letztlich fest, sei ein System, das dies leisten könne. Hierfür wäre entscheidend, dass die einzelnen Sendungen und Programmelemente, die von zyklischer Zeit der „stündlichen, täglichen oder wöchentlichen Rhythmen“ bestimmt sind, in ihrer Summe wiederum einen stetigen Strom ausbilden, der „unumkehrbar“ ist und linear dahinfließt.21 Damit findet sich in Thomas’ Auffassung erneut eine Beschreibung von Fernsehhaftigkeit als Fluss, die explizit an das Flow-Modell von Raymond Williams anknüpft. Die stetige Konstanz dieses Flusses, der den Alltag der Menschen permanent begleitet, liefere letztlich das essenzielle Gefühl von Sicherheit. Schon das reine Stattfinden des Flusses kommuniziert eine basale Beobachtbarkeit und Verläßlichkeit der Welt außerhalb der unmittelbaren lebensweltlichen Erfahrung [...].22

18 | Giesenfeld: Serialität als Erzählstrategie in der Literatur. In: Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten, S. 2. 19 | Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Programms. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 57. 20 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 499ff. 21 | Thomas: Liturgie und Kosmologie. In: Thomas (Hrsg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens?, S. 98. 22 | Ebd., S. 101.

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Hierin liegt eine Ursache verborgen, wieso das Fernsehprogramm derart viel Energie aufwendet, um die Aufrechterhaltung des Flusses unter allen Umständen zu gewährleisten und durch Trailer, sprachliche Verweise, Cliffhanger und Fortsetzungsgeschichten permanent Anschlüsse zu erzeugen, mit deren Einlösung der Fortbestand des Flusses versprochen wird. Eine Unterbrechung des stabilen Stroms aus Wiederholungen und ein Pausieren der Serialität des Flusses kann höchstens durch „herausragende Medienereignisse“ ausgelöst werden, die allein durch die von ihnen verursachte Schemaunterbrechung einen Bedeutungszuwachs verliehen bekommen.23 Die Übertragung eines Fußball-Weltmeisterschaftsspiels erhält etwa schon deswegen eine gesteigerte Relevanz zugesprochen, weil ihr das seltene Privileg gewährt wird, die eigentlich unumstößlichen Anfangszeiten der TAGESSCHAU zu verschieben. Für Mary-Ann Doane würde der Ausbruch aus einem festen Kästchenschema vor allem dann in die Praxis umgesetzt, wenn aktuelle Ereignisse dies nötig erscheinen lassen. Sie bestätigten dann als Ausnahme die Regel eines sonst ereignisunabhängigen Programms. Es ist für Doane vor allem die Katastrophe, die mit ihrer „punktuellen Diskontinuität“ den sonst vorherrschenden „Fluß und die Kontinuität der Information [flow]“ 24 zu unterbrechen vermag. Im Umkehrschluss kann ein Vorfall nur dann als Katastrophe klassifiziert und wahrgenommen werden, wenn dieser eine Unterbrechung des gewohnten Programmflusses auslöst. Doch, wie oben ausgeführt, werden selbst diese Unterbrechungen in seriellen Formaten wie dem ARD BRENNPUNKT vorgenommen, wo die Berichterstattung in vertrauter Kulisse von bekannten Gesichtern in tradierter Dramaturgie erfolgt und die Bilder der Katastrophe fortwährend wiederholt werden. Mary-Ann Doane beschreibt dieses Verfahren in nahezu identischer Weise für die amerikanischen Sondersendungen zur Explosion der Raumfähre Challenger im Jahr 1986. Demnach wäre an diesem Tag das US-Publikum von Tom Brokaw, der durch sein allabendliches Erscheinen auf dem Bildschirm bestens vertraut war, mit Informationen und ständigen Wiederholungen der Bilder von der Explosion versorgt worden.25 Durch den Rückgriff auf wiederkehrende Elemente während der Aussetzung des eigentlich seriellen Programmflusses wird versucht, selbst Außergewöhnliches zu greifen, Schrecken zu bewältigen und Stabilität zu bewahren. Dabei wirkt es unterstützend, dass im Falle einer Katastrophe niemals

23 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 466. 24 | Doane: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 104. 25 | Ebd., S. 114.

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alle Fernsehsender ihren starren Programmfluss unterbrechen und sich das Medium als Ganzes auf diese Weise einen Eindruck von Stabilität bewahren kann. Erst ein vollständiger, alle Sender einschließender Ausfall würde das Hereinbrechen eines nicht mehr zu bewältigenden Chaos nahelegen. 26

LITURGISCHER STROM UND DIE SYNCHRONISATION DER GESELLSCHAFT Im Fernsehprogramm wird demnach versucht, der „Angst vor dem drohenden Ende des Bestehenden“ mit einer „Wiederkehr des Gleichen und Vertrauten“27 zu begegnen und die Katastrophe zu verhindern. Diese Verhaltensweise erinnert an den Glauben früherer Kulturen, durch festgelegte und wiederkehrende Handlungen und Opfergaben höhere Mächte besänftigen, dadurch Nöte, Plagen und Krankheiten abwenden und den gewohnten Lauf der Welt bewahren zu können. In diesen zyklischen Wiederholungen bildet sich die Form des Rituals aus und mit ihm… [… d]ie Beschwörung, daß sich zwar alles ändert, aber die Welt im Ablauf ihrer Wiederholungen doch immer gleich bleibt. Das Ritual ist die Stiftung des Vertrauens, indem es als Vertrautes immer wieder neu durchgeführt und damit wiederholt wird. 28

Eine vergleichbare Verknüpfung von Regelmäßigkeit, die Stetigkeit erzeugt, erkennt Günther Thomas im seriellen Fernsehprogramm, das aufgrund der „Periodizität der Mitteilungsangebote“ ebenfalls ritualisiert genutzt würde.29 Er identifiziert im „programmförmig und in mehreren Kanälen organisierten Fernsehen“ gar eine „komplexe liturgische Ordnung“. Die einzelnen Sendungen sind, so die hier vertretene These, als durch den liturgischen Strom verkettete Rituale zu betrachten. Der gesamte Programmfluß mit seiner

26 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 503. 27 | Hickethier: The Same Procedure. In: Felix et. al. (Hrsg.): Die Wiederholung, S. 54. 28 | Ebd. 29 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 476.

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Vielzahl aufeinander verweisender Einzelrituale ist eine ‚ewige‘, den Alltag der Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts permanent begleitende Liturgie. 30

Dieser „liturgische Strom“, der eine „bruchlose Verkettung der einzelnen Rituale“ darstellt, orientiert sich wiederum am Tag- und Nacht-Rhythmus, an den Wochentagen, den Monaten oder den Jahreszeiten und damit an kalendarischen und astronomischen Zyklen sowie an der „kulturellen Form der Stunde und der Woche“.31 Zugleich rekurriert er auf den Alltagsrhythmus des Publikums und insbesondere auf dessen „alters- oder berufsbedingter Verfügbarkeit“32. Auf diese Weise entsteht eine zeitliche Ordnung „ohne Anfang und Ende“, die von vielen Menschen geteilt werde.33 Während religiöse Rituale allerdings oft an bestimmte Orte wie Tempel oder Kirchen geknüpft seien, verlangten die fernsehhaften Rituale keinen gemeinsamen physikalischen Raum. 34 Ihre verbindende Wirkung basiere einzig auf einer zeitlichen Synchronisierung der an der Liturgie teilnehmenden Personen durch das Programm selbst, das den zeitlichen Ablauf, seinen Rhythmus und seine Taktung verbindlich festlegt. Es ist eine zeitliche Abfolge und nicht eine geteilte Örtlichkeit, die verbindet. Millionen von Menschen werden zur gleichen Zeit vor dem Fernsehgerät versammelt und zu einer neuen Art von Soziabilität, der ‚Fernsehgemeinde‘.35

Eine solche Verbindung müsse aber nicht immer eine harte Synchronisierung bedeuten, in der alle Beteiligten gleichzeitig dasselbe tun – wenngleich das Fernsehprogramm dazu grundsätzlich in der Lage ist und dies regelmäßig bei alten Straßenfegern oder Fußballweltmeisterschaftsendspielen demonstriert. Es könne auch eine „weiche Synchronisation“ entfalten, die sich „ganz individuell an einer überindividuellen und aus dem ‚Jenseits‘ des Alltags kommenden Ordnung“ ausrichtet.36 Dieses Wechselspiel führt dazu, dass Alltag und Fernsehprogramm spezifisch für jede einzelne Person in Deckungsgleichheit gebracht werden kön-

30 | Ebd., S. 459. 31 | Ebd., S. 476. 32 | Ebd., S. 477. 33 | Ebd., S. 471. 34 | Ebd., S. 470. 35 | Mikos: Es wird dein Leben!, S. 45. 36 | Thomas: Liturgie und Kosmologie. In: Thomas (Hrsg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens?, S. 98.

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nen. Mit diesem eigentlich subjektiven Prozess findet jedoch automatisch eine „faktische Synchronisation der Bevölkerung“ 37 statt, da sich die individuellen Nutzungsmuster am liturgischen Strom und damit am selben Bezugssystem ausrichten. Der Nachmittag endet und der Abend beginnt mit HEUTE oder der TAGESSCHAU, Kinder müssen vor oder nach der TAGESSCHAU, nach der Showsendung oder vor der Neun-Uhr-Sendung ins Bett; samstags beginnt das Abendessen erst nach der SPORTSCHAU. Fernsehsendungen stellen Markierungspunkte im Tages- und Wochenablauf dar, an denen sich das Leben der Menschen ausrichtet.38

ZYKLEN UND RHYTHMEN BEI YOUTUBE UND NETFLIX „Serien und Filme jederzeit und überall ansehen.“39 Auf den ersten Blick scheint in diesem Punkt die prägnanteste Differenz von televisionizitären Angeboten wie YouTube und Netflix zur Fernsehhaftigkeit zu liegen, die ihre Abkehr von verbindlichen (Sende-)Zeiten und einen zeitsouveränen Abruf ihrer Inhalte in der Außendarstellung gerade zum Markenkern ihrer Dienste erhoben haben. Durch die Speicherungsfunktion, die in der Architektur der Plattformen verankert und im Interface (unter bestimmten Voraussetzungen) nutzbar ist, lassen sich zur Verfügung gestellte Titel zu einem frei gewählten Zeitpunkt unabhängig von einem von außen auferlegten Kästchenschema starten oder fortsetzen. Dieses Versprechen bezieht sich auf Videos, die bereits in der Bibliothek zur Nutzung freigegeben sind und damit ausschließlich auf vergangene Veröffentlichungen. Richtet man den Blick jedoch auf die Zeitpunkte und Rhythmen, in denen die Bibliothek durch das Hinzufügen neuer Inhalte Erweiterungen erfährt, lassen sich ähnliche liturgische Ordnungen wie bei der Fernsehhaftigkeit feststellen. Einen ersten Hinweis darauf lässt allein das Titelbild des YouTube-Kanals von Bianca Claßen (BibisBeautyPalace) erkennen, auf dem zwei Wochentage mit konkreten Uhrzeiten vermerkt sind. Hierbei handelt es sich um die Zeitpunkte, zu denen gewöhnlich neue Videos freigegeben werden. Andere Kanäle arbeiten mit ähnlichen Ankündigungen.

37 | Thomas: Medien – Ritual – Religion, S. 483. 38 | Mikos: Es wird dein Leben!, S. 45. 39 | Dieser Satz war lange auf der Startseite von Netflix zu lesen (vgl. Abbildung 1). Die Hervorhebung erfolgte durch den Autor.

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Abbildung 16: Beispiele für Kanäle mit festen Zeitpunkten, an denen neue Videos veröffentlich werden.40 Obwohl dieser Rhythmus nicht immer stoisch eingehalten oder um zusätzliche Beiträge erweitert wird, verheißen diese Bekanntgaben ein festes Muster und eine Wiederkehr in planbarer Form. Sie verheißen eine ähnliche Verlässlichkeit, wie jene, die das Fernsehprogramm aufrechtzuerhalten versucht. Was anderes als eine Art fester Sendezeiten verbirgt sich hinter solchen Ansagen? Dass es sich hierbei nicht bloß um formale Ankündigungen handelt, denen eigentlich keine Bedeutung zugesprochen wird, belegt Dominik Maeders Untersuchung von Kommentareinträgen zu „Let’s Play“-Videos, in denen Nutzende die… […] Uploadpläne und -routinen in Erfahrung zu bringen versuchen, das NichtEinhalten eben dieser monieren oder schlichtweg das Warten auf die Freischaltung eines Videos durch möglichste rasche Kommentierung (‚Erster!‘) dokumentieren. 41

Der oben bereits zitierte Florian Diedrich, der auf der Plattform YouTube auf seinem Kanal „LeFloid“ regelmäßig in Erscheinung tritt, bestätigt im Interview

40 | Titelbilder der YouTube-Kanäle: BibisBeautyPalace, Freshtorge, Julien Bam, Walulis und Joyce [gespeichert am 27. Januar 2018]. 41 | Maeder: Kohärenz, Permutation, Redundanz. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 72.

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ebenso die Auswirkungen einer zeitlichen Regelmäßigkeit für seine Veröffentlichungen: Ich habe am Anfang immer gedacht, das ist doch scheißegal, ist doch Internet. Ich mache halt, wenn ich Bock habe. Aber irgendwann musste ich ‚Ich mache, worauf ich Bock habe, wann ich Bock habe‘ auf ‚Ich mache, worauf ich Bock habe – möglichst regelmäßig‘ [umstellen]. Bei mir ist es tatsächlich explodiert als ich angefangen habe, eine Regelmäßigkeit einzubauen, weil der Mensch so Hardcore ein Gewohnheitstier ist, dass er es überhaupt nicht abkann, wenn er nicht weiß, wann kommt eine neue Folge.42

Neben einer Ausrichtung an kalendarischen Einheiten und wöchentlichen Zyklen orientieren sich die Veröffentlichungszeitpunkte vieler Videos über alle Kanäle hinweg ähnlich wie das Fernsehprogramm an einer angenommenen zeitlichen Verfügbarkeit der anvisierten Zielgruppe. Nicht zufällig scheint etwa bei Bianca Claßen ein fester Termin auf den frühen Nachmittag eines Wochentags gelegt worden zu sein, der mit dem gewöhnlichen Schulschluss korrespondiert, sodass das neue Video idealerweise noch auf dem Heimweg von der Schule angesehen werden kann. Der zweite regelmäßige Zeitpunkt am Samstagvormittag zielt hingegen auf eine Nutzung nach dem Ausschlafen ab. Die Veröffentlichungen der Beiträge orientieren sich wie das Fernsehprogramm nicht nur sichtlich am kosmischen Ablauf und der kalendarischen Taktung von Tag und Wochentag, sie orientieren sich ebenso am rituellen Kalender, weil in ihnen auf inhaltlicher Ebene bestimmte Jahreszeiten, Saisons oder Feiertage aufgegriffen werden. So lassen sich Videos finden, in denen Schmink-Tipps zu Halloween, Mutproben für die Weihnachtszeit oder sommerliche Kochrezepte vorgestellt werden. Zugleich werden Gewinnspiele veranstaltet, deren Teilnahme zeitlich begrenzt ist oder Aufforderungen für die inhaltliche Gestaltung der nächsten Ausgabe an das Publikum formuliert, sodass nur eine begrenzte Zeit besteht, um sich an den partizipativen Elementen tatsächlich beteiligen zu können. Obwohl sich auf der Plattform im Gegensatz zum Fernsehprogramm die Inhalte nach ihrer Veröffentlichung nicht direkt verflüchtigen und zumindest potenziell unendlich abrufbar bleiben, werden viele Videos dennoch zeitlich verortet und in einen aktuellen Kontext eingebunden. Sie werden auf inhaltlicher

42 | Interview in der Fernsehsendung: JOIZone: D 2014, JOIZ: Ausgabe vom 23. Mai 2014. Ausschnitte sind verfügbar als Video: joiz Germany: LeFloid und Rob Bubble: In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/aaq4BwtryYo [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Ebene nicht entzeitlicht, obwohl dies das System eines Abrufdienstes nahelegen würde. Damit erhalten viele Videos auf der inhaltlichen Ebene ein Zeitfenster verliehen, in dem diese anzusehen sind, damit der darin aufgestellte Zeitbezug erhalten bleibt. Sicherlich lässt sich ein Halloween-Schmink-Tutorial auch zu Ostern ansehen, dafür aber ist es offensichtlich nicht bestimmt. Ein Betrachten außerhalb des funktionierenden Rahmens wäre dann vergleichbar mit dem Ansehen einer alten Ausgabe der TAGESSCHAU, deren eigentliche Funktion einer tagesaktuellen Nachrichtensendung ersetzt wird durch die Funktion eines Zeitdokuments, das eher als Retrospektive fungiert und einen vergangenen Moment in der Zeit wiederzubeleben versucht. Durch ihre Ausrichtung am Arbeits- und Lebensrhythmus wird dem Publikum angeraten, sich an die Sendezeiten zu halten, die Speicherungsfunktion allenfalls für eine kurzfristige Verzögerung zu nutzen und die Videos möglichst unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung anzusehen. In solchen Videos liegt die Funktion der Plattform, Inhalte dauerhaft archivieren zu können, nicht im vorrangingen Interesse der Künstler*innen. Sie zielen eher auf eine Einhaltung eines Kästchenschemas ab, das Einheitlichkeit und Konstanz produziert und für beide Seiten des Bildschirms weniger Individualität und Selbstbestimmtheit zulässt. Stattdessen wird eine spürbare Annäherung an Fernsehhaftigkeit verfolgt und die Gewährleistung einer ähnlichen Stabilität angestrebt. Analog zur beruhigenden Wirkung der Fernseh-Liturgie erscheint keine Katastrophe allzu bedrohlich, solange die Veröffentlichungszyklen im Angebot von YouTube aufrechterhalten werden. Veröffentlichungsrhythmen, die auf einer wöchentlichen Periodizität mit fester Sendezeit fußen, stellen im Angebot von Netflix wiederum die Ausnahme43 dar, dominiert dort doch das blockweise Hochladen ganzer Serienstaffeln. Dennoch ist dieses Modell, das ein Binge-Watching befördert, nicht gänzlich von einer zyklischen Ordnung losgelöst. Wie die folgende exemplarische Auswahl einiger langlaufender Serien veranschaulicht, starten neue Staffeln einer Serie gewöhnlich im Abstand von einem Jahr zueinander.

43 | Regelmäßig lizensiert Netflix einzelne Serien, deren Erstausstrahlung im Fernsehprogramm erfolgt, und zeigt diese jeweils kurz nach der TV-Premiere. Neue Folgen werden in diesem Fall in einem wöchentlichen Rhythmus zur Verfügung gestellt. Hierdurch unterwirft sich die Plattform den Gesetzmäßigkeiten und Vorgaben fernsehhafter Umgebungen. Dies wird beispielsweise praktiziert für Serien wie BETTER CALL SAUL (USA, seit 2015), DESIGNATED SURVIVOR (USA, 2016 - 2019) oder RIVERDALE (USA seit 2017). Vgl. Zündel: Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen. In: montage AV, S. 34.

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Abbildung 17: Veröffentlichungsdaten wichtiger Netflix-Serien.44 In der Zusammenstellung ist auffällig, dass die Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung zweier Staffeln in vielen Fällen derart exakt ein Jahr beträgt, dass diese jeweils in dieselbe Kalenderwoche fallen. Zudem sind nahezu sämtliche Starttermine auf einen Freitag und damit auf den Beginn eines Wochenendes datiert, denn am Wochenende haben berufstätige Menschen überhaupt Zeit, sich ausgiebig einer Serie zu widmen und eine Staffel am Stück anzusehen. Die konkreten Daten sind folglich auf die kalendarisch-kosmische Ordnung und zugleich an der berufsbedingten zeitlichen Verfügbarkeit des Publikums ausgerichtet und damit an denselben Parametern wie das Fernsehprogramm. Es sind die gleichen Faktoren, auf denen auch viele Upload-Modi von YouTube basieren. Wie dort stellen sie bei Netflix keinen verbindlichen Zeitpunkt dar, an dem der Inhalt 44 | Eigene Grafik. Bei den Daten handelt es sich um die Zeitpunkte, ab denen die Staffeln erstmals abrufbar sind. In der Regel gelten diese weltweit. Nur vereinzelt variieren sie aufgrund vertraglicher Bestimmungen in einzelnen Ländern. Dann bezieht sich die Angabe auf die erstmalige Abrufmöglichkeit in den USA.

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zwingend angenommen – das Ritual ausgeführt – werden muss. Die Termine markieren vielmehr die Momente, zu denen eine Teilnahme frühestens begonnen werden kann. Doch stehen viele Serien ebenso wie unzählige YouTube-Videos auf inhaltlicher Ebene in einer engen Korrelation mit ihren Startterminen – etwa wenn die Serie HOUSE OF CARDS mit dem Neujahrsempfang des Präsidenten für das Jahr 2013 und die Erzählzeit damit nur wenige Tage vor dem Veröffentlichungstermin der Serie beginnt. Die zweite Staffel der Mystery-Serie STRANGER THINGS45 wurde am 27. Oktober 2017 veröffentlicht und damit nur wenige Tage vor dem Halloween-Fest. Die Handlung der Staffel setzt dann ebenso mit Halloween-Feierlichkeiten und mit dem 28. Oktober des Jahres 1984 sogar am nahezu identischen Tag des Jahres ein. Die Verortung der Handlungen in einer Zeit, die in einem engen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichungen steht, legt ihre möglichst schnelle Nutzung nahe, damit die zeitlichen Bezüge stimmig bleiben.

ERSCHAFFUNG INDIVIDUELLER RITUALE Dass die eigentlich jederzeit frei abrufbaren Serien tatsächlich kurz nach ihrer Erscheinung genutzt werden, zeigt sich im Phänomen des sogenannten „Binge Racing“, das als Beleg und als Katalysator für diese These dient. Hinter diesem Begriff, den das Unternehmen Netflix in seinen Presseveröffentlichungen selbst geprägt hat und ihn damit zugleich als Marketinginstrument einsetzt, verbirgt sich ein möglichst schnelles Durcharbeiten durch eine Staffel kurz nach ihrer Veröffentlichung. Konkret beschreibt der Konzern „Binge Racer“ als „members who completed a season of a TV show within 24 hours of its release on Netflix.“46 Die Auswertung der Nutzungsdaten hätte ergeben, dass die Anzahl der Personen, die durch eine Staffel innerhalb der ersten 24 Stunden durchgerannt wären, von weltweit 200.000 im Jahr 2013 auf über 5 Millionen Menschen im Jahr 2017 gestiegen ist. Insgesamt wäre diese Leistung bereits von 8,4 Millionen Menschen vollbracht worden. In der dazugehörigen Mitteilung liefert die Pressestelle von Netflix gleich eine Begründung und Motivation für diese Entwicklung. Demnach würden sich unter diesen Personen nicht ausschließlich „basement-dwelling couch potatoes“ befinden. Vielmehr werde die Geschwin-

45 | Stranger Things, USA seit 2016. 46 | Netflix Press-Release: Ready, Set, Binge: Unter: https://media.netflix.com/en/pressreleases/ready-set-binge-more-than-8-million-viewers-binge-race-their-favorite-series [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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digkeit, mit der man sich durch eine Serie durcharbeitet, mittlerweile mit einer sportlichen Leistung gleichgesetzt, deren Erreichen man stolz teilen würde. „TV is their passion and Binge Racing is their sport“. Als Beleg für diese Aussage verweist die Meldung auf folgende Twitter-Nachricht:

Abbildung 18: Tweet, auf den das Unternehmen Netflix verweist.47 Wie üblich nutzt das Unternehmen die Pressemeldung dafür, die Leistungsfähigkeit und Detailliertheit ihrer Nutzungsdaten zu demonstrieren. So hätte man in Frankreich eine Person identifiziert, die in den vergangenen zehn Monaten mehr als 30 Serienstaffeln innerhalb der ersten 24 Stunden durchgesehen hat. Außerdem habe man fünf Menschen gefunden, die jede der bisher veröffentlichten Staffeln von HOUSE OF CARDS innerhalb der ersten 24 Stunden absolvieren konnten. In ihrem Verhalten zeigt sich die für eine Industriekultur essenzielle Initiierung von Verbrauchssteigerung als derart erfolgreich umgesetzt, dass die Produktion der verbrauchten Waren mit ihr kaum Schritt halten kann. Natürlich lässt (in vergleichbarer Weise zum Einschalten des Fernsehengeräts) ein schlichter Abruf keine verlässliche Aussage darüber zu, wie und ob ein Titel auch tatsächlich wachsam und psychisch anwesend verfolgt wird. Gerade im AutoplayModus wäre es denkbar, dass mehrere Folgen einer Staffel durchlaufen werden, obwohl die Person, die den Inhalt ursprünglich gestartet hat, längst auf dem Sofa eingeschlafen ist. Die Validität und Verlässlichkeit der Daten ist daher unsicher.

47 | Screenshot des Tweets: Warren, Anastasia (@anastasiafwa). In Twitter.com (Tweet). Unter: https://twitter.com/anastasiafwa/status/882014799030124544?s=20. [angefertigt am 02. Dezember 2017].

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Dennoch lassen sie die Vermutung zu, dass es für eine gewisse Anzahl an Personen zu einer Gewohnheit, vielleicht sogar zu einem Ritual wird, eine neu veröffentlichte Serienstaffel so schnell wie möglich durchzusehen. Die Autor*innen Regina Bendix, Christine Hämmerling, Kaspar Maase und Mirjam Nast konnten unter Fans der Roman-Reihe „Perry Mason“ nachweisen, dass diese für das Lesen der Hefte ähnliche Muster ausbilden. Demzufolge würden manche Fans die im wöchentlichen Rhythmus erscheinenden Ausgaben sofort verzehren, während andere erst einige Hefte sammeln und diese dann im Bündel als „Aufhollektüre“48 lesen. In ihrem Beitrag weisen sie zudem darauf hin, dass die Hefte auch regelmäßig vor dem Einschlafen oder in der Badewanne gelesen würden.49 Hier wird deutlich, dass sich die Nutzenden mit ihren Heften eigene wiederkehrende Rezeptionsmuster und Abläufe und damit ihre eigenen Rituale schaffen. Diese Ordnungen korrespondieren zwar mit den Veröffentlichungsterminen, ihren Modus aber gestalten die Menschen selbst aus und bekommen diesen nicht von einer äußeren Instanz (wie dem fernsehhaften Kästchenmuster) vorgegeben. Dies aber darf nicht mit einer weniger bindenden und strukturierenden Bedeutung verwechselt werden, denn für die einzelne Person erfährt die eigene Lese-Routine eine wichtige Funktion. Es prägen sich darin keine Rituale aus, die von vielen Menschen geteilt werden und soziale Verbindlichkeiten schaffen, sondern individuelle Rituale, die für jedes Individuum eine individuelle Bedeutung und Verbindlichkeit haben. Sie speisen sich weder aus einem von außen bestimmten Ort, noch einer vorgegebenen Zeit, sondern einzig aus selbst gewählten Kenngrößen. Dennoch sind auch diese Rituale in der Lage, Gemeinsamkeit zu stiften, allerdings weniger durch eine Gleichzeitigkeit oder physische Co-Präsenz, sondern durch das gemeinsame Interesse an einem Inhalt. Die Autor*innen weisen in ihrem Text auf die große Fan-Kultur rund um Perry Rhodan hin, aus deren Beschreibung zu entnehmen ist, dass sich ein Zusammenhalt gerade daraus ergibt, dass jeder Fan ein eigenes Ritual besitzt. Die Synchronisation der Anhängenden erfolgt nicht über die Struktur des Rituals, sondern über dessen Gegenstand. Es ist plausibel, dass die Nutzung von On-Demand-Angeboten ähnliche Muster ausprägt und serielle Videoformate auch ohne feststehendes Programm in ähnliche individuelle Rituale eingebettet werden können. In der „Interviewstudie deutscher YouTube-NutzerInnen“ von Jeffrey Wimmer wird dies

48 | Bendix et. al.: Lesen, Sehen, Hängenbleiben. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 308. 49 | Ebd.

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zumindest von den befragten Jugendlichen für Let’s Play-Videos bestätigt, denn dort heißt es: Einige erzählen von einem täglichen Konsum, der fest in den Alltag integriert ist und Rituale beinhaltet, wie bspw. die Rezeption im Bett vor dem Einschlafen, im Badezimmer oder beim Essen […].50

Obwohl andere Teilnehmende der Studie zwar einen regelmäßigen, aber weniger ritualisierten Gebrauch schildern, belegt die Aussage, dass On-Demand-Dienste derart genutzt werden (können), um sich eine eigene Liturgie zu erschaffen. Unterstützend kann ein weiterer Tweet des Unternehmens Netflix herangezogen werden, der abzüglich der darin zum Ausdruck gebrachten Häme verrät, dass man in den USA 53 Personen identifiziert hätte, die den Netflix-Film A CHRISTMAS PRINCE51 in den vergangenen 18 Tagen jeden Tag angesehen und sich auf diese Weise (wahrscheinlich unabhängig voneinander) mit einem Einzelfilm ein eigenes verlässliches Ritual geschaffen haben.

Abbildung 19: Offizieller Tweet des Unternehmens Netflix.52 50 | Wimmer: Erfahrenen Gamern sozusagen über die Schulter schauen. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 152. 51 | A Christmas Prince, USA 2017, Alex Zamm. 52 | Screenshot des Tweets: Netflix US (@netflix). In Twitter.com (Tweet). Unter: https://twitter.com/netflix/status/940051734650503168?s=20 [angefertigt am 12. Dezember 2017].

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Bei den On-Demand-Diensten sind folglich liturgische Ordnungen zu erkennen, die nach ähnlichen Mustern wirken, wie jene des Fernsehprogramms. Offenbar gelingt es ihnen, trotz aller digitalizitären Freiheitsversprechen insbesondere durch ihre zeitliche Taktung weiterhin ein Bedürfnis nach Stabilität der Welt durch eine ritualisierte Mediennutzung zu gewährleisten. Es obliegt nun den Zuschauenden selbst, ihre beruhigenden Rituale zu gestalten und aufrecht zu erhalten, wodurch eine Verlagerung der bisherigen Verantwortlichkeiten auf die Seite der Nutzenden erfolgt. Bisher konnte die liturgische Ordnung des Fernsehprogramms nur angenommen oder verweigert werden, nun muss diese selbst aktiv ausgestaltet und verlässlich praktiziert werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Nun kann jeder Zuschauende sein oder ihr eigener Horror-Host sein. Hierfür reichen Angebote wie Netflix und YouTube mit ihren Videos und Serien nutzbare Bauteile an, die in eigene und individuelle Rituale überführt werden können.

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Veränderung & Varianz

DIE LEBENDIGKEIT DER ABWEICHUNG Serialität wird bestimmt durch die Wiederkehr bestimmter Muster und Elemente. Sie wird bestimmt durch Wiederholung. Dennoch lösen nicht jeden Sonntag im TATORT die immer selben Kommissare den immer selben Fall, präsentieren die Horror-Hosts nicht jede Woche aufs Neue denselben Gruselfilm und kaufen die Fans von PERRY RHODAN nicht jede Woche das gleiche Heft. Hier mag es Ausnahmen geben, die von einer besonders starren Form der Ritualisierung geprägt sind – etwa wenn der Netflix-Film A CHRISTMAS PRINCE von einigen Personen jeden Abend abgerufen wird oder wenn sich die Zuschauenden jedes Jahr auf die erneute Ausstrahlung von DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL1 oder DINNER FOR ONE2 freuen. Den Regelfall bilden sie jedoch nicht. Stattdessen existieren mittlerweile über 1.000 Ausgaben vom TATORT, die zwar untereinander Ähnlichkeiten aufweisen mögen, aber nicht identisch sind. Das scheint dem Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit entgegenzuwirken, denn was dürfte mehr Stabilität erzeugen, als wenn die Rituale nicht nur in erwartbaren, sondern auch in gänzlich identischen Zyklen ablaufen würden? Dies würde die reinste Form von Stabilität verheißen und zudem den Idealzustand der Industriekultur erreichen – nämlich wenn die Abläufe derart standardisiert sind, dass nur noch baugleiche Produkte vom Fließband laufen. Stattdessen produziert das Fernsehprogramm fortlaufend Inhalte und Abfolgen, in denen zwar dieselben Kulissen, Personen, Vorspänne oder Einzelbilder verwendet, dabei aber stets in einen (wenn auch nur leicht) veränderten Kontext eingebunden werden. Es erschafft Episoden

1 | Tři oříšky pro Popelku (Drei Haselnüsse für Aschenbrödel), ČSSR / DDR 1973, Václav Vorlíček. 2 | Dinner For One, D 1963.

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einer Serie „mit denselben Figuren und in denselben Handlungsräumen“ 3, die aber jede Woche die gleichen und eben nicht dieselben Geschichten durchlaufen. Es erschafft Episoden, in denen eine beständige „Wiederholung des Ähnlichen, und damit des Nicht-Identischen“4 vorherrscht. So sehr wie das Fernsehprogramm von Stabilität geprägt ist, herrscht in ihm zugleich eine starke Diskontinuität vor, die sich wiederum im Rahmen von Kontinuität entfaltet. Wieso diese Kombination aus Beständigkeit und Veränderung eine zentrale Komponente in der Ausbildung von Serialität insbesondere für das Fernsehen bildet, leitet Hartmut Winkler in seinem kurzen, aber aufschlussreichen Aufsatz „Technische Reproduktion und Serialität“ her. Darin verknüpft er Serialität und ihr Grundmerkmal Wiederholung eng mit dem Verständnis des Lebens, wie es Henri Bergsons um 1900 in seiner Theorie des Lachens beschrieben hat. Das Leben stellt sich uns dar als ein bestimmtes Nacheinander in der Zeit und Nebeneinander im Raume. In der Zeit betrachtet ist es der stete Fortschritt eines Wesens, das unaufhörlich älter wird: das heißt, es kommt nie zurück und wiederholt sich nie. […] Stete Veränderung des Aussehens, Unumkehrbarkeit der Erscheinungen, vollkommene Individualität einer in sich geschlossenen Reihe, das sind die äußeren Merkmale (gleichwohl, ob wirklich oder scheinbar), die das Lebendige vom einfachen Mechanismus unterscheidet.5

Hierin wird deutlich, dass Bergsons zentraler Ansatz darin besteht, seine Theorie des Lachens aus einem Zusammenspiel zweier gegensätzlicher Instanzen abzuleiten, die auf der einen Seite das Lebendige und auf der anderen Seite das Mechanische umfassen. Diese zentrale Denkfigur seines Schaffens, wird an anderer Stelle seiner Abhandlung plastisch und greifbar, an der er ausführlich erläutert, wieso bestimmte wiederkehrende Gesten eines Redners komisch wirken können: Da sind zum Beispiel die Gebärden gewisser Redner, die mit dem Wort in Wettstreit liegen. Eifersüchtig auf dieses, laufen sie fortwährend hinter dem Gedanken her und möchten auch als Interpret gelten. Das mögen sie, nur müssen sie auch dem Gedanken bis in seine letzten Schattierungen folgen. Die Grundidee einer Rede ist etwas, was entsteht, Knospen treibt, blüht und reift. Nie bricht sie jäh ab, nie wiederholt sie

3 | Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Programms. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 58. 4 | Klippel / Winkler: „Gesund ist, was sich wiederholt“. Hickethier (Hrsg.): Aspekte der Femsehanalyse, S. 125. 5 | Bergson: Das Lachen, S. 51.

Veränderung & Varianz | 183

sich im Verlauf der Rede. Sie ändert sich in jedem Augenblick, denn nicht mehr sich ändern, hieße nicht mehr leben. So sei denn die Gebärde lebendig wie sie! Sie folge dem vornehmsten Gesetz des Lebens, das da ist, nie sich zu wiederholen! Da aber kehrt ein und dieselbe stehende Bewegung der Hand oder des Kopfes in periodischen Abständen immer wieder. Wenn ich sie bemerke, wenn sie so ist, daß sie mich ablenkt, wenn ich sie im weiteren Verlaufe erwarte, und wenn sie sich einstellt da, wo ich sie erwarte, werde ich ganz von selber lachen. Warum? Weil ich jetzt vor mir einen automatisch funktionierenden Mechanismus habe. Das ist kein Leben mehr, das ist Automatismus, der im Leben sitzt und seine Stelle einnimmt. Automatismus aber ist immer etwas Komisches.6

Lässt man in den zitierten Passagen seine umfangreichen Erklärungsversuche des Komischen unberücksichtigt, konkretisiert sich darin sein Modell, in dem sich Leben und das Mechanische gegenseitig ausschließen. Das wahrhaft lebendige Leben soll sich eben nie wiederholen. Da, wo Wiederholung und völlige Gleichheit ist, argwöhnen wir immer einen hinter dem Lebendigen arbeitenden Mechanismus.7

In Bergons Schilderungen steht für Hartmut Winkler das Mechanische dem Leben nicht nur als einfacher Antagonist gegenüber. Es fungiert mit all seiner Vielschichtigkeit vielmehr „als eine Gegeninstanz, als ein Platzhalter jener Komplexität, von der aus das Mechanische als Mechanisches überhaupt in den Blick genommen werden kann.“8 Daraus schlussfolgert er nun, dass diese „mechanische Wiederholung“ unbedingt vermieden werden müsse, da sie dem grundsätzlichen Prinzip des Lebens wiederstrebe und auf diese Weise jedem Inhalt seine Lebendigkeit rauben könnte. In einem anderen Text bringt er diesen Gedanken erneut zum Ausdruck: Bekommen wir zwei Mal exakt das Gleiche erzählt, fühlen wir uns wenig ernst genommen; spricht jemand in Formeln oder Redensarten, halten wir ihn für stereotyp. Insbesondere die wörtliche Wiederholung wird als mechanisch und ‚tot‘ angesehen.9

6 | Ebd., S. 22f. 7 | Ebd., S. 24. 8 | Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 40. 9 | Winkler: Basiswissen Medien, S. 219.

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In diesem Vorbehalt wäre für ihn auch die Begründung zu suchen, weswegen in einem (Kino-)Film gewöhnlich dieselben Sequenzen nicht mehrfach verwendet werden.10 Für das Fernsehen erkennt Winkler gleich mehrere Maßnahmen, um solche mechanischen Wiederholungen gezielt ausschließen zu können. Dazu gehöre etwa der im vorangegangenen Kapitel zum „Flow“ erläuterte, charakteristische Aktualitätsdrang des Programms, der gezeigtes Material zyklisch entwertet und deswegen seine fortwährende Mehrfachverwendung verhindert. Entscheidender aber sei die Durchsetzung einer „nicht-mechanischen Serialität“: Serien, Fernsehserien oder periodische Sendeformen operieren mit einem Kalkül aus Konstanz und Variation. Indem sie konstante Settings innerhalb bestimmter Grenzen variieren, einzelne Elemente zu Variablen machen und andere als Momente der Beharrung bewußt konstant halten, umspielen sie den Ort, den die tatsächliche Wiederholung einnehmen würde; diese tatsächliche Wiederholung stellt die objektive Grenze dar, der das Spiel sich beliebig annähern, die es aber nie berühren darf. 11

Serielle Formate stehen demnach vor der Herausforderung, ein Ausmaß an Stabilität, Rückhalt und Sicherheit liefern zu müssen, deren Dimensionen allerdings nie das Mechanische berühren dürfen, um nicht aus dem Fokus des Lebens zu rücken. Daher enthält die „Wiederkehr des Gleichen in der Serie immer auch ein Versprechen auf Neues“, wobei „das Neue des Seriellen stets auf dessen invariante Bestandteile“ verweist.12 Serielle Formen (des Fernsehens) operieren folglich auf der Trennlinie zwischen Redundanz und Erneuerung und müssen dieses Verhältnis stets neu aushandeln und im Gleichgewicht halten. Das komplexe Wechselspiel aus Wiederholung und Erneuerung vollzieht sich als „variierende Wiederholung“13, bei der „Verlässlichkeit und Attraktion“14 gleichzeitig vorherrschen. In ihr zeigt sich „Reproduktion als Innovation“15

10 | Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 43. 11 | Ebd., S. 44. 12 | Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 350. 13 | Kelleter: Populäre Serialität: Eine Einführung. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 11. 14 | Ebd., S. 21. 15 | Jahn-Sudmann / Kelleter: Die Dynamik serieller Überbietung. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 207.

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Aus diesem Modus einer sich fortwährend entwickelnden und aktualisierenden Produktreihe speist sich wiederum die nicht abbrechende Nachfrage nach immer neuen zu konsumierenden Waren. Erst die Abweichung vom Immergleichen bewirkt die für eine Industriekultur essenzielle Produktion neuer Bedürfnisse. Erneut kann in diesem Zusammenhang auf Hans Freyer verwiesen werden: Die Warenserien des Produktionsapparats würden nicht optimal ankommen, sie wären weder dem Bedarf der vielköpfigen Normalverbraucherschaft angepaßt noch hätten sie Aussicht, in ausreichendem Maße neue Bedürfnisse zu wecken, wenn sie nicht mit dem Prinzip der Standardisierung das der Differenzierung zu verbinden wüßten. […] Jede Ware muß in so vielen Ausfertigungen auf den Markt gebracht werden, daß sie sowohl nach ihren Preislagen wie nach ihren Dessins alle schichtenspezifischen Wünsche für sich einfängt.16

Damit zeigt sich Serialität als stetige Redundanz, die ihre Durchsetzung in Form fortwährender Erneuerung realisiert. Sie vollzieht sich in einem möglichst bruchfreien Wandel und unter Vermeidung allzu umwälzender Veränderungen, sodass eine stabilisierende Konstanz weiter spürbar bleibt. In ihr wiederholen sich zugleich jene Veränderungen von wiederkehrenden Mustern, die in die globalen Kreisläufe der Natur eingeschrieben sind und die Existenz als solche prägen. […] in der Wiederholung von Tag und Nacht findet auch die langsame Veränderung vom Winter zum Sommer und wieder zum Winter statt. Die Wiederholung ist keine mechanisch gleiche Abfolge des Immergleichen, sondern wird im Zyklus erfahren. Das Wiederholende weist Strukturen größerer und kleinerer Ordnungen auf. Auch die Sonnenwenden wiederholen sich, ergeben den Gang eines Jahres im Verlauf eines Umlaufs der Erde um die Sonne. Die kleinen überschaubaren Einheiten sind scheinbar immer gleich, die in ihnen eingeschriebenen Veränderungen ergeben sich erst im reflektierten, distanzierten Blick.17

16 | Freyer: Schwelle der Zeiten, S.253f. 17 | Hickethier: The Same Procedure. In: Felix et. al. (Hrsg.): Die Wiederholung, S. 54.

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EPISODEN UND FORTSETZUNGEN Die bedeutsame „Variation eines Schemas“ 18 kann im Format der fernsehhaften Serie verschiedene Varianten erfahren. Im fernsehwissenschaftlichen Diskurs hat sich für deren Beschreibung seit Längerem ein dichotomes Modell etabliert, welches seine zwei Ausprägungen darin findet, „etwas ‚wieder‘ zu erzählen einerseits und etwas ‚weiter‘ [zu] erzählen andererseits“.19 Es ist die längst auch außerhalb wissenschaftlicher Publikationen geläufige Unterscheidung von Serien in „series“ und „serials“: Während das serial auf das Moment der Fortsetzung setzt und eine offene, noch nicht geschriebene Zukunft impliziert, garantiert die series die fortdauernde Wiederkehr des immer gleichen Schemas und propagiert damit gerade keine offene, sondern eine erwartbare Zukunft. Zu dieser Erwartbarkeit trägt freilich ein Moment der Kontinuität bei, wenn die Protagonisten konstant bleiben und allenfalls die für die Konflikte Verantwortlichen von Folge zu Folge wechseln. 20

Eine solche Klassifizierung wird insbesondere auf fiktionale Serien angewandt und spaltet das umfangreiche Angebot auf Grundlage der jeweils in ihnen angewandten Erzählweisen in die zwei Lager der Episodenserien (series) und der Fortsetzungsgeschichten (serials) auf. Die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Form der Unterteilung in der Diskussion behauptet, mag sich aus der Schlichtheit dieses zweipoligen Modells herleiten, das sich einzig damit begnügt, „die Morphologie der Serie narratologisch zu gliedern“.21 Als alternatives Vorgehen plädiert Jens Ruchatz dafür, sich intensiver mit den „Erzählformen als Bedeutungsträger“ auseinanderzusetzen. So produktiv sich ein derartiges Vorgehen in seinem Aufsatz zeigt, beschränkt es sich weiterhin auf fiktionale Serienformen und damit auf das Genre der (Fernseh-)Serien im eigentlichen Sinne. Einen globaleren Ansatz wählt John Ellis, der zwar ebenso die wenig komplexe Zweiteilung übernimmt, sie aber auf nahezu alle Sendungsformen des Fernsehprogramms anwendet. Dies nimmt er in seinem 1992 veröffentlichten Buch „Visible Fictions: Cinema, Television, Video“ vor, das in Teilen ins Deutsche übersetzt

18 | Giesenfeld: Serialität als Erzählstrategie in der Literatur. In: Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten, S. 4. 19 | Schabacher: Serialisieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 510. 20 | Ruchatz: Sisyphos sieht fern. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft, S. 81. 21 | Ebd.

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wurde und mittlerweile als ein Grundlagentext der Fernsehwissenschaft angesehen wird. Darin bezeichnet er solche Formate als „Mehrteiler“ (deutsche Übersetzung für „serials“), die auf eine einige Wochen entfernt liegende Konklusion abzielen und dafür die gegebenen Möglichkeiten ihrer Figuren nutzen würden, um mit den Permutationen aus Beziehungen und Situationen zu spielen.22 Mit ihrem Voranschreiten gehe ein spezifisches Wissen einher, das während der Ausstrahlung angesammelt werde. Demgegenüber stünden die Endlossserien (deutsche Übersetzung für „series“), die eine stabile Situation begründen, innerhalb derer sich unterschiedliche Dinge zutragen. Gewöhnlich bilden die Ereignisse einer Folge eine komplette Einheit (außer im Fall der Soap). Eine solche Definition der Endlosserie trifft auf fast alles zu, was im Fernsehen gezeigt wird: Nachrichten, investigative Dokumentationen, Sitcoms, Shows, Talkshows, Sportsendungen. Die Endlosserie impliziert grundlegende Stabilität und die Rückkehr zum Status quo am Ende jeder Sendung oder eines jeden Sendeteils. Nachrichten, Aktuelles, Dokumentationen und Talkshows stellen alle ein festes Format dafür bereit, Ereignisse aus der jenseits des Fernsehens existierenden Welt erscheinen zu lassen.23

Ohne dass John Ellis und Stanley Cavell explizit aufeinander Bezug nehmen, ergänzen sich ihre Darstellungen gegenseitig. So bezieht sich Cavell in seiner Beschreibung von Serialität ausdrücklich auf Talkshows und Sitcoms, die er als besonders seriell und damit als besonders fundamental für das televisionäre Prinzip bewertet. Er typisiert sie als Gleichung, die wie ihr mathematisches Gegenstück durch feste Formeln „wiederkehrende Merkmale“ von Figuren und Beziehungen definieren und dadurch Kontinuität erzeugen würden.24 Ähnlich wie bei Improvisationen im Jazz, wo zuvor ein gemeinsames Muster für Riffs festgelegt wurde, werde in seriellen Formaten die jeweilige Formel durch kleine Differenzen derart ausgestaltet, dass die Episoden auf diese Weise leicht variieren, sich aber nie grundlegend voneinander unterscheiden.25 Dadurch würden die Episoden nicht aufeinander aufbauen und die Formel nicht weiterentwickelt, sondern so-

22 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 55. 23 | Ebd., S. 56. 24 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 138. 25 | Ebd., S. 141.

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lange divergieren, bis sich ihre Variabilität und Fruchtbarkeit erschöpft habe.26 Während die klassische Narration etwa im (Kino-)Film dadurch gekennzeichnet sei, dass eine stabile Situation durch ein Ereignis der Differenz in eine neue stabile Situation überführt wird, würden in serialisierten Fernsehformaten die auftretenden „Krisen oder Ereignisse [...] zu keiner Fortentwicklung der Situation führen.“ Vielmehr seien die dort erzählten Handlungen... [...] lediglich Störungen und Ausnahmezustände – durch Humor, Abenteuer, Glück oder Elend -, die jeweils ihrem natürlichen Lauf folgen und sich schließlich in das Reich des Ereignislosen einfügen [...].27

Cavell bringt folglich ein sehr schablonenhaftes Verständnis von Serien zum Ausdruck, bei denen die Episoden abgeschlossen sind – deren Handlungen stets zum Ausgangspunkt zurückkehren – und schreibt ihnen eine stabile diegetische Welt zu, in der die Figuren und die Grundkonstellationen keine relevanten Veränderungen erfahren. Die Formel einer Serie – so könnte man schlussfolgern – bildet dann einen Rahmen des Ereignislosen, in dem sich die kleinen Störungen der einzelnen Episoden zutragen, allerdings ohne diesen abändern zu können. So hitzig die Debatte in einer Talkshow auch ablaufen mag, in der nächsten Ausgabe wird ein anderes Thema besprochen werden, das in keinem Zusammenhang dazu steht. Egal wie gruselig der von den Horror Hosts vorgestellte Film ist, in der kommenden Woche werden sie davon völlig unbeeindruckt einen neuen präsentieren. Auch wenn das Ermittler-Duo den Mörder in letzter Sekunde überführen kann, schon in sieben Tagen stürzen sie sich auf den nächsten Fall, als hätte es die Vorgänger nie gegeben. Selbst innerhalb ihrer engen Abgrenzungen und nur auf (Fernseh-)Serien im engeren Sinne bezogen, zeigt sich die generelle Strenge der Dichotomie zwischen „series“ und „serial“ als fehlbar, da die angenommenen Reinformen faktisch kaum anzufinden sind. Längst werden zahlreiche Episodenserien ebenso um „episodenübergreifende narrative Elemente“ 28 ergänzt, für die der Medienwissenschaftler Horace Newcomb den Begriff des „cumulative narrative“ entwickelt hat.

26 | Engell: Fernsehtheorie zur Einführung, S. 17. 27 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 151. 28 | Ruchatz: Sisyphos sieht fern. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft, S. 81.

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In this pattern, each episode of a television series can ‚stand alone‘. That is, the plot is completed within the allotted time. Yet it relies on and frequently makes specific reference to aspects of character, motivation, and even story that have occurred in previous episodes. Regular viewers are rewarded with the pleasure of remembering these references, understanding complexities rising from new character developments, and recognizing the potential for future events and characterizations, whereas single-episode viewers take pleasure in the full completion of a specific plot. The ‚cumulative narrative‘ might be said to encompass something of a meta-plot that extends over the entire series, in a manner similar to, but distinct from, the fully serialized narrative.29

Tatsächlich zeigt sich das (fiktionale) Angebot des Fernsehprogramms von Mischformen dominiert, die sich zwischen den beiden Endpunkten der narratologischen Skala bewegen und die Faktoren Kontinuität und Diskontinuität verschieden gewichten. Daher plädieren die Autor*innen Gaby Allrath, Marion Gymnich und Carola Surkamp für ein grundlegend dynamisches Modell zur Einteilung von Serien und schlagen vor, zwischen den Idealtypen series und serial ein Spektrum an möglichen Mischformen der erzählerischen Kontinuität aufzuspannen, in die sich jede Produktion individuell einordnen lässt. 30 Um den Grad der Kontinuität präziser bestimmen zu können, erweitern die Medienwissenschaftler*innen Tanja Weber und Christian Junklewitz das Modell schließlich um die Faktoren Fortsetzungsreichweite (über wie viele Folgen erstreckt sich ein Handlungsbogen) und Fortsetzungsdichte (wie verhält sich der Umfang der fortgesetzten gegenüber abgeschlossenen Folgen). Damit überführen sie das Konzept des Kontinuums in jenes der „intraserialen Kohärenz“.31

YOUTUBE ALS LOOPINGBAHN Ein Erklärungsmuster, das den Aufbau und die Funktionsweise einer solchen hybriden Erzählweise beschreibt, hat der Medienwissenschaftler Markus Kuhn in einem Aufsatz am Beispiel von „lonelygirl15“ vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine aufeinander aufbauende Reihe von Videos, deren erste Folge am

29 | Newcomb: Narrative and Genre. In: Downing (Hrsg.): The SAGE Handbook of Media Studies, S. 422. 30 | Allrath et. al.: Introduction: In: Allrath / Gymnich (Hrsg.): Narrative Strategies in Television Series, S. 6. 31 | Weber / Junklewitz: Das Gesetz der Serie. In: MEDIENwissenschaft, S. 23f.

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16. Juni 2006 auf YouTube hochgeladen wurde. Dass sich seine Gedanken, die er anhand eines ursprünglich für die Plattform YouTube hergestellten Formats entwickelt, heranziehen lassen, um fernsehhafte, serielle Erzählmuster veranschaulichen zu können, zeigt die erhebliche Deckungsgleichheit und gegenseitige Nähe beider Bereiche. In den betreffenden Videos berichtet die 16-jährige Bree unter dem Usernamen „lonelygirl15“ über die alltäglichen Ereignisse ihres Lebens: In vielen der ersten 30 seriellen Filmclips erzählte Bree frontal in die Kamera blickend aus ihrem Jugendzimmer heraus von den Problemen mit ihren Eltern, ihrem besten Freund Daniel, ihrem Hausunterricht und der seltsamen Religion ihres Elternhauses.32

Später wird sich herausstellen, dass sich hinter dem Mädchen tatsächlich eine inszenierte Kunstfigur verbirgt, die von der 19-jährigen Schauspielerin Jessica Rose verkörpert wird und ihre als echt angenommenen Geschichten tatsächlich Teil einer fiktionalen Erzählung der Filmemacher Miles Beckett, Mesh Flinders und Greg Goodfried sind. Diese gelungene Täuschung, deren Entlarvung eine weltweite Entrüstung und Besprechung auslöste, machte den Kanal und die Videos von „lonelygirl15“ medienwissenschaftlich relevant und führte zu einer Reihe von akademischen Auseinandersetzungen (u.a. durch Jean Burgess & Joshua Green33, Gabriel Menotti34, Eggo Müller35, Rainer Hillrichs36 und Torsten Näser37; Markus Kuhn nennt in seinem Aufsatz mit Joshua Davis und Michael Newmann noch zwei weitere Autoren.) Die Frage, mit welchen Mitteln es gelungen ist, eine fiktionale Produktion als authentisches Artefakt glaubwürdig zu tarnen, soll an dieser Stelle allerdings noch aufgeschoben und erst im Kapitel zur „Liveness“ aufgegriffen werden. Entscheidender ist zunächst der von Kuhn festgestellte serielle Aufbau der Videos, dem er eine „extrem stereotype formale Struktur“ zuordnet:

32 | Kuhn: YouTube als Loopingbahn. In: Schumacher / Stuhlmann (Hrsg.): Videoportale: Broadcast Yourself?, S. 120. 33 | Burgess / Green: The Entrepreneurial Vlogger. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 89 - 107. 34 | Menotti: Objets Propagés: In: Lovink / Mile (Hrsg.): Video Vortex Reader II, S. 70 - 80. 35 | Müller: Not only Entertainment, S. 244ff. 36 | Hillrichs: Poetics of Early YouTube, S. 42ff. 37 | Näser: Authentizität 2.0. In: kommunikation @ gesellschaft, S. 3.

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Bree setzt sich in ihrem Zimmer vor ihre Webcam oder eine Kamera, die sie auf einen feststehenden Gegenstand gelegt hat, und spricht frontal in die Kamera hinein oder inszeniert sich, einen Tanz, ihre Gegenstände (z. B. Stofftiere, Bücher) oder Ähnliches vor der feststehenden Kamera. In beinahe jeder Folge kehrt die gleiche Konstellation zurück: das gleiche Zimmer, eine vergleichbare Perspektive, das Mädchen vor der Kamera. […] Zugleich wird diese Konstellation durch andere Gegenstände, andere Kleidung, andere Themen in der sprachlichen Repräsentation variiert.38

Aus diesen Beobachtungen zieht Kuhn schließlich das entscheidende Fazit: Es handelt sich um eine Reihe an vergleichbaren Clips mit vergleichbaren formalen Grundmustern, also eine zyklische Wiederholungs-Struktur mit geringfügigen Variationen, eine serielle Rekursion mit geringfügiger Verschiebung.39

Kuhn erkennt in der Sammlung von YouTube-Videos ein gleichzeitiges Auftreten von Kontinuität und Diskontinuität und beschreibt damit eine Anordnung, die Werner Faulstich als eine „Wiederkehr des Immergleichen unterm Schein der Variation“40 benannte, aber ursprünglich auf Fernsehserien bezog. Wie bei den genannten narratologischen Hybrid-Serien des Fernsehprogramms liefern die Videos von „lonelygirl15“ zusätzlich zu ihren zyklischen Berichten eine episodenübergreifende Narration und eine Entwicklung der auftretenden Figur(en). Dies wird vor allem darin deutlich, dass Bree „ihre Einstellung zu bestimmten Themen und Begebenheiten“41 verändert. Zugleich entfaltet sich ein Plot um die „seltsame religiöse Organisation“ der Eltern, der sich über die Folgen hinweg mit Geheimbotschaften und Entführungen bis zum Tod des Vaters zuspitzt. 42 Weil sich hinter dieser angewandten Erzählweise eben keine reine Kreisbewegung verbirgt, wählt Kuhn zur Charakterisierung der Serie die Denkfigur einer Loopingbahn, für die er auf Basis eines Textes der Gesellschaft für Medienwissenschaft folgende Beschreibung entwickelt:

38 | Kuhn: YouTube als Loopingbahn. In: Schumacher / Stuhlmann (Hrsg.): Videoportale: Broadcast Yourself?, S. 121f. 39 | Ebd., S. 122. 40 | Faulstich: Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Giesenfeld: Endlose Geschichten, S. 48. 41 | Kuhn: YouTube als Loopingbahn. In: Schumacher / Stuhlmann (Hrsg.): Videoportale: Broadcast Yourself?, S. 122. 42 | Ebd., S. 126.

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[Das Konzept des Loopings] bezieht sich auf alle denkbaren Formen und Phänomene der Schlaufen und Schleifen, der Rekursionen und Feedbacks, der Wiederkehr und der Wiederholung, der Kehren, Wenden und Turns. [Loopings] sind als Verlaufsfiguren medialer Prozessualität beschreibbar. [...] Eine besonders wirksame Form findet der ‚Loop‘ in den Wiederholungszyklen massenmedialer und kulturindustrieller Zusammenhänge.43

Dieses Modell ist äußerst geeignet, um sowohl die Videos von „lonelygir15“, aber auch andere serielle Erzählungen zu kennzeichnen, da eine Loopingbahn im Gegensatz zu einer reinen Kreisbewegung mit jedem Umlauf auch immer eine gleichzeitige Fortbewegung erfährt. Sie vollführt eine Rückkehr an einen Punkt, der gegenüber dem ursprünglichen Ausgang etwas verschoben ist und damit Raum für sukzessive Entwicklungen freigibt. In ihr bildet sich die für eine Fernsehhaftigkeit substanzielle Synthese aus Kontinuität und Diskontinuität ab. Ein vergleichbares Vorgehen ist auf dem YouTube-Kanal von Bianca Claßen zu entdecken, wo sich das im vorangegangenen Kapitel bereits herangezogene Video über ihre vorgetäuschte Schwangerschaft nahtlos in einen wiederkehrenden Zyklus aus anderen sogenannten Prank-Videos einreiht. Die in ihnen ausgeführten Streiche folgen in der Regel demselben Ablauf, der damit beginnt, dass sie die Zuschauenden flüsternd über ihren heutigen Plan informiert, bevor sie diesen dann mit versteckter Kamera an ihrem Ehemann Julian ausführt. Zum Ende wird gemeinsam über den gelungenen Scherz gelacht und eine vertraute Harmonie ausgestellt, sodass gemeinsam noch auf andere Videos ihrer Kanäle hingewiesen werden kann.

43 | Ebd., S. 121.

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Abbildung 20: Sammlung der Pranks von Bianca Claßen.44

44 | Screenshot der Suchergebnisse von YouTube zu den Schlagworten „bibis beauty palace pranks“ [angefertigt über YouTube.com (Browser) am 25. September 2018].

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Obwohl die Inhalte der Pranks mit möglichen Schwangerschaften oder Treuetests substanzielle Themenbereiche für eine Partnerschaft berühren, besteht dennoch zu keiner Zeit eine ernsthafte Gefahr für den Erhalt der Grundkonstellation der Reihe. Die Schwangerschaft etwa ist ja nur vorgetäuscht. Vielmehr simuliert das Format lediglich eine Bedrohung für die vertraute Paar-Konstellation, nur um nach wenigen Minuten das gewohnte Setting wieder herzustellen und in die Nähe des Ausgangspunkts des Videos zurückzukehren. Es ist exakt jenes Erzählmuster, das Stanley Cavell für Sitcoms und Talkshows formuliert: Die Ereignisse sind lediglich Störungen und Ausnahmezustände – durch Humor, Abenteuer, Glück oder Elend – , die jeweils ihrem natürlichen Lauf folgen und sich schließlich in das Reich des Ereignislosen einfügen.45

Neben einer grundsätzlich episodenhaften Grundstruktur durchziehen die meisten ihrer Videos zusätzliche übergreifende Handlungsbögen. Zuweilen sind die Pranks in Zusammenfassungen ihrer Erlebnisse der vergangenen Woche oder wie bei der vorgetäuschten Schwangerschaft in ein Reise-Tagebuch eingebettet. (Bianca Claßen vollzieht den Streich kurz nach ihrer Ankunft in den USA und kündigt darin weitere Videos von der Reise an.) Diese parallel ablaufenden Erzählungen bringen die jeweiligen eigentlich für sich stehenden Streiche mit anderen vorausgegangenen und nachfolgenden Videos in eine aufeinander aufbauende Reihung, welche allesamt Kapitel in der großen Erzählung ihrer gemeinsamen Beziehung darstellen. In den Videos wird auf der Narrationsebene eine andauernde Loopingbahn vollzogen, die Markus Kuhn in den Beiträgen von „lonelygirl15“ identifiziert hat und für signifikant für das gesamte Angebot von YouTube hält. Serielle Loops sind typisch für viele andere YouTube-Formate. Um nur ein Beispiel zu nennen, das strukturelle Parallelen zu lonelygirl15 aufweist: die Musik-Kanäle junger Mädchen, die auf einer akustischen Gitarre selbstgeschriebene Songs und Cover-Versionen vor ihrer Webcam performen wie Mia Rose, Esmée Denters oder Marié Digby – auch ein serielles Muster, mit dem zumindest die hier genannten Personen berühmt werden konnten. Das Prinzip gilt für viele Formen, die sich auf YouTube etablieren konnten.46

45 | Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 151. 46 | Kuhn: YouTube als Loopingbahn. In: Schumacher / Stuhlmann (Hrsg.): Videoportale: Broadcast Yourself?, S. 131.

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Die Idee der Loopingbahn basiert auf einer verschachtelten Verzahnung von Kontinuität und Diskontinuität und beschreibt einen fortschreitenden Stillstand. Es erfasst jenes Prinzip, das zuvor für das serielle Erzählen in fernsehhaften Umgebungen hergeleitet wurde und kann deswegen auf die Muster des Fernsehprogramms übertragen werden. Dies erkennt Kuhn ebenfalls und stellt fest: Der Mechanismus, den ich hier als In-Serie-Gehen von seriellen Loopings bezeichne, ist mit Konventionsbildungen vergleichbar, wie wir sie bei der Genese von Fernsehformaten und teilweise auch von Fernseh- und Kinogenres kennen. Auch serielle Casting-Formate, Show-Formate und Handlungsmuster können in Serie gehen. 47

Die spezifische Serialität von „Let’s Play-Videos“ hat Dominik Maeder untersucht und ebenso eine hybride Struktur entdeckt, die sich in seiner Schilderung allerdings aus einer Serialität des Formats und aus einer Serialität, die sich aus den jeweiligen Computerspielen generiert, zusammensetzt. Mit zuletzt genannter „ludischen Serialität“ meint er die „Sukzession, Repetition und Variation innerhalb eines Spiels, etwa durch Level, Missionen, Speicherpunkte, usw.“48, die viele Games in sich führen und auf die entsprechenden YouTube-Videos übertragen.49 Ein Let’s Play-Video könne folglich „fallweise entweder serial oder episodisch auslaufen, je nachdem welche serielle Organisation das Spiel selbst annimmt.“50 Als Ebene über jener ludischen Serialität läge aber die Serialität des Formats, die Maeder bezeichnenderweise als „televisuelle Serialität“ benennt. Sie speise sich vor allem aus der „Voice-over-Kommentierung“ und aus wiederkehrenden Elementen, wie „Schnitt und Montage“, „Sprechformen“, „Stimmen“ und natürlich einer personellen Konstanz, die entweder allein oder in ihrer Summe als Erkennungsmerkmale dienen.51

47 | Ebd. 48 | Maeder: Kohärenz, Permutation, Redundanz. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 76. 49 | Neben der „ludischen Serialität“ beschreibt Maeder die „interludische Serialität“, die ebenfalls aus den dargestellten Spielen resultiert und dann auftritt, wenn sie selbst „Fortsetzungen, Spin-offs oder Remakes“ anderer Titel sind. Diese Typologie übernimmt der Autor von Shane Denson und Andreas Jahn-Sudmann. (Denson / JahnSudmann: Digital seriality: In: Eludamos, S. 11.) 50 | Maeder: Kohärenz, Permutation, Redundanz. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 79. 51 | Ebd., S. 81.

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Wird in den sprachlichen Hinweisen auf zeitlich vorher aufgezeichnete Videos verwiesen und damit ein Bezug zwischen den einzelnen Folgen hergestellt, könnten die Videos eine Nähe zur Soap Opera ausbilden. Meist aber hätten solche Verweise kaum Auswirkungen auf das Verständnis der einzelnen Ausgaben, sodass Let’s Play-Videos „problemlos mit Brüchen und Abbrüchen, Sprüngen, Umwegen, Unterbrechungen und anderen Formen von Inkohärenz umgehen“ könnten und sich eher am Genre der Sitcoms orientieren würden.52+ 53 Denn die sitcom setzt sich zwar fort, aber nicht auf der Ebene der Diegese, sondern nur als Iteration ihrer selbst. Sie weist damit gar keinen Handlungskern, sondern lediglich Elemente und Dispositionen auf, die situativ neu miteinander kombiniert, permutiert werden können.54

ZIRKULATION ALS DIGITALIZITÄRE FORM VON SERIALITÄT In seinem Buch „Understanding YouTube“ widmet sich Roman Marek ausführlich der Zirkulation von Videos innerhalb der Plattform und erhebt dieses Phänomen zu einem kulturellen Prozess. Wie sich zeigen wird, kommen in ihm einige charakteristische Wesensmerkmale des seriellen Erzählens zum Vorschein. Marek beschränkt sich dabei nicht auf die „bloße Weitergabe“ von Material, also auf einen reinen Wechsel aus Up- und Download, sondern begreift Zirkulation als eine Form von „Prozessen der Anreicherung, Neukombination, Auswahl und Modifikation des im Umlauf befindlichen Materials“.55 Er erläutert dies exemplarisch am Video „LEAVE BRITNEY ALONE“ von Chris Crocker, der sich darin über den allgemeinen, öffentlichen Umgang mit der Popsängerin Britney Spears beschwert. Wie Marek schreibt, habe der Original-Clip zwar allein auf YouTube 45 Millionen Klicks56 angesammelt, würde seine popkulturelle Relevanz aber vor allem aus den unzähligen Videoantworten, Kommentierungen,

52 | Ebd., S. 80. 53 | Bei seinem Verständnis von Sitcom bezieht er sich ausdrücklich auf Stanley Cavell. 54 | Ebd., S. 80. 55 | Marek: Understanding YouTube, S. 75. 56 | Diese Zahl bezieht sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buchs im Jahr 2013. Mittlerweile ist der YouTube-Kanal gemeinsam mit dem ursprünglichen Video von Chris Crocker gelöscht. Es lässt sich jedoch weiterhin in Form unzähliger ReUploads einsehen.

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Imitationen, Mash-Ups und Re-Uploads beziehen. Crocker selbst erfuhr aufgrund dieser Reaktionen eine Aufwertung als „YouTube-Trash-Star“57, was sich wiederum in Form von Presseberichten, Nachrichtenbeiträgen, Interviews und Talkshowauftritten auch außerhalb der Plattform niederschlug. In der Auseinandersetzung mit den Mechanismen und Bedingungen, unter denen eine solche Zirkulation auf YouTube erfolgt, identifiziert Marek mehrere Modi (Klone, Recylingvideos und Nachahmungen/Parodien), die jedoch allesamt auf dem gleichen Prinzip fußen, nämlich einem Aufgreifen und Rekontextualisieren von vorhandenem Material. Neben verbalen Kommentierungen oder Videoantworten, in denen meist das Verhalten von Crocker kommentiert und bewertet wird, lassen sich Videos finden, in denen die Tonspur des Ausgangsmaterials beibehalten und mit neuen Bildern kombiniert58 oder Teile der originalen Tonspur gesampelt und neu montiert wurden.59 In einem besonders markanten Beispiel werden Crockers Sätze benutzt, um damit eine Szene aus der Zeichentrickserie SPONGEBOB SCHWAMMKOPF60 zu synchronisieren.61 Selbst beim erneuten Hochladen von manuell unverändertem Material (Re-Uploads) unterscheiden sich die Ergebnisse durch verschiedene Längen, Verzerrungen der Bildproportionen62 oder Qualitätsverluste durch De-Komprimierung und Komprimierung beim Download- und Upload-Prozess. Ebenso kann durch das Abfilmen vom Bildschirm63 oder das Hinzufügen von Logos64 eine qualitative Distanz zwischen Ausgangsmaterial und den zirkulierenden Klonen auftreten. Wie Markus Kuhn in seinem Beitrag aufzeigt, ist um die Videos vom „lonelygirl15“ ein vergleichbarer Mikrokosmos aus Parodien, Kommentaren, Verfremdungen und Videoantworten entstanden, in denen die Erzählung von

57 | Gemeint sind damit „gewöhnliche Menschen, die zu Ruhm gelangten, weil sie in vernetzten Öffentlichkeiten lächerlich gemacht wurden.“ Hierbei handele es sich um einen „besonderen Online-Typus von zufälligen Berühmtheiten und Micro-Celebrities, die irgendwo im Übergangsbereich anzusiedeln sind zwischen Freaks, die beobachtet und bemitleidet werden, Narren, die man auf den Arm nimmt und erniedrigt, und Ikonen, die verehrt und glorifiziert werden.“ (Brilli: Zwischen Trash und Transzendenz. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft, S. 21f.) 58 | Marek: Understanding YouTube, S. 80. 59 | Ebd., S. 145. 60 | SpongeBob SquarePants (Spongebob Schwammkopf), USA seit 1999. 61 | Marek: Understanding YouTube, S. 111. 62 | Ebd., S. 113. 63 | Ebd., S. 114. 64 | Ebd., S. 101.

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Bree ohne das Mitwirken der eigentlichen Macher*innen von unzähligen User*innen erweitert wird. Die Zirkulation entspricht daher einem Prozess, der sich potenziell unendlich fortsetzt, verselbständigt und die Verbindungen zum ursprünglichen Ausgangsmaterial immer mehr verblassen lässt. Als einen Spezialfall benennt Marek Parodien, die auf eine Verwendung jeglichen audiovisuellen Ausgangsmaterials verzichten, wohl aber markante Elemente wie Habitus, Gestik, Stimmlage, bestimmte Formulierungen, Sätze und Frisuren nachahmen und wiederverwenden.65 Trotz dieser absichtlichen Überzeichnung und Verfremdung bleibt der Bezug zur Vorlage ersichtlich und eine semantische Verbindung erhalten, die zugleich für Stabilisierung sorgt: Aus dem Verborgenen verdeckt vom bunten Trubel aus Bewegung und Varianz, wirken die Automatismen der Wiederholung als stabilisierender Faktor; sie fassen das Flüchtige, fangen es ein.66

In seiner Herleitung führt Roman Marek alle von ihm beschriebenen recycelten und geklonten Videos einheitlich auf das „LEAVE BRITNEY ALONE“ von Chris Crocker als ursprüngliche, originäre Quelle zurück. Tatsächlich aber zeigt sich der Prozess der Zirkulation als weniger zielgerichtet und nachvollziehbar. Vielmehr entsteht durch dieses Verfahren, so hat es Jürgen Felix formuliert, eine „neue Art der Ikonologie: ein Universum der zirkulierenden Images“ 67. Veranschaulichen lässt sich die Wirkungsweise am Beispiel der kurzen Aufnahme einer helltönig kreischenden Ziege. Der Ausschnitt der sogenannten „Screaming Goat“ ist mehrfach in der Bibliothek von YouTube zu finden, sodass offen bleibt, welche der vielen Quellen das einstige Ausgangsmaterial darstellt. Zugleich umfasst das Angebot von YouTube unzählige andere Aufnahmen von Ziegen, aber auch von anderen Tieren, die ebenfalls markante, oft menschenähnliche Schreie ausstoßen. Welches dieser Videos das Phänomen angestoßen hat, lässt sich schlicht nicht (mehr) feststellen, auch wenn die Aufnahme eines spezifischen Ziegenschreis besonders häufig in Erscheinung tritt. Unter anderem wurde dieser von Nutzenden mit dem Musikvideo „I Knew You Were Trouble“ von Taylor Swift kombiniert und derart im Refrain platziert, dass er sich erstaunlich harmonisch in

65 | Ebd., S. 260. 66 | Ebd., S. 310. 67 | Felix: Nachbilder. In: Felix et. al. (Hrsg.): Die Wiederholung, S. 63.

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die Melodie des Songs integriert.68 Es lassen sich allerdings auch Songs von anderen Künstler*innen wie Katy Perry, Bon Jovi, Miley Cyrus oder David Guetta finden, in denen entweder der gleiche Ziegenschrei oder Schreie von anderen Ziegen hineinmontiert wurden. Zu diesen Songs, die meist im Titel mit dem Zusatz „Goat Remix“ gekennzeichnet sind, existieren zahllose Videos, in denen Menschen diese im Playback-Verfahren und lippensynchron vor ihren Kameras vortragen und dabei möglichst kreative Wege suchen, um die Ziegenschreie zu akzentuieren. Die Bibliothek beinhaltet aber auch ein Video, das einen Auftritt des Künstlers „Passenger“ zeigt. Darin ist dieser zu sehen und zu hören, wie er nur von seiner Akustik-Gitarre begleitet das Lied „I Knew You Were Trouble“ gefühlvoll vorträgt, im Refrain dann aber an der entscheidenden Stelle selbst „Määh“ blökt.69 All diese Videos können zweifelsfrei in einen semantischen Zusammenhang gebracht werden, doch ist es nur schwer voneinander abzugrenzen, welcher Beitrag wen inspirierte oder wer als Ausgangsmaterial für was diente. Zwar lassen sie sich anhand ihrer Veröffentlichungszeitpunkte in eine zeitliche Reihung überführen, das ermöglicht aber nur bedingt Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Entstehung und erscheint anhand der unzähligen Klone und ReUploads eine nur unzureichende Methode zu sein. Gerade die akustische Interpretation des Liedes von Passenger erzeugt eine Komik, die auch für sich allein funktioniert – auch ohne Kenntnis des „Screeming Goat“-Diskurses, denn dieser Vortrag eines Cover-Songs (also einer weiteren Form von Zirkulation) nutzt gar keine Aufnahmen einer echten Ziege. Hier wird der Schrei nur noch imitiert, weswegen das Video von den anderen entkoppelt scheint. Wohl aber kann es in den Kontext „Popsong mit Ziege“ eingeordnet und als Unplugged-Variante der Goat-Remixes interpretiert werden. Ein Bezug zur berühmten „Screeming Goat“ lässt sich aber nur noch mittelbar und über mehrere Schritte hinweg herleiten. Mit jedem Aufgreifen von Material findet folglich eine Verschiebung statt, die einen Bezug zu anderen Beiträgen enthält. Ein klarer Startpunkt lässt sich in diesem Prozess nicht ausfindig machen, da jedes Objekt Referenzen auf mehrere

68 | Der entsprechende Ausschnitt ist in mehreren Videos zu sehen. U.a. V∆GUE: Taylor Swift – Trouble (Goat Remix). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/aLYvZ5sX28 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 69 | Hit Network: Passenger Covers Taylor Swift’s ‚Goat‘ Song. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/O4G7DVotwlw [aufgerufen am 27. Januar 2020].

200 | SERIALITÄT

Quellen aufweist, die wiederum auf andere Quellen verweisen. 70 Hat Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz71 bereits durch die technische Reproduzierbarkeit den Verlust der Aura eines technisch reproduzierten Kunstwerks beklagt, verliert es in der digitalizitären Zirkulation durch seine ständige Rekontextualisierung und Neukombination jeglichen Anhaltspunkt für die Bestimmung einer Urfassung. Jede Einstufung eines spezifischen Videos als UrsprungsQuelle ist deshalb genauso zulässig wie willkürlich. Der Unterhaltungswert dieser Videos und ihr „schöpferisch-innovatives“ Potential72 resultiert aus ihrer gleichzeitigen Nähe und Differenz zueinander. Der Prozess der Zirkulation operiert im Spannungsfeld zwischen Redundanz und Innovation und stellt daher eine postmoderne Spielart jenes seriellen Erzählens dar, das etwa in (Fernseh-)Serien betrieben wird, sich aber grundlegend anders organisiert. Zwar lässt sich etwa aus der Aktion-Reaktion-Logik von Videoantworten zuweilen ein narrativer Handlungsbogen stricken, dieser wird dann jedoch nicht als sequenzielle Reihung, sondern als dialektischer Prozess über verschiedene Kanäle hinweg erzählt. Entscheidender noch ist, dass sich in der Zirkulation eine Serialität entfaltet, die nicht von Anfang an als solche konzipiert und geplant ist, die sich vielmehr organisch herausbildet, deren Verlauf nur schwer vorhersagbar und nur bedingt vom Urheber des zirkulierenden Ausgangsmaterials zu steuern ist. Es sind serielle Produkte, die nicht von einer Quelle in einem seriellen Verfahren hergestellt und von einem Publikum nach von der Quelle vorgegebenen Zyklen genutzt werden. Vielmehr entstehen sie nach der Sichtung eines Prototypen aus dem Bereich der Nutzenden heraus, die zugleich zu Produzierenden und damit zu eigenen Quellen werden, welche die Fortführung der Serie unter eigenen Bedingungen vornehmen und dabei potenzielles Ausgangsmaterial für weitere Zirkulationsdurchläufe generieren. Die Serie stammt damit nicht aus einer Fabrik, sondern entsteht wie eine Collage durch das Zusammenfügen ähnlicher Produkte aus verschiedenen Fabriken. Sie ist deswegen nicht vorgegeben, klar definiert oder allgemein feststehend, sondern das Ergebnis einer individuellen Interpretation und kulturellen Zuschreibung, die daran gekoppelt ist, ob und welche Ver-

70 | Damit einher geht auch ein verändertes Verhältnis von Autor, Werk und Öffentlichkeit: „Der Autor steht nun nicht mehr am Anfang des kreativen Prozesses, sondern in der Mitte. Es war etwas vor ihm – Material mit dem er zu arbeiten beginnt – und es wird etwas nach ihm sein – andere, die sein Werk wiederum zum Material ihrer Arbeit machen.“ (Stalder: Who’s afraid of the (re)mix?.) 71 | Marek: Understanding YouTube, S. 278. 72 | Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Veränderung & Varianz | 201

weise erkannt und aufgegriffen werden. In ihr steht nicht die Weitererzählung eines Plots oder die Entwicklung einer Figur im Zentrum. Sie folgt einzig der Wandlung des (Ausgangs-)Materials und widersetzt sich auf diese Weise ebenso der Dichotomie aus „series“ und „serial“, die eine Klassifizierung einzig auf narrativer Ebene vornimmt. Anstelle einer linearen Erzählrichtung, die von einem Punkt zielgerichtet auf einen anderen peilt, ergibt sich ein serieller Aufbau in Form einer Netzstruktur, die sich von jedem Knotenpunkt (jedem neuen Video) immer weiter verzweigt. Der Auto-Flow oder die anderen im Interface wirkenden Algorithmen mögen zwar aus dem Netz eine Art automatisierte Serialität konstruieren können, die sich aus ähnlichen Schlagworten, vergleichbaren Genrezuordnungen oder verwandten Interaktionsmustern errechnet, ihr fehlt es jedoch an einer inhaltlichen und kulturellen Deutung der gemachten Referenzen, wodurch ihr Entstehen für Nutzende unklar bleiben kann. Was in der vorangegangenen Herleitung zunächst als ein spezifisches YouTubePhänomen erscheinen mag, ist tatsächlich ein Verfahren, das in anderen medialen Bereichen ebenso zu beobachten ist und sich nicht selten über die Grenzen eines bestimmten Mediums hinweg erstreckt. Entsprechend stellt Roman Marek in seiner Auseinandersetzung mit der Zirkulation fest, „dass sich diese Topoi auch außerhalb der Videoportale in verschiedensten kulturellen Praxen wiederfinden“73 und weist dies am Beispiel der Produktimitate der „chinesische Shanzhai-Kultur“ nach. Für das Fernsehen hat die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher in zwei Texten das Verfahren des selbstreferenziellen Fernsehens beschrieben. In ihnen wird deutlich, dass in Sendungen, die sich mit dem eigenen (Programm-)Medium beschäftigen und dies entweder durch die Verwendung von Ausschnitten oder durch Parodien von Programmteilen vornehmen, ähnliche Gesetzmäßigkeiten wirken. Es kommt zur Wiederkehr der immer gleichen Grundmuster in immer neuen Kulissen. Diese vertrauten Präsentationsmuster und bekannten Erzählinhalte bilden die unerläßliche Voraussetzung selbstreferentieller Sendungen. Sie ermöglichen dem Zuschauer erst die Identifizierung der Selbstverweise. […] In selbstreferentiellen Sendungen werden die unterschiedlichen Erzählformen und Erzählungen des Großerzählers Fernsehen miteinander in Beziehung gesetzt, zu einer neuen Erzählung verwoben.74

73 | Marek: Understanding YouTube, S. 308. 74 | Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust u. Mediennutz, S. 149 & 152.

202 | SERIALITÄT

Kaum anders verhält es sich bei zirkulierenden YouTube-Videos, die ebenfalls verschiedene Elemente miteinander zu einer neuen Erzählung kombinieren. Daher lässt sich die Formulierung, die Bleicher im Jahr 1994 und damit rund 20 Jahre vor der Gründung von YouTube für die Beschreibung selbstreferenzieller Sendungen wählt, problemlos auch auf Screeming-Goat-Songs, Leave-BritneyAlone-Parodien oder unzählige andere zirkulierende Online-Videos beziehen. Wie dicht die Beschreibungen von Roman Marek und Joan Kristin Bleicher beieinander liegen, zeigt sich allein darin, dass beide den Begriff des „Recyclings“ ins Zentrum ihrer jeweils betrachteten Prozesse rücken. Demnach nutzen… […] die Sendungen in ihrem Umgang mit bestehendem Sendungsmaterial grundlegende Darstellungsformen der Postmoderne wie das Recycling und das Sampling. Der Begriff ‚Recycling‘ beschreibt die Form der Wiederverwertung bestehender Sendungsausschnitte in einem neuen Sendungsumfeld mit neuem thematischen Bezug. ‚Sampling‘ ist ein Verfahren aus dem Bereich der Popmusik. Der Begriff verweist auf die spielerische Neukombination bestehenden kulturellen Materials zu neuen formalen Gebilden und thematischen Bezügen. […] Erst der Verlust des Kontextes der geschlossenen Sendung ermöglicht es, die zitierten Bilder in einem neuen Unterhaltungskontext wiederzuverwerten.75

Es wird ein Programmzuwachs durch „gezielte Wiederholung im neuen Programmzusammenhang“76 realisiert, in dessen Verlauf einige Anteile, Merkmale oder Ausprägungen einer Vorlage Modifizierungen erfahren, während andere Parameter beibehalten werden. Er ist von einem gleichzeitigen Bewahren und Abweichen und damit von den beiden identifizierten Grundmerkmalen der Serialität geprägt. Dennoch sind Roman Marek zufolge nur YouTube-Videos von einer „echten Zirkulation“ erfasst, weil nur dort eine Vernetzung aller Beteiligten existiert, bei der sich jede Person auch als Produzent und Sender beteiligen könne.77 Aufgrund der Beschaffenheit des fernsehhaften Rundfunks verbleibt das Recycling und Sampling bei selbstreferenziellen Sendungen einzig den Sendeanstalten und Fernsehunternehmen vorbehalten und reduziert die Teilnahmemöglichkeiten des Publikums an diesem Vorgang auf ein reines Anschauen.

75 | Bleicher: Fernsehkritik im Fernsehen, S. 5. 76 | Ebd., S. 6. 77 | Marek: Understanding YouTube, S. 308.

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Alternativen & Adaptionen

SERIALITÄT ALS DATENBANK Abgesehen von kleinen Verschiebungen zeigt sich eine erhebliche Deckungsgleichheit zwischen der Serialität, die im Fernsehprogramm praktiziert wird und jener, die das Angebot von YouTube bestimmt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Benjamin Beil, Lorenz Engell, Jens Schröter, Herbert Schwaab und Daniela Wentz am Ende ihrer Einleitung für die Ausgabe zur Serie der „Zeitschrift für Medienwissenschaft“ resümieren, dass das (von ihnen nicht weiter bestimmte) Internet bisher keine eigene Form von Serialität ausgebildet hat, sondern etablierte Modelle reproduziert: Das Internet imitiert immer noch eher eine Zeitlichkeit der Fernsehserie, die dem Medium Fernsehen die große Bindung an den Alltag oder die Möglichkeit der Reflexion über diesen verschafft hat. Wo sich eine wirklich vom Fernsehen emanzipierte Serialität des Internets verorten lässt, wie diese überhaupt mit ihm kompatibel ist, wären weitere Fragen, die sich an die Serialitätsforschung stellen ließen. 1

Welche alternativen Präsentations-, Erzähl- und Partizipationsweisen durch eine Verortung im Internet prinzipiell umsetzbar sind, skizziert Isabell Otto anhand des französischen Projekts ADDICTS2. Dahinter verbirgt sich eine Produktion, die der deutsch-französische Kultursender Arte zusammen mit dem Centre National de Cinématographie (CNC) und der Région Aquitaine umsetzen und in der Zeit vom 15. November bis 17. Dezember 2010 auf einer dafür eingerichteten Website veröffentlichen ließ. Erzählt werden darin die Erlebnisse der vier Protago1 | Beil et. al: Die Serie – Einleitung in den Schwerpunkt. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft, S.15. 2 | Addicts, F 2010.

204 | SERIALITÄT

nist*innen Saad, Damien, Djibril und Anna, welche die prekären Verhältnisse in einer Plattenbausiedlung in der Vorstadt von Bordeaux bewältigen müssen. Wie sich der genaue Inhalt und Ablauf der Geschichte gestaltet, lässt sich, wie auf der Website einleitend erklärt wird, „schwer linear zusammenfassen, da der User selbst bestimmt, in welcher Reihenfolge er die Folgen und die Entwicklung der Protagonisten sehen will.“3 Die Handlung verzichtet nämlich auf eine vorgeschriebene Narration und besteht stattdessen aus fünf Modulen, die den vier Hauptcharakteren entsprechen und um den Blickwinkel der Polizei ergänzt werden. Die Zuschauenden können nun anhand dieser Module... [...] die Geschichte auch ganz klassisch im seriellen Ablauf der einzelnen, aus kurzen Videoclips und Modulen zusammengesetzten Episoden ansehen, die im November und Dezember 2010 sogar nach und nach veröffentlicht, also gewissermaßen ausgestrahlt wurden. Gemessen an dieser Rezeptionsoption ergibt sich eine lineare Zeitlichkeit der Serie, ein sukzessives Nacheinander von kausal aufeinander bezogenen Ereignissen.4

Doch, so schreibt Otto weiter, ist dieser „lineare Weg durch die Serienwelt“ nicht der einzig mögliche. Genauso können sich die Nutzenden auf einzelne Protagonist*innen konzentrieren und die Geschichte komplett aus deren Perspektive verfolgen. Nach dem gleichen Prinzip kann die Geschichte ebenfalls anhand markanter Orte (als „ortsgebundene Handlungsbündel“) erlebt werden. Für Isabell Otto veranschaulicht diese Struktur das Spannungsverhältnis zwischen Datenbank und Narration, denn die Serie... [...] stellt verschiedene Handlungsstränge nebeneinander zur Wahl, versammelt Handlungssegmente, die zum Teil gleichzeitig stattfinden bzw. nicht chronologisch geordnet sind. Serialität wird auf diese Weise gewissermaßen vertikalisiert, geschichtet – im Gegensatz zur horizontalen linearen Abfolge des televisuellen Prinzips.5

Im umfangreichen Angebot von YouTube bilden solche seriellen Erzählweisen allerdings die Ausnahme, obwohl sich das Interface mit seiner räumlichen Ordnung des Flows dafür als äußerst geeignet zeigt.

3 | Entnommen der zugehörigen Website: http://www.arte.tv/de/addicts-die-web-serie/ 3475698,CmC=3475792.html [aufgerufen am 21. September 2015]. 4 | Otto: Die Fernsehserie jenseits des Fernsehens. In: Navigationen, S. 131. 5 | Ebd., S. 132.

Alternativen & Adaptionen | 205

LINEARITÄT IN NICHT-LINEAREN ANGEBOTEN Stärker noch als der Großteil der Videos, die auf der Plattform YouTube hochgeladen werden, sind die Produktionen von Netflix von einer fernsehhaften Serialität geprägt. In ihnen ist eine Konzentration auf Fortsetzungsserien zu beobachten, bei denen der Grad an intraserialer Kohärenz das im Fernsehprogramm übliche Maß übersteigt. Zur Veranschaulichung dieser Aussage soll einmal mehr die Serie HOUSE OF CARDS als exemplarischer Untersuchungsgegenstand herangezogen werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse lassen sich dann auf andere Serien des Unternehmens übertragen. Wie Beau Willimon, der Erfinder von HOUSE OF CARDS, in mehreren Interviews betont, ist die Produktion von Anfang an weniger als episodische Serie, sondern eher als 13-stündiger Spielfilm konzipiert worden. („We approached this creatively as a 13-hour movie […]“6 und „[...] we always talked about it from the very beginning as a 13-hour movie for the first season.“7) Dieser Ansatz hatte maßgeblichen Einfluss darauf, wie sich die Autor*innen der Entwicklung der Geschichten näherten und welches Erzähltempo bzw. welche Erzählweise sie wählten. Darauf lassen zumindest die Äußerungen von Willimon in einem Interview mit der Huffington Post schließen: We wanted the storytelling to be something that really spoke to the sophistication of the narrative and the layers of the characters and not necessarily try to adhere to any [existing] TV model. […] We knew that we could lay something in the first couple of episodes that we may not see until late in Season 2. So we just had a much grander scale to think about in terms of the storytelling.8

Das Vorhaben, einen 13-stündigen Film zu konzipieren, könne laut des beteiligten Regisseurs David Fincher einen anderen Umgang mit dem Format auslösen, der mit dem kapitelweisen Lesen eines Buches, welches man nicht mehr wegle-

6 | Stelter: A Drama’s Streaming Premiere. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2m6ZVOz [aufgerufen am https://nyti.ms/2m6ZVOz]. 7 | Ryan: ‚House of Cards‘ On Netflix. In: The Huffington Post (Online-Ausgabe). Unter: http://www.huffingtonpost.com/2013/01/22/house-of-cards-netflix_n_2527376.html ?utm_hp_ref=tv [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 8 | Ebd.

206 | SERIALITÄT

gen möchte, zu vergleichen sei.9 Dennoch entschieden die Verantwortlichen, das Ergebnis entgegen seiner inhaltlichen Konzeption als Gesamtwerk in voneinander abgetrennte, disparate Häppchen zu sezieren. Besonders bemerkenswert erscheint dies, wenn Kevin Spacey das Festhalten an erzählerisch nicht gebotenen Konventionen selbst in Frage stellt, indem er auf dem „Post MacTaggart Q&A“Interview des Edinburgh International Television Festivals die vollständige Überwindung episodenhafter Strukturen voraussagt: I can image that there is gonna come a time, when someone will do 13 hours of story with no breaks. They won’t end an episode. They allow the audience to decide when to take a break. You can have 13 hours of drama and the audience decides when the break is, when they want to pause it. I mean, in a way, they do it now, anyway. But it would be interesting to see what something like that might evolve for the viewers. 10

Mit diesem Modell skizziert er einen Erzählmodus, der weder auf einer Tradition des (Kino-)Films noch auf der des Fernsehens basieren würde, sondern eine gänzlich neue Form implementieren dürfte, die bisher jedoch noch keine Umsetzung fand. Stattdessen orientiert sich die Serie HOUSE OF CARDS mit ihrer Aufteilung in Jahresstaffeln und Episoden, deren Laufzeiten mit jeweils rund 50 Minuten verlässlich einheitlich ausfallen11 und allesamt mit einem ungewohnt lan-

9 | Das Original-Zitat lautet: „I can only tell you from my experience because for the first time, two weeks ago, Beau and Josh Donen and Eric Roth and I sat down and we watched 13 hours from beginning to end. And it’s crazy. It’s like a book. It’s like you reading a chapter, set it down. Go get some Thai food, come back, fire it up again. It works in a different way.“ (Sepinwall: ‚House of Cards‘ director David Fincher on making 13 hours for Netflix. In: hitfix.com. Unter: http://www.hitfix.com/whats-alanwatching/house-of-cards-director-david-fincher-on-making-13-hours-for-netflix

[auf-

gerufen am 15. April 2015]. 10 | Transkript des Videos: Edinburgh Television Festival: GEITF 2013 – The Post MacTaggart Interview: Kevin Spacey. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ oheDqofa5NM [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 11 | Dass die Folgen dabei ausnahmslos knapp unterhalb einer Stunde verbleiben, erinnert an das von amerikanischen (und deutschen) Network- oder Kabelsendern angewendete Prinzip der sogenannten Commercial Hour – also an das Konzipieren von Programmeinheiten mit einer Netto-Dauer von 40 bis 50 Minuten, damit sich daraus zusammen mit eingefügten Werbepausen eine kombinierte Gesamtlänge von exakt einer Stunde ergibt.

Alternativen & Adaptionen | 207

gen und optisch dominierenden Vorspann eingeleitet werden12, stark an der zeitlichen Ordnung des Fernsehprogramms und lässt sich problemlos in dessen Kästchenschema integrieren.13+14 In der bei HOUSE OF CARDS angewendeten seriellen Erzählweise steht jede einzelne Episode in einem engen, semantischen Zusammenhang zu seinen Vorgängern und Nachfolgern. Zumindest auf der Ebene des Plots kann eine Folge nicht allein existieren oder nachvollzogen werden, wodurch auch die Serie nur als Gesamtheit (er)fassbar und deren Rezeption kaum individualisierbar ist. Schließlich verzichtet die Serie weitestgehend auf Zusammenfassungen vorheriger Ereignisse und die erneute Vorstellung bereits bekannter Figuren. Für einen auf Abonnements basierenden Abrufdienst besteht keine Notwendigkeit, solche Einstiegsmöglichkeiten für neue Zuschauende zu schaffen, da durch den jederzeitigen Zugriff auf alle bisherigen Folgen diese zumindest in einem zeitlichen Sinn nicht mehr verpasst werden können. Wie Ted Sarandos von Netflix erklärt, gehe die Serie deshalb stets davon aus, dass man wisse, was passiert ist, wohingegen beim laufenden Fernsehprogramm immer ein Großteil des Publikums gerade erst eingeschaltet hätte. 15 Die Gewissheit, dass alle vorherigen Episoden bekannt sind, ermögliche auf der anderen Seite vielschichtige Stories und verflochtene Erzählweisen, die aber wie-

12 | Dieser dauert über 90 Sekunden. 13 | Tatsächlich erfolgte dies im Fall von HOUSE OF CARDS in Deutschland. Da der OnDemand-Dienst Netflix erst seit September 2014 über einen eigenen Ableger in Deutschland verfügte, wurde die Serie im Winter 2013 sowohl an den Pay-TVAnbieter Sky als auch die ProSieben Sat.1 Media AG lizensiert, die sie beide anfangs im wöchentlichen Rhythmus ausstrahlten. Die im Jahr 2013 für HOUSE OF CARDS geschlossenen Verträge waren auch nach der Einführung eines deutschen Ablegers von Netflix wirksam, sodass der Pay-TV-Anbieter Sky bis zum Ende der Serie die Exklusivrechte besaß und Netflix seine eigene Produktion erst nach der dortigen Erstausstrahlung sowie dem Verstreichen einer Sperrfrist von sechs Monaten zum Abruf bereitstellen durfte. 14 | Jana Zündel stellt eine ähnliche fernsehhafte Gliederung für die Netflix-Serie ORANGE IS THE NEW BLACK (USA, seit 2013) fest. (Zündel: Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen. In: montage AV, S. 37.) Wie auch HOUSE OF CARDS wurde diese Serie von einem Fernsehsender in dessen Programmablauf übernommen – nämlich von ZDFneo, seit 2017. 15 | Stelter: New Way to Deliver a Drama. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2m70bx1 [aufgerufen am 27. Januar 2020].

208 | SERIALITÄT

derum eine Einhaltung der vorgegebenen Reihenfolge umso stärker verlangen. Dieses Einfordern einer festen Abfolge ist derart ausgeprägt, dass Beau Willimon, der Hauptautor von HOUSE OF CARDS, in einem Interview die Rezeption seiner Serie in umgekehrter Reihenfolge zwar für theoretisch denkbar hält, dies aber zugleich als „a sort of avant-garde viewing experience“16 deklassiert. Im Unterschied zum Web-Projekt ADDICTS wird eine elaborierte Narration bei HOUSE OF CARDS nicht durch eine individualisierbare Struktur, sondern innerhalb der linearen Reihung erreicht. Während ADDICTS mit seinem modularen Aufbau und Verweismöglichkeiten eher einer Hypertext-Struktur folgt, orientiert sich HOUSE OF CARDS stark an einer sequenziellen Abfolge und nutzt damit ein Erzählschema, das tatsächlich in vielen literarischen Romanen genutzt wird, wodurch der zuvor von David Fincher zitierte Vergleich der Serie mit einem Buch berechtigt erscheint. Sicherlich ist es bei einem solchen prinzipiell denkbar, die einzelnen Kapitel in einer beliebigen Reihenfolge zu lesen, aber auch ebenso unüblich. Weder ist bei einem Roman noch bei HOUSE OF CARDS eine bestimmte Rezeption oder Handhabung in die Produkte selbst eingeschrieben, aber es wird eine bestimmte Nutzung durch Inhalt, Form und Struktur empfohlen. Wie sehr Fincher, Willimon und ihre Kolleg*innen auf die literarischen Form des Romans verweisen und zugleich die Einhaltung einer festen Reihenfolge beachtet wissen möchten, wird auch darin deutlich, dass die Titel der Episoden schlicht als „Chapter 1“ (dt.: „Kapitel 1“), „Chapter 2“ (dt.: „Kapitel 2“) und so weiter fortlaufend durchnummeriert sind. Dies erfolgt sogar über die Staffel hinweg, sodass die zweite Staffel nahtlos mit „Chapter 14“ (dt.: „Kapitel 14“) beginnt und die logische Nummerierung eine zusätzliche Einhaltung der Reihenfolge sowie ein striktes Nacheinander einfordert. Rein technisch könnte die fortlaufende Handlung von HOUSE OF CARDS dennoch in ähnlicher Weise individuell zusammengesetzt werden, wie es Isabell Otto für das Projekt ADDICTS beschrieben hat. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass die Gestaltung der Oberfläche von Netflix eine solche Nutzung nicht nahe legt – allein, weil der Stream nicht in Unterkapitel unterteilt und das gezielte Anwählen einer Szene nicht vorgesehen ist. Stattdessen kann dies (ohne Umgehung der Vorgaben des Interfaces) nur über einen wenig präzisen Timeline-Cursor auf dem Fortschrittsbalken erreicht werden. Hinzu kommt,

16 | Ryan: ‚House of Cards‘ On Netflix. In: The Huffington Post (Online-Ausgabe). Unter:

http://www.huffingtonpost.com/2013/01/22/house-of-cards-netflix_n_2527376.

html?utm_hp_ref=tv [aufgerufen am 27. Januar 2020].

Alternativen & Adaptionen | 209

dass in der Menüführung die einzelnen Episoden zwar grundsätzlich frei anwählbar sind, doch diese in einer Liste bereitgestellt und mit einer aufsteigenden Nummerierung versehen werden. Dies gilt bei Netflix für jede Serie – für BREAKING BAD genauso wie für HOUSE OF CARDS.

Abbildung 21: Episoden von HOUSE OF CARDS sind als Kapitel fortlaufend nummeriert und im Menü von Netflix dementsprechend angeordnet. 17 Obwohl die Navigation technisch eine selbst gewählte Reihenfolge zulässt und damit Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität verspricht, suggeriert die Art, wie die Auswahl als Liste von oben nach unten dargestellt wird, eine vermeintlich logische, natürliche Chronologie. Auf diese Weise werden die Zuschauenden entgegen des Freiheitsversprechens dazu angehalten, von einer individuellen, willkürlichen Zusammenstellung abzusehen, um sich doch einer gewollten, vorgegebenen Struktur zu fügen. Diese Disziplinierung schreibt sich ebenso im Autoplay fort, indem nach dem Ende einer Episode keine beliebige Folge, sondern jene mit der jeweils nächsthöheren Nummerierung automatisch und ohne jegliches Zutun der Nutzenden startet. Der von Kevin Spacey mehrfach wiederholte Slogan „Give people what they want – when they want it – in the form they want it in“ müsste infolgedessen um den Zusatz “…as long as they keep it in our order“ erweitert werden.

17 | Screenshot der Benutzeroberfläche von Netflix für die Serie HOUSE OF CARDS über die Netflix-App für Android-Tablets [angefertigt am 25. September 2018].

210 | SERIALITÄT

Abbildung 22: Die Auflistung der Episoden einer Serie im Menü von Netflix.18 Bezüglich HOUSE OF CARDS muss daher festgehalten werden, dass die Vorgaben und Nahelegungen abseits der Möglichkeit eines zeitsouveränen Abrufs der einzelnen Folgen sowohl auf technischer als auch auf inhaltlicher Ebene sehr strikt sind, vielleicht strikter, als sie gewöhnlich in fernsehhaften Umgebungen direkt und indirekt formuliert werden. Mag zwar ein Anbieter wie Netflix mit seinem gesamten Portfolio über keinen festgelegten Programm- und Zeitablauf verfügen, tun es die einzelnen Serien und Filme doch weiterhin. Mehrteiler, die wie HOUSE OF CARDS eine auf finale Konklusion abzielende, narrative Entwicklung beinhalten, setzten gemäß der Fernsehtheorie von John Ellis ein spezifisches Wissen voraus, das durch das Ansehen der einzelnen Episoden angesammelt werden müsse. Bei einer Ausstrahlung im Programm eines Fernsehsenders hätten die Anstalten aber damit zu rechnen, „dass ein großer Teil des Publikums eine oder mehrere Folgen verpasst oder nicht mit der einführenden ersten Folge eingestiegen ist“.19 Diese führe laut Ellis zur Entwicklung einer... [...] Reihe von Techniken: die Titelsequenz, welche die Figuren (Gesichter, die Charaktereigenschaften konnotieren) und sogar deren Beziehung zueinander vorstellt, die

18 | Screenshot der Benutzeroberfläche von Netflix für die Serie BREAKING BAD über die Netflix-App für Android-Tablets [angefertigt am 25. September 2018]. 19 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 55.

Alternativen & Adaptionen | 211

Wiederholung von Material vom Ende einer Folge am Anfang der folgenden, sorgfältig platzierte Hinweise auf Ereignisse in den Gesprächen zwischen den Figuren. 20

Durch die Notwendigkeit auch von Menschen nachvollzogen werden zu können, die zufällig eingeschaltet haben, werden solche Produktionen deutlich offener und modularer strukturiert, wobei die einzelnen Segmente im Idealfall eigenständig existieren können, damit ein jederzeitiger Einstieg in die laufende Handlung ermöglicht wird. Solche Serien, die für einen linearen Programmablauf konzipiert werden, mögen dadurch inhaltliche Redundanzen aufweisen und erzählerisch weniger anspruchsvoll wirken, doch lassen sie durch ihre inhaltlich offenere Form ein Abweichen von einem vorgegebenen, streng linearen Verlauf eher zu als Serien wie HOUSE OF CARDS. In der Netflix-Serie schreitet die Handlung hingegen derart linear voran, dass in den kompletten ersten beiden Staffeln keine Wiederholungen oder Rückblenden auftreten und sich der Plot in einem nahezu gleichbleibenden Tempo auf der Zeitebene ausschließlich vorwärts bewegt. Der lineare Flow des Fernsehprogramms erzeugt damit serielle Erzählmuster, die weit weniger linear aufgebaut sind, als es ihre Zuschreibungen vermuten lassen und die weniger Verbindlichkeit einfordern als die meisten Angebote auf den vermeintlich nicht-linearen Angebote wie Netflix. Der Begriff der Linearität zeigt sich, sofern er nicht explizit auf den zeitlich-voranschreitenden ProgrammFlow bezogen wird, damit als wenig geeignet, fernsehhafte Anordnungen adäquat zu charakterisieren oder von televisionizitären On-Demand-Angeboten abzugrenzen. Plattformen wie Netflix und YouTube lassen Individualisierungen in einem Rahmen zu, der eng genug gesteckt ist, um keine Verunsicherung auszulösen, und der zugleich ausreichend groß erscheint, als dass seine Ausmaße als gewonnene Freiheit empfunden werden. Damit operieren sie insbesondere durch ihre praktizierte Serialität nur sehr punktuell außerhalb einer Fernsehhaftigkeit und speisen einzig daraus ihre innovative Wirkung. Ihre zentralen Befreiungsversprechen erweisen sich damit als Mogelpackungen, denn tatsächlich sind die Handlungen der Serien, die Distributionsmodelle der Videoreihen und die Interfaces der Plattformen so konzipiert, dass sie weniger Spielraum für selbst gewählte Nutzungsarten freigeben als sie verheißen. Es ist dieser trügerische Anschein von Freiheit, der Nutzende immer weiter in die seriellen Welten von OnDemand-Diensten hineinsinken lässt.

20 | Ebd.

213

5. Liveness

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Gleichzeit

FALLBEISPIEL: „NAKED BY THE END OF THE SONG“ Es ist der Abend des 01. Februar im Jahr 2004. Im Reliant Stadium der texanischen Stadt Houston stehen sich die „New England Patriots“ und die „Carolina Panthers“ im entscheidenden Spiel um die Meisterschaft der National Football League (NFL) gegenüber. Das amerikanische Network CBS überträgt den sogenannten SUPER BOWL1 live und verlangt für einen 30-sekündigen Werbespot eine Summe von 2,2 Millionen US-Dollar. Allein in den USA wird im Nachgang eine durchschnittliche Sehbeteiligung von über 89 Millionen Menschen errechnet und die Sendung zum meistgesehenen Programm des Jahres erklärt werden. Abseits ihres sportlichen Ausgangs soll die Veranstaltung deswegen medienhistorische Bedeutung erfahren, weil sie FERSNEHEN, wie es bisher verstanden wurde, maßgeblich verändern wird. Grund hierfür ist ein kurzer Moment, der sich in der Halbzeitshow zuträgt, für die wie in jedem Jahr ein aufwendiges Unterhaltungsprogramm vorgesehen ist. An dessen Ende führt die Sängerin Janet Jackson ein Duett des Songs „Rock Your Body“ mit ihrem Kollegen Justin Timberlake auf. Der gemeinsame Auftritt, der mit zahlreichen sexuell-konnotierten Tanzbewegungen durchsetzt ist, gipfelt schließlich darin, dass Timberlake synchron zum Ertönen der Textzeile „Bet I’ll have you naked by the end of this song“ einen Teil von Jacksons Oberteil abreißt und ihre Brust vor den live übertragenden Kameras freilegt. Dieser nur wenige Sekunden dauernde Vorfall, der später gemeinhin mit dem Begriff „Nipplegate“ belegt wird, führt in den folgenden Tagen zu einer weitreichenden und intensiven Debatte zwischen Aufsichtsbehörden, TV-Anbietern, Politiker*innen, Zuschauenden und Werbekunden. Allein der

1 | Super Bowl XXXVIII, USA 2004.

216 | LIVENESS

entsprechende englischsprachige Wikipedia-Artikel umfasst unter der Überschrift „Super Bowl XXXVIII halftime-show controversy“ mittlerweile über 11.000 Worte.2 Im Zentrum der Diskussionen steht die Frage, wer für die Entblößung zur Verantwortung zu ziehen ist und ob sie als Mittel der Aufmerksamkeitsgenerierung absichtlich herbeigeführt wurde oder durch eine Fehlfunktion der Garderobe („wardrobe malfunction“) versehentlich aufgetreten ist. Unabhängig davon, wie diese Frage letztlich zu beantworten ist, gilt es als unstrittig, dass diese Szene von den verantwortlichen Medienwächtern und Jugendschutzbeauftragten aus der Sendung entfernt worden wäre, wenn es sich um eine Aufzeichnung gehandelt hätte. Sie ist also nur deswegen für das Publikum sichtbar geworden, weil sie in eine „zeitgleiche Berichterstattung“3, eingebettet war. Sie konnte nur deswegen ins allgemeine kulturelle Gedächtnis überführt werden, weil sie in einer Live-Sendung stattfand.

MEDIEN DER SIMULTANEITÄT In seinem berühmten Aufsatz „Ästhetische Strukturen der Live-Sendung“ untersucht Umberto Eco die Mechanismen, Bedingungen und Effekte von solchen im Fernsehen ausgestrahlten „Live-Übertragungen“ und erkennt in ihrer Zeitstruktur eine grundsätzliche Divergenz zu jener des (Kino-)Films. Dazu stellt er zunächst fest, dass bei der Live-Übertragung eines nicht-fiktionalen Ereignisses (etwa einer royalen Hochzeit) die Entfaltung einer narrativen Erzählung stattfindet, in welche Erwartungen und Erfahrungen der TV-Crew und des Publikums miteinfließen und die auf einem erzählerischen Auswahlprozess basiert. Dafür verwendet Eco den Begriff der „Montage“: [M]an spricht von Montage, weil das Ereignis bekanntlich von drei oder mehr Fernsehkameras zugleich aufgenommen und dann jeweils das Bild der Kamera, die es am besten wiederzugeben scheint, gesendet wird.4

Durch seine Feststellung, dass ein sendefähiger Fernsehtext erst durch eine Selektion und Komposition von Bildern entsteht, rückt er die Live-Sendung

2 | (Art.) Super Bowl XXXVIII halftime show controversy. In: wikipedia.org (Englische Ausgabe). Unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Super_Bowl_XXXVIII_ halftime_ show_controversy [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 3 | Mikos: Kitzel des Unvorhergesehenen. In: Hickethier (Hrsg.): Fernsehen, S. 181. 4 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 188ff.

Gleichzeit | 217

scheinbar wieder näher an einen fiktionalen (Kino-)Film heran, doch die entscheidende Abweichung liegt im Zeitpunkt, in dem diese Montage durchgeführt wird. Bei der Herstellung eines Films finden Aufnahme, Montage und Wiedergabe der Bilder in einem zeitlich nachgeordneten Prozess statt und sind voneinander getrennt, während sie bei einer Live-Übertragung zusammenfallen. Weil in diesem Moment eine zeitliche Differenz zwischen Ereignis und Berichterstattung eliminiert ist und der „Zeitfaktor in der Produktion und Distribution von Information gegen Null tendiert“, herrscht für Irene Neverla in diesem spezifischen Zustand „Nullzeit“5. In der Möglichkeit eine zeitgleiche Übertragung zu leisten und sich in einen Nullzeit-Modus versetzen zu können, besteht für William Uricchio die signifikanteste Abgrenzung des Fernsehens zum (Kino-)Film, weswegen er dafür plädiert, beide Gegenstände nicht derselben Tradition zuzuordnen. Vielmehr könne eine gemeinsame Historie des Fernsehens mit der Telegraphie, dem Telefon, der Nipkow-Scheibe und dem Radio erzählt werden, weil all diese Erfindungen „eine direkte Begegnung mit dem Simultanen“6 angestrebt hätten. Der kinematographische Film hingegen könne diesen Zustand zwar simulieren, ihn aber nicht erfüllen. Seine Eigenheit läge vielmehr darin, durch „Zeitraffer oder Zeitlupe, durch stop motion oder Wiederholung […] ein neues Sehen“7 zu ermöglichen. Für Uricchio konstruiert der (Kino-)Film demnach seine eigene (Erzähl-)Zeit, die nicht synchron mit der Zeit außerhalb der Diegese verläuft. Für dieses Modell ist es jedoch entscheidend, auf die Verwendung des Begriffs des Simultanen an Stelle von „Live“ hinzuweisen, denn wie William Uricchio ausführt, gab es im 19. Jahrhundert zwei parallel laufende Diskurse zum Begriff „liveness“, die jeweils eng mit den fast zeitgleich aufkommenden Apparaten Telefon und Grammophon verbunden waren. Demnach konnte „Live“ einerseits bedeuten, an einem Ereignis, das zur gleichen Zeit an einem anderen Ort stattfand, (wie beim Telefon) simultan teilnehmen zu können. Andererseits konnte der Zustand derart verstanden werden, dass eine frühere, längst vergangene Situation mithilfe einer Aufzeichnung, etwa von Tönen, wieder zum Leben erweckt werden konnte – wie man es vom Grammophon und, so könnte man erweitern – auch vom Film kenne. Selbstverständlich vermag das heutige Fernsehprogramm mit seiner vielfachen Nutzung von Aufzeichnungen und Wiederholungen ebenfalls vergangene Ereignisse wiederzubeleben und sich als Grammophon zu verhalten. Für

5 | Neverla: Fernseh-Zeit, S. 67. 6 | Uricchio: Medien, Simultaneität, Konvergenz. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 292. 7 | Ebd., S. 290.

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Uricchio und auch die nachfolgenden Überlegungen markiert jedoch der beim Fernsehen ermöglichte „Zugang zur Simultaneität“ – das Verständnis von „Live“ im Sinne des Telefons – das hervorstechendere Spezifikum. Schließlich, so pflichtet Umberto Eco dieser Aussage bei, ist es der „Kommunikationstyp, den nur das Fernsehen kennt“.8

FERNSEHEN IM GEGENWARTSMODUS Dieser grundsätzlichen Wirkung von Live-Sendungen steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass sie zuweilen mit aufgezeichnetem und zeitlich manipuliertem Material angereichert werden (etwa mit Wiederholungen oder Zeitlupen bei Sportübertragungen), wie Knut Hickethier schreibt: Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob es sich jedesmal tatsächlich um Live-Bilder handelt. Der präsentische Charakter des Fernsehbildes besteht als Potenzial permanent und gibt damit auch einen Rahmen für die Bilder ab, die nicht live vermittelt werden.9

Diese zunächst paradox erscheinende Eigenheit des Fernsehbildes, auch live wirken zu können, wenn es nicht live sendet, wird ebenfalls von John Ellis erkannt und mit dessen direkter Wirkung erklärt: Das Fernsehbild hat den Effekt der Unmittelbarkeit. Es scheint ein ‚Live‘-Bild zu sein, das im Moment seiner Produktion ausgestrahlt und empfangen wird. Für das britische Fernsehen mit seiner genauen Programmplanung und seiner Angst vor Kontroversen trifft dies allerdings schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr zu. Nur Nachrichten- und Sportsendungen sind regelmäßig Live-Übertragungen. Die Vorstellung jedoch, dass Fernsehen live ist, verfolgt das Medium weiterhin. 10

Fernsehhafte Anordnungen umgeben demnach allein aufgrund ihres technischen Potentials, Bilder verzögerungsfrei übertragen zu können, permanent eine Aura der Liveness – selbst dann, wenn das jeweilige Programm nicht live ist.

8 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 188. 9 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 35. 10 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 63.

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Diese besondere Eigenheit entfaltet dann eine solche Kraft, dass diese auch das Nicht-Live-Programm mit jener Aura der Liveness überstrahlt und die gesamte Fernseherfahrung als simultan erscheinen lässt. Umgekehrt offenbart dieser Effekt jedoch, dass der einzigartige und für das Medium konstitutive Zustand von Simultaneität in seiner Wahrnehmung durch die Rezipienten kaum von den restlichen Grammophon-Momenten des Programms zu unterscheiden ist. Dies führe laut Knut Hickethier dazu, dass das Fernsehbild das Eintreten von LiveSituationen visuell und akustisch hervorheben müsse. Weil der Live-Charakter von Bildern durch den Betrachter nur schwer wirklich zu erkennen ist, entsteht der Live-Eindruck beim Betrachter fast immer durch eine externe Zuweisung seitens der Moderatoren, Ansagerinnen, Inserts und anderen die Wahrnehmung steuernden Programmpartikel.11

Eine solche explizite Kenntlichmachung von Live-Übertragung kann ergänzend zu dieser Lesart ebenso als Fingerzeig verstanden werden, dass sich das Medium nun in seinem vertrauten und spezifischen Metier bewegt. Dann dienen die Einblendungen eher als eine Form von Gütesiegel, als eine Deklaration, dass sich das Fernsehbild gerade im Zustand der Simultaneität und damit in seinem absoluten Gegenwartsmodus befindet.

Abbildung 23: Visuelle Hinweise auf Liveness in Fernsehsendungen.12

11 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 35. 12 | Screenshots aus den Sendungen (von oben links): RISING STAR (D 2014, RTL vom 28. August 2014); ZDF FERNSEHGARTEN (D seit 1986, ZDF vom 30. Juni 2013); KEEP YOUR LIGHT SHINING (D 2014, ProSieben vom 22. Mai 2014); aus der LiveÜbertragung der Ankunft der Fußballnationalmannschaft in Berlin (Das Erste vom 15. Juli 2017); THE LATE SHOW WITH STEPHEN COLBERT (USA seit 2015, CBS vom 19. Oktober 2016); CNN USA vom 28. Juli 2017.

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So ist es auch nur konsequent, dass vor allem simultan übertragene Sportveranstaltungen – also genau jene Momente, die einzig das fernsehhafte Fernsehen liefern kann – diejenigen mit den höchsten Sehbeteiligungen sind.13 Damit erklärt sich ebenfalls, wieso sich TV-Kanäle bereit zeigen, einen Großteil ihres Budgets für die simultane Übertragung von Großereignissen (wie beispielsweise Fußballweltmeisterschaften oder dem SUPER BOWL) aufzuwenden. Mit den millionenschweren Lizenzen erwerben die Unternehmen nicht bloß die Erlaubnis, von diesen Veranstaltungen berichten zu dürfen, sondern zugleich eindeutig erkennbare und universell identifizierbare Momente von Simultaneität.14 Die Freilegung von Jacksons Brust führte im Nachgang der SUPER BOWLÜbertragung aus dem Jahr 2004 übrigens zu zahlreichen Protesten besorgter und schockierter Zuschauender und für den ausstrahlenden Sender CBS zu einem sechsstelligen Bußgeld.15 Die harten Strafen und die umfangreiche Kontroverse veranlassten die Verantwortlichen der großen amerikanischen Fernsehkanäle dazu, simultane Übertragungen von Großveranstaltungen (z.B. Preisverleihungen oder Sportereignisse) fortan mit einer zeitlichen Verzögerungen von fünf Sekunden bis fünf Minuten auszustrahlen, um gegebenenfalls eingreifen zu können – etwa um anstößige Begriffe oder Bilder noch vor der Aussendung des Signals überblenden oder entfernen zu können.16+17 Im Unterschied zu technisch-unver-

13 | Die AGF Videoforschung stellt auf ihrer Internetseite für jedes Kalenderjahr seit 2009 eine tabellarische Übersicht der jeweils 20 meistgesehenen Sendungen zur Verfügung. Unter: https://www.agf.de/daten/tvdaten/hitliste/?name=hitliste_20jahre [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 14 | Es soll nicht verneint werden, dass sich mit einer simultanen Übertragung und den verbindlichen Anfangs- und Laufzeiten soziale Prozesse – etwa das Herausbilden eines Gemeinschaftsgefühls durch die empfundene Zugehörigkeit zu einem (wenn auch unsichtbaren, aber wissentlich vorhandenen) Massenpublikum – einstellen können. Der zentrale Aspekt eines „Lagerfeuer“-Fernsehens, das eng mit einer simultanen Rezeption verknüpft ist, wurde bereits mehrfach thematisiert (u.a. Mikos: Kitzel des Unvorhergesehenen. In: Hickethier (Hrsg.): Fernsehen, S. 186) und soll deshalb nicht ein weiteres Mal Gegenstand einer Untersuchung sein. Stattdessen soll Fragen nach Authentizität und Glaubwürdigkeit erörtert werden. 15 | Fabrikant: CBS Is Fined $550,000 for Super Bowl Incident. In: New York Times (Online-Ausgabe). Unter: https://nyti.ms/2MZ8CU4 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 16 | U.a. In: BBC News: Oscar head angry at TV show delay. In: BBC News (OnlineAusgabe). Unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/3478467.stm [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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meidbaren und mit den verschiedenen Übertragungswegen verbundenen Verzögerungen unterwandert diese nun eingerichtete Option, in aufgenommenes Fernsehbild jederzeit auch nachträglich eingreifen und es korrigieren zu können, die Grundprinzipen des Live-Mediums. Durch diesen Schritt wurde die originäre Einheit von Aufnahme, Montage und Verbreitung zumindest potentiell in einen (ähnlich wie beim Film praktizierten) nachgeordneten Prozess umgewandelt, was die Fernsehhaftigkeit eines ihrer substanziellsten (Alleinstellungs-)Merkmale beraubte. An jenem Februar im Jahr 2004, als die Brust von Janet Jackson freigelegt wurde und die amerikanischen TV-Stationen die Simultaneität und ihre Bedingungen quasi aus dem Programm verbannten, starb faktisch das LiveFernsehen in den USA.

17 | U.a. In: Carey: ABC to impose delay on Oscar telecast. In: CNN (Online-Ausgabe). Unter: http://edition.cnn.com/2004/SHOWBIZ/Movies/02/05/sprj.aa04.abc.oscar. delay/ [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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FALLBEISPIEL: „IT SOUNDS BORING… BECAUSE IT IS.“ Nur wenige Jahre nach dem folgenschweren SUPER BOWL kam eine Bewegung auf, die zwar weniger globale Aufmerksamkeit erfuhr, aber nicht minder bemerkenswert ist. Sie soll an dieser Stelle ausführlich besprochen werden, weil sie helfen wird, die hergeleiteten Prinzipien der fernsehhaften Liveness auf die Angebote von YouTube und Netflix übertragen zu können. Gemeint ist jene Bewegung, die unter dem Namen „Slow TV“ zusammengefasst wird und ihren Ursprung im Jahr 2009 in Norwegen hat. Einer der Erfinder dieser hybriden Programmform, die irgendwo zwischen Format und Genre oder zwischen Event und Serie zu verorten ist, ist der norwegische Dokumentarfilm-Produzent Thomas Hellum, der seine Idee in einem Beitrag auf einer TED-Konferenz skizziert. Der vollständige Vortrag wurde von den Verantwortlichen der Veranstaltung mitgeschnitten und ist als sogenannter TEDtalk über YouTube abrufbar. Darin stellt Hellum eine Reihe von bisher realisierten Projekten vor und erläutert, welchen besonderen Reiz ihr konsequenter Ansatz birgt. Die Definition seines Prinzips nimmt er dabei jedoch nicht selbst vor, sondern lässt dafür einen Ausschnitt aus dem Programm des englischsprachigen Nachrichtennetzwerks Al Jazeera einspielen. Der Sprecher beschreibt „Slow TV“ folgendermaßen:

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A new kind of reality TV show was born and it goes against all the rules of TV engagement. There is no storyline, no script, no drama, no climax and it’s called Slow TV. […] On the surface it sounds boring… because it is.1

Ihren Startpunkt fand diese atypische Form der Fernsehunterhaltung mit dem Projekt BERGENSBANEN – MINUTT FOR MINUTT2, das am 27. November 2009 eine vollständige Reise mit dem Zug von Bergen zum 371km entfernten Oslo (auf der sogenannten „Bergensbanen“) in voller Länge und damit mit einer Dauer von 7 Stunden und 14 Minuten zeigte. Spärlich inszeniert, konzentrierte sich das Gezeigte vor allem auf den langsamen Wechsel der Landschaften, der mit drei feststehenden Kameras aufgenommen wurde.3 Lediglich bei Tunneldurchfahrten wurde das neu gefilmte Material durch einige Archivaufnahmen aus der Geschichte der Bahnlinie ergänzt. Gänzlich neu war die Idee zu dieser Zeit allerdings nicht mehr, dienten doch Führerstandsfahrten auf spektakulären Eisenbahnlinien schon länger als Pausenfüller für Programmlücken. In Deutschland etwa begann das Gemeinschaftsprogramm der ARD ab 1995 nächtliche Freiräume mit der Reihe DIE SCHÖNSTEN BAHNSTRECKEN DEUTSCHLANDS4 zu überbrücken und die unterschiedlichen Längen des Tagesprogramms auszugleichen, damit das Programmritual des folgenden Tages verlässlich zur gewohnten Zeit neu gestartet werden konnte. Trotz dieser inhaltlichen Nähe, ist der Unterschied zwischen beiden Varianten substantiell, ist doch die Fahrt der norwegischen Bergensbanen nicht als Sendepause zu verstehen und nicht im Randbereich des Programms versteckt, wo sie (bezogen auf die Sehbeteiligung) möglichst wenig Schaden anrichten kann. Ihr Clou bestand gerade darin, sie nicht als rein funktionales Element zu verstehen, sondern als vollwertiges Programm, das im staatlichen Kanal DRK2 entsprechend an einem Freitag im Hauptabendprogramm platziert wurde. Ein programmplanerisch mutiger Schritt, weil er die bis dato tradierten und angenommenen Sehgewohnheiten vorsätzlich negierte.

1 | Transkript des Videos: TED: Thomas Hellum: Das langweiligste Fernsehen der Welt ... und warum es lustigerweise süchtig macht. In: YouTube.com (Video). Unter: https:// youtu.be/jxKUDXrtDFI [aufgerufen am 27. Januar 2020], ca. 00:30 Min. 2 | Bergensbanen – minutt for minutt, NOR 2009. 3 | Eine vierte Kamera filmte ergänzende Aufnahmen aus dem Inneren des Zuges. 4 | Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands, D 1995 - 2013.

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FERNSEHEN ALS BESCHLEUNIGUNG Üblicherweise wird angenommen, dass Zuschauende den eingeschalteten Kanal in der Sekunde wechseln würden, in der sie sich durch das dort angebotene Programm gelangweilt fühlten. Die daraus resultierende Strategie versucht deshalb durch eine „Beschleunigung des Erzählens und Darstellens in den Programmen das Switchen selbst vorwegzunehmen“.5 Diese Position basiert auf der Auffassung, dass im Repertoire des Fernsehprogramms zwar ein fortlaufender Bilderstrom existiert, dieser aber nicht als Einheit erscheint, weil jeder Kanal einen eigenen Flow anbietet, der in Konkurrenz zu den anderen Wettbewerbern steht. Für Programmplanung und Publikum stellt es daher einen essenziellen Unterschied dar, welcher der parallel ablaufenden Flows verfolgt wird. Damit aber ist es gerade diese Konkurrenz der verschiedenen Flows, dem jene beschriebene Beschleunigungs-Tendenz des Programms geschuldet ist. Sie befeuert den bereits laufenden und unumkehrbaren Mechanismus, der zwangsläufig zu einer immer größeren Beschleunigung führen muss und deswegen von Christian Scherer als „Teufelskreis“ typisiert wird: Durch die fortschreitende Beschleunigung der Bilder prägen die Programmacher Sehgewohnheiten, sie schulen die Wahrnehmungsfähigkeit, strukturieren die Erwartungshaltung der Zuschauer und sehen sich in der Folge gezwungen, in ihren Sendungen diese Sehgewohnheiten zu bedienen, um ihre Klientel vom Wechsel in andere Kanäle abzuhalten.6

Das unvermeidbar voranschreitende Beschleunigungsdiktat lässt strukturell keinen Endpunkt zu – wenn überhaupt kann dieser einzig im physischen Erfassungsvermögen des menschlichen Geistes eine Erschöpfung finden, nicht aber aus dem Medium selbst heraus. Eine ähnlich gelagerte Tendenz zur Schnelligkeit des Fernsehens birgt das Modell von John Ellis in sich, welches er im Jahr 1982 und damit noch vor der Einführung von hochauflösenden Übertragungen und der Verbreitung von großflächigen Flachbildgeräten entwickelt hat. Er leitet seine Auffassung weniger aus der Charakterisierung des Programms als Fluss ab, als vielmehr aus der spezifischen Beschaffenheit des Fernsehbildes. Demnach sträube es sich aufgrund sei-

5 | Hickethier: Das Dispositiv Fernsehen und seine Programme. In: Hickethier (Hrsg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, S. 237. 6 | Scherer: Programmpräsentation und Fernsehdesign im Programm von RTL und SAT.1. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 152.

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ner (im Vergleich zum Kino) reduzierten Größe und seiner niedrigen Auflösung, Details und Unwesentliches zu zeigen und sei daher „eher andeutend als detailliert“ beschaffen. Die Produktion „entleerter“ Bilder als sein zentrales Merkmal, führe dazu, dass der Informationswert der Fernsehbilder ganz bewusst gesenkt werde und sie sich schnell erschöpften.7 Weil ein Bild üblicherweise nur so lange auf dem Bildschirm gezeigt werde, bis sein Informationswert erschöpft ist, ergebe dies eine spezifische Form der Komposition von Fernsehbildern, deren Variationen „eher durch Bildwechsel und weniger durch die Einführung vielschichtiger Elemente innerhalb eines einzelnen Bildes geschaffen“ werde. Abwechslung und Interesse entstehen durch den schnellen Wechsel von Bildern, weniger durch ein großartiges Bild. Fernsehen kompensiert die Einfachheit seiner Bilder mit schnellen Schnitttechniken.8

Damit erhebt Ellis – stets im Vergleich zum (Kino-)Film – ebenfalls eine visuelle, ästhetische und zugleich inhaltliche Schnelligkeit zu einem spezifischen Merkmal des Mediums, welches er in der genuinen Detailarmut des Fernsehbildes begründet. Er erkennt demnach zwar ebenso eine Tendenz für „ein schnelles Alternieren der Bilder“, allerdings nicht zwangsläufig einen unvermeidbaren Drang, dieses hohe Tempo fortwährend noch steigern zu müssen. Dennoch haben beide Positionen gemein, dass sowohl ein schneller Bildwechsel als auch eine immer konzentriertere Dramaturgie gezielt eingesetzt werden, um dem Aufkommen von Desinteresse bei den Zuschauenden zuvorkommen zu wollen. Sie sprechen dem Fernsehbild eine inhärente Tendenz zur Schnelligkeit (oder gar zur Beschleunigung) zu, die durch die spezifische Beschaffenheit des Mediums verursacht und damit letztlich in es eingeschrieben ist. Das fernsehhafte Bild ist ein in schneller Frequenz fluktuierendes Bild, das weder visuelle noch inhaltliche Leerstellen erlaubt.

FERNSEHEN ALS ENTSCHLEUNIGUNG Das norwegische „Slow TV“ muss aufgrund seiner geradezu zelebrierten Entschleunigung und fundamentalen Abkehr von der Akzeleration-Logik als radikaler Gegenentwurf zum Modell des Fernsehens als Medium der Beschleunigung

7 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 61f. 8 | Ebd.

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verstanden werden. Mit Erfolg, denn entgegen aller Wahrscheinlichkeiten, die aus den bisher als unumstößlich gehaltenen Fernseh-Gesetzmäßigkeiten zu berechnen waren, erwies sich die siebenstündige Übertragung der BergensbanenFahrt für das norwegische Fernsehen als ein Publikumsmagnet. Laut einer Pressemitteilung der staatlichen Rundfunkgesellschaft Dänemarks hätte sie eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 176.000 Menschen erzielt und die für diesen Sendeplatz üblichen Reichweiten mehr als verfünffacht. In ihrem siebenstündigen Verlauf hätten etwa 1,2 Millionen Personen die Ausstrahlung wenigstens einmal eingeschaltet, was einem Fünftel der Gesamtbevölkerung des Landes entspräche.9 Obwohl sich die Konzeption von BERGENSBANEN MINUTT FOR MINUTT den Normen des zeitgenössischen Fernsehmarktes vehement widersetzt zu haben schien, griff nach deren als Erfolg verbuchter Premiere die unvermeidliche Marktlogik ein und führte ein Jahr später mit FLÅMSBANA – MINUTT FOR MINUTT10 zu einer naheliegenden Fortsetzung, die sich nun der Zugfahrt von Myrdal nach Flåm widmete. Im Jahr 2011 folgte schließlich mit HURTIGRUTEN – MINUTT FOR MINUTT11 eine Tour des Schiffs MS Nordnorge entlang der Fjorde von Bergen nach Krikenes, die mit einer vollständig übertragenen Laufzeit von 134 Stunden (also fast sechs Tagen) zur weltweilt längsten Live-FernsehDokumentation wurde und die Werte der Bergsbahnen-Fahrt noch einmal deutlich steigern konnte.12+13 Damit war die einst als ungewöhnlich und bizarr belächelte Idee endgültig etabliert, was nach den Gesetzen der Ökonomie des Fernsehens (und des industriellen Zeitalters) zwangsläufig in eine Serialisierung der anfänglich als Einzelereignisse angelegten Übertragungen mündete. So werden seit 2012 mit einer planbaren Regelmäßig- und Verlässlichkeit jährlich drei bis vier derartige Projekte realisiert – meist unter der gleichbleibenden Marke „mi-

9 | Knap Sæby: ‚Bergensbanen minutt for minutt‘ ble helgens store snakkis. In: nrk.no (Onlineauftritt der NRK). Unter: https://www.nrk.no/kultur/1_2-millioner-innom_bergensbanen_-1.6888505 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 10 | Flåmsbana – minutt for minutt, NOR 2010. 11 | Hurtigruten – minutt for minutt, NOR 2011. 12 | Riise / Falch-Nilsen: Hurtigruten sprenger alle rekorder! In: nrk.no (Onlineauftritt der NRK).

Unter:

https://www.nrk.no/kultur/hurtigruten-sprenger-alle-rekorder_-1.

7680819 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 13 | Demnach hätte die Übertragung der Schiffsreise über das Wochenende einen Marktanteil von 35 Prozent erzielt, der beim betreffenden Kanal am vorangegangenen Wochenende gerade sechs Prozent betrug. Im Laufe des 134-stündigen Programms hätten 2,5 Millionen Menschen mindestens einmal eingeschaltet, was etwa der Hälfte der norwegischen Bevölkerung entspricht.

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nutt for minutt“. Neben weiteren Reiserouten gehörten dazu 18 Stunden Lachsfischen (LAKSEELVA – MINUTT FOR MINUTT14 – es dauerte drei Stunden, bis der erste Fisch gefangen wurde), 12 Stunden Stricken (NASJONAL STRIKKEKVELD15 – unter dem Motto „From the sheep to the sweater“) 16 oder 10 Tage Wanderung einer Rentier-Herde (REINFLYTTING MINUTT FOR MINUTT).17+18 Zudem strahlte man im Februar 2013 die NASJONAL VEDKVELD (NATIONAL WOOD NIGHT19) aus, in der das dreistündige Hacken und Stapeln von Holz sowie sein achtstündiges Abbrennen zu sehen waren.20 Auch all diese Sendungen wurden in voller Länge gezeigt und waren keine Lückenfüller oder fanden ausschließlich im Nachtprogramm statt.21 Sie waren allesamt originäres Programm mit einer überdurchschnittlichen Sehbeteiligung und einer Berichterstattung, die sich weltweit zurückverfolgen lässt.22 Diese Reaktionen veranlassten den Norddeutschen Rundfunk am 05. Juni 2017 unter dem Titel DIE ELBE. GANZ IN RUHE.23 eine fünfstündige Flussfahrt von Bleckede nach Hamburg mit dem 117 Jahre alte Raddampfer „Kaiser Wilhelm“ und damit eine eigene Variante von „Slow TV“ auszustrahlen. Zuvor begann der Kanal ARD Alpha, das mehrteilige Projekt MORA – GIB DIR ECHTZEIT24 umzusetzen, in der die Arbeit unterschiedlicher Berufsgruppen25 für jeweils eine Stunde ohne Kamerafahrten, ohne Schnitt und ohne

14 | Lakseelva – minutt for minutt, NOR 2012. 15 | Nasjonal strikkekveld, NOR 2013. 16 | Aus dem Video: TED: Thomas Hellum: Das langweiligste Fernsehen der Welt ... und warum es lustigerweise süchtig macht. In: YouTube.com (Video). Unter: https:// youtu.be/jxKUDXrtDFI [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 17 | Reinflytting minutt for minutt, NOR 2017. 18 | NRK Press: Reindeer Herding with NRK ‚Slow TV‘. In: nrk.no (Online-Auftritt der NRK). Unter: https://www.nrk.no/presse/reindeer-herding-with-norwegianbroadcasting-_slow-tv_-1.13462443 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 19 | Nasjonal vedkveld, NOR 2013. 20 | Heller: Slow TV Is Here. In: The NewYorker (Online-Ausgabe). Unter: http:// www.newyorker.com/culture/cultural-comment/slow-tv [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 21 | Wie beispielsweise das jahrelange nächtliche „Kaminfeuer“ bei SuperRTL. 22 | In seinem Vortrag bei TED zeigt Thomas Hellum Ausschnitte aus den US-Talkshows JIMMY KIMMEL LIVE (USA seit 2003) und THE COLBERT REPORT (USA 2005 2014). 23 | Die Elbe. Ganz in Ruhe, D 2017. 24 | Mora – Gib Dir echtZeit, D 2015 - 2016. 25 | Darunter sind eine Cellobauerin, ein Trockenmauerbauer und ein Uhrmacher.

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Musik dokumentiert wird. Diese Produktion, die sich anstelle von Naturerlebnissen auf das Beobachten von Menschen bei der Arbeit konzentrierte, versteht sich selbst als eine Spielart des norwegischen „Slow TV“ und verfolgt ebenfalls das Ziel einer absichtlichen Entschleunigung.26 In seiner entschlossenen Form erinnern die norwegischen Formate den Journalisten Nathan Heller an Kunstprojekte oder avantgardistische Installationen wie Andy Warhols Film SLEEP27, in dem über eine Länge von mehr als fünf Stunden ausschließlich der Poet John Giorno beim Schlafen gezeigt wird. Anders als Warhols Werk ordnet Heller das norwegische „Slow TV“ weniger dem Feld der zeitgenössischen Kunst als vielmehr einer (wie er es formuliert) „nebulösen […] slow movement“ zu, die bestrebt sei, Bereiche des Lebens wie Ernährung, Produktion, Bildung, Religion und Sex zu entschleunigen, weil dies zu einem gesunden, erfüllten und insgesamt besseren Leben führen würde. Gruppen wie das World Institute of Slowness verstünden sich demnach als Alternative zu einer (recht vage definierten) steigenden Beschleunigung der modernen Gesellschaft, weswegen „Slow TV“ in dieser Auffassung die nötige Befreiung von „Cliffhangern dicht-erzählter Drama-Serien“ im schnellen Fernsehen liefere.28 Diese Interpretation deckt sich mit den Aussagen der NDR-Autorin Claudia Sarre, die „Slow TV“ ausdrücklich in eine Linie mit einem verstärkten Zulauf für Yoga-Kurse und einem allgemein höheren Interesse an Sabbat-Jahren oder Babypausen (für Männer) stellt. Sie macht dafür ebenso einen wahrnehmbar ansteigenden Effizienz- und Geschwindigkeitsdruck der westlichen Industriegesellschaften verantwortlich, der für einen „sprunghaften“ Anstieg an psychischen, oftmals stressbedingten Krankheiten wie Burnout oder Depression sorge und daher eine Rückbesinnung zu einer bewussten Langsamkeit als gesellschaftlichen Trend hervorbringe.29

26 | Batist: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit. In: Deutschlandfunk.de (OnlineAngebot des Deutschlandfunks). Unter: http://www.deutschlandfunk.de/slow-tv-diewiederentdeckung-der-langsamkeit.761.de.html?dram:article_id=316191 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 27 | Sleep, USA 1964, Andy Warhol. 28 | Heller: Slow TV Is Here. In: The NewYorker (Online-Ausgabe). Unter: http:// www.newyorker.com/culture/cultural-comment/slow-tv [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 29 | Sarre: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit. In: NDR.de (Online-Auftritt des NDR).

Unter:

http://www.ndr.de/kultur/Die-Wiederentdeckung-der-Langsamkeit,

langsamkeit100.html [aufgerufen am 08. Juli 2017].

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Es ist durchaus möglich, dass eine Ursache für die anhaltende internationale Begeisterung derartiger Programme in einer esoterisch-anmutenden Gegenbewegung zu einer sich beschleunigend wahrgenommenen Industriegesellschaft zu suchen ist, vielleicht aber liegt der Zuspruch viel stärker im Medium Fernsehen und dessen Entwicklung begründet. Vielleicht erfüllen diese Programme noch eine weitere Sehnsucht, abseits einer absichtlichen Verlangsamung, eine Sehnsucht, die das übrige Fernsehprogramm und andere Unterhaltungsmedien nicht (mehr) zu stillen vermögen. Eine erste naheliegende, nicht auf gesellschaftliche Entschleunigung abzielende Erklärung kann in der stetig verbesserten Auflösung der übertragenen Bilder gesucht werden, die sich dank High Definition nun weniger schnell erschöpfen und deswegen länger wirken könnten. Diese Überzeugung scheinen zumindest die Verantwortlichen der deutschen Reihe MORA – GIB DIR ECHTZEIT zu vertreten, da sie im Gegensatz zur norwegischen Vorlage einen feststehenden Split-Screen nutzen, mit dessen Hilfe die Arbeiten etwa der Cellobauerin gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln präsentiert werden. Dem Modell von John Ellis folgend, wird auf diese Weise das sich schnell erschöpfende Fernsehbild durch zusätzliche Perspektiven und weitere Details gezielt angereichert, um sein stetig schwindendes Interesse künstlich verlängern zu können.

Abbildung 24: In der Sendung MORA – GIB DIR ECHTZEIT wird eine arbeitende Cellobauerin aus mehreren Perspektiven gezeigt.30

30 | Screenshot aus dem Video: ARD-alpha: MORA – Folge 8 – Die Cellobauerin (HD/1080p). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/JwdnVCGHmL4 [angefertigt am 27. Januar 2020].

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Der norwegische Ansatz wählt ausdrücklich nicht jenen Weg einer nachträglichen Anreicherung der Bilder und zielt vielmehr auf deren totale Erschöpfung ab. Daraus, so leitet es der „Slow TV“-Erfinder Thomas Hellum in seinem TEDtalk anhand eines kurzen Ausschnitts her, könnten sich gänzlich neue Wahrnehmungserfahrungen ergeben: This is from last summer and as a TV producer: ‚It’s a nice picture, but now you can go to the next one…‘ But this is slow TV. You have to keep this picture until it is really hurting your stomach and then you keep it a little bit longer. And when you keep it that long I’m sure some of you now have noticed the cow. Some of you have seen the flag. Some of you started wondering is the farmer at home, has he left. Is he watching

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the cow? And where is that cow going? So, my point is the longer you keep a picture like this and we kept it for ten minutes you start making the stories in your own head. That’s slow TV.31

Abbildung 25: Einstellung, die im Rahmen der Hurtigruten-Fahrt für zehn Minuten gezeigt wurde.32

31 | TED: Thomas Hellum: Das langweiligste Fernsehen der Welt ... und warum es lustigerweise süchtig macht. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ jxKUDXrtDFI [aufgerufen am 27. Januar 2020], ca. 16:30 Min. 32 | Screenshot aus dem Video [angefertigt am 27. Juli 2018].

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Der Prozess, den Hellum hier beschreibt, deckt sich prinzipiell mit McLuhans Einordnung des Fernsehens als kaltes Medium, das aufgrund seiner Detailarmut eine Vervollständigung durch das Publikum verlange. 33 In Zeiten des hochauflösenden Fernsehens setzt diese Auffüllung allerdings zeitlich später ein und bezieht sich nicht mehr nur auf das Auffüllen von Leerstellen, die das Bild aufgrund seiner technischen Beschaffenheit birgt, sondern konzentriert sich nun auf einzelne Elemente innerhalb des Bildes, denen ein eigenständiger Sinn – ein eigenes Leben – zugeordnet wird.

ERZÄHLZEIT UND ERZÄHLTE ZEIT Aus dem skizzierten Phänomen des „Slow TV“ lassen sich nun zwei wesentliche Ableitungen treffen, die für On-Demand-Dienste wie Netflix und YouTube relevant scheinen. Zunächst wird darin erneut sichtbar, dass um im Fernsehprogramm stattfinden zu können, sich sämtliche Inhalte einer bestimmten Aufbereitung unterwerfen müssen. Hier ist insbesondere das serielle Korsett mit wiedererkennbaren Titeln, ähnlich gelagerten Themen, ritualisierten Abläufen und planbaren Regelmäßigkeiten zu nennen, das eine Einverleibung eines derart sperrigen und fernsehverneinenden Inhalts ermöglicht. So ist die deutsche Produktion MORA – GIB DIR ECHTZEIT von Anfang an als mehrteilige Serie konzipiert und produziert worden. Das Prinzip der Serialität ist, so muss man schlussfolgern, geeignet, nahezu jeden Inhalt und jede Laufzeit für das Fernsehen verwertbar zu machen und entfaltet dabei eine derart große Wirkungskraft, dass es selbst eine Verweigerung der fernsehtypischen Beschleunigung auszustechen vermag. Weil das Prinzip der Serialität in televisionizitären On-Demand-Angeboten ebenso präsent ist, ist es nur logisch, dass viele der Mammut-Sendungen von mehreren User*innen bei YouTube hochgeladen und auf diese Weise archiviert wurden (u.a. die Bergensbanen-Fahrt oder die vollständige sechstägige Hurtigruten-Schiffsreise aufgeteilt in 35 Videos). Auf eigenen Kanälen werden sie oft um weitere unzählige, stundenlange Schifffahrten, Bahnreisen und Autotouren ergänzt, die zwar nicht aus dem norwegischen Fernsehprogramm stammen, aber in ihrer Gesamtheit beinahe ein eigenes Genre herausbilden, wenigstens über die Kanäle hinweg ein serielles Muster offenbaren. Genauso wenig ist es dann überraschend, dass im August 2016 das Unternehmen Netflix die nordi-

33 | McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 35.

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schen Produktionen in sein abrufbares Portfolio34 aufnahm. Auch dort kann seitdem die Fahrt mit der Bergensbanen abgerufen werden – genauso wie das Lachsfischen, der Strick-Marathon und die NATIONAL WOOD NIGHT, die allesamt unter der Marke „Slow TV“ zusammengefasst und derart miteinander verknüpft sind, dass beim Anwählen einer Episode, die übrigen als zusätzliche Vorschläge angeboten werden. Die zweite, wesentlichere Beobachtung, die sich aus dem „Slow TV“ und seinen Ablegern ziehen lässt, betrifft die Zeitlichkeit der umgesetzten Projekte, denn sie alle basieren auf einer Darstellung der Ereignisse in voller Länge. Sie vermeiden allesamt Zeitsprünge, Zeitdehnungen oder Zeitraffungen, was für deren Erfinder Thomas Hellum die entscheidende Komponente seiner Programme darstellt. We take the viewers on a journey that happens right now in real time. The Viewer gets the feeling of actual being there, actual being on the train, on the boat and knitting together with others. The Reason why they doing that is because we don’t edit the time line. It is important that we don’t edit the time line.35

In Hellums Sendungen herrscht somit ausnahmslos eine vollständige Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit, in ihnen herrscht Echtzeit. Hierin besteht eine Überschneidung mit den „Live-Übertragungen“ im Fernsehprogramm, bei denen durch die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Berichterstattung unweigerlich auch eine Deckungsgleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit vorliegt. Umberto Eco hält hierzu fest, dass es das… […] Zusammenfallen von realer Zeit und Zeit der Fernsehdarstellung [ist], das es unmöglich macht durch irgendeinen erzählerischen Kunstgriff diese autonome Zeit des aufgenommenen Ereignisses zu raffen.36

Bei simultanen Übertragungen herrscht demnach wie beim norwegischen „Slow TV“ stets ein Zustand von Echtzeit. Es lässt sich hieraus schlussfolgern: Bezo-

34 | Bisher sind diese Programme im Angebot von Netflix nicht von Deutschland aus abrufbar, wohl aber aus den USA (Stand: September 2018). 35 | TED: Thomas Hellum: Das langweiligste Fernsehen der Welt ... und warum es lustigerweise süchtig macht. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ jxKUDXrtDFI [aufgerufen am 27. Januar 2020], ca. 15:55 Min. 36 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 188.

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gen auf die Länge des abgebildeten Ereignisses bedeutet Nullzeit zugleich auch immer ein Vorliegen von Echtzeit. Hierbei meint der Begriff Echtzeit aber ausdrücklich nicht zwangsläufig eine verzögerungsfreie Übertragung. Um sprachlich eindeutig und differenzierbar zu bleiben, wurde das Übertragen eines Signals in Echtzeit in Anlehnung an William Uricchio weiter oben bereits mit dem Begriff Simultaneität37 besetzt. Echtzeit umfasst hingegen eine Deckungsgleichheit zwischen aufgenommener Zeit und ausgespielter Zeit, aber eben keine zwangsläufige Gleichzeitigkeit. Einen Vorgang in Echtzeit zu zeigen, heißt also, ihn in unveränderter zeitlicher Abfolge und in unveränderter Länge abzubilden – ihn weder zu beschleunigen noch zu verlangsamen. Dies kann in Form einer simultanen Übertragung erfolgen, ist aber keine zwingende Voraussetzung. Somit kann auch in Aufzeichnungen wie der siebenstündigen Bergensbanen-Fahrt der Zustand von Echtzeit vorliegen. Das Abbilden eines Geschehens in dessen tatsächlicher Länge bedeutet zugleich, dass es vollends auf seinen Verlauf und damit auf seine eigene Gegenwart konzentriert und in ihr verankert ist. Der Kamera gelingt es dadurch etwas zu erreichen, was dem menschlichen Geist verwehrt bleibt – die Aufzeichnung einer vollständigen Erfahrung der Präsenz von Zeit („the full visual experience of being in time“38).

DIE HANDLUNG PAUSIERT Dass sich eine Erfahrung der Präsenz von Zeit tatsächlich einstellen kann, erscheint bei der Übertragung eines achtstündigen Lagerfeuers – bei der wahrscheinlich denkbar reinsten Form von Reality-TV – noch naheliegend und vorstellbar. Umso komplexer gestaltet sich der Nachweis dieses Prozesses für nichtfiktionale Produktionen wie zeitgenössische (Fernseh-)Serien. Dort nämlich erstreckt sich die Erfahrung nur in den seltensten Fällen auf den vollständigen Verlauf der Handlung39, sondern meist nur auf einzelne Momente oder Szenen, die aber einen entscheidenden Effekt erzeugen können.

37 | Uricchio: Medien, Simultaneität, Konvergenz. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 281 - 304. 38 | Heller: Slow TV Is Here. In: The NewYorker (Online-Ausgabe). Unter: http:// www.newyorker.com/culture/cultural-comment/slow-tv [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 39 | Ein solches seltenes Beispiel bildete die Serie ZEIT DER HELDEN (D 2013), die vom 25. bis 29. März 2013 im SWR Fernsehen und auf Arte ausgestrahlt wurde.

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Eine solche Szene findet sich etwa in der fünften Folge der Serie BREAKING BAD.40 Bevor sie einsetzt, hat der Hauptprotagonist Walter White darin die Übernahme der Kosten für seine teure Krebsbehandlung durch seinen früheren Geschäftspartner aus Stolz abgelehnt. In der betreffenden Szene, die zeitlich am Morgen danach angesiedelt ist, ist die Familie White beim gemeinsamen Frühstück zu sehen, welches sie wortlos hinter sich bringen. Dabei nimmt Walter einen Schluck Kaffee aus seinem Becher und stochert in seinem Essen herum, während er von seiner Frau Skyla mit einem skeptischen Blick gemustert wird. Sie beide werden wiederum von ihrem Sohn Walter jr. beobachtet, der dabei seinen Orangensaft trinkt. Bis zu diesem Zeitpunkt besteht die Szene also lediglich aus stummen, nicht erwiderten Blicken der verschiedenen Charaktere.

Abbildung 26: Stummes Familienfrühstück in der Serie BREAKING BAD.41 Erst als Walter jr. den Tisch verlässt und das Angebot ablehnt, von seinem Vater zur Schule gefahren zu werden, ist nach 30 langen Sekunden das erste Mal überhaupt ein Wort und eher das Rudiment eines Dialogs zu hören. („Können wir los?“ – „Ich nehme den Bus.“ – „Wenn Du meinst. Bis dann.“) Als der Sohn den Raum verlassen hat, setzt erneut ein Schweigen ein. Die Szene endet schließlich damit, dass Skyla missmutig aufsteht und einen Teil des Geschirrs abräumt, während Walter unbeirrt weiter isst.

40 | Breaking Bad, USA 2008, Staffel 1, Folge 5 („Gray Matter“ / Dt.: „Grauzonen“), ca. 16:20 Min. 41 | Screenshots aus der Episode.

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Ein noch deutlicheres Beispiel stellt die Episode „Die Fliege“ dar, in der Walter eine Fliege in seinem eigentlich hermetisch abgeschlossenen unterirdischen Labor entdeckt und zusammen mit seinem Kollegen Jesse Pinkman alles daran setzt, das unerwünschte Tier einzufangen. Die entsprechende Episode widmet sich ausschließlich dieser ungewöhnlichen Jagd und zeigt über eine Länge von 50 Minuten ihre immer wieder scheiternden Bemühungen.42 Man könnte weitere Beispiele nennen, in denen sich die Serie zumindest punktuell dem in die Fernsehhaftigkeit eingeschriebenen Beschleunigungsdrang in ähnlicher Weise zu widersetzen scheint wie das norwegische „Slow TV“. Ausführlich haben die Autoren Timotheus Vermeulen und Gry C. Rustart dieses Phänomen anhand der US-Produktion MAD MEN43 untersucht und plädieren in ihrem Essay für eine Kategorisierung von Serien, die sich nicht an der Komplexität der Handlungsstränge, der Vielschichtigkeit von Charakteren oder dem Vorhandensein etwaiger Cliffhanger misst. Stattdessen schlagen sie vor, sich dezidiert mit dem Verhältnis zwischen „Gesagtem“ („the sayable“) und „Gezeigtem“ („the visible“) zu beschäftigen.44 Aus diesem Ansatz entwickeln sie ein vielschichtiges Modell, welches sich (sehr verkürzt) damit zusammenfassen lässt, dass Serien wie THE WIRE45 oder MAD MEN neben der Erzählung klassischer Plots auch eine Vielzahl an Elementen beinhalten würden, die sich diesem gerade nicht zuordnen lassen. Damit stünden sie im Kontrast zu handlungsgetriebenen Serien wie LAW & ORDER46, in denen ausschließlich das Ziel, einen Plot vorantreiben zu müssen, vorgibt, welche Szenen gezeigt werden und wie diese strukturiert sind. Evident wird dies anhand zweier dicht aufeinanderfolgenden Szenen aus der ersten Staffel von MAD MEN, die von den Autoren zur Veranschaulichung herangezogen werden. In ihnen ist die Hauptfigur Donald Draper dabei zu beobachten, wie er ein Spielhaus aufbaut. In the first Don is depicted reading the blueprints for the playhouse – getting a beer – building the playhouse – getting another beer – building the playhouse – smoking a cigarette – asking his daughter to get him yet another beer. In the second, which takes place about five minutes later (presumably both in real time and fictionally), Don is portrayed building the playhouse – getting a beer – pulling up his flies – flushing the

42 | Breaking Bad, USA 2010, Staffel 3, Folge 10 („Fly“ / Dt.: „Die Fliege“). 43 | Mad Men, USA 2007 - 2015. 44 | Vermeulen / Rustad: Watching television with Jacques Rancière. In: Screen, S. 342. 45 | The Wire, USA 2002 - 2008. 46 | Law & Order, USA 1990 - 2010.

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toilet – washing his hands – drying his hands on his T-shirt – walking into the kitchen to talk to his wife; here too he is shown smoking. 47

Abbildung 27: Don Draper baut in der Serie MAD MEN das Spielhaus auf. 48 Die Art, wie kleinteilig diese Szenen angelegt sind und wie präsent sich in ihnen alltägliche, fast nichtig wirkende Tätigkeiten zeigen, lässt Parallelen zum kleinen Frühstücks-Drama von BREAKING BAD erkennen, wo erzählerisch sehr ähnlich vorgegangen wird und kein entscheidender Beitrag zum Voranschreiten der Handlung geleistet wird. Selbstverständlich haben solche Momente dennoch einen inhaltlichen Gehalt und sagen etwas über die Settings, die Zeit, die Figuren oder ihre momentanen Beziehungen zueinander aus. Die Vehemenz, mit der Walter White seine ganze Kraft und seinen gesamten (Fach-)Verstand dafür einsetzt, die kleine Fliege zu besiegen, verdeutlicht sehr anschaulich seinen geistigen Zustand. Wie Don Draper an den Aufbau des Puppenhauses herangeht und welche zentrale Rolle für ihn dabei Bier spielt, legt wesentliche Eigenheiten seiner Persönlichkeit offen. Szenen wie diese vermitteln damit eher Stimmungen, Gefühlslagen oder Charakterzüge, ein klassischer Plot wird in ihnen allerdings nicht vorangetrieben.

47 | Ebd., S. 344. 48 | Screenshots aus der Episode: Mad Men, USA 2007, Staffel 1, Folge 3 („Marriage of Figaro“ / Dt.: „Figaros Hochzeit“), ca. 25:00 Min. & 27:00 Min. [angefertigt am 22. Dezember 2018].

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Zu einem vergleichbaren Resultat führt die von den Autoren Vermeulen und Rustard bei MAD MEN identifizierte und wiederholt verwendete Schnitttechnik, die sie den „Late Cut“ taufen. Darunter verstehen sie die regelmäßige Ankunft der Kamera an einem Handlungsort, noch bevor dort die eigentliche Handlung einsetzt. Umgekehrt verweilt sie dort häufig noch, nachdem eine für den Plot relevante Aktion abgeschlossen sei. Diese meist sekundenlangen Einstellungen, deren Dauer über die schlichte Etablierung der Handlungsorte hinausgehen, produzieren folglich immer wieder kurze Momente, die nicht dem Fortschritt der Story verpflichtet sind.49 Ebenso verhielte es sich mit Nebencharakteren, die hin und wieder durch solche Nahaufnahmen eingefangen würden, die im klassischen narrativen Kino nur handelnden Hauptfiguren vorbehalten wären. 50 Man könnte diese Beobachtungen abermals mit den Theorien von John Ellis und Marshall McLuhan in Verbindung setzen und den Einfluss der nun hochauflösenden Bilder darauf beleuchten. Diesen Weg aber gehen die Autoren nicht, vielmehr erkennen sie, dass durch all diese Elemente innerhalb der Serie eine eigene Welt sichtbar wird, die ein eigenes Recht auf Existenz hat und nicht nur den Hintergrund für das Erzählen eines Plots bildet, der sich um die wenigen Hauptfiguren strickt. Es ist eine Welt, in denen die Orte und Figuren, die sich in ihr bewegen, eigenständig und nicht nur rein funktional sind.51 Unweigerlich drängt sich hier die von Siegfried Kracauer formulierte realistische Tendenz des Films auf, die besonders geeignet sei, die physische Realität der Welt und den „Fluss des Lebens“ abzubilden. Demnach würde sich der Film anders verhalten als theatralische Bühnenstücke, in denen jedes Element zweckbestimmt zur Story hinführen müsse und kein Bild behalten würde, das nicht zur Handlung gehöre.52 Der Film hingegen strebe die Darstellung von „Leben in seiner Fülle“53 an. Hierin läge der eigentliche „Geist des Mediums“, weswegen in ihm eine „Tendenz zum Unbegrenzten“ sowie eine „Sehnsucht nach den weiten Räumen des Lebens“ innewohnen.54 Dafür müsse die Handlung zuweilen weit hinter sich gelassen55 und das Privileg genossen werden, auch das „Zittern der im Winde sich regenden Blätter“56 zu zeigen. In Kracauers Sinne stellt der „Late

49 | Vermeulen / Rustad: Watching television with Jacques Rancière. In: Screen, S. 345ff. 50 | Ebd., S. 349f. 51 | Ebd., S. 351. 52 | Kracauer: Theorie des Films, S. 292. 53 | Ebd., S. 307. 54 | Ebd., S. 308f. 55 | Ebd., S. 307. 56 | Ebd., S. 293.

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Cut“ geradezu das ideale Gestaltungsmittel dar, um die von ihm beschriebene Durchlässigkeit für den Fluss des Lebens zu erzeugen. Aus ihren Beobachtungen entwickeln Vermeulen und Rustart schließlich den Vorschlag, das Programm nicht mehr in die fragwürdigen Sparten „Television“ und „Quality Television“ zu separieren, sondern als Unterscheidungskriterium die Hierarchie zwischen Plot und der dargestellten Welt heranzuziehen.57 Inwieweit dieses Vorgehen einen tatsächlich Mehrwert verspricht, kann an dieser Stelle offen bleiben, denn der interessante Aspekt ihrer Ausführung liegt in der Beobachtung, dass in Serien wie MAD MEN und BREAKING BAD der Plot immer wieder pausiert. Dies ist ein Zustand, den die Autoren als diegetische Unzeitlichkeit („diegetic atemporality“) beschreiben und der gemessen am Plot weder über eine Zukunft noch über eine Vergangenheit verfügt. Es sind Momente, so muss man ihre Analyse ergänzen, die ähnlich wie bei der Übertragung der Bergensbanen-Fahrt vollständig in der Gegenwart verhaftet sind. Anders ausgedrückt: Serien wie MAD MEN und BREAKING BAD vermeiden, indem sie eine eigenständige Welt und das alltägliche Leben hineinströmen lassen; indem sie auch (auf den Plot bezogenen) „unwichtiges“ aufnehmen, eine permanente Verdichtung ihrer Handlung. Sie verzichten zumindest punktuell auf allzu deutliche Unterbrechungen oder gar Sprünge in der Zeitstruktur der Handlung und erzeugen dadurch zumindest abschnittsweise den Eindruck von „Echtzeit“ (im Sinne einer Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit). Sie nähern sich auf diese Weise den Programmen der „Slow TV“-Bewegung an, die einen echten Plot nicht nur zeitweise pausieren lassen, sondern ihn sogar nahezu negieren.

DURCHLÄSSIGKEIT FÜR LEBEN Es lässt sich noch einmal festhalten, dass sich die Möglichkeit einer simultanen Übertragung als eine Kardinalseigenschaft der Fernsehhaftigkeit erweist, die es den Zuschauenden ermöglicht, an entfernten Ereignissen in Echtzeit partizipieren zu können. Der Live-Anspruch des Mediums, Bilder von Vorgängen und Geschehen zu liefern, die im dem Augenblick, in dem sie der Zuschauer auf dem Bildschirm sieht, auch tat-

57 | Vermeulen / Rustad: Watching television with Jacques Rancière. In: Screen, S. 354.

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sächlich an einem entfernten, dem Zuschauer nicht unmittelbar zugänglichen Ort statthaben, erhöht den suggestiven Eindruck, am ‚Fluß des Lebens‘ teilzuhaben.58

Ohne zeitliche Raffung, ohne Aussicht, in die Timeline der abgebildeten Ereignisse eingreifen zu können, und ohne die absolute Kenntnis, wie diese ablaufen werden, bieten derartige Programme demnach sowohl einen Zugang zur Erfahrung der entfernten Gegenwart als auch eine Durchlässigkeit der dort präsenten Atmosphäre. So zeigen Live-Sendungen in einer politischen Debatte neben den sprechenden Köpfen ebenso die nervösen und schweißgebadeten Hände oder ein misshandeltes Taschentuch der Befragten. Sie zeigen Fürst Rainier III. bei seiner Hochzeit, wie er sich beim Vorbeimarsch der Militärkapelle Staub vom Schritt seiner Hose abklopft, nachdem er sich zuvor an die Brüstung gelegt hatte. Und sie zeigen, wie er dabei von seiner Braut Grace Kelly belächelt wird.59 Sie zeigen den Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, wie er einem Balljungen schelmisch den Fußball unter dem Arm wegstubst. 60 Solche Sendungen zeigen die Reaktionen jubelnder Fußball-Fans, kleine Tiere, die sich versehentlich auf die Rennstrecke verirrt haben oder schwatzende Parlamentsabgeordnete. Damit lassen sie die Abbildung einer Welt zu, die nicht nur funktional ist und ein Anrecht auf eine eigene Existenz hat. Sie zeigen nicht nur das parallel weiterlaufende Fußballspiel, sie zeigen die gesamte Peripherie um das eigentliche Match – sie bilden die (Um-)Welt abseits des vorrangigen Plots ab. Hier nun tritt die Verbindung und Ähnlichkeit zu Serien wie MAD MEN und BREAKING BAD hervor, in denen sich durch das zeitweise Pausieren des eigentlichen Plots und das Vorliegen von Echtzeit eine vergleichbare Durchlässigkeit für die Präsenz der Welt einstellen kann. In diesem Dreieck aus Simultaneität, Echtzeit und Durchlässigkeit treffen sich das norwegische „Slow TV“, zeitgenössische Serien und Live-Sendungen des Fernsehprogramms und bilden eine starke Similarität, die zu vergleichbaren Effekten führt.

58 | Hickethier: „Bleiben Sie dran!“. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 35. 59 | Die Beispiele stammen aus: Eco: Das offene Kunstwerk, S. 190f. 60 | Wie sich später herausstellte, wurde die entsprechende Szene noch vor dem Spiel aufgezeichnet, dann aber in die simultane Übertragung der Partie derart hineinmontiert, dass sie allgemein als live angenommen wurde. (Kha: Löw ärgerte Balljungen schon vor dem Spiel. In: Spiegel (Online-Ausgabe). Unter: http://www.spiegel.de/ panorama/spass-von-jogi-loew-mit-balljungen-bei-em-fand-vor-dem-spiel-statt-a838980.html [aufgerufen am 27. Januar 2020]).

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NEUES FERNSEHEN WIE FRÜHER Der Verzicht auf eine konsequente und stetige narrative Verdichtung in fiktionalen Serien erzeugt demzufolge eine ähnliche Wirkung wie eine simultan ausgestrahlte Live-Übertragung. Serien wie MAD MEN oder BREAKING BAD, die längst durch DVD-Boxen und Abrufe auf On-Demand-Angeboten auch außerhalb eines Programmflusses rezipiert werden, tragen auf diese Weise eine typische Fernseheigenschaft in sich und können selbst außerhalb ihres ursprünglichen Mediums als fernsehartig empfunden werden. Weil in seinen Anfangstagen, als Magnetaufzeichnungen noch nicht flächendeckend eingesetzt werden konnten, Fernsehen ausschließlich als Live-Medium und damit nur in einem Zustand von Echtzeit existierte61+62, rekurrieren diese oft als modern bezeichneten Serien auf ein Fernsehen in seiner frühesten Form. Vielleicht ist es kein Zufall, dass MAD MEN – also jene Serie, in der diese Effekte besonders deutlich hervortreten – inhaltlich in den 1960er Jahren und damit in einer Zeit angesiedelt ist, in der das Fernsehen gerade allgemein etabliert war und als maßgebliches Leitmedium wahrgenommen wurde. In einem Entwicklungsprozess, in der fernsehhafte Umgebungen zunehmend davon bedroht sind, verdrängt oder gar ersetzt zu werden – insbesondere, weil ihre eigentlich originären Inhalte auf anderen Plattformen zirkulieren – kann das bewusste Ablegen einer kennzeichnenden Eigenschaft (nämlich der Tendenz zur Beschleunigung) zur Stärkung eines anderen, noch charakteristischeren Merkmals (nämlich Simultaneität und Echtzeit) führen. Die praktizierte Überwindung eines eigentlich eingeschriebenen Kernelements kann als gezielte Maßnahme verstanden werden, um ein anderes Element zu bestärken, welches derart unverwechselbar ist, das es FERNSEHEN zu einer Identität verhelfen kann, die sich unabhängig von bestimmten Geräten konstituiert. Diese Rückführung von FERNSEHEN auf seine technischen und ästhetischen Ursprünge ermöglicht sein Weiterleben auch außerhalb von Fernsehgeräten. In einer Zeit, in der unterhaltende und informierende Inhalte zunehmend durch Abrufe und nicht mehr durch einen zeitlichen Flow zugänglich sind, ist die wahrgenommene Entschleunigung im norwegischen Fernsehen, in BREAKING BAD oder MAD MEN eher als eine Sehnsucht nach simultaner Teilhabe und nach einem Durchfluss von Leben zu interpretieren und nicht zwingend als ein esoterischer Spleen oder als eine Distanzierung von einer vermeintlich beschleunigten westlichen Welt. Nicht mehr zufällig erscheint es dann, dass die Entwicklung der Serien in den Jahren 2007 und 2008 sowie die erste Übertragung der Bergensba-

61 | Engell: Fernsehtheorie zur Einführung, S. 23. 62 | Mikos: Kitzel des Unvorhergesehenen. In: Hickethier (Hrsg.): Fernsehen, S. 183.

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nen im Jahr 2009 in genau jene Zeit fällt, in der die Dominanz von YouTube nach der Übernahme durch Google beginnt, massiv zu wachsen und zunehmend als Bedrohung des alten Fernsehens wahrgenommen wird. Dann nämlich stellt sie eine konsequente Reaktion dar, um FERNSEHEN erhalten und konservieren zu können. Vor diesem Hintergrund erklärt sich andererseits auch, wieso das Unternehmen Netflix ausgerechnet die Serien MAD MEN und BREAKING BAD als eine der ersten Produktionen für das eigene Angebot lizensiert und dafür eine erhebliche Summe gezahlt hat, obwohl beide Serien im Fernsehprogramm zum Zeitpunkt ihrer Übernahme (noch) nicht über überragende Sehbeteiligungen verfügten. So berichtete der britische Guardian im April 2011 übereinstimmend mit der New York Post und dem Wall Street Journal, dass man für die Lizensierung der Serie MAD MEN einen Betrag zwischen 75 und 100 Millionen US-Dollar bezahlt hätte, was einem Betrag von etwa einer Millionen US-Dollar pro Episode entsprochen hätte.63 Dieser Abschluss wurde ebenso wie der Ankauf der Nutzungsrechte von BREAKING BAD64 im Jahr 2011 wirksam und damit zu jener Zeit, als das Unternehmen die Stärkung und den Ausbau seiner Streaming-Sparte verfolgte. Er muss somit als zentraler Baustein für das verlagerte Geschäftsmodell und als taktisches Mittel für die Etablierung des On-Demand-Angebots verstanden werden. Mit dem Kauf von Serien wie MAD MEN oder BREAKING BAD oder der Übernahme des norwegischen „Slow TV“ werden zugleich deren spezifische LiveEffekte und deren Verweise auf ein ursprüngliches, reines FERNSEHEN erworben, die sich dann auf die Plattform übertragen können, welches den Zustand einer simultanen Übertragung (noch) nicht kennt. Durch den Zukauf solcher Momente der Echtzeit öffnet es sich für das Einströmen des Lebens und kompensiert auf diese Weise die eigene Unfähigkeit, live zu sein.

63 | Halliday: Netflix to stream Mad Men in $90m deal. In: The Guardian (OnlineAusgabe). Unter: https://www.theguardian.com/media/2011/apr/06/netflix-mad-men [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 64 | Wallenstein: Netflix Flexes New Muscle with ‚Breaking Bad‘ Ratings Boom. In: Variety (Online-Ausgabe). Unter: http://variety.com/2013/digital/news/netflix-flexesnew-muscle-with-breaking-bad-ratings-boom-1200577029/ [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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LIVE ON YOUTUBE Ein ähnlicher Wunsch nach Erhalt und Konservierung fernsehhafter Anordnungen könnte angenommen werden, wenn etwa die Programme des norwegischen „Slow TV“ auf der Plattform YouTube hochgeladen werden. Ob dahinter allerdings eine vergleichbar zielgerichtete Strategie wie bei Netflix vermutet werden kann, ist fraglich, werden die Uploads doch durch die User*innen ausgewählt und realisiert. Im umfangreichen Angebot von YouTube lassen sich dennoch unzählige Momente von Echtzeit entdecken. Oft sind sie in Let’s Play-Videos sichtbar, in denen Spielzüge (scheinbar) in voller Länge abgebildet werden – oder in solchen Tutorial-Videos, in denen eine Handlung derart angeleitet wird, dass man sie synchron zum Video nachvollziehen soll. Die massenweisen Aufnahmen von Katzen oder anderen Haustieren, in denen sie witzige Kunststückchen vollziehen, werden oft als unbearbeitete Aufnahmen hochgeladen und beinhalten keine Sprünge der Timeline. Selbst in den geradezu schon ikonischen Videos CHARLIE BIT MY FINGER – AGAIN !65, DAVID AFTER DENTIST66 und EVOLUTION OF DANCE67 wird das Gezeigte zeitlich weder gedehnt noch gerafft und somit in Echtzeit dargestellt. Hierbei scheint es sich, trotz einer großen Fülle solcher Inhalte, dennoch um Exoten im immensen Angebot von YouTube zu handeln. Gerade in Video-Blogs hat sich mit der exzessiven Nutzung von Jump Cuts geradezu ein eigenes ästhetisches Stilmittel herausgebildet, welches fest mit dem Angebot verbunden wird. Es ist ein Montageverfahren, das Anschlussfehler absichtlich erzeugt und Zeitsprünge explizit ausstellt. Hier sind ältere Videos von Florian Diedrich („LeFloid“) ein prominentes Beispiel.68 In dieser Form der Montage und Inszenierung kann eine deutliche und absichtlich-herbeigeführte Differenz zwischen den Sphären der Televisionizität und der Fernsehhaftigkeit markiert werden – hier zeigt sich allein im Schnittverfahren der Wille, sich vom Konzept der Echtzeit, vom Herstellen eines Live-Gefühls und damit vom alten Medium Fernsehen abgrenzen zu wollen. Ähnlich wie der (Spiel-)Film kreieren viele Videos eine

65 | HDCYT: Charlie bit my finger – again ! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/_OBlgSz8sSM [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 66 | booba1234: David After Dentist. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ txqiwrbYGrs [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 67 | Judson Laipply:

Evolution of

Dance.

In:

YouTube.com (Video).

Unter:

https://youtu.be/dMH0bHeiRNg [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 68 | Eine ausführliche Auseinandersetzung mit seiner Person und einem seiner Videos befindet sich im Kapitel zu „Adressierungen“.

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Zeiterfahrung, die sich grundlegend von der Gegenwartsbezogenheit des Fernsehprogramms unterscheidet. Die mit YouTube oft in Verbindung gesetzte Formulierung von Zeitsouveränität und die Nichtgebundenheit an eine von außen bestimmte Zeitvorgabe kann also im doppelten Sinn verstanden werden und sich sowohl auf Start/Ende des Rezeptionsvorgangs als auch auf die in den Videos angewendeten Zeitverläufe beziehen. Obwohl das Versprechen von Zeitsouveränität bei YouTube allgegenwärtig präsent erscheint und geradezu den Markenkern der Plattform bildet, lässt sie unter gewissen Voraussetzungen69 die Möglichkeit einer simultanen LiveÜbertragung in Form eines Live-Streamings zu. In dieser Erscheinungsform aber löst sie sich von ihrer Konzeption als Gegenentwurf zum Fernsehbild und imitiert es stattdessen. Entsprechend wird die Nutzungsweise in ähnlicher Form wie im Fernsehprogramm visuell markiert und zusätzlich in einem gesonderten Kanal gesammelt:

Abbildung 28: Aktuelle Live-Inhalte bei YouTube.70 Unter den mit dem Marker „Jetzt Live“ versehenen Übertragungen lassen sich neben Inhalten, die speziell für eine Auswertung auf YouTube produziert wer-

69 | Gemäß der Nutzungsbestimmungen von YouTube muss der Kanal dafür bestätigt werden. Außerdem dürfen keine Live-Stream-Beschränkungen (z.B. Verdacht auf Urheberrechtsverletzung oder Verstöße gegen die Community-Richtlinien) vorliegen. 70 | Screenshot der Video-Übersicht des YouTube-Kanals: Live [angefertigt am 20. September 2018].

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den, ebenso die fließenden Bilderströme von Fernsehkanälen wie CNN, Sky News, Al Jazeera oder Deutsche Welle finden, welche über die On-DemandPlattform ausgespielt werden. Eine solche Einverleibung originärer TV-Signale (und zugleich deren zugehöriger Bedingungen und Grenzen) geht über eine schlichte Imitation hinaus und lässt das Online-Angebot in diesem Moment zu einem reinen Fernsehbildschirm transformieren. Allerdings mit der entscheidenden Differenz, dass die Ausspielung eines Live-Streams häufig dazu führt, dass dieser nach seinem Ende als zeitsouveräner Clip umgewandelt wird und im Angebot von YouTube abrufbar bleibt. Durch die Konservierung und Archivierung der vergangenen simultanen Übertragung operiert die Plattform daher parallel als TV-Bildschirm und als angeschlossener Video- oder Festplattenrekorder, in deren Aufnahmen höchstens noch verbale und visuelle Hinweise auf die ursprüngliche Simultaneität verweisen. Dennoch entsteht durch diesen Automatismus ein Produkt, das eine Form von Echtzeit in sich trägt und bewahrt, die sich eher am ununterbrochenen Verlauf des Live-Streams selbst und weniger an dessen Inhalt misst. Dieser Zustand, der als eine Echtzeit in zweiter Ordnung zu verstehen ist, wird in der Regel durch sprachliche Zusätze wie „Full Video“, „Full Event“ oder „Komplett“ in den Videobeschreibungen gekennzeichnet. So lassen sich beispielsweise mehrere achtstündige Videos abrufen, in denen die flüchtige fernsehhafte Simultan-Übertragung der Amtseinführung von Donald Trump erhalten wird. In Ihnen prangt noch immer das nun nicht mehr gültige Siegel „Live“ auf der Bildoberfläche, das nun als ein Indiz für Echtzeit umzudeuten ist.

Abbildung 29: Konservierte Live-Übertragung bei YouTube. (Rechts: vergrößerter Ausschnitt).71

71 | Screenshot aus dem Video: NBC News: The 58th Presidential Inauguration of Donald J. Trump (Full Video) | NBC

News.

In:

YouTube.com

https://youtu.be/prd2RfhF1tM [angefertigt am 27. Januar 2020].

(Video).

Unter:

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Echtheit

(UN-)MÖGLICHKEITEN DER MANIPULATION Oft sind es Ereignisse, denen eine besondere politische oder gesellschaftliche Relevanz zugesprochen wird – Ereignisse wie etwa die Vereidigung eines neuen Staatsoberhauptes – die Gegenstand und Anlass von simultanen LiveÜbertragungen sind. Entsprechend zieht Umberto Eco für die Herleitung seiner Theorie zu Live-Sendungen einerseits eine Debatte zweier Wirtschaftswissenschaftler im Jahr 1965 sowie die Hochzeitsfeierlichkeiten von Rainier III. von Monaco und Grace Kelly1 heran. William Uriccio bezieht sich in seinen Erläuterungen unter anderem auf die Beerdigung von Lady Diana2, während Heinz Moser in seinem Aufriss über das Medienzeitalter auf das Geiseldrama von Gladbeck, die Anschläge des 11. Septembers und ebenfalls auf die Trauerfeier von Diana verweist.3 In dieser Auswahl wird deutlich, dass neben politischen und freudigen Momenten insbesondere Unglücksfälle eine Live-Übertragung und eine einhergehende Unterbrechung des ritualisierten Programm-Flows auslösen können. Mary-Ann Doane ordnet solchen Ereignissen den Terminus „Katastrophen“ zu, den sie in ihrem Aufsatz von „Informationen“ und „Krisen“ abgrenzt: Dies sind Momente, in denen man aufhört, einfach fernzusehen, um stattdessen hinzustarren, wie versteinert – Momente der Katastrophe.4

1 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 190f. 2 | Uricchio: Medien, Simultaneität, Konvergenz. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 300. 3 | Moser: Einführung in die Medienpädagogik, S. 23 - 30. 4 | Doane: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 110.

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Neben ihrer Feststellung, dass diese als Katastrophe stilisierten und inszenierten Ereignisse oft an ein technisches Versagen gekoppelt sind, hebt sie auf die redundanten, meist ungeplanten und improvisierten Abläufe in den daraus resultierenden simultan-übertragenen Berichterstattungen ab. Sie veranschaulicht dies an einer mehrstündigen Sondersendung, die nach der Explosion der USRaumfähre Challenger simultan übertragen wurde und immer wieder dieselben Aufnahmen der Explosion wiederholte. Parallel dazu hätte sich der Nachrichtensprecher Tom Brokaw aufgrund der „unerwarteten Natur des Ereignisses“ ohne vollständiges Skript improvisierend an die Zuschauenden gerichtet und wäre dabei der ständigen Gefahr ausgesetzt gewesen, ins Stocken zu geraten. Diese Kombination aus einer „Echtzeit der Katastrophe“ und eines potenziell jederzeit möglichen Scheiterns des Moderators machten einen Teil der Faszination einer solchen „Nonstop-Darbietung“ aus. Der Eintritt eines Versagens ließe schließlich das gesamte Konstrukt der Livesendung (Doane nennt es ihren Diskurs) einbrechen, in welchem der Moderator den Dreh- und Angelpunkt bilde. Weil sich dabei aber das Katastrophale auf „die persönliche Beziehung zwischen dem Anchorman und dem Publikum“ verschöbe, wäre ein solcher Moment – ein Zusammensturz des Diskurses der Live-Sendung – „gleichbedeutend mit einem Berühren des Wirklichen“.5 Die Live-Situation scheint folglich einen Zugang zu einer noch größeren Nähe zur Realität zu versprechen, als es das fernsehhafte Bild ohnehin schon verheißt. Hierfür ist Umberto Ecos Erkenntnis maßgeblich, dass bei einem simultanübertragenen Programm Aufnahme, Montage und Verbreitung stets gleichzeitig stattfinden, wodurch für eine auf Echtzeit basierende Live-Sendung gilt, „Versuch und Ergebnis fallen fast vollständig zusammen.“6 Es könne schlicht nicht „unter Zuhilfenahme der Schnitttechnik zensiert werden“ 7. „Gerade die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Vermittlung, vom Empfang und Rezeption“, wie Knut Hickethier schreibt, scheint „jede Beeinflussung der gezeigten Bilder zu verhindern“, weswegen „gerade der Live-Charakter der Bilder für eine gesteigerte Authentizität des Gezeigten“ spricht.8 Aus dem Wissen, dass keine Möglichkeit einer nachträglichen Bearbeitung oder Korrektur besteht, speist sich die Hoffnung auf einen unverfälschteren Zugang zur vermeintlichen Wirklichkeit, die sich hinter ihrer Abbildung zu verber-

5 | Ebd., S. 114f. 6 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 193. 7 | Mikos: Kitzel des Unvorhergesehenen. In: Hickethier (Hrsg.): Fernsehen, S. 188. 8 | Hickethier: Fernsehen. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 231f.

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gen scheint. Nicht einmal der Umstand, dass das übertragene Bild durch die Montage verschiedener Blickwinkel und die Anreicherung mit aufgezeichneten Passagen (z.B. Wiederholung eines Tors beim Fußball) zu einem „künstlichen technischen Bild geworden“ ist und „wirklicher als die Wirklichkeit“ erscheint9, könne diesen zentralen Glauben an die Authentizität von Live-Bildern erschüttern. Die simultane Live-Übertragung und insbesondere die mit ihr verbundene Echtzeit, so ließe sich dieser Punkt zuspitzen, trägt die Annahme einer Abwesenheit von absichtlicher Manipulation und somit einen verlässlichen Zugang zu einer reinen Wahrheit in sich. Aus Kenntnis dieser allgemeinen Überzeugung setzte der Unterhaltungskünstler und Magier David Copperfield das Mittel von Echtzeit bei seinen berühmtesten Illusionen gezielt und explizit ein, um die Wirkung seiner Kunststücke noch zu steigern und zu verhindern, dass sie als simple Filmtricks abgetan werden. So werden beispielsweise bei seinem Gang durch die Chinesische Mauer oder bei seinem Verschwindenlassen der Freiheitsstatue die entscheidenden Passagen jeweils in einer einzigen, fortlaufenden und ungeschnittenen Sequenz gezeigt. Mithilfe eines Herausstellens der vorliegenden Echtzeit sollen Bildmanipulationen ausdrücklich ausgeschlossen werden. Zu Beginn seiner aufgezeichneten Darbietung, in der er einen Waggon des OrientExpress zunächst schweben und anschließend verschwinden lässt, weist er auf dieses vermeintliche Vertrauensangebot ausdrücklich hin: Our Camera, this shot, will never cut away. No camera edits, no video effects. You’ll see it at home just like you see it here with me. 10

Eine ununterbrochene Aufnahme in Echtzeit, so die Prämisse dieser Ansage, ist bezogen auf ihre Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit mit einer Augenzeugenschaft gleichwertig und geeignet, das tatsächliche Vorhandensein am Ort des Geschehens zu ersetzen. Der Zustand von Echtzeit, genauer das Unterlassen von Schnitten und Eingriffen in die Zeitstruktur, soll das Vorliegen von Wahrhaftigkeit versichern.

9 | Ebd., S. 233. 10 | Transkript des Videos: Master Your Master: The Magic of David Copperfield XIII: Mystery On The Orient Express (1991). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/mZMCLoe8Mzg [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Das Video ist ein Mitschnitt des gleichnamigen TV-Specials vom 03. April 1991 (bei CBS).

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BEDEUTUNGSVOLLE PANNEN Wenn das Fernsehbild als Live-Übertragung in Erscheinung tritt und sich als solches kennzeichnet, versetzt es sich nicht nur in seinen konstitutiven Gegenwartsmodus, sondern ebenso in einen verletzlichen Zustand, weil einerseits das mitausgesendete Versprechen nach Authentizität konkrete Erwartungshaltungen erzeugen kann und andererseits, weil es sich für nicht mehr korrigierbare Momente des Scheiterns öffnet. Wenn, um es noch einmal mit den Worten von Umberto Eco zu beschreiben, Versuch und Ergebnis zusammenfallen, sind Missgeschicke, Fehltritte oder gar das Eskalieren von Situationen nicht vermeidbar, die dann ungeschönt ausgestrahlt werden. Es entstehen Augenblicke, in denen Nachrichtenmoderatoren wie Tom Brokaw ins Stocken geraten, in denen sich Reporter*innen versprechen, in denen Schaltungen und Einspielfilme nicht funktionieren, in denen Gespräche eskalieren oder bekannte Personen aus ihren Rollen fallen.11 Diese Situationen, in denen das Fernsehbild und seine Akteure nicht perfekt und fehlerfrei auftreten, haben eine zentrale Bedeutung, denn sie konstituieren und bestätigen das Authentizitätsversprechen von Live-Übertragungen. Genau dadurch, dass hin und wieder Fehler auftreten und einen kurzen Blick hinter die Fassade der fernsehhaften Inszenierung freilegen, kann der Glaube an die Wahrhaftigkeit der Live-Bilder aufrechterhalten und ständig erneuert werden. Ähnlich wie ein Medium, das oft erst dann wahrgenommen wird, wenn es nicht funktioniert, erwecken diese kurzzeitigen Zustände von Imperfektion erst den Glauben an die Echtheit des Live-Fernsehen. Aus diesem Grund hat das Fernsehprogramm Instanzen geschaffen, in denen diese eigentlich flüchtigen, aber elementaren Momente bewahrt und allgemein zugänglich gemacht werden. Gemeint sind Formate wie PLEITEN, PECH UND PANNEN12, LIFE! – DUMM GELAUFEN13, C.O.P.S. – DIE COMEDY PANNENSHOW14 oder TV TOTAL15, in denen der Verweis auf die Fehlerhaftigkeit bereits im Titel enthalten ist. Diese Momente, die erst durch den fernsehtypischen Zustand der simultanen Übertragung erzeugt werden und auf diese Weise einen entscheidenden Beitrag zum Wirklichkeitsversprechen der Fernsehhaftigkeit leisten, die also sehr fest mit dem Fernsehbild und seinen Zuschreibungen verwurzelt sind, werden wiederum auf der Plattform

11 | Mikos: Kitzel des Unvorhergesehenen. In: Hickethier (Hrsg.): Fernsehen, S. 188. 12 | Pleiten, Pech und Pannen, D 1986 - 2014. 13 | Life! – Dumm gelaufen, D ab 1998. 14 | C.O.P.S. – Die Comedy Pannenshow, D 2001 - 2002. 15 | TV Total, D 1999 - 2015.

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YouTube geradezu exzessiv gesammelt und archiviert. Dort sind unzählige Pannen, Fails und Unfälle (William Uricchio nennt sie „bloopers, mistakes, accidents, gone wrong, and fights“)16 aus dem Fernsehprogramm zu finden, die mal als eigenständige Videos und mal als Zusammenschnitte (Compilations) abrufbar sind und Formulierungen wie „TV Fails“, „THE MOST AWKWARD MOMENTS ON LIVE TV“ oder „When Live TV Goes Wrong“ im Titel führen. Das Archiv von YouTube verleibt sich somit nicht nur unbearbeitete TV-Signale als Live-Stream ein, sondern auch Szenen, die das simultane Fernsehbild und dessen Zustand von Echtzeit – also jener Form der Bildübertragung, die nicht vordergründig mit YouTube verbunden wird – hervorgebracht hat. Salopp gesagt, schmückt sich die Plattform mit fremden Federn, die sie selbst kaum hervorzubringen vermag. Damit aber erweist sie sich als Erfüllungsgehilfe des fernsehhaften Authentizitätsversprechens und übernimmt die Funktion der fernseheigenen Pannenshows, die folgerichtig schrittweise wieder verschwinden. Die relevantesten und verwundbarsten Momente des Fernsehprogramms sind derart längst auf YouTube ausgelagert und zeitsouverän abrufbar. In diesem Kontext lohnt ein erneuter Rückgriff auf die Halbzeitshow des SUPER BOWL XXXVIII am 01. Februar 2004, die einen entscheidenden Beitrag zum künftigen Umgang mit (Live-)Fernsehmaterial leistete. Wie bereits beschrieben, führte die unerwartete Freilegung der Brust von Janet Jackson zur Einführung einer generellen Verzögerung, um bei kritisch angenommenen Vorkommnissen noch vor Ausstrahlung eingreifen zu können. Abseits dieser erheblichen Beschneidung der Fernsehhaftigkeit, beflügelte der Vorfall zusätzlich den Bereich der zeitsouveränen Nutzung von audiovisuellen Inhalten. Ein erster Effekt zeigte sich in einem sprunghaften Anstieg des Zugriffs auf die digitalen Festplattenrekorder des Unternehmens TiVo, welches eine dreimal häufigere Nutzung der Rückspielfunktion ihrer Geräte registriert hätte.17 Das Interesse, sich den eigentlich flüchtigen Vorfall noch einmal ansehen zu wollen, war derart groß, dass er von TiVo als bis zu diesem Zeitpunkt „most rewatched“ Moment „during a broadcast“18 gekürt wurde. Obwohl es fraglich bleibt, inwiefern diese Angaben des Unternehmens verlässlich sind und nicht werbestrategischen Moti-

16 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 32. 17 | Pitzke: Das Fernsehen lässt die Hosen runter. In: Spiegel (Online-Ausgabe). Unter: http://www.spiegel.de/jahreschronik/a-330644.html [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 18 | Charny: Jackson’s Super Bowl flash grabs TiVo users. In: cnet.com. Unter: https://www.cnet.com/news/jacksons-super-bowl-flash-grabs-tivo-users/ [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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ven entspringen, lassen sie zumindest einen Entwicklungstrend erahnen. Entscheidender ist ohnehin, dass diese Möglichkeit der Wiederbelebung19 nur denjenigen Menschen vorbehalten war, die über ein solches Gerät verfügten und es auch noch so programmiert hatten, dass die entscheidenden Sekunden aufgezeichnet wurden. Wie er in einem Interview mit der amerikanischen Zeitung USA Today bekannte20, traf dies auf den Amerikaner Jawed Karim nicht zu, der weder die simultane Übertragung im Fernsehen verfolgt noch eine Aufzeichnung von ihr angefertigt hatte, sodass er sich, als er von dem Geschehnis hörte, im Internet auf die Suche nach dem entsprechenden Ausschnitt begab. Weil er jedoch nicht fündig geworden sei, habe er schließlich zusammen mit seinen Freunden Steve Chen und Chad Hurley begonnen, an einem Web-Angebot zu arbeiten, auf dem künftig jede Person ihre eigenen Inhalt hochladen könne, um solche Momente zu konservieren. Sie sollten ihr Projekt später YouTube nennen. 21 Selbst wenn diese allzu werbetaugliche Geschichte eher als Legende einzustufen ist, bleibt es bemerkenswert, dass die Initialzündung der Plattform YouTube von einem ihrer Gründer mit einem Moment verknüpft wird, den nur eine fernsehhafte Umgebung mit ihrer Fähigkeit der Simultaneität und ihrer (damaligen) gesellschaftlichen Relevanz hervorbringen konnte. Eine explizit kommunizierte Nutzungsform der Plattform liegt demnach in der Speicherung und Archivierung (vielleicht sogar Kanonisierung) von flüchtigen (Live-) Fernseh-Momenten. Damit aber ist YouTube – zumindest in seiner Ausgangsidee – weniger ein Gegenentwurf, als vielmehr als Ergänzung zum Fernsehen einzustufen, mit deren Hilfe seine authentischsten und konstituierenden Momente fixiert werden können. Darin zumindest hatte Karim Erfolg, denn Aufnahmen

19 | Hier ist eine Form von Liveness gemeint, die eher am Grammophon orientiert ist. 20 | Hopkins: Surprise! There’s a third YouTube co-founder. In: USA Today (OnlineAusgabe). Unter: https://usatoday30.usatoday.com/tech/news/2006-10-11-youtubekarim_x.htm [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 21 | Die Geschichte wird in mehreren Quellen übereinstimmend aufgegriffen. Unter anderem In: Rowell: YouTube: Company and Its Founders, S. 47; In: Crick: Power, Surveillance, and Culture in YouTube’s Digital Sphere, S. 36; In: McIntyre: How Janet Jackson’s Super Bowl ‚Wardrobe Malfunction‘ Helped Start YouTube. In: Forbes

Magazine

(Online-Ausgabe).

Unter:

https://www.forbes.com/sites/

hughmcintyre/2015/02/01/how-janet-jacksons-super-bowl-wardrobe-malfunctionhelped-start-youtube/#6c1a70a919ca [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Auch Kevin Allocca deutet in seinem Buch einen ursächlichen Zusammenhang des SuperBowlVorfalls mit der Erfindung von YouTube an. (Allocca: Videocracy, S. 2.)

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vom sogenannten „Nipplegate“ sind mittlerweile massenhaft im Bestand von YouTube zu finden.22

GESTEN DER IMPERFEKTION Mit ihrer Inspiration durch den „Nipplegate“-Skandal bei der Übertragung des SUPER BOWL und den Wunsch, genau solche Momente künftig speichern und für einen jederzeitigen Abruf bereitstellen zu können, versteht sich die Plattform YouTube (neben anderen Aspekten) als Ort, an dem die Augenblicke, in denen die fernsehhafte Inszenierung versagt, gesammelt werden können. Sie bildet ein umfangreiches Archiv des Scheiterns aus und trägt von Beginn an ein Element der Imperfektion in sich. Nicht zufällig erscheint dann noch die Beliebtheit der unzähligen „Fail-Compilations“ und Videos, die vor allem menschliche Missgeschicke und Fehlleistungen zeigen. Eine allgemein wachsende Verbreitung des Anscheins von Imperfektion stellt der italienische Medientheoretiker Vito Campanelli in seinem Aufsatz „The DivX Experience“ über alle Bereiche der visuellen Kultur (namentlich Kino, Kunst, Pornografie und Werbung) hinweg fest und glaubt darin, eine absichtliche Abkehr von den Bildern der kalten, perfekten Kulturindustrie, denen zunehmend misstraut würde, zu erkennen.23 Das Ausmaß dieses Phänomens erstrecke sich über die dänische DOGMA-Bewegung, über islamistische Terror-Videos auf Al Jazeera, über Amateur-Aufnahmen vom Anschlag auf die Twin Towers oder über die Millionen von Webcams. 24 Es umfasse auch das heimliche Mitschneiden von Spielfilmen bei Kinovorführungen, denn um die aufgenommenen Bilder anschließend (illegal) im Netz verbreiten zu können, müssten sie komprimiert und damit ihre Qualität (im Sinne der Auflösung) reduziert werden. Hieraus würde allein auf technischer Ebene eine Expansion des Nicht-Perfekten resultieren. Darüber hinaus wiesen die selbstgeschaffenen Aufnahmen im Vergleich zur abgefilmten Vorlage einen oft ungünstigen Blickwinkel, das Fehlen einiger Passagen oder einen unausgeglichenen Ton mit Geräuschen aus der Aufnahmesituation auf, wodurch die unautorisierten Kopien im Vergleich zum industriellen Produkt zusätzlich weniger perfekt erschienen. Zugleich aber könnten

22 | Allerdings ist die Brust in vielen Clips aufgrund der Jugendschutzbestimmungen der Plattform unkenntlich. 23 | Campanelli: The DivX Experience. In: Lovink / Mile (Hrsg.): Video Vortex Reader II, S. 51. 24 | Ebd., S. 6.

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all diese Faktoren stärker das Gefühl erzeugen, tatsächlich Teil einer Kinovorführung zu sein.25 Weil hierin die Störung eine wesentliche Bedingung der ästhetischen Erfahrung liefere, seien Parallelen zu den Futuristen der Avant-GardeBewegung zu erkennen, die Störungen ebenfalls bewusst erzeugt oder in Kauf genommen und dies als Teil ihrer künstlerischen Praktik verstanden hätten. 26 Eine voranschreitende Abkehr von makellosen Produktionen belege zudem die wachsende Nachfrage nach Amateur-Pornografie, die im Vergleich zu den hochauflösenden, von der Realität weit entfernten industriellen Filmen, eine deutlichere Nähe und Intimität transportieren könnte.27 Weil sich derartige mangelbehaftete Bilder und Töne von einer auf Perfektion abzielenden Industrie abgrenzen würden, wären jene imperfekten Darstellungen, deren Erscheinung Campenelli mit den Worten „jumpy, grainy and almost badly“ beschreibt, in der Lage, Vertrauenswürdigkeit und Authentizität zu vermitteln. Bei einem Amateur-Porno ließe ein nicht allzu perfekt-inszenierter Rahmen den Eindruck erwecken, dass die Akteure gern Sex miteinander vollziehen wollten und dies nicht nur aufgrund einer (arbeits-)vertraglichen Verpflichtung tun. Ob diese Annahme tatsächlich zutrifft, bleibt in diesem Zusammenhang unbedeutend; wesentlich ist allein die daraus resultierende Hoffnung und Erwartung auf mehr Realismus. Zugespitzt heißt dies: Our time credits truthfulness only to imperfect images and sounds, developing a sort of generalized distrust of the cold perfection of the cultural industries, in fields as diverse as cinema, the news media, new media art, and advertising.28

Durch ein den „kalten, perfekten Darstellungen“ entgegengebrachtes Misstrauen erfährt die Imperfektion eine generelle Aufwertung sowie die Zuschreibung von Vertrauenswürdigkeit. Oder anders gewendet: Die Geste des Mangels verspricht Ehrlichkeit. Auf Grundlage dieser sich durchsetzenden Annahme hätte sich eine neue Sensibilisierung für Bilder herausgebildet, die Geschwindigkeit, Jetztigkeit und Realismus vor der Perfektion bevorzuge, wodurch die dokumentarische Geste zentraler als die der Fiktion werde. In seinem Buch „Understanding YouTube“ erkennt Roman Marek den Ausgangspunkt für die „Ablehnung industriell gefertigter (‚seelenloser‘) Waren“ weit vor der Etablierung des Internets oder der Zirkulation von Web-Videos. Er

25 | Ebd., S. 52. 26 | Ebd., S. 56. 27 | Ebd., S. 59. 28 | Ebd.

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datiert ihn in der Mitte des 19. Jahrhunderts und verwurzelt ihn in der sogenannten „Arts&Crafts-Bewegung“: In der Anfangszeit der Fotografie kritisierten die Amateur-Fotografen an den Berufsfotografen die Anwendung der Retusche und die stereotyp erscheinenden professionellen Erzeugnisse.29

Wie schon bei Campanelli offenbart sich hier ein Mechanismus, der eine gewisse Übereinstimmung mit dem hergeleiteten Authentizitätsversprechen von Echtzeit und simultaner Live-Übertragung aufweist, die allerdings nicht als simple Kongruenz fehlzuinterpretieren ist. Vielmehr stehen beide Effekte in einem komplexen Wechselspiel miteinander. Einerseits basiert diese authentische Wirkung von Web-Videos geradezu auf der expliziten Distanzierung vom generellen industriellen Perfektionsdrang fernsehhafter Anordnungen, andererseits erzielt das Fernsehen seine größte Wirklichkeitsnähe ausgerechnet bei simultanen LiveÜbertragungen, in denen es seinen Perfektionsdrang ablegt und sich einer potenziellen Imperfektion öffnet. Hieraus ergibt sich wiederum eine Nähe zu jenem Verständnis von Realismus, welches ebenso Web-Videos zugewiesen wird. Trotz dieses dialektischen Verhältnisses eint beide Bereiche, dass der Anschein von Reinheit und Natürlichkeit einen entscheidenden Beitrag zu ihrem jeweiligen Authentizitätsversprechen leistet. Während bei einer Live-Sendung allerdings eine Nachbearbeitung (nachträgliche Beschönigung und Manipulation) aufgrund des zeitlichen Zusammenfallens von Aufnahme, Montage und Verbreitung schlicht technisch ausgeschlossen ist, wird dieser Effekt bei Web-Videos dadurch erreicht, dass den verbreiteten Bildern möglichst nicht anzusehen ist, dass sie im Nachhinein optimiert und damit verändert wurden. Ihr Vorliegen in einer empfundenen Rohfassung, in der eventuelle Störungen sichtbar bleiben und nicht eliminiert wurden, tritt folglich an die Stelle von Simultaneität und damit ein ästhetisches Stilmittel an die Stelle einer technischen Voraussetzung. Während aber bei einer Live-Sendung die technische Bedingung ihres Zustandekommens geradezu eine Gewissheit von unveränderter, authentischer Echtzeit erzeugt, vermag die durch Imperfektion erzeugte Authentizität dies nicht zu garantieren, da sie aufgrund ihres Wesens als Form einer Inszenierung auch künstlich erzeugt werden kann. Imperfektion ist also nur im Stande, die Basis für einen Glauben an Authentizität zu legen.

29 | Marek: Understanding YouTube, S. 52.

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INSZENIERUNGEN DES AUTHENTISCHEN Authentizität gilt insbesondere in Videos auf YouTube als eine entscheidende Kategorie und als Gradmesser, an dem sich alle Videos messen müssen, weswegen Roman Marek sogar konstatiert, die Videoclip-Community würde nach diesem „Ideal der Authentizität“ streben.30 Schlägt man dafür in der Bravo TubeStars nach – dem eigenständigen Ableger der Jugendzeitschrift Bravo, der sich ausschließlich mit dem Angebot YouTube und den darin agierenden Personen beschäftigt – verbirgt sich dahinter, die Eigenschaft, „natürlich“ zu wirken. So rät sie in einer ihrer regelmäßig wiederkehrenden Anleitungen, wie man „profimäßige“ Videos dreht, zu folgendem Verhalten: Reden wie auswendig gelernt oder abgelesen, gekünsteltes Lachen oder aufgesetzter Humor? Das möchte keiner sehen! Deshalb ist es auch bei Beauty-Videos wichtig, ganz normal und entspannt zu sein – so, wie im normalen Leben auch.31

Authentizität wird hier im Sinne einer Natürlichkeit verstanden und als eine Abwesenheit von allzu geprobten Abläufen und erkennbaren inszenatorischen Eingriffen in die Aufnahmesituation. Stattdessen soll ein nur vage greifbarer Zustand von Normalität erhalten werden, der einerseits mit einem gewissen Grad an Spontaneität gleichzusetzen und als Antonym zu Künstlichkeit zu verstehen ist. Wie Roman Marek darüber hinaus feststellt, würde Authentizität innerhalb der Community auch derart interpretiert werden, dass… […] man sich nicht auf Andere ausrichtet, d.h. deren Aufmerksamkeit sucht. […] Jemand, der auf Popularität und Aufmerksamkeit kalkuliert, verliert offenbar zwangsläufig jeden Anspruch aus Authentizität und Beachtung. 32

In diesem Verständnis verbirgt sich hinter dem Begriff der Authentizität ein nur auf sich selbst zentriertes Verhalten, welches auf jegliche Maßnahmen verzichtet, die auf einen aufmerksamkeitsökonomischen Effekt abzielen. Das auf diese Weise idealisierte Bild verbietet im Grunde jegliche soziale Aushandlung und honoriert egozentrische und die eigene Umwelt ignorierende Haltungen. Aus ihm resultiert das Selbstverständnis des in der Einleitung zitierten YouTubers

30 | Ebd., S. 25. 31 | BRAVO TubeStars: Lights, Camera, Beautiful. In: Bravo TubeStars, S. 71. 32 | Marek: Understanding YouTube, S. 25f.

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Viktor Roth, bei der Ausrichtung seines Kanals „iBlali“ nur seine Interessen beachtet zu haben: Weil ich persönlich darauf stehe, habe ich damit angefangen, nicht weil ich mir dachte, vielleicht gefällt es den anderen Leuten. Ich glaube, das ist auch ein bisschen das Geheimnis hinter YouTube, man denkt nicht erst nach, bevor man einen Kanal macht, was könnte den anderen gefallen, sondern man denkt darüber nach, was gefällt mir.33

Obwohl also ein großer Zuspruch anzustreben ist und anerkannt wird, darf dieser nicht das Ergebnis eines reflektierenden Optimierungsprozesses sein, sondern sich lediglich als beiläufig einstellendes Zufallsprodukt einstellen. Dieser nicht auflösbare Dualismus schlägt sich in solchen Zeitschriften wie der Bravo TubeStars nieder, wenn dort zwar Ratschläge erteilt werden, wie Videos zu gestalten sind, damit sie mehr Zuspruch generieren können, zugleich aber davon abgeraten wird, diese einzusetzen, um sich jene „Natürlichkeit“ zu erhalten und authentisch bleiben zu können. Die sich abzeichnende Auffassung von Authentizität geht also davon aus, dass diese in ihrer reinsten Form vorliegt, wenn jeglicher inszenatorische Eingriff unterlassen wird. Mit der Frage nach Authentizität speziell im Angebot von YouTube hat sich der Kulturanthropologe Torsten Näser in einem Aufsatz beschäftigt und bezeichnet die Annahme, „Authentizität sei nur dort zu entdecken, wo keine Inszenierung vorliege“, als fachgeschichtlich überholt. Stattdessen gingen aktuelle Untersuchungen davon aus, dass kulturelle Echtheitserfahrungen „nur durch dramaturgische Aufbereitungen des Handelns zu erzielen“ seien.34 Seine zugehörigen Überlegungen entwickelt Näser entlang der Diskussionen um den Kanal „lonelygirl15“, bei dem sich herausstellte, dass es sich bei den dort hochgeladenen und allgemein für echt gehaltenen (Video-)Tagebucheinträgen tatsächlich um ein fiktionales Erzählformat von drei Filmemachern handelte. Aus der im Kommentarbereich der Videos formulierten Entrüstung vieler Nutzenden leitet Näser ab, dass „die Idee des Authentischen in der Nutzung von YouTube als relevante Kategorie aufscheint, genauer gesagt: zum Zeitpunkt der Enttarnung aufschien.“35 Während er auf diese Weise einmal mehr die zentrale Bedeutung von

33 | Transkript des Videos: stern: iBlali: Warum YouTube das bessere Fernsehen ist. In YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/BO0aOhQO4Ok [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 34 | Näser: Authentizität 2.0. In: kommunikation @ gesellschaft, S. 3. 35 | Ebd., S. 5.

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Authentizität für die Angebote von YouTube unterstreicht, verdeutlicht das von ihm gewählte Beispiel außerdem, dass diese nicht als feststehender Zustand vorliegt und deshalb wieder in sich zusammenfallen kann. Das Empfinden von Authentizität beschreibt Näser als einen zwischen einem (medialen) Angebot und seinen potenziellen Rezipienten bestehenden Vertrag, dessen Abschluss an eine Reihe von Variablen und Authentizitätssignalen geknüpft sei. Diese Vorboten könnten sich sowohl auf das Angebot als solches als auch auf den Inhalt des betreffenden Videos beziehen und basierten auf bereits gemachten Erfahrungen, erlernten Mustern und suggerierten Versprechungen. Werden die vorab entstandenen Erwartungshaltungen bei der Rezeption jedoch nicht eingelöst, erfülle sich auch der Authentizitäts-Vertrag nicht und das Video wird als nicht authentisch empfunden.36 So kann das Bekanntwerden, dass sich hinter dem 16-jährigen Mädchen Bree von lonelygirl15 tatsächlich die 19-jährige Schauspielerin Jessica Rose verbirgt, eine zuvor als authentisch wahrgenommene Wirkung der Videos rückwirkend und nachhaltig beschädigen. Als Anhaltspunkte und Signale, die eine Authentizitätserfahrung in Aussicht stellen, identifiziert Näser eine Reihe von Strategien, die typischerweise in YouTube-Vlogs verwendet werden: In Hinblick auf die audiovisuelle Suggestion von Authentizität lassen sich hier eine in der Farb- und Schattierungswiedergabe nicht zu perfekte, amateurhafte WebcamOptik nennen sowie eine fast schon stereotype, meist halbnahe Einstellungsgröße, die den sich an die Community wendenden Nutzer – scheinbar am Schreibtisch vor dem PC sitzend – etwa bis zur Höhe des Bauchnabels zeigt. Hinzu kommt eine Aufnahmeperspektive, die der links oder rechts neben dem Monitor befestigten Webcam entspricht. Der Ton ist oft mäßig und eine editierende Nachbearbeitung erfolgt in der Regel nicht. Wie auch sonst – könnte man fragen – kann es ein Videoblogger schaffen, sich weitestgehend spontan und direkt und noch dazu in einem Turnus von nur wenigen Tagen regelmäßig an die Community zu wenden? 37

Neben Elementen, die eher die Bild- und Tongestaltung betreffen – er benennt explizit eine nicht perfekte, amateurhafte Webcam-Optik – gehörten bei (Video-) Tagebüchern ebenso inkludierende „Handlungs- und Kommunikationspraktiken“38, die ein Interesse und einen Wunsch nach Interaktion mit den User*innen zum Ausdruck bringen. Authentizität ist demzufolge weniger eine

36 | Ebd., S. 4. 37 | Ebd., S. 10. 38 | Ebd., S. 10f.

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konstante Eigenschaft, der eine vermeintlich „echte Wirklichkeit“ 39 gegenübersteht, sondern eher als eine mediale Praktik zu verstehen, die auch als solche gelesen werden und für ein gegenseitiges übereinstimmendes Verständnis vorliegen muss. Sie ist – wie Felix Stalder ergänzt – „nicht einfach vorzufinden“, sondern wird „aktiv und bewusst (re)produziert.“ Es geht also nicht um die Errettung, sondern um die Schaffung von Authentizität. Diese ist damit nicht essentialistisch, sondern performativ zu verstehen.40

Der Eindruck von Authentizität ist somit das Ergebnis eines medialen Prozesses, an dem eine Vielzahl von Techniken und Methoden beteiligt ist. Sie ist nicht die Vermeidung von Inszenierung, sie ist vielmehr eine eigenständige Form und ein zu erreichendes Ziel von Inszenierung. Kombiniert man diese Position mit den Erkenntnissen, die sich aus den Beobachtungen von Campanelli bezüglich Störungen in visuellen Darstellungen und deren Beitrag zu einer Glaubwürdigkeit ableiten ließen, darf vermutet werden, dass in YouTube-Videos das Herausstellen von Imperfektion ebenso als ein Indiz für Authentizität und das Vorliegen von Natürlichkeit verstanden werden kann. Diese Annahme wird ebenso in Let’s Play-Videos (LP) evident, in denen sich Gamer*innen versprechen, stottern, Aussagen vergessen und insbesondere bei der Bewältigung der Computerspiele Fehler machen. Ein solches Verhalten könne gemäß der Soziologen Heiko Kirschner und Paul Eisewicht zu einer Authentizität führen, die auf einer engeren Verbundenheit zwischen den Spielenden und Zuschauenden fuße: Dieser Nähe von Spielenden und Zuschauenden entspricht auch, dass es um eine Form von Authentizität geht, die z. B. das Scheitern im Spiel zulässt (es kann sich hier also um eine medialisierte Form des gemeinsamen Spielens zu Hause handeln). Der/ die Spielende selbst ist also anderen Spielenden gegenüber nicht überlegen, typischerweise kennen LPerInnen auch das Spiel im Ablauf nicht (treffen also unvorbereitet auf die spieltypischen Hindernisse).41

Eine als authentisch empfundene Wirkung kann sich auch aus einem ungeschickten, unüberlegten, mangelbehafteten, nicht perfekten Verhalten ableiten,

39 | Ebd., S. 5. 40 | Stalder: Who’s afraid of the (re)mix? 41 | Kirschner / Eisewicht: Spielende und ihr Publikum. In: Ackermann (Hrsg.): Phänomen Let’s Play, S. 138.

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welches als ebenso menschlich und fehlbar eingeschätzt wird, wie das eigene Handeln. Dies gilt entsprechend für technische Fehler, die den Protagonist*innen während einer Aufnahme unterlaufen und vor der Verbreitung nicht mehr korrigiert werden. Stattdessen wird ihr Auftreten und die eigene Fehlbarkeit explizit betont, wodurch erneut eine Form von Authentizität suggeriert werden kann, die eng mit (vermeintlicher) Nähe und Gleichrangigkeit zu den Rezipient*innen verknüpft ist. Zu erkennen ist dies in einem Video vom Kanal „Kelly MissesVlog“, in dem sich Kelly Svirakova über einige Kommentare ihrer Zuschauenden beschwert. Ihrem achtminütigen Wutausbruch42, der versehentlich mit leichter Unschärfe aufgezeichnet wurde, stellt sie folgende, wahrscheinlich im Nachhinein aufgenommene Ankündigung voran: Kurz bevor das Video anfängt: Das komplette Video ist nicht im Fokus. Ich glaub’ nicht, dass mir das passiert ist, ich bin wohl doch absolut dumm. Viel Spaß trotzdem.43

Ein weiteres Beispiel für das Herausstellen einer solchen technischen Panne findet sich in einem Video von Simon Wiefels, welches den Titel „mein Letztes Video“ trägt und in mehreren Videos auf YouTube, auf News-Seiten, Portalen und im Online-Angebot der Jugendzeitschrift BRAVO besprochen wurde.44 Darin kündigt Wiefels, der auf der Plattform unter seinem Künstlername Simon Unge agiert, die Löschung seines Kanals an und versucht, diese Entscheidung mit einer persönlichen Unzufriedenheit zu erklären. Wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist, stelle für ihn die Deaktivierung des Kanals mit 1,5 Millionen Abonnenten einen schmerzlichen und schwerwiegenden, aber notwendigen

42 | Das Video wird im Kapitel zu „Adressierungen“ ausführlich untersucht. 43 | Transkript des VideosKelly MissesVlog: SIE IST FETT!!! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/NrLPXVjne1o [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 44 | Unter anderem In: PayZed: Simon Unge löscht seinen Kanal Unge... In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/_htt1hQb2tc; In: HerrNewstime: Simon Unge löscht Unge! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ft_JcubJDME; In: Maier: Simon Unge löscht seinen YouTube-Kanal! In: Starzip.de. Unter: https://www.starzip.de/simon-unge-stellt-seinen-kanal; In: Maedchen.de: YoutubeSchock! Simon Unge löscht seinen Kanal. In: Mädchen (Online-Ausgabe). Unter: http://www.maedchen.de/stars/youtube-schock-simon-unge-loescht-seinen-kanal; In: NORA: YouTube-Schock: Simon Unge löscht seinen Kanal „Unge“! In: BRAVO (Online-Ausgabe). Unter: http://www.bravo.de/youtube-schock-simon-unge-loeschtseinen-kanal-unge-371138.html [alle aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Schritt dar. Angesichts dieser inneren und äußeren Tragweite des Videos erscheint es umso bemerkenswerter, dass die veröffentlichte Fassung eine Passage enthält, in der er seine emotionale Begründung unterbrechen muss, weil die Kamera ihre Stromzufuhr verliert, was er anschließend ausführlich kommentiert: […] In dieser Longboard-Tour habe ich das erste Mal gemerkt, dass es mich wirklich nicht hundertprozentig glücklich macht, zwei Kanäle zu führen. [SCHNITT] Okay, die Kamera ist ausgegangen gerade. Ich dachte, wenn sie lädt, bekommt sie Strom, aber scheinbar verbraucht sie beim Filmen mehr Strom als sie bekommt während sie lädt. Naja, egal. Ich habe jetzt zu einer anderen gewechselt. Also, falls Ihr Euch jetzt wundert, warum das Bild… [JUMP CUT] Ich hatte ja gesagt, dass ich das erste Mal richtig unzufrieden war […]45+46

Eminent ist diese Ansage vor allem deswegen, weil das Video in mehrfacher Weise sprunghafte Jump Cuts aufweist, also erkennbar geschnitten und nachbearbeitet wurde, der Ausfall der Kamera jedoch nicht nachträglich entfernt wurde. Daher muss der Entscheidung, dieses Missgeschick im Video zu belassen und explizit zu thematisieren, die Absicht unterstellt werden, mit ihr einen dramaturgischen Effekt erzeugen zu wollen.

Abbildung 30: Simon Wiefels (Unge) Abschiedsvideo vor (links) und nach (rechts) dem Ausfall der Kamera.47

45 | Transkript des Videos: Unge: Mein letztes Video. In: YouTube.com (Video) [aufgerufen am 05. Mai 2016; mittlerweile gelöscht]. 46 | Das Original-Video ist seit der Löschung seines Kanals nicht mehr aufrufbar. Es wurde in unveränderter Form auf dem Kanal „Stfs Scarface“ (ohne Zustimmung) erneut hochgeladen. (Stfs Scarface: [REUPLOAD] Das letzte Video | Unge. In: YouTube.com (Video). [aufgerufen am 10. September 2018.] Mittlerweile ist auch dieser Upload nicht mehr verfügbar.) 47 | Screenshots aus dem Re-Upload des Original-Videos [angefertigt am 10. Juli 2018].

262 | LIVENESS

Die (vermeintliche) Panne, die anscheinend als derart natürlich wahrgenommen wird, dass sie in keinem der oben aufgeführten Presse-Berichte über das Video erwähnt wird, kann in doppeltem Sinn als Gestaltungsmittel einer authentischen Inszenierung gelesen werden. Auf der einen Seite stellt sie erneut ein nicht fehlerfreies und deshalb authentisch-menschliches Verhalten aus, woraus einmal mehr eine Nähe zum Publikum resultieren kann. Auf der anderen Seite kann sie als Maßnahme gelesen werden, nach der kurzzeitigen Unterbrechung der Timeline und der durch den Wechsel der Kamera verursachten bildlichen Veränderung eine Kontinuität und mit ihr eine Verlässlichkeit des Materials wiederherzustellen. Die Erläuterung gleicht dann einer Versicherung, dass die sichtbare Varianz des Bildes rein aus technischen, nicht aber aus ästhetischen (und damit inszenatorisch-manipulativen Gründen) erforderlich war. Das Video kann auf diese Weise weiterhin als (angeblich) inszenierungsfreie und damit ehrliche Darbietung eingestuft werden, weswegen sein zugrundeliegender Authentizitätsvertrag unverändert gültig bleibt. Letztlich beabsichtigt die Zurschaustellung des Stromausfalls, den vorgeblichen Zustand von Echtzeit innerhalb des Videos nachträglich zu korrigieren, um aus diesem die essenzielle authentische Wirkung erwecken zu können.

UNGESCHNITTENE WAHRHEITEN Wie einträglich das Vorliegen fernsehhafter Echtzeit für die Erzeugung eines (vermeintlichen) Zugangs zu unverfälschter Wahrhaftigkeit sein kann, soll abschließend anhand zweier eng miteinander verbundener Videos veranschaulicht werden, die im Oktober 2016 auf den Kanälen „BibisBeautyPalace“ und „Julienco“ hochgeladen wurden und bis zum Januar 2020 jeweils rund drei Millionen Klicks zählten. Beide sind ähnlich gelagert und beginnen übereinstimmend mit der Erläuterung des sich anschließenden Ablaufs. Zunächst die einleitenden Worte von Julian Claßen: Wunderschönen guten Tag und herzlich Willkommen zu meinem neuen Video. Leute, ob Ihr es mir glaubt, oder nicht, dieses Video wird ein One…oh, ich habe ein Kaugummi im Mund. Das würde ich jetzt rausschneiden, wisst Ihr? Moment, Moment, ich werde jetzt dabei einfach weiterreden. Dieses Kaugummi… äh, dieses Video ist ein One-Take. Ich werde keinen Cut setzen, egal, was mir passieren wird. Und,

QR-Code Video 11

wir werden jetzt beginnen. Das macht mich voll nervös, weil ich nichts rausschnei-

Echtheit | 263

den darf. Also auf jeden Fall habe ich mir überlegt, was kann ein Video noch komplizierter und schwerer machen und darum wird die Bianca mir jetzt 50…70? [Bianca ist aus dem Off zuhören] 70. – 70. Hätte ich jetzt ein Cut gesetzt. Okay, ich laber’ auch viel zu viel. Ich muss mich jetzt ganz kurz halten, wird mir jetzt 70 Fragen bzw. 70 Dinge sagen, wozu ich einfach nur was sagen muss, was mir einfällt, okay? Ihr werdet mich in diesem Video besser kennen lernen, als in allen anderen, weil da ist dann… hoffentlich findet Ihr mich dann noch lustig…oh, jetzt würde ich so Trauermusik einblenden… das wäre dann so cool…okay, Los geht’s.48

An diese Worte schließt sich über eine Laufzeit von knapp zwölf Minuten die akribische Abarbeitung des Fragenkatalogs an, bevor Julian Claßen das abschließende Fazit spricht: Es ist gut, dass ich keinen Cut setzen durfte, weil das einfach lustig war. Das ist so richtig real, wie so ein Live-Stream.49

Am Ende des Clips werden die Zuschauenden durch eine Schrifteinblendung dazu aufgefordert, im Kommentar-Bereich zu vermerken, ob seine Ehefrau ein vergleichbares Video dieser Machart produzieren soll. Die gesammelten Reaktionen beinhalteten offenbar eine ausreichend große Anzahl an positiven Stimmen, sodass Bianca fünf Tage nach der Veröffentlichung von Julian Beitrag auf ihrem Kanal ein Video zugänglich macht, welches sie mit folgenden Sätzen eröffnet: Hallihallo meine Lieben und willkommen zu diesem neuen Video, was völlig ungeschnitten sein wird. Ich weiß nicht, ob Ihr Julians Teil davon gesehen habt. Auf jeden Fall habe ich kein anderes Video in den Kommentaren gelesen, außer, dass ich das auch mal machen soll, deswegen wage ich mich jetzt mal daran… äh ich habe ein bisschen Angst. 50

QR-Code Video 12

48 | Transkript des Videos: Julienco: So bin ich wirklich ... UNGESCHNITTENES VIDEO.

In:

YouTube.com (Video).

Unter:

https://youtu.be/CBVMuATNtBs

[aufgerufen am 27. Januar 2020]. 49 | Ebd. 50 | Transkript des Videos: BibisBeautyPalace: So bin ich wirklich ! Komplett UNGESCHNITTENES Video. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ EwzwVuLkefc [aufgerufen 27. Januar 2020].

264 | LIVENESS

Abseits dessen, dass in beiden Fällen die ständige Verweisstruktur zwischen den YouTuber*innen und der daraus resultierende Flow erneut ersichtlich werden, eint sie der exponierte Einsatz von Echtzeit. So kündigt Julian Claßen nicht nur die Vermeidung von Schnitten, Verdichtungen und Zeitsprüngen (und damit einhergehend die Bewahrung der Timeline) ausdrücklich an, überdies offenbart er, an welchen Stellen und in welcher Weise er gewöhnlich in die Aufnahmen nachbearbeitend eingreift. Der Glaube an die durch Einhaltung von Echtzeit erzeugte Authentizität ist derart ausgeprägt, dass er verspricht, in diesem speziellen Video besser kennengelernt werden zu können, als in jedem seiner anderen. Diese Synthese aus Echtzeit (als Beleg für Abwesenheit von Manipulationen) und versprochener Wahrhaftigkeit deutet sich bei beiden Videos bereits im Titel an, die jeweils die Formulierung „So bin ich wirklich“ sowie den Hinweis „Ungeschnittenes Video“ beinhalten. Hierbei erscheint der Verweis auf die Echtzeit als derart wichtig bewertet zu werden, dass der Zusatz „ungeschnitten“ in großen Buchstaben auf den entsprechenden Vorschaubildern zu den Videos zu lesen ist.

Abbildung 31: Thumbnails der ungeschnittenen Videos von Julian (links) und Bianca (rechts).51 Der Ausschluss einer nachträglichen Kaschierung ihrer Versprecher und Schnitzer lässt in dieser Logik keine Möglichkeit eines Versteckens oder das Tragen einer Maske zu und müsse zwangsläufig zu einer wirklichkeitsgetreuen und unverschleierten Darstellung der eigenen Persönlichkeit führen. Dieser Status wird von den Protagonisten*innen durch ihre Anmerkungen „nervös“ (Julian) zu sein oder gar „Angst“ (Bianca) zu haben als unangenehm und bedrohlich beschrieben. Julian Claßen spricht diesem Element eine derart entzaubernde Wirkung zu, dass er sich mit ihr der Gefahr aussetze, von seinem Publikum als nicht mehr „lustig“ empfunden zu werden. Unterstützt werden diese Aussagen durch den mehrfachen Einsatz des sogenannten Flushed-Face-Emoji, welches ein errötetes Gesicht zeigt. Es wird sowohl im deskriptiven Titel der Videos als auch auf ih-

51 | Screenshots der Vorschaubilder der Videos [angefertigt am 27. Juli 2018].

Echtheit | 265

ren Vorschaubildern verwendet und dort zusätzlich um eingefrorene Standbilder ergänzt, die als Gesten des Ausdrucks von Scham gelesen werden können. Die visuellen und verbalen Aufladungen sollen neben der Kenntlichmachung der Besonderheit des anzuklickenden Materials betonen, dass gerade der Erhalt von Echtzeit zu ungewollten und im Nachhinein als peinlich empfundenen Offenbarungen führen wird. Die mithilfe all dieser Gestaltungsmittel erzeugte Situation inszeniert sich letztlich als eine simultan übertragene Live-Sendung im fernsehhaften Stil, die ihren Reiz aus dem Risiko von ungeplanten und unumkehrbaren Zwischenfällen – wie dem versehentlichen Freilegen einer Brust – zieht. Dass die veröffentlichte Aufnahme nicht zwangsläufig den ersten Versuch zeigen muss, bleibt in dieser Anordnung unerheblich. Das vertragliche Angebot, in Videos Authentizität und Wahrhaftigkeit erfahren zu können, resultiert im Kern in erster Linie auf der Ankündigung, Echtzeit zu bewahren.

Abbildung 32: Weitere exemplarische Videos, in denen der Hinweis „ungeschnitten“ ein Versprechen für Authentizität und Wahrhaftigkeit liefert.52

52 | Bildnachweise auf S. 267.

266 | LIVENESS

… In einem Umfeld, das sich größtenteils aus aufgezeichnetem und damit potenziell manipuliertem Material zusammensetzt, verheißen folglich ungeschnittene Aufnahmen, die mit all ihren Risiken, Fehlern und imperfekten Momenten unter ähnlichen Bedingungen wie Live-Übertragungen in fernsehhaften Umgebungen funktionieren, einen Zugang zu wahrer Authentizität. Innerhalb eines Angebots wie YouTube muss der Hinweis „ungeschnitten“53 demnach als Pendant zu den Einblendungen eines „LIVE“-Schriftzugs im Fernsehprogramm als Lockmittel und Versprechen für wahrhaftige Situationen verstanden werden. Diese Erkenntnis gilt ebenso für Angebote wie Netflix und den dort abrufbaren Serien wie MAD MEN und BREAKING BAD, in denen eine erzählerische Reduktion und punktuelle Imitation von Echtzeit ebenfalls eine Nähe zu den Figuren – einen Eindruck von Authentizität – herstellen kann. Wenn die Familie White sekundenlang und wortkarg beim Frühstück zu sehen ist, tritt die ansonsten stark erkennbare Inszeniertheit der fiktionalen Produktion zurück, um die Charaktere natürlicher und lebensnaher auftreten zu lassen. Der durch die Verwendung eines grundlegenden Merkmals von Fernsehhaftigkeit einströmende Fluss des Lebens ermöglicht es, den künstlichen Figuren in Serien ebenso wie den Protagonist*innen in YouTube-Videos tatsächliches Leben einzuhauchen – ein Effekt, der allerdings wie bei David Copperfield lediglich eine Illusion ist.

53 | Bzw. „uncut“

267 1

Bildnachweise zu Abbildung 32: Vorschaubilder zu den Videos: PrankBrosTV: So sind wir wirklich !!! UNGESCHNITTENES VIDEO. Unter: https://youtu.be/WETG45qDBU0; Sonny Loops: Die nackte Wahrheit: SO SIND WIR

WIRKLICH!

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(komplett

BibisBeautyPalace:

ungeschnitten). Traust

Unter:

du dich vor

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UNZENSIERT & UNGESCHNITTEN. Unter: https://youtu.be/2Ey33e7xKP4; BibisBeautyPalace: Ungeschnitten & Ehrlich: Enttäuscht von Heiratsantrag? Unter: https://youtu.be/BXsOCBdB11w; Unique Lisi: SO BIN ICH WIRKLICH! ყ DIALEKT

&

KOMPLETT

UNGESCHNITTENES.

Unter:

https://youtu.be/

QUsKQ8-LYu4; xLaeta: EHRLICH und UNGESCHNITTEN! Ich beantworte 50 intime Fragen. Unter: https://youtu.be/WZWooJAKzho; Xami Tami: 10 Fakten über mich჊჋(UNGESCHNITTENქ) [mittlerweile gelöscht]; TheBeauty2go: 100% UNGESCHNITTEN, EHRLICH & INTIM… Unter: https://youtu.be/nMPLAs4sEF4; Mammasemammassa: Samuel Koch Wetten dass Unfall ungeschnitten. Unter: https://youtu.be/iMmN3TGKavo; dearrex: Jan Ullrich bei Beckmann – Dopingfrage ungeschnitten. Unter: https://youtu.be/Bpzk2CElNa8; Winston Smith: G20 Hamburg, Schützenstrasse, ungeschnitten. Unter: https://youtu.be/NzeYsDl9oZI; Alvar Freude: BAGIDA,

Münchens

PEGIDA;

1:16

Stunden

ungeschnitten.

Unter:

https://youtu.be/Busdi_CQw3o. Für alle Videos der Übersicht gilt: Aufgerufen 27. Januar 2020 – außer „Xami Tami: 10 Fakten über mich჊჋(UNGESCHNITTENქ“; aufgerufen am 21. September 2018 [mittlerweile gelöscht].

269

6. Adressierungen

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Televisionizitäre Adressierungen

FALLBEISPIEL: „WELCOME TO WASHINGTON“ Die Handlung der Netflix-Serie HOUSE OF CARDS1 setzt am Silvesterabend des Jahres 2012 in Washington D.C. ein. Eine ihrer ersten Szenen zeigt den Neujahrsempfang der Demokratischen Partei, auf dem die politische Elite zusammengekommen ist, um gemeinsam auf den neugewählten Präsidenten Garrett Walker und zugleich auf ein erfolgreiches Jahr für die Partei anzustoßen. Der betreffende Saal ist lieblos geschmückt und nur halb gefüllt. Es wird geplaudert, gelacht, getrunken und gegessen. Inmitten dieser ausgelassenen Stimmung steht Frank Underwood, der bisherige Mehrheitsbeschaffer im Kongress, plötzlich auf und beginnt überraschend einen ausführlichen Monolog: President-elect Garrett Walker. Do I like him? No. Do I believe in him? That’s beside the point. Any politician that gets 70 million votes has tapped into something larger than himself. Larger than even me, as much as I hate to admit it. And look at that winning smile, those trusting eyes. I latched onto him early on and made myself vital. After 22 years in congress, I can smell which way the wind is blowing. [Frank blickt zu einem älteren Mann.] Oh, Jim Matthews, his right honorable vice-president. Former governor of Pennsylvania. He did his duty in delivering the keystone state, bless his heart, and now they’re about to put him out to pasture. But he looks happy enough, doesn’t he? For some, it’s simply the size of the chair. Huh. [Frank läuft durch den Saal vorbei an einer Frau, auf die er kurz deutet.]

1 | House of Cards, USA 2013 - 2018.

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Linda Vasquez, Walker’s chief of staff. I got her hired. She’s a woman, check, and a Latina, check, but more important than that, she’s as tough as a two-dollar steak. Check, check, check. When it comes to the White House, you not only need the keys in your back pocket, you need the gatekeeper. As for me, I’m just a lowly house majority whip. I keep things moving in a congress choked by pettiness and lassitude. My job is to clear the pipes and keep the sludge moving. But I won’t have to be a plumber much longer. I’ve done my time. I backed the right man. Happy New Year! Give and take. Welcome to Washington.2

Doch Frank Underwood hält diese Ansprache, in der er seine Einstellung zu seinen anwesenden Kollegen schonungslos offenbart, nicht für die Gäste auf der Party; nicht für die Menschen, über die er spricht. Im Gegenteil, diese reagieren nicht einmal auf seine Worte, obwohl er offensichtlich in deren Hörweite spricht. Nein, Frank Underwood hält diese Ansprache für seine Beobachtenden, die sich nicht mit ihm im Raum, sondern auf der anderen Seite befinden. Er hält sie für diejenigen Zuschauenden, die sich jenseits des Bildschirms befinden und die Serie HOUSE OF CARDS im Angebot von Netflix aufgerufen haben. Ihnen erläutert er zu Beginn der ersten Episode die Grundkonstellation und den Ausgangspunkt der sich anschließenden Handlung. Sie blickt er dabei direkt an und prostet ihnen am Ende seines Monologs siegessicher zu: „Welcome to Washington.“

Abbildung 33: Underwood prostet den Zuschauenden in HOUSE OF CARDS zu.3

2 | House of Cards, USA 2013, Staffel 1, Folge 1 („Chapter 1“), ca. 03:10 Min. 3 | Screenshot aus der Episode.

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LENKUNG VON AUFMERKSAMKEIT In vergleichbarer Weise wie Frank Underwood zum Publikum der Serie HOUSE CARDS spricht, richtet sich das Fernsehprogramm über nahezu alle Bereiche hinweg an seine Zuschauenden und verwendet regelmäßig „Formen der direkten Adressierung, die von einer Person in Großaufnahme an die Personen gerichtet werden, die sich vor dem Fernsehgerät versammeln.“ 4 Dieses Merkmal findet sich in Nachrichten, in Teleshoppingangeboten, in Unterhaltungsshows, in Politikmagazinen, in Ratgebersendungen, in Reality-Formaten oder Werbespots. Es lässt sich in vergangenen Konzepten wie EINER WIRD GEWINNEN5, DALLI DALLI6 und der Programmansage ebenso beobachten wie in zeitgenössischen Produktionen wie der HEUTE SHOW7, WER WIRD MILLIONÄR?8, HART, ABER FAIR9 oder dem NEO MAGAZIN ROYALE10. Es findet Anwendung in amerikanischen LateNight-Shows von Johnny Carson11 oder Jimmy Fallon 12, im SCHWARZEN KANAL13 des DDR-Fernsehens oder in den langjährigen west- bzw. später gesamtdeutschen Reihen wie ASPEKTE14, der SPORTSCHAU15 und dem WORT ZUM SONNTAG16. Mithilfe einer direkten Adressierung eröffnet Andrea Kiewel sonntäglich den ZDF FERNSEHGARTEN17: „Willkommen auch Ihnen zu Hause, liebe Fernsehzuschauerinnen, liebe Fernsehzuschauer.“ Und auf diese Weise schließt sie ihn gewöhnlich wieder: „Der FERNSEHGARTEN ist nächste Woche wieder für Sie da. Ich sag Ihnen gleich womit.“ 18 Stets erfolgt eine „direkte Anrede, die den OF

4 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 63. 5 | Einer wird gewinnen, D 1964 - 2014. 6 | Dalli Dalli, D 1971 - 1986. 7 | heute Show, D seit 2009. 8 | Wer wird Millionär?, D seit 1999. 9 | Hart, aber fair, D seit 2001. 10 | Neo Magazin Royale, D 2013 - 2019. 11 | The Tonight Show Starring Johnny Carson, USA 1962 - 1992. 12 | The Tonight Show Starring Johnny Carson, USA seit 2014. 13 | Der Schwarze Kanal, DDR 1960 - 1989. 14 | Aspekte, D seit 1965. 15 | Sportschau, D 1961. 16 | Wort zum Sonntag, D seit 1958. 17 | ZDF Fernsehgarten, D seit 1986. 18 | Transkript der Sendung: ZDF Fernsehgarten, D 2018, Ausgabe vom 22. Juli 2018. siehe Kapitel zum „Flow“.

274 | ADRESSIERUNGEN

vermeintlichen direkten Gesprächspartner in seiner ihm zugewiesenen Rolle als Rezipient anspricht.“19 Von „Nachrichtensprechern, den Magazinmoderatoren oder vereinzelt von Showmastern in ihren Sendungen“20 wird das Publikum durch die Kameralinse angeschaut, zu Beginn der Sendung willkommen geheißen („Guten Abend liebe Zuschauer“) und regelmäßig darum gebeten, auch während der Werbepause dran zu bleiben oder in der nächsten Woche wieder einzuschalten. Immer wieder haben Autor*innen Fernsehen aus filmwissenschaftlicher Sicht beschrieben und das Medium damit in die audiovisuelle Tradition des kinematographischen Verfahrens eingereiht. Zu ihnen gehört auch der britische Medienwissenschaftler John Ellis, der wesentliche Kerngedanken seiner Fernsehtheorie aus einem Vergleich mit dem (Kino-)Film ableitet. Die direkte Adressierung und die damit einhergehende Anerkennung der Anwesenheit einer Kamera stellt ihm zufolge nicht nur ein wiederkehrendes und damit kennzeichnendes Merkmal im Fernsehprogramm dar. 21 Sie ist darüber hinaus ein Attribut, in dem sich das Fernsehbild „sehr stark von der historischen Erzählform des Films [unterscheidet], in der das Geschehen eben keine Anzeichen dafür zeigt, dass es beobachtet wird.“22+23

19 | Bleicher: Geschichte, Formen und Funktionen der Fernsehansage. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 190. 20 | Ebd. 21 | Der Filmwissenschaftler Tom Brown weist darauf hin, dass der Begriff „direkte Adressierung“ nicht nur tautologisch, sondern auch unpräzise wäre. Schließlich würde ein Blick von der Leinwand auf das Publikum im materiellen Sinne niemals direkt erfolgen und sich auch die ausgelösten Effekte nie unmittelbar einstellen können. Zugleich impliziere die Nutzung der Formulierung „Adressierung“ eine Kommunikation im Sinne einer verbalen Aussage und schließe damit wortlose Ausprägungen aus. Diesen berechtigten Einwänden zum Trotz entschließt sich Brown, den Begriff in seiner Untersuchung dennoch zu verwenden. Er begründet dies mit pragmatischen Überlegungen, denn Menschen verstünden instinktiv, auf welche Merkmale er sich beziehe. (Brown: Breaking the Fourth Wall, Abschnitt „Preface“, S. x.) 22 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 63.

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Aus dieser Gegenüberstellung von Kino und Fernsehen schlussfolgert John Ellis schließlich, dass sich das Fernsehbild im Gegensatz zum (Kino-)Film mit sprachlichen Aufforderungen und einem gleichzeitig ausgeführten Blick ins Gesicht des Publikums ihm aufdrängen würde.24 Es müsse dies tun, so führt Ellis den Gedanken fort, weil es keine Gewissheit darüber hätte, dass es tatsächlich betrachtet wird. Die Beschaffenheit einer Kinovorführung impliziere hingegen, nur dann vorgenommen zu werden, wenn mindestens eine Person im Saal anwesend ist. Der (Kino-)Film könne sich daher seiner Beobachtung stets sicher sein und wäre auf aggressive Manöver wie eine direkte Adressierung nicht angewiesen. Er könne es sich sogar gestatten, die Anerkennung der Präsenz eines Publikums vollumfänglich zu ignorieren. Das Fernsehen aber sende seinen Bilderstrom unaufhörlich weiter, ganz gleich „ob ein bestimmter Apparat nun eingeschaltet ist oder nicht“.25 Erschwerend käme hinzu, dass sich aus der reinen Inbetriebnahme eines Geräts nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung ableiten lasse, dass das Fernsehbild aufmerksam verfolgt wird, denn „sehr häufig“ würde es „im Hintergrund zu anderen

23 | Dem ließe sich entgegnen, dass eine direkte Adressierung im Kino nicht gänzlich abwesend ist, schließlich wendet sich in Filmen wie THE GREAT DICTATOR (USA 1940, Charlie Chaplin), DET SJUNDE INSEGLET (SWE 1957, Ingmar Bergman), ALFIE (GB 1966, Lewis Gilbert & USA / GB 2004, Charles Shyer), ANNIE HALL (USA 1977, Woody Allen), FERRIS BUELLER’S DAY OFF (USA 1986, John Hughes), WAYNE’S WORLD (USA 1992, Penelope Spheeris), FUNNY GAMES (Ö 1997 & USA 2007, Michael Haneke), FIGHT CLUB (USA 1999, David Fincher), HIGH FIDELITY (USA / GB 2000, Stephen Frears), LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN (F / D 2001, Jean-Pierre Jeunet) oder DEADPOOL (USA 2016, Tim Miller) mindestens eine Figur der Kamera zu und spricht durch sie direkt zum Publikum. Dies kann mit dem Ziel erfolgen, innere Gedanken, Unsicherheiten oder Zweifel zum Ausdruck zu bringen oder mit der Absicht, eine Komplizenschaft mit den Zuschauenden einzugehen. Wenngleich noch eine Anzahl weiterer Filme existiert, in denen das Publikum mal mehr und weniger direkt adressiert wird – mitunter ist es lediglich ein kurzer Blick in die Kamera – stellt diese Erzählform in der Masse der produzierten Kinofilme trotzdem nur eine Minderheit dar, deren Umfang sich bisher auf einige Dutzend Werke beschränkt. Gerade weil es unüblich ist, vom Kino angesprochen zu werden, heben sie sich von den Hunderttausenden anderen Filmen, die bisher entstanden sind, ab und bestätigen als Ausnahmen die sprichwörtliche Regel. 24 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 63. 25 | Ebd., S. 66.

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häuslichen Tätigkeiten laufen, ohne dass jemand zusieht.“ Als Reaktion auf diese unsichere Situation setze das Fernsehbild „über weite Strecken direkte Adressierung ein, um den Blick und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu lenken und aufrechtzuerhalten.“26

ENTLANG DER VIERTEN WAND Die Frage, inwieweit ein inszeniertes Geschehen die Anwesenheit seiner Zuschauenden anerkennt, verbindet sich ebenso mit der sogenannten „Guckkastenbühne“ im Theater, die seit der italienischen Renaissance im mitteleuropäischen Raum weit verbreitet ist.27 Ihr Wesen beruht auf einer „prinzipiellen Zweiteilung“28 des Theaterraumes, bei der „Schauspieler und Zuschauer […] konsequent und vollkommen voneinander getrennt und einander frontal gegenübergestellt“29 werden. Die in der Regel rechteckige Bühne besteht dabei aus einem „Schlussprospekt“ sowie aus zwei seitlich abschließenden Kulissen.30 In Richtung der Zuschauenden wird der Bühnenraum durch die Verwendung von Barrieren wie Rampen, Proszenien oder Vorhängen visuell vom Publikum entfernt. Diese „architektonischen Zeichen“ erhalten in der Anordnung eine „symbolische Bedeutung“ und etablieren die imaginierte „vierte Wand“ der Bühne. 31 Gemeint ist die Linie, die zwischen Bühne und Zuschauerraum verläuft und in der Regel weder von Zusehenden noch von Darstellenden überschritten wird, wodurch gewöhnlich die Akteure nicht in den jeweils anderen Bereich des Theatersaals eindringen. Damit einher geht häufig ein Verständnis, dass das Geschehen auf der Bühne die Reaktionen im Zuschauerraum ignoriert, wodurch sich eine Wand ausbildet, die „in eine Richtung transparent“ 32 ist. Überträgt man dieses Modell auf das Kino- oder das Fernsehbild, entsprechen die diegetischen Räume, in denen die Spielhandlungen oder Aktionen stattfinden, der Theaterbühne, während der Kinosaal beziehungsweise die Orte, an denen sich die Fernsehenden befin-

26 | Ebd., S. 67. 27 | Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme betont, dass sich die Bühnenform trotz ununterbrochenen Forderungen nach alternativen Varianten beständig im deutschsprachigen Raum hält. (Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 141.) 28 | Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 70. 29 | Ebd., S. 69. 30 | von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 356. 31 | Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 139. 32 | Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 88.

Televisionizitäre Adressierungen | 277

den, dem Zuschauerraum des Theaters gleichkommen. Die Leinwände oder Bildschirme, die sich jeweils zwischen den Sphären befinden, stellen in diesem Aufbau ebenfalls eine Vierte Wand dar. Der Logik von John Ellis folgend offenbart sich entlang dieser Grenze und an ihrer grundsätzlichen Überwindbarkeit (oder an der Regelmäßigkeit ihrer Überwindung) eine Trennlinie zwischen fernsehhaftem Bild und (Kino-)Film. Anders als beim Film wird diese vom Fernsehbild derart periodisch, routiniert und selbstverständlich durchbrochen, dass es dieses Verfahren zu einem seiner charakteristischen Attribute und einem wesentlichen Erkennungs- oder Wesensmerkmal erhoben hat. Scheinbar leicht lässt sich mithilfe dieses zweiteiligen Modells Fernsehhaftigkeit in Abgrenzung zum (Kino-)Film fassen und der TV-Bildschirm als medialer Antagonist zur Kinoleinwand positionieren. Dies gelingt problemfrei, solange ein Abgleich zum Film mit Fernsehshows, Nachrichtensendungen oder TVMagazinen vorgenommen wird. Sieht das Fernsehprogramm jedoch eine Ausstrahlung von Seifenopern oder Fernsehserien wie BREAKING BAD33, MAD MEN34 und dem TATORT35 vor, stößt das Modell an seine Grenzen. Schließlich findet in ihnen üblicherweise keine direkte Adressierung statt und dennoch stehen sie in einer engen Beziehung zum Bereich Fernsehen. In ihnen zeigt sich, dass die Vierte Wand ebenso eine Schranke zwischen Fiktionen und nicht-fiktionalen Inhalten markieren kann und dann Spielfilme oder Serien (gänzlich unabhängig, in welchem Medium sie zu verorten sind) von Shows oder News abtrennt. Um selbst artfremde (fiktionale) Inhalte ohne direkte Adressierungen in seinen Flow aufnehmen zu können, nutzt das Fernsehprogramm spezielle Techniken und Methoden. Eine besteht darin, betreffende Sendungen mit direkten Adressierungen zu umrahmen, die in Ansagen vor der Ausstrahlung, in den Spots und Programmtrailern der Werbepausen oder in visuellen Einblendungen während der Laufzeit formuliert werden. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die amerikanischen Horror Hosts sowie auf ihr deutsches Pendant HILDE’S WILDE HORRORSHOW36, aber auch an SCHLEFAZ: DIE SCHLECHTESTEN FILME ALLER ZEITEN37 verwiesen (s. Kapitel zur „Serialität“). In diesen Sendungen werden die Ausstrahlungen von Klassikern (oft aus dem Genre Horror) derart in einen wiederkehrenden Rahmen eingebettet, dass selbst singuläre Filme einen seriellen Charakter erhalten und sich hierdurch harmonischer in die serielle

33 | Breaking Bad, USA 2008 - 2013. 34 | Mad Men, USA 2007 - 2015. 35 | Tatort, D seit 1970. 36 | Hilde’s Wilde Horrorshow, D 1992. 37 | SchleFaZ: Die schlechtesten Filme aller Zeiten, D seit 2013.

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Struktur des Fernsehprogramms integrieren lassen. Das Verfahren wurde im vorausgegangenen Kapitel zur „Serialität“ bereits ausführlich dargestellt und besteht in der Regel darin, vor und nach dem Film sowie vor oder nach den Werbepausen kurze (meist witzige) Ansagen zu präsentieren. In ihnen begrüßen die teils skurrilen Moderator*innen ihr Publikum und bieten frivole Monologe, zweideutige Scherze, gruselige Erzählungen und cineastische Einleitungen mit einem direkten Blick in die Kamera dar. Dies galt/gilt für Vampira, die Wilde Hilde und Count Gore de Vol ebenso wie für Oliver Kalkofe und Peter Rütten.

Abbildung 34: Blicke in die Kamera.38 In solchen Sendungen werden Filme, in denen die Vierte Wand nicht durchbrochen wird, um eine direkte Ansprache ergänzt und ihnen dadurch eine Fernsehhaftigkeit auferlegt. Der nachträgliche Zusatz einer direkten Adressierung erleichtert folglich die Einverleibung fernsehfremder Elemente und deren Eingliederung in das Fernsehprogramm. Mit ihr gelingt es, Fremdkörper in einen Zustand zu überführen, der als fernsehhaft identifiziert werden kann. Die markante Natur der direkten Adressierung prägt den aufdringlichen Gesamteindruck des

38 | Oben: Szenenbilder aus THE VAMPIRA SHOW (USA 1954 - 1955) und CREATURE FEATURE (USA 1984 - 1987). Die Screenshots wurden angefertigt aus dem Film: American Scary, USA 2006, John E. Hudgens / Sandy Clark; Unten: Screenshots aus den Sendungen: HILDE’S WILDE HORRORSHOW (D 1992) und SCHLEFAZ: DIE SCHLECHTESTEN FILME ALLER ZEITEN

(D seit 2013).

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Fernsehens derart nachhaltig, dass dieser auch aufrechterhalten bleibt, wenn eine direkte Adressierung temporär nicht praktiziert wird.

EIN- UND AUSSCHLÜSSE Wenn sich Schauspieler Kevin Spacey als Frank Underwood in HOUSE OF CARDS der Kamera zuwendet und seine Gedanken oder Pläne dem Publikum offenbart, orientiert er sich hierbei nicht am fernsehhaften Bild, sondern wie schon die beiden Vorlagen der Serie39 an Theaterstücken von William Shakespeare. Wie Spacey in einem Interview verrät, hätte man aus dem historischen Kanon neben zentralen Handlungselementen und Charakterzeichnungen insbesondere die direkte Ansprache des Publikums durch die Hauptfigur übernommen: The great thing about the original series and Michael Dobson’s book is that they were based on Shakespeare. The direct address is absolutely ‚Richard III.‘.40

So lassen sich die zentralen Passagen, mit denen der Anglistik-Professor Wolfgang Clemen den Prolog zum Drama „Richard III.“ beschreibt, nahezu unverändert auf den eingangs zitierten Redebeitrag von Frank Underwood auf dem Neujahrsempfang der demokratischen Partei übertragen. Als ‚Eingangsmonolog‘ übernimmt er die Aufgabe, das Drama zu exponieren und dabei den Zuschauer über die Ausgangslage zu informieren, gleichzeitig aber als Selbstvorstellung und Selbstcharakterisierung des Helden zu dienen, der bei dieser Gelegenheit etwas von seinen weiteren Plänen enthüllt und uns auf die Doppelrolle, die er spielen wird, vorbereitet.41

Hierbei läge, so Clemen weiter, das Schwergewicht weniger auf der Erläuterung (historischer) Fakten als vielmehr auf einer Vermittlung der „Gestalt des Titel-

39 | Nämlich der Roman: „Ein Kartenhaus“ von Michael Dobbs (1989) sowie die gleichnamige britische Mini-Serie (House of Cards, GB 1990). 40 | Zurawik: Kevin Spacey’s old-Hollywood values shape cutting-edge ‚House of Cards‘.

In:

The

Baltimore

Sun

(Online-Ausgabe).

Unter:

http://articles.

baltimoresun.com/2014-02-10/entertainment/bal-kevin-spacey-house-of-cards20140208_1_cards-rdquo-cardsrdquo-kevin-spacey [aufgerufen am 21. September 2018]. 41 | Clemen: Shakespeares Monologe, S. 23.

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helden selbst, die uns hier in plastischer Lebendigkeit als unverwechselbarer Charakter entgegentritt.“42 Entsprechend handle es sich bei dem Prolog weniger um einen objektiven Bericht als um eine „subjektiv gefärbte Darstellung“, in der in den „verächtlichen“ Äußerungen über andere Figuren die „hämische Art“ des Hauptprotagonisten spürbar wird.43 Sowohl Richard III. als auch Frank Underwood suggerieren mit ihrem Verhalten, sich dem Publikum rückhaltlos zu offenbaren, gleichwohl bleibt ihr eigentliches Hauptziel an dieser Stelle noch verborgen: Denn von seinem auf die Krone gerichteten Machtstreben, aus dem alle anderen Verbrechen sich ableiten, ist hier noch nicht die Rede, so daß – im Gegensatz zur Tradition – die Selbstenthüllung des Schurken hier nur teilweise erfolgt.44

Trotzdem sich in der Inszenierung von HOUSE OF CARDS viele Referenzen an die Dramen des 16. Jahrhunderts finden lassen und darin womöglich die ursprüngliche Motivation der Verantwortlichen für deren Wahl zu suchen ist, führen sie dennoch dazu, dass die Serie ein Gestaltungsmittel aufgreift, das ebenso eng mit dem Fernsehbild verknüpft ist und sie in einen televisionizitären Modus versetzt.45 Indem sich Spacey/Underwood dem Publikum zuwendet und es durch die Kameralinse ansieht, nutzt er (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) eine Technik, die John Ellis ausführlich für das Fernsehen beschreibt.

42 | Ebd., S. 26. 43 | Ebd., S. 24. 44 | Ebd., S. 25f. 45 | Angesichts des Stellenwerts der direkten Adressierung für die Identifizierung des fernsehhaften Bilds und dessen Abgrenzung zum (Kino-)Film erscheint die Entscheidung des Unternehmens Netflix richtungsweisend, das Stilmittel ausgerechnet in seiner ersten Serie einzusetzen. Spätere Reihen wie ORANGE IS THE NEW BLACK (USA 2013 - 2019), BOJACK HORSEMAN (USA 2014 - 2020), MARVEL’S DAREDEVIL (USA 2015 - 2018), GRACE AND FRANKIE (USA seit 2015), NARCOS (2015 - 2017), BLOODLINE (2015 - 2017), UNBREAKABLE KIMMY SCHMIDT (2015 - 2019), THE RANCH (USA 2016 - 2020), THE CROWN (GB seit 2016) oder STRANGER THINGS (USA seit 2016) weisen dieses Merkmal nicht auf. In ihnen blickt gewöhnlich keine Figur direkt in die Kamera. Gemessen am Erhalt der Vierten Wand sortieren sich diese späteren Produktionen eher auf der Seite des narrativen (Kino-)Films ein. Dies unterstreicht die Nutzung einer fernsehtypischen Ansprache im Flaggschiff von Netflix, denn das Angebot erreicht hierdurch eine Nähe zur Fernsehhaftigkeit ausgerechnet in jener Phase, in der es sich als dessen Alternative zu etablieren versucht.

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Nachrichtensprecher und Ansager sprechen direkt aus dem Bildschirm, sie imitieren den Augenkontakt alltäglicher Konversation, indem sie aus dem Bildschirm direkt herausschauen und bisweilen nieder blicken (eine bewusst entwickelte Technik).46

Strukturell verwandelt sich Underwood in diesen Momenten zu e Fernsehansager, wobei sich das Gleichnis nicht nur auf die Anordnung der Blicke beschränkt, sondern auch auf die Tatsache, dass Fernsehansagen durch Vorankündigungen geprägt sind. Beziehen sie sich bei der klassischen Programmansage auf nachfolgende Sendungen, prophezeit Underwood hingegen kommende Ereignisse, Maßnahmen und Reaktionen seiner politischen Konkurrenz. Aus dieser Anordnung ergeben sich drei Instanzen, die unterschiedliche Zuweisungen erhalten – nämlich die von Frank Underwood (bzw. der Fernsehansager*innen), die des Publikums sowie die der übrigen Menschen, also diejenigen, die an der direkten Adressierung nicht partizipieren können, die lediglich beobachtet werden und über die von der ersten Instanz gesprochen wird. Eine solche dreigliedrige Konstellation, die aus einer direkten Adressierung des Publikums resultiert, sei gemäß John Ellis bezeichnend für das Fernsehbild, das auf diese Weise versucht, eine Beziehung mit seinen Zuschauenden aufzubauen. Demzufolge setze sich das Fernsehbild selbst in die erste Person Singular/Plural – also ins „ich“ oder „wir“ – während die Betrachtenden die zweite Person bilden würden – also das „Du“ oder „Ihr“. Daraus entstünde zwischen der ersten und zweiten Person – also zwischen dem Fernsehbild und dessen Publikum – eine Verbindung, die zusätzlich eine weitere dritte Person oder Gruppe konstituieren könne, die von der ersten und zweiten Person (gemeinsam) beobachtet und als „er“ oder „sie“ benannt wird. Dies wären „Leute, die wir uns gemeinsam mit dem Fernsehen anschauen“ und die zuweilen mit „Herablassungen, Hass, vorsätzlicher Ignoranz, Mitleid [oder] Gleichgültigkeit“ abgewertet würden. Ihre notwendige Funktion innerhalb des Beziehungsgeflechts liegt darin, einen gemeinsamen Konsens zu bestätigen, indem sie sich außerhalb dieses befinden und ihn negativ nach außen abgrenzen. Besonders wirkungsvoll erweise sich dies, wenn es sich dabei um Personen handele, die den Zuschauenden zwar (zumindest als Archetyp) geläufig sind, weil sie dem Fernsehen ständig als Anschauungsbeispiel dienen, sie sich mit ihnen dennoch nicht identifizieren wollen. Als Beispiel für eine solche Gruppe benennt Ellis ausdrücklich „Hausfrauen“. Das Fernsehbild erhalte durch das Ansprechen seines Publikums (und dem Sprechenüber-Dritte) die Fähigkeit, Gruppenzugehörigkeiten hervorzubringen und zu-

46 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 63.

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gleich die Abwertung oder den Ausschluss von Personenkreisen zu etablieren. Anders gesagt, es suggeriert Gleichheit zwischen sich und seinen Adressierten.47 Frank Underwood nimmt in HOUSE OF CARDS zweifellos die erste Person ein und damit die Rolle der Ich-Form des Fernsehbildes, das seine Beobachtenden direkt anspricht und diese wiederum in die zweite Person versetzt. Die dritte Instanz wird in der Serie den anderen politisch Handelnden in Washington zugewiesen – den Politiker*innen, die Frank Underwood gemeinsam mit seinem Publikum beobachtet und über die er herablassend spricht. Sie bilden jene dritte Person – jene Hausfrauen – welche die Beziehung zwischen der ersten (Underwood) und zweiten (die Zuschauenden) Person verstärkt. Durch das Versetzen der anderen Politker*innen in die dritte Person, in eine Position außerhalb des gemeinsamen Konsenses, gelingt es Frank Underwood, sich von ihnen zu distanzieren, obwohl er formell selbst dieser Gruppe zuzuordnen ist. Stattdessen verbündet er sich mithilfe der direkten Adressierung mit dem Publikum gegen sie und suggeriert zwischen sich und den Zuschauenden „Gleichheit“. Unterstützend offenbart er seine Verschwörungspläne und gewährt damit einen Vertrauensvorschuss, der von den Zuschauenden damit belohnt wird, dass Underwood eben nicht der grauen Masse der austauschbaren und wenig bewundernswerten Politiker*innen zugeordnet wird. Mehr noch, das Vertrauensverhältnis zwischen Underwood und seinem Publikum ist dermaßen weitreichend, dass seine direkt adressierten Worte ohne jeglichen Zweifel geglaubt werden, obwohl für deren Echtheit keinerlei Garantien oder Absicherungen existieren. Das ihm entgegengebrachte Vertrauen basiert ausschließlich auf der Anwendung der direkten Adressierung, ohne die es kaum denkbar wäre, die für das Funktionieren einer Serie nötigen Sympathien für einen derart skrupellosen Charakter wie Frank Underwood aufkommen zu lassen. Als emotionsarmer Betrüger, Intrigant und Mörder erfüllt Frank Underwood eigentlich die Grundkriterien eines klassischen Antagonisten oder Bösewichts, der nur deshalb als Hauptprotagonist einer Serie von den Zuschauenden akzeptiert wird, weil er mit ihnen spricht; weil er dadurch mit ihnen eine Komplizenschaft eingehen kann; weil er ein charakteristisches Gestaltungsmittel des Fernsehens nutzt.48

47 | Ebd., S. 67f. 48 | Dieser Effekt deckt sich mit der Einschätzung von Tom Brown, der für den (Kino-)Film herleitet, dass eine direkte Adressierung nicht (wie häufig angenommen) eine Distanz zum Geschehen auf der Leinwand erzeugt. Vielmehr könne dieses Stilmittel dazu beitragen, die Beziehung zur Fiktion zu intensivieren. (Brown: Breaking the Fourth Wall, Abschnitt „Preface“, S. x.)

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SIMULIERTE UNTERHALTUNGEN Die direkte Adressierung fußt auf der Simulation einer Unterhaltung zwischen Medium und Rezipient*innen, wobei die Feststellung zentral ist, dass die Unterhaltung lediglich simuliert wird und damit de facto nicht existiert. Anders als etwa beim Theater existieren weder im Kino noch in fernsehaften Umgebungen direkte Rückkoppelungen zwischen Adressat und Adressiertem. Für das Verhalten der Personen auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm hat es keinen unmittelbaren Einfluss, wie das jeweilige Publikum davor auf sie reagiert. Dies ist ein Aspekt, der in (Kino-)Filmen weniger stark heraustritt, weil diese das Vorhandensein eines Publikums ohnehin negieren. Das Fernsehbild jedoch, das seine Beobachtenden zwar beharrlich anspricht, aber mit gleicher Beharrlichkeit deren Antworten ignoriert, exponiert derart seine eigene spezifische Gerichtetheit: In keiner anderen Form von Programmpräsentationen spricht der Sender so deutlich als Sender wie in den Ansagen, nirgends sonst wird der Charakter der Kommunikation über das Medium Fernsehen als Einwegkommunikation so deutlich.49

Die direkte Adressierung akzentuiert die Sendeform des Fernsehprogramms, unterstreicht seine technisch-limitierte Gerichtetheit und versinnbildlicht deshalb in mehrfacher Hinsicht die spezifische Medialität des fernsehaften Fernsehens. Damit begründet sie einen dialektischen Zustand, bei dem eine gleichrangige Unterhaltung zwar scheinbar geführt wird, diese aber im selben Augenblick verdeutlicht, dass ein solcher Austausch innerhalb des Mediums gar nicht möglich ist. Wenn Frank Underwood seine markanten Ansprachen in Richtung des Publikums hält, die stets Monologe (keine Dialoge) ohne die Möglichkeit einer Erwiderung bleiben, tritt dieser gegensätzliche Effekt bei HOUSE OF CARDS ebenso auf, denn auch hier besteht keine Möglichkeit ihm zu antworten. Dies bezieht sich nicht einzig darauf, dass es sich bei ihm um eine fiktive Figur handelt, sondern ebenso auf das Interface von Netflix, das anders als bei YouTube keine Möglichkeit eines Austauschs mit den Macher*innen der Serie oder anderen Nutzenden vorsieht.

49 | Scherer: Programmpräsentation und Fernsehdesign im Programm von RTL und SAT.1. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 147.

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Attraktion[en]

GESTEN DES ZEIGENS IM FRÜHEN KINO Verfolgt man John Ellis’ methodischen Ansatz weiter, Fernsehen in Relation zum Film zu kennzeichnen, verschiebt aber den Referenzpunkt vom gegenwärtigen Kino zu dessen Anfängen, enthüllt sich ein weiterer Kontext, in den sich die direkte Adressierung des Fernsehbildes stellen lässt. Hierbei bilden die Überlegungen des Filmwissenschaftlers Tom Gunning eine zentrale Grundlage, die er in mehreren Aufsätzen herausgearbeitet hat. Ihm zufolge wäre die gesamte Ära des Early Cinema direkt nach der Erfindung des Kinematographen von einem Verständnis des Kinos dominiert gewesen, das sich erheblich vom heutigen unterscheidet. Die entscheidende Differenz zum späteren narrativen Filmen markiert er darin, dass anfänglich das „Ausstellen“ („a cinematic gesture of presenting for view, of displaying“ 1) und weniger ein narratives Paradigma im Vordergrund gestanden hätte. Die einzelnen Szenen – die zum Teil den gesamten Film bildeten – wären aus reinem Selbstzweck gezeigt worden, anstatt sich einem Narrativ unterzuordnen. Gemeint sind damit Filme wie BLACK DIAMOND EXPRESS2, LE VOYAGE DANS LA LUNE3, THE GAY SHOE CLERK4, HOOLIGAN IN JAIL5 oder PHOTOGRAPHING A FEMALE CROOK6+7, die Gunning unter dem ge-

1 | Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 42. 2 | Black Diamond Express, USA 1896, Edison Studio. 3 | Le Voyage Dans La Lune (Die Reise zum Mond), F 1902, Georges Méliès. 4 | The Gay Shoe Clerk, USA, 1903, Edwin S. Porter. 5 | Hooligan In Jail, USA 1903, AM&B. 6 | Photographing A Female Crook, USA 1904, Wallace McCutcheon. 7 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 66.

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meinsamen Term „Kino der Attraktion[en]“ („cinema of attraction[s]“)8 zusammenfasst. Werke wie diese hätten über keinen (umfangreichen) Plot und keine Charakterzeichnung der auftauchenden Personen verfügt und demnach keine „narrative Kontinuität“ geboten. Sie bildeten eher eine Aneinanderreihung von „Effekten“ oder „magischen Attraktionen“, die inhaltlich bestenfalls lose miteinander verbunden waren.9 Die Dominanz des „Zeigens“ gegenüber dem „Erzählen“ hätte das Kino bis etwa 1906 geprägt, bevor sich schließlich das narrative Kino in seiner noch heute angewandten Form durchgesetzt habe. Das Zur-Schau-Stellen von Attraktionen ist im Laufe dieses Prozesses nicht gänzlich abgelöst, sondern vom modernen, narrativen Kino absorbiert worden, das weiterhin solche Momente des Zeigens aufweist, etwa in Verfolgungsjagden oder wenn in Musicals die Darstellenden beginnen zu singen und zu tanzen. 10 Allerdings unterscheiden sich diese Szenen, in denen das Zeigen zwar vordergründig sei, grundlegend von jenen des Early Cinemas, da sie im Gesamtkontext des Filmes dennoch stets in einen narrativen Rahmen eingefügt würden und zu einem Plot gehörten, der mit ihnen vorangetrieben wird. Anders ausgedrückt: Während beim „Kino der Attraktion[en]“ (noch) kein Zwang zur Narration bestand, existiert im modernen, narrativen Film gewöhnlich keine Szene, die nicht der jeweiligen Geschichte des Films verschrieben ist. Deutlicher wird Gunnings Sichtweise in einem früheren Entwurf seines Konzepts, in dem er den Begriff „Attraktion“ noch nicht verwendet und die Filme des frühen Kinos stattdessen mit dem Begriff „Non-Continuity“ beschreibt, weil sie eher davon geprägt wären, ihre voneinander getrennten Einzelteile zu erhalten, anstatt diese unter der „Illusion eines kontinuierlichen, narrativen Flusses“ zu vereinen („illusion of a continuous narrative flow“). Folglich wäre jede Einstellung in sich geschlossen geblieben und hätte nicht versucht, sich auf die jeweils vorhergehenden oder nachfolgenden zu beziehen, nur um mit ihr eine künstliche Einheit zu bilden.11+12 Gunnings erklärtes Ziel ist dabei die Neuaus-

8 | Im Zuge einer Neuveröffentlichung seines ursprünglichen Textes ersetzte Gunning den Begriff „Attraktion“ (Singular) konsequent durch den Begriff „Attraktionen“ (Plural). Aus diesem Grund wird im vorliegenden Text eine Schreibweise genutzt, die beide Versionen berücksichtigt. (Beleg für die Neuveröffentlichung: Gunning: The Cinema of Attractions: In: Elsaesser / Barker: Early Cinema: Space Frame Narrative.) 9 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 65. 10 | Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 43. 11 | Buckland: A Rational Reconstruction of the Cinema of Attractions. In: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded, S. 42.

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richtung der Filmwissenschaft, die sich bisher zu stark darauf versteift hätte, die Geschichte des Kinos unter der Vorherrschaft eines narrativen Dogmas („hegemony of narrative films“)13 zu theoretisieren. Statt der Fokussierung auf das Vorhandensein einer Narration schlägt er eine Untersuchung (und Ordnung) der Werke entlang der Geste des Zeigens vor, also entlang der Frage, ob das Zeigen von Attraktionen das Erzählen einer Geschichte überwiegt. Damit gelingt es Gunning zwar dennoch nicht, sich vollständig von der Narration als Entscheidungsmerkmal zu lösen, da er jenes Zeigen von Attraktionen als Antagonisten zu einer Narration markiert und sich im Kern doch wieder daran orientiert.14 Die entscheidende Differenz seines Modells liegt jedoch darin, die An- und Abwesenheit von Spektakel und Narration weniger aus dem Vorhandensein von StoryElementen, als vielmehr aus der Art und Weise abzuleiten, in welcher Weise das Publikum adressiert und involviert wird. I proposed the cinema of attractions as a tool for critical analysis of early films and as a means of describing the differences between various periods of film history. Its value lies ultimately in how it opens up films and generates discussion, in a historically specific and analytically detailed manner, of the nature of film spectatorship. 15

Der wahre Schlüssel zu Gunnings Modell ist folglich im spezifischen Verhältnis zwischen den Filmen und ihrem Publikum zu suchen, das sich beim Kino der Attraktion[en] von jenem des (späteren) narrativen Kinos unterscheiden würde. Dies ist zugleich der Grund, wieso seine explizite Film-Theorie nachfolgend auf das Fernsehbild übertragen werden soll.

12 | Gunning hat sich letztlich gegen den Begriff „Non-Continuity“ entschieden, da dieser negativ konnotiert sei und Kontinuität zum maßgeblichen Paradigma des Kinofilms erheben würde. 13 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 64. 14 | Gunnings Modell ist nicht unumstritten und wurde von mehreren seiner Kolleg*innen u.a. Donald Crafton und Charles Musser kritisiert. Deren Vorwürfe beziehen sich allerdings nicht auf seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen zur direkten Adressierung, sondern auf die Frage, welchen inhaltlichen und zeitlichen Filmkanon seine Theorie abdeckt und inwieweit Attraktionen von Narrationen abtrennbar sind (vgl. Musser: Rethinking Early Cinema. Und: Crafton: Pie and Chase. Beide in: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded). 15 | Gunning: Attractions: How They Came into the World. In: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded, S. 38.

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DIEGETISCHE WELTEN & EXHIBITIONISTISCHE BLICKE In diesem Kontext muss bedacht werden, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Kino noch als technische Neuheit etwa auf Jahrmärkten vorgeführt und deshalb selbst als Attraktion angesehen wurde.16 Nicht zufällig leiht sich Gunning ausgerechnet den Begriff „Attraktion“ vom sowjetischen Filmemacher Sergej Eisenstein, der diesen wiederum den Jahrmärkten und Fahrgeschäften auf Coney Island entnommen hatte.17+18 Entsprechend wäre das Kino von den Ausstellenden (Showmen) beworben worden, die vor Beginn der Filme ihre Präsentationen ähnlich wie Zirkusdirektor*innen ankündigten. It is the direct address of the audience, in which an attraction is offered to the spectator by a cinema showman that defines this approach to filmmaking. Theatrical display dominates over narrative absorption, emphasizing the direct stimulation of shock or surprise at the expense of unfolding a story or creating a diegetic universe. 19

So wird etwa berichtet, dass John Stuart Blackton den Film BLACK DIAMOND EXPRESS20, in dem sich eine Eisenbahn mit hohem Tempo frontal der Kamera nähert und dann dicht an ihr vorbeifährt, mit einem Foto des Zugs und folgenden Worten angekündigt hätte: Ladies and Gentlemen, you are now gazing upon a photograph of the famous Black Diamond Express. In just a moment, a cataclysmic moment, my friends, a moment without equal in the history of our times, you will see this train take life in a marvel-

16 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 65. 17 | Musser: Rethinking Early Cinema. In: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded, S. 391. 18 | Demnach hätte Eisenstein bei der Wahl des Begriffs vorrangig auf die richtungswechselnde und schockierende Natur der frühen Filmclips abgehoben, welche eine vergleichbare Wirkung wie Jahrmarktattraktionen auslösen konnten. Er nutzt für sein Gleichnis ausgerechnet einen Begriff, der aus der direkten örtlichen Nachbarschaft stammt, in der die ersten Kinovorführungen stattfanden. 19 | Dieser Satz ist lediglich in einer weiteren, später modifizierten Version von Gunnings ursprünglichem Text enthalten. (Gunning: The Cinema of Attraction[s]. In: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded, S. 384.) 20 | USA, 1896, James H. White. Aus dem Bestand der Edison Manufacturing Company.

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ous and most astounding manner. It will rush toward you, belching smoke and fire from its monstrous iron throat.21

Angesichts solcher Ankündigungen erscheint es nur konsequent, dass sich die Adressierung des Publikums auf die Leinwand verlängerte – obgleich eine direkte sprachliche Ansprache mangels Ton durch den Film noch nicht umsetzbar war. In fiktiven Filmen hätte demnach die zentrale Funktion der Darstellenden darin bestanden, die Aufmerksamkeit der Beobachtenden auf das Spektakel auf der Leinwand zu lenken. So sei es im Kino der Attraktion[en] üblich gewesen, dass die Schauspieler*innen das Publikum über die Kameras adressierten: From comedians smirking at the camera, to the constant bowing and gesturing of the conjurors in magic films, this is a cinema that displays its visibility, willing to rupture a self-enclosed fictional world for a chance to solicit the attention of the spectator.22

Die Filme des Kinos der Attraktion[en] waren sich demnach der Anwesenheit ihrer Zuschauenden bewusst und versuchten vorranging, deren Neugier zu stillen.23 Als gemäß Tom Gunning ab etwa 1906 unter anderem durch die Arbeiten von D. W. Griffith der grundsätzliche Ansatz des Kinos begonnen hätte, sich zu ändern und dieser sich auf das Erzählen von Geschichten mit dramatischen Ausdrucksformen und Einblicken in die Psychologie von Charakteren verschob, wären innerhalb der Filme fiktionale Welten – diegetisches Universen – entstanden, die in sich geschlossen waren und deren Bewahrung sich zum zentralen Credo entwickelt habe. Im Laufe des Prozesses wäre der Blick in die Kamera und damit die Sichtbarmachung ihres Vorhandenseins zunehmend als Bedrohung angesehen worden, weil dies „die realistische Illusion des Kinos verderben“ würde. 24 [I]n classical narrative cinema this pursuit of an enigma takes place within a detailed diegesis, a fictional world of places and characters in within the action of the narrative dwells. From a spectatorial point of view, the classical diegesis depends not only

21 | Zitiert nach: Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 44f. 22 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 68. 23 | Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 43f. 24 | Gunning: The Cinema of Attraction. In: Wide Angle Journal, S. 68.

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on certain basic elements of coherence and stability but also on the lack of acknowledgment of the spectator.25

Gunning kennzeichnet diese diegetische Welt als eine Welt, die es zwar selbst erlaube, beobachtet zu werden, aber zugleich ihre Kenntnis um diese Beziehung zu den Beobachtenden verweigere. Daraus folgert er schließlich für das Publikum, dass es durch dessen Negation zu Voyeuren gewandelt würde, welche die Ereignisse im Geheimen verfolgen, ohne dabei von der Szene selbst wahrgenommen zu werden. Das Kino der Attraktion[en] wäre demnach eher eine Anordnung des Exhibitionismus, das narrative Kino eher eine des Voyeurismus. In the cinema of attractions, the spectator is not positioned as a voyeur absorbed into and spying on a self-enclosed narrative world; instead, it is exhibitionist, knowingly/reflexively addressing the spectator and providing. 26

In diesem Spektrum, das von der Erschaffung diegetisch-geschlossener Welten zu exhibitionistischen Anordnungen, in denen das Vorhandensein einer Kamera anerkannt wird, reicht, ordnet sich die Serie HOUSE OF CARDS zwischen diesen Polen ein. Mit ihrem hochwertigen Look und ihrer vielschichtigen Erzählweise, mit der detaillierten Gestaltung ihrer Spielräume und ihrer Fokussierung auf schauspielerische Darbietungen strebt die Serie sichtlich das Ziel an, eine eigene narrative Diegese zu erzeugen. Diese wird nur dann unterwandert, wenn sich Frank Underwood an die Zuschauenden wendet. Dies aber tut er nicht permanent. Über weite Teile der Handlung (zuweilen für die Dauer einer ganzen Episode) beachtet er die Kamera (und damit das Publikum) scheinbar nicht. Nur hin und wieder richtet er seinen Blick gen Publikum, um seine Komplizenschaft mit ihm zu erneuern. Nur in diesen Momenten, die sich meist disharmonisch zum restlichen Verlauf der Serie verhalten, werden die Zuschauenden aus ihrem Voyeurismus herausgerissen und an ihre tatsächlich exhibitionistische Haltung erinnert. Das fernsehhafte Bild hingegen zeigt weit weniger Scheu, sich direkt an sein Publikum zu richten, denn regelmäßig reagieren darin Menschen „explizit auf die Kamera oder ihnen kann andernfalls zumindest eine Internalisierung der Be-

25 | Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 43f. 26 | Buckland: A Rational Reconstruction of the Cinema of Attractions. In: Strauven (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded, S. 49.

Attraktion[en] | 291

obachtungssituation unterstellt werden“27. Sie stellt im Fernsehbild keine außergewöhnliche Attraktion dar. Ein Grund dafür ist in der Tatsache zu suchen, dass sich das Fernsehbild oft sogar weigert, eine mit dem (Kino-)Film vergleichbare diegetische Welt zu kreieren. Stattdessen wird die Künstlichkeit der präsentierten Situationen, die ausschließlich für den Zweck herbeigeführt werden, um von einer Fernsehkamera aufgenommen und für ein entferntes Publikum übertragen zu werden, geradezu ausgestellt. Regelmäßig sind Kameras, Scheinwerfer und Mikrophone zu sehen. Allzeit gut gelaunte Menschen in unbequemer Kleidung vollführen in großen Hallen, die mit sperrigen Dekorationselementen gefüllt sind, außergewöhnliche Kunststücke. Einander fremde Personen führen in Anwesenheit von Dutzenden, manchmal Hunderten anderen Fremden, auf einer ausgeleuchteten Bühne detaillierte Gespräche über intime und äußerst private Angelegenheiten. Nachrichtensprechende halten vor virtuellen Hintergründen nahezu ohne jegliche Bewegung ausformulierte Monologe aus verkürzten Textversatzstücken, die in keinem inneren Zusammenhang zueinander stehen und in Sitcoms lassen die Darstellenden in unwirklichen Theaterkulissen notorisch Pausen für das Gelächter eines unsichtbaren Publikums. In solchen Momenten existiert an der Künstlichkeit des Fernsehbildes und an der von ihm dargestellten Situationen keinerlei Zweifel. Der Blick in die Kamera und die Imitation einer Unterhaltung mit dem Publikum unterstreicht diese Künstlichkeit dann nicht nur, sondern erkennt zugleich auch die (wenn auch entfernte) Anwesenheit der Zuschauenden, für die all dieses Spektakel veranstaltet wird, an. Überträgt man das Modell von Tom Gunning auf diese Erkenntnis, so vollziehen Fernsehzuschauende einen beobachtenden, aber keinen voyeuristischen Blick, weil sie das Geschehen nicht im Geheimen verfolgen. Die Rolle des fernsehhaften Publikums ist folglich mit der des Kinos der Attraktion[en] vergleichbar, da die Zuschauenden in beiden Konstellationen einen exhibitionistischen Blick auf die ihnen dargebotenen Ereignisse einnehmen.

JAHRMARKTSCHREIER UND FERNSEHANSAGERINNEN Im Early Cinema konnte das Eingehen einer Komplizenschaft mit dem Publikum aufgrund des noch fehlenden Tons (noch) nicht verbal, sondern lediglich mit einem vielsagenden Blick, einem verschmitzten Zwinkern oder einem einladenden Lächeln umgesetzt werden. Ein sprachliches Sich-Anbieten übernahmen stattdessen die Kinobetreibenden in und vor den Jahrmarktzelten, welche die Filme

27 | Stauff: Das neue Fernsehen, S. 144.

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lauthals anpriesen, um die Menschen anzulocken. Diese Buhlerei gehörte damit zwar nicht zur Diegese (wie sie heute verstanden wird), da sie außerhalb der Leinwand und der darauf präsentierten Welt erfolgte, wohl gehörte sie aber zum gesamten Aufbau des damaligen Kinos und damit zum Dispositiv. In der Regel übernahmen die Kinobetreibenden nicht bloß die Begrüßung der Besuchenden, sondern lieferten ebenso die Ein- und Überleitungen zwischen den kurzen Filmen, womit sie eine ähnliche Funktion wahrnahmen, wie es im späteren Fernsehfunk die Moderator*innen und Showmaster*innen taten. Es sei noch einmal an die einladenden Worte erinnert, die John Stuart Blackton hielt, um Zuschauende für den Film eines an der Kamera vorbeifahrenden Zugs anzulocken. Er soll gesagt haben: Ladies and Gentlemen, you are now gazing upon a photograph of the famous Black Diamond Express. In just a moment, a cataclysmic moment, my friends, a moment without equal in the history of our times, you will see this train take life in a marvelous and most astounding manner. It will rush toward you, belching smoke and fire from its monstrous iron throat.28

Was anderes war diese Ansprache als eine Programmankündigung, wie sie später auch von Fernsehansagern und Fernsehansagerinnen formuliert wurde – inklusive einer ähnlich klingenden Anrede? Der im Kapitel zum „Flow“ ausführlich dargestellte ZDF FERNSEHGARTEN trägt in dieser Lesart viele Züge einer Vorstellung des Early Cinemas. Mit seinem stetigen Wechsel zwischen exotischen Tieren und akrobatischen Artist*innen, zwischen musikalischen Aufführungen und spielerischen Unterhaltungen bietet die Sendung eine vergleichbare Mischung und Kurzweiligkeit wie die frühen FilmProgramme auf den Jahrmärkten. In beiden Anordnungen werden kurze Segmente aneinandergereiht, die vorranging aus Attraktionen bestehen und die (wenn überhaupt) nur in einem sehr losen narrativen Zusammenhang zueinander stehen. Im FERNSEHGARTEN (sowie in vielen anderen Sendungen) hat wie im frühen Kino das Zeigen einen Vorrang vor dem Erzählen. Entsprechend buhlt die Moderatorin Andrea Kiewel wie die einstigen „Showmen“ aufdringlich um die Aufmerksamkeit des Publikums und versucht es mit direkt adressierten, sprachlich überhöhten Ankündigungen auf spektakuläre Szenen zum Bleiben zu animieren. Der Unterschied besteht einzig darin, dass sie nicht mehr die Einfahrt

28 | Zitiert nach: Gunning: Now You See It, Now You Don’t. In: Grieveson / Krämer (Hrsg.): The Silent Cinema Reader, S. 44f.

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eines dampfenden Zuges anpreist, sondern nun die beeindruckenden Talente der Suchhündin Speedy. Die Eisenbahn ist dennoch nicht gänzlich aus dem Fernsehprogramm verschwunden, bewies sie doch im norwegischen „Slow TV“ durch die Ausstrahlung einer Fahrt mit der Bergensbanen in voller Länge29 erneut ihre Faszination als (nahezu) narrationsfreie Attraktion. In diesen Momenten, so zeichnet es sich ab, entwickelt das fernsehhafte Bild doch eine große Nähe zum Film, allerdings nicht zu dessen späteren narrativen Ausprägung der Multiplex-Kinos, sondern zu dessen historischen Anfängen auf den Jahrmärkten zu Beginn des 20. Jahrhundert. Das „Kino der Attraktion[en]“ und das direkt adressierende Fernsehbild stehen diesbezüglich in einer gemeinsamen Tradition, die über Zirkusvorstellungen bis zur Serie HOUSE OF CARDS fortgesetzt werden kann. Eine Tradition, von der sich der (Kino-)Film durch die Entwicklung zum narrativen Film und dem gleichzeitigen Verzicht auf eine direkte Adressierung emanzipiert hat und dadurch eine eigene mediale Form herausgebildet hat.

YOUTUBE DER ATTRAKTION[EN] Die Medienwissenschaftlerin Teresa Rizzo wendet Gunnings Theorie zum frühen Kino auf das Angebot von YouTube an und belegt in ihrem online veröffentlichten Essay einen dortigen ähnlichen Umgang mit Attraktionen: One of the major similarities between the early cinema and YouTube is that a large amount of material found on YouTube is not about telling stories or developing narratives – rather, it has a similar quality of attractions found in early cinema. Like the cinema of attractions, the YouTube experience produces a variety of different attractions.30

Sie verweist auf Hunderte Clips mit „spielenden Tieren“ oder „vorgeführten Kunststücken“ sowie auf die unzähligen Darbietungen von Gags, Tricks, Songs und erotischen Tänzen, die im Angebot der Plattform losgelöst voneinander und als eigenständige, in sich geschlossene Szenen und Segmente abrufbar sind. Sie

29 | Eine ausführliche Erläuterung dieses Programms befindet sich im Kapitel „Liveness“. 30 | Rizzo: YouTube: the New Cinema of Attractions. In: Scan Journal of media arts culture. Unter: http://scan.net.au/scan/journal/display.php?journal_id=109 [aufgerufen am 27. Januar 2020]. Der Text ist als fortlaufender Text veröffentlich worden und verfügt daher über keine zitierfähigen Seitenzahlen.

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alle hätten mit den frühen Filmen der Brüder Lumière, von Georges Méliès oder Thomas Edison gemein, dass es sich bei ihnen um kurze Aufnahmen (5 bis 10 Minuten) handelt, die oft nur eine Einstellung beinhalten. Sie wären zudem darauf aus, Reaktionen wie Schock, Überraschung, Gelächter oder Aufregung bei den Nutzenden auszulösen, weswegen sie sich wie die Filme des Early Cinema im Akt des Zeigens vollziehen. Anstatt eine in sich geschlossene Erzählung zu entwickeln oder die Zuschauenden in eine diegetische Welt einzuladen, würden auch sie insbesondere durch eine häufig genutzte direkte Adressierung die Anwesenheit des Publikums anerkennen und mit diesem in eine vergleichbare exhibitionistische Beziehung treten. In Verbindung mit den zuvor formulierten Feststellungen spannt sich aus den Schilderungen von Teresa Rizzo ein Dreieck zwischen Early Cinema, YouTube und Fernsehhaftigkeit auf, in dem YouTube und Fernsehen in ihren jeweiligen Parallelen zum frühen Kino eine gegenseitige Nähe zueinander ausbilden. Diese resultiert aus ihrer jeweiligen Tendenz zu Segmentierungen, aus ihrer Betonung von Attraktionen sowie aus ihrem übereinstimmenden Umgang mit dem Publikum. Eine bedeutende Funktion übernimmt in diesem Verhältnis die direkte Adressierung, die im Angebot von YouTube vergleichbar präsent ist, wie in den ersten Filmvorführungen und im Fernsehprogramm.

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Adressierungen bei YouTube

FALLBEISPIEL: „ME AT THE ZOO“ Noch gänzlich abseits jeglichen Interesses der Öffentlichkeit wird am 23. April 2005 ein Vorgang abgeschlossen, der einen entscheidenden Beitrag zur Neuordnung der bisherigen Medienlandschaft leisten wird und der nur wenig später zu einer solchen Selbstverständlichkeit erwächst, dass ihn tagtäglich Millionen Menschen auf der ganzen Welt routiniert vollziehen. An diesem Tag wird unter dem unscheinbaren Titel „Me at the zoo“ eine 20-sekündige Aufnahme veröffentlicht, die einen jungen Mann vor einem Elefanten-Gehege im Zoo von San Diego zeigt. Es ist das allererste Video, das jemals auf der Plattform YouTube hochgeladen wird.1 Bei der zu erkennenden Person handelt es sich entsprechend um Jawed Karim, einen der Mitbegründer des Unternehmens, der mit seinem Beitrag den Ausgangspunkt dafür legt, in welche Richtung sich YouTube in den nächsten Jahren entwickeln soll. Er spricht folgenden Text: Alright, so here we are in front of the, uh, elephants. Uh. The cool thing about these guys is that, is that they have really, really, really long, um, trunks, and that’s, that’s cool. And that’s pretty much all there is to say.2 QR-Code Video 13

Während er seine spärlichen Worte spricht, sieht er direkt in die Kamera und richtet sich daher an jemanden jenseits eines Bildschirms. Zwar schaut Karim

1 | Allocca: Videocracy, S. 3. 2 | Transkript des Videos: jawed: Me at the zoo. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/jNQXAC9IVRw [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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dabei in die Richtung seiner Zuschauenden, er adressiert sie allerdings (noch) nicht sprachlich und verzichtet auf jegliche direkte Anrede oder Begrüßung. Eine Adressierung erfolgt hier einzig auf der Grundlage eines Blicks. Eine über das Video gelegte Schrift-Einblendung verriet lange, dass die Szene nie für eine Veröffentlichung auf einer Internetplattform bestimmt war, sondern einzig für private Zwecke entstanden ist.3 Insofern wird darin noch kein größeres imaginäres Publikum oder gar eine spezifische Community angesprochen. Anders gehen Chad Hurley und Steve Chen, Karims Kollegen und die beiden anderen Mitgründer von YouTube, in ihrem Video „A Message From Chad and Steve“ vor, das am 09. Oktober 2006 und damit rund anderthalb Jahre später veröffentlicht wird. Darin setzen sie die Öffentlichkeit (und insbesondere die Nutzenden ihrer Seite) über die Übernahme des Unternehmens durch den Google-Konzern in Kenntnis, weshalb das Video als ebenso ikonisch und für die Firmengeschichte relevant anzusehen ist wie der Zoobesuch. [Chad:] Hi, YouTube. This is Chad and Steve. We’re the cofounders of this site, and we just want to say ‚Thank you‘. Today we have some exciting news for you. We’ve been required by Google. [Steve:] Yeah, thanks. Thanks to every one of you guys that have been contributing to the YouTube community. We wouldn’t be anywhere close to where we are without the help of this community. [Chad:] We’re going to stay commit-

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ted to developing the best service for you. You know, developing the most innovative service and tools and technologies, so you can keep having fun on our site. 4

Abbildung 35: Die YouTube-Gründer sprechen direkt in die Kamera.5 3 | Mittlerweile ist die Einblendung entfernt worden. In ihr war zu lesen: „This clip had never been publicly shown before --- until, of course, it was publicly shown.“ [aufgerufen am 07. September 2018]. 4 | Transkript des Videos: YouTube Spotlight: A Message From Chad and Steve. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/QCVxQ_3Ejkg [27. Januar 2020].

Adressierungen bei YouTube | 297

Im Gegensatz zu Karim verwenden Hurley und Chen nun eine direkte Anrede und adressieren ihre Botschaft direkt an die YouTube-Gemeinschaft, die sie nicht nur informieren, sondern der sie zugleich für ihre Unterstützung danken wollen. In beiden sehr frühen Videos liefern YouTube-Entwickler Referenzstücke für künftige Inszenierungsweisen, an denen sich zahlreiche Nutzende ihrer Plattform orientieren und deren Art der Kontaktaufnahme sie fortwährend reproduzieren. Eine solche unmittelbare Anrede ist buchstäblich von Anfang an ein bestimmender Teil der spezifischen Ästhetik und Medialität von YouTube, die weiterhin eine flächendeckende Anwendung findet. Ob in Let’s Play-Videos, in Tutorials, in Kommentaren, in VLogs oder in Comedy-Clips; ob in den Tagebuchbeiträgen von „lonelygirl15“6 oder den Beiträgen von BibisBeautyPalace und ihrem Ehemann Julienco7, stetig blicken Menschen frontal in eine Kamera, sprechen ihr Publikum direkt an und bilden in den unzähligen, inhaltlich und ästhetisch heterogenen Videos ein homogenes Muster heraus. Das, so könnte man überspitzen, wird bereits im Namen des Angebots deutlich, der gerade nicht „MyTube“ lautet, sondern eine direkte Anrede im Logo trägt.

Abbildung 36: Lonelygirl15 spricht direkt in die Kamera.8

5 | Screenshots aus den Videos. 6 | Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen um „lonelygirl15“ erfolgt in den Kapiteln zur „Serialität“ und zur „Liveness“. 7 | Die Kanäle werden in den Kapiteln zum „Flow“ und zur „Serialität“ besprochen. 8 | Screenshot aus dem ersten Video des Kanals: „First Blog / Dorkiness Prevails.“ Veröffentlicht vom Kanal „lonelygirl15“, Veröffentlicht am 16. Juni 2006; abrufbar unter: https://youtu.be/-goXKtd6cPo [aufgerufen am 31. Juli 2018]

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FRAGEN DER BEGRÜßUNG Eine auffällige Abweichung zwischen den Videos der YouTube-Entwickler besteht darin, dass Hurley und Chen ihren späteren Beitrag mit den Worten „Hi, YouTube“ einleiten. Hierdurch verdeutlichen sie zunächst, dass er im Gegensatz zum Zoo-Video speziell für eine Veröffentlichung auf der Plattform angefertigt wurde. Zugleich aggregieren sie mit dieser sprachlichen Wendung die einzelnen Nutzenden zu einer gemeinsamen Gruppe und etablieren das, was später als YouTube-Community bezeichnet werden wird: eine Gemeinschaft, die sich einzig aus der Nutzung derselben medialen Umgebung formiert. Es zeichnet sich zudem ab, dass die jeweilige Begrüßung für YouTube-Videos (ebenso wie für das Fernsehbild) als besonders aussagekräftig und exemplarisch angesehen werden kann. Sie setzt den Ton für die sich anschließende Darbietung und aus ihrer Form (oder ihrer Unterlassung) lässt sich für gewöhnlich ableiten, welches Verhältnis mit dem Publikum eingegangen bzw. angestrebt wird. Noch greifbarer wird die Annahme in einem Video mit dem Titel „YOUTUBER BEGRÜßUNGEN RATEN“, das auf dem Kanal „AviveHD“ gelistet ist. Darin versuchen die Jugendlichen Lucas Michels9 und Danergy10, bekannte YouTubePersönlichkeiten anhand markanter Formulierungen zu erkennen. Während des knapp neunminütigen Videos sind die beiden jeweils in verkleinerten Fenstern in der linken und rechten oberen Ecke der Videooberfläche zu sehen. Offensichtlich befinden sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht in einem gemeinsamen Raum, sondern sind lediglich über das Internet (vielleicht mittels des Programms Skype) miteinander verbunden. Unklar ist, ob sich die beiden Jugendlichen während der Aufnahme gegenseitig sehen können. Das restliche Bild füllen aufgezeichnete Spielszenen des Computerspiels Minecraft aus, die jedoch in keinem Zusammenhang mit dem zu hörenden Dialog zu stehen scheinen und bei denen offen bleibt, ob sie überhaupt parallel zum Gespräch entstanden sind oder beide Ebenen erst in der Nachbearbeitung miteinander kombiniert wurden. Obwohl Michels und Danergy hauptsächlich miteinander sprechen und lediglich in ihren Miniaturbildern sichtbar sind, blicken sie darin dennoch mehrfach direkt in die Kamera und begrüßen bzw. verabschieden die YouTube-Nutzenden vor den Bildschirmen durch persönliche Ansprachen.

9 | YouTube-Kanal: AviveHD. 10 | Klarname unbekannt.

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Yo, meine Freunde. Was geht ab? Avive am Start und herzlich Willkommen zum neuen Video hier auf meinem Kanal, Leute. Tja, heute nochmal ein ganz besonderes Video mit einer ganz besonderen Person […] Danergy. Der eine oder andere sollte ihn noch kennen. […] Wir machen heute mal ein ganz besonderes Video. Und zwar habe ich das ganze beim lieben PXLWLF gesehen und zwar hat er mit TheBeatz eine kleine

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Challenge gemacht. Sie haben YouTuber-Begrüßungen erraten und wir als alte YouTube-Experten dachten uns, wir hauen jetzt auch mal eine Folge raus.11

Abbildung 37: Die YouTuber Lucas Michels (links) und Danergy blicken während Ihres Dialogs jeweils in die Kamera.12 Auf gleich mehreren Ebenen sind das Video und das darin ausgetragene Duell bemerkenswert – auch abseits der zunächst irritierenden Text-Bild-Schere zwischen dem akustisch wahrnehmbaren Dialog und den visuell präsentierten Spielsequenzen. Aufschlussreich ist vor allem das Gespräch zwischen den beiden Kontrahenten, in dem sie wechselseitig bekannte YouTube-Persönlichkeiten imitieren. Dies nämlich vollführen sie ausdrücklich und ausschließlich anhand ihrer Begrüßungen – also anhand unterschiedlicher Varianten der Adressierung

11 | Transkript des Videos: AviveHD: YOUTUBER BEGRÜßUNGEN RATEN. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/oa-n9ZAPBXI [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 12 | Screenshot aus dem Video.

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des Publikums. Dass ihnen dies in einigen Fällen trotz einer deutlichen Ähnlichkeit zwischen den vorgetragenen Beispielen gelingt, lässt Rückschlüsse darauf zu, welche zentrale Bedeutung dieses Stilmittel in der Unterscheidbarkeit der YouTuber*innen einnimmt und dass sogar feinste Nuancen durch regelmäßig Nutzende wahrgenommen und honoriert werden. Darüber hinaus re-inszenieren Michels und Danergy in ihrem Wettbewerb eine Idee, die sie einem anderen Video13 entliehen haben und liefern auf diese Weise einen weiteren Beleg für die auf der Plattform präsent ausgelebte Kultur der zirkulierenden Serialität. Zugleich nutzen sie mit ihrer gegenseitigen Abfrage einen Rahmen, der starke Parallelen zu den Quiz- und Gameshows des Fernsehprogramms, in denen regelmäßig auch popkulturelles Wissen abgefragt wird, aufweist. Wie Joan Kristin Bleicher schildert, brachten die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten Deutschlands mit Sendungen wie TELE AS14, MAZ AB15 oder ZDF GLÜCKSTELEFON16 sogar mehrere Formate hervor, in denen ausschließlich Kenntnisse des Fernsehprogramms abgefragt wurden. 17 Diese Shows finden im zitierten Video von „AviveHD“ nun ihr zeitgenössisches Pendant, indem darin die Jugendlichen (auf YouTube) ihr gegenseitiges Wissen bezüglich des YouTube-Angebots prüfen. Dabei betten sie das Zitieren von unterschiedlichen Formen der direkten Adressierung durch die Nachahmung einer FernsehGameshow in eine zusätzliche Variante der direkten Adressierung ein, wodurch die zitierten Quellen vereinheitlicht werden. Zugleich potenzieren sich die einzelnen Ebenen der Adressierung sprachlich und bilden eine verschachtelte und in doppelter Weise fernsehtypische Struktur heraus. Michels und Danergy imitieren in ihrem Video nicht nur ihre Kolleg*innen, indem sie ihre individuellen Formen der Publikumsansprache zitieren, sie tun dies zudem in einem Rahmen, der durch das Fernsehprogramm längst etabliert und bestens vertraut ist. Der Wettstreit zwischen endet bei einem Punktestand von 4:1 mit einem Sieg für Michels. Eine Revanche wird sogleich in Aussicht gestellt, aber von einer ausreichenden Rückmeldung der Zuschauenden abhängig gemacht.

13 | Wie Michels in seiner Begrüßung erwähnt, leiht er sich die Idee des Spiels aus einem Video vom Kanal „PXLWLF“. Vermutlich handelt es sich um folgenden Beitrag: PXLWLF: YOUTUBER BEGRÜSSUNGEN RATEN. In: YouTube.com (Video) [aufgerufen am 15. Mai 2017; mittlerweile gelöscht]. 14 | Tele As, D 1987 - 1991. 15 | MAZ Ab, WDR 1988 - 1991. 16 | ZDF Glückstelefon, D 1989 - 1995. 17 | Bleicher: Das Fernsehen im Fernsehen. In: Bosshart / Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz, S. 155ff.

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Wenn Ihr, ohne Scheiß, Bock auf einen zweiten Part habt, wahrscheinlich wieder mit Danergy, der Missgeburt, lasst doch mal einen Daumen nach oben da oder schreibt mal in die Kommentare ein paar Begrüßungen von YouTubern, die wir noch nicht wissen oder uns mal abchecken sollten. Und dann würde ich sagen, sehen wir uns beim nächsten Video. Haut rein, wir sehen uns und Ciao.

Mit seiner sprachlichen Zusicherung, sich demnächst wiederzusehen, betont Lucas Michels (wie es auch regelmäßig in den Beiträgen von Bianca und Julian Claßen zu erkennen ist), dass es sich beim gesehenen Video nicht um ein einmaliges Ereignis handelt. Mithilfe einer direkten Adressierung wird es vielmehr in eine übergeordnete, anschlussfähige Reihung eingebettet, welche die zugehörigen Elemente in einen inneren Zusammenhang stellt und Serialität erzeugt. Das ist ein Prinzip, welches das Fernsehbild ebenfalls kennt und seit der Ausstrahlung eines regelmäßigen Programms wiederkehrend betreibt, sodass der Hinweis auf weitere Videos als Gegenstück zur vertrauten (Fernseh-)Bitte, auch beim nächsten Mal wieder einzuschalten, zu verstehen ist.

IMITATIONEN DES FERNSEHBILDES Ein nicht minder aufschlussreicher Umgang mit charakteristischen YouTubeAdressierungen lässt sich auf dem Kanal „Parodoro“ finden, auf dem jährlich die Begrüßungen von verschiedenen Kanalbetreibenden aufgezählt und gleichzeitig bewertet werden. Als Hybrid aus Best-Of-Zusammenstellung und RankingShow basiert das sich dahinter verbergende erzählerische Grundmuster auf einem Vorgehen, das sich im Fernsehprogramm als (kostengünstige) Möglichkeiten der Wiederverwertung von Programminhalten längst etabliert habt. 18 Die daraus entstehende Aneinanderreihung von alten Ausschnitten wird zusätzlich um Bewertungen und eine Punktevergabe ergänzt, aus der sich letztlich die Abfolge der Aufzählung ableitet. Auf diese Weise werden bereits ausgestrahlte (bzw. veröffentlichte) Ausschnitte und Fragmente nicht schlicht wiederholt, sondern aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in postmoderner Manier zu einer gänzlich neuen Narration kombiniert. Dies ist ein Vorgehen, das Joan Kristin Bleicher im Jahr 1994 bereits in übereinstimmender Weise für spezifische Sendungen des Unterhaltungsfernsehens beschrieben hat und das sich augenscheinlich in analoger Weise auf selbstreferenzielle Clips bei YouTube übertragen lässt.

18 | Ebd., S. 154.

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In selbstreferentiellen Sendungen werden die unterschiedlichen Erzählformen und Erzählungen des Großerzählers Fernsehen miteinander in Beziehung gesetzt, zu einer neuen Erzählung verwoben.19

Im Video, das die (vermeintlich) zehn besten Begrüßungen von deutschsprachigen YouTuber*innen des Jahres 2015 in einer aufsteigenden Liste (TopTen) sortiert, werden für jede Platzierung drei bis fünf Beispiele aus verschiedenen früheren Videos aneinandergereiht. Einmal mehr fällt auf, dass (sofern Personen zu erkennen sind) diese während ihrer Begrüßung in die Kamera sprechen und ihre Worte direkt an ihr Publikum adressieren. Zu hören sind folgende Sätze: [Platz 10: ViscaBarca] Jo, was geht ab, Leute? Und herzlich Willkommen zu einem weiteren Video. [das Video zeigt drei wortgleiche Varianten] [Platz 9: BrokenThumbsTV – Malte Hesse und Manuel Senke im Wechsel] Jooooo Leute! – Was geht ab? Wir sind’s wieder, BrokenThumbsTV. [Schnitt] Jooooo Leute! – Wir sind’s wie-

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der, BrokenThumbsTV. [Schnitt] Joooo! – Wir sind’s wieder, der FIFA- und WitzeKönig und Manuel. [Platz 8: MarcelScorpion] Was geht YouTube? Marcel zu dem Scorpion ist back am Start hier für Euch und herzlich Willkommen zu einem weiteren Video hier im Kanal, Leute. [das Video zeigt drei wortgleiche Varianten] [Platz 7: ApoRed] Yah, Moin Leute, Apo ist auf trocken am Start, meine Freunde. [das Video zeigt drei wortgleiche Varianten] [Platz 6: MontanaBlack(88)] Moin, Moin meine aktiven Freunde. [Schnitt] Moin, Moin meine aktiven Freunde. [Schnitt] Moin, Moin meine aktiven Freunde und herzlich Willkommen zu einer neuen Real-Life-Story auf meinem Kanal. [Platz 5: Apecrime] [Cengiz Dogrul und Andre Schiebler im Wechsel] Halloooooo. – Bumm, Bumm, Bumm. – Liebe befreundete Freunde und Freundes Freunde. – Ihr habt es wieder geschafft. Es ist Sonntag, es ist Zeit für [beide im Chor] das beste Format auf YouTube. [Schnitt] [nur Cengiz Dogrul] Hallo liebe Freunde zum besten Format auf YouTube. [Schnitt] [nur Cengiz Dogrul] Hallooooooo. Herzlich Willkommen zum besten Format auf ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz YouTube.

19 | Ebd., S. 152.

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[Platz 4: HapticRush] Lehnt Euch zurück, HapticRush ist wieder hier. [das Video zeigt drei wortgleiche Varianten] [Platz 3: KsFreak] Söööörvus Leute KsFreak iiiis bääääck! Und ich darf Euch heute wieder mal ganz gechillt begrüßen, hier zu einem erneuten Video auf meinem Kanal. [das Video zeigt vier wortgleiche Varianten] [Platz 2: Inscope 21 – mit hoher keifender Stimme] Guten Morgen, guten Mittag oder auch guten Abend, liebe Leute. [das Video zeigt fünf wortgleiche Varianten] [Platz 1: Elotrix] Ey Leute, was geht? Elotrix ist hier und so. Und jetzt nehmt erstmal Euren Penis in die Hand, weil dann ist alles in Ordnung. [das Video zeigt sechs nahezu wortgleiche Varianten].20

Es zeigt sich durch den oft identischen Wortlaut eine bemerkenswerte strukturelle sowie inhaltliche Konstanz, wodurch sich in Verbindung mit dem weiter oben erläuterten Wettstreit zwischen Lucas Michels und Danergy zunehmend ein wiederkehrendes Muster herausschält, welches bewusst oder unbewusst in nahezu allen aufgeführten Kanälen reproduziert wird. Dies aber ist ein Muster, das sich eng an den tradierten Begrüßungsritualen in Unterhaltungsshows des Fernsehprogramms orientiert. Mögen die gesprochenen Texte in YouTube-Videos oft umgangssprachlicher formuliert erscheinen, mit gesteigertem Tempo vorgetragen werden, auf eine Ansprache in der Sie-Form verzichten und die klassische Redewendung „meine Damen und Herren“ (bzw. „liebe Zuschauer“) durch den Allgemeinplatz „Leute“ ersetzen, bleibt doch die zugrundeliegende Ausgestaltung der Publikumsadressierungen ebenso formelhaft und mit der Aufdringlichkeit des Fernsehbilds vergleichbar. Hierin enthüllt sich sowohl eine auffällige Serialität und Ritualisierung des Begrüßungsprozesses als auch eine erneute Nähe zum Fernsehbild und dessen Art, sein Publikum anzusprechen. Viele Personen, deren Beiträge auf YouTube anzuklicken sind, reproduzieren dadurch fortwährend ein Merkmal, das typischerweise mit dem Fernsehbild verbunden wird und verhalten sich wie Fernsehansager*innen oder Moderator*innen. Zieht man (wie weiter oben vorgeschlagen) einen permanenten Bruch der Vierten Wand als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Medienformen heran, rücken sie ihre Videos auf diese Weise eindeutig weg vom (Kino-)Film hin zum Fernsehen. Sie imitieren Fernsehhaftigkeit.

20 | Transkript des Videos: Parodoro: TOP 10 YOUTUBER Begrüßungen 2015 (Deutschland). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/2oohBM01tf8 [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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TEXTUELLE ANSPRACHEN Im Unterschied zum Wettstreit zwischen Lucas Michels und Danergy, in dem ein hörbarer Dialog die neu entstandene Erzählung etabliert, wird diese in der Rangfolge auf dem Kanal „Parodoro“ ausschließlich visuell in Form von Texteinblendungen und nicht auf der Ton-Ebene erzeugt. Es ist keine (Off-)Stimme zu hören, die über die Verteilung der Punkte oder die herangezogenen Kriterien informiert. Diese Angaben werden ausschließlich durch graphische Darstellungen transportiert.

Abbildung 38: Begrüßungsrituale und ihre Bewertungen in YouTube-Videos.21 Ebenso verhält es sich mit dem zugefügten und übergeordneten Rahmen, der die Aneinanderreihung der Ausschnitte umklammert. In ihm wird im Kontrast zu den darin wiederverwerteten Aufnahmen die Ansprache der Nutzenden weder durch einen in die Kamera blickenden Menschen noch durch eine akustische Begrüßung organsiert, sondern mithilfe von schlichten Texttafeln, die an die Stummfilme aus der Ära des Early Cinema erinnern.

21 | Szenenbilder aus Videos von MontanaBlack(88), Apecrime, HapticRush und KsFreak. Screenshots aus dem Video: Parodoro: TOP 10 YOUTUBER Begrüßungen 2015 (Deutschland).

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Abbildung 39: Texttafeln am Anfang des Videos übernehmen die Begrüßung.22 Obwohl darin eine ausdrückliche Begrüßung unterlassen wird und das Video stattdessen mit einer Erläuterung des folgenden Inhalts startet, ist insbesondere in der zweiten Tafel eine (wenn auch grammatikalisch inkorrekte) explizite Anrede an das Publikum zu erkennen, die zusätzlich mit einem konkreten Apell verbunden wird („Und nimmt die Bewertungskriterien nicht zu ernst :D.“). Deutlicher wird der Charakter dieser Einblendungen am Ende des Videos, denn dort heißt es:

Abbildung 40: Texttafeln am Ende sollen Interaktion auslösen.23 Diese Texte verfolgen unverkennbar das Ziel einer Kontaktaufnahme mit dem Publikum, um einerseits das Interesse auf die nachfolgenden Szenen zu lenken und andererseits, um mit ihm auf der Grundlage von Ein- und Ausschließungs-

22 | Screenshots aus dem Video. 23 | Screenshots aus dem Video.

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prozessen eine Beziehung aufzubauen. Nur Eingeweihte werden schließlich die Beschreibungen „Missgeburt“ und „Redhead“ sicher zuordnen können. Dieser Effekt wird zusätzlich durch die Verwendung von Emoticons, durch den Aufruf nach Interaktion („Schreibt es in die Kommentare“) sowie durch die vorangestellte Bitte um eine wohlwollende Beurteilung („Und nimmt die Bewertung nicht zu ernst.“) intensiviert. Durch den Umstand, dass das Publikum in den Formulierungen auf den Texttafeln direkt angesprochen und damit dessen Anwesenheit anerkannt wird („Wollt Ihr mehr solcher Videos oder nicht?“), liegt erneut ein exhibitionistischer Aufbau vor. Dieser ist insofern bemerkenswert, als dass sowohl Tom Gunning sein Konzept des „Kinos der Attraktion[en]“ als auch John Ellis und Joan Kristin Bleicher ihre Beschreibungen des Fernsehbilds von einem Blick in die Kamera ableiten und damit an die Sichtbarkeit einer Person auf der Leinwand oder auf dem Fernsehschirm binden. Das Ranking-Video nutzt nun eine Möglichkeit, das Publikum anzusprechen und anzuerkennen, ohne dass ein solcher Blick benutzt wird, und erzielt dennoch eine ähnliche Wirkung. Es kann damit auch ohne direkten Blick in die Kamera in dieselbe Entwicklungslinie wie in die Kamera zwinkernde Comedians, in die Kamera blickende Moderator*innen oder in die Kamera sprechende Fernsehansager*innen eingeordnet werden. Durch seinen (wiederholten) Bruch der Vierten Wand schließt es an die gemeinsame Tradition des frühen Kinos und des Fernsehbildes an und verfügt dennoch über eine unterschiedliche Ästhetik. Eine spezifische Ästhetik, die sich in der Nutzung von YouTube herausgebildet hat und in dieser spezifischen Form weder vom (Kino-)Film noch vom Fernsehbild regelmäßig genutzt wird. Eine Ästhetik, die charakteristisch für YouTube ist und welche das Angebot zwar prinzipiell mit dem Fernsehbild eint, es aber zugleich davon abtrennt.

FALLBEISPIEL: „MEINT IHR DAS AUCH?“ Eine weitere derartige Verschiebung in der Inszenierungsweise, die eine voranschreitende Ausdifferenzierung der verschiedenen Medien(-formen) sowie deren gegenseitige Abgrenzung ausdrückt, lässt sich entlang eines Videos von Florian Diedrich, der innerhalb von YouTube unter dem Pseudonym „LeFloid“ auftritt, herausarbeiten. Dessen Kanal kann aus mehreren Gründen als exemplarisch und relevant angesehen werden. Er gehört durch seine frühe Gründung im Oktober 2007 zu den deutschen Pionieren in der Community und wuchs infolge seiner

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stetig steigenden und durchweg hohen Anzahl an Abonnenten (ca. drei Mio.) 24 zu den bekanntesten und (ab)gefragtesten deutschsprachigen Kanälen heran. Dieser Zuspruch sorgte schließlich dafür, dass Florian Diedrich von YouTube Deutschland als offizielles Gesicht für eine Plakatkampagne ausgewählt wurde, mit der Absicht, „auch außerhalb YouTubes die Augen auf diese Talente“ zu lenken und „Zielgruppen jenseits der jugendlichen Fans“ zu erreichen.25 Aufgrund dieser expliziten Förderung durch die Unternehmensleitung, aber auch durch regelmäßige Auftritte in Talkshows des Fernsehprogramms, entwickelte sich Diedrich zu einer Art Sprachrohr für die YouTube-Gemeinschaft und zu einem Vermittler zwischen den Bereichen innerhalb und außerhalb der Plattform, die zuweilen weiter als getrennt voneinander empfunden werden. In seiner populärsten Reihe, die den Titel „LeNews“ trägt, thematisiert er regelmäßig „Schlagzeilen, Sensationen und Skurrilitäten aus den Bereichen Schule, Mobbing, Spiele, Verbrechen oder Sport, die insbesondere Jugendliche ansprechen und die für ein mediales Aufsehen sorgten“26, um sie meinungsstark zu erläutern und subjektiv zu bewerten. Diesem Stil folgt auch das nachfolgend ausführlich behandelte Video, das unter dem Titel „Amoklauf – Wenn nicht Islam – dann wohl Killerspiele“ auf seinem Kanal veröffentlicht wird und in dem er folgende Worte mit schneller Sprache gestenreich frontal in seine Kamera spricht: Aloha, werte sexy Lords und Ladies. Wisst Ihr was? Ich will das gute alte Sommerloch zurück. In dem einfach mal nix passiert und man über Katzen spricht. Mann, 2016 ist übelst der Hurensohn. Aktuell gibt es doch wirklich nur drei große Oberthemen. Terror, Mord und Pokémon Go. Was, Pokémon Go? Ja! Natürlich, wie könnte es anders sein, ist die Monsterhatz jetzt auch bei den Prääänkstern angekommen. Logan Paul zum

QR-Code Video 17

24 | Stand: Januar 2020. 25 | Meedia: YouTube startet bundesweite Werbe-Kampagne mit LeFloid und Joyce Ilg. In:

Meedia.de.

Unter:

http://meedia.de/2015/08/24/youtube-startet-bundesweite-

werbe-kampagne-mit-lefloid-und-joyce-ilg/ [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 26 | (Art.) LeFloid. In: wikipedia.org (Deutsche Ausgabe). Unter: https://de.wikipedia.org/ wiki/LeFloid [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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Beispiel, ebenfalls ein Prääänkster. Und ja, dieses Wort kann man nur so aussprechen: Prääänkster! So, dass es ein bisschen nach kotzen klingt. Ja, Logan Paul zum Beispiel stellte sich an den Central Park und brüllt dort… ach, seht selbst. 27

In der zitierten Passage verweist Florian Diedrich auf das mobile Computerspiel „Pokémon Go“, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Videos einen hohen Zuspruch erfährt. Dessen Prinzip besteht darin, dass durch eine Kombination aus Augmented Reality und GPS-Standortermittlung die physische Welt zum Spielfeld des Programms erwächst. Diese muss durchkämmt werden, um darin platzierte virtuelle Wesen einzufangen, die nur auf dem Display eines Smartphones/Tablets sichtbar sind. Hierbei besitzen die gesuchten Objekte verschiedene Wertigkeiten und Erfolgsausschichten im Kampf mit anderen Spielenden. Ein sogenanntes „Dragonite“ gilt in diesem Zusammenhang als besonders effektiv und ist entsprechend begehrt. In seinem Beitrag lässt Florian Diedrich seinen einleitenden Worten einen Ausschnitt aus einem anderen Video folgen, in dem der amerikanische YouTuber Logan Paul zu erkennen ist, wie er auf einem öffentlichen Platz in New York lauthals den Begriff „Dragonite“ brüllt. Diese Aktion führt dazu, dass mehrere Personen beginnen zu schreien und (mutmaßlich) im Glauben, das begehrte Wesen dort einfangen zu können, hektisch auf ihn zurennen. Nun wieder Diedrich: Tja, so einfach sorgte er dafür, dass unzählige Menschen blind wie die Lemminge auf die Straße rannten, in den fließenden New Yorker Verkehr. What the fuck? Klar, liegt die Schuld auch bei Logan, dem Prääänkster. Oh Gott. Der damit auch etliche Verletzte in Kauf nimmt, genauso wie den Straftatbestand des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Aber, die Dämlichkeit wiegt schwer bei beiden Seiten – also auch bei den Deppen, die wie die Lemminge blind auf die Straße gerannt sind. Oder seh’ nur ich das so? Meint Ihr das auch? 28

Nach diesem Aufruf berichtet Diedrich von einem anderen Vorfall mit dem Spiel, der sich diesmal in Deutschland zugetragen haben soll. Demnach wären drei Personen auf der Suche nach den virtuellen Spielfiguren versehentlich auf ein Truppenübungsgelände der Bundeswehr und dabei in ein Militär-Gefecht mit scharfer Munition geraten. Die Ursache dafür, so mutmaßt Diedrich, könne nur

27 | Transkript des Videos: LeFloid: Amoklauf – Wenn nicht Islam – dann wohl Killerspiele. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/82uaJZWITJA [aufgerufen am 27. Januar 2020]. 28 | Ebd., ca. 0:55 Min.

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darin liegen, dass sich die Spielenden einzig auf ihr Handy konzentriert und dabei die realen Warnschilder in ihrer Umgebung übersehen hätten. Eine Annahme, die ihn dazu veranlasst, das Segment mit folgender Warnung zu beschließen: Also Freunde, wir alle lieben den Pokémon-Hype, die beste Spionage-App seit ever. Aber nichtsdestotrotz, Augen geradeaus und lasst Euch nicht überfahren oder erschießen oder sonst was.29

Es folgt die Einblendung einer Grafik, die einen thematischen Wechsel einläutet. Diedrich beginnt nun, sich darüber zu beklagen, dass in aktuellen Berichterstattungen und Nachrichten derzeit vermehrt Meldungen vorzufinden wären, die im Zusammenhang mit den Begriffen Terror, Mord und Amok stehen. Er belegt dies sogleich, indem er eine Reihe von Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit aufzählt und sich hierbei auch auf einen Anschlag an einem Münchner Einkaufszentrum bezieht. Seine Anklage beschränkt sich hierbei weniger auf die Taten selbst, in erster Line stört er sich an der Art, wie über sie berichtet wird: Freunde, nur weil man kein IS- oder sonst irgendwelchen möchtegern-terroristischen Hintergrund findet, gräbt man jetzt die Killerspiele wieder aus? Was? Im TV und in den Zeitungen, etliche Minuten Redezeit oder etliche Zeilen darüber, dass der Amokläufer von München gern COUNTER STRIKE gespielt hätte. What the fuck? […] Der Amokläufer von München steht auf einem Parkhaus-Dach und schreit in die Welt hinaus. Faselt von Versagensangst, dass er keine Zukunft hat, dass er ein Hartz-IVKind ist. Und dass er sieben Jahre durch die Hölle gegangen ist, weil er wohl gemobbt wurde wie kein zweiter und daraufhin ausgetickt hat – mit 300 Schuss Munition etliche Leute umgeschossen, angeschossen, was auch immer hat. Und Ihr holt die COUNTER STRIKE-Keule raus? Individuen, die psychisch krank sind, fertig gemacht werden, nicht aufgefangen werden vom System, vom sozialen System, oder was auch immer, denen keine Beachtung geschenkt wird, das ist ein echtes Problem. Nicht fucking COUNTER STRIKE, redet Euch nicht raus. Mann.30

Am Ende des emotional vorgetragenen Monologs füllen nun Texttafeln das Bild aus, auf denen Aufforderungen zur Interaktion sowie Werbehinweise auf Merchandise-Produkte zu erkennen sind. Sie markieren zugleich den Beginn des finalen Abschnitts des Videos, in dem sich Diedrich ein letztes Mal an sein Publikum wendet:

29 | Ebd., ca. 1:57 Min. 30 | Ebd., ca. 4:05 Min. Auslassungen sind markiert.

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So Freunde, es tut mir Leid, dass ich mich darüber ein wenig echauffieren musste, könnte man sagen. Trotzdem, Däumchen wär ein Träumchen. Wenn Euch das Video auf irgendeine Art gefallen hat, dann könnt Ihr das gerne liken. Ihr unterstützt mich damit sehr. Ich danke Euch, freue mich auf jedes Kommentar von Euch. Bleibt sachlich und fair. Ihr wisst Bescheid. […] Bis dahin, checkt auch unseren GamingChannel ‚DoktorFroid‘ aus, da kommt Ihr vielleicht auf andere Gedanken. Ich wünsche Euch noch einen traumhaften Tag. Macht’s nicht gut, macht’s besser. Haltet die Ohren steif. Versucht, an was Schönes zu denken und helft Euren Mitmenschen einfach mal. In ganz kleinen Schritten die Welt um Euch herum ein bisschen besser machen. Bis dahin, LeFloid-Army, es war mir eine Riesen-Ehre ein Video für Sie gemacht zu haben. Und jetzt noch ein fettes Community-High-Five in 3 – 2 – 1. Bamm.31

SPRUNGHAFTES ADRESSIEREN Im Anschluss an seine Begrüßung („Aloha, werte sexy Lords und Ladies.“), die wie bei all den anderen weiter oben erwähnten YouTuber*innen dem identifizierten Muster folgt und durch eine abweichende Wortwahl individualisiert ist, redet er sein Publikum wiederholt mit „Ihr“ an (also in der zweiten Person), während er von sich in der ersten Person spricht. („Wisst Ihr was? Ich will das gute alte Sommerloch zurück.“) Aufgrund dieser Form der Anrede entsteht zwischen dem YouTube-Bild und seinen Zuschauenden eine vergleichbare persönliche Ich-Du-Beziehung, wie sie John Ellis für das Fernsehbild beschrieben hat. Intensiviert wird diese durch die explizite Bezeichnung der Nutzenden als „Freunde“, „Community“ oder „LeFloid-Army“, was einen verstärkten Zusammenhalt verheißt. Im Gegenzug spricht Diedrich über andere Menschen, die er nicht direkt adressiert. Diese versetzt er (nicht nur sprachlich) in die dritte Person und spricht in abfälliger Weise über sie, wodurch sie sprachlich und inhaltlich aus der persönlichen Beziehung zwischen ihm und den von ihm direkt angesprochenen Nutzenden ausgeschlossen werden. Sie sind damit kein Bestandteil der „LeFloid-Army“. Zur Erinnerung, John Ellis schreibt: Das ‚sie‘ der direkten Adressierung in Nachrichten und Ankündigungen ist immer an einem anderen Ort, außerhalb des Konsens zwischen Zuschauer und Fernsehen.32

31 | Ebd., ca. 5:25 Min. Auslassungen sind markiert. 32 | Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 68.

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Nannte Ellis als Beispiele dafür noch „Hausfrauen“, erstreckt sich der Ausschluss bei Diedrich über gleich mehrere wechselnde Gruppen, die in der Herausbildung seiner Komplizenschaft mit den Zuschauenden abgewertet werden. Neben den sogenannten Prankstern – also Personen, die anderen Menschen Streiche spielen und deren Reaktionen bei YouTube veröffentlichen – sind dafür im ersten Abschnitt des Videos insbesondere exzessive Pokémon-GoSpielende zu nennen, deren Fahrlässigkeit und Unbedachtheit er satirisch vorführt. Diedrich implementiert in seinem Monolog entsprechend den Konsens, dass eine derart ausgeprägte Faszination zu verurteilen ist und erzeugt mit seinem Sinnbild der gedankenlosen Pokémon-Lemminge eine auffallende Kongruenz mit den von John Ellis beispielhaft genannten Hausfrauen. Hausfrauen werden als ‚sie‘ gekennzeichnet und ihre Handlungen gemeinsam von der Institution Fernsehen und den Zuschauern genau gemustert. Dies verhindert, dass sich Frauen, die ein Teil dieses Publikums sind, selbst als diese ‚Hausfrauen‘ wiedererkennen. Wenn sie sich mit diesem Begriff, wie er in den Nachrichten verwendet wird, identifizieren, stellen sie sich selbst außerhalb des Konsenses der direkten Adressierung. Man nimmt also an, die ‚Hausfrau‘ sei überall und widme sich blindlings dem Erhalt der kleinen Familie, aber niemand erkennt sich selbst in dieser Bezeichnung.33

Analog dazu sind die Zuschauenden mit dem Bild der unachtsamen PokémonSpielenden oder Smartphone-Nutzenden bestens vertraut und tragen ein stereotypes Bild solcher Menschen in ihrem Kopf, wollen sich darin aber keinesfalls wiedererkennen, um sich nicht außerhalb des Konsens positionieren zu müssen. Einen Konsens, den Diedrich durch den Aufbau seiner Adressierung selbst setzt und aufrechterhält. Dennoch durchbricht er am Ende des ersten Abschnitts diese Logik, indem er seine „Freunde“ auffordert, sich trotz der nachvollziehbaren Leidenschaft für das Spiel „nicht überfahren oder erschießen“ zu lassen. In diesem Moment spricht er nun doch jene Menschen an, die zumindest potenziell zum Kreis der Pokémon-Lemminge gehören oder jene, die bedroht sind, den Konsens zu verlassen. Er adressiert also exakt jene Menschen, die er zuvor konsequent von einer persönlichen Beziehung ausgeschlossen hatte. Ein derartiger Sprung zwischen verschiedenen (Ziel-)Gruppen (oder Teilpublika) wird im zweiten Abschnitt des Videos noch evidenter, wenn er diejenigen Journalist*innen und Politiker*innen in der dritten Person bespricht, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Ausführen von Gewalttaten und der

33 | Ebd.

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Nutzung bestimmter Computerspiele herzustellen versuchen. Ausdrücklich richtet er seine Kritik an Fernsehnachrichten und Zeitungen, die der (in seinen Augen) unzutreffenden Theorie zu viel Raum geben würden, und positioniert sie damit außerhalb des von ihm abgesteckten Konsenses. Damit schließt er sie und gleichzeitig alle Menschen, die eine ähnliche Haltung vertreten, zunächst aus dem Dialog aus. Als bekennender Computerspieler, der zusätzlich einen eigenen Games-Kanal bei YouTube betreibt und dessen Gestaltung seiner Videos sichtbar von der Gaming-Szene inspiriert wird, ist eine solche Verwerfung und Ausschließung naheliegend – zumal ein Großteil seiner Nutzenden einen ähnlich positiven Bezug zu Computerspielen haben dürfte. Der Konsens aber, den Diedrich mit seinem Monolog festlegt und in dem sich die von ihm angesprochenen Nutzenden bewegen dürften, ist genau definiert und ausdifferenziert, denn er grenzt die verschiedenen Stufen der Leidenschaft deutlich gegeneinander ab. So verneint er zwar negative Auswirkungen auf die Spielenden und begrüßt indirekt eine grundsätzliche Begeisterung für Computerspiele auch mit gewalttätigen Inhalten. Eine derart übersteigerte Nutzung, durch die ein Abwenden vom Smartphone unterbleibt und Gefahrensituationen blindlings hervorgerufen werden, ist wiederum ein Stadium, das sich wie eine vollständige Ablehnung von Spielen ebenfalls außerhalb des Konsenses befindet und den Ausschluss zur Folge hat. Wie zuvor bei den Pokémon-Lemmingen durchbricht Diedrich ebenso im Zusammenhang mit der Aburteilung von COUNTER STRIKE die Stringenz seiner Adressierung an einer Stelle und redet erneut jene Personen direkt an, über die er zuvor nur in der dritten Person gesprochen hat. Dabei sind die nachfolgend fett markierten Sätze zentral. Aber mal im Ernst, der Amokläufer von München steht auf einem Parkhaus-Dach und schreit in die Welt hinaus und faselt von Versagensangst, dass er keine Zukunft hat, dass er ein Hartz-IV-Kind ist und dass er sieben Jahre durch die Hölle gegangen ist, weil er wohl gemobbt wurde wie kein zweiter und daraufhin ausgetickt hat mit 300 Schuss Munition etliche Leute umgeschossen, angeschossen, was auch immer hat. Und Ihr holt die COUNTER STRIKE-Keule raus? Individuen, die psychisch krank sind, fertig gemacht werden, nicht aufgefangen werden vom System, vom sozialen System, oder was auch immer, denen keine Beachtung geschenkt wird, das ist ein echtes Problem. Nicht fucking COUNTER STRIKE, redet Euch nicht raus.

Mit den von ihm benutzten Worten „Ihr“ und „Euch“ sind in dieser Sekunde andere Personen angesprochen als in den Konstellationen zuvor, wo sich hinter dem „Ihr“ die „LeFloid-Army“ oder die werten „sexy Lords und Ladies“ verbargen. Zu deren Mitglieder aber gehören eben nicht die Personengruppen, welche

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die „COUNTER STRIKE-Keule“ herausholen, sodass sich hier ein Wechsel der Adressierung und eine kurzzeitige Umwandlung der Beziehung einstellt. Da aber der globale Konsens und damit die Bedingungen für Zugehörigkeit und Ausschluss aufrechterhalten bleiben, stellt die Adressierung lediglich eine rhetorische dar, die weder eine ernstgemeinte Beziehung aufbauen noch die bereits vorhandene ersetzen soll. Vielmehr untermauert dieser kurzzeitige Wechsel durch seine aggressive und lediglich symbolische Form den vereinbarten Konsens zusätzlich und verstärkt die Ausgrenzung der Gegner*innen von gewalthaltigen Computerspielen. Dieses Verhalten aber ist von John Ellis’ Beziehungsmodell, das er für das Fernsehbild entwickelt und das jeweils nur von einer konsistenten und ernstgemeinten Adressierung ausgeht, nicht abgedeckt, sodass sich hier eine weitere Verschiebung und ästhetische Besonderheit des YouTubeBildes abzeichnet. Umfasst die direkte Adressierung im Fernsehbild gewöhnlich das gesamte Publikum und fungiert als Gleichmacher, erscheint deren Einsatz in YouTube-Videos flexibler bzw. variabler und unabhängiger vom inhaltlich gesetzten Konsens des Videos möglich zu sein.

FALLBEISPIEL: „WILLST DU MICH DAMIT BELEIDIGEN?“ Ein Video, das ein Umherspringen zwischen verschiedenen direkten Adressierungen häufiger und expliziter vollzieht, wird auf dem Kanal „KellyMissesVlog“ unter dem Titel „SIE IST FETT!!!“ gelistet. Über eine Länge von acht Minuten beschwert sich Kelly Svirakova (in leicht zusammenhangsloser und wirrer Weise) ausschließlich darüber, dass sie von einigen Nutzenden im Kommentarbereich eines ihrer früheren Videos als „fett“ bezeichnet wurde und wechselt dabei in der Form ihrer Anrede gleich mehrfach zwischen verschiedenen Adressaten umher. Mal versetzt sie die Personen, die sie für übergewichtig halten, in die dritte Person und mal spricht sie diese direkt mit „Ihr“ an. Dann aber benutzt sie das identische Pronomen für ihre „Fans“, die sie als Teil ihrer Gemeinschaft einschätzt und für deren anhaltende Unterstützung sie sich bedankt. Hallo, Kelly a.k.a. Misses Vlog hier. […] Es geht um das Video, wo ich Euch diese Suite gezeigt habe. […] Ich hab’ wirklich viel erwartet, aber manche Leute da draußen denken wirklich, ich bin absolut dumm im Kopf. […] Es gibt Leute da draußen, die mir sagen, ich wäre fett. […] Ihr müsst verstehen, die Leute denken, ich bin völlig verblödet. […] Seid Ihr ei-

QR-Code Video 18

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gentlich dumm? Willst Du mich damit beleidigen? […] Ich wurde gefragt, ob ich schwanger bin. […] Willst Du mich verarschen? […] Wo bin ich fett, Leute? Das ist das dümmste, was ich seit langem in meinen Kommentaren gelesen habe. […] Leute, die so einen Kommentar hier schreiben, sind die gleichen Leute, die sagen, wenn Kids 24/7 vor Deiner Haustür stehen und Dich zu Tode stalken und Dich absolut nicht mehr in Ruhe lassen, dann bist Du fucking selber schuld. […] Und kommt mir jetzt nicht mit freier Meinungsäußerung, oder so einem ähnlichen Scheiß. […] Versteht Ihr jetzt, warum ich mich so aufrege? […] Nein, ich bin kein fettes Walross. Was ist mit Euch los? […] Aber an dieser Stelle möchte ich mich auch mal bei meinen Zuschauern bedanken, […] Die Top-Kommentare unter dem Video mittlerweile sind so positiv und vermitteln so’n schönes Bild, dass ich auch echt Danke an Euch sagen muss. […] Ein fettes Dankeschön an Euch.34

Im Unterschied zu Florian Diedrich lässt Svirakovas sichtbare Empörung erkennen, dass die an ihre Kritiker*innen formulierten Attacken zielgerichtet sind und keine bloße rhetorische Figur darstellen. Weil sie zudem für verschiedene Gruppen dieselbe sprachliche Anrede verwendet, lässt sich für das Video kein Personenkreis ausmachen, der global und ausschließlich adressiert wird. Auf diese Weise gelingt es ihr, mindestens zwei Beziehungen parallel aufzubauen und über die Laufzeit des Videos aufrechtzuerhalten, die allerdings nie zur exakt selben Zeit, sondern nur alternierend von ihr bedient werden können.

ZIELGERICHTETE KOMMUNIKATIONEN Blicken und sprechen Ansager*innen und Moderator*innen ihr Publikum hingegen aus dem Fernsehbild heraus an, mögen ähnliche Differenzierungen zwar grundsätzlich denkbar sein, werden (bisher) aber kaum vorgenommen. Vielmehr sind Adressierungen wie das gebräuchliche „Guten Abend liebe Zuschauer“ 35 dort stets für alle zusehenden Menschen bestimmt – unabhängig davon, welche konkrete Position diese zu einem Thema, zu den auftretenden Menschen oder zur dargebotenen Sendung besitzen. Auf diesem undifferenzierten Umgang mit seinem Publikum beruht die spezifische Fähigkeit fernsehhafter Umgebungen, getrennte Öffentlichkeit miteinander zu vereinigen („its ability to aggregate dis-

34 | Gekürztes Transkript des Videos: Kelly MissesVlog: SIE IST FETT!!! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/NrLPXVjne1o [am 27. Januar 2020]. 35 | Bleicher: Geschichte, Formen und Funktionen der Fernsehansage. In: Hickethier / Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer, S. 190.

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persed publics“36), welche William Uricchio zu einem definitorischen Parameter für das Medium erhebt. Diese Beurteilung widerspricht nicht der Beobachtung, dass Bestandteile des Programms, einzelne Formate oder Sender spezielle Zielgruppen anvisieren und zum Einschalten zu bewegen versuchen („narrowcasting“37), denn in dem Moment, in dem sich das Fernsehbild seinen zusehenden Menschen zuwendet, werden diese als Kollektiv adressiert – unabhängig davon, wie sich die Gruppe zusammensetzt oder ob sich darunter auch nicht angestrebte Personen befinden. Das Fernsehbild kennt lediglich zwei Zustände, es adressiert entweder alle Zuschauenden oder keinen. Die daraus resultierende Alles-OderNichts-Logik korreliert mit der Erfassung der Einschaltquote, die sich für das Fernsehprogramm als quantifizierendes (und zuweilen auch qualifizierendes) Element weltweit etabliert hat und bei der sich Zustimmung und Ablehnung von Inhalten ausschließlich aus der Erfassung von ein- oder ausgeschalteten Geräten ableitet. Obwohl das Messverfahren eine je nach technischer Umsetzung feingliedrigere Aufteilung des Publikums in soziodemographische Untergruppen zulässt, bleiben einzelne Individuen in der Masse der Zuschauenden unsichtbar, weswegen die Grundvoraussetzung dafür fehlt, diese gezielt und einzeln adressieren zu können. Die Beschreibung des Fernsehens als Massen-Medium erscheint vor diesem Hintergrund unzutreffend und sollte (zumindest diesbezüglich) durch den akkurateren Terminus Masse-Medien ersetzt werden. Hierin zeichnet sich auch die technische Gerichtetheit des Mediums ab, das lediglich als Sender sprechen kann und als Medium der Einwegkommunikation über keine interne Rückschleife oder einen Rückkanal verfügt, der die Identifizierung einzelner Personen ermöglichen könnte. Der Kommentarbereich auf der Benutzeroberfläche von YouTube ist hingegen an Benutzerkonten gekoppelt und auf eine 1:1-Kommunikation ausgerichtet, sodass jede Äußerung von anderen eindeutig abgrenzbar und spezifisch beantwortungsfähig ist. Mag in der Summe aus Tausenden Kommentaren zuweilen ebenfalls eine Art Masse daraus entstehen, bleiben dennoch die einzelnen User*innen stets sichtbar, identifizierbar und damit adressierbar. Aus diesem Grund ist Kelly Svirakova überhaupt in der Lage, diejenigen Einzelpersonen herauszufiltern, die sie als übergewichtig bezeichnet haben, und ist es ihr möglich, sich zielgerichtet an sie zu wenden.

36 | Uricchio: The Future of a Medium Once Known as Television. In: Snickars / Vonderau (Hrsg.): The YouTube Reader, S. 33. 37 | Caldwell: Televisualität. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 170.

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DIALOGISCHE ATTRAKTIONEN Weiter oben half der Aufsatz der Medienwissenschaftlerin Teresa Rizzo, die Plattform YouTube als eine Anordnung zu verstehen, die weitreichende Ähnlichkeiten zum „Kino der Attraktion[en]“ aufweist. Die Grundlage für diese Einschätzung lag in ihrer Beobachtung, dass viele kurze Clips anstelle der Erzählung einer Geschichte eine Geste des Zeigens erkennen ließen. Sie würden den vorrangigen Zweck verfolgen, das Publikum ähnlich wie Besuchende auf Jahrmärkten zum Verweilen und Staunen zu verführen. Zusätzlich zu solchen Videos erkennt Rizzo noch eine weitere Gruppe, in der die dialogische Natur des Interfaces im Zentrum stünde. Deren Adressierungen gingen über die reine Simulation einer Unterhaltung hinaus und lüden stattdessen dazu ein, ihnen tatsächlich zu antworten. The attraction extends beyond drawing attention to itself through acts of display to provoking a response, from posting comments to uploading a video. A particular video can provoke a whole network of responses in a way that the attraction starts to take on an interactive dimension.38

Auf diese Weise werde das Konzept der Attraktion zu einer einzigartigen, spezifischen Form erweitert, die nur auf Videoplattformen wie YouTube existent sei. In diesem Zusammenhang ließe sich die im Kapitel zur „Serialität“ skizzierte Zirkulation von Material (z.B. Ziegen-Schreie in Pop-Songs) nicht mehr nur im Rahmen eines Wechselspiels aus Konstanz und Varianz verstehen, sondern ebenso als Reaktion auf eine vorher präsentierte Attraktion. Offensichtlicher zeigt sich die Erschaffung solcher dialogischer Attraktionen in den Interaktionsaufforderungen, die in den Videos auf der Plattform allgegenwärtig anzutreffen sind. Wenn Florian Diedrich (LeFloid) in seinem Video fragt: „Meint Ihr das auch?“; wenn Bianca Claßen (BibisBeautyPalace) ihren Zuschauenden entgegnet: „Ich habe ultra Bock und bin sehr gespannt, was Ihr dazu sagt.“; wenn Lucas Michels (AviveHD) seine Zuschauenden bittet: „Lasst mal einen Daumen nach oben da oder schreibt mal in die Kommentare“; oder wenn im Video vom Kanal „Parodoro“ sogar die Schrifttafeln dazu auffordern, eine Einschätzung in den Kommentaren zu hinterlassen, erscheinen diese flächendeckenden Aufrufe längst zu einem konstitutiven Erkennungsmerkmal der YouTube-Geste aufge-

38 | Rizzo: YouTube: the New Cinema of Attractions. In: Scan Journal of media arts culture. Unter: http://scan.net.au/scan/journal/display.php?journal_id=109 [aufgerufen am 27. Januar 2020].

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stiegen zu sein. Im Gegensatz zu den Showmen auf den Jahrmärkten und zu den Fernsehmoderator*innen begnügen sie sich nicht damit, das Publikum nur zum Verwundern zu bringen. Ihr Ziel liegt darin, es zum Ausdruck irgendeiner Reaktionen zu verleiten und es als ebenso produzierende Instanz an der Kommunikation zu beteiligen. Jede Kommunikation beabsichtigt, eine weitere Anschlusskommunikation auszulösen. Dialogische Attraktionen stehen somit nie für sich allein, sondern sind stets Teil potenziell endloser Ketten, bei der jede Attraktion immer neue Attraktionen hervorbringt. Hierfür erfährt die Ergänzung des YouTube-Bildes um den Kommentierungsbereich eine zentrale Bedeutung, verheißt sie doch eine vereinfachte und unmittelbarere Interaktion zwischen Quelle und Nutzenden – zwischen Sender und Empfangenden – und ermöglicht überhaupt einen Dialog. Die eingebrachten Bemerkungen reihen sich in eine Kulturgeschichte des Kommentierens ein, die der Literaturwissenschaftler Matthias Bickenbach bis ins Altertum zurückverfolgt.39 Wie er darlegt, könne sich der Kommentar in vielfältiger Gestalt (als sachliche Erläuterung, als hermeneutische Interpretation, als juristische Auslegung oder subjektive Meinungsäußerung) zeigen. All diese Ausprägungen hätten jedoch gemein, dass sie stets eine Reaktion auf eine vorausgegangene Äußerung darstellen und der Kommentar eine „unselbstständige Gebrauchsform“ bildet. „Kommentare sind keine eigenständigen Texte“ 40 und sind ohne ihre Vorlagen, auf die sie sich beziehen, nicht existent. Bickenbach typisiert in seiner Darstellung das Kommentieren als einen sich sukzessiv entfaltenden Prozess, der von einem hierarchischen Nacheinander geprägt ist und jede Vorlage als feststehendes, vom Kommentar unverändertes Objekt begreift. Das Hinzufügen von Anmerkungen ermöglicht keine Einflussnahme (mehr) auf die Videos, auf die sie sich beziehen und die zum Zeitpunkt der Kommentierung bereits unveränderbar im Netz stehen. Kelly Svirakovas achtminütiger Wutausbruch stellt lediglich eine nachrangige Reaktion auf Bemerkungen dar, die sich wiederum auf eines ihrer vorherigen Videos beziehen. Umgekehrt müssen die von ihr adressierten Kritiker*innen Kellys Angriffe unvermindert geschehen lassen und können auf diese nur über den Umweg einer erneuten Kommentierung reagieren. Der ermöglichte Interaktionsprozess verläuft damit nicht synchron, sondern in zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen, die jeweils nur eine Erwiderung im Nachhinein auf ein vorangegangenes feststehendes Ergebnis bilden können und sich über einen Zeitraum

39 | Bickenbach: Kommentieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Band 2. 40 | Ebd., S. 242.

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von mehreren Tagen oder Wochen erstrecken. In dieser Eigenschaft unterscheidet sich das YouTube-Bild nicht sehr vom Fernsehbild, welches ebenso vom Verhalten seiner Zuschauenden unbeeindruckt weitersendet. Diese Ähnlichkeit tritt insbesondere in Vlogs oder in den vergleichbaren Formaten von Florian Diedrich und Kelly Svirakova hervor, die ihr Publikum wie Fernsehansager*innen beharrlich ansprechen, aber innerhalb der Videos mit gleicher Beharrlichkeit deren unmittelbare Antworten ignorieren. Der einseitige Zustand wird auch dadurch nicht verändert, dass Florian Diedrich sein Publikum fragt „Meint Ihr das auch?“, denn die Resonanz kann er innerhalb des Videos weder hören noch darauf eingehen. Es ließe sich sogar diskutieren, inwieweit das Video und sein zugehöriger Kommentarbereich überhaupt als dasselbe Medium beschrieben werden können und nicht vielmehr voneinander getrennte Kanäle darstellen, die lediglich auf einer gemeinsamen Oberfläche nebeneinander angeordnet sind. Schließlich findet die für die Zuschauenden nutzbare Interaktion außerhalb des eigentlichen Videos statt, welches über keinen eingeschriebenen Rückkanal verfügt und nur in Form einer Extension angehängt wird. Diese grundsätzlich mit einer Fernseher-Telefon-Kopplung vergleichbare Anordnung unterscheidet sich dann lediglich darin, dass beide Elemente im selben Abspielgerät verbaut sind und deswegen enger miteinander verschmolzen erscheinen. In den Videos selbst wird allerdings eine Unterhaltung zwischen Medium und Rezipient lediglich simuliert, denn es existiert – wie beim Fernsehbild – keine unmittelbare Rückkoppelung zwischen Adressat und Adressiertem. Die angewendete direkte Adressierung verstärkt hier wie beim Fernsehprogramm die einseitige Gerichtetheit der Signale und ihre fernsehhafte Wirkung. Damit offenbart sich wie beim Fernsehbild ein dialektischer Zustand, bei dem eine gleichrangige Unterhaltung zwar scheinbar geführt wird, diese aber im selben Augenblick verdeutlich, dass ein synchroner und direkter Austausch innerhalb des Mediums nicht möglich ist. Während jedoch die Monologe von Frank Underwood in der Serie HOUSE OF CARDS jegliche Interaktionsaufforderung an das Publikum unterlassen und das Interface von Netflix über kaum eine (nicht einmal angehängte) Möglichkeit einer Kommentierung verfügt, wird die fernsehartige Gerichtetheit bei YouTube zumindest wirkungsvoll verschleiert, wodurch nicht nur eine direkte Unterhaltung, sondern ebenso ein direkter Austausch simuliert wird. Auf diese Weise wird unter Ausnutzung der durch die direkte Adressierung herausgebildeten Beziehungen der Konsens hergestellt, dass Personen auf YouTube über eine große Nähe zu ihren Zuschauenden verfügen würden – ein Konsens, dem offenbar viele User*innen bereitwillig folgen, um einem Ausschluss zu entgehen.

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EINVERSTÄNDNISSE John Ellis und Tom Gunning haben die direkte Adressierung des Publikums jeweils für das Fernsehbild und den (Kino-)Film in einen Zusammenhang mit der Erzeugung von Aufmerksamkeit gestellt, um damit das Interesse der Zuschauenden auf die Leinwand oder den Bildschirm lenken zu können. Im Fall des „Kinos der Attraktion[en]“ wird sie eingesetzt, um die Menschen ins Kino zu locken und für das neue Medium begeistern zu können; im Fall des Fernsehbildes, um gegen die vielen Ablenkungen im häuslichen Umfeld bestehen zu können. Bei vielen YouTube-Videos scheint die Ursache in davon unterschiedlichen Aspekten zu liegen, denn längst haben sich Bewegtbilder im Internet massiv durchgesetzt, sodass in der Absicht der Aufmerksamkeitserzeugung höchstens eine historische Komponente, wohl aber kaum eine aktuelle Begründung für die noch immer flächendeckende Anwendung der direkten Adressierung begründet werden kann. Vor dem Hintergrund, dass auf der On-Demand-Plattform das Ansehen eines Videos eine gezielte Aktivität voraussetzt, wirkt das Ablenkungsargument ebenfalls unstimmig. Die entscheidende Ursache könnte demnach weniger im apparativen Rahmen zu suchen sein, als vielmehr auf einer inhaltlichen Ebene. Wenn Tom Gunning für das „Kino der Attraktion[en]“ aus einem Bruch der Vierten Wand ein Anerkenntnis des beobachtenden Publikums ableitet, geht damit zugleich für die Zuschauenden die Erlaubnis für die Fortsetzungen ihrer Betrachtung einher. Es liegt eben keine voyeuristische Situation mit einer heimlichen Überwachung vor, sondern ein exhibitionistischer Aufbau mit gegenseitigem Einverständnis. Wird mithilfe der direkten Ansprache eine persönliche Beziehung zwischen den Protagonisten auf dem Bildschirm und ihren Zuschauenden aufgebaut, in deren Rahmen persönliche Informationen über die Plattform miteinander geteilt werden, wirkt dieses Eindringen in die Privatsphäre von fremden Menschen weniger verwerflich und irritierend. Der Blick in die Kamera stellt schließlich eine unausgesprochene, aber für beide Seiten verständliche und verbindliche Legitimation dar, nachfolgend die Privatsphäre verletzen zu dürfen. Das Verfolgen von fremden Liebesdramen, das Eindringen in persönliche Wohnräume oder die Teilhabe an den intimen Momenten anderer Personen fühlt sich dann weniger anstößig an.

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Abbildung 41: Bianca und Julian Claßen teilen private Momente und intime Informationen mit ihren Zuschauenden.41

41 | Vorschaubilder der Videos: BibisBeautyPalace (von oben links): Wir sind endlich verlobt ෮ So war der Antrag. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ UFHIOBpMKfU; BibisBeautyPalace: Ich mache einen SCHWANGERSCHAFTS – TEST. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/U0Z9rWjhEj4; BibisBeautyPalace: HIER WOHNEN WIR ... Unsere neue Wohnung. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/x-rmetWQMEI; BibisBeautyPalace: Ich trage keinen BH mehr !!! | BibisBeautyPalace. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ PX5-BmDzI5U [alle angefertigt am 11. September 2018].

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7. Abspann

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RE-VISUALISIERUNG Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich dokumentiert wurde, wie sich charakteristische Eigenschaften der Fernsehhaftigkeit in den internetbasierten On-Demand-Diensten wie Netflix und YouTube zeigen und zu deren televisionizitärer Wirkung beitragen, soll abschließend ein kurzer Blick darauf geworfen werden, welche Auswirkungen diese Wanderung auf das bisherige Verständnis von FERNSEHEN hat. Inwieweit führen die identifizierten Verschiebungen und Modifikationen zu einer Wandlung des Gegenstands selbst? Dafür gilt es zunächst festzuhalten, dass die Entdeckung von Spuren bestehender Medien in neuaufkommenden Anordnungen keine revolutionäre Erkenntnis ist. Schließlich stellte Marshall McLuhan bereits im Jahr 1964 fest, dass jedes neue Medium ältere Medien in sich trägt. Durch seine Schlichtheit und Pointierung hat sich dieser zentrale Gedanke, den McLuhan in seinem Werk „Die magischen Kanäle“1 ausführt, längst zu einem medienwissenschaftlichen Gemeinplatz entwickelt. Er bildet die Grundlage für die Vorstellung der Mediengeschichte als einen evolutionären Prozess, bei dem sich jedes neue Medium als eine Weiterentwicklung bestehender Medien ausformt. Diese Sicht formuliert ein Modell, das Medien in eine lineare Abfolge und ein zeitliches Nacheinander stellt. In dieser Logik ist es geradezu obligatorisch, dass On-Demand-Dienste wie Netflix und YouTube auch Elemente des (Kino-)Films oder des Fernsehens beinhalten, genauso wie das Fernsehen Formen und Inhalte des Telefons, des Radios oder des Theaters reproduziert. Einen konkreten darauf aufbauenden Ansatz liefern die Medienwissenschaftler Ralf Adelmann und Markus Stauff auf der Suche nach einer (noch fehlenden) Ästhetik des Fernsehens. Ihr Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass in 1 | McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 18.

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Ausgaben des „Reality-TV oder der Dokumentations- und Nachrichtensendungen“ regelmäßig verschiedenartiges Material wie „Computeranimationen, Infrarot- und Ultraschallaufnahmen sowie Videomaterial aus Überwachungskameras oder aus Camcordern“2 integriert wird. Diese Feststellung verknüpfen sie mit einem Aufsatz von John T. Caldwell, in dem dieser das Herausbilden verschiedener visueller Stile des US-Fernsehprogramms auf die Einführung neuer Produktionsweisen zurückführt.3 Darin stellt Caldwell fest, dass das Fernsehen etwa durch die Verwendung bestimmter Filmmaterialien, die Verpflichtung namhafter Hollywood-Regisseure oder -autoren4 und die Imitation bekannter Inszenierungen („Maskerade“5) spezifische Eigenschaften des (Kino-)Films übernimmt. Dies erfolge mit der Absicht, elaborierte Looks zu entwickeln, die sich vom restlichen Programm abheben. Aus dieser Darstellung leiten Adelmann und Stauff schließlich ab, dass die Übernahme fremder Ästhetiken die Optik des Fernsehens bestimme und in dieser dauerhaften ‚Re-Visualisierung‘ die spezifische Ästhetik des Mediums zu suchen sei. Weil das Fernsehen so viele Stile aufgreift, gäbe es allerdings… […] so etwas wie eine bestimmte, kennzeichnende Visualität von Fernsehen nicht […]. Das, was im Fernsehen sichtbar wird, wird demzufolge immer in Kopplung an andere Medien und die von diesen typisierten Visualisierungen sichtbar. Im Fernsehen finden sich ganz überwiegend Re-Visualisierungen: Bildformen, die in anderen medialen Konstellationen und Praxisbereichen definiert wurden, erhalten im Fernsehen eine (modifizierte) Sichtbarkeit.6

Das fernsehhafte Bild entwickelt demnach eine eigene Erscheinung allein dadurch, dass es sich verschiedene Gestaltungsweisen einverleibt und aus dieser permanenten Heterogenität eine Emulsion an Stilen ausbildet. Es ist allerdings weniger die Summe der Stile, die eine spezifische Ästhetik der Fernsehhaftigkeit begründet, als vielmehr ihre Flexibilität und Offenheit, die eine Aufnahme derart uneinheitlicher Quellen überhaupt ermöglicht. Eine solche Ästhetik, die einzig

2 | Adelmann / Stauff: Ästhetiken der Re-Visualisierung. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 61. 3 | Caldwell: Televisualität. In: Adelmann et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 192. 4 | Ebd., S. 177. 5 | Ebd., S. 197ff. 6 | Adelmann / Stauff: Ästhetiken der Re-Visualisierung. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 69.

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aus einer Kopplung zu anderen sich modisch und technisch wandelnden Medien folgt, verhindert gemäß Adelmann und Stauff ein Verständnis des Fernsehens als stabiles ästhetisches Objekt. Vielmehr werde es „ständig strategisch neu positioniert“ und müsse daher als eine „veränderliche und dynamische Konstellation gedacht werden“.7 Es gelte daher: Die Ästhetik des Fernsehens legt nicht fest, was Fernsehen ist, sie stellt dies vielmehr fortlaufend in Frage; genau daraus gewinnt Fernsehen seine augenblickliche Macht: Es existiert vor allem als eine Option auf andere Visualisierungen und – damit verbunden – andere Kopplungsformen von Produktion und Rezeption.8

Wichtig zu betonen ist, dass eine Re-Visualisierung sämtlicher und nicht nur älterer Medien möglich ist und dieser Vorgang damit nicht nur zeitlich rückwärts gerichtet sein muss. Daher lassen sich im Fernsehprogramm mittlerweile eine Reihe von Elementen entdecken, die an Ästhetiken anknüpfen, die in digitalen Umgebungen vorherrschen. Hier bildet die Wandlung des Logos der HEUTENachrichten9 zu einem App-Button ein aussagekräftiges Beispiel, ebenso wie das vom Sender ProSieben genutzten On-Air-Design, das mit Fortschrittsbalken, Icons und Rahmenelementen in Form von Abspielfenstern durchsetzt ist. Der Schluss liegt nahe, dass es sich mit televisionizitären On-DemandPlattformen wie Netflix und YouTube ähnlich verhält und diese in ihrer Eigenschaft als „Echoraum des Fernsehens“10 in analoger Weise die Stile des Fernsehens übernehmen. Dann sind diese Angebote ebenso als „hoch flexibel und intermedial“11 sowie als stetig Wandlungsprozesse durchlaufende Anordnungen zu fassen. Hierin bilden sie eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Fernsehen aus.

7 | Ebd., S. 71. 8 | Ebd., S. 76. 9 | heute, D seit 1963. 10 | Bleicher: Zirkulation medialer Bilderwelten. In: Birr et. al. (Hrsg.): Probleme filmischen Erzählens, S. 177. 11 | Adelmann / Stauff: Ästhetiken der Re-Visualisierung. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 71.

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Abbildung 42: Re-Visualisierungen im Fernsehprogramm.12 Man könne nun vermuten, dass es sich bei dieser Auf- und Übernahme fernsehhafter Stile, die sich wiederum aus den Ästhetiken anderer Medien zusammensetzen, um die Re-Visualisierung einer Re-Visualisierung – also um eine Re-Re-Visualisierung – handelt. Es entstünde eine Schachtelung, in denen sich die Re-Visualisierungen stets auf ihre basalen medialen Ursprünge zurückführen ließen. In den Beiträgen und Interfaces von Netflix und YouTube müssten dann

12 | Links: Screenshot aus der Sendung: heute, D 2018, Ausgabe vom 25. August 2018; rechts: Screenshot aus dem Video: ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH/Creative Solutions: ProSieben Redesign 2015. In vimeo.com (Video). Unter: https:// vimeo.com/119463882 [beide angefertigt am 26. August 2018].

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vornehmlich die Verweise auf die vom Fernsehen übernommenen Medien wahrgenommen werden, anstelle des über keine autonome Ästhetik verfügenden Fernsehens selbst. Ein solches Verständnis aber widerspricht den tatsächlichen Verhältnissen, nach denen sich in den Angeboten Referenzen auf FERNSEHEN selbst und nicht nur auf dessen Vorbilder belegen lassen. Die ursprünglich revisualisierten Wurzeln treten im Konglomerat der Stile zurück und verbinden sich zu einer Form, die als eigenständig wahrgenommen wird.13 Daher heißt es im Vorspann der Netflix-Serie HOUSE OF CARDS auch „Created For Television By Beau Willimon“ und nicht etwa „Created For Film in the Shape of Television by Beau Willimon“. Re-Visualisierung wirkt somit nicht unendlich, sondern lediglich einen Layer weit zurück. Oder anders ausgedrückt: Ein Gegenstand kann erst re-visualisiert und in einem anderen Medium erkannt werden, wenn er zuvor als eigenständige Form akzeptiert und identifizierbar ist. Fernsehhaftigkeit ist erst dann re-visualisierbar, wenn zuvor das Mosaik aus Stilen zu einem eigenständigen Look erhoben wird. Die Optik des Fernsehens, die ursprünglich einzig aus Re-Visualisierungen anderer Stile bestand, erfährt durch den Vorgang einer eigenen Re-Visualisierung die Aufwertung zu einer eigenständigen Ästhetik.

REMEDIATISIERUNG Obwohl die Theorie von Ralf Adelmann und Markus Stauff hilfreich und anwendbar erscheint, verfügt sie über die entscheidende Einschränkung, dass sie sich allein auf Visualisierungen – also auf „Prozesse der Sichtbarmachung und des Sehens“14 und insbesondere auf „Oberflächentexturen, gestaltbare Bildflächen und ästhetische Formen“15 beschränkt. Mag sie zwar dabei helfen, sowohl die Optik des Fernsehens als auch jene von Netflix und YouTube als eigenständige Ästhetiken aufzuwerten, wird ihre Wirksamkeit für weitere, zentrale mediale Aspekte oder andere dispositive Eigenschaften ausdrücklich ausgeschlossen.

13 | Diese Auffassung widerspricht nicht der Tatsache, dass hypermediale Plattformen wie YouTube mit der Übernahme von Podcasts, Fotos, Songs, „Computeranimationen, Infrarot- und Ultraschallaufnahmen oder Videomaterial aus Überwachungskameras“ auch andere Medien als Fernsehen re-visualisieren können. Dann aber werden Referenzen zu anderen Medien ohne Umweg über die Ästhetik des Fernsehens hergestellt. 14 | Adelmann / Stauff: Ästhetiken der Re-Visualisierung. In: Fahle / Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, S. 59. 15 | Ebd., S. 65.

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Gemeingültiger gehen Jay David Bolter und Richard Grusin in ihrem Werk „Remediation“ vor, in dem sie aus dem McLuhan’schen Grundgedanken ein umfassendes Verfahren entwickeln. Auch sie stellen fest, dass alle Medien andere Medien in sich aufnehmen und verarbeiten, was sowohl auf inhaltlichinszenatorischer als auch auf technisch-apparativer Ebene erfolgen könne.16 In Abgrenzung zu McLuhan beschreiben sie anhand unzähliger Fallbeispiele allerdings einen Vorgang, der eine Aufnahme sämtlicher und nicht nur älterer Medien umfasst und damit nicht nur zeitlich rückwärts gerichtet sein muss. Etwa würde das aktuelle Fernsehen17 sowohl viele Motive, Genres, Techniken vom „classical Hollywood cinema“18, von der Fotografie und der Videotechnik übernehmen, aber insbesondere in Nachrichtensendungen auch das Split-ScreenVerfahren („windowed style“ 19) anwenden, das auf den grafischen Oberflächen vieler Computer vorherrscht. Hierdurch begreifen sie Medien nicht als feststehende Gegenstände, sondern als sich in einem stetigen Wandlungsprozess befindliche Anordnungen. Alte und neue Medien würden sich demnach in einem ständigen Wechselspiel zueinander befinden und sich stetig an- und miteinander neu erfinden. Radikaler verhandelt der Kommunikationswissenschaftler Roger Fidler diese Verknüpfung medialer Formen unter dem Begriff der „Mediamorphose“20 für alle Bereiche kultureller Kommunikation. Er erhebt eine stetige Anpassung und Ausrichtung auch an neu aufkommende mediale Ausprägungen zur zentralen Überlebensbedingung für jede bestehende Kommunikationsform: Established forms of communication must change in response to the emergence of a new medium – their only other option is to die.21

Doch zurück zum Verfahren der Remediatisierung nach Bolter und Grusin. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass Medien entweder sichtbar wirken und ihre Medialität ausstellen oder im Verborgenen agieren und unsichtbar bleiben. Entsprechend könne auch die Übernahme (fremder) Medien in der Weise erfolgen, dass der Prozess entweder (etwa zugunsten einer Immersionsabsicht) ver-

16 | Bolter / Grusin: Remediation, S. 55. 17 | Hier ist das Fernsehen um das Jahr 2000 gemeint. 18 | Ebd., S. 185. 19 | Ebd. S. 189. 20 | Fidler: Mediamorphosis, S. 22. 21 | Ebd., S. 23.

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schleiert oder offensichtlich präsentiert wird.22 Für diese Zustände finden die Autoren die Begriffe „hypermediacy“ (für bewusste Inszenierung) 23 und „immediacy“ (für Verschleierung)24 und belegen im Verlauf ihrer Untersuchung, dass sich diese Konzepte nicht gegenseitig ausschließen, weil der Prozess gewöhnlich zwischen ihnen oszilliere. In der Fähigkeit, ein anderes Medium in sich aufnehmen zu können – es „remediatisieren“ zu können – sehen die Autoren letztlich das „grundlegende Charakteristikum“ aller Medien und leiten daraus ihre zentrale Feststellung ab: We offer this simple definition: a medium is that which remediates. 25

Dabei trägt ihr Modell einen ähnlichen Kerngedanken wie jenes der ReVisualisierung von Ralf Adelmann und Markus Stauff in sich, denn im Anschluss an ihren mittlerweile oft aufgegriffenen Leitsatz heißt es weiter: A medium in our culture can never operate in isolation, because it must enter into relationships of respect and rivalry with other media. There may be or may have been cultures in which a single form of representation (perhaps painting or song) exists with little or no reference to other media. Such isolation does not seem possible for us today, when we cannot even recognize the representational power of a medium except with reference to other media.26

Medien bauen demnach aufeinander auf, sie erweitern, zitieren und imitieren sich oder gestalten Techniken und gesellschaftliche Bedeutungen anderer Medien neu. Sie existieren nur in Koppelungen zueinander und sind (ähnlich wie die Ästhetik des Fernsehens) nie für sich allein beschreibbar. Es ist eine vergleichbare Relation wie die des Analogen, das nur im Vergleich zum Digitalen (und andersherum) verdeutlicht werden kann. In einer solchen Relation, dies wird nach den vorangegangenen Untersuchungen deutlich, befinden sich ebenso die Angebote von Netflix und YouTube zur Fernsehhaftigkeit, die sich gegenseitig re-visualisieren oder remediatisieren. Sie übernehmen bekannte, tradierte und gelernte Mechanismen, Formen und Inhalte, um daraus eine Anordnung zu schaffen, die FERNSEHEN zumindest in seiner Rhetorik überbietet. Mediale

22 | Bolter / Grusin: Remediation, S. 20ff.. 23 | Ebd., S. 21 - 31. 24 | Ebd., S. 31 - 44. 25 | Ebd., S. 98. 26 | Ebd.

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Anordnungen wie Netflix und YouTube sind somit nicht losgelöst von einer Fernsehhaftigkeit verstehbar, nutzbar und denkbar. Sie zu fassen und zu gebrauchen, kann nur im Zusammenspiel mit FERNSEHEN gelingen und verbindet sie fest miteinander. Davon kann sich auch das bisherige Verständnis von FERNSEHEN nicht unbeeindruckt zeigen…

FORMATIERUNG Wenn bei Angeboten wie Netflix und YouTube die Erzeugung eines Flows anstatt durch eine Kuration (also eine menschliche Auswahl) mithilfe einer Programmierung auf der Basis automatisierter Prozesse (Algorithmen) verwirklicht wird oder narrative Verweisstrukturen in YouTube-Videos anders als beim Fernsehprogramm nicht in die Zukunft, sondern in die Historie führen; wenn Serialität durch Verlinkungen, sprachliche Zuweisungen sowie individuell-gestaltete Rituale und weniger durch feste Sendeplätze erzeugt wird; wenn Videos, die eigentlich zeitsouverän abrufbar sind, dennoch absichtlich in der Gegenwart verortet werden, um eine Jetztigkeit zu simulieren; wenn die räumlichen Darstellungen der Interfaces eine Abfolge von Serienepisoden als ein vordefiniertes Nacheinander nahelegen; wenn Beiträge absichtlich entschleunigt werden, um das Leben in ähnlicher Weise einströmen zu lassen wie bei Live-Übertragungen; wenn Authentizität durch den Erhalt von Echtzeit und nicht durch eine simultane Übertragung vermittelt wird und wenn die disparat wahrnehmbaren Nutzenden durch aggregierende Adressierungen zu einer Masse verschmelzen, dann werden bei den programmierten On-Demand-Diensten vergleichbare Wirkungen wie beim kuratierten Fernsehprogramm erzielt. Sie vollziehen sich allerdings auf anderen technischen, strukturellen oder inszenatorischen Wegen. Es werden folglich nicht nur konkrete Gestaltungselemente remediatisiert, sondern ebenso Effekte und inszenatorische Strategien der Fernseherfahrung. Sie werden in der Weise adaptiert, dass sie auch unabhängig von den spezifischen technischen Bedingungen des Mediums Fernsehen wirken. Mit Fernsehhaftigkeit verbundene Erwartungen liefern die äußeren Vorgaben, an denen sich die televisionizitären Angebote der On-Demand-Plattformen vielfach ausrichten. FERNSEHEN stellt sich somit als ein Gerüst dar, in das Inhalte eingebettet werden. Es zeigt sich als ein Rahmen, der durch bestimmte Regeln definiert ist. Ein solches Verhalten spricht der Medienwissenschaftler Michael Niehaus jedoch einem Format und nicht einem Medium zu, woraus sich eine andere Sichtweise auf den Gegenstand ableiten lässt.

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In seiner Auseinandersetzung mit der Frage, was ein Format ist, nähert sich Niehaus seiner Antwort dadurch an, dass er die Verwendung des Begriffs in verschiedenen Kontexten mit besonderem Blick auf die Nutzung in der Alltagssprache27 zusammenträgt. Die Palette seiner untersuchten Konstellationen reicht dabei von Größenverhältnissen bei Papier bzw. Büchern über Maßnahmen der Textverarbeitung bis zur Feststellung, dass auch Menschen Format haben können. Formate wären präsent in (Audio-/Video-)Dateien und in Kinofilmen; aber auch dem Fernsehprogramm seien Formate nicht fremd. Aufgrund einer mannigfaltigen Nutzung des Begriffs lässt er sich, so bleibt der Eindruck nach Niehaus’ Darlegung, nur unzureichend festschreiben und schwerlich in Form einer Definition fixieren. Schließlich erweist sich der Begriff des Formats als „nicht weniger allgemein als der des Mediums.“28 Dennoch schälen sich in Niehaus’ Ausführungen drei Aspekte heraus, die auffallend häufig wiederkehren und die für die Formulierung einer Minimaldefinition nutzbar erscheinen. Zunächst stellt er fest, dass (1.) ein Format nie ein einzelnes Ding sein könne, sondern stets mit Wiederholbarkeit verknüpft und auf Dauer eingerichtet wird.29 Es offenbare sich nicht in einer Singularität, denn ein „Format ist ja eben kein Werk“.30 Vielmehr träte es erst hervor, wenn mehrere Objekte des gleichen Formats erkennbar sind. Der Begriff der Serialität ist (wie bereits festgestellt) eng an den des Formats gekoppelt und ohne ihn nicht zu denken, denn einerseits muss das, was in einer Reihung wiederkehrt, auf einer Ebene dasselbe Format haben (oder derselbe Signifikant sein), und andererseits lässt sich – mit einem Hauch von Zirkelschluss – das als Bestandteil des Formats betrachten, was in einer Serie wiederkehrt.31

Das Herausbilden einer Reihung wird also dadurch realisiert, dass die einzelnen Elemente gemeinsame Merkmale aufweisen, worin sich jene serielle Natur des Formats ausdrückt. Wichtig ist hierbei jedoch, dass diese Gleichheit keinen natürlichen Ursprung besitzt, sondern (2.) gezielt durch die Anwendung klar definierter Regeln von außen herbeigeführt wird. Der Begriff des Formats impliziert – auch nach dem allgemeinen Wortgebrauch – eine Einheit, für die mehr oder weniger von außen gesetzte, starre Regeln vorliegen.

27 | Niehaus: Kleine Formate. Vorüberlegungen, S. 8. 28 | Niehaus: Was ist ein Format?, S. 8. 29 | Ebd., S. 49f. 30 | Ebd., S. 60. 31 | Ebd., S. 98.

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Mag die Form organisch aus dem Inneren nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit erwachsen, das Format tut es nicht. Das Formatierte ist nicht autonom, sondern heteronom; dem Formatierten ist sozusagen ‚etwas angetan‘ worden.32

Die Blätter eines Baumes mögen über eine innere Gesetzmäßigkeit verfügen, ein gemeinsames Format bilden sie jedoch nicht. Hingegen verfügt die Ansammlung von Nachrichten, bei der jede Meldung auf drei Zeilen (100 bis 135 Zeichen)33 begrenzt worden ist, über ein gemeinsames Format, weil die Elemente durch „von außen gesetzte Formatvorgaben“ 34 angeglichen wurden. Darin wird zugleich die noch fehlende Erkenntnis deutlich, nämlich dass (3.) Formate am Ende des Prozesses einer Formatierung stehen. In diesem erfährt ein existierender Gegenstand (wie das Papier oder eine Nachrichtenmeldung)35 eine Auf- oder Vorbereitung, um ihn entweder in eine spezifische Umgebung einpassen oder auf bestimmte Weise gebrauchen zu können.36 Hierbei erfolgt die einheitliche Formatierung von Elementen „durch eine wiederholbare Prozedur.“ 37 Bei der Formatierung wird also eine Norm oder ein Standard auf ein einzelnes Objekt angewendet, um sie anderen, bereits formatierten Objekten anzugleichen: Formatierung ist Vereinheitlichung und Zurichtung. 38

Anders gewendet: Formate liefern Muster oder Schablonen, die auf bestimmte Objekte mit dem Ziel angewendet werden, diese zu normieren. Mit ihnen verbindet sich die erklärte Absicht, die „Stabilität sozialer oder kommunikativer Ordnungen zu erklären.“39 Dies zeigt sich besonders deutlich im Fernsehprogramm, das sich aus einer Vielzahl von Formaten zusammensetzt, in denen die „unveränderlichen, strukturellen Elemente einer seriellen Produktion wie Moderation, Dramaturgie, Kennungen, Logos, Sendungsdesign, optische und akusti-

32 | Niehaus: Kleine Formate. Vorüberlegungen, S. 9. 33 | Niehaus widmet sich in seinem Buch diesem Format ausführlich, das ab 1905 in jeder Ausgabe der französischen Zeitung „Le Martin“ unter dem Titel „Nouvelles en trois lignes“ angewandt wurde. (Niehaus: Was ist ein Format?, S. 124ff.) 34 | Ebd., S. 91. 35 | Niehaus: Kleine Formate. Vorüberlegungen, S. 10. 36 | Niehaus: Was ist ein Format?, S. 45. 37 | Niehaus: Kleine Formate. Vorüberlegungen, S. 10. 38 | Ebd., S. 9. 39 | Bucher et. al.: Medienformate. In: Bucher et. al. (Hrsg.): Neue Medien – neue Formate, S. 10.

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sche Signale, Sendeplatz etc., […] sicherstellen sollen, dass einzelne Sendungen als Episoden einer Serie erkennbar werden.“40 Aber, ein Format weist vor allem Merkmale auf, „die jenseits der Inhalte zu finden sind.“41 Es unterstützt zwar das Storytelling, doch gehört nicht dazu.42 Es generiert lediglich einen „Rahmen für Geschichten“43 und stellt keine eigenen Geschichten bereit. Somit bietet es eine grundlegende Struktur, in der verschiedene Geschichten erzählt werden können. Ein Format gleicht einem (Koch-)Rezept, das eine Anzahl an unveränderbaren Regeln und Prinzipien zusammenfasst, um daraus individuelle Varianten (Episoden) herstellen zu können.44 Wenn nun die Ausgestaltung des Werdegangs der Figur Frank Underwood in HOUSE OF CARDS, die privaten Erlebnisse des YouTube-Stars Bianca Claßen, die von Florian Diedrich kommentierten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Computerspiel „Pokémon Go“ und die Tagebucheinträge von „Lonelygirl15“ trotz ihres inhaltlichen Pluralismus deswegen Gemeinsamkeiten zueinander ausbilden, weil in ihnen Ähnlichkeiten zum Fernsehprogramm erkennbar sind, lässt sich schlussfolgern, dass auch sie eine gemeinsame televisionizitäre Formatierung erfahren haben. Auch sie sind „durch von außen gesetzte Formatvorgaben definiert“.45 Hierbei aber liefern nicht (ausschließlich) einzelne Sendungen oder Produktionen, sondern Fernsehhaftigkeit als solche das Vorbild, entlang dessen eine Formatierung vorgenommen wird. Es werden nicht nur bestimmte Dekorationen, Gestaltungselemente oder Abläufe übernommen. Mit der Adaption von Mechanismen eines Flows, dem Aufgreifen einer liturgischen Serialität, dem Bemühen, Authentizität mit Mitteln einer simultanen Live-Übertragung herzustellen sowie in der Nutzung von Adressierungen, die einen exhibitionistischen Blick gewähren, bilden fundamentale fernsehhafte Charakteristika die Norm aus, an der sich die Gestaltung der On-Demand-Angebote ausrichtet. Es sind Parameter, deren Herausbildung sich ironischerweise nahezu vollständig aus der Notwenigkeit eines linearen Zeitplans für das analoge Fernsehen ableiten46 und des-

40 | Ebd., S. 20. 41 | Müller: Formatieren. In: Christians et. al (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 264. 42 | Chalaby: The Format Age, S. 9. 43 | Niehaus: Was ist ein Format?, S. 85. 44 | Chalaby: The Format Age, S. 10. 45 | Niehaus: Was ist ein Format?, S. 91. 46 | Vgl. Lotz: Portals, Abschnitt: Chapter 1 / Theorizing the Nonlinear Distinction of Internet-Distributed Television?

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wegen bei internetbasierten Plattformen aus technischer Sicht obsolet erscheinen. Adaptiert werden sie nur deshalb, weil sie durch eine ritualisierte Nutzung des Fernsehprogramms bereits bestens vertraut sind und längst derart verinnerlicht wurden, dass sie auch ohne jegliche Erläuterung über ein kollektives Verständnis ihres Gebrauchs verfügen. Es zeichnet sich ab, dass es produktiv ist, FERNSEHEN nicht mehr länger nur als Medium oder Kulturtechnik zu betrachten, sondern ebenso als eine Art, wie Inhalte inszeniert, strukturiert und präsentiert werden. Es kann zugleich als ein Format verstanden werden. Bei einem solchen Zugang ist der Gegenstand Fernsehen als solches (und nicht nur einzelne Elemente seines Programms) daraufhin zu befragen, durch welche Normen diese Formatierung bestimmt ist, wie diese festgelegt werden und welchem Wandel dieser Prozess unterliegt. Erste Diskussionsansätze dafür liefert die vorliegende Untersuchung, die es nun zu ergänzen und weiter auszudifferenzieren gilt. Zugleich stellt sich die Aufgabe zu ergründen, inwieweit das Format Fernsehen durch seine wiederholende Reproduktion selbst beeinflusst und verändert wird. In diesem Modell stellen televisionizitäre Angebote wie Netflix und YouTube folglich kein neues Medium dar, sie zeigen sich vielmehr als eine weitere Variante von Fernsehen. Sie bilden eine neue Version des Gegenstands aus, der ohnehin von einer fließenden Entwicklung und von feingliedrigen Zwischenversionen geprägt ist. In diesem Prozess aber ersetzt eine neue Version ihre jeweiligen Vorgänger nicht vollständig, sondern ergänzt die bis dahin bestehenden und weiterhin lebendig existierenden Formen um eine neue Ausprägung. Schließlich verschwand das alte Fernsehen nicht in dem Moment, als das neue Fernsehen von Netflix und YouTube aufkam. Die verschiedenen Versionen von FERNSEHEN bestehen parallel zueinander und es kann zwischen ihnen nahezu unbegrenzt gewechselt werden. Welche Version jeweils vorliegt, lässt sich nicht global definieren. Sie hängt davon ab, welche technischen Anordnungen (Erweiterungen) genutzt, welche Beziehungen oder Interaktionen mit dem Gesehenen eingegangen und welche Programme wie ausgewählt werden. Sie ist etwa bedingt durch die Frage, ob ein allgemeiner Flow angenommen oder ein personalisierter Fluss selbst erzeugt wird. Diese Einschätzung ergibt sich individuell für jede einzelne Situation neu und ist nur für diese gültig. Ein solches Verständnis entkoppelt den Begriff FERNSEHEN zugleich von einem bestimmten Verbreitungsweg und setzt auch formal jenen Prozess um, den der Gegenstand faktisch längst vollzogen hat. FERNSEHEN ist auf diese Weise

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eine Erfahrung und weniger ein Objekt, das mit einem Apparat im Wohnzimmer verbunden ist.47+48 Dies ermöglicht die Öffnung und Übertragung des Begriffs auf Umgebungen auch über die Angebote von Netflix und YouTube hinaus. So ließen sich alle Anordnungen als FERNSEHEN beschreiben, in denen serielle Inhalte mit Aktualitätsbezug in einen Flow gebracht werden – ganz gleich in welcher Form, auf welchem Gerät oder Interface sie erscheinen. Hierfür müssten nicht immer alle identifizierten Merkmale zur selben Zeit Anwendung finden, schließlich ist auch im Fernsehprogramm nicht jede Sendung live oder adressiert sein Publikum direkt. Entscheidend ist vielmehr, ob eine grundsätzlich fernsehhafte Rhetorik erkennbar ist. Je mehr fernsehhafte Effekte adaptiert werden, desto deutlicher tritt dann ein Format Fernsehen hervor – desto deutlicher tritt eine neue Version von FERNSEHEN hervor.

47 | Vgl. Strangelove: Post-TV, S. 8. 48 | Dem steht nicht entgegen, dass die Bezeichnung „Fernsehen“ diesen Zustand nicht mehr sprachlich erfasst, denn schon lange stellt das Wort keine adäquate Beschreibung für das angebotene Programm mehr dar, hält sich aber davon unbeeindruckt hartnäckig im Gebrauch. Schließlich rekurriert es sprachlich noch immer auf die Annahme, dass sich mit dem Fernseher ein symbolisches Fenster zur Welt öffnet, während sich zeitgleich das fernsehhafte Angebot auf Sendungen und Beiträge konzentriert, die eher am Leben der Nachbarn von nebenan interessiert sind als an einem Zugang zur großen Welt. Dennoch wurde Fernsehen sprachlich nie zum Nahsehen.

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„THEY SAY ALL GOOD THINGS MUST COME TO AN END…“ Am Abend des 02. Februar 2020 steht wie in jedem Jahr die heiß erwartete Übertragung des SUPER BOWLS LIV49 an. Sie wird 16 Jahre nach dem Freilegen der Brust von Janet Jackson erneut mit einer Verzögerung von einigen Sekunden ausgestrahlt.50 Doch in diesem Jahr ist es nicht die Halbzeitshow, sondern ein 45sekündiger Spot in der Unterbrechung des Spiels, der für das größte Medienecho sorgen wird. Darin ist der hochdotierte Quarterback Tom Brady zu sehen, wie er in entsättigten Bildern und in einem pathetisch-inszenierten Gestus aus den Katakomben auf das Spielfeld eines Footballs-Stadiums schreitet. Seit Tagen zirkuliert bereits ein Standbild aus diesem Clip in sozialen und redaktionellen Medienangeboten und entfacht dort unzählige Diskussionen und Spekulationen zum möglichen Karriereende des beliebten Spielers. Sie sollen am Ende des Clips durch die Worte, die Brady spricht, ihre Auflösung erfahren. Zunächst sind diese nur aus dem Off zu hören, bevor Brady dann das Publikum direkt ansieht und adressiert: They say all good things must come to an end, but the best just know when to walk away. So, to my teammates, my family, and most of all my fans, you deserve to hear this from me. Hulu doesn’t just have live sports. According to the script they just gave me, Hulu also has your favorite cable channels, plus the greatest shows, movies and originals of all time. So it’s time to say goodbye to TV as you know it.51

QR-Code Video 19

Wie sich herausstellt, handelt es sich bei der Aktion um eine ausgefeilte und äußerst effiziente Werbemaßnahme für den amerikanischen On-Demand-Anbieter Hulu, der als ein lokales Pendant zu Netflix beschrieben werden kann. Das darin angekündigte Ende, bezieht sich entgegen aller Andeutungen nicht auf das Ende einer Sport-Ära, es bezieht sich auf das (vermeintliche) Ende einer medialen

49 | Super Bowl LIV, USA 2020. 50 | Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Vorfall ist im Kapitel „Liveness“ zu finden. 51 | Der Clip hat seine Fernsehpremiere in der Pause des SUPER BOWLS LIV am 02. Februar 2020. Er wurde zeitgleich auf dem Twitter-Account des Unternehmens Hulu veröffentlicht. (https://twitter.com/i/status/1224123633443827713 [aufgerufen am 03. Februar 2020].)

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Ära. Es bezieht sich auf das Ende der Fernseh-Ära. Schließlich fordert Brady dazu auf, sich vom alten Fernsehen zu verabschieden und verspricht mit Hulu zugleich die Verfügbarkeit eines neuen, besseren Fernsehens, das nichts mit dem Fernsehen, wie man es kennt, zu tun hat. Er formuliert einmal mehr das televisionizitäre Versprechen der Überwindung eines alten Fernsehens, um sich an dessen Stelle einer neuen Version von FERNSEHEN zu verschreiben – einer neuen Version, die mit Kabelkanälen, Serien und Live-Übertragungen dennoch über charakteristische Merkmale einer Fernsehhaftigkeit verfügt. Das Fernsehen ist tot, es lebe das Fernsehen. Im letzten Satz des Werbespots löst Brady schließlich die Spekulationen um den Fortgang seiner Karriere auf. Mit einem verschmitzten Grinsen sagt er: But me? I’m not going anywhere.52

Fast denkt man sich dabei, dass Brady nicht nur für sich spricht, sondern auch die Position der Fernsehhaftigkeit einnimmt, die allen neuaufkommenden Anbietern und Plattformen selbstsicher entgegnet: I’m not going anywhere. Voraussagen und Ankündigungen, nach denen FERNSEHEN am Ende sei und nur darauf warten könne, von Herausforderern wie Netflix und YouTube abgelöst zu werden, entlarven sich als vorschnelle Abgesänge. Sie zeigen sich als von digitalizitären Verheißungen verblendet und verkennen, wie sehr On-DemandDienste fernsehhafte Prinzipien verinnerlicht haben und fortwährend inszenieren. Sie übersehen, dass sich Fernsehhaftigkeit auf den Plattformen massenhaft reproduziert und beide Sphären längst eine enge Kopplung zueinander aufweisen. Das Aufkommen von Angeboten wie Netflix und YouTube stellt daher keine Bedrohung für FERNSEHEN als Format dar. Vielmehr gilt für FERNSEHEN: Es ist eine neue Version verfügbar.

52 | Ebd.

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Anhang

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Verzeichnis QR-Codes für Videos

Video 1: stern: iBlali: Warum YouTube das bessere Fernsehen ist. In YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/BO0aOhQO4Ok. Video 2: Edinburgh Television Festival: Kevin Spacey | James MacTaggart Lecture 2013 | EITF. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/ oheDqofa5NM. Video 3: ClemensAlive: YOUTUBE WILL MICH TÖTEN! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/wFibnP_iMNQ. Video 4: Kelly MissesVlog: Meine YouTube Karriere ist zu Ende. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/qWdp8enl-pw. Video 5: BibisBeautyPalace: Ich bin schwanger :O PRANK. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/mjYjnjC2d7M. Video 6: Julienco: Ich PRANKE Bibi :O !!. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/XP3Ti8b3oIE . Video 7: BibisBeautyPalace: Der TEST : Abziehbares Make-Up. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/tfgSA-okP8A. Video 8: BibisBeautyPalace: Wir TESTEN die abartigsten SPIELZEUGE aus AMERIKA. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/CF46lJKjjK0 Video 9: Julienco: DIe GEILSTEN SPIELSACHEN aus AMERIKA. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/LsRDHvGVuZc. Video 10: TED: Thomas Hellum: Das langweiligste Fernsehen der Welt ... und warum es lustigerweise süchtig macht. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/jxKUDXrtDFI. Video 11: Julienco: So bin ich wirklich ... UNGESCHNITTENES VIDEO. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/CBVMuATNtBs . Video 12: BibisBeautyPalace: So bin ich wirklich ! Komplett UNGESCHNITTENES Video. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/EwzwVuLkefc.

342 | ANHANG

Video 13: jawed: Me at the zoo. In: YouTube.com (Video). Unter: https:// youtu.be/jNQXAC9IVRw. Video 14: YouTube Spotlight: A Message From Chad and Steve. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/QCVxQ_3Ejkg. Video 15: AviveHD: YOUTUBER BEGRÜßUNGEN RATEN. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/oa-n9ZAPBXI. Video 16: Parodoro: TOP 10 YOUTUBER Begrüßungen 2015 (Deutschland). In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/2oohBM01tf8. Video 17: LeFloid: Amoklauf – Wenn nicht Islam – dann wohl Killerspiele. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/82uaJZWITJA. Video 18: Kelly MissesVlog: SIE IST FETT!!! In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/NrLPXVjne1o. Video 19: Tom Brady has a big announcement about his future... In: Twitter.com (Video). Unter: https://twitter.com/i/status/1224123633443827713. Das Video ist Bestandteil des Tweets: Hulu (@hulu) vom 02. Februar 2020, 01:13 Uhr [aufgerufen am 28. Juli 2020].

[alle aufgerufen am 27. Januar 2020; außer Video 19]

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Quellen

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Medienwissenschaft Pablo Abend, Annika Richterich, Mathias Fuchs, Ramón Reichert, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 5, Issue 1/2019 – Inequalities and Divides in Digital Cultures 2019, 212 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4478-4 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4478-8

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Medienwissenschaft Mozilla Foundation

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Andreas Sudmann (ed.)

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Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 22 Jg. 12, Heft 1/2020: Medium – Format April 2020, 224 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4925-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4925-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4925-3

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