Föderative Gleichheit [1 ed.] 9783428515073, 9783428115075

Die lange Tradition des föderativen Gleichheitsgedankens und seine Aufnahme an zentralen Stellen heutiger Gesetzgebung u

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German Pages 383 [384] Year 2005

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Föderative Gleichheit [1 ed.]
 9783428515073, 9783428115075

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M A R C U S C. F. PLEYER

Föderative Gleichheit

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 979

Föderative Gleichheit

Von

Marcus C. F. Pley er

Duncker & Humblot • Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Dresden hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten v, 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11507-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern & Juliane & Daniela

Vorwort Der föderative Gleichheitsgedanke kann auf eine lange Ideengeschichte zurückblicken und hat in Gesetzgebung und Rechtsprechung der Gegenwart an zentralen Stellen Aufnahme gefunden. Und doch hat ihm die deutsche Staatsrechtslehre der Bundesrepublik bislang wenig Beachtung geschenkt. Zwar konstatiert nahezu die gesamte Kommentarliteratur eine Gleichheit der Länder, aber bis auf wenige Ausnahmen mangelt es an eingehenderen wissenschaftlichen Untersuchungen. So fehlt es in der Gegenwart an einer Systematisierung und einer dogmatischen Konzeption föderativer Gleichheit, die ihre Handhabung in Wissenschaft und Praxis auf ein sicheres Fundament stellen. Die vorliegende Untersuchung will einen Beitrag zur Beseitigung dieses Defizits leisten. Ihr zentrales Thema sind die verfassungsrechtliche Gleichheit und Ungleichheit der Länder und die sich daraus jeweils ergebenden Konsequenzen für das Verhalten der bundesstaatlichen Akteure im Rahmen eines föderativen Gleichheitssatzes. Zugleich zeigt die Arbeit am Beispiel des Grundgesetzes einen Weg, auf dem sich auch für andere föderale Ordnungen wie dem der Europäischen Union ein System und eine Dogmatik zur Gleichheit der Glieder entwickeln läßt. Diese Arbeit ist ohne meinen verehrten Doktorvater, Professor Hartmut Bauer, nicht zu denken. Bereits in meiner Studienzeit in Heidelberg hat er mein Interesse auf das Öffentliche Recht gelenkt und mich später als Assistent nach Dresden geholt, wo ich an seinem Lehrstuhl in einer angenehmen Atmosphäre wissenschaftlicher Libertät juristische Forschung und Bildung auf höchstem Niveau erleben durfte. Ihm bin ich für die langjährige Förderung, für die gewonnenen Erkenntnisse in vielen wissenschaftlichen Gesprächen, für den mir gewährten Freiraum am Lehrstuhl und nicht zuletzt für die rasche Erstellung des Erstgutachtens sehr dankbar. Mein verbindlichster Dank gilt weiter den Herren Professoren Wyduckel und Lege für so manchen Gedankenaustausch und die ebenfalls sehr zügige Fertigung des Zweit- bzw. Drittgutachtens. Trotz manch widriger Umstände wie der Flutkatastrophe im Sommer 2002 und der drohenden Schließung der Fakultät durfte ich in Dresden unter hervorragenden Arbeitsbedingungen und im Kreise ganz fabelhafter Kollegen forschen und lehren. Von den Mitarbeitern am Lehrstuhl, in der Fakultät und in der Bibliothek möchte ich besonders unserer Sekretärin, Frau Roswitha Hartmann, für ihre stets kompetente Unterstützung insbesondere bei den Drucklegungsarbeiten und Herrn cand. iur. Harald Evers für seine vielfältigen Hilfs-

8

Vorwort

dienste danken. Aus dem Assistentenkreis fühle ich mich besonders Herrn Privatdozent Dr. Martin Böse verbunden, der über die Fachgrenzen innerhalb der Jurisprudenz hinaus stets zu einem Gedankenaustausch bereit war. Das fertige Manuskript haben Frau Richterin am Landgericht Daniela Pleyer, Frau stud. iur. Inga Rosenke und Herr Rechtsanwalt Michael Pohlmann Korrektur gelesen. Daniela Pleyer und Michael Pohlmann standen auch jederzeit für Gespräche zur Verfügung, die so manche These absichern halfen. Ihnen sei dafür herzlich gedankt! Meine langjährige Partnerin und Ehefrau Daniela hat mir darüber hinaus zu jeder Zeit mit Rat und Vertrauen in mich zur Seite gestanden und alle Entbehrungen räumlicher und zeitlicher Art mit liebevollem Verständnis hingenommen. Gratiam ago amatae! Schließlich ist die Arbeit auch nicht ohne die Menschen zu denken, die mich geprägt, insbesondere meine Freude an Erkenntnis geweckt und gefördert haben: meine Eltern, meine Schwestern, meine Lehrer. Mein bester und herzlichster Dank gilt meinen Eltern, Hildegard und Walter Pleyer. Ihr Zuspruch und ihre Unterstützung waren für mich von unschätzbarem Wert. Ihnen ist daher dieses Werk in tief empfundener Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Ebenso eigne ich das Buch meiner Frau Daniela und unserer Tochter Juliane zu, die immer in unserem Herzen bleibt. Die Untersuchung hat im Wintersemester 2003/2004 der Juristischen Fakultät der Universität Dresden als Dissertation vorgelegen. Der Bundesrat hat dankenswerterweise ihre Verlegung mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß gefördert. Dank gebührt schließlich dem Verlag Duncker & Humblot sowie den Herren Professor Simon und Dr. Simon für die ehrenvolle Aufnahme in die Schriftenreihe zum Öffentlichen Recht. Dresden/Bensheim, 1. Juli 2004

Marcus C.F. Pley er

Inhaltsübersicht Erstes Kapitel Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel § 1 Überblick über den Forschungsstand

25 25

§ 2 Gang der Untersuchung

26

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

27

I.

Föderative Gleichheit als Status

II. Föderative Gleichheit als Verhaltensgebot § 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit I.

Die Vieldeutigkeit des Gleichheitsbegriffs

II. Definitionen

27 44 46 47 49

Zweites Kapitel Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens in Deutschland § 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation I.

Der Streit um die pluralitas votorum in Religionsund Steuerangelegenheiten

57 58 59

II. Stimmrechte im Reichstag und Besetzung des Reichskammergerichts

63

III. Zusammenfassende Bewertung

64

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes I.

Die staatenbündische Ordnung des Deutschen Bundes

66 66

II. Die Paulskirchenverfassung

73

§ 7 Das Deutsche Kaiserreich von 1871

76

I.

Die Diskussion um die Rechte der Einzelstaaten

76

II. Gleichheit als Systematisierungskriterium für Staatenverbindungen

84

III. Einzelne Verfassungsbestimmungen im Lichte der Gleichheit

86

10

Inhaltsübersicht

IV. Zusammenfassende Bewertung § 8 Die Weimarer Republik I.

90 93

Die Kontroverse um die Bedeutung von Gleichheit und ihre Rezeption imföderalen Kontext

94

II. Geltung und Herleitung desföderativen Gleichheitssatzes in Wissenschaft und Rechtsprechung

97

III. Inhalt und Konsequenzen des föderativen Gleichheitssatzes

108

IV. Föderative Gleichheit im Reichsrat?

112

V. Rechtsschutz

118

VI. Zusammenfassende Bewertung

119

Drittes Kapitel Verfassungsrechtliche Gleichheit der Bundesländer unter dem Grundgesetz 124 § 9 Die Herleitung föderativer Gleichheit in der Rechtsprechung und der Staatsrechtslehre der Gegenwart

126

I. Auszuscheidende Geltungsgründe

126

II. Das Bundesstaatsprinzip als Generator der Gleichheit?

128

III. Völkerrechtliche Staatengleichheit im Bundesstaat?

137

IV. Zusammenfassende Bewertung

153

§ 10 Normative Begründung föderativer Gleichheit

155

I. Das Grundgesetz als normativer Ausgangspunkt

155

II. Analyse des Grundgesetzes

155

III. Normative Befundlage und zusammenfassende Bewertung

230

Viertes Kapitel Konsequenzen für das Verhalten von Bund und Ländern § 11 Der föderative Gleichheitssatz im direktiven Bund-Länder-Verhältnis I.

Herleitung des föderativen Gleichheitssatzes

237 238 238

II. Inhaltliche Konkretisierung des föderativen Gleichheitssatzes

254

III. Zusammenfassende Bewertung

316

Inhaltsübersicht

§ 12 Föderative Gleichheit im kooperativen Bundesstaat

318

I. Gleichordnung und Gleichberechtigung

319

II. Einstimmigkeitsprinzip, Stimmengleichheit und andere Grundsätze kooperativer Koordination

321

III. Derföderative Gleichheitssatz

324

IV. Zusammenfassende Bewertung

332

Fünftes Kapitel Föderative Gleichheit im deutschen Bundesstaatsrecht - Zusammenfassung 334 § 13 Vorgrundgesetzliche Konzeptionen als Fundament für das föderative Gleichheitssystem der Gegenwart

334

§ 14 Föderative Gleichheit als Struktur- und Verhaltensprinzip

335

Literaturverzeichnis

339

Sachwortverzeichnis

371

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

25

§ 1 Überblick über den Forschungsstand

25

§ 2 Gang der Untersuchung

26

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

27

I. Föderative Gleichheit als Status

27

1. Bedeutungsfeld

27

2. Bezugssysteme

29

a) Das internationale föderative System des Staatenbundes

30

b) Das supranationale föderative System der Europäischen Union

32

c) Das nationale föderative System des Bundesstaates

33

d) Andere föderative Systeme?

35

e) Organisationstheoretische Einordnung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes 3. Abgrenzungen

37 38

a) Ordnungsverhältnis in der Bund-Länder-Beziehung

38

b) Pluralität oder Uniformität der gliedstaatlichen Rechtsordnungen

39

c) Rechtseinheit oder Rechtszersplitterung im Bundesrecht

40

d) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse

42

e) Gleichgewicht und Hegemonie im Bundesstaat

43

II. Föderative Gleichheit als Verhaltensgebot 1. Grundrechtlicher Gleichheitsschutz: Intraföderale Gleichbehandlung des Individuums im Bundesstaat 2. Gleichheit im Staatsorganisationsrecht: Die Länder als Berechtigte desföderativen Gleichheitssatzes

44 44 45

Inhaltsverzeichnis

14

3. Eingrenzung

46

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit I.

Die Vieldeutigkeit des Gleichheitsbegriffs

46 47

II. Definitionen

49

1. Gleichheit

49

a) Begriffsbestimmung und Abgrenzung zur Identität

49

b) Absolute Gleichheit

50

c) Relative Gleichheit

50

d) Der verfassungsrechtliche Status der Länder als tertium comparationis 2. Gleichheitssatz und Willkürverbot a) Inhalt und Abgrenzung zur Gleichheit

52 52 52

b) Gleichheit und Gleichbehandlung im Funktionengeflige des Gleichheitssatzes

54

3. Die Länder als Vergleichsobjekte a) Gleichberechtigung der Länder als juristische Personen b) Die Länder als Zuweisungsadressaten grundgesetzlicher Rechtspositionen

54 54 55

Zweites Kapitel Historischer Abriß desföderativen Gleichheitsgedankens in Deutschland § 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation

57

58

I. Der Streit um die pluralitas votorum in Religionsund Steuerangelegenheiten

59

II. Stimmrechte im Reichstag und Besetzung des Reichskammergerichts

63

III. Zusammenfassende Bewertung

64

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes 1. Die staatenbündische Ordnung des Deutschen Bundes

66 66

1. Normative Verankerung der Rechtsgleichheit in der Bundesakte

67

2. Ausnahmen von der Gleichheit als Regel

68

Inhaltsverzeichnis

3. Zusammenfassende Bewertung

71

II. Die Paulskirchenverfassung

73

§ 7 Das Deutsche Kaiserreich von 1871

76

I.

Die Diskussion um die Rechte der Einzelstaaten

76

1. Die „Gleichberechtigung" der Reichsglieder bei Paul Laband

76

2. Die Labandschen Thesen in der zeitgenössischen Kritik

80

II. Gleichheit als Systematisierungskriterium für Staatenverbindungen

84

III. Einzelne Verfassungsbestimmungen im Lichte der Gleichheit

86

1. Die Präsidialrechte Preußens und die Sonderstellung Bayerns

86

2. Die Stimmengewichtung im Bundesrat

87

3. Die Verteilung finanzieller und militärischer Lasten

88

4. Die Präambel

89

IV. Zusammenfassende Bewertung § 8 Die Weimarer Republik

90 93

I. Die Kontroverse um die Bedeutung von Gleichheit und ihre Rezeption imföderalen Kontext

94

II. Geltung und Herleitung desföderativen Gleichheitssatzes in Wissenschaft und Rechtsprechung

97

1. Die Rechtsprechung des Weimarer Staatsgerichtshofs zum föderativen Gleichheitsprinzip als Verfassungsgrundsatz

97

2. Die Diskussion zur Geltung und Herleitung des föderativen Gleichheitssatzes in der Wissenschaft

99

a) Herleitung desföderativen Gleichheitssatzes aus Rechtsstaatlichkeit und Bundestreue

101

b) Herleitung desföderativen Gleichheitssatzes aus dem geschriebenen Verfassungsrecht

101

aa) Die kompetenzielle Stellung der Glieder nach der Reichsverfassung

103

bb) Die Stellung der Länder in der Reichsorganisation nach der Weimarer Verfassung III. Inhalt und Konsequenzen desföderativen Gleichheitssatzes 1. Verbot der willkürlichen Behandlung der Länder

105 108 108

16

Inhaltsverzeichnis

2. Völkerrechtliche Prägung föderativer Gleichheit

110

3. Gleichberechtigung von Reich und Ländern

111

IV. Föderative Gleichheit im Reichsrat?

112

1. Die Bewertung der Stimmenverteilung als Spiegelbild unterschiedlicher Gleichheitsbegriffe

112

2. Die Teilung der preußischen Stimmen

113

3. Die Stimmen Verteilung im Reichsrat als demokratischer Faktor

115

4. Kompatibilität oder Antinomie von Majoritätsprinzip und Gleichheit im Reichsrat?

116

V. Rechtsschutz

118

VI. Zusammenfassende Bewertung

119

Drittes Kapitel Verfassungsrechtliche Gleichheit der Bundesländer unter dem Grundgesetz

124

§ 9 Die Herleitungföderativer Gleichheit in der Rechtsprechung und der Staatsrechtslehre der Gegenwart

126

I. Auszuscheidende Geltungsgründe

126

II. Das Bundesstaatsprinzip als Generator der Gleichheit?

128

1. Historische und rechtsvergleichende Begründung

129

2. Begründung aus dem bundesstaatlichen Wesen

132

3. Die Staatsqualität der Länder als Gleichheitsgrund

133

III. Völkerrechtliche Staatengleichheit im Bundesstaat? 1. Historische Ableitung

137 139

a) Historische Interpretation

139

b) Fortwirkung bündischer Grundlagen

140

c) Dogmatisch-methodische Gründe gegen eine historische Ableitung

141

2. Die Anwendung von Völkerrecht im Zwischenländerverhältnis

142

a) Begründung, Inhalt und Ablehnung des völkerrechtlichen Gleichheitsprinzips als Zwischen länderrecht

142

Inhaltsverzeichnis

b) Dogmatisch-methodische Einwände gegen das Völkerrecht als „Lückenfüller" 3. Übertragung der völkerrechtlichen Herleitungsgründe?

143 144

a) Naturrechtliche Herleitung: Gleichheit der Länder aufgrund der Gleichheit der Menschen?

144

b) Herleitung der Positivisten: Ländergleichheit als Folge von Souveränität?

148

4. Strukturelle Unterschiede zwischen Völkerrecht und Bundesstaatsrecht und Verschiedenheit ihrer Gleichheitskonzepte IV. Zusammenfassende Bewertung § 10 Normative Begründung föderativer Gleichheit I.

Das Grundgesetz als normativer Ausgangspunkt

II. Analyse des Grundgesetzes

153 155 155 155

1. Die abstrakte Normebene als Ausgangspunkt

155

2. Typisierung der Normen

156

a) 1. Fallgruppe: Ungleichheit durch Zuweisung einer Sonderrechtsstellung

157

aa) Die Sonderstellung des süddeutschen Notariats in Art. 138 GG als Beispiel eines benannten Sonderrechts

157

bb) Die „Bremer Klausel" als Beispiel eines unbenannten Sonderrechts

158

b) 2. Fallgruppe: Ungleichheit durch Einbindung der Länder in ein abstrakt differenzierendes System

160

aa) Das Beispiel der Verteilung der Bundesratsstimmen nach Art. 51 Abs. 2 GG

161

bb) Das Beispiel der horizontalen Verteilung der Steuereinnahmen nach Art. 107 Abs. 1 GG c) 3. Fallgruppe: Gleichheit bei undifferenzierter Inbezugnahme aller Länder

2 Pleyer

149

162 164

aa) Das Beispiel der allgemeinen Befugnis- und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern nach Art. 30 GG

165

bb) Das Beispiel der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 71 GG

165

18

Inhaltsverzeichnis

d) 4. Fallgruppe: Gleichheit bei tatbestandsmäßiger Betroffenheit aa) Das Beispiel der Anforderungsrechte eines Landes im inneren Notstand

167 169

bb) Das Beispiel der Mängelrüge im Rahmen der Bundesaufsicht bei der Landesverwaltung 3. Zentrale Regelungsbereiche der Bundesstaatsverfassung a) Die Stellung der Länder bei der Zuständigkeitsverteilung aa) Die Verteilung der Gesetzgebung (1) Grundsätzliche Gleichheit der Länder

169 170 170 171 171

(2) Prinzipielle Irrelevanz der unterschiedlichen Länderaffinität zur Gesetzgebungsmaterie (3) Sonderstellung der Meeresanrainerländer

172 173

(4) Die Sonderregelung des Art. 138 GG zum süddeutschen Notariat (5) Zusammenfassende Bewertung bb) Die Verteilung der Verwaltungszuständigkeiten

174 175 176

(1) Die Ausführung der Gesetze

176

(2) Gesetzesfreie Verwaltung

179

(3) Zusammenfassende Bewertung

179

cc) Die Gemeinschaftsaufgaben

180

(1) Prinzipielle Gleichheit der Länder in der Kooperation mit dem Bund (2) Die Kostenverteilung bei den Gemeinschaftsaufgaben dd) Die Verteilung der Rechtsprechung

180 181 182

ee) Weitere Zuständigkeitsvorschriften 184 (1) Die Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union nach Art. 23 GG 184 (2) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen nach Art. 24 Abs. 1 a GG 186 (3) Die Befugnis zur Neugliederung des Bundesgebietes 187 ff) Zusammenfassende Bewertung

190

Inhaltsverzeichnis

b) Die Stellung der Länder bei ihrer Partizipation an Funktionen der Bundesebene

191

aa) Die Mitwirkung der Länder im Bundesrat

191

(1) Die Mitgliedschaft im Bundesrat als solche

192

(2) Ungleichheit der Länder durch Geltung des Mehrheitsprinzips? (3) Die Verteilung der Stimmen im Bundesrat bb) Die Partizipation der Länder im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a GG cc) Die Beteiligung der Länder im Richterwahlausschuß nach Art. 95 Abs. 2 GG

192 194 196 198

dd) Der Einfluß der Länder auf die Zusammensetzung der Bundesbehörden und die Wehrgesetze nach Art. 36 GG

199

ee) Die Zusammensetzung der Bundesversammlung

205

ff) Zusammenfassende Bewertung

206

c) Die Stellung der Länder in der Finanzverfassung aa) Die Teilung der finanziellen Verantwortlichkeiten

208 209

(1) Die Ausgabenverantwortung nach Art. 104 a GG

209

(2) Die finanziellen Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 105 GG

211

(3) Die finanziellen Verwaltungskompetenzen nach Art. 108 GG (4) Die Rechtsprechungsaufgaben in Finanzangelegenheiten bb) Die Verteilung des Steueraufkommens (1) Der vertikale Finanzausgleich in Art. 106, 106 a GG

212 214 214 215

(a) Die Verteilung der Steuerertragshoheit auf Bund und Länder (b) Die Zuweisung von Einnahmen an die Kommunen (2) Der horizontale Finanzausgleich in Art. 107 GG (a) Der primäre horizontale Finanzausgleich in Art. 107 Abs. 1 GG (b) Der sekundäre horizontale Finanzausgleich in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG

215 216 219 219 221

Inhaltsverzeichnis

20

(c) Die Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG cc) Zusammenfassende Bewertung III. Normative Befundlage und zusammenfassende Bewertung 1. Resultat der Bereichsanalysen

224 227 230 231

a) Grundsätzliche Gleichheit der Kompetenzen

231

b) Gleichheitsnahe Abstufung des Einflusses der Länder bei der Partizipation an Funktionen der Bundesebene

231

c) Approximative proportionale Berechtigung der Länder bei der horizontalen Verteilung der Finanzmassen 2. Die grundgesetzliche Konzeptionföderativer Gleichheit

232 232

a) Die Gleichheit als Grundstatus der Länder

232

b) Die bereichsspezifischen Ausnahmen vom Grundstatus der Gleichheit

235

Viertes Kapitel Konsequenzen für das Verhalten von Bund und Ländern § 11 Derföderative Gleichheitssatz im direktiven Bund-Länder-Verhältnis I.

237 238

Herleitung desföderativen Gleichheitssatzes

238

1. Das Gleichheitsgrundrecht als Rechtsgrundlage

240

2. Das Bundesstaatsprinzip in der verfassungsgerichtlichen Herleitung

241

3. Bundestreue und Rechtsstaatlichkeit als Grundlagen desföderativen Gleichheitssatzes

243

4. Die Ableitung desföderativen Gleichheitssatzes aus der grundgesetzlichen Ausformung der bundesstaatlichen Ordnung

250

5. Ergebnis

253

II. Inhaltliche Konkretisierung desföderativen Gleichheitssatzes

254

1. Das Wertungsproblem beim länderbezogenen Vergleich

254

2. Die Werteordnung der Verfassung als primäres Referenzsystem

256

3. System der inhaltlichen Konkretisierung des föderativen GleichheitssaUes

258

Inhaltsverzeichnis

a) Der strengeföderative Gleichheitssatz aa) Bereichsspezifische Determination

259 259

(1) Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Länderautonomie: Die Ermächtigung nach Art. 71 GG 262 (a) Die Anforderungen desföderativen Gleichheitssatzes an die Ermächtigung nach Art. 71 GG

262

(b) Die Ermächtigung der Länder zur Setzung von Bezugsgrenzen für Wahlkampfkostenerstattungen im Parteiengesetz a.F

263

(c) Die Ermächtigungen Schleswig-Holsteins zu Sonderregelungen für Helgoland

264

(d) Die Ermächtigung des Saarlandes im Rahmen seiner Eingliederung in die Bundesrepublik

266

(2) Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Partizipation der Länder auf der Bundesebene: Die Zusammensetzung der Bundesversammlung

267

(a) Die Anforderungen desföderativen Gleichheitssatzes an die Regelung der Zusammensetzung der Bundesversammlung

268

(b) Die Regelung im Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung

273

(3) Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Finanzverfassung: Der Mehrbelastungsausgleich (a) Der bereichsspezifische Gehalt des föderativen Gleichheitssatzes bei der Verteilung der Finanzmassen und der Mehrbelastungsausgleich

276

276

(b) Die Verteilungsregelung zum Mehrbelastungsausgleich in den Volkszählungsgesetzen

281

bb) Bereichsübergreifende Determinanten

282

(1) Formale Gleichbehandlung bei der Rechtsanwendung

283

(2) Formale Gleichbehandlung bei der Konkretisierung von Verfassungsbegriffen

283

(a) Herleitung der Gleichbehandlungspflicht

284

(b) Konsequenzen der Gleichbehandlungspflicht

285

22

Inhaltsverzeichnis

(aa) Einheitliche Konkretisierung

285

(bb) Inhaltliche Gleichbehandlung durch abstrakte Maßstabsbildung: Das Beispiel der Berücksichtigung von Sonderlasten bei Bundesergänzungszuweisungen 285 (cc) Gleichbehandlung bei der Anwendung des konkretisierten Verfassungsbegriffs

290

(c) Anwendungsbeispiel: Die Berücksichtigung von Sonderbedarfen beim Finanzkraftausgleich als gerechtfertigte Ungleichbehandlung?

291

(aa) Die Berücksichtigung der Seehafenlasten

294

(bb) Die Einwohnerveredelung

297

b) Der allgemeineföderative Gleichheitssatz

305

aa) Die Gleichheit der Länder als Ausgangspunkt

305

bb) Argumentative Anforderungen an die Ungleichbehandlung der Länder

306

(1) Sachgerechtigkeit als Minimalanforderung an eine differenzierte Behandlung der Länder

307

(2) Proportionalität und sachgerechte Kriterienauswahl bei ökonomischen Verteilungsmaßnahmen

309

(3) Ungleichheit durch situative Betroffenheit

310

(4) Einheitlichkeit und inhaltliche Gleichheit der Differenzierungskriterien

310

(5) Begründungs- und Überprüfungsgebote

311

(6) Anwendungsbeispiel: Die Aufbauhilfe nach der Hochwasserkatastrophe 2002 vor dem Hintergrund föderativer Gleichheit

312

III. Zusammenfassende Bewertung § 12 Föderative Gleichheit im kooperativen Bundesstaat

316 318

I. Gleichordnung und Gleichberechtigung

319

II. Einstimmigkeitsprinzip, Stimmengleichheit und andere Grundsätze kooperativer Koordination

321

III. Derföderative Gleichheitssatz

324

Inhaltsverzeichnis

1. Geltungsanspruch desföderativen Gleichheitssatzes zwischen den Ländern

324

2. Verdrängung der Gleichheitsverpflichtungen im Autonomiebereich der Länder

324

3. Grenzen der Koordinationsfreiheit der Länder 4. Der Bund als Verpflichteter des Gleichheitssatzes in der Kooperation mit den Ländern IV. Zusammenfassende Bewertung

326 329 332

Fünftes Kapitel Föderative Gleichheit im deutschen Bundesstaatsrecht - Zusammenfassung 334 § 13 Vorgrundgesetzliche Konzeptionen als Fundament für dasföderative Gleichheitssystem der Gegenwart

334

§ 14 Föderative Gleichheit als Struktur- und Verhaltensprinzip

335

Literaturverzeichnis

339

Sachwortverzeichnis

371

Erstes Kapitel

Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel § 1 Überblick über den Forschungsstand Seit sich in Deutschland bündische Strukturen gebildet haben, wird über föderative Gleichheit nachgedacht1. Im Verfassungsrecht der Gegenwart gilt bundesstaatliche Gleichheit als allgemein anerkannt2. Und doch sind wichtige Fragen bis heute nicht befriedigend geklärt3: Welche Bedeutung hat föderative Gleichheit? Wie kann die Geltung föderativer Gleichheit in der gegenwärtigen Rechtsordnung dogmatisch hergeleitet werden und welche Konsequenzen ergeben sich aus ihr? Die Stellungnahmen in Wissenschaft und Rechtsprechung belassen es zumeist bei einer knappen Feststellung einer Gleichheit der Länder4; nur wenige Beiträge gehen darüber hinaus5, und Monographien zurföderativen Gleichheit unter dem Grundgesetz fehlen gänzlich. Am eingehendsten befaßt sich in neuerer Zeit Josef Isensee mit der Thematik in einem Abschnitt seines Beitrags zu Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz im Handbuch des Staatsrechts6, in dem er die Geltungföderativer Gleichheit feststellt, sich kritisch mit 1

Siehe dazu unten 2. Kapitel. Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 2. Aufl., Heidelberg 1999, § 98 Rn. 129. 3 So Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 129 für die Frage der dogmatischen Herleitung; Roman Herzog , in: Maunz/Dürig u.a., Grundgesetz, Bd. I, München, Losebl.Stand: 1994, Art. 3 Anhang Rn. 37 für die inhaltliche Ausformung des föderativen Gleichheitssatzes. 4 So findet sich der Hinweis darauf, daß alle Länder „gleichberechtigt nebeneinander" stehen, etwa bei Michael Antoni , in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 20 Rn. 6; Gerhard Leibholz/Hans-Justus Rinck/Dieter Hesselberger , Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 7. Aufl., Köln, Losebl.-Stand: Juli 1994, Art. 20 Rn. 46; Michael Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., München 2003, Art. 20 Rn. 73; für die Rechtsprechung siehe die gleiche Formulierung etwa in BVerfGE 1, 299 (315); 39 (96). 5 So etwa Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 129-145; Hans Huber , Die Gleichheit der Gliedstaaten im Bundesstaat, ÖZöR XVII (1967), S. 247-261; Stefan Korioth , Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, S. 111-119; siehe dazu auch das 3. Kapitel, § 9. 6 Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 129-145. 2

26

1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

einigen Herleitungsversuchen auseinandersetzt und konkrete Direktiven aus der bundesstaatlichen Gleichheit ableitet. Allerdings läßt auch seine Begründung föderativer Gleichheit Fragen offen. Zudem bleiben Zweifel, ob tatsächlich die von ihm genannten Gebote aus der bundesstaatlichen Gleichheit folgen. Wenn er etwa „Fairneß", „Vertragstreue" und „Wahrung von Treu und Glauben"7 anführt, so handelt es sich um Grundsätze, die dogmatisch bei der Bundestreue angesiedelt sind8, so daß ihre Ableitung aus der Ländergleichheit jedenfalls nicht ohne weiteres einleuchtet. Schließlich leidet seine Darstellung an der für viele Abhandlungen zur Gleichheit typischen Unschärfe hinsichtlich der Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes. Im Ergebnis hat daher auch Isensee kein umfassendes und gänzlich zufriedenstellendes Konzept föderativer Gleichheit entwickelt; in einem Handbuchbeitrag, der sehr viel breiter angelegt ist, war dies aber auch kaum möglich. Bislang mangelt es damit noch an einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Fragen nach Herleitung, Inhalt und Konsequenzen föderativer Gleichheit unter dem Grundgesetz. Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, in diese Lücke zu stoßen und einen ersten Beitrag zu leisten.

§ 2 Gang der Untersuchung Zuvörderst bedarf der Gegenstand der föderativen Gleichheit der Erläuterung und Abgrenzung zu anderen Fragestellungen. Denn die Diskussion über den föderativen Gleichheitsgedanken ist aufgrund unterschiedlicher, zumeist unausgesprochener Vorstellungen über die Begriffsbedeutung seit jeher von Mißverständnissen geprägt 9. Gleichheit wird mal absolut, mal relativ verstanden, Tatsächliches und Rechtliches werden vermischt, die Vergleichsebenen vermengt, hier wird ein Status beschrieben, dort ein Verhaltensgebot, die Abgrenzung zu nahestehenden Konzepten verschwimmt häufig. Eine Untersuchung föderativer Gleichheit setzt daher zwingend eine möglichst exakte Bestimmung ihres Gegenstandes voraus. Dieser Aufgabe sind die beiden folgenden Paragraphen gewidmet. Es schließt sich eine Darstellung der Geschichte des föderativen Gleichheitsgedankens im zweiten Kapitel an, die den Bedeutungshintergrund abrundet und bereits Hinweise auf mögliche Geltungsgründe und Konsequenzen föderativer Gleichheit für die Gegenwart gibt. Die Diskussion in der Bundesrepublik bildet den Inhalt des dritten Kapitels, das

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Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 143. Vgl. dazu Hartmut Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, Tübingen 1998, Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 25. 9 Siehe dazu im einzelnen 2. und 3. Kapitel. 8

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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einer ausführlichen Darstellung und kritischen Bewertung der Stellungnahmen aus Wissenschaft und Rechtsprechung einen eigenen Vorschlag zur Begründung und konzeptionellen Aufbereitung föderativer Gleichheit gegenüberstellt. Hierauf baut das vierte Kapitel auf, das die Konsequenzen bundesstaatlicher Gleichheit in der Gegenwart beleuchtet. Das fünfte Kapitel faßt schließlich die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes I. Föderative Gleichheit als Status 1. Bedeutungsfeld Die Staatsrechtswissenschaft versteht unter föderativer Gleichheit überwiegend ein die Gleichheit der Länder im rechtlichen Status beschreibendes Strukturelement des Bundesstaatsrechts10. Allein aus einer Betrachtung des Wortlautes erschließt sich diese Bedeutung jedoch noch nicht. Vielmehr kann der die Begriffe Föderalismus und Gleichheit kombinierende Terminus ebenso wie seine konstituierenden Elemente mit unterschiedlichem Inhalt und in unterschiedlichem Zusammenhang verwandt werden 11. Die Wortverbindung „föderative Gleichheit" vermag ein Gestaltungsprinzip auszudrücken, das nicht nur in bezug auf Staaten, sondern in allen föderalistisch verfaßten menschlichen Zusammenschlüssen, insbesondere auch in solchen nichtstaatlicher, rein gesell-

10 Hans-Peter Schneider , Die bundesstaatliche Ordnung im vereinigten Deutschland, NJW 1991, S. 2448 ff. (S. 2451:"bündische Gleichheit"); vgl. weiterhin Isensee, Föderalismus (Fn. 2), §98 Rn. 129 ff. (Rn. 129: „föderative Gleichheit"); Sachs, Stichwort „Bundesstaat", in: Sommer/von Westphalen (Hrsg.), Staatsbürgerlexikon, München 1999, S. 175 ff. (S. 176: „bundesstaatl. Gleichheit"); vgl. auch BVerfGE 1, 299 (315); 39, 96 (119); kritisch H Bauer , GG (Fn. 8), Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 25. 11 Zur Bedeutungsvielfalt von Föderalismus siehe schon Heinrich Triepel , Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, Tübingen 1907, S. 11; Siegfried Magiera , Föderalismus und Subsidiarität als Rechtsprinzipien der Europäischen Union, in: Schneider/Wessels (Hrsg.), Föderale Union - Europas Zukunft?, München 1994, S. 71 ff. (S. 73); Herzog , Stichwort „Föderalismus", in: Herzog u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Sp. 913 ff.; zum Bedeutungsfeld des deutschen Wortes „Bund" vgl. Reinhart Koselleck , Stichwort „Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat", in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 5. Aufl., Stuttgart 1997, S. 582 ff. Zur Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Gleichheitsbegriffes siehe Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 3 Rn. 2; vgl. ebenso Paul Kirchhof Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 124 Rn. 44 ff.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

schaftlicher oder wirtschaftlicher Natur, zum Einsatz kommen kann 12 . Das Gleichheitselement des Terminus ist ebenfalls per se nicht auf einen Vergleich rechtlicher Positionen reduziert; mit den Kategorien Gleichheit/Ungleichheit lassen sich ebensogut tatsächliche Aspekte jenseits der Ebene von Rechten und Pflichten verarbeiten, beispielsweise beim Vergleich wirtschaftlicher, finanzieller, sozialer oder räumlicher Gesichtspunkte13, etwa im Zusammenhang mit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse 14. Für die Begriffskomposition der föderativen Gleichheit demonstriert die Betrachtung ihrer einzelnen Komponenten, daß ohne eine Kontextanbindung ihre Abstraktionsfähigkeit mit der Bedeutungsweite der Termini Föderalismus und Gleichheit korrespondiert. Begreift man föderative Gleichheit in diesem denkbar weitesten Sinn als ein generelles Organisationsprinzip, so ließe dieses sich als eine bestimmte Struktur 15 in einer Beziehung16 beschreiben, die auf einem Verband von Gemeinschaften unter Aufrechterhaltung der individuellen Eigenart und Eigenständigkeit seiner Glieder basiert 17 und deren Charakteristikum in der Gleichheit dieser Glieder liegt.

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Zu diesem weiten Föderalismusbegriff siehe bereits das 1863 geschaffene Werk von Pierre-Joseph Proudhon, Über dasföderative Prinzip, Frankfurt am Main u.a. 1989 (deutsche Ausgabe), S. 69 ff. sowie den Gesamttitel des Werkes von Constantin Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip flir die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland kritisch nachgewiesen und konstruktiv dargestellt, Neudruck der Ausgabe Mainz 1879, Aalen 1962, sowie dort S. V ff., 422 ff. sowie 441 ff.; vgl. auch Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, TeilBd. 2, Berlin 1970, S. 623; Hans Mayer, Der Föderalismus - Ursprünge und Wandlungen, AöR 115 (1990), S. 213 ff. 13 Vgl. Stefan Huster, Rechte und Ziele, Berlin 1993, S. 23. 14 Vgl. hierzu Stefan Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl., München 2000, Art. 72 Rn. 92. 15 Zum Begriff der Struktur im ontologischen Systemverständnis als die Art, wie Teile zu einem Ganzen zusammengeordnet sind, und im Luhmannschen Sinne als die eigentümliche Art der Beziehungen einer Ordnung siehe Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1995, 4. Aufl., S. 23 f. 16 Zur Gleichheit als eine bestimmte Form der Beziehung siehe Otto Dann, Stichwort „Gleichheit", in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 4. Aufl., Stuttgart 1998, S. 997 ff. (S. 997); Konrad Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR 77 (1951/52), S. 167 ff. (S. 172) mit einem Zitat von Wilhelm Windelband, Über Gleichheit und Identität, Heidelberg 1910, S. 8; Adalbert Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, S. 31 und S. 33; Huster, Rechte und Ziele (Fn. 13), S. 29; zur Beziehung als Grundbegriff der Sozial- und Rechtswissenschaften siehe Alfred Vierkandt, Die Beziehung als Grundkategorie des sozialen Denkens, ArchRWiPhil. IX (1915/16), S. 83 ff, 214 ff; Norbert Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, Berlin 1982, S. 17 ff 17 Siehe die Definition von Föderalismus bei Hesse, Stichwort „Bundesstaat", in: Herzog u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, Sp. 317 ff. (Sp. 318).

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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Diese Definition erfährt eine Konkretisierung, wenn der Begriff der föderativen Gleichheit aus der Isolation heraus in einen politischen und juristischen Zusammenhang gestellt wird. Im Umfeld politischer Systeme verliert seine föderale Komponente ihren Bezug zu nichtstaatlichen, rein gesellschaftlichen Gebilden18, und das Gleichheitselement gewinnt im Kontext von Staatlichkeit und Normativität Form als juristischer Terminus in der Bedeutung von rechtlicher Gleichheit19. Föderative Gleichheit beschreibt daher in diesem Bereich eine durch Gleichheit der Glieder im rechtlichen Status geprägte Struktur eines auf Dauer angelegten, durch Recht gestalteten und durch einen gewissen Grad an Integration ausgezeichneten Verhältnisses20 von territorial definierten und in einem bestimmten Maße autonomen Gemeinwesen zueinander und zur institutionell organisierten Gesamtheit in einem Verbandssystem, dessen Bezugspunkt der Staat ist21.

2. Bezugssysteme Eine solche, von Föderalismus als politischem Organisationsprinzip22 ausgehende Definition eröffnet für die föderative Gleichheit ein weites Feld an Bezugssystemen. Sowohl auf völkerrechtlicher Ebene im Verhältnis zwischen souveränen Staaten als auch in der internen Organisation eines einzelnen Staates vermagföderative Gleichheit als ein die Beziehungsstruktur bestimmendes Prinzip zur Wirkung zu gelangen. Daneben kommen auch supranational organisierte Verbände mitföderalem Charakter als Bezugssystem in Betracht23.

18 Zu diesem engeren Föderalismusbegriff siehe Heinrich Oberreuter, Stichwort „Föderalismus", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl., Freiburg u.a. 1995, Sp. 632 ff. (Sp. 633); Bernd Pfeifer, Probleme des spanischen Föderalismus, Berlin 1997, S. 14 f. 19 Zur Gleichheit als rechtliches Problem siehe Walter L. Bühl/Günter Dürig, Stichwort „Gleichheit", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 2. Bd., Sp. 1065 ff. (Sp. 1068 f.). 20 Siehe die Definition für den Begriff des Rechtsverhältnisses bei Achterberg, Rechtsverhältnisordnung (Fn. 16), S. 31. Zum Verhältnis von Gleichheit und Rechtsverhältnis vgl. auch Podlech, Gehalt und Funktionen (Fn. 16), S. 37 ff. 21 Zum Staat als Bezugspunkt einesföderalistischen Systems siehe Magiera, Föderalismus (Fn. 11), S. 74. 22 Siehe Magiera, Föderalismus (Fn. 11), S. 74; vgl. auch Max Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Bd. I, Bern u.a. 1984, S. 82. 23 Zu den verschiedenen Formen föderativer Systeme siehe Magiera, Föderalismus (Fn. 11), S. 74.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

a) Das internationale föderative System des Staatenbundes Für einen föderalistisch organisierten Verband steht im zwischenstaatlichen Bereich der Staatenbund24 als ein durch Vertrag begründeter und mit eigenen Organen ausgestatteter Zusammenschluß völkerrechtsfähiger, souveräner, unabhängiger und damit in diesen Hinsichten gleicher Staaten25, deren Beziehungsgeflecht untereinander und zum Ganzen vom Völkerrecht 26 geregelt wird 27 . Daher kann zwar prinzipiell auch der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz der Staatengleichheit28 Bedeutung fur den Staatenbund erlangen, jedoch folgt aus diesem noch nicht, daß die Glieder einer Konföderation auch im Innenverhältnis in jeder Hinsicht rechtlich gleich gestellt seih müssen29. Vielmehr hängt die Struktur ihres Binnenverhältnisses von der konkreten Ausgestaltung des zwischen ihnen geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages ab, der z.B. den Staaten in bezug auf ihre interne Organisation durchaus unterschiedliche Rechtspositionen verleihen kann 30 , ohne daß der Verband seinen Charakter 24

Siehe Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 4, der im Staatenbund den Föderalismus „in reiner Form" verwirklicht sieht; so auch schon Gerhard Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1924), S. 11 ff. (S. 12); vgl. ebenfalls Heinz Laufer/ Ursula Münch, Dasföderative System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1998, S. 16 f. 25 Vgl. Wilfried Schaumann, Die Gleichheit der Staaten, Wien 1957, S. 6; vgl. auch Herbert Weinschel, The Doctrine of the Equality of States and its Recent Modifications, 45 American Journal of International Law (AJIL) (1951), S. 417 ff. (S. 417); zur Gleichheit der Staaten im Staatenbund siehe Hans Nawiasky, Stichwort „Staatenverbindungen", in: Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 2. Aufl., Berlin 1962, S. 313 ff. (S. 315); Ignaz Seidl-Hohenveldern/Gerhard Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 7. Aufl., Köln u.a. 2000, S. 9; Walter Rudolf Stichwort „Staatenbund", in: Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Lexikon des Rechts, Völkerrecht, 2. Aufl., 1992, S. 299. 26 Zur Rechtsnatur des die Beziehung im Staatenbund gestaltenden Völkerrechts siehe Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl., München 1994, S. 7 f. 27 Zur Definition des Staatenbundes siehe Rudolf Stichwort „Staatenbund" (Fn. 25), S. 299; vgl. auch schon Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Nachdruck der Ausgabe Wien 1882, Goldbach 1996, S. 172; derselbe, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der 3. Aufl. von 1914, Darmstadt 1959, S. 762 ff.; Nawiasky, Stichwort „Staatenverbindungen" (Fn. 25), S. 315. 28 Zu diesem Grundprinzip des Völkerrechts siehe Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 2 ff.; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (Fn. 26), S. 335; vgl. auch Art. 2 Abs. 1 der UN-Charta. 29 Jost Delbrück, in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, 2. Aufl., Berlin 1989, S. 234 ff.; vgl. auch schon Johann Ludwig Klüber, Europäisches Völkerrecht, Schaffhausen 1851, S. 103 ff.; Kurt Behnke, Die Gleichheit der Länder im deutschen Bundesstaatsrecht, Berlin 1926, S. 27. 30 Daß prinzipiell kein Verstoß gegen den völkerrechtlichen Gleichheitsgrundsatz vorliegt, wenn sich international gleichberechtigte Staaten in Verträgen ungleiche Rechtspositionen verleihen, konstatiert Delbrück, Völkerrecht (Fn. 29), S. 235; siehe

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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als Staatenbund einbüßt31. Die rechtliche Gliedergleichheit im Bündnis ist also kein wesenseigenes Merkmal einer Konföderation und mit dem Grundsatz der Staatengleichheit im Völkerrecht nicht identisch. Das völkerrechtliche Prinzip konstatiert im wesentlichen eine Gleichheit des internationalen Status der Souveränität und der damit verbundenen Rechtspositionen32, während das bündische Paritätskonzept eine Gleichheit im vertraglich geregelten organisationsrechtlichen Status beschreibt33. Der völkerrechtliche Grundsatz der Gleichheit entfaltet allenfalls subsidiär Wirkung 34, soweit der das Bündnis konstituierende Vertrag keine speziellen Regelungen trifft oder diese wegen Verletzung von zwingenden Normen des Völkerrechts ungültig sind35. Nur dann, wenn sich aus dem Vertrag keine abweichende Regelung ergibt, indiziert die völkerrechtliche Gleichheit der Staaten eine Gleichheit auch im Innenverhältnis36.

auch Siegfried Brie , Theorie der Staatenverbindungen, Breslau 1886, S. XLVII f., der darauf verweist, daß die Begründung einseitiger Berechtigungen und Verpflichtungen zwischen Staaten nicht zur Aufhebung ihrer personenrechtlichen Gleichheit führt; siehe dazu auch unten 4. Kapitel, § 12 III. 31 Vgl. bspw. die Stimmenverteilung in der Bundesversammlung des Deutschen Bundes von 1815 in Art. 4 und insbesondere im Plenum in Art. 6, die Regelung des ständigen Vorsitzes für Österreich in Art. 5 und die unterschiedliche Errichtungskompetenz für oberste Gerichte in Art. 12, Text in: Günther Franz , Staatsverfassungen, München u.a. 1975, S. 121 ff.; vgl. ferner die unterschiedlichen Finanzbeitragsquoten und Mitgliederbeschickungen in Institutionen der Utrechter Union von 1579 in Leo Delfos , Die Anfänge der Utrechter Union 1577-1587, Berlin 1941, S. 126, 159, 179, 212, 223, 245; zur Qualifizierung der Utrechter Union und des Deutschen Bundes als Staatenbund siehe Nawiasky , Stichwort „Staatenverbindungen (Fn. 25), S. 315 sowie einige Jahrzehnte zuvor derselbe , Stichwort „Staatenbund und Bundesstaat", in: Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, 2. Bd., Berlin 1925, S. 574 ff. (S. 574) und Brie , Staatenverbindungen (Fn. 30), S. LXXXIII. 32 Vratislav Pechota , Equality: Political Justice In an Unequal World, in: Macdonald/ Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law: Essays in Legal Philosophy, Doctrine and Theory, Dordrecht 1986, S. 453 ff. (S. 459, S. 463 f.); siehe auch unten 3. Kapitel, § 9 III. 4. und 4. Kapitel, § 12 II. 33 Zum völkerrechtlichen Gleichheitssatz, der die Freiheit der Vertragsgestaltung lediglich in Extremfällen beschränkt, vgl. Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 147: der Gleichheitssatz habe lediglich die Funktion eines „Sicherheitsventils"; vgl. dazu auch unten 4. Kapitel, § 12 III. 3. 34 Zur subsidiären Geltung des völkerrechtlichen Gleichheitssatzes Alfred Verdroß, Stichwort „Gleichberechtigung der Staaten", in: Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1924, S. 423 ff. (S. 424); vgl. auch Karl Strupp , Grundzüge des positiven Völkerrechts, 4. Aufl., Bonn 1928, S. 60 f. 35 Zur Rechtsfolge der Vertragsunwirksamkeit bei Verstoß gegen ius-cogens-Normen im Völkerrecht siehe Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., München 1999, S. 157. 36 Darüber hinaus gilt bei der Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen eine Vermutung der Gleichberechtigung, siehe Delbrück , Völkerrecht (Fn. 29), S. 235.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

b) Das supranationaleföderative System der Europäischen Union In einem föderal organisierten Staatenverbund wie der Europäischen Union37, die sich für ihr Innenverhältnis vom völkerrechtlichen Ordnungsrahmen grundsätzlich verabschiedet38 und zur Supranationalität gewandelt39, aber noch nicht zu einem Bundesstaat verdichtet hat40, verbietet sich ein uneingeschränkter, pauschaler Rückgriff auf allgemeine Prinzipien des Völkerrechts wie dem der Staatengleichheit erst recht. Ob und inwieweit staatliche Parität als Strukturmerkmal einer solchen Einrichtung gelten kann, hängt in einem supranatio-

37 Zur Bezeichnung der EU als Staatenverbund siehe die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 89, 155 (188); alsföderal organisiert bewertet sie bspw. Michael Schweitzer, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 48 ff. (S. 49); vgl. auch Peter Badura, Die „Kunst derföderalen Form" - Der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche, München 1993, S. 369 ff. (S. 381 ff.); Arnim von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, Baden-Baden 1999, S. 13 ff.; Ingolf Pernice, Harmonization of Legislation in Federal Systems: Constitutional, Federal and Subsidiarity Aspects, in: Pemice (Hrsg.), Harmonization of Legislation in Federal Systems, BadenBaden 1996, S. 9 ff. (S. 11 ff.); Manfred Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff. (S. 2851). 38 Jürgen Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 1 (33 ff.); Karl-Matthias Meessen, The Application of Rules of Public International Law within Community Law, CMLR 1976, S. 485 ff. (S. 485 f.); die Auffassung der vom Völkerrecht abgesonderten Materie des Gemeinschaftsrechts wird als herrschende Lehre bezeichnet von Albert Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl., Köln u.a. 1997, S. 80 f.; vgl. auch EuGH, Gutachten 1/91 vom 04.12.91, EuR 27 (1992), S. 163 ff. (S: 172). 39 Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 67 ff.; Helmut Lecheler, Der Rechtscharakter der »Europäischen Union«, in: J. Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, Köln u.a. 1995, S. 383 ff. (S. 387). 40 BVerfGE 89, 155 (188); Hermann-Josef Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, S. 412 ff. (S. 414 ff.); Bleckmann, Europarecht (Fn. 38), S. 76; Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., Neuwied u.a. 2002, Art. 1 EUV Rn. 19; Meinhard Hilf Europäische Union: Gefahr oder Chance fiir den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 7 ff. (S. 8f.); Josef Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: Due/Lutter/ Schwarze (Hrsg.), Festschrift fiir Ulrich Everling, Bd. I, Baden-Baden 1995, S. 567 ff. (S. 572); HP. Ipsen, Gemeinschaftsrecht (Fn. 39), S. 187 ff.; Ingolf Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 ff. (S. 454); Karl Albrecht Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: Blomeyer/Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Berlin 1995, S. 75 ff. (S. 92); Christian Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration - Maastricht ad infinitum?, DVB1. 1996, S. 1073 ff.

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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nalen Verbund ebenfalls von seinem konkreten Regelungswerk ab41. Die Europäische Union harrt diesbezüglich noch einer sorgfältigen und ausführlichen wissenschaftlichen Untersuchung, die so manchen Aspekt im Verhältnis der Mitgliedsländer, so etwa die unterschiedliche Stimmengewichtung im Rat bei Abstimmungen nach Art. 205 Abs. 2 (ex-Art. 148 Abs. 2) des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 42, unter dem Gesichtspunkt der Gliedergleichheit zu prüfen haben wird. Dies soll jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.

c) Das nationaleföderative System des Bundesstaates Auf staatlicher Ebene finden sich vor allem im Bundesstaat föderative Elemente43. Dieses aus einer Mehrheit von Gliedstaaten bestehende, zur staatlichen Einheit verschmolzene Gebilde44 wird als die typische Form eines nationalen föderativen Systems45, ja sogar als die staatsrechtliche Konkretisierung des Föderalismus bezeichnet46. Auch dem Bundesstaat ist eine ausnahmslose rechtliche Gleichheit der Gliedstaaten nicht angeboren47, wie die verfassungsrechtlich

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Vgl. Christoph Vedder in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, Gesamtstand: August 2002, Archivband II, 2. GrdLfg. Mai 1986, Art. 228 EWGV Rn. 43. 42 In der Fassung vom 02.10.1997, geändert durch den Vertrag von Nizza vom 26.02.2001, ABl. EG C 80/1 mit Wirkung vom 01.02.2003; nach Heribert Franz Köck,, Stichwort „StaatenVerbindungen", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 5. Bd., 7. Aufl., 1995, Sp. 170 ff. (Sp. 172) schließt eine Stimmengewichtung eine Gleichheit der Staaten nicht von vornherein aus. 43 Vgl. schon Triepel, Unitarismus und Föderalismus (Fn. 11), S. 11 f. 44 Siehe G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 27), S. 769. 45 Frenke/, Föderalismus und Bundesstaat (Fn. 22), Bd. I, S. 92; vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 27), S. 785 ff.; zur häufig fälschlichen Gleichsetzung von Föderalismus und Bundesstaatlichkeit siehe H. Bauer, GG (Fn. 8), Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 11; Triepel, Unitarismus und Föderalismus (Fn. 11), S. 11; ebenso H. Mayer, AöR 115(1990), S. 213 ff. (S. 214). 46 Karl Weber, Kriterien des Bundesstaates, Wien 1980, S. 28. 47 So aber offenbar Dietrich Schindler, Differenzierter Föderalismus, in: Haller u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Häfelin, Zürich 1989, S. 371 ff. (S. 371); gegen eine Herleitung der Gliedergleichheit aus dem Wesen des Bundesstaates und für eine Entscheidung nach der konkreten Verfassung Peter Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, 1992, S. 2 f., insbesondere Fn. 3; vgl. auch bereits Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1880, Hildesheim u.a. 1998, S. 248, der bei einer ungleichberechtigten Beteiligung der Einzelstaaten an der Organisation der Bundesgewalt im Norddeutschen Bund feststellt, daß man „gleichwohl nicht behaupten könne, dass hierdurch das Prinzip des Bundesstaates selbst alterirt werde; man wird darin doch nur eine in den realen Machtverhältnissen begründete Eigenthümlichkeit der äußeren Bundesorganisation erblicken dürfen, für welche es 3 Pleyer

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

verankerte Hegemonialstellung Preußens48 und die Sonderrechte einzelner Staaten, etwa Bayerns, Württembergs und Sachsens49, im Bundesstaat des Deutschen Reiches von 187150 beispielhaft vor Augen führen 51. Da jede Bundesverfassung infolge verschiedener historischer, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen eine unterschiedliche Ausformung erfährt und so ihre individuelle einzigartige Gestalt erhält 52, muß auch die Strukturfrage der föderativen Gleichheit anhand der konkreten normativen Ordnung des jeweiligen Bundesstaates entschieden werden53. Ob und inwieweit im deutschen Bundesstaat der Gegenwartföderative Gleichheit herrscht, wird also nicht durch eine abstrakte Bundesstaatslehre, sondern durch das Grundgesetz selbst beantwortet54.

überhaupt keine ausschliessliche abstrakte Norm giebt"; siehe ausfuhrlich zu dieser Problematik unten 3. Kapitel, § 9 II. 48 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., Stuttgart u.a. 1988, S. 798 ff. 49 Zu den Sonderrechten siehe E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 48), Bd. III, S. 806 ff.; Uwe Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, Hamburg u.a. 1982, S. 44. 50 Zum Bundesstaatscharakter des Deutschen Reiches von 1871 siehe Richard Thoma, Das Staatsrecht des Reiches, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., Tübingen 1930, S. 69 ff. (S. 71); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 48), Bd. III, S. 786 ff.; Kenneth C. Wheare, Federal Government, 4thed., London u.a. 1963, S. 6 und S. 28, spricht dagegen dem Kaiserreich aufgrund der Hegemonie Preußens denföderalen Charakter ab. 51 Die Geltung des Prinzips der Gleichberechtigung für die deutschen Staaten im Kaiserreich bestritt etwa mit einem Hinweis auf die Reservatrechte Gerhard Anschütz, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., S. 295 ff. (S. 300); befürwortend dagegen Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Bd., 5. Aufl., Tübingen 1911, S. 116 f.; aus der Gegenwartsliteratur siehe beispielsweise E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, Nachdruck der 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1960, Stuttgart u.a. 1990, S. 670, der keinen Widerspruch zwischen Hegemonie und Rechtsgleichheit sieht. Siehe zumföderativen Gleichheitsgedanken im Kaiserreich ausfuhrlich unten 2. Kapitel, § 7. 52 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, S. 96; derselbe, Stichwort „Bundesstaat" (Fn. 17), Sp. 318; H. Bauer, Die Bundestreue, Tübingen 1992, S. 17 f.; Herbert Bethge, Stichwort „Bundesstaat", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 2. Bd., Sp. 993 ff. (Sp. 993); Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 5; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, S. 647 f.; vgl. auch bereits Gerber, Grundzüge (Fn. 47), S. 248. 53 So auch Pernthaler, Bundesstaat (Fn. 47), S. 3. 54 Siehe dazu ausführlich unten 3. Kapitel, § 10.

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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d) Andereföderative Systeme? In Abhängigkeit von der jeweiligen Föderalismusdefinition läßt sich der Bereich der Bezugssysteme sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene für weitere Gebilde öffnen. So wird im zwischenstaatlichen Bereich zum Teil sogar jede organisierte Staaten Verbindung zu den föderalistischen Systemen gerechnet55, obwohl den klassischen Internationalen Organisationen das notwendige Maß an Integration für ein bündisches System fehlt 56, wie es den völkerrechtlichen Staatenbund und erst recht den supranationalen Staatenverbund der Gemeinschaft auszeichnet57. Auf nationaler Ebene kommen neben dem Bundesstaat auch dezentralisierte Einheitsstaaten mit föderativen Merkmalen als Bezugssysteme in Betracht58, wenn man für die Verbandsglieder definitorisch keine Staatsqualität fordert, sondern ein gewisses Maß an Eigenständigkeit genügen läßt59. Auch bei diesen föderativen Systemen im weiteren Sinne kommt es für die Frage der Gliedergleichheit auf das jeweilige sie konstituierende Normengefüge an. So ist bei den Internationalen Organisationen der schlichte Verweis auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatengleichheit ungenügend; vielmehr bedarf es einer eingehenden Analyse der jeweiligen Regelungen. Bei den Vereinten Nationen deuten etwa die Bestimmungen über die „Privilegien bestimmter Staaten"60 bei der Bestellung des Sicherheitsrates61 und beim Abstim-

55

Zum Föderalismus im weiteren und engeren Sinne im zwischenstaatlichen Bereich vgl. Magiern, Föderalismus (Fn. 11), S. 76. 56 Zum Integrationsgrad als Merkmal der mit der Föderalismusdifferenzierung korrespondierenden Unterscheidung zwischen der „Internationalen Organisation im weiteren Sinne" und der „klassischen Internationalen Organisation" vgl. Seidl-Hohenveldern/ Gerhard Loibl, Recht der Internationalen Organisationen (Fn. 25), S. 8 ff. 57 Zur Einordnung des Staatenbundes und der EU als Internationale Organisation im weiteren, nicht aber im engeren, klassischen Sinne siehe Seidl-Hohenveldern/Gerhard Loibl, Recht der Internationalen Organisationen (Fn. 25), S. 8 ff; siehe auch von Bogdandy/Martin Nettesheim, Die Verschmelzung der Europäischen Gemeinschaften in der Europäischen Union, NJW 1995, S. 2324 ff. (S. 2327). 58 Daß Föderalismus als nationales Organisationsprinzip in einem weiteren Sinne auch die Dezentralisation erfaßt, beschreibt etwa Magiera, Föderalismus (Fn. 11), S. 74 ff.; vgl. auch Weber, Kriterien (Fn. 46), S. 26 f. 59 So die weite Definition oben unter 1. Daß Föderalismus als politischer, nicht-juristischer Begriff keinen Verband von Staaten voraussetzt, sehen z.B. Hesse, Stichwort „Bundesstaat" (Fn. 17), Sp. 318, Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat (Fn. 22), Bd. I, S. 80 ff., sowie Oberreuter, Stichwort „Föderalismus" (Fn. 18), Sp. 633; anders dagegen Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 7 ff. (S. 9). 60 Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 129. 61 Siehe Art. 23 Abs. 1 Satz 2 der UN-Charta. 3*

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

mungsmodus62 in diesem wichtigen Organ63 auf eine jeweilige Gleichheit innerhalb der Gruppe der Privilegierten bzw. der Nichtprivilegierten hin, jedoch werfen sie erhebliche Zweifel an einer prinzipiellen Gleichheit der Staaten im Gesamtgefüge der Organisation auf 64. In nationalen föderativen Systemen dezentralisierter Einheitsstaaten sind die jeweiligen Verfassungen, vor allem aber die entsprechenden Autonomiegesetze heranzuziehen, die im Falle Spaniens65 - um ein europäisches Systembeispiel zu wählen66 - aufgrund des trotz beträchtlicher Harmonisierungsbemühungen in Teilen immer noch fortbestehenden starken Kompetenzgefälles zwischen den Autonomen Gemeinschaften ersten und zweiten Grades67 eine Gleichheit allenfalls innerhalb derselben Autonomiestufe, für das Gesamtsystem aber auch Elementeföderativer Ungleichheit konstituieren68. In noch stärkerem Maße finden sich Disparitäten im lediglich teil62

Siehe das Vetorecht in Art. 27 Abs. 3 der UN-Charta. Zu seiner Stellung und Funktion in den Vereinten Nationen siehe K. Ipsen, Völkerrecht (Fn. 35), S. 423 ff. 64 Eine Verabschiedung vom völkerrechtlichen Gleichheitsprinzip in der Organisation der Vereinten Nationen sehen darin unter anderen Pechota, Equality (Fn. 32), S. 467 f.; Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 130 und S. 135 und Weinschel, AJIL 45 (1951), S. 417 ff. (S. 427 f.). Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl., München u.a. 1959, S. 140 ff. konstatiert für den Völkerbund, daß die Einräumung einer Vorrangstellung für die Großmächte in den jeweiligen Organen zwar gegen das Gleichheitsprinzip verstößt, in Bezug auf die völkerrechtliche Gleichheit aber zu bedenken ist, daß im Beitritt zu der Organisation eine Zustimmung zu dieser Privilegierung zum Ausdruck kommt bzw. die Möglichkeit zum Austritt besteht. 65 Siehe die Organgesetze über die Autonomiestatuten für die betreffenden Regionen, deren Aufzählung sich etwa bei Pfeifer, Probleme des spanischen Föderalismus (Fn. 18), S. 73 ff. Fn. 48 ff. findet. Zur Wertung Spaniens alsföderatives System siehe derselbe aaO., insbesondere seine Ausführungen zur Absicherung der Eigenständigkeit der Autonomen Gemeinschaften Spaniens auf S. 77 f. und seine Gesamtbewertung auf S. 130 ff; vgl. auch José Juan Gonzales Encinar, Ein asymmetrischer Bundesstaat, in: Nohlen/Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, Opladen 1992, S. 217 ff. (S. 227 ff.). 66 Ein außereuropäisches Beispiel für ein gestuftes Autonomiesystem stellte Indien nach der Unabhängigkeit dar, vgl. Max Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Bd. II, Bern u.a. 1986, S. 21. 67 Dieses Kompetenzgefälle besteht etwa in den Bereichen der Kommunalverwaltung und des Bank- und Kreditwesens. Zudem erkennt die spanische Verfassung bestimmten Gemeinschaften traditionelle regionale Sonderrechte etwa im Familien-, Erb- und Steuerrecht zu, siehe dazu Michael Pohlmann, Die Umsetzung europäischen Rechts im spanischen Autonomienstaat am Beispiel des Umweltrechts, i.E., Manuskript, S. 22 ff. 68 Siehe Thomas Wiedmann, Die politische Erfindung des Autonomiestaates in Spanien, ZaöRV 57 (1997), S. 363 ff. (S. 375, S. 388); Pfeifer, Probleme des spanischen Föderalismus (Fn. 18), S. 83, S. 102; zur Einschätzung in der spanischen Literatur, insbesondere zur dortigen Hervorhebung der hechos diferenciales, also der der Verfassung zu entnehmenden Unterscheidungen zwischen verschiedenen Autonomen Gemeinschaften bzw. der einzelnen Gemeinschaften zugewiesenen Sonderrechte siehe Pohlmann, Autonomienstaat (Fn. 67), S. 24 f. 63

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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regionalisierten, mit asymmetrischen Autonomierechten69 versehenen neuen System der devolution im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland 70.

e) Organisationstheoretische Einordnung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Als Strukturprinzip ist die Gliedergleichheit also nicht von vornherein auf ein ganz bestimmtes Organisationssystem bündischer Art beschränkt, sondern vermag in allen denkbarenföderativen Systemen zur Wirkung zu gelangen. Der Grund liegt darin, daß föderative Gleichheit letztlich nur eine spezielle, auf bündische Systeme beschränkte Variante eines allgemeineren Organisationsstrukturphänomens darstellt: In jeder mehrgliedrigen Organisation können Glieder als Gleiche oder als Ungleiche ausgestaltet sein71. Daher stellt sich die Frage nach der rechtlichen Gleichheit der Glieder nicht nur in jeder föderalen Ordnung, sondern ebenso jenseits bündischer Systeme, so etwa innerhalb eines Staates auch für die kommunale Ebene72. Entscheidend für die Erkenntnis der Gliederberechtigung ist stets das jeweilige die Organisation konstituierende Statut in den Grenzen, die möglicherweise eine überwölbende Ordnung setzt. Die Vielfalt möglicher Wirkungsbereiche und die Abhängigkeit von der Ausgestaltung des einzelnen Systems macht eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes bei der Erforschung der föderativen Gleichheit zwingend notwendig. Die vorliegende Arbeit greift die bundesstaatliche Ordnung des

69

Siehe hierzu den Scotland Act 1998, den Government of Wales Act 1998 sowie den Northern Ireland Act 1998. 70 Zur Autonomie für Schottland und Wales vgl. Rainer Grote, Regionalautonomie für Schottland und Wales - das Vereinigte Königreich auf dem Weg zu einem föderalen Staat?, ZaöRV 58 (1998), S. 109 ff.; zur legislative devolution als weiteste Autonomiegewährung für Schottland siehe Chris M. G. Himsworth/Colin R. Munro, Devolution and the Scotland Bill, Edinburgh 1998; zur weitgehend unitarischen Struktur vor Einführung des neuen devolution-Konzepts siehe Nevil Johnson, Landesbericht Vereinigtes Königreich, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, BadenBaden 1990, S. 309 ff., insbesondere S. 317 ff. 71 Vgl. Brie, Staatenverbindungen (Fn. 30), S. XXIII; zum Gleichheitsurteil als Ergebnis eines Vergleichs bestimmter wesentlicher Merkmale siehe unten § 4 II 1. 72 Vgl. hierzu auch G. Jellinek, Staaten Verbindungen (Fn. 27), S. 303; Leibholz, Gleichheit (Fn. 64), S. 152 Fn. 1 zur Gleichberechtigung der Gemeinden und Gemeindeverbände und S. 154 Fn. 3 mit einem Verweis auf die Gleichberechtigung von Kirchenprovinzen nach der Verfassungsurkunde für die Evangelische Kirche der altpreußischen Union von 29.09.1922; zum allgemeinen interkommunalen Gleichbehandlungsgebot siehe LVNW, DÖV 1993, 1003 ff.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

Grundgesetzes heraus. Für dieses konkrete Bezugssystem soll sie klären, ob und inwieweitföderative Gleichheit seine Organisation strukturiert.

3. Abgrenzungen Der Gedanke der Gleichheit kann im Bundesstaat in vielerlei Hinsicht operationalisiert werden; der eine oder andere Gesichtspunkt der Gleichheit steht zur föderativen Gleichheit in einem derartigen Näheverhältnis, daß für beide die Gefahr der Vermischung besteht. Dies macht eine klare Abgrenzung der föderativen Gleichheit zu solch ähnlichen Paritätsaspekten notwendig; zugleich dient sie einer Klarstellung und Präzisierung des Forschungsgegenstandes.

a) Ordnungsverhältnis in der Bund-Länder-Beziehung Die Konstruktion des Bundesstaates und das Verhältnis seiner Bestandteile zueinander hat die moderne Bundesstaatstheorie seit Tocqueville beschäftigt 73. Neben der Souveränitätsproblematik steht die Frage im Vordergrund, ob die Länder dem Bund untergeordnet oder nebengeordnet sind74. Trotz gewisser Berührungspunkte ist sie nicht identisch mit dem Gegenstand der föderativen Gleichheit. Zunächst beschreibt föderative Gleichheit die Übereinstimmung des verfassungsrechtlichen Status der Länder und richtet damit ihren Fokus primär auf eine bestimmte Struktur des Verhältnisses der Gliedstaaten untereinander. Bund und Länder sind dagegen schon von Verfassungs wegen so verschieden, daß eine Gleichheit ihrer rechtlichen Positionen allenfalls in Ausnahmefällen in Betracht kommt.

73

Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Übersetzung der 12. Aufl. von 1848 aus dem Französischen von Zbinden, Stuttgart 1959, S. 186 ff.; zu den Theorien von Waitz über Nawiasky bis heute vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Barschel, Staatsqualität (Fn. 49), S. 14 ff. und die Nachweise bei Jürgen Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, Berlin 1965, S. 82 Fn. 218; siehe auch unten 2. Kapitel, § 7 II. 74 Vgl. dazu etwa Harbich, Bundesstaat (Fn. 73), S. 74 ff.; Herzog, Bundes- und Landesstaatsgewalt im demokratischen Bundesstaat, DÖV 1962, S. 81 ff. (S. 87); Walter Schmidt, Das Verhältnis von Bund und Ländern im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, AöR 87 (1962), S. 253 ff. (S. 254); Willi Geiger, Mißverständnisse um den Föderalismus, Berlin 1962, S. 14 ff.; mit dieser Problematik hat sich auch das Bundesverfassungsgericht befaßt und eine prinzipielle Überordnung des Bundes angenommen, siehe BVerfGE 1, 14 (51); 13, 54 (78); für den Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder spricht es dagegen von einer Gleichordnung, siehe BVerfGE 6, 309 (362).

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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Überdies ist föderative Gleichheit primär keine Kategorie der Ordnung im hierarchischen Sinne. Sie ist das Ergebnis eines Vergleiches der nach dem Organisationsstatut bestehenden Rechte und Pflichten verschiedener Glieder einer Organisation. Die Ordnung der Glieder beschreibt dagegen ihre Stellung in der Organisationshierarchie. Gleichgeordnete Glieder können aber durchaus unterschiedliche Rechte und Pflichten etwa aufgrund verschiedener Aufgabenbereiche besitzen; solange diese verschiedenen Rechtspositionen nicht auf das Verhältnis der Glieder zueinander bezogen sind, berühren sie nicht ihre Ordnungsbeziehung. Daher trifft föderative Gleichheit oder Ungleichheit keine zwingende Aussage über die Stellung der Glieder in der Organisation. Es kann zwar zu Überschneidungen der beiden Kategorien kommen: So fällt in einem föderalen System eine Gleichordnung der Glieder häufig mit ihrer Rechtsgleichheit jedenfalls in den wichtigsten Bereichen zusammen, weshalb gelegentlich eine terminologische Gleichsetzung beider Kategorien zu beobachten ist75. Für die Frage nach der föderativen Gleichheit als Strukturprinzip haben solche Zusammenhänge allerdings nur sehr beschränkten Erkenntniswert 76. Sie entscheidet sich nicht auf der Grundlage allgemeiner Bundesstaatstheorien, sondern allein anhand der konkreten Ausformung des deutschen Bundesstaates im Grundgesetz.

b) Pluralität oder Uniformität der gliedstaatlichen Rechtsordnungen Die Länder stehen bei der Gestaltung der ihnen vom Grundgesetz zugewiesenen Bereiche vor der Alternative, ihre Rechtsordnungen einander anzupassen oder unterschiedliche Konzepte zu verfolgen. In diesem politischen Spannungsverhältnis zwischen Rechtsvereinheitlichung und Differenzierung haben sich die Gliedstaaten in der Vergangenheit meist für die Harmonisierung entschieden: Eine starke Rechtsangleichung im Rahmen des kooperativen und unitarischen Bundesstaates hat so dazu geführt, daß die Rechtsordnungen sich in

75

Siehe Brie, Staatenverbindungen (Fn. 30), S. XXIII; zu Bries Ausführungen siehe ausführlicher unten 2. Kapitel, § 7 II. und IV.; vgl. aus der Gegenwart auch Herzog, in: Maunz/Dürig u.a., Grundgesetz, Bd. II, Losebl.-Stand: 1980, Art. 20 IV Rn. 66; H Huber, ÖZöR XVII (1968), S. 247 ff. (S. 252). 76 Allgemein zum fehlenden Erkenntniswert der Bundesstaatstheorien „zur Erfassung geistiger Wirklichkeit" und des konkreten Bundesstaatsrechts siehe bereits (den Urheber des Zitats) Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München u.a. 1928, S. 116; aus dem Schrifttum siehe etwa H. Bauer, Bundestreue (Fn. 52), S. 18 ff. und S. 220 ff.; Bethge, Die Grundrechtssicherung imföderativen Bereich, AöR 110 (1985), S. 169 ff. (S. 187); Ulrich Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, DÖV 1962, S. 641 ff. (S. 642); zur Bedeutung der Gleichordnung im Zwischenländerbereich siehe aber unten 4. Kapitel, § 12 I. und II.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

weiten Teilen nur noch marginal unterscheiden77; in anderen Bereichen dagegen herrscht gesetzgeberische Experimentierfreude, die neue Regelungsmodelle im Rahmen des kompetitiven Bundesstaates erprobt 78. In diesem Kontext kann „Gleichheit der Länder" die politische Forderung nach einer Egalisierung unterschiedlicher Länderregelungen formulieren; um eine normative Vorgabe handelt es sich nur in Ausnahmefallen, so etwa beim Homogenitätsgebots des Art. 28 GG für das Landesverfassungsrecht 79. Föderative Gleichheit betrifft einen anderen Gegenstand. Nicht die interne Rechtsordnung der Länder steht im Vergleich, sondern ihre durch das Grundgesetz determinierte Rechtsstellung, ihr bundesverfassungsrechtlicher Status. Ungleichheiten in den Rechtsordnungen der Länder haben deshalb für den verfassungsrechtlichen Begriff derföderativen Gleichheit keinen Aussagewert.

c) Rechtseinheit oder Rechtszersplitterung im Bundesrecht Bundesrecht kann im gesamten Bundesgebiet oder aber als partielles Recht nur in regional umschriebenen Teilbereichen Geltung beanspruchen80. Letzteres stellte etwa 1949/1950 das Recht der Bizone dar, das nach den Art. 124, 125 GG zwar als Bundesrecht fortgalt, allerdings in den Ländern der französi77

Allgemein zu diesen freiwilligen Unitarisierungsbemühungen Laufer/Münch, Das föderative System (Fn. 24), S. 131 ff.; Hans Peter Bull, Finanzausgleich im „Wettbewerbsstaat", DÖV 1999, S. 269 ff. (S. 270). 78 So etwa im Baurecht, siehe dazu H. Bauer/Marcus Pleyer, Europäisierung des Baurechts, in: 100 Jahre Allgemeines Baugesetz Sachsen, Stuttgart u.a. 2000, S. 603 ff. (S. 603); zum kompetitiven Bundesstaat allgemein siehe H. Bauer, GG (Fn. 8), Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 18 m.w.N.; derselbe, Zustand und Perspektive des deutschen Föderalismus aus Sicht der Wissenschaft, in: Kloepfer (Hrsg.), Umweltföderalismus, Berlin 2002, S. 31 ff. (S. 49 Fn. 99); derselbe, Entwicklungstendenzen und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 2002, S. 837 ff. (S. 842 ff.); Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: Brenner/Huber/Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes - Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura, Tübingen 2004, S. 363 ff.; H.-P. Schneider, NJW 1991, S. 2448 (S. 2450). 79 Zum „Zielföderaler Gleichheit" im Sinne einer in einheitlicher Weise erfolgenden Aufgaben Wahrnehmung der Länder vgl. Nettesheim, Wettbewerbsföderal ismus (Fn. 78), S. 373; zur „Gleichheit der Länder" aufgrund des Homogenitätsgebots siehe Theodor Maunz, Gleichheit der Gliedstaaten im Bundesstaat, in: Wilke/Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, München 1977, S. 311 ff. (S. 314 ff.); vgl. ebenso H Huber, ÖZöR XVII (1967), S. 247 ff. (S. 254); vgl. auch BVerfGE 9, 268 (279); 24, 367 (390); zur evtl. Einschränkung bundesstaatlicher Vielfalt durch den grundrechtlichen Gleichheitssatz siehe unten II. 1.; zur Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse als Grenze föderativer Vielfalt siehe sogleich unter d) sowie Korioth, Finanzausgleich (Fn. 5), S. 185. 80 Gerhard Köbler, in: Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Stichwort „Partielles Recht", Bd. 2, 3. Aufl., München 2001, S. 3181.

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

41

sehen Besatzungszone, im bayerischen Landkreis Lindau und in Berlin keine Geltung beanspruchte81. In neuerer Zeit hat partielles Bundesrecht insbesondere im Zuge der Wiedervereinigung Bedeutung gewonnen, als der Bundesgesetzgeber übergangsweise besondere Regelungen für das Beitrittsgebiet eingeführt oder den Fortbestand von DDR-Recht hingenommen hat82. Ebenso hat die Einführung der „Rückholmöglichkeit"83 bundesgesetzlich geregelter Materien in das Landesrecht in Art. 72 Abs. 3 GG Potential für solch partielles Bundesrecht geschaffen 84. Auch in diesem Kontext kann von Gleichheit oder Ungleichheit der Länder gesprochen werden, doch betrifft dieser Vergleich das einfache Bundesrecht, nicht aber die vom Grundgesetz den Ländern zugewiesenen Rechtspositionen. Föderative Gleichheit als Status bezieht sich weder auf Landesrecht noch auf einfaches Bundesrecht, sondern auf die Stellung der Länder nach dem Verfassungsrecht. Ein Zusammenhang zwischen beiden Konzepten besteht dennoch: Bei der Schaffung einheitlichen bzw. partiellen Bundesrechts muß der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Positionierung der Gliedstaaten beachten. Wenn etwa die in Hinsicht auf eine anvisierte Regelung zu beachtende Gleichheit der Länder den einfachen Bundesgesetzgeber zur Gleichbehandlung verpflichtet, muß er das Bundesrecht in diesem Punkt grundsätzlich einheitlich gestalten und darf kein partielles Recht setzen. Eine Gleichheit der Länder bezüglich der Geltung einfachen Bundesrechts ist dann das Ergebnis der Anwendung des Gleichbehandlungsgebots und damit eine Konsequenz aus derföderativen Gleichheit der Gliedstaaten. Ohne einen besonderen Rechtfertigungsgrund verstieße in diesem Fall partiell geltendes Bundesrecht gegen den Gleichheitssatz und wäre verfassungswidrig85.

81 Siehe hierzu Rupert Stettner , in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 127 Rn. 1 ff., insbesondere Rn. 4. 82 Siehe dazu Rainer Robra , Zweierlei Recht - Partikularrecht des Bundes als Mittel zur Steuerung komplexer Prozesse am Beispiel der Wiedervereinigung Deutschlands, NJW 2001,S. 633 ff. 83 Stettner , in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, Art. 72 Rn. 30. 84 Stettner , GG (Fn. 83), Art. 72 Rn. 30. 85 Siehe ausführlich zumföderativen Gleichheitssatz im Verhältnis zwischen Bund und Ländern das 4. Kapitel, § 11; vgl. auch Schindler , Differenzierter Föderalismus (Fn. 47), S. 380 f.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

d) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse „Gleichheit bei den Gliedstaaten könnte noch in einem weiteren Sinne verstanden werden, nämlich als Herstellung gleicher Lebensverhältnisse"86, wie dies die Verfassung in Art. 72 Abs. 2 GG sowie in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG wenn auch nicht exakt mit diesem Wortlaut, aber doch ähnlich formuliert. Mit diesem GleichheitsVerständnis wird jedoch ein die Lebensumstände der Menschen prägendes Konglomerat aus Tatsachen und Rechten in Bezug genommen87, während föderative Gleichheit im Sinne der vorliegenden Untersuchung allein von Verfassungsrechten und -pflichten der Länder handelt88. Ebenso verlaufen das politische Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse89 und das rechtliche Gebot der Gleichbehandlung der Länder nicht zwingend parallel: Die je nach den Umständen auf Gleich- oder Ungleichbehandlung gerichteten Gebote des föderativen Gleichheitssatzes90 ziehen vielmehr der Entscheidung über die Art und Weise der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse verfassungsrechtliche Grenzen, und innerhalb dieser Schranken können abhängig vom Ausgangsstatus entweder eine Gleich- oder Ungleichbehandlung der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse dienen91. So kann sich die Wahl einer nach Gliedstaaten differenzierenden Regelung etwa zugunsten der ostdeutschen Bundesländer zur Erreichung dieses Zweckes als der geeignetere Weg präsentieren als eine rechtliche Gleichbehandlung, die die tatsächlichen Unterschiede in den Lebensverhältnissen der Länder zementiert oder bei der einheitlichen Gewährung von Freiräumen für die Gliedstaaten sogar ausweitet. Einheit und Divergenz der Lebensumstände in der Bundesrepublik stellen sich folglich zumindest auch als Folge von Gleich- und Ungleichbehandlung der Länder dar, ohne daß sich allerdings einem Zielzustand eine bestimmte Art der Behandlung als Mittel in abstrakt-gesetzmäßiger Weise fest zuordnen ließe.

86

Maunz, Gleichheit der Gliedstaaten (Fn. 79), S. 318; vgl. auch Korioth, Finanzausgleich (Fn. 5), S. 169 ff., insbesondere S. 175. 87 Vgl. hierzu Oeter, GG (Fn. 14), Art. 72 Rn. 92. 88 Siehe die obige Definition unter I. 1. 89 Zur Disqualifizierung als Verfassungsgebot siehe ausführlich Korioth, Finanzausgleich (Fn. 5), S. 169 ff. m.w.N. 90 Zumföderativen Gleichheitssatz als Verhaltensgebot siehe ausfuhrlich unten das 4. Kapitel, § 11. 91 Zurföderativen Gleichbehandlung bei der Verfolgung des Ziels gleichwertiger Lebensverhältnisse siehe aber Korioth, Finanzausgleich (Fn. 5), S. 186; vgl. ebenso Herzog, GG (Fn. 75), Art. 20 IV Rn. 68 sowie Harald Hohmann, Der Verfassungsgrundsatz der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, DÖV 1991, S. 191 ff.

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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e) Gleichgewicht und Hegemonie im Bundesstaat Die Hegemonie Preußens im bismarckschen Kaiserreich stellt das „historische Trauma des deutschen Föderalismus"92 dar, das den Gedanken der föderativen Gleichheit, der aus diesem Kontext nicht hinweg zu denken ist, entscheidend mitgeformt hat93. Allerdings trügt der Anschein, bundesstaatliche Gleichheit sei das exakte Gegenstück zur Hegemonie. Die Vorherrschaft eines oder mehrerer Gliedstaaten wird durch weit mehr Aspekte charakterisiert als nur durch ihre verfassungsrechtliche Stellung94. Die Qualifikation eines Landes als hegemonial hängt neben rechtlichen Faktoren auch von der Anzahl und den Eigenschaften anderer Glieder ab, so etwa von deren Einwohnerzahl, Gebietsumfang, wirtschaftlichen Potential und von dem dadurch entstehenden politischen Einfluß 95. Ist ein Land in diesen Hinsichten den anderen Gliedstaaten überlegen, kommt ihm eine führende Rolle zu, so daß ein Ungleichgewicht zwischen den Gliedern entsteht. Sind die Machtpositionen zwischen den Ländern dagegen ausgeglichen, so liegt eineföderative Balance vor 96. Föderative Gleichheit reduziert den Kräftevergleich auf die verfassungsrechtliche Ebene und ist daher nur ein Teilaspekt in der Gesamtbetrachtung aller tatsächlichen und rechtlichen Faktoren, die das Machtverhältnis zwischen den Gliedern eines Bundes determinieren. Als solcher steht der Gesichtspunkt bundesstaatlicher Gleichheit mit derföderativen Balance in einem potentiellen Wirkungszusammenhang: Eine Gleichheit der verfassungsrechtlichen Positionen der Länder vermag zu einem föderativen Gleichgewicht zwischen den Gliedern beizutragen; es kann aber auch umgekehrt eine rechtliche Ungleichheit vonnöten sein, um eine faktische Übermacht in einem bestimmten Maße rechtlich auszugleichen97.

92

Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 140. Siehe dazu unten 2. Kapitel, § 7. 94 Vgl. Triepel , Die Hegemonie, 2. Aufl., Stuttgart 1943, S. 6. 95 Zur Anzahl der Glieder als ein entscheidender Faktor siehe Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 140 und H Huber , ÖZöR XVII (1968), S. 247 ff. (S. 249); zu den anderen Faktoren vgl. E. R. Huber , Verfassungsgeschichte (Fn. 51), Bd. I, S. 670. 96 Zurföderativen Balance siehe Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 140; Christoph Vondenhoff, Grundgesetzliche Begründung und Voraussetzung eines gleichgewichtigen Föderalismus, DÖV 2000, S. 949 ff.; vgl. auch H Huber , ÖZöR XVII (1968), S. 247 ff. (S. 249); Philip Kunig , in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl., München 2001, Art. 29 Rn. 16; Maunz, Gleichheit der Gliedstaaten (Fn. 79), S. 313 f. sowie Maunz/Reinhold Zippelius (Hrsg.), Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl., München 1998, S. 116 f. 97 Unter Umständen stellen sich die tatsächlichen Faktoren aber als so stark dar, daß ein Drehen an der Schraube der föderativen Gleichheit allein keinen Ausgleich der Kräf93

44

1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

II. Föderative Gleichheit als Verhaltensgebot Der Begriff der Rechtsgleichheit findet nicht nur zur Beschreibung des Ergebnisses eines Vergleichs von bestehenden Rechtspositionen Verwendung, sondern er wird häufig auch mit dem Verhaltensgebot gleichgesetzt, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches entsprechend seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln98. Wenn man den Begriff der Gleichheit auch im Sinne dieses Gleichheitssatzes verstehen kann99, dann läßt sich auch der Terminus der föderativen Gleichheit nicht nur als Beschreibung eines Strukturprinzips, sondern ebenso als Formulierung eines Rechtssatzes interpretieren, der die Forderung nach Gleich- bzw. Ungleichbehandlung beinhaltet100. Wer allerdings Berechtigter dieses föderativen Gleichheitssatzes ist, läßt der Begriff allein noch nicht erkennen.

Intraföderale

1. Grundrechtlicher Gleichheitsschutz: Gleichbehandlung des Individuums im Bundesstaat

Zum einen läßt sich bundesstaatliche Gleichheit als ein auf intraföderale Gleichbehandlung zielendes Recht des Individuums verstehen. Diese Thematik hat bereits vielfach Erörterung gefunden 101: Im Ergebnis „bricht" 102 sich der allte herstellen kann; zur Förderung der Balance durchföderative Gleichheit siehe etwa Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 140. 98 Vgl. etwa Lothar Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, Berlin 1997, S. 223 ff.; vgl. weiterhin beispielhaft die Formulierungen bei Leibholz, Gleichheit (Fn. 64), S. 87; P. Kirchhof Gleichheitssatz (Fn. 11), § 124 Rn. 89; Michael Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, Berlin 1980, S. 11 ff.; Paul Meyer, Das Prinzip der Rechtsgleichheit in historischer und dogmatischer Betrachtung, Langensalza 1923, S. 58 ff; Stefan Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz - Vorschlag fur eine dogmatische Weiterentwicklung, DVB1. 2003, S. 488 ff. (S. 488 f.); Georg Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 ff. (S. 43 ff.). 99 Kritisch hierzu und ausführlich zum Begriff der Gleichheit siehe sogleich unten §411. 100 Auch die Völkerrechtslehre kennt diesen Unterschied zwischen Staatengleichheit als Status („State equality") und Gleichheitssatz („principle of non-discrimination"), siehe dazu Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, 9th ed., Vol. I, Introduction and Part 1, Harlow 1992, S. 376. 101 Siehe Armin Dittmann, Gleichheitssatz und Gesetzesvollzug im Bundesstaat, in: Maurer u.a. (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz, Festschrift für Günter Dürig, München 1990, S. 221 ff.; Nicole Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, Berlin 2001, S. 13 ff; Jörg Lücke, Bundesfreundliches und Bürgerfreundliches Verhalten, Der Staat 17 (1978), S. 341 ff. (S. 347 ff.); Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, Tübingen 1998, S. 427 ff; siehe auch Heun, GG (Fn. 11), Art. 3 Rn. 41 m.w.N.; Stettner, GG (Fn. 83), Art. 72 Rn. 19. 102 Bethge, AöR 110 (1985), S. 169 ff. (S. 201).

§ 3 Bestimmung des Forschungsgegenstandes

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gemeine Gleichheitssatz regelmäßig103 an der verfassungsrechtlich geforderten Eigenständigkeit der Länder und ihren Befugnissen zur unterschiedlichen Ausgestaltung ihrer Kompetenzmaterien; mit der prinzipiellen Auflösung der Spannungslage zwischen Bundesstaatlichkeit und Gleichheitssatz zugunsten des ersteren wird die Möglichkeit einer Ungleichbehandlung der Bürger verschiedener Länder systemimmanent garantiert und damit der Nährboden für einen kompetitiven Föderalismus104 unter dem Grundgesetz gelegt. Auch das „Gebot der bundesstaatlichen Gleichheit"105 in Art. 33 Abs. 1 GG verbietet nur die Differenzierung nach der Landeszugehörigkeit hinsichtlich des Bestandes und der Reichweite der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in den Ländern, garantiert indessen nicht eine bundeseinheitlich egalitäre Ausgestaltung dieser Rechte in allen Ländern 106. 2. Gleichheit im Staatsorganisationsrecht: Die Länder als Berechtigte des föderativen Gleichheitssatzes Ein weiteres Betätigungsfeld findet der Gleichheitssatz im Staatsorganisationsrecht. Dort kann er sich ebenfalls auf natürliche Personen beziehen, etwa in seiner Ausprägung als demokratischer Gleichheitssatz107. Er kommt aber auch im Verhältnis juristischer Personen des öffentlichen Rechts untereinander in Betracht108. Einen Unterfall hiervon bildet der föderative Gleichheitssatz109, wenn dieser die Beziehung des Bundes zu den Ländern und den Zwischenlän-

103

Zu Ausnahmen siehe BVerfGE 33, 303 (352). Zum kompetitiven Bundesstaat siehe bereits oben I. 3. b) insbesondere die Nachweise in Fn. 78. 105 Maunz > Die staatsbürgerliche Gleichheit, in: Conrad u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift Hans Peters, Heidelberg u.a. 1967, S. 558 ff. (S. 558); die gleiche Terminologie verwendet Hans-Ullrich Gallwas , Zur Aktualität des Prinzips bundesstaatlicher Gleichheit, in: Badura u.a. (Hrsg.), Festgabe für Theodor Maunz, München 1971, S. 103 ff; vgl. auch Friedrich Schoch, Der Gleichheitssatz, DVB1. 1988, S. 863 ff. (S. 871). 106 Bethge, AöR 110 (1985), S. 169 ff. (S. 200); Gertrude Lübbe-Wolff in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, Art. 33 Rn. 26 m.w.N. 10 ^ Vgl. Matthias Jestaedt , Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, Berlin 1993, S. 174 ff.; allgemein zur naturrechtlich-demokratischen Idee völlig gleichwertiger Individuen siehe bereits G. Jellinek , Das Recht der Minoritäten, Nachdr. der Ausg. Wien 1898, Goldbach 1996, S. 27 (S. 31*). 108 Siehe nur BVerfGE 21, 362 (372); 23, 12 (24); 25, 198 (205); 26, 228 (244); 38, 225 (228); 41, 1 (13); 49, 168(184). 109 Siehe dazu nur Isensee, Föderalismus (Fn. 2), § 98 Rn. 129 ff.; Christoph Degenhart , Staatsrecht I, 18. Aufl., Heidelberg 2002, S. 83; Korioth , Finanzausgleich (Fn. 5), S. 116; Bodo Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6 Aufl., München 2002, Art. 107 Rn. 11; Sachs, GG (Fn. 4), Art. 20 Rn. 73. 104

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

derbereich als Ausschnitt herausgreift und in diesem Zusammenhang die Pflicht begründet, die Länder gleich zu behandeln, wenn sie sich denn als Gleiche darstellen, bzw. mit ihnen im Falle ihrer Ungleichheit entsprechend ihrer Verschiedenheit ungleich zu verfahren 110.

3. Eingrenzung Die vorliegende Arbeit stellt den Gleichheitssatz allein in den staatsorganisationsrechtlichen Kontext der Bund-Länder- und der Zwischenländer-Beziehung. Die Thematik der intraföderalen Gleichbehandlung der Menschen im Bundesstaat bleibt dagegen im folgenden ausgeblendet. Die vorliegende Arbeit reduziert ihren Fokus damit nicht auf eine Untersuchung föderativer Gleichheit als besonderem Strukturelement des deutschen Bundesstaates, sondern stellt aufgrund des engen sachlichen Zusammenhangs zwischen verfassungsrechtlichem Status der Länder und einer entsprechenden auf Gleich- bzw. Ungleichbehandlung gerichteten Verhaltenspflicht 111 auch die Frage nach Geltung und Inhalt eines föderativen Gleichheitssatzes. Gleichheit und Gleichheitssatz, Strukturprinzip und Verhaltensgebot sind daher die zentralen Gegenstände der weiteren Überlegungen.

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit Über Gleichheit wird seit Jahrtausenden nachgedacht112. Selbst zu den Gleichheitsrechten unter dem Grundgesetz existiert bereits ein unübersehbares Schrifttum 113. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht freilich der individualrechtliche Gleichheitssatz. Von diesem ist der Untersuchungsgegenstand der föderativen Gleichheit zu unterscheiden114; deshalb geht

110

Siehe dazu unten das 4. Kapitel, § 11 und § 12. Siehe unten § 4 II. und ausfuhrlich das 4. Kapitel. 112 Siehe bereits Piaton, Gesetze, deutsche Übersetzung von Schöpsdau, hrsg. von Eigler, 2. Aufl., Darmstadt 1990, VI, 757 (S. 357 ff.) und Aristoteles, Politik, deutsche Übersetzung von Schwarz (Hrsg.), Stuttgart 1989, III. c. 9, c. 12, V. c. 1 (S. 171 f., 180 f., 245) und Aristoteles, Nikomachische Ethik, deutsche Übersetzung von Franz Dirlmeier, hrsg. von Grumach, Berlin 1956, V. c. 6 (S. 101). 113 Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S.7 ff. (S. 8); vgl. auch die Darstellung desselben in: Rechtsphilosophie, 3. Aufl., München 1994, S. 107 ff; Manfred Gubelt, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 3Rn. 15. 114 Siehe die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes oben in § 3. 111

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit

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die vorliegende Arbeit auf das Gleichheitsgrundrecht im einzelnen nicht näher ein. Zwischen grundrechtlicher und föderativer Gleichheit bestehen aber auch vielerlei Berührungspunkte, da ihnen ein gemeinsamer Gleichheitsgedanke zugrunde liegt. Zu diesem übergreifenden allgemeinen Gleichheitskonzept und seiner Konkretisierung als föderative Gleichheit bedarf es einiger Anmerkungen, um für die folgende Untersuchung wichtige Zusammenhänge darzustellen, die Bedeutung einiger zentraler Begrifflichkeiten zu klären und diese als Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen festzulegen.

I. Die Vieldeutigkeit des Gleichheitsbegriffs Der Begriff der Gleichheit besitzt eine verwirrende Vieldeutigkeit115: Beschreibt er zum einen auf der Tatbestandsseite des Gleichheitssatzes eine Voraussetzung des Gleichbehandlungsgebots116, so vermag er zum anderen das Ergebnis und Ziel dieser Gleichbehandlung bezeichnen117, oder er steht gar als Synonym für den Gleichheitssatz selbst118. Mal soll Gleichheit als absolute die Übereinstimmung der Eigenschaften zweier Dinge bedeuten, dann wieder als relative das Gegenteil betreffen 119, nämlich eine Ungleichheit der verglichenen Gegenstände bezüglich eines relevanten Aspekts; gleich ist dann für beide Objekte nur noch ein bestimmtes Beziehungsverhältnis, das sich zwischen diesem Merkmal und einem weiteren Kriterium herstellen läßt120. Schließlich mangelt es bei Feststellungen zur Gleichheit oder Ungleichheit zweier Dinge häufig an der Nennung des Vergleichspunktes. Die subjektive Wertung des Betrachters, welcher Aspekt der Gegenstände für sein Vergleichsergebnis ausschlaggebend war, bleibt dann unbekannt; ohne Kenntnis dieses tertium comparationis ist ein

115 Vgl. Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 167 ff. (174); vgl. auch Heun, GG (Fn. 11), Art. 3 Rn. 2; siehe auch bereits Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 121. 116 So etwa in der geläufigen Formel des BVerfG, wesentliches Gleiches solle gleich behandelt werden, siehe etwa BVerfGE 3, 58 (135 f.); 42, 64 (72); 71, 255 (271). 117 Michael, Gleichheitssatz (Fn. 98), S. 225. 118 Siehe die Nachweise in Fn. 98. 119 Vgl. Werner Böckenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters, Berlin 1957, S. 34 f. zu eben dieser Vieldeutigkeit des Begriffs „gleich" in Art. 3 Abs. 1 GG; Maunz, Gleichheit der Gliedstaaten (Fn. 79), S. 311: „Überdies schwankt die Vorstellung mitunter zwischen einer unterschiedlosen (egalitären) und einer abgestuften (proportionalen) Gleichheit"; vgl. ebenfalls Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 115), S. 121; näher zur sogenannten absoluten und relativen Gleichheit sogleich unten II. 1. b) und c). 120 Hans Ulrich Scupin, Deutscher Bundesstaat und Gleichheitssatz, in: Wegener (Hrsg.), Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann, Bd. II, Aalen 1959, S. 579 ff. (S. 582 ff.).

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

Gleichheitsurteil aber selten verständlich und offen für beliebige Interpretationen121. Wenn der Begriff der Gleichheit verwendet wird, ohne daß seine konkrete Bedeutung eine Erläuterung erfährt, und sich diese auch nicht durch den Kontext erhellt, sind Mißverständnisse vorprogrammiert, die einer wissenschaftlichen Verständigung im Wege stehen122. So konstatiert Baker schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts: „The defmition of what is meant by the doctrine of legal equality is vital, if any clear thinking on the subject is to be done"123. Aus diesem Grunde gilt es, um mit den treffenden Worten von Mainzer aus seiner Monographie über die Gleichheit vor dem Gesetz zu sprechen, den „allgemeinen Begriffsnebel, dem zwar kein Einzelner gewachsen ist, den aber doch jeder an der Stelle bekämpfen muß, an der er sehen will", aufzulösen, denn „in Fragen der Forschung, unter dem Zweck der Erkenntnis, gibt es nur eine Sittlichkeit: Was man für wahr hält, so klar wie möglich sagen"124. Wegen der „wesentlichein] Abhängigkeit aller Aussagen über die Gleichheit von der Begriffsbildung"125 sollen daher die folgenden Ausführungen fixieren, welche Bedeutung einigen zentralen Begriffen in dieser Arbeit zukommt, sofern sie nicht erkennbar die Äußerung eines anderen Autors darstellen.

121 Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 167 ff. (174); vgl. auch H P. Ipsen, Gleichheit, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954, S. 111 ff. (S. 178); Stettner, Der Gleichheitssatz, BayVBl. 1988, S. 545 ff. (S. 545). 122 Siehe etwa die Verwirrung um den Begriff derföderativen Gleichheit in der Kaiserzeit unten im 2. Kapitel, § 7; zur gleichen Problematik bei der Staatengleichheit im Völkerrecht siehe Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 2, der deshalb in seiner Einleitung „Rechenschaft darüber ablegen [will], in wie verschiedener Weise der Begriff der 'Gleichheit der Staaten' in der Literatur verwendet wird. Nicht alle Autoren sind sich bewußt, daß ihre entgegengesetzten Ansichten nicht zuletzt auf eine verschiedene Auffassung des Grundsatzes der Gleichheit zurückgehen" (Klammerzusatz hinzugefügt); siehe ebenso P. J. Baker, The Doctrine of Legal Equality of States, The British Yearbook of International Law 4 (1923/24), S. 1 ff. (S. 2): „For authors on international law have, generally speaking, used the phrase with the greatest laxity. They have, indeed, troubled so little to inquire what they meant by it that almost all of them have fallen into an elementary confusion". 123 Baker, The British Yearbook of International Law 4 (1923/24), S. 1 ff. (S. 2). 124 Zitate aus dem Vorwort von Otto Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1929, Goldbach 1996. 125 Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 7.

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit

49

II. Definitionen 7. Gleichheit

a) Begriffsbestimmung und Abgrenzung zur Identität Als Ergebnis eines Vergleiches beschreibt Gleichheit die Übereinstimmung einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einer bestimmten Hinsicht bei Verschiedenheit in mindestens einem anderen Gesichtspunkt, während Ungleichheit dementsprechend die fehlende Kongruenz in einem bestimmten Merkmal bezeichnet126. Ein umfassender Vergleich verschiedener Dinge unter allen denkbaren Aspekten bringt also stets Gleichheiten und Ungleichheiten hervor 127; „vollständige Gleichheit" zweier Objekte in jeder Hinsicht „schlägt in Identität um" 128 und ist für einen Vergleich verschiedener Gegenstände folglich logisch ausgeschlossen129. Gleichheit ist also niemals eine allgemeine, sondern immer eine partielle Aussage über die verglichenen Objekte; sie bezieht sich stets auf einen Ausschnitt an bestimmten Merkmalen 130.

126

Vgl. Dann, Stichwort „Gleichheit" (Fn. 16), S. 997; vgl. ebenso Schock, DVB1. 1988, S. 863 (S. 873). 127 Marcus George Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt am Main 1975, S. 41. 128 Scupin, Deutscher Bundesstaat (Fn. 120), S. 583. 129 Albert Menne, Identity, Equality, Similarity - A Logico-Philosophical Investigation, ratio 4 (1962), S. 50 ff. (S. 51 ff.); Dann, Stichwort „Gleichheit" (Fn. 16), S. 997 f.; derselbe, Gleichheit und Gleichberechtigung, Berlin 1980, S. 18. Selbst wenn man reine Gedankenkonstrukte vergleicht oder bei Objekten der Wahrnehmung die Abgrenzung des Dinges an sich von seiner Außenwelt so vornimmt, daß seine Lage in Raum und Zeit nicht als zu ihm gehörig, sondern als äußere Bedingung verstanden wird (vgl. hierzu die bei Menne aaO., S. 53 Fn. 4 dargestellte Differenz zwischen Kant und Leibniz), kann es „vollständige Gleichheit" zweier Dinge ohne ihre Identität nicht geben, denn es bleibt letztlich stets die Verschiedenheit der Dinge als solche bestehen, wenn auch Gleichheit in allen übrigen Merkmalen vorliegen mag. Diese Verschiedenheit macht ihre Ungleichheit in dieser Hinsicht, das heißt bezüglich ihrer „Individualität" aus; vgl. auch Windelband, Gleichheit und Identität (Fn. 16), S. 8, der darauf verweist, „daß das Gleichheitsurteil nur über solche Inhalte gefällt werden kann, die voneinander unterschieden werden. Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht"; siehe auch Bernard Bolzano, Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie, S. 44, der schreibt: „Die Verschiedenheit teile ich in die zwei kontradiktorischen Spezies: Gleichheit und Ungleichheit. Somit setzt Gleichheit die Verschiedenheit voraus", zitiert bei Windelband aaO., S. 8 Fn. 22; siehe schließlich auch Radbruch , Rechtsphilosophie (Fn. 115), S. 122 und 166, der feststellt: „Gleichheit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte". 130 Dann, Stichwort „Gleichheit" (Fn. 16), S. 997. 4 Pleyer

1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

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b) Absolute Gleichheit Da absolute Gleichheit im Sinne vollständiger Gleichheit zweier Objekte angesichts des Unterschiedes zwischen Identität und Gleichheit131 eine widersprüchliche Aussage132 ist, kann die Behauptung, zwei Dinge seien absolut gleich, nur so verstanden werden, daß bestimmten übereinstimmenden Qualitäten im Rahmen des Vergleiches alleinige Bedeutung zukommen soll und ihre Unterschiede aus Sicht des Urteilenden irrelevant sind133. Letztlich unterscheidet sich diese Aussage dann aber nicht von dem ebenso ungenauen Urteil, die zwei Gegenstände seien schlicht gleich. Hinter beiden Aussagen steht die Übereinstimmung der beiden Dinge in einer oder mehreren Eigenschaften, die vom Betrachter als so wesentlich erachtet werden, daß er das Vergleichsergebnis darauf reduziert. Der Begriff der absoluten Gleichheit ist folglich entweder ein Paradoxon oder aber überflüssig.

c) Relative Gleichheit Die Gleichheit zweier Dinge ist stets relativ, denn die Aussage der Gleichheit bezieht sich lediglich auf die Übereinstimmung des Verglichenen in einer bestimmten Hinsicht134. Insoweit ist der Begriff der relativen Gleichheit ein Pleonasmus. Relative, proportionale oder auch geometrische Gleichheit kann aber auch das Ergebnis der Bewertung eines bestimmten Gesichtspunktes verschiedener Gegenstände nach einem einheitlichen Maßstab bezeichnen. Dieser nimmt auf ein relevantes Merkmal Bezug, in dem sich die Gegenstände unterscheiden135, z.B. die Einnahmen eines Landes, und setzt dieses ins Verhältnis zu dem maßstabsbildenden Kriterium, wie etwa der Einwohnerzahl. Bei der sogenannten relativen Gleichheit stellt sich dann lediglich das Beziehungsverhältnis zwi-

131

Siehe oben 1. a). Dann, Stichwort „Gleichheit" (Fn. 16), S. 997; derselbe, Gleichheit und Gleichberechtigung (Fn. 129), S. 18: „Es kann also vom Begriff und seinem Gehalt her keine 'völlige Gleichheit' geben. Die Rede davon wäre in sich widersprüchlich; 'völlige Gleichheit' würde nicht mehr Gleichheit, sondern Identität bedeuten. Gleichheit kann auch nie 'absolut' sein; denn sie ist eine Gleichheit von Verschiedenem. Sie bleibt konstitutiv bezogen auf die Ungleichheit des Verschiedenen"; siehe auch Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 167 ff. (S. 173). 133 Hesse, AÖR 77 (1951/52), S. 167 ff. (S. 174); Scupin, Deutscher Bundesstaat (Fn. 120), S. 583. 134 Siehe Christoph Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 ff. (S. 2505); vgl. auch P. Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 11), § 124 Rn. 90. 135 Vgl. Scupin, Deutscher Bundesstaat (Fn. 120), S. 583. 132

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit

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sehen diesem Merkmal und dem maßstabsbildenden Kriterium für beide Objekte als gleich dar 136, doch die maßgeblichen Eigenschaften der verglichenen Objekte, wie beispielsweise die Einnahmen der Gliedstaaten, sind gerade nicht gleich, sondern unterschiedlich hoch137. Begreift man das Beziehungsverhältnis selbst als autonome Größe und als ein den Gegenstand beschreibendes Merkmal, also etwa den Quotienten aus Einnahmen und Einwohnerzahl als Finanzkraft eines Landes, so kann dieses zwischen den Gliedstaaten in der Tat gleich sein. Doch die Einnahmen isoliert als relativ gleich zu bezeichnen, ohne damit die ohnehin stets vorhandene Relativität von Gleichheit im Sinn zu haben138, ist dagegen eine unpräzise Verwendung des Begriffs der Gleichheit: Die Einnahmen sind gerade nicht gleich, sondern allenfalls die Finanzkraft als Verhältnisgröße aus Einnahmen und Einwohnerzahl ist in den Ländern jeweils gleich. Das verdeutlicht zugleich die Abhängigkeit des Begriffs der Gleichheit vom jeweiligen Ausschnitt der Betrachtung. Reserviert man die Begriffe Gleichheit und Ungleichheit für das, was sie an sich bedeuten, nämlich auf eine Aussage über die Übereinstimmung zweier Dinge in einer bestimmten Hinsicht, dann sollte der Terminus der relativen Gleichheit vermieden werden. Im Falle der Verteilung von Rechtspositionen läßt er sich in Anlehnung an den Vorschlag Erwin Jacobis139 durch verhältnismäßige oder proportionale Berechtigung als eine spezielle Form der rechtlichen Ungleichheit ersetzen. Wenn beispielsweise das Aufkommen einer Steuer auf alle Länder nach Maßgabe der Einwohnerzahl verteilt wird 140 und als Rechtsfolge das monetäre Distributionsergebnis in den Blick genommen wird, dann sind die Gliedstaaten nicht gleichberechtigt, auch nicht relativ gleichberechtigt, sondern proportional berechtigt. Die Begriffe der relativen und absoluten Gleichheit kennzeichnen dagegen einen häufig anzutreffenden ungenauen Umgang mit dem Begriff der Gleichheit, insbesondere wenn kein Vergleichspunkt genannt wird. Wer zunächst pauschal eine Gleichheit der Bundesländer behauptet und darauf gründend ihre Gleichbehandlung verlangt, gerät in einen Konflikt, wenn sich Ungleichheiten zwischen den Ländern aufdrängen und letztendlich sogar zu einer Ungleichbe136

Siehe bereits oben I. Vgl. Rainer Nickel , Gleichheit und Differenz in der vielfältigen Republik, BadenBaden 1999, S. 35 zum entsprechenden Begriff der proportionalen oder geometrischen Gleichheit. 138 Siehe oben. 139 Erwin Jacobi, Der Rechtsbestand der Deutschen Bundesstaaten, Leipzig 1917, S. 28; siehe hierzu auch unten 2. Kapitel, § 7 I. 2. 140 Vgl. Art. 107 Abs. 1 Satz 4, 1. Halbsatz GG. 137

4*

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

Handlung etwa bei Verteilungen von Lasten zwingen. In solchen Fällen greift man gerne zum Begriff der relativen Gleichheit, um die zuerst aufgestellte These von der Gleichheit aufrecht erhalten zu können. So formuliert Hans Huber für die Kaiserzeit sehr treffend: „Ideologisch half man sich so, daß man die verfassungsrechtlichen Ungleichheiten als proportionale oder geometrische Gleichheit hinstellte, nämlich als Gleichheit je nach Größe und Leistungsfähigkeit der Länder" 141.

d) Der verfassungsrechtliche Status der Länder als tertium comparationis In seinen logischen Untersuchungen konstatiert Edmund Husserl: „Wir können zwei Dinge nicht als gleiche bezeichnen, ohne die Hinsicht anzugeben, in der sie gleich sind"142. Aus diesem Grunde muß auch eine Untersuchung föderativer Gleichheit einen tertium comparationis bestimmen. Wenn in der vorliegenden Arbeit von der Gleichheit der Länder die Rede ist, ohne daß ausdrücklich ein bestimmtes Merkmal in Bezug genommen wird, dann ist der maßgebliche Vergleichspunkt der bundesverfassungsrechtliche Status der Länder. Dieser Status umfaßt alle verfassungsrechtlichen Positionen der Länder, insbesondere alle Rechte und Pflichten, die das Grundgesetz den Ländern zuweist.

2. Gleichheitssatz und Willkürverbot a) Inhalt und Abgrenzung zur Gleichheit Die vorliegende Untersuchung unterscheidet terminologisch wie inhaltlich zwischen Gleichheit und Gleichheitssatz143. Während Gleichheit eine Feststellung trifft, nämlich zum Ergebnis eines Vergleiches mehrerer Gegenstände in einer bestimmten Hinsicht144, beschreibt der allgemeine Gleichheitssatz ein rechtliches Verhaltensgebot, das verlangt, wesentlich Gleiches gleich und we-

141

H. Huber, ÖZöR XVII (1967), S. 247 ff. (S. 250). Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Bd., I. Teil, 6. Aufl., unveränderter Nachdruck der 2., umgearbeiteten Aufl. 1913, Tübingen 1980, S. 112. 143 Für diese Differenzierung vgl. nur Bernd Kowalsky, Die Rechtsgrundlagen der Bundestreue, München 1970, S. 211; Schaumann, Gleichheit der Staaten (Fn. 25), S. 6 (dort zwischen „Gleichheit" und „Gleichbehandlung"); aus dem völkerrechtlichen Schrifttum siehe Jennings/Watts, International Law (Fn. 100), S. 376, die für die Gleichheit im Völkerrecht zwischen „State equality" und „the principle of non-discrimination" differenzieren; aus dem zivilrechtlichen Schrifttum siehe etwa Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., Köln u.a. 2002, S. 462 f. und 1038. 144 Siehe oben 1. a). 142

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit

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sentlich Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln145. Da ein Verstoß gegen diese Handlungsanweisung als willkürlich zu werten ist, entspricht der Gleichheitssatz mit diesem Inhalt dem sogenannten Willkürverbot bei der Behandlung von Vergleichspaaren 146. Gleichheitssatz und Willkürverbot sind zwar nicht exakt deckungsgleich, da letzteres auch jenseits von Vergleichen zur Anwendung gelangen kann 147 ; doch im komparativen Kontext des Untersuchungsgegenstandes werden die beiden Begriffe austauschbar148. Sofern nicht die Ansichten anderer Autoren darzustellen sind, soll die Bedeutung dieses Begriffs daher in der folgenden Untersuchung der Grundaussage des Gleichheitssatzes entsprechen. Für seineföderative Variante erfahrt der Gleichheitssatz im weiteren Verlauf noch nähere inhaltliche Konkretisierungen 149.

145 Diese Grundstruktur weist der Gleichheitssatz bereits in Ansätzen seit Piaton, Gesetze (Fn. 112), VI, 757 (S. 357 ff.) und Aristoteles, Politik (Fn. 112), III. c. 9, c. 12, V.c. 1 (S. 171 f., 180 f., 245) und derselbe, Nikomachische Ethik (Fn. 112), V. c. 6 (S. 101) auf, findet sich in ähnlicher Weise bereits in der Arbeitsfassung des Parlamentarischen Rates fiir das GG, siehe Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR 1 (1951), S. 68, 71 f.; sodann in der Rechtsprechung des BVerfG, siehe etwa BVerfGE 1, 14 (52); 3, 58 (135 f.); 42, 64 (72); 71, 255 (271); 78, 249 (287); schließlich auch in der Rechtsprechung anderer oberer Bundesgerichte, siehe etwa BGHZ 11, Anh. 34 (35); BSGE 4, 96 (101); 6, 213 (229); BFH NJW 1960, 71 sowie des EuGH, siehe Uwe Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, S. 1 ff. (S. 4) mit Rechtsprechungsnachweisen in Fn. 47; und aus dem Schrifttum siehe etwa Hesse, Grundzüge (Fn. 52), S. 189; Stettner, BayVBl. 1988, S. 545 ff. (S. 547); angesichts der Unmöglichkeit von absoluter Gleichheit (siehe dazu sogleich) wandelt sich die Formel von „Gleichem" zu „wesentlich Gleichem" bzw. von „Ungleichem" zu „wesentlich Ungleichem", siehe Schock, DVB1. 1988, S. 863 (S. 874). Diese Grundstruktur des Gleichheitssatzes dürfte, soweit ersichtlich, nicht umstritten sein, so Gerhard Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 ff. (S. 749); auch im anglo-amerikanischen Rechtsraum kennt man diesen Gleichheitssatz, siehe etwa Herbert Lionel Adolphus Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 155: „Treat like cases alike and different cases differently"; Georg Paul Hefty, Guantanamesisches Gewohnheitsrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.05.2003, Nr. 116/21 D, S. 1 bezeichnet den Gleichheitssatz mit diesem Inhalt sogar als „weltweit anerkannten Grundsatz". 146 BVerfGE 21, 362 (372); 25, 198 (205); vgl. dazu Herzog, GG (Fn. 3), Art. 3 Anhang Rn. 37; Rainald Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz - Ein Neuansatz?, NVwZ 1988, S. 14 ff. (S. 19); Möckel, DVB1. 2003, S. 488 ff. (S. 489 f.); Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, Baden-Baden 1980, S. 41; siehe insbesondere Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 369, der darauf verweist, daß die Sätze „Wesentlich Gleiches darf nicht ungleich behandelt werden" und „Willkürliche Ungleichbehandlungen sind verboten" inhaltlich übereinstimmen; kritisch hierzu aber z.B. G. Müller, VVDStRL 47 (1989), S. 37 ff. (S. 43 ff.). 147 Vgl. W Geiger, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, Baden-Baden 1982, S. 100 ff. (S. 101). 148 Siehe die Nachweise in Fn. 146. 149 Siehe dazu unten 4. Kapitel, § 11 II., § 12 III.

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

b) Gleichheit und Gleichbehandlung im Funktionengefüge des Gleichheitssatzes Zwei Gegenstände oder Sachverhalte lassen sich vor und nach der Anwendung des Gleichheitssatzes vergleichen. So kann man das Ergebnis einer Gleich- oder Ungleichbehandlung zweier Dinge 150 als Gleichheit bzw. Ungleichheit in der rechtlichen Behandlung bezeichnen; Gleichheit oder Ungleichheit vermögen aber auch Übereinstimmungen bzw. Verschiedenheiten der Gegenstände im Ausgangsstadium vor der ins Auge gefaßten Behandlung durch die Rechtsordnung zu beschreiben. Nach der Struktur des Rechtsgrundsatzes spielt vor allem diese letzte Gleichheits- bzw. Ungleichheitsaussage als Tatbestandsvoraussetzung eine entscheidende Rolle im Gleichheitssatz151. Daher sollen Gleichheit und Ungleichheit in der folgenden Untersuchung in genau diesem Sinne verstanden werden. Gleichund Ungleichbehandlung stellen dagegen die beiden möglichen Rechtsfolgen des Gleichheitssatzes dar 152 . 3. Die Länder als Vergleichsobjekte Eine Untersuchung der föderativen Gleichheit muß in erster Linie die Glieder des Bundesstaates, die Länder miteinander vergleichen. Steht bereits fest, in welcher Hinsicht der Vergleich zwischen ihnen zu ziehen ist, nämlich bezüglich ihres bundesverfassungsrechtlichen Status153, so erfolgt damit bereits auch eine genauere Begrenzung hinsichtlich der Vergleichsobjekte. Dabei handelt es sich nicht um die Länder als rein faktische territoriale Gebilde, sondern als Adressaten grundgesetzlicher Rechte und Pflichten, als juristische Personen154 mit einem tatsächlichen Substrat.

a) Gleichberechtigung der Länder als juristische Personen Gleichheit im rechtlichen Status bezeichnet man auch als Gleichberechtigung. Sie ist das Ergebnis rechtlicher Gleichbehandlung: Zwei Personen wer-

150

Ex-ante betrachtet kann man auch vom Ziel der Gleichbehandlung sprechen, siehe Michael, Gleichheitssatz (Fn. 98), S. 225. 151 So explizit etwa Kowalsky, Rechtsgrundlagen der Bundestreue (Fn. 143), S. 211. 152 Vgl. Stettner, BayVBl. 1988, S. 545 ff. (S. 547). 153 Siehe oben l.d). 154 Zu den Ländern als juristische Person siehe etwa Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 151 ff. m.w.N.

§ 4 Terminologische Klarstellungen und Vorüberlegungen zur Gleichheit

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den gleich berechtigt, wenn die Rechtsordnung ihnen an gleiche Merkmale anknüpfend in einer bestimmten Hinsicht gleiche Rechte zuweist. Bei juristischen Personen ist jedoch eine Besonderheit zu beachten: Während das Recht natürliche Personen vorfindet, entstehen juristische Personen erst durch das Recht. Darum existieren für eine Gleichberechtigung juristischer Personen stets zwei artverschiedene Referenzsysteme: Im ersten werden sie als rechtliche Konstrukte erschaffen und ihre Eigenschaften als juristische Personen determiniert 155. In diesem Falle beschreibt Gleichberechtigung die übereinstimmende Ausstattung zweier oder mehrerer juristischer Personen mit Rechten und Pflichten durch ihr Gründungsstatut; dieses behandelt nicht vorgefundene Objekte gleich, sondern es konstituiert sie gleichberechtigt. Im zweiten Referenzsystem bezieht sich Gleichberechtigung auf die Gleichbehandlung der juristischen Personen durch das sonstige Recht, das nicht die Kreation und Ausformung ihrer Personalität zum Gegenstand hat. Diese Unterscheidung mag im Einzelfall schwierig sein; sie wird aber dann ohne weiteres möglich, wenn sich die beiden Referenzsysteme auf verschiedenen Hierarchieebenen befinden, wie das bei den Bundesländern der Fall ist. Gleichberechtigung kann hier zum einen eine Aussage über ihre Rechtspositionen im Grundgesetz treffen, zum anderen aber auch die Gleichbehandlung durch unterverfassungsrechtliche Maßnahmen in Bezug nehmen. Die vorliegende Untersuchung versteht im weiteren Verlauf Gleichberechtigung im ersteren Sinne, sofern nicht die Darstellung anderer Ansichten zur föderativen Gleichheit wie etwa im historischen Teil dieser Arbeit im Vordergrund steht.

b) Die Länder als Zuweisungsadressaten grundgesetzlicher Rechtspositionen Das Grundgesetz greift bei der Zuweisung verfassungsrechtlicher Positionen nicht stets die Länder als Gesamtheit auf, sondern nimmt hier und dort nur Teile der Länder in Bezug, etwa wenn es in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG von den „Landesregierungen" oder in Art. 54 Abs. 3 GG von den „Volksvertretungen der Länder" spricht. Adressat der Zuweisung grundgesetzlicher Rechte und Pflichten bleiben in diesem Fall aber stets die Länder als juristische Personen. In die folgende Untersuchung des verfassungsrechtlichen Status der Gliedstaaten werden daher auch solche Normen einbezogen. Etwas problematischer gestalten sich die Vorschriften, die die Gemeinden mit Rechten oder Pflichten ausstatten, so z.B. wenn die Finanzverfassung den Kommunen nach Art. 106 Abs. 5 GG einen Anteil am Aufkommen der Ein155

Vgl. Fritz Rittner , Stichwort „Juristische Person", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 3. Bd., 7. Aufl., 1995, Sp. 267 ff. (Sp. 267).

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1. Kap.: Föderative Gleichheit - Gegenstand und Forschungsziel

kommensteuer zuspricht156. Da das Grundgesetz jedoch von einem zweistufigen Aufbau des Bundesstaates ausgeht, in dem die Gemeinden zur Landesebene gehören157, muß ein Vergleich der grundgesetzlichen Stellung der Länder die Gemeinden als Teile der Länder behandeln.

156 Vgl. dazu etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1157 f. 157 Für die Finanzverfassung vgl. hierzu Art. 106 Abs. 9 GG; Jürgen W. Hidien, Der Mehrbelastungsausgleich (Art. 106 Abs. 4 S. 2,3 GG) - ein staatsrechtliches Mauerblümchen im bundesstaatlichen Finanzausgleich -, Aö'R 122 (1997), S. 583 ff. (S. 588) spricht unter Hinweis auf Art. 106 Abs. 9 GG vom Grundsatz bundesstaatlicher Inkorporation; vgl. auch Kyrill-Alexander Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 4. Aufl., München 2001, Art. 106 Rn. 111; vgl. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, Art. 104 a Rn. 18 für Art. 104 a Abs. 1 GG; Willi Blümel, Verwaltungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, § 101 Rn. 3 für die Art. 30, 83 GG.

Zweites Kapitel

Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens in Deutschland Ausgehend von der Erkenntnis, daß Jeder Bundesstaat eine konkret-geschichtliche Individualität"1 besitzt, muß eine Untersuchungföderativer Gleichheit in der verfassungsrechtlichen Ordnung Deutschlands primär an dem Bundesstaatsrecht ansetzen, wie es das Grundgesetz ausgeformt hat2. Doch ist die Idee derföderativen Gleichheit nicht erst mit der Bundesrepublik entstanden; sie hat sich vielmehr bereits in früheren Epochen der deutschen Verfassungsgeschichte entwickelt. Föderative Gleichheit in der Gegenwart ist daher das Ergebnis eines historischen Prozesses, der teilweise in Fortfuhrung, teilweise in bewußter Absetzung von überkommenen Konzepten zu ihrer heutigen Gestalt gefuhrt hat. So wie sich jedes Recht ohne Blick auf seine Entwicklung in der Zeit lediglich rudimentär erfassen läßt, führt auch eine Betrachtung föderativer Gleichheit unter dem Grundgesetz ohne Berücksichtigung ihrer Ideengeschichte notgedrungen nur zu ihrem unvollkommenen Verständnis3. Hingegen vermag eine Rückschau etwa das Bewußtsein für Gleichheiten oder Ungleichheiten zu schärfen, die andernfalls wegen ihrer Selbstverständlichkeit heute nicht mehr wahrgenommen würden, die aber für die Erkenntnisföderativer Gleichheit unverzichtbar sind. Aus diesen Gründen verfolgt die Untersuchung die Entwicklung des föderativen Gleichheitsgedankens in der deutschen Verfassungsgeschichte. Sie legt hierbei naturgemäß den Schwerpunkt weniger auf die Frage, ob aus heutiger Sicht eineföderative Gleichheit in den jeweiligen Verfassungsordnungen vor dem Grundgesetz Geltung beansprucht hat; denn die Befassung

1

Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, S. 96; vgl. auch bereits oben 1. Kapitel, § 3 I. 2. c). 2 Allgemein zum Grundgesetz als konkrete normative Basis für bundesstaatliche Überlegungen siehe Hartmut Bauer, Die Bundestreue, Tübingen 1992, S. 17 f. 3 Vgl. dazu Paul Meyer , Das Prinzip der Rechtsgleichheit in historischer und dogmatischer Betrachtung, Langensalza 1923, S. 60 f., der die Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung für den Inhalt des Gleichheitssatzes am Beispiel des Art. 4 der Schweizer Verfassung von 1874 verdeutlicht; vgl. auch beispielhaft Fritz Fleiner , Entstehung und Wandlung moderner Staatstheorien in der Schweiz, Zürich 1916, S. 11, der speziell den schweizerischen Gleichheitsgedanken auf ein in der Zeit gereiftes Hauptelement des Rousseauschen Contrat Social zurückfuhrt.

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

mit diesem Gegenstand setzt bereits das Ergebnis der vorliegenden Arbeit voraus. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung steht vielmehr die föderative Gleichheitsidee, wie Wissenschaft und Praxis der damaligen Zeit sie verstanden haben.

§ 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Wie auch immer man das Heilige Römische Reich deutscher Nation staatsorganisationsrechtlich charakterisieren mag4, seine vielfältig gegliederte Struktur und seine polyzentrische Ordnung weisen im weiteren Sinneföderative Elemente auf 5. Darum liegt die Frage nahe, ob und in welchen Zusammenhängen bereits im Alten Reich seit dem 16. Jahrhundert nach Auflösung des Lehensverbandes trotz seines offensichtlich ungleichgewichtigen Geftlges 6 über eine Gleichheit der Stände als Mitglieder des Reiches7 nachgedacht wurde. 4 Den Meinungsstand über die Einordnung des Reiches nach dem Westfälischen Frieden (etwa als Bundesstaat, als Staatenstaat u.a.) vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart faßt zusammen Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Berlin 1967, S. 67 ff.; es fehlt die Stellungnahme von Georg Waitz, Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 161, der sich gegen die Einordnung des Alten Reiches als Bundesstaat ausspricht. Randelzhofer selbst kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis eines „atypischen Staatenbundes", aaO., S. 299, dem sich bspw. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, München 2000, S. 48 anschließt. 5 So Dieter Wyduckel, Das Alte Reich - Modell europäischer Gemeinschaftsbildung?, Wiss.Z.Techn.Univers.Dresden 48 (1999) Heft 4, S. 13 ff (S. 14); derselbe, Rechts- und Staatstheoretische Voraussetzungen und Folgen des Westfälischen Friedens, Rechtstheorie 29 (1998), S. 211 ff. (S. 221); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der Staat 8 (1969),S. 449 ff. (S. 475 ff.); siehe auch schon Constantin Frantz, Deutschland und der Föderalismus, Stuttgart u.a. 1921, S. 44 und Siegfried Brie, Theorie der Staatenverbindungen, Breslau 1886, S. CXIX; siehe weiterhin Helmut Neuhaus, The Federal Principle and the Holy Roman Empire, in: Wellenreuther (Hrsg.), German and American Constitutional Thought, New York u.a. 1990, S. 27 ff. (S. 48 f.); ebenso Heinz Angermeier, Stichwort „Reich", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 4. Bd., 7. Aufl., Freiburg u.a. 1995, Sp. 780 ff. (Sp. 780 f.); kritisch dagegen Alfred Kohler, Das Heilige Römische Reich - Ein Föderativsystem?, in: Fröschl (Hrsg.), Föderationsmodelle und Unionsstrukturen, Wien 1994, S. 119 ff. (S. 126). 6 Vgl. Wyduckel, Wiss.Z.Techn.Univers.Dresden 48 (1999) Heft 4, S. 13 ff. (S. 14); vgl. auch Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, Berlin 1982, S. 523; siehe auch Samuel von Pufendorfs Kritik an der in Recht und Macht bestehenden Ungleichheit im deutschen Reich in seinem unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano erschienenen Werk von 1667: Über die Verfassung des deutschen Reiches, Übersetzung von H. Breßlau, Berlin 1922, S. 94 f. und 106 ff. 7 Zum Wandel der Reichsstandschaft von einem persönlichen Recht zu einem territorialen Recht, das „auf reichsunmittelbaren mit Landeshoheit versehenen Ländern" (Justus Christoph Leist, Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts, Göttingen, 1803, S. 168) haf-

§ 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation

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I. Der Streit um die pluralitas votorum in Religions- und Steuerangelegenheiten Zu den Themen, die das öffentliche Leben des Reiches seit der Reformation sowie die frühe Phase der Wissenschaft vom öffentlichen Recht8 bestimmen, gehört die Frage, ob im Deutschen Reichstag das Majoritätsprinzip durchgehend Geltung beanspruche oder ob in bestimmten Materien seine Anwendung ausgeschlossen sei, namentlich in den Bereichen, die die Freiheit des Bekenntnisses und die Erhebung von Steuern betreffen 9. Im Kontext dieses Streites um die pluralitas votorum, den der Westfälische Frieden bezüglich der Religionsangelegenheiten im Sinne eines Verbotes der Stimmenmehrheit entschied10, während in Steuersachen praktisch das Mehrheitsprinzip ausschlaggebend blieb11, wird der Gleichheitsgedanke wiederholt als Argument instrumentalisiert. So berichtet Johann Jacob Moser im 48. Teil seines Teutschen Staatsrechts, daß bereits zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens ein Majoritätsbeschluß in Religionsangelegenheiten mit der Begründung abgelehnt wurde, „dieweil doch Gleich über seines Gleichen keinen Gewalt hat, sonderlich in solchen hohen wichtigen Sachen des Glaubens und der Religion"12. Dieser Hinweis richtet sich nicht nur auf die beiden großen konfessionellen Lager 13, sondern bezieht

tete, siehe jüngst Günter Krings, Das Alte Reich am Ende - der Reichsdeputationshauptschluss 1803, JZ 2003, S. 173 ff. (S. 174). 8 Zur These, die neuzeitliche Wissenschaft vom öffentlichen Recht habe ihren Anfang zwischen 1555 und 1648, siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Bd., München 1988, S. 46 ff. 9 Siehe Pufendorf, Verfassung des deutschen Reiches (Fn. 6), S. 81; Johann Jacob Moser, Teutsches Staats-Recht, Acht und Vierzigster Theil, Frankfurt am Main u.a., 1752, S. 268 ff.; vgl. auch derselbe, Teutsches Staats-Recht, Neun und Vierzigster Theil, Frankfurt am Main u.a., 1753, S. 2 ff; Johann Stephan Pütter, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Erster Theil, Zweyte Aufl., Göttingen 1788, S. 388 f.; siehe auch Paul Laband, Der Begriff der Sonderrechte nach Deutschem Reichsrecht, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1490). 10 Siehe Art. V §§ 9 und 52 IPO, deutsche Übersetzung bei Arno Buschmann, Kaiser und Reich, Teil II, 2. Aufl., Baden-Baden 1994, S. 15 ff. (S. 37 und 58). 11 Zur Verschiebung dieses Streitpunktes auf einen späteren Reichstag siehe Art. V § 52 IPO, deutsche Übersetzung bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 58; siehe auch Pütter, Geist des Westphälischen Friedens, Göttingen 1795, S. 487. Zur später zugestandenen, aber praktisch wertlos gebliebenen Unterscheidung in collectae necessariae, in der die Mehrheit entscheiden sollte, und den dem Mehrheitsbeschluß entzogenen collectae voluntariae siehe Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1494). 12 Moser, Teutsches Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 272. 13 Siehe den Vergleich mit zwei Parteien eines strittigen Handels, bei dem keiner über den anderen wie ein Richter bestimmen kann, bei Moser, Teutsches Staats-Recht

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

sich ebenso auf die jeweiligen einzelnen Stände und behauptet für diese eine Autonomie insbesondere in Religionssachen, in der sie alle gleich seien14. Das Westfälische Friedensvertragswerk erkennt schließlich eine eigenständige Herrschaftsgewalt in einem Kernbereich an. Es bestätigt allen Reichsständen gleichermaßen nach innen das Territorial- und Hoheitsrecht in geistlichen und weltlichen Dingen15 und nach außen eine Vertragsabschlußkompetenz16, die sich bereits darin manifestiert, daß alle Stände neben den europäischen Mächten auf beiden Seiten als Vertragspartner auftreten 17. Die pluralitas voto(Fn. 9), 48. Theil, S. 270 und S. 285; zum Grundsatz der völligen Gleichheit der Religionsteile im Westfälischen Frieden und seiner Anwendung auf die Institutionen siehe beispielhaft Art. V §§ 1, 51-54, Art. VII § 1 IPO, deutsche Übersetzung bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 15 ff. (S. 34, 57 f., 62 f.); siehe auch Pütter, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 361 ff. und S. 494 ff.; vgl. dazu aus der Gegenwartsliteratur etwa Ludwig Renck, Die unvollkommene Parität, DÖV 2002, S. 56 ff. (S. 57). 14 Vgl. Moser, Teutsches Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 270 ff., insbesondere § 26 auf S. 270, § 28 auf S. 272 und § 29 auf S. 273; vgl. ebenfalls Pütter, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 491 ff, der die Religionssachen als ius singolorum bezeichnet; zur von der jeweiligen Landesgröße unabhängigen Gleichheit der Autonomie vgl. auch Pütter, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Zweyter Theil, 2. Aufl., Göttingen 1788, S. 167 f. 15 Ius territorii et superioritatis, siehe Art. V § 30 IPO, vgl. auch Art. VIII § 1 IPO, lateinischer Text bei Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, 2. Teil, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 395 ff. (S. 409 und 416); siehe hierzu Wyduckel, Rechtstheorie 29 (1998), S. 211 ff. (S. 224); vgl. auch Peter Krause, Die Auswirkungen des Westfälischen Friedens auf das Reichsstaatsrecht, in: Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede, Berlin 1999, S. 9 ff. (S. 28 f.). 16 Siehe Art. VIII § 2 IPO, deutsche Übersetzung bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 15 ff. (S. 65); zur Bedeutung dieses Vertragsschließungsrechts im einzelnen siehe E.-W. Böckenförde, Der Staat 8 (1969), S. 449 ff.; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte (Fn. 4), S. 159 ff.; daß die Landeshoheit und das Bündnisrecht als Ausdruck „teutscher Libertät" schon vorher bestanden und durch den Westfälischen Frieden nur bestätigt wurden, hebt unter anderem Arno Buschmann, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Reichsverfassung nach 1648, in: Schröder, 350 Jahre Westfälischer Friede, S. 43 ff. (S. 65 f.) hervor. 17 Siehe Art. XVII § 12 IPO, deutsche Übersetzung bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 15 ff. (S. 105); siehe auch Pütter, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 33 und 68 ff; vgl. auch Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte (Fn. 4), S. 55 f., der darauf verweist, daß die Rechtsstellung der Stände aufgrund ihrer Vertragspartnerschaft als der der übrigen europäischen Mächte gleich erscheint; generell zum Vertrag als das Verständigungsmittel zwischen Gleichen siehe Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Nachdruck der Ausgabe Wien 1882, Goldbach 1996, S. 295; Max Huber, Die Gleichheit der Staaten in: Berolzheimer (Hrsg.), Festgabe für Josef Köhler, Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1909, Aalen 1981, S. 88 ff. (S. 114 f.); Paul Kirchhof Mittel staatlichen Handelns, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, § 59 Rn. 122; vgl. auch Ludwig Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: von Caemmerer/Friesenhahn/Lange (Hrsg.), Festschrift Deutscher Juristentag, Bd. I, Karlsruhe 1960, S. 101 ff. (S. 106); Philipp Zorn, Das Staatsrecht des

§ 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation

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rum in „Religions- und allen anderen Angelegenheiten, in denen die Stände nicht als ein Körper betrachtet werden können"18, schließt das Westfälische Friedensvertragswerk konsequenterweise aus. Auch in Steuerangelegenheiten findet der Gleichheitsgedanke im Rahmen der Majoritätsproblematik Erörterung. Jedoch entwickelt er sich hier weniger aus der These der Autonomie der Stände bei ihrer Entscheidung über die Bewilligung von Geldmitteln für das Reich19; vielmehr entzündet er sich in der Kritik am Verteilungsmodus der finanziellen Lasten des Reiches. Johann Stephan Pütter schildert, daß auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 bei der Aufstellung der Reichsmatrikel die Verteilung der Belastung auf die Stände noch in der Weise stattfand, daß zunächst jeder Stand eine bestimmte Anzahl an Männern zu Roß und zu Fuß für einen militärischen Einsatz stellte, sich später dann aber die Lastenbeteiligung in eine Geldbewilligung als eine Art der Reichsbesteuerung wandelte20. Aufgrund der unterschiedlichen Vermögensverhältnisse zwischen den Reichsständen, die zum Teil bereits bei Einführung der Matrikel bestanden, sich zum Teil durch territoriale und wirtschaftliche Verän-

Deutschen Reiches, 1. Bd., 2. Aufl., Berlin 1895, S. 72; differenzierend Volker Schlette, Die Verwaltung als Vertragspartner, Tübingen 2000, S. 16 und 36 ff., der die rechtliche Gleichheit der Vertragspartner als konstitutives Merkmal eines Vertrages ablehnt, jedoch eine Gleichordnung im konkreten Vertragsschluß konzediert, siehe dort Fn. 166; ablehnend Hans G. Ficker, Vertragliche Beziehungen zwischen Gesamtstaat und Einzelstaat im Deutschen Reich, Breslau 1926, S. 6. 18 Eigene Übersetzung des Art. V § 52 IPO: „In causis Religionis omnibusque aliis negotiis, ubi Status tanquam unum Corpus considerari nequeunt ...", lateinischer Text bei Zeumer, Quellensammlung (Fn. 15), S. 395 ff. (S. 413); die Übersetzungen bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 15 ff. (S. 58): „... Angelegenheiten, in denen die Stände nicht als geschlossene Gebilde betrachtet werden können ..." und Ansgar Herne, Westfälischer Frieden, Rechtstheorie 29 (1998), S. 235 ff. (S. 244): „... Angelegenheiten, in denen die Stände nicht als geschlossene Körperschaften betrachtet werden können ...", sind inkorrekt und laufen dem Sinn zuwider; zur Bedeutung des Satzes vgl. Pütter, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 491, der dort auf diese Stelle im Vertragswerk Bezug nimmt (siehe Fn. [m]): „... die Mehrheit der Stimmen nicht gelten zu lassen, wenn Gegenstände vorkämen, worin die Stände nur als einzelne (singuli) also nicht als Ein Corpus zu betrachten wären"; in diesem Sinne auch Pufendorf, Verfassung des deutschen Reiches (Fn. 6), S. 81 und ebenso die Interpretation von Edgar Loening, Die Sonderrechte der Deutschen Staaten und die Reichsverfassung, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 355), der den Text aber wohl versehentlich § 19 statt § 52 zuordnet. 19 Siehe Moser, Teutsches Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 308 ff.; vgl. auch Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 353 f.). 20 Siehe Pütter, Historische Entwicklung (Fn. 9), 1. Theil, S. 454 f.; derselbe, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 487 ff.

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

derungen nachträglich entwickelten21, kritisiert man auf späteren Reichstagen wiederholt die „Ungleichheit, so sich in der Reichs=Matricul befinde" 22, und macht ihre Revision zum Gegenstand von Verhandlungen mit dem Ziel der Herstellung einer „Gleichheit ohne Disproportion" 23, also einer den unterschiedlichen Vermögenslagen, zum Teil auch den verschiedenen Bevölkerungszahlen24 der Reichsstände Rechnung tragenden Belastung25. Trotz Erfolglosigkeit dieser Forderungen26 deutet sich so bereits die Rechtsansicht an, daß bei der Verteilung der Lasten die Stände entsprechend ihrer finanziellen Fähigkeiten proportional zu berechtigen seien und die Majorität keinen Beschluß fassen könne, der diesem Rechtssatz widerspräche27.

21

Siehe Pütter, Historische Entwicklung (Fn. 9), 1. Theil, S. 455; derselbe, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 489; Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1494 f.). 22 Moser, Teutschen Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 311. 23 Moser, Teutschen Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 312. 24 Vgl. z.B. die Kritik an der gleichen Belastung des nur 800 Untertanen zählenden Stiftes Regensburg auf der einen Seite und des wesentlich bevölkerungsreicheren Osnabrücks auf der anderen Seite bei Moser, Teutschen Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 319. 25 Siehe Moser, Teutschen Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 307 ff., insbesondere § 42 auf S. 307: „nicht proportione arithmetica, sed geometrica"; siehe auch § 42 auf S. 312 und § 42 auf S. 331, wo als Maßstab für eine proportionale Verteilung auf das jeweilige Vermögen des Standes hingewiesen wird; siehe auch Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1495 m.w.N.); vgl. ebenfalls Pütter, Historische Entwicklung (Fn. 9), 1. Theil, S. 455 f.; derselbe, Geist des Westphälischen Friedens (Fn. 11), S. 489 f. sowie Karl Friedrich Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Zweyter Band, Frankfurt am Main und Leipzig 1794, S. 261 f. 26 Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1495); zur Einrichtung von Räten zwecks Untersuchung der Vermögenslage des um Verringerung nachsuchenden Standes und der damit verbundenen Möglichkeiten einer Appellation an das Kammergericht und späteren erfolglosen Reformversuchen siehe Häberlin, Handbuch (Fn. 25), S. 261 f. 27 Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1495); vgl. auch Moser, Ternsches Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 273 ff., 307 ff. Der Grundsatz, daß eine nicht alle Mitglieder proportional, sondern einzelne in höherem Grade treffende Belastung deren Zustimmung erfordert, findet sich nach Laband aaO. auch in der Denkschrift Sacra Libertatis Anchora von 1719, zitiert bei Moser, Teutsches Staats-Recht (Fn. 9), 48. Theil, S. 381 ff., dort Nr. 48 - 50 auf S. 389; dies bestreitend aber Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 353 f.), der darauf verweist, daß die Stände eine Mehrheitsentscheidung in Steuersachen deshalb ablehnten, weil sie dem Reich kein Besteuerungsrecht zuschrieben. Dies ist sicherlich richtig, doch Mosers Ausführungen und Berichte, aaO., legen die Annahme nahe, daß der Gedanke der unproportionalen Belastung die Ablehnung der pluralitas votorum zusätzlich untermauerte.

§ 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation

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II. Stimmrechte im Reichstag und Besetzung des Reichskammergerichts Der Gedanke der Gliedergleichheit taucht auch jenseits des Streites um die pluralitas votorum auf. Ausdrückliche Erwähnung findet er im Kontext der Stimmrechte im Reichstag. So schreibt etwa Pütter über die Einführung des vollen Stimmrechts der Reichsstädte im Westfälischen Frieden28, „daß ihre Stimme mit den Stimmen der übrigen Stände von gleichem Werthe seyn sollte"29. Eine Stimmengleichheit aller Stände ist damit allerdings noch nicht hergestellt. Zwar besitzt jedes Reichskollegium eine Stimme, und innerhalb der Gremien kommt jeder Stimme der gleiche Wert zu. Doch diese Gleichwertigkeit relativiert sich, wenn man zum einen berücksichtigt, daß sich im Fürstenrat bestimmte Mitglieder eine (Kuriats-)Stimme teilen, während andere eine volle (Viril-)Stimme besitzen30, und zum anderen die Gesamtverteilung der Stimmen unter den Ständen in die Betrachtung miteinbezieht, wonach im Kurfürstenrat acht bzw. neun, im Fürstenrat über 200 und im Städterat etwa 50 Mitglieder sitzen, die Kollegien aber untereinander jeweils mit einer Stimme ausgestattet sind31. Diese Ungleichheit der Reichstagsberechtigten setzt sich auch jenseits der Stimmengewichtung fort, indem das Kurfürsten- und das Fürstengremium auch bei Beratung und Beschlußfassung nach wie vor eine Vorrangstellung gegenüber dem Städterat einnehmen, und zwar in der Form, daß sich die Reichsstädte erst mit einer Angelegenheit befassen können, nachdem sich KurfÜrstenund Fürstenkollegium auf eine gemeinsame Stellungnahme verständigt haben32, und ein abweichender Beschluß der Städte-Kurie lediglich als Sondervotum in den dem Kaiser zugeleiteten gemeinschaftlichen Schluß Aufnahme findet 33.

28 Siehe Art. VIII § 4 IPO, deutsche Übersetzung bei Buschmann, Kaiser und Reich (Fn. 10), S. 15 ff. (S. 66). 29 Pütter, Historische Entwicklung (Fn. 14), 2. Theil, S. 88; zur Gleichheit jeder Stimme einer einzelnen Reichsstadt mit der eines Kurfürsten bei Reichsdeputationen siehe auch S. 90. 30 Siehe Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. Aufl., München 2001, S. 191 mit näheren Angaben zur Verteilung der (Viril- und Kuriats-)Stimmen unter den Würdenträgern des Fürstenrats; vgl. auch Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen (Fn. 6), S. 27; derselbe, Reichstag und Supplikationsausschuß, Berlin 1977, S. 26. 31 Dazu und zur Frage der Gleichstellung aller Reichstagsberechtigten in interkurialen Reichstagsausschüssen Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen (Fn. 6), S. 523. 32 Buschmann, Bedeutung des Westfälischen Friedens (Fn. 16), S. 67. 33 Krings, JZ 2003, S. 173 ff. (S. 174 Fn. 24).

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

Außerhalb des Reichstages34 bildet sich als erste, vom Kaiser losgelöste Reichsbehörde das Reichskammergericht 35, dessen Zusammensetzung im wesentlichen die Reichsstände bestimmen36. Hierbei steht jedem Kurfürsten und jedem Reichskreis, in dem mehrere Stände vereinigt sind, das Recht zu, eine gleiche Anzahl von Assessoren vorzuschlagen37. Auch in diesem Besetzungsmodus spiegelt sich also die besondere Machtstellung der Kurfürsten wider. Zwar flackert der Gedanke der Gleichheit der Stände bereits bei der Stimmenverteilung im Reichstag auf, insgesamt sind aber auf der Reichsebene Einfluß und Macht sehr ungleich verteilt. Im Vordergrund steht das Ziel, durch Stimmendifferenzierung und andere Vorrechte den unterschiedlichen Stand und Rang der einzelnen Reichsstände zur Geltung zu bringen38.

III. Zusammenfassende Bewertung Das Alte Reich ist von Privilegien, Sonderrechten und einem großen Machtgefälle zwischen seinen Gliedern geprägt39, und doch entfalten sich bereits in diesem „unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörper", in dieser „Föderation von Bundesgenossen ungleichen Rechts"40 die ersten Ansätze der Konzepte von Gleichheit und proportionaler Berechtigung der Stände als Glieder des Reiches. Im Zusammenhang mit den konfessionellen Auseinandersetzungen seit der Reformation entwickelt sich die Vorstellung von den Ständen als in bestimmten Bereichen gleich autonomen Gebilden. Der Westfälische Frieden bestätigt schließlich das Territorial- und Hoheitsrecht in geistlichen wie in weltlichen Angelegenheiten sowie das Bündnisrecht für alle Reichsstände. Bewertet man diese Eigenständigkeit als Souveränität und Staatlichkeit im völkerrechtlichen

34 Ausgeblendet bleiben hier der Reichskreistag und der Reichsdeputationstag, die sich als Reichsversammlung gegenüber dem Reichstag nicht durchgesetzt haben, siehe dazu Krings, JZ 2003, S. 173 ff. (S. 175). 35 Zur Entstehungsgeschichte des Reichskammergerichts siehe Markus Thiel, Der Reichstag zu Worms im Jahre 1495 und die Schaffung des Reichskammergerichts, Der Staat 41 (2002), S. 551 ff. 36 Stern, Staatsrecht (Fn. 4), Bd. V, S. 29. 37 Im einzelnen zur Besetzung vor und nach dem Westfälischen Frieden und zum Recht des Kaisers, ebenfalls 2 Assessoren zu bestimmen, siehe Häberlin, Handbuch (Fn. 25), S. 317 ff. 38 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 30), S. 173. 39 Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen (Fn. 6), S. 523. 40 Pufendorf, Verfassung des deutschen Reiches (Fn. 6), S. 94.

§ 5 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation

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Sinne41, dann hat sich bereits das Konzept der Gleichheit unabhängiger freier Staaten ausgebildet42. In der kritischen Auseinandersetzung mit der als ungerecht empfundenen Verteilung der Steuerlasten deutet sich bereits der Gedanke der proportionalen Berechtigung der Stände an. Als Differenzierungsmaßstab finden ebenfalls schon objektiv meßbare Kriterien wie die jeweiligen Vermögensverhältnisse oder Bevölkerungszahlen Eingang in die Diskussion. Auch in die Organisation des Reichstages hält der Gleichheitsgedanke zaghaft Einzug. Doch das prinzipiell paritätische Stimmrecht der Stände jeweils innerhalb des Kurfürsten- bzw. Städterats und eingeschränkt im Fürstenrat darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Gesamtbetrachtung die Unterschiede an Macht und Rang der Reichsstände die bestimmenden Faktoren bei der Verteilung des Einflusses im Reichstag bilden. Letztlich bleibt die Ungleichheit zwischen den Ständen des Reiches dominierend. Festzuhalten ist aber, daß trotz der für das Alte Reich charakteristischen ungleichgewichtigen Ordnung43 in Wissenschaft und Praxis seit der Reformation die Konzepte der Gleichheit und der verhältnismäßigen Berechtigung der Stände als Organisations- und Verteilungsprinzip bereits bekannt sind. Mit den Bereichen der Autonomie, der Stimmrechte und der Steuern sind sie sogar in die

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So RandeIzhofer, Völkerrechtliche Aspekte (Fn. 4), S. 159 ff. m.w.N; Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Baden-Baden 1987, S. 215 ff.; Staatlichkeit ohne volle Souveränität bejaht auch E.-W. Böckenförde, Der Staat 8 (1969), S. 449 ff. (S. 455 ff.); vgl. ebenso Conrad Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1934, S. 140; kritisch dagegen Wyduckel, Rechtstheorie 29 (1998), S. 211 ff. (S. 224), der annimmt, daß die Schwelle des zeitgenössischen Souveränitätsverständnisses noch nicht erreicht war; ablehnend ebenfalls Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 158 Fn. 148 m.w.N. zur Rechtsansicht hierüber im 18. Jahrhundert; Meinhard Schröder, Der Westfälische Friede - eine Epochengrenze im Völkerrecht?, in: Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede, S. 119 ff (S. 122 ff); vgl. auch Bernd Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, Berlin 1996, S. 50 und 149. 42 So hält Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 6. Aufl., Münster 1992, S. 6 und 495 die völkerrechtliche Gleichheit der Staaten und die Bestätigung des Grundsatzes der Gleichberechtigung in zahlreichen Einzelbestimmungen des Westfälischen Friedens für faktisch anerkannt; vgl. auch Kimminich, Verfassungsgeschichte (Fn. 41), S. 203 und 213, der auf die juristische Gleichheit zwischen den souveränen Fürstenstaaten hinweist; vgl. ebenso Karl-Heinz Ziegler, Der Westfälische Frieden von 1648 in der Geschichte des Völkerrechts, in: Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede, S. 99 ff. (S. 108 und S. 116); Wilfried Schaumann, Die Gleichheit der Staaten, Wien 1957, S. 34 und S. 45; anders aber Edwin De Witt Dickinson, The Equality of States in International Law, Cambridge, Mass. 1920, S. 334; ausführlich zur völkerrechtlichen Gleichheit siehe unten 3. Kapitel, § 9 III. 43 Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 30), S. 170. 5 Pleyer

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

thematischen Zusammenhänge eingebettet, in denen föderative Gleichheit bis zur Gegenwart immer wieder eine Rolle spielen wird 44.

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes I. Die staatenbündische Ordnung des Deutschen Bundes Nach dem Untergang des Alten Reiches45 und dem kurzen Zwischenspiel der Etats confédérés du Rhin 46 schwingt bereits in der Gründungsphase des Deutschen Bundes der Aspekt der rechtlichen Gleichheit aller Bundesglieder beim Streit um die Neuorganisation Deutschlands mit 47 . In den Auseinandersetzungen um die verschiedenen Entwürfe einer Verfassungsordnung, etwa um die Verankerung eines Hegemonialprinzips oder um die Beschränkung der Souveränität, stellt die Forderung nach Gleichheit aller Glieder stets einen zentralen Punkt dar 48. In dem Föderativsystem des Deutschen Bundes, der sich auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages als Staatenbund konstituiert49, wird die föderative Gleichheit schließlich zu einem entscheidenden Wesensmerkmal.

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Siehe zur Gegenwart ausführlich unten 3. Kapitel, § 10 II. 3. Zu den „Stationen des Untergangs" siehe Klaus-Peter Schroeder, Des Alten Reiches langer Schatten - 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss, NJW 2003, S. 630 ff. 46 Formal stellte zwar auch der Rheinbund einen aus souveränen Gliedern gebildeten Staatenbund und damit ein Föderativsystem dar, siehe etwa Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, München 1995, S. 302 ff.; er soll hier jedoch außer Betracht bleiben, da sich gegenüber dem Alten Reich und dem deutschen Bund für die Untersuchung keine neuen Aspekte ergeben; vgl. auch die Wertungen Ernst Rudolf Hubers, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, Nachdruck der 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1960, Stuttgart u.a. 1990, S. 79 f., und Grzeszicks, Bundesstaatsidee (Fn. 41), S. 155, die den Rheinbund als ein realiter politisches Protektoratsgebiet mit nur scheinbar staatenbündischer Struktur bezeichnen; dagegen aber die positive Beurteilung der Wirkungsgeschichte bei Siemann aaO. 47 Zur Bundesgründung siehe E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. I, S. 475 ff.; siehe auch Brie, Der Bundesstaat, Erste Abtheilung, Leipzig 1874, S. 45 f. 48 Vgl. etwaE R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. I, S. 524 und 551. 49 Zur Qualifizierung des Deutschen Bundes als Staatenbund siehe aus der zeitgenössischen Literatur bspw. D. Romeo Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1847, S. 159; aus der Gegenwart siehe beispielhaft nur Grzeszick, Bundesstaatsidee (Fn. 41), S. 243 f. 45

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes

/. Normative

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Verankerung der Rechtsgleichheit in der Bundesakte

In der zeitgenössischen Betrachtung gelten die Glieder des Deutschen Bundes als souveräne Staaten50. Mit dieser Bewertung geht die Anerkennung ihrer völkerrechtlichen Gleichheit einher: So bezieht Johann Ludwig Klüber, der aus der Unabhängigkeit der Staaten und aus ihrer Qualität als völkerrechtliche Persönlichkeiten ihre natürliche rechtliche Gleichheit als das Urrecht eines jeden Staates folgert 51, ausdrücklich die deutschen Länder in seine Aufzählung der souveränen Staaten Europas mit ein52. Diese Rechtsgleichheit findet - als Folge der Anerkennung der Souveränität in Art. 1 - Aufnahme in die Bundesakte53; damit sollen die deutschen Staaten durch die Grundverträge auch im Bundesverhältnis gleiche Vertragsrechte und -pflichten erhalten54. Als eine von „zwei gleich feste[n] Grundstützen", die „den Charakter des Bundes bezeichnen" erhält die „Rechtsgleichheit der Bundesgenossen"55 ihre normative Verankerung an der Spitze des ganzen Systems56 in Art. 3 57 : „Alle Bundesglieder haben als solche gleiche Rechte; sie verpflichten sich alle gleichmäßig, die Bundesakte unverbrüchlich zu halten". Diese Parität soll auch in derföderalen Beziehung der Staaten zueinander in inhaltlicher Anlehnung an das völkerrechtliche Konzept eine wirkliche Gleichheit sein „so, daß Titel, Staatsform, Macht, Landesgröße und Religion, in den wesentlichen Bundesverhältnissen keine Rechtsverschiedenheit begründen"58.

50 Siehe beispielhaft Georg August Grotefend, System des öffentlichen Rechts der deutschen Staaten, Erste Abtheilung, Kassel 1860, S. 62 f. und 205. 51 Siehe Johann Ludwig Klüber, Europäisches Völkerrecht, 2. Aufl., Schaffhausen 1851, S. 101. 52 Klüber, Europäisches Völkerrecht (Fn. 51), S. 33 ff. 53 Heinrich Zoepfl % Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Erster Theil, 5. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1863, S. 442; zur normativen Verankerung der Souveränität siehe auch Art. 1 der Wiener Schlußakte von 1820. 54 Vgl. Heinrich Albert Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Zweiter Theil, 2. Aufl., Göttingen, 1854, S. 634. 55 Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Erste Abtheilung, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1831, S. 110 f. (Klammerzusatz hinzugefügt, Sperrung im Original); die zweite Grundstütze neben der Rechtsgleichheit ist nach Klüber aaO., S. 111, das ,National Band, welches alle Bundesstaaten wohlthätig umfassen soll" (Sperrung im Original). 56 Zoepfl, Grundsätze (Fn. 53), S. 442. 57 Siehe auch Art. 2 der Wiener Schlußakte von 1820. 58 Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 262; vgl. auch Klüber, Europäisches Völkerrecht (Fn. 51), S. 102, der dort insbesondere auch die „Volksmenge" als unerheblich bezeichnet.

5!

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

Das Schrifttum dieser Zeit begnügt sich nicht damit, den Text der Bundesakte schlicht wiederzugeben, sondern setzt sich auch durchaus kritisch mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit auseinander. Gustav von Struve etwa beanstandet die mangelhafte Geltung des Gleichheitsprinzips in der Praxis, die er beispielsweise damit belegt, daß auf den Karlsbader Konferenzen 31 kleinere Bundesglieder von den Beratungen der zehn mächtigen Staaten ausgeschlossen wurden, oder aber er verweist darauf, daß Österreichs Präsidialstimme mit der Votantenstimme zu einer „doppelten Stimme" in der Bundesversammlung vereinigt ist59. Die Wissenschaft entwickelt auch Reformvorschläge, um die Gleichheit der Staaten in der Bundesorganisation zu optimieren. So überträgt Paul Achatius Pfizer den alten, auf Aristoteles60 zurückgehenden Rotationsgedanken, der darauf zielt, Gleichheit hinsichtlich der Ausübung von Herrschaft durch einen turnusmäßigen Wechsel von Führungsfunktionen zu verwirklichen, auf bündische Systeme: Er fordert im Zusammenhang mit dem Prinzip der Rechtsgleichheit, daß „das hochwichtige Amt eines Bundesexekutors oder Bundesobersten nicht einem Bundesglied ausschließlich und für immer übertragen, sondern abwechslungsweise von den verschiedenen Bundesgliedern verwaltet werde"61.

2. Ausnahmen von der Gleichheit als Regel Die normative Geltung des Grundsatzes der rechtlichen Gleichheit wird überwiegend nur als Regel verstanden; Bestimmungen der Bundesakte, die die Verschiedenheiten der Staaten berücksichtigen, interpretiert man daher als „Ausnahmen"62 und Modifikationen 63 der Gleichheit64. Den wichtigsten Fall 59 Gustav von Struve, Das öffentliche Recht des deutschen Bundes, Erster Theil, Mannheim 1846, zum Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Staatengleichheit im deutschen Bund im allgemeinen siehe S. 367 und zur Verletzung der Rechtsgleichheit im besonderen durch die Karlsbader Konferenzen S. 376 f. und durch das Stimmengewicht Österreichs in der Bundesversammlung S. 380 f. 60 Aristoteles, Politik, deutsche Übersetzung von Schwarz (Hrsg.), Stuttgart 1989, VI c. 2. (S. 300 f.). 61 Paul Achatius Pfizer, Über die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes, Stuttgart 1835, S. 99; siehe zu späteren Ausführungen zum Rotationsprinzip auch unten § 7 III. 1. i.V.m. Fn. 159. 62 Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 262. 63 Zoepfl, Grundsätze (Fn. 53), S. 291 f. 64 Anders aber Pfizer, Entwicklung (Fn. 61), S. 100, der in Bezug auf den Deutschen Bund schreibt, daß „bei der enormen Ungleichheit der verschiedenen Bundesstaaten an Gebietsumfang und Menschenzahl ... eine auf das Prinzip republikanischer Gleichheit gebaute und doch kraftvolle Organisation der Bundesgewalt unmöglich" war, und damit die Rechtsgleichheit wohl nicht als Regel bewertet.

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes

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stellt die „Ungleichheit der Stimmenverhältnisse in der B.V." 65 dar, die nach dem Wortlaut des Art. 6 „mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Größe der einzelnen Bundesstaaten" durchgeführt ist. Die in den Art. 4 und 6 vorgesehene unterschiedliche Stimmenverteilung im engeren Rat, in dem von 17 Stimmen die großen Staaten jeweils eine, mehrere kleinere dagegen nur zusammen eine Gesamtstimme haben, und im Plenum, wo den kleineren Gliedern eine Stimme, den größeren mehrere Stimmen zustehen, sieht Klüber als Ausdruck der politisch-geographischen Ungleichheit der verschiedenen Staaten66. Heinrich Zoepfl erkennt in der Stimmendistribution ebenfalls eine Berücksichtigung der Unterschiede nach Größe und Bevölkerungszahl der Bundesglieder67, klagt jedoch über die UnVerhältnismäßigkeit der Verteilung im einzelnen, die entgegen den eigentlichen Bevölkerungszahlen und den sich darin widerspiegelnden Machtverhältnissen die kleinen Staaten begünstige und die großen benachteilige68. Ein weiteres Beispiel dafür, daß tatsächliche Verschiedenheiten der Staaten ihren normativen Niederschlag gefunden haben, stellen die Steuer- und Militärbeiträge dar. Während die Steuererhebung für die Bundeskanzleikasse nach der Stimmenverteilung im engeren Rat erfolgt 69, richten sich sowohl die Beiträge zur Bundesmatrikularkasse als auch die zu stellenden Armeekontingente eines jeden Staates nach der Bundesmatrikel70, die sich wiederum nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Staaten bestimmt.71 Daß sich die Verteilung der finan-

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Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 262. Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 128. 67 Zoepfl, Grundsätze (Fn. 53), S. 291 f. 68 Zoepfl, Grundsätze (Fn. 53), S. 442 ff, siehe insbesondere die Zahlenvergleiche und Wertungen in den Fn. 3-7; zum genauen Verhältnis und Gewicht der Stimmen, ausgedrückt in Brüchen, siehe Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 130 f. 69 Siehe dazu und zum Steuerwesen insgesamt Struve, Das öffentliche Recht (Fn. 59), 1. Theil, S. 390 ff. sowie Maurenbrecher, Grundsätze (Fn. 49), S. 193 f.; zur Stimmenverteilung im engeren Rat siehe oben im Text. 70 Für die Steuern siehe dazu Art. 52 Nr. 3 der Wiener Schlußakte von 1820; für die Militärkontingente siehe Art. 44 der Wiener Schlußakte sowie Art. I der durch Beschluß der Plenarversammlung vom 09.04.1821 angenommenen Grundzüge der Militärverfassung des Deutschen Bundes sowie § 1 der durch Beschluß vom 11.04.1821 (§ 102) angenommenen entsprechenden Verfassung, Text bei Struve, Das öffentliche Recht des deutschen Bundes, Zweiter Theil, Mannheim 1846, S. 210 und 214. 71 Siehe hierzu Nr. 1) des am 20.08.1818 (§210) gefaßten Beschlusses, Text bei Struve, Das öffentliche Recht (Fn. 59), 1. Theil, S. 395 und siehe dort auf S. 397 seinen Hinweis, daß „in demselben Maße als in den Bevölkerungsverhältnissen der verschiedenen Staaten ... Veränderungen eintraten,... mehrere Male die Matrikel geändert" wurde; zur Berechnung der exakten Anteile siehe die Tabelle bei Struve aaO., S. 398 f. sowie für die mit einem Hundertstel der Einwohnerzahl bestimmten Kontingente die Tabellen bei Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 809 ff. 66

2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

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ziellen Lasten damit im wesentlichen an der Zahl der Einwohner orientiert, die unterschiedlichen Vermögensverhältnisse dagegen unbeachtet bleiben, hat bereits Georg Waitz zu der Kritik veranlaßt, daß dies „als keine gerechte Vertheilung gemeinsamer Lasten" erachtet werden könne, „da dergestalt die reichen und blühenden Provinzen ganz außer Verhältnis gegen ärmere Landstriche bevorzugt sind"72. Für den Fall, daß ein einzelner Staat über das festgelegte Verhältnis hinaus eine besondere Belastung, z.B. eine Bundesfestung, zu tragen hat, sieht ein von der Bundesversammlung als provisorisch geltend angenommenes Kommissionsgutachten ein Einspruchsrecht des betroffenen Staates sowie eine Kompensation dieses Nachteils vor; „wo einzelnen Bundesgliedern eine besondere, nicht in den gemeinsamen Verpflichtungen Aller begriffene Leistung oder Verwilligung für den Bund zugemuthet werden sollte", verankert Art. 15 der Wiener Schlußakte ein Zustimmungsrecht73, das ausdrücklich auf die Gliedergleichheit zurückgeführt wird 74. Schließlich setzt sich die ungleiche Berechtigung der Staaten etwa auch bei der Besetzung der Behörden des Bundes fort. Ein Beispiel stellt das Bundesschiedsgericht dar: Art. 2 des Bundesgesetzes zur Errichtung dieses Gerichts75

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Waitz, Grundzüge (Fn. 4), S. 196. Siehe das „Commissions-GutdichtQn über Entscheidung derjenigen Gegenstände, worüber nach dem Artikel 7 der Bundesacte, als Ausnahme von der Regel, ein Beschluß durch Stimmenmehrheit nicht gefaßt werden kann", Auszug in: Meyer (Hrsg.), StaatsActen für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, Zweiter Theil, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1833, S. 112 ff. (S. 120); siehe bei Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs, S. 337 ff. (S. 356 Fn. 1 und 356 ff.) den Hinweis auf einen Zusatz im Sitzungsprotokoll zum Einspruchsrecht des überlasteten Staates sowie zu späteren Entscheidungen in Hinsicht auf diesen Gegenstand, und siehe dort weiterhin das Beispiel der Bundesfestung als besondere militärische Last und weitere Exempel wie Schutzmaßnahmen an Küsten und Grenzen; vgl. weiterhin auch Zachariä, Staats- und Bundesrecht (Fn. 54), S. 827, der im Rahmen der Rechtsverhältnisse von Bundesfestungen darauf verweist, daß über die ansonsten bestehende Gleichheit der Rechte aller Bundesglieder besondere Verpflichtungen wie auch Berechtigungen auf speziellem Rechtstitel beruhen müssen; siehe hierzu Klüber, Öffentliches Recht (Fn. 55), S. 254, der feststellt, daß „in Ermangelung besonderer Rechtstitel ... auch in Ansehung der bestehenden, oder künftig anzulegenden Befestigungswerke des Bundes, die Rechte und die Pflichten aller Bundesgenossen gleich" seien, und daher, wenn die Errichtung eines solchen nicht durch einen besonderen Rechtstitel für den Bund begründet ist, sie „der freien Zustimmung des betheiligten Bundesgliedes" bedarf, „wenn sie Statt haben soll" (Sperrung im Original). 74 Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs, S. 337 ff. (S. 358). 75 Der genaue Titel des Gesetzes lautet: „Das Bundesgesetz vom 30. October 1834, die Errichtung des Bundesschiedsgerichts betreffend", Text bei Maurenbrecher, Grundsätze (Fn. 49), S. 529 ff. 73

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes

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gestand jeder der 17 Stimmen im engeren Rat der Bundesversammlung zwei Männer aus den von ihr repräsentierten Staaten zur Ernennung zu 76 . 3. Zusammenfassende Bewertung Nach dem Zerfall des Alten Reiches haben die deutschen Länder ihre Stellung als souveräne Staaten etabliert und können somit den in der Völkerrechtslehre bereits entwickelten Grundsatz der Staatengleichheit für sich in Anspruch nehmen. Der Text der Bundesakte transponiert diese Gleichheit der Länder ausdrücklich als eines der obersten Prinzipien auch in das Innenverhältnis des Staatenbundes mit der Folge, daß die bündische Parität ihren Inhalt der völkerrechtlichen Gleichheit entlehnt: Alle Staaten sollen auch im Verhältnis zueinander gleiche Rechte und Pflichten haben77. Die Positivierung einer umfassenden Rechtsgleichheit der Staaten muß im bündischen Miteinander zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zu ihrer tatsächlichen Verschiedenheit geraten, die sich nicht nur in der Verfassungswirklichkeit abbildet, sondern auch auf normative Berücksichtigung in den Entscheidungsgremien und Institutionen des Bundes sowie bei der Verteilung von Lasten drängt78. Die Stimmenverteilung in der Bundesversammlung löst dieses Problem in einer Form, die einen Weg zwischen Gleichheit und an der Größe der Staaten orientierter proportionaler Berechtigung wählt, den Ausgleich beider Konzepte allerdings stark zu Lasten der proportionalen Verteilung sucht und damit der Gleichheit der Staaten auch hinsichtlich des Einflusses auf die zentrale Willensbildung deutlich den Vorzug gibt79. Teleologisch verbirgt sich hinter dieser starken Annäherung an die Gleichheit bereits die Funktion, die Suprematie einzelner Staaten zu verhindern 80. Auch das für die wichtigsten Be76

Siehe dazu Maurenbrecher, Grundsätze (Fn. 49), S. 168. Zu dieser Zeit ist auch bereits der Begriff der absoluten Gleichheit bekannt, siehe Johann Caspar Bluntschli, Stichwort „Rechtsgleichheit und Rechtsverschiedenheit", in: Bluntschli/Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, 8. Bd., Stuttgart und Leipzig 1864, S. 503 ff. (S. 506) in einem anderen Kontext. 78 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. I, S. 673. 79 Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht (Fn. 54), S. 646 f. Fn. 11, der daraufhinweist, daß von einer verhältnismäßigen Verteilung keine Rede sein könne, die Stimmenverteilung vielmehr - wie Art. 6 im Wortlaut sagt - nur „mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Größe der einzelnen Bundesstaaten" geregelt worden ist; siehe auch später Brie, Staatenverbindungen (Fn. 5), S. XCII, der dies für „nur eine verhältnismäßig geringe Rücksicht auf die Machtunterschiede" hält. 80 Siehe die ausdrückliche Formulierung dieses Gedankens in Art. VIII des Beschlusses der Plenarversammlung vom 09.04.1821 über die Grundzüge der Militärverfassung, wo es heißt: „Nach der grundgesetzlichen Gleichheit der Rechte und Pflichten, soll selbst der Schein von Suprematie eines Bundesstaates über den anderen vermieden wer77

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

schlüsse in der Bundesversammlung geltende Einstimmigkeitsprinzip81 sowie der Ausschluß des Mehrheitsprinzips, soweit iura singolorum der Einzelstaaten betroffen sind,82 sollen der Absicherung der Gleichheit staatlicher Souveränität dienen und damit in dieselbe Richtung stoßen83. Nach zeitgenössischer Anschauung formuliert die Bundesakte das Verhältnis von Gleichheit zur Ungleichheit normativ als das der Regel zur Ausnahme, indem sie die Gleichheit aller Rechte als Grundsatz an den Anfang stellt und Durchbrechungen desselben ausdrücklich bestimmt. Solche Ausnahmen positiviert sie in erster Linie für die Stimmenverteilung in der Bundesversammlung und für die Distribution der militärischen und finanziellen Lasten; letztere erfolgt im wesentlichen verhältnismäßig zur Bevölkerungszahl als einem objektiv nachprüfbaren Differenzierungskriterium. Eine Verletzung des proportionalen Verteilungsmaßstabes sanktioniert das Recht mit der Unverbindlichkeit des Beschlusses bis zur Zustimmung des Staates bzw. mit der Kompensation der besonderen Lasten; diese sich schon im Alten Reich andeutende Rechtsansicht84 hat auch im Deutschen Bund ihren Niederschlag gefunden. Normativ betrachtet erlebt dieföderative Gleichheit im Deutschen Bund eine Blütezeit: Die Rechtsordnung hat ein austariertes System geformt, in dem sich die rechtliche Gleichheit aller Staaten als generelle Regel etabliert hat und Ausnahmen ausdrücklich normiert werden. Dieseföderative Gestaltungsweise wird die Grundlage für die Ausformung bündischer Gleichheit in späteren Epochen bis zur Gegenwart bilden. Das gilt nicht nur für das Prinzip, auf der Basis der prinzipiellen Gleichheit der Länder spezielle bereichsbezogene Ungleichheiten zu schaffen, die jeweils bestimmte Telae verfolgen, oder für den Gedanken, daß Rechtsgleichheit die Beseitigung entstandener Ungleichheit verlangt, der heute beispielsweise im Sonderbelastungsausgleich des Art. 106 Abs. 8 GG weiterexistiert85. Auch konkretere Konzepte aus dieser Zeit wirken bis heute fort, wie etwa Pfizers Rotationsidee, die sich noch in der gegenwärtigen Verfassungspraxis bei der Wahl des Bundesratspräsidenten niederschlägt, der nach dem

den", Text bei Struve, Das öffentliche Recht (Fn. 70), 2. Theil, S. 211; vgl. auch £. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. I, S. 673 f. 81 Siehe E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. I, S. 593. 82 Siehe Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1497 f.). 83 Im bereits genannten Commissions-Gutachten (Fn. 73), Auszug in Meyers StaatsActen, 2. Theil, S. 112 ff. (S. 118 ff.) wird die Gleichheit der Glieder als Grund für die Ausnahme der iura singolorum vom Mehrheitsprinzip genannt. 84 Siehe oben § 5 I. und Fn. 27. 85 Siehe dazu unten ausführlich 3. Kapitel, § 10 II. 2. d).

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes

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Königsteiner Abkommen86 in jährlichem Turnus aus dem Kreise der Regierungschefs der Länder gewählt wird 87 .

II. Die Paulskirchenverfassung In der auf eine bundesstaatliche Ordnung88 gerichteten Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.03.1849 findet die Rechtsgleichheit der Glieder zwar keine explizite Aufnahme mehr 89, doch die Konzepte der Gleichheit an Autonomie und der differenzierten Verteilung des Einflusses auf die gesamtstaatliche Willensbildung kommen auch in diesem Regelungswerk zur Geltung: Trotz Wegfalls ihrer Souveränität behalten die einzelnen deutschen Staaten nach Art. I § 5 des I. Abschnitts der Paulskirchenverfassung ihre Selbständigkeit. Die Verfassung geht damit von den Einzelstaaten „als selbständige rechtliche Persönlichkeiten aus" und entzieht ihnen „nur diejenigen Rechte ..., die ausdrücklich der Gesammtgewalt übertragen werden", ein Grundsatz, der „sich ebenso gut auf die größten, wie auf die kleinsten Staaten Deutschland^"90 bezieht91. Im Staatenhaus weist Art. II § 87 des IV. Abschnitts der Verfassung schließlich den Staaten unterschiedlich viele Mitglieder, mindestens aber eines

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Das Abkommen vom 30.08.1950 ist urkundlich nicht niedergelegt; der Inhalt ergibt sich aus dem stenographischen Bericht und ist partiell wiedergegeben bei Konrad Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Heidelberg 1991, S. 332 f. 87 Siehe dazu Albert Pfitzer, Die Organisation des Bundesrates, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, Bad Honnef u.a. 1974, S. 182. 88 Siehe Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl., Neuwied 1998, S. 46 und 117; Hans Brasch, Das Verhältnis der Gliedstaaten zur Centralgewalt nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, Leipzig 1909, S. 9; siehe als Beispiel für die zeitgenössische Einordnung der Verfassung als die eines Bundesstaates etwa die Rede von Riesser in der 159. Sitzung der Nationalversammlung vom 26.01.1849, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung, Bd. 4, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1848, München 1988, S. 2971, sowie die Rede von Waitz in der 188. Sitzung der Nationalversammlung vom 19.03.1849, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 8, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1849, 1988, S. 5837 f. 89 Die Anträge von Schaffrath, Wigard, Spatz, Fehrenbach, Nauwerk und Eisenstuck in der 159. Sitzung der Nationalversammlung vom 26.01.1849, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 4, S. 2982, den § 6 des Entwurfs und späteren § 5 der Verfassung dahingehend zu ergänzen, daß die einzelnen deutschen Staaten „unter sich ihre Gleichheit und der Reichsgewalt gegenüber" ihre Selbständigkeit behalten, hatten keinen Erfolg. 90 Zitate aus der Rede von Riesser (Fn. 88), S. 2971. 91 Vgl. auch die Rede von Beseler in der 169. Sitzung der Nationalversammlung vom 13.02.1849, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 7, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1849, 1988, S. 5184.

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

zu 92 ; bei dieser Verteilung berücksichtigt die Vorschrift nach Zoepfl 93 die Bevölkerungszahl, ohne daß dies freilich in ihrem Text explizit zum Ausdruck kommt. Bei der Gewichtung der Länderstimmen im Staatenhaus hat sich auch die Paulskirchenverfassung gegen eine strenge populationsbezogene Proportionalität entschieden, aber im Gegensatz zur Bundesversammlung verzeichnet sie eine wesentlich deutlichere Differenzierung der Stimmenverteilung94, die den unterschiedlichen Bevölkerungszahlen der Staaten in höherem Maße Rechnung trägt als noch die Bundesakte95. Hatten im Deutschen Bund die ungleichen Populationsverhältnisse lediglich zu leichten Korrekturen an einer gleichen Vertretung aller Staaten geführt 96, so begeht die Lösung der Paulskirchenverfassung eher einen Mittelweg zwischen Gleichheit und proportionaler Berechtigung. Eine Stimmenparität stößt als „unhaltbare Fiction"97 auf Ablehnung98, aber auch einer strengen Orientierung an der Einwohnerzahl erteilt man eine Absage, um angesichts der Bevölkerungskonzentration in Preußen, Österreich und Bayern „ein so niederdrückend oligarchisches Verhältniß im deutschen Staatenhause nicht aufkommen zu lassen"99, und damit, je kleiner der Staat, um so mehr mit Hintansetzung der Volkszahl und politischen Bedeutung das Staatsindividuum in ihm geehrt" 100 wird.

92 Näher dazu und zur Entstehungsgeschichte, insbesondere zur Ablehnung des am Vorbilde der USA und der Schweiz ausgerichteten Vorschlags einer gleichen Vertretung aller Staaten Brasch, Verhältnis der Gliedstaaten (Fn. 88), S. 46. 93 Zoepfl, Grundsätze (Fn. 53), S. 444 Fn. 7. 94 So hat z.B. Preußen in der Bundesversammlung im Verhältnis zu Lübeck ein nur vierfach stärkeres Stimmrecht, im Staatenhaus dagegen stimmenmäßig ein vierzigfach größeres Gewicht. 95 Siehe etwa den Bericht Dahlmanns zu den Motiven hinsichtlich der Zusammensetzung des Staatenhauses in der 128. Sitzung der Nationalversammlung vom 04.12.1848, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/ 1849, Stenographischer Bericht, Bd. 5, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1848, 1988, S. 3803; siehe ebenso die Rede von Waitz in derselben Sitzung, in: Wigard aaO., S. 3853. 96 Siehe oben I. 3. und vgl. Zoepfls Kritik, Grundsätze ( Fn. 53), S. 442 ff. 97 Siehe Dahlmanns Bericht zu den Motiven in der 128. Sitzung der Nationalversammlung von 04.12.1848, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3803. 98 Siehe aber die Minoritätsmeinung von Wigard, der eine Gleichstellung des Stimmrechts unabhängig von der Größe forderte mit der Begründung, ein Staatenhaus sei keine Vertretung der Bevölkerung, sondern der Staaten als gleichberechtigte Individualitäten, in: Wigard (Hrsg.) Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3860. 99 Siehe Dahlmanns Bericht (Fn. 97), S. 3803. 100 Siehe Dahlmanns Bericht (Fn. 97), S. 3804; umgekehrt spielen Bevölkerung und Machtverhältnisse auch mit zunehmender Größe des Staates eine geringere Rolle, wie

§ 6 Die Zeit des Deutschen Bundes

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Der Vergleich zwischen dem Organisationsstatut des Deutschen Bundes und der Paulskirchenverfassung zeigt folglich auf, daß sich mit der Schmälerung der einzelstaatlichen Autonomie die tatsächliche Verschiedenheit der Gliedstaaten im Staatenhaus an entscheidender Stelle stärkere Beachtung verschaffen konnte. Allerdings gibt die Verfassung von 1849 den Gedanken gleicher Staatenpersönlichkeiten auch nicht völlig zugunsten einer reinen Proportionaldistribution auf; vielmehr hat auch sie sich das Ziel gesetzt, eine Übermacht einzelner großer Staaten zu verhindern. Von Bedeutung für den Gedanken der föderativen Gleichheit ist ebenfalls die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Er findet sich bereits in den Motiven zu der Frage, aus welchen Gründen das Deutsche Reich eines Reichsgerichtes bedarf. „Was das Einzelne betrifft, so mußte die dem Verfassungsentwurf zum Grunde liegende Idee eines aus gleichberechtigten Staaten gebildeten Bundesstaats mit einer einheitlichen Reichsgewalt an der Spitze zur Abgrenzung der Befugnisse, welche den einzelnen Staaten verbleiben, von denjenigen Rechten führen, welche dem Reich zu übertragen sind"101. Wenn die Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 schließlich in Art. I § 126 a) des V. Abschnitts Klagen eines Gliedstaates gegen das Reich und vice versa wegen einer Verfassungsverletzung durch eine legislative oder exekutive Maßnahme vor einem Reichsgericht vorsieht, dann erhalten nicht nur alle Gliedstaaten gleichen Rechtsschutz, den sie überdies unter Umständen auch zur Durchsetzung föderativer Gleichheitspositionen hätten einsetzen können, sondern aus der Vorschrift folgt indirekt auch eine Ausweitung des Gleichberechtigungsgedankens auf das Verhältnis des Reiches zu den Staaten, insofern als beiden die gleichen prozessualen Rechte und Pflichten im gerichtlichen Verfahren eingeräumt werden müssen. Soweit ersichtlich, wird dieser Gedanke zu dieser Zeit zwar noch nicht explizit geäußert102, doch normativ durch § 126 a) der Paulskirchenverfassung bereits implizit zum Ausdruck gebracht.

Friedrich Julius Stahl, Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der deutschen Nationalversammlung und nach dem Entwurf der drei königlichen Regierungen, Berlin 1849, S. 30 f. am Beispiel Preußens verdeutlicht. 101 Berathung über den Bericht des Verfassungsausschusses, das Reichsgericht betreffend, in der 123. Sitzung der Nationalversammlung vom 27.11.1848, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3596. 102 Vage angedeutet wird er allerdings in der Beratung über das Reichsgericht etwa von Moritz Mohl in der 123. Sitzung der Nationalversammlung von 27.11.1848, in: Wigard (Hrsg.), Reden für die deutsche Nation 1848/1849, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3608; ausdrücklich findet er sich erst später etwa bei Heinrich Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, in: Festgabe für Wilhelm Kahl, Neudruck der Ausgabe Tübingen 1923, Aalen 1981, S. 3 ff., 50 f., siehe dazu unten § 8 III. 3.

2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

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§ 7 Das Deutsche Kaiserreich von 1871 Das Deutsche Reich von 1871 wird - wie bereits einige Jahre zuvor der Norddeutsche Bund103 - als Bundesstaat errichtet 104. Obwohl seine Verfassung keine ausdrückliche Regelung zur Rechtsgleichheit seiner Gliedstaaten kennt, nimmt sich das zeitgenössische Schrifttum dieses Gegenstandes an und diskutiert Geltung und Inhalt eines Gleichheitsprinzips kontrovers. Wenn föderative Gleichheit auch nicht das bestimmende Thema dieser Zeit ist, so taucht es doch in der Literatur immer wieder an den Reibungsflächen des bundesstaatlichen Hegemonialsystems auf.

I. Die Diskussion um die Rechte der Einzelstaaten 1. Die „ Gleichberechtigung"

der Reichsglieder bei Paul Laband

Der prominenteste Protagonist einesföderativen Gleichheitsprinzips im Kaiserreich ist Laband, der in einem vielbeachteten, in Hirths Annalen publizierten 103

Eine eigene Betrachtung des Norddeutschen Bundes hinsichtlich der Rechtsgleichheit der Glieder unterbleibt wegen der diesbezüglichen Ähnlichkeit mit dem nachfolgenden deutschen Reich, siehe dazu Otto Mejer, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 2. Aufl., Freiburg u.a. 1884, S. 293 Fn. 4, der daraufhinweist, daß „was über dies Prinzip der Gleichheit in den Mitgliedschaftsrechten jetzt für das Reich gilt ..., galt ebenso schon für den Norddeutschen Bund". Wegen der kurzen Zeit bis zur Entstehung des Deutschen Reiches sind auch nur wenige zeitgenössische Arbeiten über die Norddeutsche Verfassung vorhanden, siehe aber z.B. Ferdinand von Mörtitz, Betrachtungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes, Leipzig 1868, S. 12 f., der die Gleichberechtigung der Glieder als Wesensmerkmal des Bundesstaates sieht; kritisch hingegen Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1880, Hildesheim u.a. 1998, S. 247 f., der für den Norddeutschen Bund eine Abweichung „von der schweizerischen oder nordamerikanischen Verfassung als Normaltypen dieser Gattung", die sich durch eine Beteiligung der einzelnen Staaten an der Organisation der Bundesgewalt „mit gleichem Rechte" auszeichnen, mit der Begründung feststellt, daß „hier der wichtigste Theil der Regierung und Vertretung der Bundesgewalt dem Königreiche Preußen, welchem schon an sich größere Genossenschaftsrechte (grössere Stimmenzahl im Bundesrathe) zugetheilt sind, ein für allemal gewissermaassen als angeborenes Recht beigelegt" ist. 104

Zur zeitgenössischen Kontroverse, ob das Reich ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sei und zur Durchsetzung der letzteren Ansicht siehe aus heutiger Zeit etwa Stern, Staatsrecht (Fn. 4), Bd. V, S. 352; aus der Kaiserzeit siehe etwa Conrad Merle, Die besonderen Rechte Preussens und Bayerns nach der Reichsverfassung, Breslau 1916, S. 29, der mit umfangreichen Nachweisen zu Laband, Anschütz, Meyer, G. Jellinek u.v.a. diese Ansicht als allgemein anerkannt bezeichnet; Nachweise auch bei Max Seydel, Der Bundesstaatsbegriff, ZgesStW 28 (1872), S. 185 ff. (S. 208 f.); zur bundesstaatlichen Einordnung des Kaiserreiches von der Weimarer Zeit bis zur Gegenwart siehe auch oben 1. Kapitel, § 3 I. 2. c) Fn. 50.

§ 7 Das Deutsche Kaiserreich von 1871

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Aufsatz zum Begriff der Sonderrechte 105 die „Gleichberechtigung"106 der Staaten als Rechtsgrundsatz entwickelt und später in seinem Werk zum Staatsrecht 107 näher erläutert. Im Rahmen des um die Interpretation des Art. 78 Abs. 2 der RV kreisenden Streites über die Frage, welche Rechte der Gliedstaaten nur mit Zustimmung derselben geändert werden dürfen und damit dem Zugriff der pluralitas votorum entzogen sind108, vertritt Laband in seinem Beitrag zum Begriff der Sonderrechte eine sehr weitgehende Ansicht, die drei Kategorien von staatlichen Rechten dem Zustimmungsvorbehalt unterstellt. Die erste Kategorie betrifft die Rechtssphäre außerhalb des Reichsverbandzwecks, in der das Reich keine Kompetenzen besitze. Die zugunsten einzelner Staaten eingeführten Ausnahmen von den allgemeinen, für alle Staaten geltenden Regeln bilden die zweite Kategorie109. Den Gleichheitsgedanken entfaltet Laband im wesentlichen bei der dritten Kategorie, die er als „Rechte, welche nicht allen Staaten gleichmäßig, sondern nur Einem oder Einigen entzogen werden sollen, resp. Mehrbelastungen einzelner Staaten über das Maß hinaus, welches als Regel für alle gilt" 110 bezeichnet. Diese dritte Art der durch Mehrheitsbeschluß nicht änderbaren Gliederrechte führt Laband auf die Gleichberechtigung aller Staaten zurück, die zwar nicht in der Verfassurig ausgesprochen sei, aber doch durchweg Anwendung gefunden habe, soweit nicht für einzelne Staaten Sonderrechte der zweiten Kategorie, das heißt Ausnahmen von der Reichskompetenz, besondere Stellungen in der Reichsorganisation oder finanzielle Begünstigungen111 begründet würden. Er belegt dies mit dem Hinweis auf die in allen Gebieten gleichen Gesetzgebungsund Verwaltungskompetenzen des Reiches gegenüber sämtlichen Gliedstaaten, auf die Verteilung der Stimmrechte im Bundesrat und der Sitze im Reichstag nach dem für alle gleichen Prinzip und auf die Anwendung des stets gleichen

105

Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1515). 107 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Bd., 5. Aufl., Tübingen 1911, S. 116 f. 108 J)ie Darlegung der Ansichten zu dieser Streitfrage „von hohem politischem Interesse" findet sich etwa bei Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 340 ff.). 109 Die Ausnahmen teilt er wiederum in drei Klassen ein: Die einen betreffen Exemptionen von der Reichskompetenz, weitere beziehen sich auf Sonderrechte einzelner Staaten hinsichtlich ihrer Stellung in der Reichsorganisation, letztere bestehen in finanziellen Begünstigungen, siehe Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1504 ff.). 110 Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1504 ff.). 111 Hierzu siehe oben Fn. 109. 106

2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

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Maßstabes bei der Distribution verschiedener Lasten wie etwa nach Art. 58 RV der Kosten des Kriegswesens oder nach Art. 70 RV der Matrikularbeiträge. Zudem lasse sich die Gleichberechtigung der Glieder und die schon im Alten Reich, im Deutschen Bund und auch im Privatrecht der Korporationen nachweisbare Zustimmungspflichtigkeit eines gegen sie gerichteten Verstoßes112 auch im Deutschen Reich aus dem „Wesen des Bundes", aus dem „Rechtsgefühl", dem „Rechtsbegriff', „dem Begriff der sittlichen Freiheit" und „der Maxime der Coexistenz"113 herleiten. Aus diesem Rechtssatz, der für die einzelnen Staaten „in der Garantie ihrer Gleichberechtigung nach Verhältnis ihrer Größe und Leistungskraft und nach Maßgabe der für alle geltenden verfassungsmäßigen oder gesetzlichen Prinzipien" besteht, folge, daß „kein Gesetz, auch nicht in den für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Formen, zulässig"114 sei, das lediglich einen einzigen Staat ohne dessen Zustimmung aufhebt, ihm legislative oder administrative Befugnisse entzieht oder ihm Mehrbelastungen auferlegt; solange diese Maßnahmen aber gleichmäßig gegenüber allen Staaten erfolgten, sei sogar eine Umwandlung des Reiches in einen Einheitsstaat nicht zu beanstanden115. Im Rahmen einer Systematisierung der Rechte der Einzelstaaten bezieht Laband später in seinem „Staatsrecht" die Gleichberechtigung der Glieder auf die Mitgliedschaftsrechte der Einzelstaaten, die den Sonderrechten (jura singulariä) und den Rechten der Bundesstaaten als Einzelner (jura singulorum) gegenüberstehen116. Damit stellt er klar, was in seinem Aufsatz in Hirths Annalen

112

Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (1489 ff.); bezüglich des Privatrechts der Korporationen siehe insbesondere seine Bezugnahme auf II. 6, § 69 des Preußischen Allgemeinen Landrechts auf S. 1504; allgemein zu seiner Qualifizierung des Bundesstaates als korporative staatsrechtliche Verbindung siehe derselbe, Staatsrecht (Fn. 107), S. 55 ff. 113 Alle Zitate von Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1514). 114 Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1515) (Sperrung im Original). 115 Laband, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (S. 1515); dazu siehe etwa Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl., München u.a. 1959, S. 149 f. 116 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 114 ff., siehe insbesondere S. 116; die Sonderrechte (Jura singularia) unterteilt er wiederum in dieselben drei Klassen wie die oben genannte 2. Kategorie von Rechten (Fn. 109), und die Rechte der Bundesstaaten als Einzelne (Jura singulorum) entsprechen der oben genannten 1. Kategorie, siehe ebenda S. 117 ff.; zur Gleichheit der Mitgliedschaftsrechte siehe auch die knappen Ausfuhrungen desselben, in: Deutsches Reichsstaatsrecht, 6. Aufl., Tübingen 1912, S. 33, die Otto Mayer nach dem Tode Labands noch in die von ihm bearbeitete 7. Aufl. von Labands Deutschen Reichsstaatsrechts, Tübingen 1919, S. 33 übernahm.

§ 7 Das Deutsche Kaiserreich von 1871

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noch aufgrund von begrifflichen Widersprüchen undeutlich blieb 117 , daß er nämlich „den Anspruch jedes Einzelstaates auf gleiche Behandlung gerade für das Gegenteil eines Sonderrechts, für den allen Mitgliedern gleichmäßig zugute kommenden Ausfluß der Mitgliedschaft, für ein MitgliedschaftsrQcht" u8 hält. Vor allem aber präzisiert Laband in diesem Werk Art und Inhalt des Gleichheitsprinzips: „Daß Ausnahmen von dem Grundsatz der Gleichheit der Rechte und Pflichten vorkommen, ist kein genügender Grund, um die Geltung dieses Prinzips als Regel zu bestreiten"119. Zudem sei die Gleichheit der Mitgliedschaftsrechte „nicht etwa in dem Sinne, daß sie für alle Staaten absolut gleich sind, sondern daß auf alle Staaten dieselben Rechtsregeln Anwendung finden"120, zu verstehen. Zu diesen Mitgliedschaftsrechten bzw. -pflichten zählt Laband unter anderem die Ansprüche der Einzelstaaten auf Schutz und die Wohlfahrtspflege von Seiten des Reiches, die Beteiligungsrechte an den Organen des Reiches, das Recht jedes Staates darauf, daß seine Staatsangehörigen unter den gleichen Bedingungen wie die anderer Staaten Zugang zu Reichsämtern haben, sowie die Pflicht zur anteilsmäßigen Tragung finanzieller und militärischer Lasten121, während etwa die Ausnahme einzelner Staaten aus der Reichskompetenz für bestimmte Materien oder die bevorzugte Stellung einiger Staaten in der Organisation des Reiches als Sonderrechte zu bezeichnen seien, die Abweichungen von der sonst geltenden Regel für diese Staaten darstellten 122 . Schließlich führt Laband mit Bezug auf die Gründung des Bundes eine weitere Erklärung für die Geltung des Prinzips der Gleichberechtigung ein. Diese sei nämlich eine Folge derselben personalen Qualität aller Einzelstaaten, wie sie bei der Begründung des Bundes bestanden habe und bis heute als Grundlage

117 Dort ordnet Laband das Gleichheitsprinzip mal als Sonderrecht ein, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1874, S. 1487 ff. (z.B. sinngemäß auf S. 1504), was bei Loening, Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 342) auf heftige Kritik stößt, mal stellt Laband es den Sonderrechten gegenüber (siehe z.B. ebenda S. 1508 oder S. 1524); die Einschätzung einer ,,Unklar[heit] an der Labandschen Deduktion" (Klammerzusatz hinzugefügt) in dessen Aufsatz in Hirths Annalen und einem damit verbundenen Widerspruch zu seinen späteren Ausführungen im Staatsrechtsbuch teilt auch bereits Leibholz, Gleichheit (Fn. 115), S. 149 f. 118 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 117 Fn. 2, der damit auf die Kritik Loenings in Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1875, S. 337 ff. (S. 342) reagiert (Sperrung im Original). 119 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 117 Fn. 1 (Sperrung im Original). 120 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 116 (Sperrung im Original). 121 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 114 f. 122 Laband, Staatsrecht (Fn. 107), S. 117 ff.

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2. Kap.: Historischer Abriß des föderativen Gleichheitsgedankens

des Bundes Verhältnisses fortwirke 123. Diese Argumentation korrespondiert mit seiner Qualifizierung der Glieder als autonome Staaten124. 2. Die Labandschen Thesen in der zeitgenössischen Kritik Viele Stimmen in der Literatur schließen sich Labands Ansicht in den wesentlichen Punkten an 125 , wenn es auch hier und da Nuancen in der Terminologie 126 oder Argumentation127 gibt. Aber sein Konzept der Gleichberechtigung erntet auch Widerspruch.

123 Wörtlich heißt es: „Bei der Begründung des Norddeutschen Bundes und dem Hinzutritt der süddeutschen Staaten standen sich die bis dahin souveränen deutschen Staaten als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber und auf der Anerkennung dieser Gleichberechtigung, der Koexistenz einander ebenbürtiger staatlicher Personen, beruht das £w«