Faszinosum des Verborgenen: Der Harnstein und die (Re-)Präsentation des Unsichtbaren in der Urologie 3515100342, 9783515100342

Die (Re-)Präsentation des Unsichtbaren stellt ein klassisches Problem der Medizin dar, das bis heute nicht an Anziehungs

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German Pages 142 [146] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Repräsentation des Unsichtbaren in der Medizin
Die Repräsentation des Unsichtbaren: Darstellung als Problem und Promotor in der Entstehung von Wissen
Diagnostik: Konkurrenz der Sinne
Steine hören – akustische Methoden zur Steindiagnostik im 19. Jahrhundert
Die Evidenz des endoskopischen Blicks
Konstellationen der Macht: Zur Durchsetzung technischer Innovationen und neuen Wissens
Der Streit zwischen dem Chirurgen Jean Jacques Leroy d’Etiolles und dem Instrumenten-Fabrikanten Frédéric Benoit Charrière
Darstellung einer medizinischen Innovation: Einführung und Ausbreitung der ESWL in der Bundesrepublik Deutschland
Therapie: Operative Technik und Inszenierung
Blasensteinschnitt in der Frühen Neuzeit: Die operative Technik des Wilhelm Fabry von Hilden
Die Steinschneider Johannes und Carl Palm. Ein Beitrag zur Lithotomie in Ulm im 19. Jahrhundert
Die Lithobiographie des Johannes Saubertus (1592–1646). Eine posthume Patientengeschichte
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Faszinosum des Verborgenen: Der Harnstein und die (Re-)Präsentation des Unsichtbaren in der Urologie
 3515100342, 9783515100342

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Heiner Fangerau / Irmgard Müller (Hg.) Faszinosum des Verborgenen

k ultur a namnesen Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften Herausgegeben von Heiner Fangerau, Renate Breuninger und Igor Polianski in Verbindung mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, dem HumboldtStudienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften und dem Zentrum Medizin und Gesellschaft der Universität Ulm Band 2

Heiner Fangerau / Irmgard Müller (Hg.)

Faszinosum des Verborgenen Der Harnstein und die (Re-)Präsentation des Unsichtbaren in der Urologie

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildungen: Reihenlogo: Walter Draesner, „Der Tod und der Anatom“, Graphiksammlung „Mensch und Tod“ der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Gemälde: Trophîme Bigot, „Un médecin fait une analyse d’urine“ (17. Jahrhundert), Ashmolean Museum, University of Oxford

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10034-2

Inhalt Vorwort.............................................................................................................. Repräsentation des Unsichtbaren in der Medizin

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Irmgard Müller, Heiner Fangerau Die Repräsentation des Unsichtbaren: Darstellung als Problem und Promotor in der Entstehung von Wissen.............................................. 11 Diagnostik: Konkurrenz der Sinne Maria Winter Steine hören – akustische Methoden zur Steindiagnostik im 19. Jahrhundert....................................................................................... 33 Michael Martin Die Evidenz des endoskopischen Blicks..................................................... 47 Konstellationen der Macht: Zur Durchsetzung technischer Innovationen und neuen Wissens Michaela Zykan Der Streit zwischen dem Chirurgen Jean Jacques Leroy d’Etiolles und dem Instrumenten-Fabrikanten Frédéric Benoit Charrière.................. 65 Helmut Braun Darstellung einer medizinischen Innovation: Einführung und Ausbreitung der ESWL in der Bundesrepublik Deutschland............... 77 Therapie: Operative Technik und Inszenierung Franz J. Marx, Daniel Schäfer Blasensteinschnitt in der Frühen Neuzeit: Die operative Technik des Wilhelm Fabry von Hilden.................................................................... 89 Peter Kraus und Hans-Joachim Winckelmann Die Steinschneider Johannes und Carl Palm. Ein Beitrag zur Lithotomie in Ulm im 19. Jahrhundert.................................................. 113 Marion Maria Ruisinger Die Lithobiographie des Johannes Saubertus (1592–1646). Eine posthume Patientengeschichte............................................................ 129

Vorwort Der vorliegende Band ist aus der gemeinsamen Beschäftigung mit unterschiedlichen Darstellungsformen diagnostischer Methoden und ihrer Funktion als Promotor medizinischer Erkenntnis hervorgegangen. Zentral war dabei die Frage, inwiefern sich Produktion und Darstellung medizinischer Erkenntnis wechselseitig bedingen und durchdringen. Im Rahmen dieser Forschung gab die Beobachtung, dass der für diese Auseinandersetzung besonders prädestinierte Gegenstandsbereich urologischer Technik, die als erste unter den medizinischen Disziplinen das Unanschauliche anschaulich gemacht hat, seitens der Bildwissenschaft bisher nur eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, den eigentlichen Anstoß, die Urologie als Untersuchungsfeld heranzuziehen. Die Sammlung von Beiträgen entspricht daher dem Versuch, sich aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Zeithorizonten der Frage nach der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, nach den apparativen und ökonomischen Bedingungen am Beispiel der urologischen Praxis zu nähern sowie die verschiedenen Wege der Inszenierung, Realisierung und Entfernung des Unsichtbaren aufzuzeigen. Zu diesem Zweck sollen nach einigen theoretischen Vorüberlegungen Darstellungsformen von Harnsteinen, die Bedingungen ihrer Sichtbarmachung und Entfernung sowie zuletzt ihre Repräsentationsformen im therapeutischen Kontext behandelt werden. Die Intention der Herausgeber ist dabei nicht, eine geschlossene Theorie der Bildproduktion innerhalb der urologischen Wissenschaft vorzulegen, sondern vielmehr die Vielfalt der Ansätze zur Bildgenerierung und die Macht der Bildproduktion an einem bisher in diesem Zusammenhang wenig beachteten pathologischen Objekt, den Harnsteinen und ihrer versinnlichten Anschauung, in Augenschein zu nehmen. Wir danken der DFG für die Unterstützung unserer Forschung, die wir im Rahmen des Projektes „Darstellung als Problem und Promotor medizinischer Diagnostik von der Wende des 18./19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ durchführen konnten. Die Herausgeber, Juni 2011

Repräsentation des Unsichtbaren in der Medizin

Die Repräsentation des Unsichtbaren: Darstellung als Problem und Promotor in der Entstehung von Wissen Irmgard Müller, Heiner Fangerau Dem unmittelbaren Blick entzogen ist das Innere des Körpers. Doch nicht selten verbergen sich gerade hier Krankheitsgeschehen, so dass sich dem Arzt das Problem stellt, in Diagnose, Prognose und Therapie seinen Patienten und Kollegen das von außen nicht Sichtbare vor Augen zu führen. Seine Darstellung von Krankheitszeichen und deren Deutung müssen unbedingt überzeugen, damit die auf eine Diagnose folgenden (nicht selten unangenehmen) Maßnahmen plausibel und akzeptabel erscheinen. Dabei gilt die Darstellung als zutreffend, wenn sie den Adressaten evident erscheint, das heißt eine Darstellung, die ohne weitere Erklärungen oder gar Beweise augenscheinlich wirkt.1 Schon früh wurde das Problem erkannt, dass etliche Darstellungsformate bei dem Versuch, Evidenz zu erzeugen, eher einen Modellcharakter repräsentierten, als dass sie die festgestellten Sachverhalte wiederzugeben vermochten.2 Gleichwohl wurden sie als evident anerkannt und ihr gleichzeitig schlüssiger und fiktionaler Charakter ließ sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in wunderbarer Weise in Hans Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ einordnen. Diese als „idealistischer Positivismus“ kategorisierte Philosophie geht – basierend auf Ansätzen wie unter anderem der Erkenntnistheorie von Ernst Mach – davon aus, dass Denken als Lebensäußerung und damit einhergehende Wissensproduktionen bewusst und gezielt zu Fiktionen führt, die entweder für die weitere Entwicklung von Wissen über einen Gegenstand notwendig oder auf praktischer Ebene nützlich sind. Denken dient somit der Orientierung und Ordnung der Wirklichkeit. Der Wert dieses Ansatzes für die Medizin wurde einige Jahre nach dem Erscheinen von Vaihingers Hauptwerk, das eine große Popularität genoss, von Richard Koch und Fernando Rietti hervorgehoben. Rietti betonte hier besonders die Zweckmäßigkeit als eines der hervorstechendsten Merkmale der Fiktion und schlussfolgerte, dass „ganz besonders die 1

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Während die Methoden der Befunderhebung in der klinischen Medizin vielfältig erforscht sind, ist bislang die Frage der Darstellungsmodi der gewonnenen Daten nur ausschnittsweise betrachtet worden. Seit Langendorffs (1891) noch immer nützlicher Übersicht über die physiologische Graphik haben in neuerer Zeit erst wieder Hoff/Geddes (1959), A. Taubert (1964), S. de Chadarevian (1993) oder Hess (1993, 2000) die Entwicklung graphischer Darstellungsmethoden in der Medizin und Physiologie eingehender verfolgt. Für die Pharmakologie liegen ähnliche Studien von R. Porep (1969) vor. Die Verbreitung derartiger Aufschreibesysteme in der experimentellen Praxis des 19. Jh, samt ihrem Anspruch, das Ideal einer „Objektivität“ zu realisieren, haben Daston und Gallison (2002, 2008) eingehend untersucht. Vgl. zum Beispiel die weiter unten beschriebene Haltung William Harveys zu Illustrationen.

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geistige Tätigkeit des Mediziners reich an Fiktionen ist, da sie ja … mehr wie (sic!) jede andere praktischen Zielen folgt“ (Rietti 1924/1925: 386 f.). Für die Medizin von besonderem Wert erschienen ihm künstliche Klassifikationen, abstraktive (neglektive) Fiktionen, schematische oder paradigmatische Fiktionen, symbolische (analogische) Fiktionen, illustrative Fiktionen, summatorische Fiktionen und heuristische Fiktionen. Form und Methode der Darstellung sind dabei für die Akzeptabilität und Glaubwürdigkeit dieser Fiktionen in der Medizin zentral. Neben künstlichen Klassifikationen zur Differentialdiagnose oder zur Etablierung von Normaltypen fällt dies besonders im Zusammenhang mit schematischen Fiktionen, wie zum Beispiel einem Modell der Nieren und Harnblase, analogischen Fiktionen, wie der Körpermaschinenmetapher und illustrativen Fiktionen, wie die Darstellung von Immunitätsvorgängen mit Antikörpern und Rezeptoren, ins Auge. Gerade zu Paul Ehrlichs Seitenkettentheorie schrieb Rietti zur Schilderung der Fiktionen treffend: „…wir denken und stellen uns die Antigene, die Antikörper mit ihren Rezeptoren erster, zweiter und dritter Ordnung usw. vor, „als ob“ sie konkret und wirklich wären: die bizarren Bilder, wie wir sie in unseren Lehrbüchern haben, sind völlig phantastisch, dienen aber vortrefflich dazu, eine ganze Reihe interessantester Phänomene begreiflich zu machen“ (Rietti 1924/1925: 399).3 Die medizinische Praxis ist heute ohne bildgebende und bildproduzierende Verfahren nicht mehr denkbar. Während jedoch in vielen Disziplinen die Bildwissenschaften und Strategien der Visualisierung einen breiten Raum einnehmen,4 ist bisher die Bildpraxis in der Medizin vor allem im Bereich der Radiographie und der Embryologie zum Gegenstand von Untersuchungen geworden. So hat beispielsweise anhand der Radiographie Dommann (2003) den Umbruch der traditionellen Sehgewohnheiten durch die Bild gebenden Verfahren und die Verdrängung des „subjektiven Empfindens“ durch die „objektiven“ Röntgenbilder aufgezeigt. Dass in diesem Kontext Abbildungen in medizinischen oder naturwissenschaftlichen Texten oftmals eher Theorien als Sachverhalte repräsentieren, konnte schon Barbara Duden (1993) an den Abbildungen des Ungeborenen und seiner technogenen Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte plausibel machen. In ähnliche Richtung weisen die Studien von David Gugerli (1998), der anhand der Röntgentechnik und ihrer Methoden der Bilderzeugung die Automatisierung des ärztlichen Blicks untersucht hatte. Über den spezifischen Umgang mit nicht nur bildlichen Darstellungen in der Urologie und Steindiagnostik, über die Umsetzung medizinischer Beobachtungsdaten in verschiedene Repräsentationsformate oder über den Umbruch ärztlicher Sehgewohnheiten durch den Einsatz neuer Darstellungstechniken, nicht zuletzt über die nomothetische Funktion bestimmter Darstellungsverfahren in der Harnsteindiagnostik und -therapie im Hinblick auf die Normierung von Gesundheit und Krank3 4

Vgl. auch Cambrosio, Jacobi, Keating 1993; zur trügerischen Evidenz vgl. die Untersuchungen von Claus Zittel (2005). Vgl. u. a. Boehm 2001, Gugerli, Orland 2002, Hessler 2006, Kemp 2003, Peters 2006, Stafford 1997

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heit, liegen bis auf umfangreiche Studien zur Endoskopie bisher nur wenige Einzelstudien vor.5 Bevor in diesem Band die Repräsentation des (Un-)sichtbaren am Beispiel des Harnsteins in der urologischen Diagnostik und Therapie aus verschiedenen Perspektiven untersucht wird, möchten wir mit diesem Beitrag die Evidenz bildlicher Darstellungen in den Blick nehmen und unter der Perspektive des „als ob“ analysieren. Dabei soll vor allem die vermeintliche Faktizität erzeugende Kraft von Repräsentationsformen in der Medizin in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt und die nomothetische Intention von Darstellungen in der Medizin beschrieben werden. Damit möchten wir den Blick in besonderer Weise auf die verschiedenen Möglichkeiten und Strategien der Darstellung des Unsichtbaren in der medizinischen Diagnostik und Therapie lenken, die das Thema dieses Bandes bilden. Diese reichen vom Prioritätswandel der Sinne im Repräsentationsvorgang (siehe die Beiträge Winter und Martin) über Prioritätsstreitigkeiten sowie Präsentationsstrategien in der Entwicklung und Vermarktung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren (Beiträge Zykan und Braun) bis hin zu frühen (Selbst-)Darstellungen von Ärzten, ihren Operationstechniken und Heilverfahren (Beträge Marx, Schäfer und Winckelmann) und erschließen überdies das bisher kaum beachtete Feld posthumer Transmigration und Inszenierung des Therapierten post mortem zur posthumen Transmigration und Inszenierung des Therapierten und des Therapieziels (Beitrag Ruisinger). Abbildungen als Problem und Promotor medizinischen Wissens: Die Erforschung des Samens Sehr deutlich tritt in den meisten dieser Beiträge am Beispiel der Sichtbarmachung und Inszenierung des Harnsteins der Umstand zu Tage, dass wir uns in der Medizin seit einiger Zeit in einer ikonographischen Epoche befinden, die heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir von Abbildungen umstellt und dabei gleichzeitig Produzent und Produkt einer ungeheuren Bilderflut, die unser Denken, Wünschen und Vorstellen bestimmt. Wie die Autoren des Bandes verdeutlichen, haben sich Status und Modalitäten von Darstellungsverfahren im Umbruch zur Moderne entscheidend verändert, und die Zunahme von Verfahren zur technischen Bilderzeugung haben auch zu einer neuen Art der Wissensformatierung geführt. Dass dabei tendenziell das Wissen weniger von der Sache als von den zur Verfügung stehenden Darstellungsmitteln abzuhängen scheint, kann als spezifisches Merkmal moderner Wissensgewinnung und Wissensverbreitung gelten, birgt aber im Hinblick auf den Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch des erzeugten Wissens keine geringen Probleme in sich.6 Gleichzeitig zie5

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Vgl. u. a. zur Geschichte der Endoskopie in der Urologie Reuter (1998, 2003), zur Illustrationstechnik u. a. Görgen et al. (2010), der Szintigraphie als Kunstform in der Urologie widmet sich Mendgen (2010). Zur Normierung eines Therapieverfahrens als medizinethisch geboten, vergleiche den Beitrag von Helmut Braun zur Entwicklung der Extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie in diesem Band. Seit einigen Jahren hat die zuvor schon von Vaihinger und Rietti angesprochene Frage nach

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hen neue Darstellungsmittel beinahe autopoetisch oder autokatalytisch (Rothschuh 1957) nicht nur die Verbreitung von Wissen, sondern die Generierung neuen Wissens in einer besonderen Darstellungstradition nach sich. Aus der Fülle der Abbildungspraxis soll hier ein Beispiel herausgegriffen werden, um einige zentrale Aspekte der medizinischen Visualisierungstechniken zu erörtern, die den Status und die Funktion der „illustrativen Fiktion“ des Bildes als Instrument der Wissensgewinnung und -verbreitung in der Medizin berühren. Zur Beschreibung der Entstehung und Wirkung von „Leitbildern“, die durch ein bestimmtes begriffliches Konzept aus und an der Beobachtung evoziert werden und wie ein Wahrnehmungsfilter wirken, bietet sich ein Ausschnitt aus der Reproduktionsbiologie in besonderer Weise an, das der Debatte des 17. und 18. Jahrhunderts um die Entstehung und Zeugung der Lebewesen entnommen ist. Kaum eine andere Diskussion hat die Forscher in dieser Zeitspanne, in der die theologischen Erklärungsmodelle ins Wanken geraten und die Wirklichkeit der physischen Welt ihre metaphysische Garantie zu verlieren drohte, so sehr beschäftigt wie die Debatte um die Entstehung der Lebewesen. Ausgelöst hatte die Diskussion William Harveys 1651 publizierte Entdeckung der Embryonalentwicklung aus dem Ei, wobei der Terminus „Ei“ nach damaligem Verständnis und Wissen sowohl den Graafschen Follikel als auch die ersten Teilungsprodukte der Eizelle bezeichnete.

Abb. 1: Titelblatt von: William Harvey, Exercitationes de generatione animalium. London 1651 und Ausschnitt aus dem Titelblatt; auf der Büchse in den Händen Jupiters die Aufschrift: Ex ovo omnia dem epistemischen Statuts der durch Abbildung hergestellten „Realität“ oder „Sichtbarkeit“ besondere Aufmerksamkeit in der Literatur gefunden. Vgl. u. a. (Mersch 2006; Heßler 2005; Daston/Gallison 2008; Daston/Lunbeck 2011; Rheinberger 2001; Rheinberger/Hagner 1993; Rheinberger/Hagner/Schmidt 1997).

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Das Harvey zugeschriebene und auf dem Titelblatt abgewandelt zu findende Diktum „Omne vivum ex ovo“, erschütterte nicht nur die aus der Antike überlieferte Lehre der generatio spontanea, die für die niederen Lebewesen eine spontane Entstehung von Organismen aus unorganischer, faulender Materie vorsah, sondern sie stellte auch die Gültigkeit der Zweisamenlehre, den gleichmäßigen Anteil weiblichen und männlichen Spermas an der Keimesentwicklung in Frage. Nach dieser von Aristoteles begründeten Lehre sollte der männliche Samen das Form- und Bewegungsprinzip übertragen, während das weibliche Sperma das eigentliche materielle Substrat für Wachstum und Ernährung des Embryo zu liefern hatte. So sehr Harvey sich auch bemühte, im Uterus von nach der Paarung getöteten und sezierten Versuchstieren irgendwelche Samen oder Befruchtungsprodukte zu finden, um die Frage nach der Beteiligung des Samens zu beantworten, er musste diese Antwort schuldig bleiben, denn der Uterus war leer.7 Dieser negative Befund lag unter anderem an der unglücklichen Wahl seiner Versuchstiere. So hatte er für seine Experimente vornehmlich Hirschkühe aus dem königlichen Wildpark verwendet, bei denen die Ovulation verzögert ist. Seine Schlussfolgerung, dass der männliche Same dank der ihm innewohnenden „Aura seminalis“ (Schurig 1720) auf immaterielle Weise das weibliche Ei zur Entwicklung anrege, befriedigte die Zeitgenossen nur wenig und stieß trotz der Autorität Harveys, die er als Entdecker des Blutkreislaufs genoss, auf heftige Kritik. Auch gab sie Anlass zu intensiven weiteren Nachforschungen. Es war deshalb eine Sensation, als nach rund zwanzig Jahren angestrengter Suche die ersten sogenannten Spermatozoen in der Samenflüssigkeit unter dem Mikroskop gesichtet und als kleine animalcula, echte Lebewesen mit Kopf und Schwanz ins Bild gesetzt wurden und damit die paradoxen Kräfte Harveys reale Gestalt annahmen. Ein erstes Konterfei dieser rätselhaften Tierchen erschien als winzige Randfigur in einem Schreiben des holländischen Physikers und Mathematikers Nicolas Hartsoeker (1656–1725) an den holländischen Naturforscher Christian Huyghens. In dem Brief (Huygens 1899: No. 2117, S. 58–61) und in einer gleichzeitig im Journal des Sçavans (Hartsoeker 1678) veröffentlichten Mitteilung berichtete Hartsoeker über seine mikroskopischen Beobachtungen unendlich vieler kleiner Lebewesen, die er im Samen eines Hahnes sah und die kleinen Aalen oder Kaulquappen glichen. 16 Jahre später, 1694 als Anhang zu seinem Werk über Probleme der Optik, druckte Hartsoeker das Samentierchen erneut ab mit der Bemerkung, dass auch die menschlichen Spermatozoen die dargestellte Form zeigten (Hartsoeker 1694: 227). Er fügte hinzu, dass jeder dieser Samen ein weibliches oder männliches Exemplar der jeweiligen Art einschließe, das er zu gegebener Zeit in das Ei einbringe, wo das Befruchtungsprodukt entsprechend ernährt werde und an Größe zunehme. Zur Bekräftigung präsentierte er die mikroskopische Ansicht eines Samentierchens mit dem eingeschlossenen Miniatur-Menschen in Hockstellung, ausgestattet mit einem unverhältnismäßig großem Kopf und langen Schwanz, der die Nabelvenen enthält und zur Einnistung in der Plazenta dienen sollte. Allerdings drückte sich Hartsoeker über die reale Existenz des embyronalen Gebildes sehr 7

Vgl. dazu die zeitgenössische Diskussion der Uterusleere von Dietlinde Goltz (1986).

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vorsichtig aus. Erst bei der Übernahme des Bildes in andere Werke verwischt sich die ursprünglich erklärende Funktion des Bildes mit der Darstellung einer empirischen Beobachtung, die Realitätscharakter annimmt.

Abb. 2: Samentierchen und Homunculus im Samentierchen Hartsoeker, Nicolas, Essay de Dioptrique. Paris 1694

Noch spektakulärer fiel die Abbildung eines derartigen Samentierchens aus, das 5 Jahre später, 1699, in den Nouvelles de la Republique des Lettres ein gewisser Autor namens Dalenpatius veröffentlichte. Er behauptete, unter dem Mikroskop die Häutung eines Samentierchens beobachtet zu haben, und fügte gleichsam als Beweis die Darstellung eines frisch gehäuteten Miniaturmenschen hinzu, an dem noch der von der Hülle bedeckte Kopf, Brust, Arme und Beine zu erkennen waren. Die Glaubwürdigkeit der Mitteilung wurde stark bezweifelt. So wollte der französische Arzt Jean Astruc in dem Bericht nichts anderes als eine Satire sehen, mit der sich der Sekretär der Akademie zu Montpellier, Francois Plantade, unter dem Anagramm Dalempatius über die Anhänger der Präformationslehre lustig machte (Astruc 1740: 1002 f.). Dennoch verfehlte die Darstellung nicht ihre Wirkung, schien sie doch in glänzender Weise das Konzept der Präformationstheorie zu bestätigen, nach der der ganze Mensch in seiner Gestalt schon im Samen angelegt sei. So zögerte der italienische Naturforscher Antonio Vallisneri (1661–1730) auch nicht, eine Reproduktion des wundersamen Homunculus in die Übersicht der bisher bekannten Spermatozoen einzureihen (Vallisneri 1721: Tafel 1, Fig. 7–9; vgl. dazu S. 6–7), und noch 1915 sorgte das gleiche Bild in Oscar Hertwigs Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte für Aufmerksamkeit (Hertwig 1915: 18).

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Abb. 3: Dalempatius’ Darstellung des Homunculus im Sperma des Menschen, 1699

Abb. 4: Tafel mit verschiedenen Samentierchen von Antonio Vallisneri, 1721 und Abbildung des Homunuculus von Dalempatius im Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen, 1915, S. 18

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So ungewöhnlich dem heutigen Betrachter diese phantasievollen Bilder erscheinen mögen, so sehr entsprachen sie den Erwartungen der Naturforscher im 17. Jahrhundert, wenn sie mit Hilfe des Mikroskops das Unsichtbare sichtbar zu machen suchten. Ein Beispiel bietet der italienische Arzt und Parasitenforscher Francesco Redi (1626–1697), der durch seine bahnbrechenden Experimente die Lehre von der generatio spontanea eindeutig widerlegt und zahlreiche Parasiten als Erreger von Krankheiten entlarvt hatte, die bis dahin als Folge einer Säfteverderbnis oder gestörten Säftemischung galten. Das neu gewonnene Wissen hinderte ihn jedoch nicht daran, in die winzigen Würmer, die er im Darm des Tintenfisches gesichtet hatte (Ruestow 1983), die Umrisse einer menschlichen Gestalt zu projizieren und entsprechend darzustellen (Redi 1684: Tafel 23).

Abb. 5: Eingeweide des Tintenfisches mit Parasiten aus: Francesco Redi, Osservazioni intorno agli animali viventi … Florenz 1684, Taf. 23 und Ausschnitt mit Jugenstadien von Cestoden in Gestalt kleiner Menschen

Eine ähnlich phantasievolle Deutung lieferte der französische Naturforscher Joblot in einem 1718 gedruckten Werk über die neuesten Mikroskope (Joblot 1718). In einem Aufguß von Anemonen will der Autor unter den zahllosen Organismen auf eine sonderbare neue Art gestoßen sein, die er auf Tafel 6 wiedergab: Nach seiner Beschreibung war der Rücken des sechsbeinigen Tierchens mit einer Maske bedeckt, die Züge eines menschlichen Gesichts erkennen lasse. Vielleicht hatte der Autor tatsächlich die Absicht, seine Darstellung heimlich mit einer Satire auf die Mikroskopiker zu unterwandern, wie manche Zeitgenossen annahmen, vielleicht lag der kuriosen Zeichnung aber auch ein glaubwürdiges Objekt zugrunde, etwa eine Wassermilbe (Hydrachnidia), wie Umrisszeichnung und Lebenddarstellung dieses Insektes nahelegen.

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Abb. 6: Joblot, Descriptions et usages … 1718, Organismen, die in einem Anemonen-Aufguß gefunden wurden, daneben schematische Zeichnung eines Milbenkörpers. Aus: Hennig, W.: Taschenbuch der Zoologie, Bd. 3. Wirbellose II. Gliedertiere. 3. Aufl. Leipzig 1968, S. 48, Abb. 54

Zeichnungen dieser Art standen den Naturforschern jener Epcoche vor Augen und prägten ihre Erwartungen, wenn sie sich der unsichtbaren Welt mit den neuen optischen Apparaten näherten. Dem Pionier und Meister der Mikroskopie Antonj van Leeuwenhoek, der als Entdecker der Spermatozoen (gemeinsam mit seinem Schüler Ham) gilt, gingen allerdings derartige Interpretationen des Gesehenen zu weit, er bezweifelte die Glaubwürdigkeit eines Dalempatius und kritisierte in einer heftigen Attacke das Dargestellte als naturwidrig und fabulös (van Leeuwenhoek 1719: 82–94). Trotz dieses Einspruchs steht ausser Frage, dass Antoni Leeuwenhoek selbst zu derartigen Deutungen mikroskopischer Bilder wesentlich beigetragen hatte. Denn in zahlreichen Schriften hatte er selbst anschaulich die sichtbaren Strukturen und Gefäße im Inneren der animalcula beschrieben und zugleich, wenn auch weniger realistisch, die Vorstellung von einer materiellen Präformation der Lebewesen und ihrer Körperteile in den Samentierchen in Text und Bild zum Ausdruck gebracht (van Leeuwenhoek 1678: Tafel 13).

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Abb. 7: Samenfäden von Kaninchen (Fig. 1–4) und Hund (Fig. 5–8). Aus: Leeuwenhoek, In: Philosophical Transactions, Nov. 1678

Seine Zeichnungen trugen daher wesentlich zur Fixierung und Durchsetzung der embryologischen Lehre von der Präformation bei. Die Autorität Leeuwenhoeks, der sich schon bald nach seinem Eintritt in die Royal Society als eine unübertroffene Instanz auf dem Gebiet der Mikroskopie große Anerkennung verschaffte, verlieh seinen Verlautbarungen besonderes Gewicht, die Ergebnisse seiner Forschungen erschienen in kontinuierlicher Folge in den Philosophical Transactions in Gestalt seiner Korrespondenz, die er mit den führenden Naturforschern ganz Europas unterhielt. Sie bestärkten die Vorstellung, dass jedes Lebewesen in den Samen oder Eizellen im Kleinen präformiert sei, und Entwicklung nichts anderes darstelle als Sich-Entfalten, Vergrößerung und Verdichtung der bereits vorhandenen Teile. Die Abbildungen, in denen er die mikroskopische Schau präsentierte, überzeugten durch ihre vermeintliche Präzision und wanderten von einem Handbuch ins andere als mikroskopische Tatsache: Auf der schon in Abbildung 4 wiedergegebenen Tafel des italienischen Professors der Medizin in Padua, Antonio Valisneri, finden sich Leeuwenhoecks Samentierchen unter Nr. 1–5 wieder, ohne dass Vallisneri die Herkunft der Abbildungen nennt (Vallisneri 1721). Lediglich Nr. 12 enthält in der Erklärung der Tafel einen Hinweis auf Leeuwenhoek als Urheber der Abbildung, die aber nach Aussage des Autors dem Werk Andrys entnommen sei. Nicolas Andry war der führende Wurmforscher jener Zeit und erhielt schon zu Lebzeiten den Beinamen homo vermiculosus. In seiner Schrift über die im menschlichen Körper siedelnden Parasiten bildete er unter anderem auch die Samenwürmchen Leeuwenhoeks ab. Er machte keine Angaben über die Herkunft der Abbildungen der Samentierchen, spekulierte jedoch als erklärter Animalculist ausführlich über die Funktion der geschlechtsspezifischen Spermatozoen bei der Befruchtung. Nach seiner Erklärung ist der Uterus mit einem besonderen ventilartigen Klappenapparat versehen, der verhindert, dass mehr als ein Spermatozoon in den Uterus eindringt. Das Ei bzw. der Uterus hatte lediglich für die Ernährung des bereits im Samentierchen vollständig vorgebildeten Organismus zu sorgen (Andry 1701).

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Abb. 8: Titelblatt und Tafel mit Samentierchen aus dem Werk von Nicolas Andry 1701

Auch der Londoner Mikroskopbauer George Adams schmückte seine Mikroscopia Illustrata mit den Samenfäden Leeuwenhoeks als einem Highlight mikroskopischer Kunst (Adams 1747). Und noch 150 Jahre später wirkte das Vorbild Leeuwenhoeks weiter in der Darstellung von Samentierchen verschiedener Tiere wie Meerschweinchen, Maus, Igel, Katze etc., die 1821 von den französischen Forschern Prevost und Dumas in einer Untersuchung veröffentlicht wurden, in der sie die Herkunft der Samentierchen aus den Testikeln eindeutig nachgewiesen hatten und als Konsequenz dieser Entdeckung der Einreihung dieser animalcula unter die Infusorien oder ähnliche Tiergruppen heftig widersprachen (Prevost, Dumas 1821). Die Annahme von einer eigenständigen tierischen Natur dieser Samenwürmchen war im Denken der meisten Naturforscher dennoch so fest verankert, dass viele von ihnen versuchten, im Inneren dieser Lebewesen eine mehr oder weniger komplexe Struktur aufzufinden, ähnlich wie sie der Zoologe und Mediziner Christian Gottfried Ehrenberg für die Infusorien postuliert hatte. So meinte etwa der Berner Physiologie Gustav Valentin noch 1837 im Samen eines Bären nicht nur einen Mund, After und Magen unterscheiden zu können, sondern auch frühe Stadien der Embryonalentwicklung zu erkennen (Valentin 1839).

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Abb. 9: Tafel 23 aus Micrographia illustrata von George Adams, 1747

Abb. 10: Samentierchen in 3000facher Vergrößerung (1: Meerschweinchen, 2: Maus, 3: Igel, 4: Pferd, 5: Katze, 6: Widder, 7: Hund). Aus: Prevost, J. L.; Dumas J. A.: Sur les Animalcules spermatiques de divers Animaux. 1821, Taf. 1

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Abb. 11: Samen eines Bären mit Mund, After und Magen; Fig. 2 c: Mund, a: After, e: innere Blasen; Fig. 3 d: Spermatozoen mit kleinen Embryonen Aus: G. Valentin: Über die Spermatozoen des Bären, 1839, Taf. 24

Während sich seit Leeuwenhoeks Entdeckung, wie gezeigt wurde, die Spermatogenese, zu einem immer größeren Forschungsfeld ausweitete, interessierten sich für Harveys Demonstrationen, in denen das Ei als wesentlicher Ursprungsort des keimenden Lebens in den Mittelpunkt des Reproduktionsprozesses gestellt worden war, nur noch wenige Naturforscher und Ärzte. Harveys bahnbrechende Untersuchungen gerieten mehr und mehr in Vergessenheit, weil der von Harvey als leer erklärte Uterus für die Suche nach Samentierchen oder anderen fragwürdigen Elementen der Befruchtungsvorgänge unergiebig zu sein schien. Rezeptionshemmend dürfte sich nicht zuletzt auch Harveys strikter Verzicht auf Illustrationen ausgewirkt haben: Bis auf das allegorische Titelkupfer enthält Harveys Werk keine einzige Abbildung. Dieser Umstand ist nicht etwa auf Fragen der Drucktechnik oder der Kosten zu reduzieren, sondern Harvey hat wohl ganz bewusst auf Illustrationen verzichtet, denn er misstraute Abbildungen jeglicher Art, weil sie im Gegensatz zur konkreten Beobachtung abstrahierten, verallgemeinerten und verzerrten, wie er im Vorwort ausführt (Harvey 1651: 10 f.). Jedes Bild könne nur einen falschen Repräsentanten seines Gegenstandes liefern. Glaubwürdig und verlässlich sei allein der eigene Augenschein, die eigene unmittelbare Beobachtung. Die eigenen Beobachtungen aber ohne Illustrationen zu vermitteln, so dass sie für weitere Kreise verständlich und glaubwürdig waren, fiel auch Harvey offenbar nicht leicht. In der Konsequenz beschäftigten sich mit Harveys Werk nur eine kleine Gruppe von Forschern, die sogenannten Ovulisten, die im Gegensatz zu den Animalculisten im vermeintlichen Ei das künftige Lebewesen vorgebildet sahen. Im Übrigen glaubten sie, wie die Tafel aus dem Anatomie-Werk des holländischen Arztes Thomas Kerckring demonstriert, nicht anders als die Animalculisten an die Präformation der menschlichen Form im Ei, das lediglich für die Ernährung und Vergrößerung des im Keim bereits voll ausgebildeten Lebewesens zu sorgen hat (Kerckring 1729).

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Abb. 12: Menschliches Ei Fig. 1: Menschliches Ei 4 Tage post coitum, Fig. 3: Homunculus mit Nabelschnur und Placenta. Aus: Kerckring, T., Opera omnia anatomica, 1729

Ob Animalculisten oder Ovulisten, die Vertreter beider Gruppierungen standen vor dem Problem, die Entstehung und das Wachstum des jeweiligen Individuums zu erklären. Handelte es sich um einen seit Erschaffung der Welt beharrenden Zustand, der sich in der Auswickelung präformierter Strukturen erschöpft, oder um einen kontinuierlichen Prozess des Werdens, in dem eine Form auf die andere folgt, bis die fertige Gestalt erreicht ist. Präformistischen Vorstellungen kam dabei der statische Charakter der Bilder, der auf den mikroskopischen Bildausschnitt fixierte Blick, eher entgegen als jenen, die mit einem Konzept des Werdens oder der Neubildung operierten. So verliehen gerade auch statische Abbildungen dem Konzept der Präformation für lange Zeit größere Überzeugungs- und Durchsetzungskraft. Ihre Plausibilität, die mit dem Realitätscharakter der mikroskopischen Abbildung argumentierte, hat lange Zeit verhindert, dass sich epigenetische Überlegungen und Hypothesen, wie sie Caspar Friedrich Wolff ab 1759 zu publizieren begann, durchsetzten und dass der Blick für den Zusammenhang einzelner Entwicklungsstufen geschärft wurde (Wolff 1759: §§ 3–11). Caspar Friedrich Wolff war der erste, der überzeugend zeigte, dass die Organe des Embryos eine Vielfalt von Formbildungen durchlaufen, bevor sie die Gestalt und Form ausgewachsener Organismen übernehmen. Auf eine entsprechende Resonanz seiner neuen Theorie der Entwicklung hat auch Wolff noch lange warten müssen. Bekanntlich ist die neue Theorie erst nach 1800 weitergeführt worden und erlangte erst 1827 mit der Entdeckung des Säugetier-Eies durch Karl Ernst von Baer ihre grundlegende Bestätigung.

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Die auf Wolffs Überlegungen folgende notwendige Adaptation des präformierten Blicks an eine neue dynamische Sehweise demonstriert die in Abbildung 13 wiedergegebene, meisterhaft gezeichnete Tafel des Anatomen Samuel Thomas Soemmerring (1799) (Enke 2000). Sie stellt in der Abfolge von 20 Einzelfiguren eine chronologische Entwicklungsreihe von der Embryonalphase über die Fetalperiode bis hin zur geburtsreifen Frucht dar. Die suggerierte Kontinuität ist allerdings nur dem Augenschein nach ein Abbild der realen Embryonalentwicklung, denn zum einen sind die Körper aus ihrem natürlichen organischen Zusammenhang herausgelöst und als frei verfügbare Objekte dargestellt, zum anderen ist die Abfolge der Entwicklungsstufen aus verschiedenen Embryonalstadien unterschiedlicher Individuen verschiedenster Herkunft und unterschiedlichsten Geschlechts montiert. Das Theatrum embryonicum stellt somit eine höchst artifizielle Ansammlung einzelner Momentaufnahmen rekonstruierter Embryonen dar, die Soemmerring nach einer bestimmten Darstellungsmethode entsprechend positioniert hatte. An die Stelle isolierter Einzelbilder, die einen bestimmten Moment fixierten, sind Serienbilder getreten, die an der Evidenz des Entwicklungsprozesses keinen Zweifel ließen; sie zeugten von einer neuen Sehweise, die für die Gültigkeit der Epigenesistheorie und gegen die Präformationstheorie sprach.

Abb. 13: Entwicklungsreihe von der Embryonalphase bis zur geburtsreifen Frucht. Aus: Soemmerring, Samuel Thomas: Icones Embryonum Humanorum. Frankfurt 1799

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Evidenz der Bilder? Welches Fazit könnte aus den skizzierten Beispielen gezogen werden? Sie zeigen, dass sich wissenschaftliche Bilder keineswegs in der bloßen Illustration erschöpfen, sie sind vielmehr kulturell wie konzeptionell vorgeprägt. Es gibt etablierte Wahrnehmungsmuster und Sehkonventionen, die das Beobachtete zurichten, das heißt, das jeweilige Wissen wird durch bildliche Präsentation mitgeformt und gesteuert. Bildzitate angesehener Autoritäten können zur Steigerung der Glaubwürdigkeit und des Realitätscharakters anderer Darstellungen eingesetzt werden. Die Glaubwürdigkeit wächst mit der Zunahme der Zahl der Bild-Transplantationen von einem Buch ins andere. Dabei kann sich die ursprüngliche explanatorische Funktion eines Bildes in eine empirische Beobachtung verwandeln, so dass der ursprüngliche Alsob-Status des Bildes in einen Ist-Status übergeht und damit unbeabsichtigt auch eine Form der Täuschung provoziert bzw. eine bewusste Fiktion erzeugt wird. Die Erforscher der Samentierchen verfuhren in ihren bildlichen Darstellungen so, als ob die angenommenen Gebilde wirklich existierten und benutzte sie als heuristische Hilfsmittel, die dazu dienten, weitere Untersuchungen im Voraus zu strukturieren und neues Wissen zu generieren. Für sie lag der Wert ihrer Abbildungen in dem „als ob“. Für die Leser ihrer Werke aber, für Rezipienten und nachfolgende Wissenschaftler entwickelten einmal erzeugte Illustrationen wie Leeuwenhoeks Samentierchen ihre Macht als Leitbilder der Spermienforschung hingegen durch ihre Plausibilität und Evidenz, die mit der präformistischen Sichtweise einherging und die sie auf den ersten Blick hin ausstrahlten. Sie wirkten einerseits so, wie Harvey es prophezeit hatte, sie abstrahierten, verallgemeinerten und verzerrten, aber diese Erzeugung einer illustrativen Fiktion erwies sich als praktischer und zweckmässiger für die Durchsetzung von Wissen als es seine Forderung nach der alleinigen Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit des eigenen Augenscheins vermochte. Rein technisch war das „in Augenschein nehmen“ nicht allen Rezipienten möglich und die nützliche Fiktion der bildlichen Darstellung, die glaubwürdig war, weil sie Sehgewohnheiten und Sehzwängen entsprach, suggerierte stattdessen Evidenz, die scheinbar auf eigener Beobachtung beruhte. Die Betrachtung der Abbildung erfolgte so, „als ob“ die einzelnen Schritte des Mikroskopierens selbst durchlaufen worden wären. Doch die „epistemische Kraft der Bildlichkeit“ im Sinne Sybille Krämers (Krämer 2009a; 2009b), erwies sich in diesem Falle als trügerisch, indem sie nicht an die eigentliche Realität heranführte. Die Unmittelbarkeit des Dargestellten, das mit seinen Assoziationen an eigenständige Organismen erinnerte und damit anschlussfähig an bereits Bekanntes machte, sicherten den Bildern und dem durch sie Repräsentierten eine dauerhafte Wirkungskraft, unabhängig von dem ontologischen Status, der ihnen zukam. Man könnte demnach nicht nur von einem Denkstil und Denkzwang sprechen, wie Ludwik Fleck ein gerichtetes Wahrnehmen mit entsprechenden gedanklichen und sachlichem Verarbeiten des Wahrgenommenen begreift (Fleck 1980), sondern auch einen Sehzwang postulieren, der das Wahrnehmungssystem organisiert. Dieser Sehzwang ordnet sich ein in die Reihe der Elemente, die wissenschaftliche Fik-

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tionen in der Medizin in Wirklichkeit transformieren. Das bedeutet im Sinne Vaihingers und Riettis nicht, dass diese Fiktionen, dass das „als ob“ eine Täuschung seien. Vielmehr helfen sie, Kontingenzen des Wissens zu reduzieren und denkökonomisch Wissen über die Welt zu strukturieren. Ähnlich wie Ludwik Fleck hielt in einer Festschrift für Vaihinger der Philosoph Arnold Kowalewski (1986/1932) schon 1932 fest, dass wissenschaftliche Fiktionen zunächst gleichwertig nebeneinander stünden und ihre Weiterentwicklung und Akzeptanz einer Ideenverschiebung folgten. Wenn die Philosophie des „als ob“ eine Idee der Realität durch ihre Kritik der Idee als Fiktion zunächst schwäche, müsse dies nicht bedeuten, dass sie an Akzeptanz verliere. Das Resultat sei dann eine „Ideengemeinschaft“, die das „als ob“Angenommene und Dargestellte als gemeinsam geteilte Fiktion annehme. Wie eingangs ausgeführt, sind bildliche Repräsentationen nicht das einzige Darstellungsformat, das in der Medizin eingesetzt wird, und innerwissenschaftliche Diskussionen sind nicht das einzige Feld, in dem Wissen und sich daraus ergebende Praxis ausgehandelt werden. In den folgenden Kapiteln dieses Buches werden weitere Darstellungspraktiken und damit verbundene Diskurse am Beispiel der Beschreibung und Therapie des Harnsteins vorgestellt, die sich seit der Frühen Neuzeit entwickelt haben. Neben explizit auf Repräsentationen und ihre Techniken bezogenen Beiträgen finden sich auch solche, die diese kontextualisieren sollen und dabei auch die Kommunikation über Darstellungen und das Dargestellte in den Blick nehmen. Auf diese Weise soll mit dem deutlich umrissenen Feld des Harnsteinleidens ein Fallbeispiel aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden, um damit einen Beitrag zu leisten zur Diskussion über die (Re-)präsentation des Unsichtbaren in der Medizin und die Rolle nützlicher und praktischer Fiktionen in der Medizin im Allgemeinen. Literatur Adams, George (1747) Micrographia Illustrata or The Knowledge of the Microscope Explain’d (London: Adams, Birt) Andry, Nicholas (1701) An Account of the Breeding of Worms in Human Bodies (London: H. Rhodes, A. Bell) Astruc, Jean (1740) De Morbis Venereis Libri novem. Editio altera, Tomus II (Paris: Cavalier): 1002 f. Boehm, Gottfried (2001) „Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis“, in: Bettina Heintz und Jörg Huber (Hrg), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten (Zürich: Ed. Voldemeer): 43–54 Cambrosio, Alberto; Jacobi, Daniel; Keating, Peter (1993) „Ehrlich’s ,Beautiful Pictures‘ and the Controversial Beginnings of Immunological Imagery‘, Isis 84: 662–699 Chadarevian, Soraya de (1993) „Die ‚Methode der Kurven‘ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900“, in: Rheinberger, Hans-Jörg; Hagner, Michael (Hrg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950 (Berlin: AkademieVerlag): 28–49 Daston, Lorraine; Galison, Peter (2002) „Das Bild der Objektivität“, in: Geimer, P. (Hrg), Ordnungen der Sichtbarkeit (Frankfurt/Main.: Suhrkamp): 29–99 Daston, Lorraine; Galison, Peter (2008) „Objektivität“ (Frankfurt/Main: Suhrkamp)

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Diagnostik: Konkurrenz der Sinne

Steine hören – akustische Methoden zur Steindiagnostik im 19. Jahrhundert Maria Winter Im Juli 1882 veröffentlichte ein 25-jähriger Medizinstudent der University of Aberdeen namens James McKenzie Davidson einen kurzen Artikel in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet. Er stellte eine, wie er meinte, neue und bahnbrechende Erfindung zur Diagnose von Harnsteinen vor. Normale Sonden für BlasensteinDiagnose könnten – so McKenzie Davidson – bedeutend verbessert werden, indem man sie mit einer schallleitenden Substanz verbindet (McKenzie Davidson 1882: 1071). Er skizzierte kurz seine eigene Entwicklung, eine Kombination aus Kautschukschlauch und Katheter. Erste Experimente seien ermutigend verlaufen, ein Freund habe vorgeschlagen, das neu entwickelte Gerät Lithophon zu nennen (nach griechisch lithos der Stein und phonein tönen) (McKenzie Davidson 1882: 1071). Doch schon in seinem nächsten Lancet-Artikel im folgenden Jahr musste McKenzie Davidson zugeben, dass die Idee – anders als von ihm zunächst propagiert – doch nicht neu war. Ein ähnliches Instrument zur akustischen Steindiagnose sei bereits 1873 in der Irish Hospital Gazette vorgestellt worden (McKenzie Davidson 1883: 771). Doch auch dieses Gerät beruhte auf einem Konzept, das noch weit älter war als McKenzie Davidson vermutete. Im Folgenden werde ich zunächst die bis dahin üblichen Methoden zur Steindiagnostik schildern, dann einige der akustischen Verfahren vorstellen und welche Wahrnehmungen mit ihnen möglich waren, um schließlich auf die Rezeption in der ärztlichen Praxis und die Rolle der Sinne in der weiteren Entwicklung der Steindiagnostik einzugehen. Steine fühlen Die übliche Methode der Stein-Diagnose war die „Untersuchung durch das Gefühl“ (Caspari 1823: 47; Harrison 1883: 54), die entweder mittels des Fingers – in der Regel über Tastuntersuchung in Anus oder Vagina – oder mit einer Steinsonde erfolgen konnte (Caspari 1823: 53 f. siehe auch Piorry 1840: Nr. 2283, S. 455). Zwar wird auch von einem Geräusch beim Auftreffen der Sonde auf den Stein berichtet, dies scheint aber eher als unbedeutende Nebenerscheinung. Für die Diagnose sind einzig das Fühlen und die Möglichkeit des Hin- und Herbewegens des Steins mit der Sonde von Bedeutung (Caspari 1823: 54). Berührt die Sonde den Stein nur selten und gleitet dieser leicht weg, so ist der Stein klein. Berührt die Sonde den Stein öfter und gibt dieser häufig einen Klang von sich, so ist er größer. Ebenso

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spürt man die Beschaffenheit der Oberfläche anhand des besseren oder schlechteren Gleitens der Sonde (Caspari 1823: 55). Die Konkurrenz der Sinne in der Steindiagnose Die ‚klassische‘ Rangordnung der Sinne lautete seit der Antike: visus (Gesicht), auditus (Gehör), odoratus (Geruch), gustus (Geschmack), tactus (Tastgefühl) (Jütte 2000: 73). Sowohl für Augustinus als auch für Isidor von Sevilla galt der Gesichtsinn als der objektivste. Bernhard von Clairvaux begründete die Vorrangstellung der Augen mit ihrem erhöhten Platz im Körper (nach Jütte 2000: 76). Bis ins Mittelalter und darüber hinaus hatte jedoch auch der Tastsinn in der Hierarchie der Sinne eine herausgehobene Stellung inne. Thomas von Aquin prägte die Formel: „Der Tastsinn ist die Grundlage für alle übrigen Sinne“ (nach Jütte 2000: 53). Die hippokratischen Schriften empfehlen, alle Krankheiten „durch das Auge, den Tastsinn, das Gehör, die Nase, die Zunge und den Verstand“ zu untersuchen (nach Jütte 2000: 116). Da der vornehmste Sinn, der Gesichtsinn, für die Untersuchung des Körperinneren nicht zur Verfügung stand, war die Anwendung des zweiten Sinnes in der Hierarchie, des Tastsinnes, also auch durch die traditionelle Rangfolge legitimiert. Die Sonde galt als Verlängerung des Fingers, so wie das Stethoskop eine mechanische Vorrichtung zur Verlängerung des Ohres darstellt (Thomson 1873: 870). White zufolge soll der gute Chirurg bei der Suche nach Steinen seine Ohren an den Fingerspitzen haben (Harrison 1835: 600). Lediglich „nach Gefühl“ zu sondieren, galt jedoch zumindest den Verfechtern akustischer Methoden aufgrund der hohen Zahl an Fehldiagnosen als unzuverlässig, Michaelis riet daher, zusätzlich das Gehör zu Hilfe zu nehmen (Michaelis 1836: 509). Gilchrist argumentiert mit der hierdurch erreichten „größeren Präzision“ und einer generellen „Schärfung der Sinne“ (Gilchrist 1880: 511), geht aber nicht im Geringsten auf die Andersartigkeit der Wahrnehmung ein. Die Untersuchung der Blase mittels akustisch unterstützter Sonden oder Kathether kombiniert den Hör- und den Tastsinn (McKenzie Davidson 1883: 770), „das Ohr assistiert der Hand“ (Tarral 1835: 135), mehr noch, „die Blase wird sozusagen direkt an das Ohr des Chirurgen gebracht“ (Anonymus 1880: 402, Anonymus 1880: 438). Mériadec Laennec plädiert generell für die mittelbare oder unmittelbare Zuhilfenahme möglichst vieler Sinne, eine simple Inspektion – in-Augenschein-Nahme – des Patienten reiche für eine zuverlässige Diagnose nicht aus (Laennec 1821: 7). Für seinen Cousin René Theophile Laennec, den Erfinder des Stethoskops, galt das Ohr sogar als das Sinnesorgan mit dem höchsten Feinauflösungsvermögen, dem Auge weit überlegen (Laennec 1819: 195). Mériadec Laennec verweist auf die deutlich höhere Sicherheit des Stethoskops bei der Diagnose der Tuberkulose im Vergleich zur Diagnose von Harnsteinen mit der Sonde (Laennec 1821: 13 f.).

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Hören durch Klopfen Unter Perkussion (von percussio Erschütterung) versteht man die Diagnose durch Abklopfen der Körperoberfläche. Diese von Joseph Leopold von Auenbrugger (1722–1809), dem Leibarzt Maria Theresias, entwickelte Methode wurde offenbar auch zur Steindiagnostik angewandt, auch wenn die Berichte hierüber spärlich sind. Von Jean Jean Cruveilhier (1791– 1874) ist überliefert, dass er bei der Perkussion aneinanderschlagende Steine hören konnte. Bessere Resultate erzielte man jedoch bei einer indirekte Perkussion unter Einsatz eines Klopfplättchens (Plessimeters) (Mailliot 1843: 219–220; Piorry 1840: Nr. 2059, 332). Bei Nierensteinen – so Mailliot – bringt die Perkussion nur ein Ergebnis, wenn es sich um größere oder mehrere Steine handelt und diese nicht allzu weit vom Plessimeter entfernt sind. Bessere Ergebnisse verspricht er sich von einer Kombination von Perkussion und Auskultation, wie sie Piorry empfiehlt (Mailliot 1843: 254–255; Piorry 1840: Nr. 2079, 340). Die Verbreitung der Methode in der Praxis lässt sich oft nur indirekt, beispielsweise aus Berichten zur Krankenhaus-Praxis, erschließen. So berichtet bspw. Erichsen, dass am University College Hospital in London die Regel galt, nur in unzweifelhaft diagnostizierten Fällen eine Stein-Operation durchzuführen. Bei der Perkussion sei der Nachweis oft nur schwach; der eine Chirurg hörte den Ton, die anderen wiederum nicht (Erichsen 1853: 56), so dass die Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit der Methode offenbar nicht gegeben war – was aber offenbar dennoch nicht ihre weitere Anwendung behinderte. Hören mit der Sonde Bereits mit den üblichen Sonden war zuweilen ein Klang zu vernehmen, doch war dies ‚ein höchst seltenes Ereigniss‘(von Kern 1828: 10 und 26), das man offenbar durch Optimieren der Konstruktion systematisch und nachvollziehbar hervorzubringen suchte. 1827 zeigte der französische Chirurg Jean Zuléma Amussat1 in seinen Kursen ‚klingende Sonden‘ aus hohlem Metall, die bei der kleinsten Berührung eines Steins ein äußerst durchdringendes Geräusch von sich gaben (Harrison 1835: 600, ähnlich auch Thomson 1873: 869). Eine Fortentwicklung dieses Prinzips bilden die sogenannten ‚Lithoscope‘ (von griechisch lithos Stein und skopein beobachten, spähen), die in den 1830er Jahren parallel von Charrière (bzw. Tarral) in Paris und von Brooke in London entwickelt wurden. Sie bestanden jeweils aus einem Katheter, dessen Schallübertragung durch ein olivenförmiges Metallstück (Charrière) (Michaelis 1836: 509–510) oder eine Hartholzscheibe (Brooke) (Cazenave 1836: 101–102; Michaelis 1836: 509–510) optimiert wurde. Eine Scheibe zur Schallverstärkung war auch Billroths ‚Sounding Board‘, das seitlich auf eine Sonde aufgesteckt werden konnte (Cabot 1893: 641; Hatteroth 1899: 135–136; Tiemann 1879: 81, Tiemann 1889: 400). 1

Einer der Erfinder der Lithotripsie, vgl. den Beitrag von Zykan in diesem Band.

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Abb. 1: „Billroth’s Sounding Board“, Tiemann 1879: Part III, S. 31

1880 stellte Jonathan Langlebert der Pariser Academie de Médecine ein ‚neues Lithophon‘ vor, eine Kombination aus einer Sonde und einem aufgesteckten, flaschenförmigem Resonanzkörper aus glasierter Pappe (Anonymus 1880: 402, Anonymus 1880: 438; Roux 1880/1881: 124). Hören mit dem Stethoskop Die Anwendung des Stethoskops ohne weitere Hilfsmittel zur Diagnose von Blasen- oder Nierensteinen scheint eher eine Ausnahme darzustellen. Jaquemet führt Blasen- und Nierensteine als eine der Anwendung der Stethoskopie an (Jaquemet 1866: 11). Lisfranc bemühte sich für Nierensteine lange Zeit erfolglos, fand aber keinerlei charakteristische Zeichen, bis auf einen Fall, in dem beim Drücken auf die Nieren das Aneinanderreiben der Steine zu hören war (Lisfranc 1823: 27). Erfolgversprechender schien die Kombination aus Stethoskop und Katheter (Laennec, Comet & Bayle 1828: 56). Hierzu setzt der Arzt das Stethoskop auf das Kreuz- oder Schambein des Patienten auf, während ein Gehilfe den Katheter in der Blase hin- und herführt (Laennec, Comet & Bayle 1828: 56; Lisfranc 1823: 26; Skoda 1844: 317–318). Hören mit Kombinationsgeräten 1836 und 1838 stellten Louis-Léo Moreau de Saint-Ludgère in Paris ((Anonymus 1836), genauer dann (Moreau de Saint-Ludgère 1837), siehe auch (Pfriem 1838: 17–18; Zehetmayer & Oppolzer 1854: 90)) und Carl Joseph Pfriem in Würzburg (Pfriem 1838: 8–9) in ihren Dissertationen eine Kombination aus Steinsonde und starrem, hölzernen Stethoskop vor, von Pfriem als Lithoscop (von griechisch lithos Stein und skopein ansehen, beobachten) bezeichnet.

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Abb. 2: Pfriem, Carl Joseph (1838). Tafel ohne nähere Bezeichnung, kombiniert, Original zeigt nur Bestandteile, nicht fertig montiertes Gerät

Sonden mit elastischen Schlauchstücken kombinierten Jean-Jacques-Joseph Leroy d’Étiolles2 um 1840 (Chrestien 1842, siehe auch Jaquemet 1866: 12–13), Ralph W. Leftwich 1876 mit seiner ‚Auskultations-Sonde‘ (Leftwich 1876: 533) und 1882/ McKenzie Davidson mit seinem Lithophon (McKenzie Davidson 1882: 1071, McKenzie Davidson 1883: 770). Instrumentenkataloge kennen weiterhin noch ‚Andrews Stein-Sucher‘ (Chas Truax & Co 1890: 929, 940; Hatteroth 1899: 136; Kny-Scheerer Company 1915: 4050; Tiemann 1879: 81, Tiemann 1889: 400, ebenso Cabot 1893: 642), ‚Poeners Stein-Sucher‘ (Kny-Scheerer Company 1915: 4051) sowie ‚Kellys Harnröhren-Katheter‘ (Kny-Scheerer Company 1915: 4060). 1909 verband David Newman das Resonator- und das Schlauch-Prinzip zu einem ‚Harnleiter-Resonator‘ (Newman 1909: 16–17). Richard Heard kombinierte 1896 mit seiner ‚akustische Blasensonde‘ eine gewöhnliche Blasensonde mit dem heute noch üblichen binauralen Stethoskop (Heard 1896: 1387), 1909 Howard Williams mit seinem ‚Stein-Phonendoskop-Schlauch‘ eine Sonde mit einem Phonendoskop (Williams 1902: 784–785).

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Einer der Entwickler der Lithotripsie, vg. Zykan in diesem Band.

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Abb. 3: Akustische Blasensonde (Heard 1896: 1387)

Was hört man? Es ist interessant, dass die meisten Autoren nur wenig bis gar keine Informationen darüber liefern, was denn genau zu hören sein soll. Meist wird nur betont, der Ton beim Auftreffen der Sonde sei leicht und deutlich zu hören, besser als mit dem bloßen Ohr (Laennec, Comet & Bayle 1828: 56; Leftwich 1876: 533; Lisfranc 1823: 26; Newman 1909: 16–17; Skoda 1844: 317–318). Häufig allerdings wird auf die besondere Zuverlässigkeit und Präzision der entwickelten Methoden verwiesen und diese anhand selbst ersonnener Tests demonstriert. Lisfranc platzierte in der Blase als Gegenprobe Teile von Muskeln und anderen weichen Geweben. Die Geräusche entsprachen denen einer fast oder vollständig entleerten Blase (Laennec, Comet & Bayle 1828: 56). Auch McKenzie Davidson wollte die Zuverlässigkeit seiner Methode testen. Ein einziges Sandkorn von 1/500 Gran, auf Baumwolle platziert konnte mit dem Lithophon noch gefunden werden. Natürlich – so gibt McKenzie Davidson zu – sei eine solche Präzision in der Blase eher unnötig, dies diene lediglich dazu die Exaktheit seiner Methode zu verdeutlichen (McKenzie Davidson 1883: 770). Moreau de Saint-Ludgère beabsichtigte mit seinem Instrument sowohl Härte und Volumen der Steine, als auch die Oberflächenbeschaffenheit zu diagnostizieren. Bei seinen Versuchen an Leichen wie an lebenden Patienten untersuchte er insbesondere die Veränderungen der Geräusche je nach Beschaffenheit der Sonde sowie die unterschiedlichen Befunde bei weiblichen und männlichen Patienten (Moreau de Saint-Ludgère 1837; Pfriem 1838: 17–18). Doch auch er macht keine näheren Angaben über die Art der zu vernehmenden Geräusche. Mailliot stellt in seinem Traité pratique de percussion fest, die Schwierigkeit der Perkussion bestehe im Studium der Töne und ihrer Unterschiede, die sich unter allen physiologischen und pathologischen Gegebenheiten ergeben können (Mailliot 1843: 42). Er führt aber keinerlei Beispiele auf.

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Bei Erichsen gibt es beim Auftreffen der Sonde auf dem Stein ein deutliches „pling“ (Erichsen 1853: 57), Zehetmeier hört im Stethoskop beim Berühren des Steins mit einem Katheter ein metallisches Klingeln (Zehetmayer & Oppolzer 1854: 90), bei Gilchrist handelt es sich eher um ein Klicken (Gilchrist 1881: 349). Bei diesen Beschreibungen verwundert es nur wenig, dass gelegentlich auch das Geräusch der Sonde auf einem Fingerring oder der Uhrenkette des Untersuchenden irrtümlich für Zeichen eines Steines gehalten wurden (Gilchrist 1881: 350). Bei mehreren Steinen vernimmt man die Reibegeräusche der Steine aneinander (Albers 1850: 238). Wird der Katheter in die leere und steinlose Blase eingeführt, ergeben sich Geräusche wie bei einer in Gang gesetzten Saug- oder Druckpumpe. In Comets Laennec-Ausgabe3 wird ein Zusammenhang mit der durch den Katheter in die Blase eingebrachten Luft vermutet. Bei wenig Urin in der Blase ergibt sich ein Geräusch wie Speichel, der im Mund hin und her bewegt wird. Immer wenn Steine vorhanden sind, hört man eine Art deutliches Klappern oder das Geräusch einer Feile auf einer harten Oberfläche (Laennec, Comet & Bayle 1828: 56; Lisfranc 1823: 26; Richter 1831: 156–157). Skoda beschreibt das Geräusch, das die Bewegungen des Katheters in der steinlosen Blase verursachen, als ‚Gegargel‘. Zuweilen hört man auch ein anderes dumpfes Geräusch, das jedoch nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Anschlagen gegen einen Stein hat (Skoda 1844: 317–318). Mailliot skizziert in seinem Traité pratique de Percussion, wie sich Anzahl und Konsistenz der Steine anhand akustischer Merkmale bestimmen lassen. Bei mehreren Steinen hört man ein Klappern, das um so deutlicher wird, je zahlreicher die Steine sind. Wenn der Stein hart ist, gibt er einen hellen, kräftigen Ton von sich, bei weicher Konsistenz einen eher dumpfen. Bei sehr weichen Steinen ist der Ton kaum wahrnehmbar und ähnelt dem beim Schlagen auf feuchten Sand. ( Boyer, Traité des mal. chir., tome IX, p. 317 et suiv. nach Mailliot 1843: 275–276) Gilchrist schildert das ‚Klicken‘ bei einem aus Harn- oder Oxalsäure bestehenden Stein als laut und metallisch, bei einem phosphatischen Stein als weich und dumpf (Gilchrist 1881: 349). Bei einem Patienten mit feinen Partikeln in der Blase vernimmt Pfriem mit seinem Lithoscop einen „(…) Ton (…) wie wenn man Sand im Wasser mit einem Metallstäbchen aufrührt und Körner davon an dem Metall vorüberstreifen (…)“ (Pfriem 1838: 14). McKenzie Davidson testete sein Lithophon mit grob zerstoßener Kohle bei fast leerer Blase. Die normale Methode brachte keinerlei Befund; mit dem Lithophon konnte er deutlich ein ‚grobes Mahlgeräusch‘ vernehmen (McKenzie Davidson 1882: 1071).

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Das Kapitel „Application de l’Auscultation au diagnostic des calculs de la vessie“ taucht nur in dieser einen Ausgabe auf.

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Akustische und taktile Methoden in der Anwendung Bei der Untersuchung mit herkömmlichen Sonden ergaben sich häufig Fehldiagnosen, so dass selbst berühmte Ärzte wie Dupuytren oder Roux oft erst bei der Operation feststellen mussten, dass behandelte Patienten anders als zunächst angenommen doch nicht von einem Steinleiden betroffen waren (Erichsen 1853: 56; Laennec, Comet & Bayle 1828: 56; Lisfranc 1823: 26; Pfriem 1838: 7; Tarral 1835: 135; Zehetmayer & Oppolzer 1854: 90). Es verwundert also nicht, dass sich der Wunsch nach Verbesserung der althergebrachten Methoden regte und zu diesem Zweck die unterschiedlichsten Gerätschaften ersonnen wurden. Doch auch akustische Methoden ließen in ihrer Genauigkeit zuweilen zu wünschen übrig. Insbesondere wenn der Stein nicht frei beweglich ist, wenn er beispielsweise eingekapselt, verkeilt oder von einer Schleimschicht umgeben ist, ergibt das Auftreffen der Sonde keinen kräftigen und klar definierbaren Ton, sodass irrtümlicherweise auch Schwielen in der Blase oder verhärtete Exkremente als Steine missinterpretiert werden konnten (Mailliot 1843: 42). Umgekehrt ließ sich beim Sondieren ‚nach Gefühl‘ oft beim ersten Versuch noch kein Stein finden, so dass die Patienten mehrfach untersucht werden mussten, und zwar in den verschiedensten Positionen, die bisweilen fast an gymnastische Übungen erinnern (Bingham 1823: 246; Caspari 1823: 59; von Kern 1828: 22). Für den Patienten waren Untersuchungen mit herkömmlichen Sonden nicht nur langwierig (Cabot 1893: 639 f.), sondern oft auch schmerzhaft (Cazenave 1836: 99–100); nicht selten kam es zu dramatischen Szenen mit sich wehrenden und schreienden Patienten (von Kern 1828: 47). Oft zieht das Sondieren Beschädigungen des Harnkanals nach sich (von Kern 1828: 5), es kommt zu Blutungen und Infektionen (Harrison 1883: 56 f.). Diese Problematik scheint bei Zuhilfenahme des Gehörs durchaus noch gegeben: Pfriem plädiert für eine mehrfache Untersuchung des Patienten, in unterschiedlichen Lagen, unterschiedlichem Füllstand der Harnblase und mit unterschiedlichen Sonden, um eine optimale Diagnosesicherheit zu erhalten (Pfriem 1838: 12–13). Der Vorteil des „Steine Hörens“ lag in erster Linie in einer Abkürzung, nicht aber in einer kompletten Änderung der Prozedur. Insbesondere unerfahrene Anwender könnten jedoch, so Heard, mit den neuen akustischen Methoden und ihren schnellen Resultaten dem Patienten einige Unannehmlichkeiten ersparen (Heard 1896: 1387). Das Scheitern der akustischen Steindiagnose Viele der in diesem Aufsatz erwähnten Erfinder verweisen auf die Erprobung ihres Instruments in der Praxis und erwähnen auch die Namen der erfolgreichen Tester. McKenzie Davidson geht noch einen Schritt weiter, er lässt seinen Chef, Professor Alexander Ogston, seinerzeit bekannter Chirurg und Bakteriologe, das verfassen, was man in der heutigen Werbesprache ein ‚Testimonial‘ nennen würde. Direkt

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unter McKenzie Davidsons eigenem Artikel in The Lancet 1883, preist Ogston die Erfindung mit einigem Enthusiasmus. Er führt einen Beispielfall aus seiner eigenen Praxis an, in dem eine normale Sonde kein Ergebnis brachte, die Diagnose mit dem Lithopon dagegen zweifelsfrei ausfiel. „I am convinced that the lithophone only needs to be used to become a general favourite with surgeons.“ Die normale Sonde sei als Diagnosemittel zu unsicher. „A short familiarity with the lithophone has led me to acquire such confidence in it that in no obscure bladder case do I feel justified in dispensing with its assistance.“ (McKenzie Davidson 1883: 771) Etliche Autoren geben Bezugsquellen für Ihre Instrumente an, meist bekannte medizinische Instrumentenmacher (Heard 1896: 1387; Leftwich 1876: 533; Newman 1909: 16–17). Medizinische Instrumentenkataloge führten, teilweise über Jahrzehnte, Geräte zur akustischen Steindiagnostik (Chas Truax & Co 1890: 929, 940; Hatteroth 1899: 135 f.; Kny-Scheerer Company 1915: 4050 ff.; Tiemann 1879: 81, Tiemann 1889: 400). Insbesondere Andrews Stein-Sucher schien ein echter ‚Dauer-Brenner‘ in Katalogen und wird ebenso wie Billroths Resonanz-Scheibe von Williams als in der Fachwelt anerkannt beschrieben (Williams 1902: 785). Die Instrumente wurden in der Fachliteratur durchaus rezipiert, nicht nur in Zeitschriften, sondern auch in Lehrbüchern und diagnostischen und chirurgischen Monographien (Barth & Roger 1841: 420–421; Cabot 1893; Graefe 1837; Jaquemet 1866; Mailliot 1843; Zehetmayer & Oppolzer 1854 – um nur einige zu nennen). Aber dennoch war anscheinend fast jedes mehr als nur wenige Jahre zurückliegende neue Instrument bald so gründlich vergessen, dass es in gleicher oder ähnlicher Form wieder ‚neu erfunden‘ und als revolutionärer Fortschritt für die Diagnostik angepriesen wurde. Die Erfinder schildern üblicherweise die bisherige Praxis und deren Schwächen, um dann ihr eigenes Instrument als Lösung vorzustellen. Kenntnisse vorheriger Versuche akustischer Verfahren scheinen nur in Ausnahmefällen vorhanden gewesen zu sein (Pfriem, Williams). Ein Punkt für dieses „Vergessen“ lag sicherlich in der mangelnden Anwendungsfreundlichkeit eines Großteils der Erfindungen. Jaquemet kritisierte 1866, es sei bei Instrumenten der Bauart von Moreau de Saint-Ludgere (und demnach ebenso der ähnlichen von Pfriem) so gut wie unmöglich, das Ohr an der Platte des – aus einem starren Holzzylinder bestehenden – Stethoskops zu halten und gleichzeitig die Sonde zu bewegen (Jaquemet 1866: 12). Pfriem hält dagegen, Versuche Velpeaus am Pariser Hôpital de la Charité seien erfolgreich verlaufen (Anonymus 1836; Pfriem 1838: 17–18). Leroy d’Etiolles nahm dies zum Anlass, statt des Stethoskops eine kautschukummantelte Spirale an eine Sonde zu adaptieren. Moreau de Saint-Ludgère und Béhier beharrten dagegen darauf, dass ihre Konstruktion ihren Zweck vollkommen erfülle. Die Erfindung Leroy d’Etiolles’ sei lediglich eine Modifikation, die die Anwendung bequemer mache, nicht aber den Diagnoseerfolg verbessere (Anonymus 1837: 518–519). Die akustisch unterstützten Sonden ‚neuerer Bauart‘ – unter Verwendung elastischen Kautschukschlauchs – werden leicht zwischen Finger und Daumen gehalten und wie eine gewöhnliche Sonde angewandt (Leftwich 1876: 533). McKenzie Da-

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vidson betont, daß sein Lithophon keinerlei Einschränkung bei der Untersuchung bedeutet und dass der Tastsinn beim Sondieren nicht eingeschränkt wird (McKenzie Davidson 1883: 770). McKenzie Davidson betont also ausdrücklich das Ergänzende seiner Erfindung, er strebt nicht danach, das Althergebrachte zu ersetzen. Phillips ist von der durch die flexiblen Schläuche erreichte Verbesserung in der Handhabung allerdings ebensowenig angetan wie von den Vorgängermodellen. In der Praxis hätten sich alle diese Entwicklungen letztendlich als untauglich erwiesen und daher auch keine Verbreitung erlangt. Insbesondere die Gerätschaften zur Plessimetrie der Blase bezeichnet er als ‚ebenso kompliziert wie nutzlos‘ (Phillips 1860: 569). Eine mangelnde Bedienungsfreundlichkeit scheint den meisten der Entwicklungen gemein gewesen zu sein. Selbst Heards ‚akustische Blasensonde‘ von 1896 mit ihrem an eine Sonde gekoppelten Stethoskop moderner Bauart [siehe Abb. 3] zwingt den Untersuchenden in eine unbequeme Haltung, den Kopf in unmittelbarer Nähe des Genitalbereichs des Patienten – was im Kontext des prüden viktorianischen England sicherlich nicht gerade zur Popularität des Instruments beitrug.4 Doch das Interesse an akustischen Methoden zur Steindiagnose war auch sonst limitiert. Pfriem hatte die Idee zu seiner Erfindung schon einige Zeit vor der Veröffentlichung entwickelt und diese auch im Freundeskreis diskutiert. Aufgrund der geringen Resonanz verfolgte er diese aber nicht weiter. Erst ein Artikel in Froriep’s Notizen brachte ihn dazu, die Idee wieder weiterzuentwickeln und sie zum Gegenstand seiner Dissertation zu machen (Pfriem 1838: 5–6). Die ärztliche Kunst bestand darin, den Stein zu ‚fühlen‘ (siehe bspw. Bingham 1823: 244); die Hilfe durch andere Sinne – nicht nur das Hören, sondern auch das Sehen – stieß weitestgehend auf Ablehnung. Cabot beschreibt zwar durchaus Billroths Resonanz-Scheibe und Andrews Stein-Sucher, fällt aber ein vernichtendes Urteil: Die Resonanz-Scheibe sei für den Untersuchenden keinerlei Hilfe, sondern erlaube ihm lediglich, den Umstehenden die Existenz des Steines zu demonstrieren. Auch mit Sonden verbundene Schläuche oder Stethoskope böten in der Praxis keinerlei Verbesserung (Cabot 1893: 641).5 Harrison erwähnt wohlwollend McKenzie Davidsons Lithophon, es sei sehr wahrscheinlich dass sich das Instrument in der Praxis als nützlich erweisen würde (Harrison 1883: 55), hält die Anwendung aber in 95 Prozent der Fälle für überflüssig, der geschulte Tastsinn, tactus eruditus, sei nach wie vor das erste Mittel der Wahl (Harrison 1883: 56). Gilchrist gibt zu, dass die akustischen Hilfsmittel für den unerfahrenen Operateur eine große Hilfe darstellen – „perhaps those who have had much practice in surgery would find it more an embarrassment than an aid“ (Gilchrist 1881: 348 f.). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die akustischen Methoden zur Stein­ diagnose – bis auf einige wenige Ausnahmen wie Leroy d’Etiolles, einem der Erfinder der Lithotripsie – hauptsächlich durch Anfänger und Außenseiter erfunden wur4 5

Offen bleibt hierbei die Frage, ob die technischen Verbesserungen primär im Hinblick auf die Optimierung der ärztlichen Untersuchungspraxis geschahen oder ob diese eine Schonung des Patienten zum Ziel hatten. Das Zystoskop sieht er als ebenso überflüssig an.

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den, offenbar in dem Bestreben die ärztlichen Kunst zu revolutionieren. Und anscheinend scheiterten sie an der mangelnden Akzeptanz der Fachwelt, der mangelnden Bereitschaft, sich auf diese neuen Methoden – und mit ihnen die Verschiebung der diagnostischen Sinneshierarchie – einzulassen. Allein die Tatsache, dass es möglich war, in einer so breit rezipierten Zeitschrift wie The Lancet 1835, 1876, 1882/83, 1896 und 1909 auf dem gleichen Prinzip beruhende Erfindungen zu publizieren, ohne dass dies den Redakteuren oder der Leserschaft aufgefallen wäre, deutet auf die geringe Rezeption der jeweiligen Ansätze hin. Tarrals Leserbrief mit Leserbrief Hinweisen auf frühere, ähnliche Erfindungen bleibt singulär (Tarral 1835: 135). Offenbar akzeptierte man Instrumente zur akustischen Stein-Diagnose – so sie überhaupt rezipiert wurden – maximal als Hilfsmittel in Zweifelsfällen. Anthony White, Chirurg am Londoner Westminster Hospital, der immerhin dem vom Krankenhaus-Archivar Brooke erfundenen Lithoscop gegenüber aufgeschlossen genug war, um es seinen Studenten von diesem auf einem Rundgang durch die Stationen demonstrieren zu lassen, empfahl dessen Anwendung nur bei unklarem Befund (Anonymus 1835; Harrison 1835: 600). Auch andere verwiesen auf die besondere Nützlichkeit in diagnostischen Zweifelsfällen (Ogston in Erichsen 1853: 56; McKenzie Davidson 1883: 771; Zehetmayer & Oppolzer 1854: 90), die nun nicht mehr an Spezialisten überwiesen werden müssten (McKenzie Davidson 1883: 771). Möglicherweise war es bedingt durch diese Anwendungsempfehlung außer der Beschwerlichkeit der Anwendung und der mangelnden Bereitschaft neben der hohen ärztlichen Kunst des „Steine-Fühlens“ noch weitere Hilfsmittel zuzulassen auch eine Zurückhaltung beim Eingeständnis von Zweifelsfällen, die einen Erfolg des „Steine-Hörens“ verhinderte. Steine sehen – das neue Paradigma Konkurrenz entstand den immer wiederkehrenden Entwicklungen zur akustischen Stein-Diagnose in erster Linie durch optische Verfahren. 1879 entwickelten der Dresdner Arzt Nitze und der Wiener Instrumentenmacher Leiter – ein Schüler Charrières – das Zystoskop.6 Dieses stieß anfangs auf ähnliche Widerstände wie die Instrumente zur akustischen Steindiagnose.7 Für die Anhänger der Sinnesvielfalt in der Diagnose ergänzten sich das Sehen und das Hören dagegen – Newman beschreibt unmittelbar vor seinem ‚Harnleiter-Resonator‘ die Anwendung des Zystoskops (Newman 1909: 16–17) und steht auch der Palpitation nicht ablehnend gegenüber. McKenzie Davidson – inzwischen auf Augenheilkunde spezialisiert – besuchte 1896 Konrad Röntgen in Würzburg und ließ sich von ihm dessen Erfindung demonstrieren (Kaye 1917: 249–250). Bald nach seiner Rückkehr entwickelte er seine eigene Röntgen-Apparatur – als eines seiner ersten Untersuchungsobjekte wählte er 6 7

Vgl. Beitrag Zykan. Vgl. Beitrag Martin.

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Harnsteine (Morris 1904: 91–92). Er wechselte also sozusagen vom „Steine hören“ zum „Steine sehen“. Die Idee der akustischen Steindiagnose wiederum feierte Mitte des 20. Jahrhunderts eine letzte kurze Wiederauferstehung, als der ungarische Urologe Endre Szold abermals ein Lithophon vorstellte (Szold 1949). Aber auch diese Erfindung erlitt das gleiche Schicksal wie ihre Vorläufer: Sie erreichte keinerlei Akzeptanz in der Fachwelt und fiel der Vergessenheit anheim. Durchgesetzt haben sich letztendlich optische Methoden wie Röntgen und Ultraschall, die nicht nur den in der traditionellen Sinneshierarchie favorisierten Wahrnehmungskanal nutzten, sondern auch für Arzt wie Patient eine angenehmere Anwendung versprechen, da mit ihnen die Notwendigkeit entfällt, Sonden oder Katheter in die Harnröhre einzuführen und diese im Patienten so lange zu bewegen, bis der Stein aufgespürt war oder seine Existenz mit relativ großer Sicherheit ausgeschlossen werden konnte. Das „Steine hören“ blieb letztlich eine diagnostische Episode, eine bloße Durchgangsstation auf dem Weg vom Fühlen zum Sehen (Murphy & Desnos 1972: 343 f.). Literatur Albers, Johann Friedrich Hermann (1850) „Die Erkenntniss der Krankheiten der Brustorgane aus physicalischen Zeichen oder Auscultation, Percussion und Spirometrie“: nach Heribert Davies Vorlesungen u.eigenen Beobachtungen bearbeitet (Bonn: Marcus). Anonymus (1835) „Hospital Reports: Mr. Brooke’s Lithoscope: Westminster Hospital“, The London Medical and Surgical Journal 6: 829. Anonymus (1836) „Die Auscultation behufs der Diagnose der Blasensteine“, Froriep’s Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde/1063: 111–112. Anonymus (1837) „Cathétérisme de la vessie, dans le cas de calcul“, Archives générales de médecine 2. Anonymus (1880) „A New Lithophone“, The Medical Press and Circular 29: 402. Anonymus (1880) „The Lithophone“, Glasgow Medical Journal 13: 438. Barth, Jean Baptiste Philippe & Henri Louis Roger (1841) Traité pratique d’auscultation, ou exposé méthodique des diverses applications de ce mode d’examen à l’état physiologique et morbide de l’économie (Paris: Béchet & Labé). Bingham, Robert (1823) Praktische Bemerkungen über die Krankheiten und Verletzungen der Blase: Eine gekrönte Preisschrift. Aus dem Engl. übers. von Georg Eduard Dohlhoff (Magdeburg: Creutz). Cabot, Arthur T. (1893) „Stone in the Bladder, Urethra, and Ureters“, in P. A. Morrow (Hg.) A system of genito-urinary diseases, syphilology and dermatology (New York: Appleton): 621–837. Caspari, Carl (1823) Der Stein der Nieren, Harnblase und Gallenblase in genetischer, chemischer, diagnostischer und therapeutischer Hinsicht: Nach den verschiedenen Theorien älterer und neuerer Ärzte betrachtet (Leipzig: Ernst Fleischer). Cazenave, Jean-Jacques (1836) Fragmens d’un traité complet des maladies des voies urinaires chez l’homme (Paris: Béchet Jeune). Chas Truax & Co (1890) Price List of Physicians’ Supplies: Surgical Instruments, Pharmaceutical Preparations and Strictly Pure Drugs (Chicago: Truax & Company). Chrestien, André Thérèse Fulcrand (1842) De la percussion et de l’auscultation dans les maladies chirurgicales.: Thèse soutenue publiquement le 20 juin 1842. (Paris: Cosson).

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Die Evidenz des endoskopischen Blicks Michael Martin War lange Zeit die sprachliche Äußerung der zentrale Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, so wurde seit dem „Iconic“ bzw. „Pictorial turn“ der Blickwinkel um den Bereich des Visuellen erweitert (Burda & Maar 2004, Gottfried 1994, Mitchell 1994, 2008). Das Bild galt zunehmend nicht mehr nur als Illustration von Wissen, sondern wurde zum „epistemischen Bild“, zur eigenständigen Form der Wissensproduktion. Diese Sichtweise ist auch angemessen, zumal „Wissen … von seiner Darstellungsweise, seiner je spezifischen Medialität“ abhängt.1 Die unterschiedlichen Visualisierungsstrategien sind dabei vielfältig und reichen von Tabellen über Diagramme, Kurven bis hin zu Abbildungen. Letztere können sowohl einen theoretischen Aspekt wie einen realen Zusammenhang graphisch umsetzen, etwa in Form von schematischen oder anatomischen Zeichnungen. Es kann aber auch darum gehen, Bilder direkt zu erzeugen. Die sogenannten „bildgebenden Verfahren“ generieren aus Messgrößen eines realen Objektes ein visuelles Abbild. In der Medizin sind sie definiert als „Oberbegriff für verschiedene Diagnostikmethoden, die Aufnahmen aus dem Körperinneren liefern“ (Roche-Lexikon Medizin). Während im historischen Rückblick deren Anfänge in der Regel mit der Röntgentechnik verortet werden, lassen sich auch frühere Methoden dazu zählen. Etwa (indirekt) die Mikroskopie, die Bilder aus dem Körper via Präparat erzeugt, sowie insbesondere alle Formen der Endoskopie. In beiden Fällen werden zunächst keine Bilder produziert, sondern Ansichten bzw. Einsichten ermöglicht. Da diese „Einblicke“ flüchtig sind, waren Forscher stets darum bemüht, auch diese zu fixieren, um sie dokumentieren zu können. Zunächst wurden Zeichnungen angefertigt, schon früh kam es aber auch zur Nutzung der Fotografie. Im Folgenden werden Bilder als „genuine Methoden der Wissenserzeugung und damit auch als Teil des epistemischen Prozesses“ (Mersch 2006) verstanden. Dabei geht es zunächst um die Entwicklung technischer Verfahren, die ein „Hineinsehen“ in den Körper überhaupt erst ermöglichten, wobei der zentrale Gegenstand die urologische Endoskopie ist. Im zweiten Teil werden die Bemühungen zur Dokumentierung des Visuellen vorgestellt, die Voraussetzung waren zur Bereitstellung des Bildes für die wissenschaftliche Analyse.

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Vgl.: Mersch 2006: 95–116.

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In den Körper sehen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird das Sehen durch die medizinische, physiologische wie psychologische Forschung, durch optische Instrumente oder Experimente mit Licht und Strahlen, zu einem zentralen Gegenstand wissenschaftlicher wie kultureller Diskurse. In der Hierarchie der Sinne nimmt in der westlichen Moderne das Sehen eine Sonderstellung ein. Die Rede von einer Hegemonie des Sehens, einem „occularcentrism“ (Jay 1993) oder dem „Adel des Sehens“ (Jonas 1999: 257–271, Kavanagh 2004: 445–465) zeigt dies an. Etwas „sehen“ suggeriert Wahrheit, Erkenntnis. Liegen die Dinge „im Dunkeln“, sind sie unsichtbar, undeutbar, bleiben Gegenstand der Spekulation. Im Kontext der Etablierung einer naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin im Laufe des 19. Jahrhunderts war man darum bemüht, alle Vagheiten auszuschalten und die „Dinge“ zum Objekt zu erheben, das man wissenschaftlich betrachten und dokumentieren konnte. Gerade das menschliche Körperinnere, bisher dem Sehsinn weitgehend verschlossen, wurde zu einem zentralen Forschungsobjekt, das seinen sinnfälligsten Ausdruck in der Endoskopie (griechisch: éndon ‚innen‘; skopein ‚beobachten‘), der schon dem Namen nach zuständigen Technik, fand.2 Urologische Endoskopie Versuche, über Körperöffnungen in das Innere vorzudringen, etwa mittels Katheter, hatte es immer wieder gegeben (Shah 2002: 645–652).3 Doch jetzt wollte man nicht sondieren, entleeren oder spülen, sondern sehen. Um dies zu ermöglichen, mussten die dunklen Körperhöhlen „illuminiert“ werden. Phillip Bozzini (1773–1809) setzte die Idee, „die inneren Höhlen des lebenden animalischen Körpers zu erleuchten“, 1806 mit seinem „Lichtleiter“ um: das Licht einer Kerze sollte über einen Spiegel in das Innere der Harnblase reflektiert werden (Reuter 1988, Reuter 2006: 1084– 1091). Damit war die Grundidee für das Zytoskop (wörtlich „Blasenbetrachter“) entwickelt, die sich heute noch in der bisweilen gebräuchlichen Bezeichnung „Blasenspiegelung“ für die Zystoskopie wieder findet. Das Instrument lieferte jedoch noch wenig wirklichen Einblick und fand daher keine praktische Anwendung. Ausschlaggebend für diese mangelnde Akzeptanz war einerseits die technische Unzulänglichkeit, mindestens ebenso wichtig war ein anderer Zusammenhang: In der Urologie besaß die Blaseninspektion mittels des Tastsinns eine lange Tradition, wobei die Ergebnisse von der individuellen Geschicklichkeit des Untersuchenden abhingen. Angesichts dieser Möglichkeit, die ärztliche Kunst zu demonstrieren, hatten die Mediziner lange Zeit keinen Bedarf an einer anderen, konkurrierenden Methode (Hauri 2005: 401–407).

2 3

Vgl. das voluminöse Standartwerk: Reuter (1998). Vgl. als Kurzüberblick aus urologischer Perspektive: Shah 2002: 645–652.

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Abb. 1: Lichtleiter nach Bozzini, aus: Nitze, Max (1907) Lehrbuch der Kystoskopie. Ihre Technik und klinische Bedeutung, zweite Auflage (Wiesbaden: Bergmann), S. 4

Antonin Jean Desormeaux (1815–1882) kam rd. 50 Jahre später auf die technische Grundidee Bozzinis zurück, ersetzte indes das schwache Kerzenlicht durch eine Brennstoffmischung aus Alkohol und Terpentinöl, die eine wesentlich hellere Flamme erzeugte. Das von ihm erstmals als „Endoscope“ bezeichnete Instrument wurde 1853 vorgestellt und ermöglichte es, Blasen- und Harnröhrenschleimhautveränderungen zu beobachten sowie Blasensteine zu erkennen. Doch selbst jetzt blieb die Ärzteschaft noch weitgehend skeptisch gegenüber dieser neuen Technik. Einer seiner Lehrer soll Desormeaux gefragt haben: „Man sieht sehr gut mit ihrem Instrument. Aber wozu dient das eigentlich?“ (Hauri 2005: 404). Insgesamt zeigte sich jedoch bald, das alle Versuche mit extrakorporalen Lichtquellen nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen würden, da deren Leuchtkraft zu schwach blieb. Es mussten also Möglichkeiten gefunden werden, die Lichtquelle in den Körper einzubringen. Ein bemerkenswerter Beitrag stammt von Julis Bruck (1840–1902), der mit glühendem Platindraht experimentierte und die sogenannte „Diaphanoskopie“ erfand, die indirekte Durchleuchtung von Körperhöhlen. Bezüglich der Blase stellte er 1867 das „Urethroskop“ vor. Glühender Platindraht lieferte das hellste Licht, das man zu dieser Zeit erzeugen konnte, entwickelte indes auch extreme Hitze. Zur Kühlung schloss Bruck den Draht in eine doppelte Glasflasche ein, deren äußere Kammer dauernd mit Eiswasser gespült wurde. Der Leuchtkörper des Gerätes wurde dadurch derart voluminös, das an ein Einbringen in die Harnröhre nicht zu denken war. Durch Einführung in den Enddarm konnte indes die Blase durchleuchtet – und mittels eines gekrümmten Katheters – beobachtet wer-

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den. Allerdings blieb auch bei Anwendung der stärksten Lichtquellen die Helligkeit zu gering, um ein für die Diagnostik hinreichendes Blasenbild zu erzielen (Zamann und Zajaczkowski 2002: 35–39). Maximilian Nitze (1848–1906) griff dann die Idee des Platindrahtes als Lichtquelle auf und es gelang ihm zusammen mit dem Instrumentenbauer Wilhelm Deicke, ein Gerät zu konstruieren, bei dem die Kühlung derart minimiert werden konnte, sodass erstmals eine intraversikale Ausleuchtung möglich war (Herr 2006: 1313–1316; Reuter 2006: 1076–1038). 1877 demonstrierte Nitze das Zystoskop vor der Königlich Medizinischen Gesellschaft in Dresden an einer Leiche, wobei es ihm gelang, einen in die Harnblase eingebrachten Stein richtig zu erkennen. Wenig später waren die Instrumente für die Harnblase so weit vollendet, dass sie eine Anwendung an lebenden Patienten erlaubten. Auf Empfehlung Deickes arbeitete Nitze ab 1878 mit dem Wiener Instrumentenmacher Josef Leiter zusammen und zog zur Intensivierung der technisch-medizinischen Kooperation selbst nach Wien.4 Auf der Basis der Deicke-Modelle – die sich allesamt als in der Praxis nicht brauchbar herausgestellt hatten – verbesserten sie die Technik, insbesondere das optische System, derart, dass 1879 das erste funktionsfähige Nitze-Leiter-Kystoskop der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte (Oberländer 1897: 709–713). Nitze hat damit den „Grundstein für die klinische Endoskopie gelegt, wie sie jetzt bei der gesamten Körperhöhlenforschung Anwendung findet und in ihren Grundprinzipien bisher noch keine wesentliche Änderung erfahren hat.“ Insbesondere besaßen seine Endoskope „zwei zukunftsweisende Eigenschaften: 1. Die Lichtquelle saß an der Spitze bzw. im Schnabel des Instruments. 2. Der optische Apparat (Fernrohr) erweiterte die sichtbare Bildfläche im Blaseninnern“ (Reuter 2006: 1079). Bei diversen öffentlichen Demonstrationen wurden die Instrumente zunächst positiv bis enthusiastisch aufgenommen. Bald kam es jedoch zunehmend zu Ablehnung, wobei insbesondere die komplizierte und teure Wasserkühlung des Glühdrates kritisiert wurde. In seinem „Lehrbuch der Kystoskopie“, das den bezeichnenden Untertitel trug: „Einschliesslich der nach M. Nitzes Tod erzielten Fortschritte“, verweist der Nitze-Schüler Otto Ringleb in diesem Kontext auf das Unverständnis der „ausübenden Blasenärzte“: die „Überlastung des Arztes durch die gewaltigen Anforderungen, die schon das Studium an sein Gedächtnis stellt, äußert sich bei der Mehrzahl selbst der ausübenden Fachärzte in einer häufig unbewußten Ablehnung der Müheleistung, die nur ein tieferes Verständnis für ein neues Gerät oder Verfahren aufbringt“ (Ringleb 1927: 4). D. h., wesentlich für die mangelnde Akzeptanz des Instruments war nach Ringlebs Meinung die fehlende Bereitschaft der Ärzte, sich mit dessen Funktionsweise auseinanderzusetzen, um so auch den möglichen Erkenntnisgewinn überhaupt erfassen zu können.5 4 5

Zur problematischen Zusammenarbeit zwischen Nitze und Leiter vgl. ausführlich: Reuter (1998, Bd.II: 170–216). Diese mangelhafte Kommunikation und Kooperation zwischen Naturwissenschaftlern, Technikern und Ärzten war ein zentrales Problem bei der Entwicklung von Medizintechnik. An anderer Stelle kommentierte Ringleb die Verdienste des Physikers Max von Rohr für die Endoskopie, die „jeder Urologe umso mehr verstehen wird, je mehr er würdigen kann, was es heisst,

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Nitze, der „von der Entrüstung über den Widerstand der stumpfen Welt nicht loskommen konnte“ (Ringleb 1927) hielt zwar weiterhin Kurse in Zystoskopie ab, die von zahlreichen in- und ausländischen Ärzten besucht wurden, zog sich aber aus der Konstrukteursarbeit zurück. Erst 1886 wurde er wieder aktiv, als mit der Mignonlampe eine Technik zur Verfügung stand, mit der das zentrale Problem der Beleuchtung von Körperhöhlen gelöst werden konnte. Die frühen Endoskope waren alle auf eine externe Lichtquelle (Sonnenlicht, Petroleum-, Gas- oder Magnesium-Lampen) angewiesen, die mittels Spiegel in die Körperhöhlen reflektiert wurde und naturgemäß nur von sehr geringer Wirkkraft und Reichweite waren. Mit dem glühenden Platindraht konnte zwar die Lichtquelle in den Körper verlegt werden, er war aber aus den geschilderten Gründen nicht praktikabel. Erst als die 1879 von Edison zum Patent angemeldete Glühlampe klein genug geworden war, um, an der Spitze des Instrumentes installiert, in den Körper eingeführt werden zu können, war das zentrale Dilemma der Endoskopie, die intrakorporale Ausleuchtung, prinzipiell gelöst. Auf dieser Basis stellte Nitze 1887 sein erstes „Mignonlampen-Zystoskop“ vor.

Abb. 2: Kystoskop I mit Mignon-Lampe, aus: Nitze, Max (1907) Lehrbuch der Kystoskopie. Ihre Technik und klinische Bedeutung, zweite Auflage (Wiesbaden: Bergmann), S. 33

„So ist nun“, kommentierte Nitze die Bedeutung dieser technischen Neuerung, „durch Benutzung der Mignonlampen das Kystoskop aus einem complicirten, technisch schwierigen, kostbaren Instrument mit einem Schlage ein einfach zu handhabendes, wohlfeiles geworden. Wasserleitung und Rehostat fallen jetzt ganz fort. Während früher für jede Untersuchung die so lästige Bunsen-Batterie gefüllt wereinen Urologen in das Gebiet der geometrischen Optik einzuführen.“ Vgl. (Fromme & Ringleb 1913: III).

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den musste, bedient man sich jetzt am besten einer kleinen Batterie“ (Nitze 1889: 177). Damit war erstmals ein funktionsfähiger Instrumententyp entwickelt, der die Leuchtquelle in das Körperinnere einbrachte, bei gleichzeitiger Unversehrtheit des Patienten.6 Diese technische Innovation schuf die Basis für die weitere Entwicklung hin zur foto-endoskopischen Dokumentation. Bilder aus dem Körper Bilder aus dem Körper haben eine hohe Evidenz und stellen gleichsam ein wissenschaftlich wie ästhetisches Faszinosum dar. Bei seinen ausführlichen, 90-seitigen Interpretationen der „Bilder aus der Blase“ geriet der Urologe Leopold Casper förmlich ins Schwärmen: Die Bilder der Blasensteine „gehören mit zu dem Schönsten, was man sehen kann“.

Abb. 3: Blasensteine (links Foto, rechts Zeichnung), aus: Casper, Leopold (1905) Handbuch der Cystoskopie, zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage (Leipzig: Thieme), Tafel VII

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The Mignon lamp „was the most reliable source of light at the time and was unlikely to damage the bladder by heat, one of the biggest limitations in designs thus far.“ Shah (2002: 647).

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Und dann beschreibt er die Expedition ins Innere: „Sobald das Prisma in die Blasenhöhle vorgedrungen ist, präsentieren sich uns ein oder mehrere Steine in geradezu überraschender Deutlichkeit“, um sich anschließend über die herrlichen Farben und Formen der unterschiedlichen Steine auszulassen. An anderer Stelle heißt es: „von allem, was uns die Cystoskopie zeigt, geben wohl die Blasentumore die markantesten und im Sinne der Pathologie schönsten Bilder. Ich entsinne mich nicht eines einzigen Fachgenossen, der, nachdem ihm zum erstenmal ein Blasentumor durch das Cystoskop gezeigt worden war, nicht voller Bewunderung und Lob über die Untersuchungsmethode gewesen wäre. Und in der Tat gewährt es ein Gefühl der Befriedigung und Freude, wenn man die Quelle oder den Sitz der scheinbar verborgenen Krankheit mit Exaktheit und Gewissheit vor sich sieht“ (Casper 1905: 132,138). Im Folgenden musste es darum gehen, diese Bilder – jenseits des Blicks des einzelnen Untersuchenden – der wissenschaftlichen Rezeption zugänglich zu machen. Dabei rückte bald eine neue Technik in den Mittelpunkt, die über die zentrale Voraussetzung zur technischen Kompatibilität, der Anschlussfähigkeit zur Endoskopie verfügte. Fotografie und Medizin Ohne Zweifel stellt die Erfindung der Fotografie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Zäsur in der allgemeinen Mediengeschichte dar, deren Auswirkungen auf die Wissenschaftspraktiken der Zeit beträchtlich gewesen sind. Anfänglich herrschte ein grenzenloser Optimismus bezüglich der Leistungsfähigkeiten der Fotografie, wobei insbesondere der angeblich interventionslose Vorgang der Selbstdokumentation der Natur – etwa in dem bekannten Diktum William Henry Fox Talbot’s von der Kamera als „Pencil of Nature“ – betont wurde.7 Das Streben nach Objektivität führte auch in der Medizin zu zahlreichen Versuchen, das neue Medium nutzbar zu machen (Taureck 1980, Maehle 1989: 137–148). Zumal die Fotografie, wie es in einer zeitgenössischen Fachzeitschrift (!) hieß, dem menschlichen Auge auch funktionell überlegen sei: „Die photographische Wiedergabe eines Gegenstandes reproduziert in vielen Fällen die Strukturen besser, als sie das menschliche Auge zu beobachten im Stande ist, so daß man sagen kann, das menschliche Auge wird durch die Empfindlichkeit der photographischen Platte übertroffen“ (Jankau 1894: 1–8, 3). Vor allem die Mikrofotografie erweckte schnell Aufmerksamkeit, etwa in den jungen Disziplinen der Bakteriologie und Histologie. Beginnend mit Gerlachs „Die Photographie als Hülfsmittel mikroskopischer Forschung“ von 1863 erschienen eine Reihe von entsprechenden Handbüchern (Breidbach 2002: 221–250), Stahnisch 2005: 135–150). Insbesondere der einflussreiche Robert Koch wurde nicht 7

Mit der Gründung der ersten photographischen Manufaktur durch Talbot 1843 nahm die kommerzielle Auswertung der Photographie ihren Anfang. Vgl.: Gernsheim 1983; Kemp 1980: 1839–1912.

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müde, die Vorzüge des neuen Mediums zu betonen, die es aus seiner Sicht zur prädestinierten Form der wissenschaftlichen Bildgewinnung werden ließen. Die sich in seiner wissenschaftlichen Praxis manifestierende Ablösung der Zeichnung kulminierte 1881 in seinen mit 84 fotografischen Abbildungen ausgestatteten Ausführungen über pathogene Organismen in dem Diktum, das fotografische Bild eines mikroskopischen Gegenstandes sei unter Umständen wichtiger als dieser selbst (Schlich 1995: 143–174, Brons 2004: 19–28). Nach einem anfänglichen Enthusiasmus bestand über die Leistungen der Mikrofotografie jedoch keineswegs Einigkeit. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, ob diese überhaupt eine gesteigerte „dokumentarische Exaktheit“ oder größere „Objektivität“ in der Darstellung – etwa im Vergleich zur Handzeichnung oder dem Präparat – liefern könne (Schickore 2002: 285–310). Während hier die Fotografie noch eng mit Labortechniken verbunden war, wurde auch versucht, sie für die klinische Diagnostik zu nutzen. 1894 erschien Heinrich Curschmanns Standardwerk zu den „Klinischen Abbildungen“, dessen Untertitel „Sammlung von Darstellungen der Veränderung der äußeren Körperform bei inneren Krankheiten“ auf eine Funktion verweist, die „speziell der klinischen Fotografie im 19. Jahrhundert zukam: Aufdeckung des eigentlich Verborgenen, Unsichtbaren, dem klinischen Blick zunächst Entzogenen. Veränderungen der Form deuteten einen tieferen, innen liegenden Prozeß an, dessen Entäußerung sie darstellten. Ihre Entschlüsselung stellte daher eine Erweiterung des klinischen Blicks in den Bereich des Unsichtbaren dar“ (Kröner 2005: 123–134). Kystophotographie Die Mikrofotografie lieferte Bilder aus dem Körperinnern ex corporae: über den Umweg des Präparats wurden Vorgänge im Organismus an die Oberfläche gebracht und mikroskopiert. Das Okular wurde dabei durch eine aufgeschraubte Kamera ergänzt. Das Foto sollte, in Abgrenzung zur Zeichnung, wissenschaftliche Objektivität garantieren. Bei der klinischen Fotografie hingegen ging es um die Abbildung des Körperäusseren, um aus dessen Beschaffenheit und Veränderung Rückschlüsse auf das Körperinnere ziehen zu können. In beiden Fällen funktioniert das Foto nur indirekt, fotografische Abbildungen direkt aus dem Körperinneren waren ein technisch weitaus schwierigeres Unterfangen. Die zentrale Problematik lag dabei darin, „Licht ins Dunkel“ zu bringen, was sich als höchst komplexer Vorgang herausstellen sollte. Zum einen mussten die Körperhöhlen hinreichend genug „beleuchtet“ werden bei gleichzeitiger Unversehrtheit der Person. Zum anderen mussten diese Bilder „optisch verarbeitet“ werden (über Linsen, Prismen etc.), um in den Rang eines Forschungsobjektes aufsteigen zu können. Nach dem Erfolg seines „Lehrbuch der Kystoskopie“ von 1889 ließ Nitze bereits ab 1891 durch seinen Schüler Robert Kutner die ersten Fotografien der Blase anfertigen und es gelang, Blasenbefunde fotografisch festzuhalten. 1894 erschien mit dem „Kystophotographischen Atlas“, der 10 Tafeln, 60 Abbildungen sowie

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Photogravuren enthielt, das „erste bahnbrechende Werk“ der „Endophotographie“ (Reuter 2006: 1082, Reuter 2000: 299–302). Zunächst hatte man, wie etwa auch in der mikroskopischen Untersuchung, die Bilder aus dem Körperinnern mittels Handzeichnungen fixiert. Für den Bereich der Urologie besonders eindrucksvoll waren die farbigen Zeichnungen – etwa der unterschiedlichen Blasensteine – von Desormeaux aus dem Jahr 1865. Während in der Gastroskopie noch lange Zeit Zeichnungen üblich waren, wurden diese in der Urologie bald durch Fotografien ergänzt bzw. ersetzt, weil es, so Nitze im Vorwort zu seinem „Atlas“, „überaus schwierig ist, kystoskopische Bilder durch Zeichnungen oder gar farbig wiederzugeben.“ Andererseits hatte bereits Kutner die Grenzen der fotografischen Wiedergabe aufgezeigt: Die „überaus zierliche Gefässzeichnung, wie sie das kystokopische Bild zeigt“ wird „in der Photographie nicht ausgedrückt“. Dies hatte technische Ursachen: „Sämtliche photographischen Emulsionen zeigen Korn (…). Je gröber das Korn, desto schwieriger werden sich bei sehr winzigen Bildchen Feinheiten und Details auf der photographischen Platte abzeichnen können; nimmt man wiederum feines Korn, so ist man gezwungen, länger zu exponieren. Die Feinheit des Korns und die Kürze der Expositionszeit stehen im umgekehrten Verhältnis.“ Die sei der „Übelstand der photographischen Technik“, wie er sich auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen wie der Astronomie auswirke. Bei dem „ausserordentlich verkleinerten Blasenbildchen, das nur 2 ½ mm Durchmesser hat, zeichnen sich deshalb Details, die im Original kleiner sind als 1 mm, nicht mehr deutlich erkennbar ab.“ Damit seien „die kleinen Blutgefässzeichnungen (…) von der photographischen Wiedergabe vorläufig ausgeschlossen“ (Kutner 1891: 311–315). In Fachkreisen wurden die Bilder Kutners als höchst mangelhaft und für die Praxis ungeeignet eingestuft. Selbst die Kombination von Text und Bild half da wenig: Es gehöre „doch selbst mit Hilfe des beigegebenen Textes des so verständliche Optimismus des Autors dazu, das herauszufinden, was der Text besagt „ (Fromme & Ringleb 1913: 6). Die besonderen Schwierigkeiten des Prozederes, endoskopische Bilder herzustellen, ergeben sich aus der Transformationsleistung vom Virtuellen zum Reellen. Nitze hatte in seinem „Lehrbuch“ das Problem bereits theoretisch erörtert: „Das Bild, welches wir beim Hindurchsehen durch den optischen Apparat erblicken, ist ein virtuelles und kann als solches nicht photographisch fixiert werden.“ Ersetzt man nun das Okular durch eine Kamera, so entsteht ein reelles Bild auf der Photoplatte, das dem „frei im Rohre schwebenden“ entspricht und daher „kaum 2 mm“ groß ist (Nitze 1889: 325 f.). Doch trotz anschließender Vergrößerung war auch noch auf den Bildern des „Atlas“ nicht viel zu erkennen. Ausschlaggebend waren hierfür in erster Linie drei Begründungszusammenhänge: die Glühlampe war zu lichtschwach, die Optik hatte nur einen Durchmesser von 0,25 mm, wodurch kleine Details nicht abgebildet werden konnten und nicht zuletzt führte die Bewegung der Blasenwand bei den langen Expositionszeiten zur Unschärfe (Reuter 1998, Bd IV: 569).

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Abb. 4: Kystofotografien, aus: Fromme, Friedrich und Otto Ringleb (1913) Lehrbuch der Kystophotographie. Ihre Geschichte, Theorie und Praxis (Wiesbaden: Bergmann), Tafel I

In ihrer Monographie zur „Kystophotographie“ beschreiben die Autoren den schwierigen Weg hin zu brauchbaren Fotografien, der geprägt war durch die Komplexität des Gegenstandes, bei dem es galt, neben medizinischer Aspekte, Fragen der Technik oder der physikalischen Optik bis hin zu Problemen der (Photo-) Chemie zu berücksichtigen. Sie konstatierten, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Bildern wenig zu sehen war und die „bisher erhaltenen Photogramme“8 von jenen, „die nach vielen Mühen und Fehlschlägen endlich wenigstens gröbere Objekte auf die Platte bekamen“ viel zu positiv beurteilt wurden. Wenn man „die Photographie auf ihre Dunkelheit und Schärfe hin prüft, so handelt es sich meist nur um Aufnahmen, die die Blasenwand als undeutliches Wolkengebilde zeigen. Jede Gefäßzeichnung fehlt. (…) Und wo die Konturen infolge der langen Exposition undeutlich sind, hilft fleissig der Stift des Retoucheurs. So ist beispielsweise an den Photogrammen M. Nitzes stark retouchiert, wie der in der Beurteilung solcher Bil8

Lange Zeit wurde nicht zwischen „Photographien“ und „Photogrammen“ unterschieden, obwohl letztere technisch etwas ganz anderes sind und ohne Kamera mittels direkter Belichtung etwa von Papier hergestellt werden. Entgegen der Bezeichnung arbeiteten alle frühen Instrumente so. Der Apparat von Ringleb war der erste, der eine echte „Camera“ (patentiert von Carl Zeiss 1911) eingebaut hatte und so tatsächlich „Photographien“ lieferte.

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der geübte sofort erkennt. Wie ausserordentlich weit ist beispielsweise das Bild einer Harnleitermündung von der Wirklichkeit entfernt geblieben, an die Photographie des Katarrhs in seinen verschiedenen Stadien ist gar nicht zu denken“ (Fromme & Ringleb 1913: 14). Hier werden zahlreiche Probleme der neuen Technik angesprochen, die wohl auch Leopold Casper bewusst waren und der daher bei der Publikation seines „Handbuchs“ einen bemerkenswerten „Doppelweg“ einschlug. Auf den beigegebenen Farbtafeln liefert er zum einen „Originalphotogramme“, an denen „nichts retouchiert“ wurde, um sie „ganz getreu zu haben“. Da aber „Photographien dem weniger geübten keine rechte Vorstellung der Bilder verschaffen, so habe ich sie nach der Natur malen lassen. (…) Die Nebeneinanderstellung der Photographien und Gemälde erleichtert das Verständnis der Bilder außerordentlich“ (Casper 1898: VI). D. h., die Tafeln zeigen Bilder aus dem Blaseninnern in identischer Perspektive und mit identischem Gegenstand (Steine, Zysten etc.), wobei links ein Schwarzweiß-Foto und rechts eine farbige Zeichnung zu sehen sind. Dieses Vorgehen wird in einer Rezension ausdrücklich gelobt: „Die auf 22 Tafeln beigegebenen Abbildungen sind fast durchwegs gut gelungen und künstlerisch ausgeführt. Die Anordnung, dass neben dem gemalten Bild das Photogramm gesetzt wird (…) finde ich sehr nachahmenswert; beide Bilder nebeneinander gestellt, vereinigen, wie Casper sagt, Treue mit Anschaulichkeit“ (Makkas 1912: 607). Damit repräsentiert das Werk den sich um 1900 vollziehenden Übergang in den (natur-) wissenschaftlichen Visualisierungsstrategien von der „Naturwahrheit“ zur „mechanischen Objektivität“.9 Etwa vom 16. Jahrhundert an bestimmte das Prinzip der Naturtreue die wissenschaftlichen Abbildungen. In ihm sah man „die größtmögliche Annäherung an das Wahre“, indem durch den „Ausschluss von Eigenarten“ Standardobjekte geschaffen werden. Für die Autoren der Hand- und Lehrbücher bzw. der wissenschaftlichen Atlanten stellte Auswahl und Konstituierung von „Arbeitsobjekten“ insbesondere ein Selektionsproblem dar, da die „Natur so vielfältig ist, wie es die Wissenschaft niemals sein kann“. Insbesondere kam ihnen die Aufgabe zu, diese Arbeitsobjekte (die flüchtig bzw. in der Form überhaupt nicht existent sind) bereitzustellen bzw. zu konstruieren. Und dies insbesondere in Form der Abbildungen, da, so ein Credo der Atlasautoren, „Bilder anschaulicher und unauslöschlicher als Worte“ sind (Daston & Galison 2002: 29–99, 38). Doch das Prinzip der Naturtreue als Inbegriff der Wissenschaftlichkeit wurde zunehmend dekonstruiert. Man entlarvte die wohlfeilen Zeichnungen als „idealisierte Trugbilder“ und forderte eine neue Ökonomie der Beobachtung, die in einer möglichst weitgehenden Automatisierung der Aufzeichnung gipfelte. Diese Forderung sahen Viele mit der Einführung der Fotografie eingelöst, die als „das Symbol von neutraler, extrem genauer Wahrheit“ galt. Die vermeintliche Objektivität der Fotographie war seit Talbot allgemeiner Konsens. Die Bildwerdung der Natur in der technischen Reproduktion macht den 9

Vgl. dazu ausführlich Daston und Galison: 2007.

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schöpferischen Künstler überflüssig. „It is not the artist who makes the picture, but the picture wich makes itself“, war dessen Credo. An die Stelle des Künstlers ist das Licht als „Pencil of Nature“ getreten (Stiegler 2006: 45). Und war es einmal gelungen, genügend Licht ins Körperinnere einzubringen, galt dies auch für die Endofotografie. Die neue Technik wurde als dem menschlichen Sehvermögen weit überlegen gepriesen, die Kamera galt als „Über-Auge“, die „photografische Platte“ als die „wahrhafte Retina des Forschers“, so der französische Astronom Jules Jansen 1882 (Stiegler 2006: 181). Die Fotografie drang zusehends in Bereiche vor, die dem unbewaffneten Auge verschlossen waren, etwa in den mikroskopischen Bereich oder eben ins Körperinnere. „Der Photographie kommt es ab 1880 zu, die Sehschwäche des Menschen zu kompensieren und als Medium zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem zu fungieren, Sie übersetzt das Unsichtbare in sichtbare und lesbare Zeichen, die eine spezifische Interpretation erfordern“ (Stiegler 2006: 183). Der sukzessive Übergang vom Bild zum Foto zeigt sich auch im Werk von Max Nitze, wie es sein langjähriger Assistent im Vorwort zu zweiten Auflage beschrieb. Man habe bei der Gestaltung der Farbtafeln weder Kosten noch Mühen gescheut: „Sind doch die farbigen Blasenbilder, welche in der ersten Auflage noch sehr unvollkommen waren, die Ausbeute jahrzehntelanger mühsamer Versuche und Arbeiten des Meisters, Aquarelle vom Innern der normalen und pathologischen Blase zu gewinnen. Mit welchem eisernen Fleisse hat er gerade diese Studien betrieben, mit welcher begeisterten und begeisternden Beharrlichkeit wusste er die ihn unterstützenden Künstler anzufeuern, immer neue Bilder zu schaffen, um der Natürlichkeit der Objekte in Plastik der Form und Transparenz der Farben möglichst nahe zu kommen.“ Da war es „wohl selbstverständlich, dass alle alles taten, um auch die Wiedergabe so Wahrheitsgetreu als irgend tunlich zu gestalten.“ Die farbigen Bilder wurden von dem „Herrn Maler Landsberg“ gestaltet, „um auch den nichtfarbigen Bildern eine möglichst vollendete Reproduktion zu sichern, wurden sämtliche Tafeln noch einmal neu hergestellt; hierzu wählten wir dasjenige Reproduktionsverfahren, welches gegenwärtig als das leistungsfähigste gelten muss – die Photographie“ (Nitze 1907: Xiii). Die vollkommene Verdrängung der Zeichnung war nur eine Frage der Zeit bzw. der technischen Entwicklung. Als in den 1930er Jahren die neuen SpiegelreflexKameras mit den Endoskopen verbunden werden konnten und insbesondere brauchbare Farbfilme zur Verfügung standen, setzte man auch in diesem Bereich vollständig auf die Fotografie.10

10 Zur Entwicklung von der „endoskopischen Colorphotographie“ bis zur „Film- und TelevisionDokumentation“ vgl.: Reuter 1998: 589–633.

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Abb. 5: Kystofotografien, aus: Nitze, Max (1907) Lehrbuch der Kystoskopie. Ihre Technik und klinische Bedeutung, zweite Auflage (Wiesbaden: Bergmann), Tafel III

Schluss Wie in anderen Bereichen der medizinischen Diagnostik wurde auch in der Urologie das Sehen zur zentralen erkenntnisleitenden Sinnesfunktion. Wurde etwa in der Kardiologie das Hören der Herzgeräusche durch das Abbilden von Herztonkurven abgelöst, war es in der Urologie das Taktile, das durch das Sehen abgelöst wurde, waren es die endoskopischen Bilder, denen man eine weit höhere Evidenz zuwies. Dies ist umso bemerkenswerter, da es lange Zeit als unmöglich galt, in den Körper hineinzusehen. Doch gerade diese Durchbrechung der „skopischen Schranke“ machte das Faszinosum aus und leitete die Durchsetzung der Endoskopie ein. Als es dann gelang, brauchbare Bilder aus dem Körperinnern zu erzeugen und zu dokumentieren, um diese so dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich zu machen, etablierte sich eine eigenständige Diagnosetechnik. Gottfried Boehm verweist im Kontext der Herstellung von Evidenz auf die „Zeugenschaft der Sinne“. Man beruft sich auf „das Sichtbare, um damit ungeklärte Fragen zu beantworten, Sachverhalte zu rekonstruieren, Vermutungen zu verifizie-

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ren und Richtiges vom Falschen zu unterscheiden. Man macht sich ein Bild, das heißt: versichert sich der Realität in einer bestimmten Hinsicht und legt so die Basis für ein angemessenes Urteil (Boehm 2008: 15–43, 15). Aus „ich habe es gesehen‘“ folgt unversehens: „So ist es, nur so kann es sein“. (…) Das Evidente vergegenwärtigt, stellt vor Augen, rückt ins Licht, schafft Klarheit und Durchblick“ (Gil 1993). In diesem Sinne manifestiert sich in der Fotografie die Evidenz des endoskopischen Blicks. Literatur Burda, Hubert und Christa Maar (Hrsg.) (2004) Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder (Köln) Boehm, Gottfried (2008) „Augenmaß: Zur Genese der ikonischen Evidenz“, in Gottfried Boehm, Brigit Mersmann und Christian Spies (Hrsg.), Movens Bild: Zwischen Evidenz und Affekt (München): 15–43, S. 15 (Hervorhebungen im Original). Boehm, Gottfried (1994) Was ist ein Bild? (München) Breidbach, Olaf (2002) „Representation of the Microcosm – The Claim of Objektivity in 19th Century Scientific Microphotography“, Journal of the History of Biology 35: 221–250 Brons, Franziska (2004) „Das Versprechen der Retina: Zur Mikrofotografie Robert Kochs, in Bilderwelten des Wissens: Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 2,2: Instrumente des Sehens (Berlin): 19–28. Casper, Leopold (1898) Handbuch der Cystoskopie, Vorwort zur ersten Auflage (Leipzig): VI Casper, Leopold (1905) Handbuch der Cystoskopie, zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage (Leipzig): 132, 138. Daston, Lorraine & Peter Galison (2002) „Das Bild der Objektivität“, in Peter Geimer (Hrsg.), Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie (Frankfurt/Main): 29–99, S. 38. Daston, Lorraine & Peter Galison (2007) Objektivität (Frankfurt/Main). Fromme, Friedrich und Otto Ringleb (1913) Lehrbuch der Kystophotographie: Ihre Geschichte, Theorie und Praxis (Wiesbaden): III–20. Gil, Fernando (1993) Traité de l’evidence (Grenoble). Hauri, D (2005) „Ein Blick in die Blase – der Mensch dahinter“, Der Urologe 44: 401–407. Herr, Harry W. (2006) „Max Nitze, the Cystoscope and Urology, The Journal of Urology 176: 1313– 1316. Jankau, Ludwig (1894) „Die Photographie im Dienste der Medizin“, Internationale medizinischphotographische Monatsschrift 1: 1–8. Jay, Martin (1993) Downcast Eyes: The denigration of vision in twentieth-century French thought (Berkeley). Jonas, Hans (1999) „Der Adel des Sehens“, in Ralf Konersmann (Hrsg.), Kritik des Sehens (Leipzig): 257–271. Kavanagh, Donncha (2004) „Ocularcentrism and its Others: A Framework for Metatheoretical Analysis“, Orgaization Studies 25: 445–465. Kröner, Hans-Peter (2005) „Äußere Form und Innere Krankheit: Zur klinischen Fotografie im späten 19. Jahrhundert“, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28: 123–134. Kutner, R. (1891) „Über Photographie innerer Körperhöhlen, insbesondere der Harnblase und des Magens“, Deutsche medizinische Wochenschrift 48: 311–315. Maehle, Andreas-Holger (1989) „Zielsetzung und erste Anwendungsbereiche der medizinischen Photographie im 19. Jahrhundert“, Photomed 2: 137–148. Mersch, Dieter (2006) „Visuelle Argumente: Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften“, in Sabine Maasen, Torsten Mayerhauser und Cornelia Renggli (Hrsg.), Bilder als Diskurse: Bilddiskurse (Weilerswist): 95–116.

Die Evidenz des endoskopischen Blicks

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Konstellationen der Macht: Zur Durchsetzung technischer Innovationen und neuen Wissens

Der Streit zwischen dem Chirurgen Jean Jacques Leroy d’Etiolles und dem Instrumenten- Fabrikanten Frédéric Benoit Charrière Michaela Zykan Im langen 19. Jahrhundert wurden die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für die moderne naturwissenschaftliche Medizin geschaffen. Lang ist die Liste der Publikationen der Mediziner und Wissenschafter, die diese Fortschritte in ihren Arbeiten dokumentierten. So wurden zum Beispiel allein zur Entwicklung der Röntgenstrahlen im ersten Jahr an die 1000 Artikel publiziert (Moll 2007). Hand in Hand mit der medizinischen Weiterentwicklung des 19. Jahrhunderts hat sich eine Disziplin in eine für die Medizin unverzichtbare Position geschoben: die Medizintechnik und als prominentes Beispiel dazu sei die Endoskopie genannt. Ihre Geburtsstunde kann mit der Vorstellung des Lichtleiters des Frankfurter Arztes Philipp Bozzini (1773–1800) im Jahr 1804 angesetzt werden. Ganz im Gegensatz zum Arzt, dessen wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch persönliche Aufzeichnungen der Nachwelt zum Teil sehr detailreich zur Verfügung stehen (Casper 1955; Young 1940; Winau 1983), ist über den Protagonisten der Medizintechnik, dem medizinischen Instrumentenmacher, bisher relativ wenig an die Öffentlichkeit gelangt. Den Medizinhistoriker Urs Boschung bewog diese Beobachtung bereits im Jahr 1980 dazu, einen Aufsatz über die Wirkungsstätte der chirurgischen Instrumentenmacher im 18. Jahrhundert zu schreiben: „Die Entwicklung der Pinzette, der Gebärzange, die Entwicklung der Narkoseapparate, des Mikroskops und des Mikrotoms wurde in wertvollen Monographien abgehandelt. Durchwegs nur am Rande oder überhaupt nicht berücksichtigt sind die Hersteller, die Instrumentenmacher, Mechaniker oder Fabrikanten. Über ihr Leben und Werk ist oft nur mit großer Mühe etwas in Erfahrung zu bringen“ (Boschung 1980: III– IV). Der spärliche schriftliche Nachlass des medizinischen Instrumentenmachers liegt wohl auch in der Charakteristik dieses Berufs begründet: Dieser war zumindest noch bis ins 20. Jahrhundert hinein ganz und gar praxisorientiert, selbst der Wissenstransfer funktionierte normalerweise auf mündlichem Wege durch direktes Anlernen des Lehrlings durch seinen Meister. Schriftliche Aufzeichnungen gab es in Form von Katalogen und Rechnungsbüchern und gelegentlichen handschriftlichen Notizen. Instrumentenmacher haben – mit Ausnahme einiger weniger Handwerker1 – nicht viel Persönliches über ihre Arbeit und ihren Alltag hinterlassen. 1

Von 1761 bis 1789 gab die Académie Royale des Sciences zu Paris die große Reihe der „Description des Arts et Métiers“, mit insgesamt 121 Bänden heraus. Jean-Jacques Perret (1730 – 1784) war Messerschmied und erzeugte chirurgische Instrumente in Paris. In seinem 527 Sei-

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Folglich ist auch wenig Konkretes zum Arbeitsverhältnis zwischen Arzt, Chirurg und Instrumentenmacher bekannt.2 Wie sind die Rollen verteilt? Wo liegen die gegenseitigen Erwartungen? Auf welche Weise und wo werden neue Instrumente, oder Verbesserungen an Instrumenten vorgestellt? Wer präsentiert diese, Arzt oder Instrumentenmacher? Wie werden sie präsentiert und ihre Leistungen dargestellt? Existieren – im modernen Terminus ausgedrückt – Marketing Strategien, die es dem Instrumentenmacher erlauben, seine Ware potentiellen Kunden vorzustellen? Hat im Fall einer Weiterentwicklung der „Urheber“ spezielle Rechte, sind die Entwicklungsschritte eines Instrumentes urheberrechtlich überhaupt nachvollziehbar? Gibt es, bedingt durch wachsende technische Ansprüche, Verschiebungen innerhalb der einzelnen Positionen? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen dem Chirurgen Jean Jacques Leroy d’Etiolles und dem Instrumenten- Fabrikanten Frédéric Benoît Charrière nachgegangen werden. Ein Dokument aus dem Jahr 1852, im Originaltext betitelt mit „Procès entre M. Leroy d’Etiolles et M.Charrière“, dient ihrer Illustration. Es handelt sich dabei um ein von Jean Jacques Leroy d’Etiolles (1898–1860) verfasstes Schriftstück, adressiert an die richterliche Instanz, in dem der Chirurg schwere Vorwürfe gegen Monsieur Joseph-Frédéric Benoît Charrière (1803–1876), Fabrikant chirurgischer Instrumente, erhebt. Obwohl dieses Dokument bei weitem nicht alle eben erwähnten Fragestellungen klärt, ist es doch eine gute Quelle zur Analyse einer Arbeitsbeziehung, die aufgrund divergierender Interessen ihr Ende höchstwahrscheinlich vor Gericht gefunden hatte. Einblick in die Pariser Chirurgenszene Wer war jener Instrumentenmacher, der als einer der bekanntesten Pariser Instrumenten-Fabrikanten seiner Zeit in die Geschichte der Medizintechnik eingegangen ist? Joseph-Frédéric Benoît Charrière, 1803 im Schweizer Kanton Fribourg geboren, war im Alter von 13 Jahren nach Paris gekommen, um bei einem Pariser Messerschmied seine Lehre anzutreten. Paris war bereits seit dem 16. Jahrhundert für seine exzellenten Messerschmiede bekannt, eine Verordnung von König Karl IX (1550 – 1574) aus dem Jahr 1565 hatte den Messerschmieden das Monopol für die Herstellung chirurgischer und mathematischer Instrumente verliehen. Die ersten Pariser Jahre des jungen Charrière waren zweifellos geprägt von jenem Mann, der maßgeblich an seinem beruflichen

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ten umfassenden Werk „L’Art du Coutelier“ beschrieb er Techniken des Messerschmieds, die Einrichtungen der Werkstatt und gab allgemeine Regeln zur Anwendbarkeit der einzelnen Instrumente heraus. Ebenso trug die „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert, die von 1751 bis 1780 erschien, zur Verbreitung des Wissens um Handwerk und Technik bei. Ein nicht ganz lückenlos erhaltener Briefwechsel zwischen dem Dresdner Arzt Maximilian Nitze (1848–1906) und dem Wiener Instrumenten-Fabrikanten Joseph Leiter (1839–1892) deutet auf ein schwieriges Arbeitsverhältnis. Der Briefwechsel findet sich im Archiv der Internationalen Nitze-Leiter Forschungsgesellschaft für Endoskopie, Wien.

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Aufstieg beteiligt war. Guillaume Dupuytren (1777 – 1835),3 Chefchirurg am Hôpital-Dieu, förderte und forderte Charrières Neugierde und Innovationsgeist nach allen Kräften. Ab 1820 hatte der junge Instrumentenmacher die Werkstätte seines verstorbenen Meisters übernommen und Dupuytren sorgte für eine gute Auftragslage: Er ließ sämtliche seiner Instrumente von Charrière anfertigen und veranlasste, dass dieser jeden Tag im Spital einige Operationen mitverfolgen konnte, um so den Gebrauch seiner Instrumente in Aktion zu sehen (Boschung 1984: 121–126). Diese sehr praxisorientierte Vorgangsweise hatte übrigens bei den Pariser Chirurgen bereits eine Jahrhunderte alte Tradition. An Leichen konnte Charrière sogar selbst Hand anlegen. Dank der intensiven Förderung durch Dupuyten hatte sich Benoît Charrières Können und Wissen in Paris rasch herumgesprochen. Ein zeitgenössischer Bericht aus dem Jahr 1825 berichtete davon, dass 19 von 20 Pariser Chirurgen die Instrumente bei Charrière anfertigen ließen. Auch außerhalb der Grenzen Frankreichs hatte sich Charrière einen Namen gemacht. Dank dieses beruflichen Erfolges konnte er seinen Betrieb erweitern. Im Jahr 1833 verlegte er seine vergrößerte Werkstätte in die rue de l’Ecole de Médecine, um so in direkter Nachbarschaft zur medizinischen Fakultät und zum Collège des Chirurgiens zu stehen.4 Unsterblich wurde der Name Charrière mit der 1842 von ihm eingeführten Maßeinheit, die den Außendurchmesser von Kanülen und Kathetern begrifflich erfasste. Ein Charrière entspricht 0.333 mm, das Maß ist bis heute weltweit in Verwendung (Casey et al. 2003). Charrière konnte sich über einen illustren Kundenkreis freuen: Chirurgen wie Jean Auguste Mercier (1811–1882), Jean Zuléma Amussat (1786–1856), der Baron Charles Louis S. Heurteloup (1791–1861) aber auch Jean Antonoine Désormeaux5 zählten ebenso zu seinen Auftraggebern wie Jean Civiale (1792–1867)6 und Jean Jacques Leroy d’Etiolles (1798–1860).7 Im frühen 19. Jahrhundert arbeiteten jene 3

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Guillaume Dupuytren war Leibchirurg von König Ludwig XVII (1755–1824) und dessen Bruder König Karl X (1757–1836). Ab 1812 war er Professor für Chirurgie am Hôpital-Dieu in Paris. Seine Leistungen liegen besonders in Arbeiten über die Gefäß- und Extremitätenchirurgie (Dufour 1984: 1039–1050). Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Spezialisierung der chirurgischen Instrumentenmacher leisteten die Lehrkrankenhäuser, die ab dem 18. Jahrhundert besonders in den großen Städten an Bedeutung gewannen. Geschickte Handwerker ließen sich gerne in der Nähe solcher Krankenhäuser nieder und konnten sich so zum General-Lieferanten des Krankenhauses hocharbeiten (Weston-Davis 1989:40–43). Der Pariser Chirurg Antonin Jean Désormeaux präsentierte im Jahr 1853 vor der Académie Royale des Sciences ein Endoskop, das eine Mischung aus Alkohol und Terpentinöl zur Beleuchtung nutzte. Mit diesem Instrument ist Désormeaux als „Vater der Endoskopie“ in die Medizingeschichte eingegangen. Vgl. Léger 2004: 1231–1238. Schon in den frühen 20er Jahren des 18. Jahrhunderts begannen die Chirurgen Leroy d’Etoilles und Jean Civiale an der Entwicklung von Instrumenten zur Zertrümmerung des Blasensteins zu arbeiten. Am 4. Februar 1824 war es Jean Civiale, dem die erste Lithotripsie am lebenden Patienten vor den Augen von Vertretern der Pariser Akademie gelang. Der Eingriff dauerte wenige Minuten, allerdings waren danach noch einige Sitzungen zur vollständigen Zerstörung des Steins nötig. Für ihn wurde im Spital Necker in Paris eine eigene Abteilung eingerichtet, an der er die Methode der Lithotripsie anwenden konnte. Der Chirurg Jean Jacques Leroy d’Etiolles begann schon in den 1820er Jahren an der Entwick-

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Pariser Chirurgen fieberhaft an einer Alternativmethode zur offenen Steinoperation. Letztenendes ging Jean Civiale mit seiner Erstveröffentlichung über die Lithotritie als Pionier der Steinzertrümmerung in die Geschichte ein.8 Die Stimmung unter den genannten Chirurgen war angespannt, wie Rivalen standen sich die Kollegen gegenüber und scheuten auch vor gerichtlichen Schritten in etwaigen Auseinandersetzungen nicht zurück. Neben dem Ziel, das Leid und den Schmerz von Patienten zu lindern, hatten die meisten von ihnen noch eine andere Motivation vor Augen. Sie strebten nach Ruhm und Ansehen, besonders wenn es darum ging, der honorigen Pariser Académie Royale des Sciences im Rennen um die jährlich ausgeschriebenen Auszeichnungen für Weiterentwicklungen in Medizin und Chirurgie eigene Erfindungen und Entwicklungen demonstrieren zu können.

Abb. 1. Joseph Frédéric Benoît Charrière (1803–1876), Bibliothèque interuniversitaire de Médecine, Paris (BIUM)

Der im Jahr 1821 verstorbene Baron von Montyon, Monsieur Antoine-Jean-Baptiste-Robert Auget, hatte der Akademie eine hohe Summe Geld vermacht, die er für ganz bestimmte Zwecke auszugeben wünschte. So sollte laut Klausel 13 seines Testaments ein jährlicher Preis an denjenigen vergeben werden, „qui aura trouvé

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lung eines Lithotriptors zu arbeiten. Leroy d’Etiolles hatte ein gutes Verständnis für Mechanik, und so war es ihm auch als Erster gelungen, ein Instrument mit drei bis vier Zangen zum Fassen des Steines zu entwerfen. Die Idee dazu hatte er einer Schrift des Napolitanischen Chirurgen Alphonso Feri entnommen, der das System in der Kriegschirurgie zur Entfernung von Kugel anwendete. Am 13. Jänner 1824 führte Jean Civiale im Hôpital Necker im Beisein der akademischen Kommission die erste Lithotritie am lebenden Patienten durch. Mit seiner Publikation „Sur la lithotritie ou broiement de la pierre de la vessie“ aus dem Jahr 1826 gilt er als der Erfinder der Lithotripsie.

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dans l’année un moyen de perfectionnement de la science médicale ou de l’art chirurgical“ (der einen wesentlichen Beitrag zur Perfektionierung der medizinischen und chirurgischen Wissenschaft leistete). Der Preis wurde nach Prüfung einer Kommission ab 1825 vergeben. Allerdings gab es Unterschiede sowohl in der Art der Auszeichnung als auch in der Höhe des Preisgeldes: Selbst der „prix“ war nicht jedes Jahr gleich hoch dotiert und konnte zwischen 3000 Francs und 10000 Francs variieren. Zusätzlich zu den Preisen wurden Belohnungen, „récompenses“, Förderungen „encouragements“, Medaillen, „médailles“ und Aufwandsentschädigungen „indemnités“, mit verschieden hohen Geldsummen vergeben. Die sogenannte „citation“, die Zitierung, und die „mention honorable“, die ehrenwerte Erwähnung, wurden nicht remuneriert. Im Jahr 1825 fanden die drei Chirurgen – Jean Zuléma Amussat, Jacques Leroy d’Etiolles und Jean Civiale – durch eine „ehrenwerte Erwähnung“, „mention honorable“ öffentliche Anerkennung. Doch bereits im nächsten Jahr erscheinen alle drei Chirurgen als Empfänger des „encouragement“, einer Belohnung von je 2000 Francs in Würdigung ihrer Leistungen, auf der Liste der Ausgezeichneten (Maindron 1881:95). Die überwiegende Mehrzahl jener erfolgreichen Chirurgen, die von der Académie regelmäßig geehrt wurde, ließ ihre Instrumente in der Werkstatt von Joseph Benoît Charrière herstellen, der nicht nur das Vertrauen seiner Kunden genoss, sondern durch sein Engagement und sein großes Wissen Berühmtheit erlangt hatte.

Abb. 2: Firmensiegel des Instrumenten Fabrikanten Charrière (BIUM)

Die Streitschrift Dass die Geschäftsbeziehung mit seinem Instrumentenmacher Frédéric Benoît Charrière gut funktioniert hatte, dies findet am Beginn jener Streitschrift des Chirurgen Leroy d’Etiolles ausführliche Erwähnung: Hatte der Chirurg die Ideen für neue Instrumente und Verbesserungen, so realisierte der Handwerker diese in perfekter Ausfertigung. Allerdings schien sich ab 1836 eine gewisse Unzufriedenheit seitens Leroy d’Etiolles eingeschlichen zu haben, die nach jahrelangen Streitigkeiten im Jahr 1848 zum Ende der Zusammenarbeit führte. Die Gründe dafür sollen im Folgenden erörtert werden.

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Die erste Beschwerde betraf Unregelmäßigkeiten in der Buchführung, wobei diverse Geschäftsaktivitäten durcheinander geraten zu sein schienen. Charrière hatte Instrumente geliefert, jedoch keine dazugehörigen Rechnungen, gleichzeitig hatte Leroy d’Etiolles dem Fabrikanten eigene Modelle für die Weltausstellung in London ausgeliehen, die ihm Charrière ohne den Wert zu ersetzen, nicht wieder retourniert hatte. Charrière wiederum hatte für 4,417 Francs Instrumente in Rechnung gestellt, die der Chirurg nie erhalten hatte und folglich auch nicht bereit war, zu bezahlen. Als Grund für all diese Fehler wird wörtlich: „un désordre dans ses ecritures“ – eine Unordnung in seinen schriftlichen Aufzeichnungen – angegeben. Im Folgenden macht Leory d’Etiolles den „Ideendiebstahl“ zum großen Thema seiner Schrift.9 Ohne näher auf die Sachlage einzugehen, erwähnt er drei Instrumente – „la pince à pansement à mors croisés“, un spéculum à valve prolongée, un siphon irrigateur“ – die von ihm ausgedacht „imaginé“ und nach seinen Anweisungen konstruiert, allerdings unter Charrières Namen verkauft wurden. Nur wenig später hatte der Chirurg kleine Formveränderungen an einer Kurette zur Steinextraktion aus der Harnröhre entwickelt, die Charrière als eigene Perfektionierung unter eigenem Namen präsentierte.

Abb. 3: Titelseite der Anklageschrift von Leroy d’Etiolles (Bibliothèque nationale de France, Paris)

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Das erste europäische Patentgesetz wurde in Venedig im Jahr 1474 verabschiedet, in Frankreich war das Patentwesen seit dem Jahr 1787 geregelt.

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Der Steinbohrer zur Lithotripsie Der Streit um die Verbesserung des Steinbohrers „écrou brisé“ hatte im Jahr 1836 zur Intervention der Académie des sciences geführt. Was war passiert? Leory d’Etiolles hatte den Steinbohrer so adaptiert, dass die Lithotripsie rascher und daher für den Patienten leichter erträglich durchgeführt werden konnte. Wieder leistete Charrières Werkstatt die praktische Umsetzung. Doch auch Jean Civiale hatte von Charrière Verbesserungen am Steinbohrer durchführen lassen und Priorität beansprucht. Die darauffolgende Auseinandersetzung zwischen den beiden Chirurgen, wurde von der Académie des sciences, beigelegt. Baron Larrey verfasste einen Bericht, in dem er Leroy d’Etiolles als Erstautor bestätigte. „Es ist möglich, dass beide ehrwürdigen Lithotritisten ohne voneinander zu wissen, dieselbe Idee hatten und deren Ausarbeitung parallel voneinander dem Fabrikanten Charrière überlassen hatten. Trotzdem war Leroy d’Etiolles der erste, darüber besteht kein Zweifel“ (… 1852: 4–10). Hier bestand für Leroy d’Etiolles der dringende Verdacht der unrechtmäßigen Wissensweitergabe durch seinen Fabrikanten Charrière an Civiale in eigennütziger Absicht: „… il avait fait cadeau à M. Civiale pour se l’approprier plus tard“. Bezüglich des Steinbohrers trifft ein weiterer Vorwurf den Fabrikanten: Im Jahr 1851 hatte Charrière diesen verbesserten Mechanismus des Steinbohrers auf der ersten Weltausstellung in London 10 als sein System präsentiert, was ihm viel Lob bei der Presse eingebracht hatte, wie die Gazette des hopitaux berichtete: „L’admirable mécanisme à ecrous brisé de M. Charrière“. Der Fabrikant, natürlich auch Geschäftsmann, hatte erfolgreich die Gelegenheit genützt, seine Instrumente auch einem internationalen Publikum vorzustellen, und hatte sich damit neue „Verkaufsschienen“ und Märkte geöffnet. Dass Charrière nicht der „geistige Vater“ des verbesserten Steinbohrers war, schien in dieser kommerziellen Community niemanden zu interessieren. Sicher nicht ganz unwissend hatte Charrière von diesem Londoner Erfolg auch auf ganz anderer Ebene profitiert: Wenig später war er nämlich zum Officier in der Legion d’Honneur, aufgestiegen. Der Blasenhalsinzisor Im Fall des Blasenhalsinzisors stand Leroy d’Etiolles im Streit mit Jean Auguste Mercier – ein Streit, der wieder in der Werkstätte des Benoît Charrière seinen Ursprung hatte. Leroys Werk aus dem Jahr 1825 über Methoden, den Stein ohne Ope10 Im Jahr 1851 fand in London die erste Weltausstellung statt. Sie ging auf eine Initiative des britischen Gewerbevereins zurück und wurde sofort von Prinz Albert, Ehemann von Königin Viktoria aufgegriffen. Im Unterschied zu den frühen Industrieausstellungen des 18. Jahrhunderts, war die „Great Exhibition“ eine große internationale Ausstellung, mit Beteiligung von 94 Ländern und knapp 8500 Ausstellern. Es wurden Ausstellungsstücke aus den vier Kategorien Maschinen, Rohstoffe, Fabrikate und bildende Kunst gezeigt. Besonders neue Erfindungen und handwerkliche Erzeugnisse nahmen einen wichtigen Platz ein. Wahrzeichen dieser Ausstellung war das Ausstellungsgebäude selbst: der Crystal Palace im Hyde Park.

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ration zu entfernen, folgten weitere Publikationen zum Thema Urin-Verhaltung. Zur Erweiterung des Blasenhalses hatte er ab den 1830er Jahren im Zuge dieser Arbeiten einen Inzisor entwickelt, der nach dem Prinzip des Lithotriptors funktionierte, allerdings statt einer gezackten Branche eine glatte scharfe Klinge hatte. Leroy hatte diese erste Entwicklung von einem Mechaniker namens Greiling bauen lassen, die weiteren Instrumente dieser Art hatte er bei Charrière in Auftrag gegeben und sie einigen seiner Kollegen an verschiedenen Patienten vorgeführt. Auch die Akademie bestätigte die erfolgreiche Behandlung mithilfe des Inzisors. Im Jahr 1847 modifizierte Leroy diesen Inzisor, indem er mit nunmehr einer Klinge die Struktur vereinfachte. Er vertraute seinem Instrumentenmacher Charrière das Prinzip an und, um ihm die Arbeit zu erleichtern, hinterließ er bei Charrièrs Mitarbeiter namens George Endler ein Modell des ursprünglichen Instrumentes von 1836.

Abb. 4: Zeichnung jenes Blasenhalsinzisors, der von Leroy d’Etiolles in den 30er Jahren entwickelt wurde und 1847 als Modell bei Charrière hinterlegt wurde (Bibliothèque nationale de France, Paris)

Zu Leroy d’Etiolles großem Erstaunen und noch größerem Ärger musste er feststellen, dass in Charrières Werkstätte zwei fast gleich aussehende Instrumente hergestellt worden waren: mit einem kleinen Unterschied: ein Griff war aus Metall, der andere aus Ebenholz. Und tatsächlich – ein Instrument war die Anfertigung für Leroy d’Etiolles, und das andere Fabrikat war für Mercier bestimmt. Trotz Mangel an Beweisen, stand für Leroy fest, dass man in Charrières Werkstatt Informationen

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weitergegeben hatte. Tatsächlich beharrte Mercier darauf, dass er es war, der – einer spontanen Idee folgend – den Blasenhalsinzisor verbessert hatte. Für Leroy d’Etiolles war Charrières mögliche Illoyalität nicht ohne finanzielle Folgen geblieben: Denn nicht er, sondern sein Kollege Dr. Mercier erhielt von der Akademie im Jahr 1849 eine Belohnung von 1200 Francs als „encouragement“ für seine Forschungsarbeiten in der Behandlung von Urin-Verhaltung durch den Blasenhalsinzisor. Für Leroy d’Etiolles war damit nicht nur ideeller, sondern auch finanzieller Schaden entstanden, und so stellt der Chirurg in seinem Papier auch finanzielle Schadensansprüche (… 1852: 11–27). Conclusio Ob es tatsächlich zu einem Prozess gekommen ist und wie dieser entschieden wurde, ist derzeit nicht bekannt, doch lassen sich aus dem Schriftstück einige Rückschlüsse ziehen: Sehr anschaulich zeigt sie den rauen Ton, der in der Pariser Chirurgenszene im 19. Jahrhundert herrschte. Wenn es um Erstbeschreibungen ging, war man nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel, wie schon allein die Wortwahl beweist: Leroy spricht in der Schrift nicht von seinen Kollegen, er nennt sie Rivalen und Widersacher. Was das Verhältnis zwischen Arzt und Instrumentenmacher betrifft, so sind die Interessenslagen sehr divergierend. Leroy geht es natürlich um die Priorität seiner Entwicklungen. Doch dieser Prioritätsanspruch scheint durch die Zusammenarbeit mit dem Instrumentenmacher in Gefahr. Leroy wirft in der Anklageschrift Charrière immer wieder Vertrauensbruch und Illoyalität vor. Leroy sieht in Charrière seinen höchst persönlichen Instrumentenmacher, an dem er eine Art Exklusivrecht besitzt. Charrières Interessen liegen naturgemäß auf einer anderen Ebene. Für ihn sind die anderen Chirurgen ebenso wichtige Kunden, denen man schon gern einmal gute Konstruktionen baut, die vielleicht nicht immer ganz den eigenen Ideen entsprungen sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich auch Charrière seinen Anteil am Kuchen zu holen gedachte und sich sichtlich nicht von Exklusivansprüchen seiner Kunden beeindrucken ließ. Man könnte von einer gewissen Machtposition des sehr selbstbewussten Instrumentenmachers sprechen. Der Arzt entwickelt ein Instrument oder arbeitet eine Verbesserung aus. Er benötigt nun den Instrumentenmacher, diese geistige Arbeit praktisch umzusetzen oder mit ihm gemeinsam Verbesserungen auszuarbeiten. Natürlich strebt er nach dem besten Mann, den er, hat er ihn einmal gefunden, für sein Projekt begeistern muss. Gibt es eine Einigung, befinden sich beide Partner – allerdings nur für kurze Zeit – auf einer Interessensebene – die Konstruktion oder die Verbesserung eines Instrumentes umzusetzen. Diese gemeinsame Interessensebene verlassen sie jedoch spätestens im Moment der Fertigstellung des Gerätes. Das Instrument ist geschaffen, der Arzt kann es „erstbeschreiben“, seine Beschreibung publizieren und sich als Erfinder feiern lassen, zuletzt gegebenenfalls akademische Preise erwerben. Er sieht sich als geistiger Eigentümer dieses Instrumentes, er hat den Prioritätsanspruch. Letzten Endes war der Instrumentenmacher für den Arzt ein – zwar sehr

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wichtiges – Mittel zum Zweck. Dieses Verhältnis gestaltet sich für den Instrumentenmacher ganz anders. Damit steigt das Konfliktpotential. Natürlich ist er bestrebt, das Instrument in bester Ausführung nach den technischen Anforderungen zu bauen, doch er ist auch ein Geschäftsmann, der den wirtschaftlichen Aspekt nie aus den Augen verliert. Darüber hinaus sieht der Instrumentenmacher das Instrument ebenfalls als sein Werk, abgehoben vom Erfinder, es ist sein Produkt. Daher stellt es für ihn kein Problem dar, das Gerät, das er selbst hergestellt hat, auch anderen Kunden eigenständig vorzuführen.11 Denn mangels schriftlicher Regelungen ist es schwierig, den Protagonisten der einzelnen Entwicklungsschritte nachzuvollziehen. Im Fall des Blaseninzisors ging Charrières Geschäftstüchtigkeit letzten Endes auf Kosten des Prioritätsanspruches des Chirurgen. Für Leroy waren Charrières Handlungen sogar Grund, rechtliche Schritte einzuleiten, deren weiterer Verlauf sich derzeit noch unserer Kenntnis entzieht. Immer wieder erwähnt Leroy d’Etiolle in seinem Schriftstück das Wort „Vertrauen“ und wie oft es von Charrière missbraucht worden war. Fundament der Geschäftsverbindung war also nicht ein festgesetztes Regelwerk von Rechten und Pflichten der Partner – die Geschäftsbeziehung bestand vor allem aus der Sichtweise des Arztes auf der Basis des Vertrauens. Es ist anzunehmen, dass sich in den Stadtarchiven, Archiven wissenschaftlicher oder kommerzieller Fachgesellschaften und Bibliotheken einiger europäischer Städte wie Paris, Leipzig oder Wien viel unaufgearbeitetes Material zum Thema des Arbeitsverhältnisses und der Kooperationsbeziehung zwischen Arzt und Instrumentenmacher befindet, wie zum Beispiel Anklageschriften, Patentstreitigkeiten, Briefwechsel oder Tagebücher. Ein multidimensionaler Forschungsansatz mit der Sozial- Medizin- Rechts- und Technikgeschichte könnte zur weiteren Aufarbeitung einen wesentlichen Beitrag leisten. Literatur (1852) Procès entre M. Leroy d’Etiolles, Docteur en Médecine, et M. Charrière, Fabricant d’instruments de chirurgie Paris): 4–10. (1852) Procès entre M. Leroy d’Etiolles, Docteur en Médecine, et M. Charrière, Fabricant d’instruments de chirurgie (Paris): 11–27 Boschung, Urs (1980) „Chirurgiemechanik im 18. Jahrhundert – Der chirurgische Instrumentenmacher“, Medita: Geschichte der Medizin und der medizinischen Technik 8, (Sonderbeitrag zum 10jährigen Bestehen der Zeitschrift): III–V. Boschung, Urs (1984) „Le fabricant d’instruments et l’histoire de la chirugie: Joseph-Frédéric Benoît Charrière (1803–1878)“, in Actes du 2ème colloque des conservateurs des musées d’histoire des sciences médicales (10–12 septembre 1984, Wellcome Museum of the History of Medicine) (Londres): 121–126.

11 Auch Maximilian Nitze beschuldigt Joseph Leiter in einem seiner Briefe, ein Instrument unrechtmäßig einem Wiener Chirurgen demonstriert zu haben, ohne Nitzes vorherige Zustimmung zu erbitten. Die Abschriften der Briefe befinden sich im Archiv der Internationalen NitzeLeiter Forschungsgesellschaft für Endoskopie in Wien.

Der Streit zwischen Jean Jacques Leroy d’Etiolles und Frédéric Benoit Charrière

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Casey, R. G., et al. (2003) „Joseph-Frédéric-Benoît Charrière: Master Cutler and Instrument Designer“, European Urology 43: 320–322. Casper, Leopold (1955) Skizzen aus der Vergangenheit (Stuttgart). Dufour, A. (1984) „Guillaume Dupuytren 1777–1835. Chief Surgeon of the Hôtel-Dieu“, Bulletin de l’Académie nationale de medécine 168: 1039–1050. Léger, P. (2004) „Antonin J. Désormeaux“, Progrès en urologie: 1231–1238. Maindron, Ernest (1881) Les Fondations de Prix à l’Académie des Siences. Les Lauréats de l’Académie. 1714–1880 (Paris): 95. Moll, Friedrich (2007) „Die Entwicklung der urologischen Diagnostik und Röntgendiagnostik“ in Urologie in Deutschland: Bilanz und Perspektiven (Heidelberg): 272. Weston-Davis, W.H (1989) „The surgical instrument maker: an historical perspective“, Journal of the Royal Society of Medicine 82: 40–43. Winau, Rolf (1983) James Israel (1848–1926) (Wiesbaden) Young, Yough Hampton (1940) A Surgeon’s Autobiography (New York).

Darstellung einer medizinischen Innovation: ­Einführung und Ausbreitung der ESWL in der Bundesrepublik Deutschland Helmut Braun Problemstellung Die Erfindung und Entwicklung der Extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie (ESWL) hat in den frühen 1980er Jahren zunächst die Nierensteinbehandlung, bald aber auch die Behandlung aller anderen Steinarten (Gallensteine, Pankreassteine, Speichelsteine) revolutioniert.1 Diese erstmals absolut nicht-invasive Methode der Steintherapie war eingebunden in ein kapitalintensives medizinisch-technischen Großgerät, dessen Entstehung auf einen zufälligen, genialen Einfall außerhalb der Sphäre der medizinischen Forschung beruhte und dann durch ein Zusammenwirken industrieller und klinischer Forschung zu einem praktisch anwendbaren Prototypen weiterentwickelt worden war. Doch woher stammten die Grundlagen dieser Entwicklung, und warum wurde die Firma Dornier, ein bis dahin nicht mit Medizingeräten befasster Flugzeugbauer, hier zum Innovator? Die im Jahr 1982 am Markt präsentierte Innovation des Lithotripters verbreitete sich trotz anfänglich exorbitant hoher Anschaffungs- und Betriebskosten schnell im Krankenhaussektor. Wer waren die diese Gerätediffusion antreibenden Akteure, welche Motive hatten sie, und wie wurden eventuell bremsende Einflüsse, etwa eine nicht nur in Deutschland vorhandene staatliche Großgeräteplanung im Medizinsektor, faktisch umgangen? Technische und medizinische Vorbedingungen für die dann zufällige Erfindung der ESWL Eine technische Vorbedingung war die bereits 1947 in den USA patentierte Erfindung eines Stoßwellengenerators bzw. die Patentierung unterschiedlicher Methoden der Stoßwellenerzeugung. Jedoch fand sich damals keine praktische Anwendung, auch wenn 1959 erste Ideen dafür vorgeschlagen worden waren. Das Patent lief Mitte der 1960er Jahre aus, damit waren die Methoden der Stoßwellenerzeugungstechnik nun frei verwertbar. Ein technisches Problem war zunächst aber ins1

Die Grundlage dieses Aufsatzes sind folgende Arbeiten des Verfassers, mit den dort genannten Literaturnachweisen (Braun 1995, 2007a, 2007b), (Braun & Eisen 1992), (Eisen & Braun 1990).

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besondere die gezielte Bündelung von Stoßwellen und damit deren Fixierung auf ein kleines Zielobjekt, um dieses dann zum Zerplatzen zu bringen. Bereits während der frühen 1950er Jahre versuchten vereinzelt Urologen, Nierensteine mit Hilfe von Ultraschallwellen zu zerkleinern, wobei folgende Konzepte verfolgt wurden: Zum einen die nicht-invasive Variante durch eine Erzeugung von Ultraschallwellen außerhalb des Körpers, um sie dann auf den Stein im Körperinneren zu fokussieren. Zum anderen eine gering-invasive Variante, bei der mit Hilfe noch großdimensionierter Endoskopiegeräte die Ultraschallwellen im Körperinneren unmittelbar auf den Nierenstein appliziert werden sollte. Beide Varianten brachten keine Erfolge; die chirurgische Stein-OP blieb bei Nierensteinen die dominierende Therapie. Lediglich für die Entfernung von Blasensteinen und Harnleitersteinen konnte eine gering-invasive Therapie mit nun kleineren Endoskopen entwickelt werden und sich klinisch durchsetzen. Dennoch war, neben immer weiteren Verfeinerungen der Endoskopietechnik, nun die Idee geboren worden, Nierensteine mit Hilfe von außerhalb des Körpers erzeugten Energiewellen nicht-invasiv soweit zu zertrümmern, bis die Konkremente auf natürlichem Weg den Körper verlassen konnten. Auch war eine prinzipiell dafür geeignete, technische Methode der Stoßwellenerzeugung bereits vorhanden, diese war aber von Seiten der Medizin noch nicht als Problemlösung wahrgenommen worden. Technik und Medizin mussten nun zusammengebracht werden, denn durch zum Beispiel immer fettere Ernährung stieg seit der „Wirtschaftswunderzeit“ die Nachfrage nach Steinbehandlungen, die, verglichen mit der Schnitt-OP, mit geringeren Risiken verbunden waren. „Technology meets Medicine“: Vom genialen Einfall zum anwendbaren Gerät Der „Heureka-Akt“ einer Anwendung der Stoßwellenerzeugung zur Zertrümmerung von Nierensteinen ereignete sich Mitte der 1960er Jahre, weit entfernt vom medizinischen Sektor: Im Gefolge militärischer und raumfahrttechnischer Forschungen wurde in den Labors der Flugzeugbaufirma Dornier erkannt, dass bei Flugzeugen beim Übergang in den Überschallflug Stoßwellen auftreten können, welche die Oberfläche einzelner Flugzeugmaterialien langsam so spröde machten, dass diese zerbarsten und das Flugzeug zum Absturz brachten. Durch Zufall wurde dann 1966 die physiologisch bedenkenlose Weiterleitung von mechanischen Stoßwellen durch den weitgehend aus Wasser bestehenden menschlichen Körper entdeckt. In einer kumulativen Synthese vieler Experimente gelang es schließlich im Jahr 1971, durch einen kurzen Energieimpuls im Medium Wasser eine Stoßwelle künstlich zu erzeugen, die in vitro durch die so erzeugten mechanischen Zug- und Druckkräfte einen Nierenstein zum Bersten brachte. Bei Dornier wurde das medizinische und für die Firma wirtschaftliche Potential dieser Idee erkannt, wenn sie sich in eine praktisch anwendbare Innovation in der Form einer Steinzertrümmerungsmaschine umsetzen ließe. Bereits 1972 begann deshalb eine Zusammenarbeit zwischen dem bei München ansässigen Teilbetrieb von Dornier mit der geogra-

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phisch nahe gelegenen, renommierten urologischen Klinik und Poliklinik der Ludwigs-Maximilians-Universität und dem Universitätsinstitut für chirurgische Forschung München. Das ingenieurtechnische know-how von Dornier wurde nun verschmolzen mit dem medizinischen know-how der Münchner Urologen mit dem Ziel, gemeinsam einen praktisch anwendbaren Prototypen einer extrakorporalen Steinzertrümmerungsmaschine zu entwickeln. Dieses sozio-ökonomische Netzwerk aus Medizinern und Ingenieuren meldete bereits 1973 Patente zur Stoßwellenerzeugung mit Hilfe einer Elektrode, einer Art Hochenergiezündkerze, an. Zur finanziellen Sicherung der weiteren Forschungs- und Entwicklungsarbeiten steuerte von 1974 bis 1982 als weiterer Akteur dieses sozio-ökonomischen Netzwerks das Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) etwa 8,9 Millionen D-Mark als Subvention bei. Im Jahr 1980 war eine erste, HM1 (Human Model 1) genannte Steinzertrümmerungsmaschine soweit technisch funktionsfähig, dass damit in einer ersten Testphase 200 Patienten behandelt werden konnten. Nach weiteren Verbesserungen wurde schließlich im Mai 1982 das Modell HM2 von Prof. Dr. Egbert Schmiedt, dem leitenden Chefarzt der Urologie des Universitätsklinikums München-Großhadern, als medizintechnische Innovation bei der Nierensteinbehandlung dafür geeigneter Patienten in den regulären klinischen Betrieb eingeführt. Die Urologie des Klinikums München-Großhadern verfügte damit weltweit als einziges Krankenhaus über das Angebot einer absolut nicht-invasiven Steintherapie, die in der Regel auch keine Vollnarkose benötigte. Würde diese innovative Behandlungstechnik, eingebunden in das einen großen Spezialraum benötigende und in Anschaffung und Unterhalt sehr teure Gerät des Stoßwellenlithotripters, weltweit durch genügend Chefärzte in anderen Kliniken ebenso nachgefragt werden wie von Seiten der Patienten, dann hätte Dornier als einziger Hersteller eine absolute und extrem profitable Monopolstellung inne. Doch dazu musste nun diese die Nierensteintherapie revolutionierende Innovation erst in den Kreisen der in Frage kommenden Mediziner bekannt gemacht und die Vorteile für die damit behandelnden Ärzte, Krankenhäuser, Patienten und für die im üblichen Fall externen Financiers der Krankenhäuser überzeugend demonstriert werden. Nun musste also der Prozess der wirtschaftlichen Vermarktung und damit der Gerätediffusion vorangetrieben werden. Die Diffusion der Lithotripter der „ersten Generation“ Dornier HM3: Ziele, Motive, Medizinethik und empirische Darstellung der Ausbreitung Jede (absolute) Neuheit erweckt bei einigen Menschen Begeisterung über die (kommunizierten) Vorteile, bei anderen Menschen aber skeptisches Abwarten bis hin zu offener Ablehnung, insbesondere dann, wenn eine Neuheit ihre finanziellen Interessen negativ beeinträchtigen kann. Deshalb sind insbesondere zu Beginn des Ausbreitungsprozesses einer Neuheit „Aufklärer“ bzw. Promotoren notwendig, die eine Diffusion fördern und das Abwarten oder gar das Zurückweisen durch die Rejektoren möglichst marginalisieren sollen. Natürlich sind sehr hohe Kosten für die An-

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schaffung und den Unterhalt einer Neuheit Argumente, die eine rasche Ausbreitung bremsen oder gar blockieren können. Allein die Anschaffungskosten für eine ESWL-Einheit vom Typ Dornier HM3 betrugen anfänglich zwischen 4 und 5 Millionen D-Mark. Erschwerend für die Ausbreitung derart teurer medizin-technischer Großgeräte kam hinzu, dass in vielen entwickelten Staaten der Welt die Anschaffung derartiger Großgeräte einer staatlichen Genehmigung bedurfte, meist verbunden mit einer staatlichen Finanzierung der Anschaffungskosten und einer Finanzierung der laufenden Behandlungskosten durch weitere „third parties“, insbesondere Krankenversicherungen. Für eine erfolgreiche Vermarktung und damit Ausbreitung des neuen medizin-technischen Großgerätes war es also einerseits notwendig, die staatlichen Genehmigungsbehörden, also letztlich „die Politik“ und die Krankenversicherungen von einer Finanzierung der Neuheit zu überzeugen – oder dieses Procedere zu unterlaufen. Andererseits bedeutete die vollständige Übernahme der Kosten durch third parties für ein Krankenhaus und für den am Gerät interessierten Chefarzt, dass sie ein offiziell genehmigtes Gerät quasi von den third parties „geschenkt“ bekamen. Dornier als monopolistischer Anbieter von ESWL-Geräten benötigte also in seinem sozio-ökonomischen Netzwerk zusätzlich Vermarktungspromotoren, deren Argumente für die beiden Financiers „Staat“ und „Krankenversicherungen“ überzeugend waren – es sei denn, diese Financiers mit ihrer Entscheidungsbefugnis konnten ganz oder teilweise übergangen werden. Bereits während der Entwicklung des ESWL-Prototypen, insbesondere aber nach dessen Einführung in München-Großhadern, wurde in Form von eigens veranstalteten Kongressen, Kongressbeiträgen, Publikationen in medizinischen Fachjournalen, aber auch in populären Zeitschriften über die enormen medizinischen, in Grenzen auch über die irgendwie passend berechneten ökonomischen Vorteile der Neuheit berichtet. Damit wurde ein Interesse über die „Greifbarkeit“ der neuen Therapie bei Urologen und (potentiellen) Patienten geweckt. Aufgrund der vollkommen neuartigen Nicht-Invasivität konnte die ESWL natürlich auch als ein Fortschritt präsentiert werden, der vollkommen den Normen der ärztlichen Ethik entsprach, indem er das Balanceverhältnis zwischen „Wohltun“ und „Nichtschaden“ im Vergleich zur früheren operativen Methode zu Gunsten des „Wohltuns“ verschob. Gewöhnlich mit medizinischen Fortschritt einhergehende kritische Fragen nach den ethischen Folgen der neuen Technik traten so nahezu nicht auf. Durch die Werbematerialien der Hersteller und in diversen Berichten im öffentlichen Raum wurde dies auch kommuniziert: Statt Ängste erzeugender Operationsinstrumente, wurden die ESWL-Geräte zum Teil in Gegenwart junger und lächelnder Patientinnen präsentiert. Für die Urologen, die ein ESWL-Gerät genehmigt und finanziert bekamen, trat zur nun „besseren Erfüllung der ärztlichen Ethik“ noch hinzu, dass bezüglich der potentiellen Nachfrage nach Behandlungen die anfänglich vorhandenen Maschinenkapazitäten viel zu gering waren. Diese Knappheit konnte über einen hohen Behandlungspreis, insbesondere über hohe Honorarforderungen seitens der behandelnden Chefärzte, gesteuert werden. Dies wiederum bedeutete für die Chefärzte 1. einen hohen Einkommenszuwachs, sobald sie Zugriff auf einen Lithotripter hatten, ergänzt um 2. einen Zuwachs an Reputation in der Öffentlichkeit und innerhalb der

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eigenen Profession. Gerade das Verfügen über eine neue Technik ermöglichte es ihnen zumindest in der Anfangsphase Fachpublikationen in angesehenen Zeitschriften zu publizieren. Durch seine Attraktivität für die Patienten gewann aber auch die Krankenhausverwaltung: Ein vorhandenes ESWL-Gerät zog Patienten an, darunter die für das Krankenhaus finanziell lukrativen Selbstzahler für Wahlleistungen, deren Chefarzthonorar zusätzlich in kleineren Teilen wiederum dem Krankenhaus als Quelle für interne finanzielle Überschüsse zugute kam. Damit hatten also sowohl die jeweiligen urologischen Chefärzte, als auch die Verwalter ihrer Krankenhäuser Ziele und Motive, die staatlichen Genehmigungsbehörden und die Krankenversicherungen davon zu überzeugen, dass genau „ihr“ Haus der ideale Standort sei. In der Bundesrepublik der damaligen Zeit waren die Genehmigungsbehörden (Großgeräteausschüsse der Bundesländer) letztlich eine Einrichtung der jeweiligen Landesregierung und unterlagen mit ihren Genehmigungsentscheidungen damit in letzter Konsequenz einem Wiederwahlkalkül. Das bedeutete, dass (potentielle) Patienten als Wähler betrachtet wurden, die aus den Medien und von den Ärzten über die medizinischen Vorteile der ESWL informiert worden waren und die man als Regierungspolitiker tunlichst nicht durch eine Ablehnung von Standortgenehmigungen und der damit verbundenen Gerätefinanzierung verärgern sollte, obgleich natürlich nur begrenzte Finanzmittel vorhanden waren. Folgen dieses komplizierten Interessensgeflechtes aus polit-ökonomischen Überlegungen, sowie der ärztlichen Semantik und Logik und den dafür teilweise als quasi „pressure group“ eingesetzten (potentiellen) Patienten waren zum Teil erstaunliche Standortgenehmigungen – zum Beispiel für Kliniken in Städten, in denen „zufällig“ der amtierende Ministerpräsident (Wuppertal) bzw. ein führender Minister ihren Wahlkreis (Herne) hatten. Als mögliche „Rejektoren“ einer mit hohen unmittelbaren Folgekosten verbundenen Anschaffung von ESWL-Geräten könnten die diese Folgekosten tragenden Krankenversicherungen identifiziert werden. Doch auch hier gelang dem sozioökonomischen Netzwerk aus Dornier und ausgewählten Urologen mit ihren Einflussnahmen auf die Fach- und Publikumsmedien, bereits im November 1982 die Einbindung der gesetzlichen Allgemeinen Ortskrankenkassen. Diese erfolgte in der Form ihrer Dachorganisation, dem Bundesverband der Ortskrankenkassen (BdO), der als federführender Akteur auch die Interessen der übrigen gesetzlichen Krankenversicherungen einbrachte: Überzeugt von der medizinischen und wirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit der ESWL-Therapie, sicherte der BdO vertraglich zu, dass trotz des damit offenen rechtlichen Widerspruchs zur staatlichen Investitionsfinanzierung nach dem damals geltenden Krankenhausgesetz (KHG), die Gesetzliche Krankenversicherung die Kapitalkosten für die Aufstellung von 20 bis 21 Dornier HM3 Geräten während der nächsten vier Jahre zuzüglich der anfallenden Behandlungskosten übernehmen werde. Diese Zusicherung bedeutete für Dornier damit bereits kurz vor der Markteinführung eine Absatzgarantie in Deutschland und wirkte auch nach außen als Vertrauenssignal für ausländische Kaufinteressenten. Die Krankenhäuser und Chefärzte wiederum hatten eine Finanzierungsgarantie für die hohen Behandlungskosten. Ob gesetzlich Versicherte gemäß ihrem Bevölke-

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rungsanteil auch entsprechend bei der Behandlung mit den während der ersten Jahre sehr knappen Kapazitäten der ESWL-Geräte zum Zuge gekommen waren, ist empirisch leider nicht belegbar. Vieles spricht aber dagegen, denn bei sehr hoher Nachfrage und anfänglich extrem knappen und daher voll ausgelasteten Gerätekapazitäten war a priori die Behandlung selbstzahlender in- und ausländischer Patienten ohne Zweifel für den behandelnden Chefarzt und das Krankenhaus lukrativer. Durch die Vereinbarung von Sonderentgelten für eine ESWL-Behandlung erhielten die Krankenhäuser zudem einen auf einer durchschnittlichen Kapazitätsauslastung berechneten, selbstkostendeckenden Preis. Sie hatten also kein Verlustrisiko, aber erzielten interne finanzielle Überschüsse bei einer höheren Kapazitätsauslastung. Bei selbstzahlenden Patienten konnten die Chefärzte ihre Honorarforderungen „analog nach GOÄ“ (Gebührenordnung für Ärzte) quasi nach Gutdünken festlegen, da die ESWL selbst über viele Jahre hinweg keine Honorarbemessung in der GOÄ hatte, was erhebliche Einkommenssteigerungen erlaubte. Als ein letzter, aber sehr wichtiger Promotor im sozio-ökonomischen Netzwerk war noch die Gruppe der Ärzte aktiv, die dann an anderen Klinken „Chefärzte mit ESWL-Gerät“ wurden: Hier arbeiteten eher informelle Kanäle, etwa in der Form, dass einige bekannte, frühere Schüler und Mitarbeiter eines „ESWL-Papstes“ beim Antritt ihrer eigenen Chefarztstelle sehr schnell Zugriff auf einen Lithotripter bekamen. Daneben schloss, bereits kurz vor dem Abkommen mit dem BdO, Dornier einen Kooperationsvertrag mit einer in Urologenkreisen mächtigen und angesehenen Einrichtung, dem Kuratorium für Heimdialyse (KfH). Mit diesem Vertrag übernahm das KfH die (Standort-) Planung und die Organisation, letztlich also die „Zuteilung“ der vorgesehenen Anzahl der ESWL-Geräte an „bedarfsgerecht ausgewählte“ Klinika, in Kooperation oder durch Ignorieren der staatlichen Planungsbehörden. Zudem wickelte das KfH den Verkauf der bei jeder ESWL-Sitzung notwendigen und nur einmal verwendbaren Elektroden ab. Deren Einzelpreis wurde in der Literatur gegen Ende der „HM3 Ära“ mit 440,00 D-Mark angegeben; zu Beginn war der Preis deutlich höher. Den Ausbreitungsverlauf, also die Diffusion der ESWL-Geräte bis zum Jahr 1990 in der Bundesrepublik Deutschland, zeigt folgende Grafik:

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Ab dem Jahr 1986 ist erkennbar, dass nun keine neuen Lithotripter vom Typ Dornier HM3 installiert wurden, bzw. schnell eines dieser Geräte sogar außer Betrieb ging; die anderen folgten später. Dennoch ging ab 1986 die Anzahl der installierten Geräte steil nach oben: Nun traten weitere Anbieter mit einer neuen, „zweiten Generation“, bald dann mit einer „dritten Generation“ von Steinzertrümmerungsmaschinen in den Markt ein. „Upgrading and downsizing“: wie das Auftreten von Konkurrenten zu Dornier die Anwendungsbereiche der ESWL  ausweitete und die Geräte vereinfachte Die höchst profitable Monopolstellung eines Anbieters hat die ökonomisch gewollte Konsequenz, andere Firmen neu in den Markt zu locken, mit der Tendenz, dass die neuen Konkurrenzprodukte dem ursprünglichen Monopolprodukt technisch und wirtschaftlich überlegen sind, also einen günstigeren Anschaffungspreis und/oder geringere Folgekosten aufweisen. Dieser ökonomischen Gesetzmäßigkeit folgte auch der Lithotriptermarkt: Von Anfang 1983 bis etwa 1986/87 wurde das Weltmarktvolumen im Umfang von bis dahin geschätzt einer Milliarde D-Mark allein von Dornier abgeschöpft. Jedoch gelang es Dornier nicht, seine Lithotripterkonstruktion vollständig patentrechtlich abzusichern; lediglich die Stoßwellenerzeugung durch eine mit einer teuren Elektrode erzeugten Funkenstrecke unter Wasser war durch ein Patent vor einer Nachahmung durch Konkurrenzfirmen geschützt. Zudem war das Dornier HM3 Gerät eine in der Anschaffung teure und durch die Verwendung einer Art Badewanne zur Einkoppelung der Stoßwellen in den mensch-

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lichen Körper eine platzintensive und umständlich handhabbare Konstruktion. Die Tür zum lukrativen, weltweit immer noch wachsenden Lithotriptermarkt stand also all jenen Herstellern offen, die leichter handhabbare und kostengünstigere ESWLGeräte mit einer anderen Methode der Stoßwellenerzeugung entwickeln konnten und anboten. Um die bereits mit dem Dornier HM3 Gerät vertrauten Ärzte von der Vorteilhaftigkeit der Konkurrenzprodukte zu überzeugen, wählten die neu auftretenden Konkurrenzanbieter als Markteintrittsstrategie die zunächst kostenlose Bereitstellung von sogenannten Erprobungsgeräten. Dadurch konnte im Krankenhaus, oft im direkten Vergleich mit einem bereits vorhandenen Dornier-Gerät, die Überlegenheit der Konkurrenzprodukte evaluiert werden. Daneben konnte mit der Bereitstellung von Erprobungsgeräten zunächst auch die staatliche Standortgenehmigungsprozedur unterlaufen werden. Als erster trat im Laufe des Jahres 1986 die im Medizintechniksektor etablierte Firma Siemens in den Lithotriptermarkt ein. Das Modell Lithostar der Siemens AG kam, als erstes Gerät der „2. Generation“, ohne voluminöse Badewanne und umständliche Wasseraufbereitung aus, da die hier elektromagnetisch, also ohne teure Elektroden, erzeugten Stoßwellen mit Hilfe eines kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Kissens appliziert wurden. Dieses einfacher handhabbare Gerät hatte daher deutlich geringere Anschaffungs- und Folgekosten. Bereits 1987 folgte der ebenfalls bereits im Medizintechniksektor etablierte Anbieter Wolf mit einem ebenfalls „wannenlosen“ Lithotripter, der die Stoßwellen mit Hilfe der Schwingungen von Piezokristallen erzeugte. Als Reaktion auf diese Konkurrenzprodukte entwickelte Dornier in Kooperation mit der für seine bildgebenden Diagnosegeräte bekannten Firma Philips ebenfalls einen „wannenlosen“ Lithotripter. Nur etwa ein Jahr später drangen weitere Anbieter in den immer noch wachsenden Lithotriptermarkt ein, so zum Beispiel der renommierte Endoskopiegerätehersteller Storz und die französische Firma Technomed/EDAP. Diese Geräte waren, nachdem bereits Siemens und Wolf damit experimentiert hatten, nun mobil; sie konnten also mit Hilfe eines Fahrzeuges nacheinander mehreren Krankenhäusern und deren Ärzten temporär für ESWL-Behandlungen zur Verfügung gestellt werden. Außerdem wiesen diese Geräte der „3. Generation“ einen geringeren bzw. geringer einstellbaren Stoßwellendruck auf. Bis heute sind im Rahmen eines downsizing die ESWL-Geräte geschrumpft zu kleinen, hochmobilen und einfach anwendbaren Kästen, vergleichbar Rollcontainern in Büros. Damit einher ging eine drastische Reduzierung der Anschaffungs- und Betriebskosten. Der Ersatz der umständlichen Badewanne des HM3 Gerätes durch kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Applikationskissen und die verringerten Stoßwellendrücke der neuen Geräte hatten mehrere Konsequenzen: Im Rahmen der klinischen Forschung wurden mit den neuen Geräten eine Vielfalt neuer Therapiefelder eröffnet, insbesondere die Zertrümmerung von in der Bevölkerung weit verbreiteten Gallensteinen. Ergänzt wurde das enorme Nachfragepotential nach nicht-invasiven Gallensteinzertrümmerungen durch die Behandlung von (selteneren) Speichel- und Pankreassteinen, seit wenigen Jahren auch durch Anwendungen im orthopädischen Bereich und in der Tumorbekämpfung. Im Zuge dieses upgrading bei den Einsatzmöglichkeiten in Verbindung mit drastisch gesunkenen Gerätekosten, wurde die ESWL,

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nun neben der Urologie auch für diverse andere medizinische Fachabteilungen eine attraktive Technik. Zusammenfassung Die Erfindung der ESWL ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie ein spontaner, genialer Einfall aus einer vollkommen anderen Sphäre, nämlich der Flugtechnik, dann systematisch über Jahre hinweg zu einem Artefakt weiterentwickelt worden war, welches die Behandlung von Steinerkrankungen revolutioniert hat. Die sehr schnelle Durchsetzung der anfänglich extrem teuren ESWL-Therapie war dadurch möglich geworden, weil letztlich jeder involvierte Akteur, nicht nur die Produzenten der Geräte, davon profitiert hat: Für die Patienten gab es plötzlich eine absolut nicht-invasive, risikoarme Therapie. Den Ärzten, ebenso den Krankenhäusern als Institutionen, eröffneten sich mit einem Zugriff auf ein ESWL-Gerät risikolose Einkommensquellen und Reputationsgewinne. Die Politiker, die aus Steuermitteln die teuren Geräte finanzierten, „taten etwas“ für ihre Wähler, die eben aktuelle oder potentielle Patienten sein konnten. Auch die Krankenkassen als Financiers der Behandlungen konnten, trotz der Kosten, hier nicht gegenüber ihren Mitgliedern als Bremser auftreten, da die medizinische Überlegenheit der neuen Therapie dem Publikum durch diverse Veröffentlichungen bekannt war. Kurz gesagt, alle Akteure befanden sich in einer „win-win“-Situation, wenn sie die Ausbreitung der ESWL unterstützten; eine Blockade aus Kostengründen hingegen, wäre auch ethisch nicht vermittelbar gewesen. Jedoch ist die ESWL nur ein medizin-technischer Fortschritt. Etwa zur gleichen Zeit trat in der Diagnostik die Kernspintomographie zur Computer-Tomographie hinzu, es gab weitere Fortschritte in der Organverpflanzung, in der „Ersatzteil-Medizin“ und Vieles mehr. Mag jeder dieser medizinischen Fortschritte, für sich alleine gerechnet, überschaubare Kosten verursachen, in ihrer Summe jedoch führen diese „Leistungsexplosionen“ natürlich zur allseits beklagten „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen. Literatur Braun, Helmut & Roland Eisen (1992) „Die Ausbreitung einer neuen Medizintechnologie – Das Beispiel der Nierensteinzertrümmerung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland“, in Oberender, Peter (Hrsg.) Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen (Baden-Baden): 135–156. Braun, Helmut (1995) Das Quintilemma im Gesundheitswesen: Ein Beitrag zur ökonomischen Theorie der Diffusionsprozesse medizin-technischer Großgeräte zur Diagnose und Therapie (Regensburg: Weiden). Braun, Helmut (2007a) „Ein neuer Markt in der Medizintechnik: Einführung und Ausbreitung der Extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie (ESWL) im Krankenhaussektor“, in Braun, Hans-Joachim (Hrsg.) Gesundheit durch Technik? Technik und Medizin seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe der Georg-Agricola-Gesellschaft, Heft 32): 63–81. Braun, Helmut (2007b) „Genese eines neuen Paradigmas in der klinischen Steinbehandlung: Der Nierensteinzertrümmerer und die extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie (ESWL)“, Technikgeschichte 74: 273–290.

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Eisen, Roland & Helmut Braun (1990) Innovation and Imitation in High-Technological Medicine: The Case of Extra-corporeal Shock-Wave Lithotripsie (ESWL) in the Federal Republic of Germany, paper presented at the Second World Congress on Health Economics, University of Zurich, Switzerland, July 12, 1990.

Therapie: Operative Technik und Inszenierung

Blasensteinschnitt in der Frühen Neuzeit: Die operative Technik des Wilhelm Fabry von Hilden Franz J. Marx, Daniel Schäfer Frühe Steinschneider Obwohl in Mumien Harnsteine gefunden wurden (Shokeir und Hussein 1999), sind Zeugnisse über Steinoperationen im alten Ägypten bisher nicht bekannt. Die möglicherweise ersten schriftlich niedergelegten Erfahrungen in der operativen Behandlung von Harnblasen- (und Harnröhren-)Steinen finden sich im Susruta Samhita (= Kompendium des Susruta), dem chirurgischen Basiswerk der Hindu-Medizin, das vermutlich etwa 350 v. Chr. niedergeschrieben wurde. Es ist wahrscheinlich zutreffend, in den indischen Steinschneidern – vermittelt durch den kulturellen Austausch infolge der Alexander-Feldzüge – die Väter der späteren griechischen „Proto-Urologen“ zu sehen;1 indem deren Tätigkeit im „Hippokratischen Eid“ ausgegrenzt wurde, definiert dieser berühmte Text die Steinschneider ex negativo als Spezialisten mit einer besonders gefährlichen Tätigkeit (Kollesch und Nickel 1994: 53–55). Im Alexandria des 3. Jh.s v. Chr. waren Ammonius „Lithotomos“ und im Rom des 1.Jahrh. n. Chr. Celsus die Protagonisten einer handwerklich „chirurgisch“ orientierten ärztlichen Blasensteinbehandlung. Celsus kodifizierte durch die präzise Beschreibung des Eingriffes in seinem enzyklopädisch-kompilatorischen Werk die (vielleicht von Ammonius übernommene) Technik des perinealen Blasensteinschnittes für viele Jahrhunderte: Über eine quere Inzision durch alle Schichten des Dammes wurde der Blasenhals „blind“ eingeschnitten und versucht, den Stein mit zwei Fingern der linken Hand im Rectum in die Nähe der Wundöffnung zu manipulieren und schließlich mittels Haken zu extrahieren. Ein Assistent hatte dabei durch manuellen Druck auf den Unterbauch die Verlagerung des Konkrementes in den eingeschnittenen Blasenhals zu unterstützen (Celsus: 426–446, Sachs 2000: 85– 87). Später nannte man diese Technik deshalb auch „Schnitt auf den Griff“., Dieses Verfahren, von Celsus nur für Personen zwischen dem 9. und 14. Lebensjahr empfohlen, spielte unter der Bezeichnung Methodus celsiana oder später als – nur wenige Instrumente erfordernder – „kleiner Apparat“ noch bis in das frühe 19. Jh. eine Rolle – wohl wegen ihrer Einfachheit. Im arabischen Kulturkreis war es v. a. Albucasis (10. Jh. n. Chr.), der die celsische Steinschnitt-Technik weiter instrumentell verfeinerte und erstmals auch die transurethrale Steinzerkleinerung beschrieb (Albucasis 1973: 410–419). 1

Vgl. Das (2001).

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Stand der Technik im 16. Jahrhundert Erst zu Beginn des 16. Jh.s stellte eine entscheidende technische Neuerung die bislang „klassische“ Methode in Frage. 1522 veröffentlichte Mariano Santo de Barletta (1489/90–1550) in Rom sein Libellus aureus, das der Operationstechnik seines Lehrers Giovanni de Romanis – somit des eigentlichen Innovators – zur schnellen Verbreitung verhalf. Der entscheidende Fortschritt war die Einführung des Itinerarium, einer gekehlten katheterartigen Leitsonde aus Metall. Die rillenartige Einkerbung dieses zumindest bis in die hintere (prostatische) Harnröhre eingeführten Instrumentes sollte im Perineum perkutan getastet werden; auf sie zielte das Messer des Lithotomisten. So wurde aus dem „Blasenschnitt“ eigentlich ein „Harnröhrenschnitt“ und aus dem „Schnitt auf den Griff“ ein „Schnitt auf den Stab“. Zur Steinsuche, Erweiterung der Inzision und des Blasenhalses und zur Extraktion des Steines wurden zahlreiche neuartige und differenzierte Instrumente angegeben, sodass man jetzt in Referenz auf den celsischen „kleinen Apparat“ vom „großen Apparat“ (apparatus magnus) sprach. Der Vorteil der neuen Methode bestand vor allem darin, dass durch die gezieltere Inzision des Dammes weniger Nebenverletzungen, z. B. von Rektum, Blase auftraten und die Gefahr des Verblutungstodes durch Läsion größerer Gefäße etwas geringer war. Die Gefahr der Harninkontinenz durch Schädigung des Schließmuskelapparates blieb jedoch unverändert bestehen. Die Methode des Mariano Santo wurde – insbesondere auch durch die Übernahme seiner Technik durch den mit Ambroise Paré kollegial verbundenen Steinschneider der französischen Könige Laurent Colot (1520–1590) und seiner Lithotomisten-Dynastie – zur Standardmethode im 16. Jh. und weit darüber hinaus. Ein weiterer Innovator war der Provenzale Pierre Franco (1500–1573), ein nur elf Jahre jüngerer Zeitgenosse des Marianus (Androutsos 2004). Er modifizierte dessen Technik entscheidend durch Fortführung der Inzision auf dem Itinerarium mit einem lanzettförmigen (zweischneidigen) Messer von der hinteren Harnröhre bis in den Blasenhals hinein, der dann mit weiteren Instrumenten zusätzlich erweitert wurde. Neben neuartigen Instrumenten war die auf seine praktischen Erfahrungen gestützte Propagierung des „zweizeitigen perinealen Schnittes“ (taille perinéale en deux temps) eine weitere originäre Idee Pierre Francos. Bei sehr großen, primär nicht extrahierbaren Steinen und der Gefahr einer mors in tabula verzichtete er gezielt auf eine Fortsetzung des Eingriffes, um dann einige Tage später nach Erholung des Patienten nochmals zu intervenieren. Die dritte von Pierre Franco – allerdings nur ein einziges Mal durchgeführte – operative Innovation war die erste (publizierte) Blasensteinentfernung über eine suprapubische Eröffnung der Blase (sectio alta – apparatus altus – haut appareil – taille franconienne) bei einem zweijährigen Knaben (Franco 1556/1561). Es hatte sich hierbei um eine Verzweiflungstat gehandelt: Da der hühnereigroße Stein nicht nach perineal zu bringen und damit einer Inzision vom Damm her nicht zugänglich war, entschloss sich Franco zum Schnitt oberhalb des Schambeines. Obwohl der Patient mit Glück überlebte, riet Franco seinen Kollegen von diesem Zugangsweg ab, eine Empfehlung, die lange Zeit respektiert wurde. Dies geschah zum einen wegen Francos hoher persönlicher Reputa-

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tion und zum anderen wegen des immer noch nachwirkenden hippokratischen Verdikts von Verletzungen der Blase selbst (Hippokrates VI–18). Die erste geplante suprapubische Lithotomie wurde erst im Jahre 1719 durch John Douglas (gest. 1759) durchgeführt und vier Jahre später publiziert (Douglas 1823). Steinschneider im deutschen Sprachraum: Leben und Werk Wilhelm Fabrys Im deutschen Sprachraum sind es im 16. und frühen 17. Jh. vor allem zwei Handwerks-(Barbier-) Chirurgen, die als Lithotomisten eine herausragende Stellung einnehmen: der sächsische „Wund- und Schnittarzt“ Georg Bartisch (1525–1600) und der eine Generation jüngere Wilhelm Fabry von Hilden (1560–1634; latinisiert zu Fabricius Hildanus). Beide Steinschneider sind Autoren bedeutender Schriften zur Lithotomie (1575 Kunstbuch von Bartisch, 1626 Fabrys Lithotomia vesicae). Nur das Werk Fabrys wurde jedoch gedruckt und somit weit, auch über die Grenzen des deutschen Sprachgebietes hinaus, verbreitet. Im Folgenden soll – nach einer kurzen Vita – die Steinschnitt-Technik Wilhelm Fabrys dargestellt und auch aus heutiger Sicht gewürdigt werden.2 Geboren 1560 in der Stadt Hilden (bei Düsseldorf) erhielt Fabry auf der Lateinschule in Köln Unterricht in den klassischen Sprachen. Nach einer Baderlehre wurde er von dem Wundarzt Cosmas Slotanus, einem Schüler Vesals, wesentlich geprägt. 1585 begab sich der junge Barbier-Chirurg auf Wanderschaft durch Frankreich und die französische Schweiz. 1593, wieder in Köln, hörte er Vorlesungen über Anatomie und hippokratische Medizin. 1600 hielt er in Lausanne anatomischen Unterricht, von 1602 bis 1611 war er Stadtarzt in Payerne im Waadtland. Nach abermaligen Wanderjahren wurde Fabry schließlich in Bern sesshaft und bekleidete dort – hochgeehrt und von Patienten gesucht – von 1615 bis zu seinem Tod 1634 das Amt des Stadtchirurgen. Als Autor war Fabry trotz seines größtenteils auf Wanderschaft verbrachten Lebens ausgesprochen fruchtbar. Bewundernswert ist das weite Spektrum seiner in Monographien niedergelegten Erfahrungen, das neben i. e. S. chirurgischen Fragestellungen (z. B. Gangrän, Amputation, Schussverletzungen, Verbrennungen, Hernien) auch Probleme der Gynäkologie und Geburtshilfe, der Hals-Nasen-OhrenHeilkunde, der Orthopädie, der Ophthalmologie sowie von Infektionskrankheiten („Dysenterie“) umfasst. Einen zentralen Platz beansprucht in seinem Werk die Sammlung von 600 systematisch aufgebauten detailgenauen Fallbeschreibungen 2

Im Unterschied zu Georg Bartisch (vgl. Dietrich/Hausmann/Konert 2009) bleibt Fabry in der neueren Sekundärliteratur (z. B. Sachs 2000; Konert & Dietrich 2004; Wershub 1970) trotz seiner Bedeutung für die folgenden zwei Jahrhunderte praktisch unerwähnt oder unterschätzt (Nöske 1982). Eine ausführliche Darstellung des Gesamtwerkes Fabrys, das durchaus mit dem des Ambroise Paré vergleichbar ist, findet sich bei Ernst Julius Gurlt (1898: 107–146, 780) und in der zum 400. Geburtstag erschienenen Übersichtsarbeit von E. Jones (1960), eine angemessene Würdigung bei Murphy (1972).

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(observationes) und eine ausgedehnte Fachkorrespondenz mit Freunden und Kollegen in ganz Europa. Fabrys zentrales Werk zum Steinschnitt ist die Lithotomia vesicae, die 1626 zunächst für Wundärzte in deutscher Sprache und – erweitert – 1628 für die gelehrte Welt in lateinischer Übersetzung in Basel erschien. 1640 wurde in London eine englische Übersetzung der ersten Ausgabe von 1626 gedruckt. Die erweiterte Fassung von 1628 wurde später dann Bestandteil der Opera omnia, die postum 1646 und 1682 jeweils in Frankfurt in lateinischer Sprache publiziert wurden. 1652 erschien außerdem eine deutsche Übersetzung der Opera omnia unter dem Titel Wundartzney. Diese Fassung und die lateinische von 1682 sind heute in digitalisierter Form frei verfügbar und bilden die Textbasis der folgenden Ausführungen.3 Fabrys Lithotomia ist ein mit 66 Jahren publiziertes Spätwerk und spiegelt eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Steinschnitt und der einschlägigen Literatur. Es hat den Charakter eines Lehrbuchs, das auf die praktischen Bedürfnisse des mit Stein-Patienten konfrontierten Barbier-Chirurgen und Steinschneiders ausgerichtet ist. In insgesamt 28 Kapiteln (Fassung von 1628) werden die Ursachen der Harnsteine, ihre Symptomatik, die von Seiten des Patienten und des Operateurs zur Vorbereitung der Operation notwendigen Maßnahmen und die Anatomie der Harnblase abgehandelt. Patient und Operateur vor dem Steinschnitt Zur Lithogenese (Kap.II) vertritt Fabry die klassische Humoralpathologie, die die Umwandlung dicken schleimigen Phlegmas durch außergewöhnliche Hitze zu einem Stein postuliert. Außerdem werden die Zusammensetzung des Trinkwassers, der Ernährung und eine besondere Disposition (z. B. Gicht) einbezogen und daraus prophylaktische Ratschläge abgeleitet. Die Symptomatik des Blasensteinleidens wird von Fabry ebenfalls ausführlich geschildert (Kap.III); sie weicht kaum von einem modernen Lehrbuchtext ab. Einen großen Raum nehmen die Ausführungen zur Vorbereitung des Patienten (Kap.IV) ein: Als besonders wichtig werden eine leichte Diät, das Abführen und präoperative Bäder angesehen. Den weithin üblichen Aderlass im Vorfeld des Steinschnitts sieht Fabry eher kritisch; er macht ihn von bestimmten patientenbezogenen Voraussetzungen (plethora) abhängig und möchte ihn einem zu diesem Zweck zuzuziehenden akademisch gebildeten Medicus überlassen. Um sich ein realistisches Bild vom Ablauf der frühneuzeitlichen Cystolithotomie machen zu können, ist es notwendig, auf die Indikationsstellung, die allgemeinen vorbereitenden Maßnahmen und die operateur- und patientenspezifischen Vor3

Eine Überprüfung der Kapitel zur Operationslehre ergab, dass die lateinische Fassung von 1628 (Ausgabe letzter Hand) mit derjenigen der Opera omnia (1646/82) übereinstimmt. Einige Veränderungen gegenüber dem früheren Text von 1626 werden im Folgenden dargestellt. Die Kapitelangaben im Text entsprechen der Ausgabe von 1652, aus der auch die Abbildungen entnommen sind.

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bedingungen einzugehen, wie sie von Fabry sehr detailliert dargestellt werden (s. Tab. 1–4). Tab. 1: Charakterliche und fachliche Anforderungen an den Lithotomisten (Kap. VII) – – – – – –

Ehrlichkeit, Gottesfurcht Untadelige Lebensführung (ohne Trunksucht, Glücksspiel) Verzicht auf Selbstanpreisung, prahlerische Reklame Verschwiegenheit (medicus loquax alter languenti morbus est)4 Ökonomische Zurückhaltung Keine überstürzte Op.-Indikation, keine Op. bei hoffnungslosen Fällen aus Profitgier – Gute anatomische Kenntnisse, Kenntnis der klassischen Literatur – Allgemein-medizinische Kenntnisse – Als Operateur: „starke Hand“ und „schneller Blick“ Die hohen moralischen Ansprüche, die Fabry an sich und jeden Steinschneider stellt, sind stark geprägt von seinem tief verinnerlichten reformiert-protestantischen Ethos (Prestele 1981), einer Einstellung, die ihn mit seinem immer wieder als Kronzeugen zitierten französischen Kollegen Pierre Franco verbindet. Dieser „Anforderungskatalog“ dient nicht zuletzt auch zur Abgrenzung von „Vaganten und Leutbescheissern“, die „unbedachtsam in des Menschen Leib wie der Metzger in ein unvernünftiges Tier hauen“. Der ungelehrte, nur aus Erfahrung Handelnde (purus empiricus) ist nach Fabry nicht zum guten Lithotomist qualifiziert; so rügt er die mangelnde Bereitschaft insbesondere seiner Landsleute, sich mit den schriftlich niedergelegten Erfahrungen der klassischen Autoren zu befassen, mit starken Worten: „weil die studia bei unsern Teutschen Wundärtzten sind in Verachtung kommen, ist nicht wunder, dass solche Kunst allerdings im Koot liegt.“ Tab. 2 Aufklärung des Patienten vor dem Blasensteinschnitt (Kap. VII) – – – –

Ehrliche Information des Patienten und seiner Angehörigen Eingehen auf die Meinung und die Fragen des Patienten und seiner Angehörigen Mitteilung der Prognose der Erkrankung Erörterung der Honorarfrage

Die Information sollte „ehrlich“ sein, d. h. alle Schmerzen und Schwierigkeiten des Eingriffs bis hin zum ja nicht selten ungünstigen oder letalen Ausgang waren anzusprechen. Immer wieder betont Fabry, dass nur das absolute Vertrauen des Patienten eine tragfähige Basis für ein erfolgreiches ärztliches Handeln sei – gerade wegen der meist verzweifelten, von Scharlatanen leicht auszunützenden Lage, in der sich ein Blasenstein-Kranker Anfang des 17. Jahrhunderts befand. Interessant sind die von Fabry angesprochenen Aspekte des ärztlichen Honorars. Einerseits diskutiert er 4

„Ein geschwätziger Arzt ist dem Geschwächten (wie) eine andere Krankheit“ bzw. „Ein Arzt macht offt mit seim Geschwätz/ Daß blöd dem Kranken wird sein Hertz“ (Fabry 1652: 942).

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den Fall, dass der Patient das von ihm präoperativ versprochene Entgelt nach dem Schnitt nicht bezahlt, andererseits moniert er, dass der Arzt seinen privaten Gewinn „nicht zu sehr“ im Auge haben solle. Sein Fazit besteht letztlich darin, das Honorar von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Kranken abhängig zu machen: Der Arzt soll gut bezahlt werden, damit er Arme „aus Mildtätigkeit“ behandeln kann – eine christlich fundierte Einstellung, die vor der Ära der Sozialversicherung noch lange weitgehend üblich war. Daher fehlen bei Fabry auch konkrete Angaben zur Höhe des Honorars, das ja oft auch in Form von Naturalien beglichen wurde. In einer Kostentabelle medizinischer Leistungen aus dem Köln des 16./17. Jahrhunderts findet sich ein Betrag von 4 Gulden und 21 albi („Weißpfennigen“) für eine Lithotomie, etwa entsprechend dem Preis von 293 Eiern (Jütte 1991:241). Aber Fabry stellt auch Forderungen an den Patienten und sein Umfeld (Tab. 3). Hier stehen an erster Stelle spirituelle Postulate und die Anerkennung des Arztes als von Gott eingesetzter Institution („die Hl. Schrift heißt uns, den Arzt zu ehren, weil der Herr ihn gemacht“). Die Erkrankung selbst soll der Patient als von Gott gesandte Sündenstrafe annehmen. Als essentiell wird wieder die Notwendigkeit absoluten Vertrauens genannt. Die geistliche und weltliche Obrigkeit ermahnt Fabry, „sich der armen Kranken in körperlicher und spiritueller Hinsicht anzunehmen“, allerdings ohne darauf näher und konkret einzugehen. Tab. 3 Pflichten des Patienten (Kap. VI) – – – –

Ordnen der häuslich-familiären Angelegenheiten Friede mit Gott, Gebete der Angehörigen Annehmen der Erkrankung als von Gott gesandte Sündenstrafe Absolutes Vertrauen zum Arzt, dem Höflichkeit und Dankbarkeit entgegenzubringen ist – Bezahlung des Honorars Als guter und gewissenhafter Operateur weiß Fabry, dass die Indikation zu einem Eingriff, v. a. wenn so große Gefahren damit verbunden sind wie mit einem Steinschnitt, ebenso große Bedeutung hat wie die technische Durchführung der Operation selbst. Er geht deshalb in mehreren Kapiteln seiner Lithotomie darauf ausführlich ein (Tab. 4). Tab. 4 Überlegungen zur Indikation des Blasensteinschnitts (Kap.VIII) – Sondierung der Blase zum Steinnachweis, da Symptomatik und rektale Palpation unsicher – Kenntnis der Steingröße (keine Op. bei Steinen, die größer sind als ein Hühnerei) – keine Op. bei in der Blase „angewachsenen“ oder „in einer Tasche eingeschlossenen“ Steinen5 5

Unter den in einer Tasche („ein besonderes Säcklein oder Bläterlein“) eingeschlossenen Steinen kann man zwanglos Divertikel-Steine der Harnblase verstehen.

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– – – –

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Einschätzung der Steinkonfiguration Keine Op. bei z. B. durch innere Erkrankungen geschwächte Patienten Operation nur als ultima ratio Aber: keine Op., wenn keine Heilungsaussicht (Celsus: desperatos non opportet attingere)6

Der Steinnachweis erfolgte durch Sondierung und Exploration der Blase mittels eines gebogenen Metall-Katheters. Die Empfehlung Fabrys, sich nicht auf die klinische Symptomatik und die Ertastung des Steines vom Mastdarm aus zu verlassen, fundiert er mit seiner Beobachtung von rektal palpablen „harten Beulen vor dem Blasenhals oder scirrhos, hart als wenn ein Stein gewesen“, also von blasennahen oder intravesikalen Veränderungen, die als Differentialdiagnose zu einem Blasenstein zu betrachten sind. Es liegt nahe, diese Indurationen als große Prostataadenome oder -karzinome zu interpretieren. Da Fabry aber an anderer Stelle schreibt, dass er diese „harten Beulen“ auch am Hals weiblicher Blasen getastet habe, könnte es sich um größere Blasentumoren gehandelt haben. Es ist – jedenfalls aus heutiger Sicht – erstaunlich, dass Fabry trotz seiner expliziten Erfahrung auch mit – in dieser Zeit unterrepräsentierten – alten Männern als Patienten sich nicht des Problems der vergrößerten Prostata als Ursache der Blasensteinbildung bewusst war, obwohl ihm die Topographie der Vorsteherdrüse geläufig war.7 Besonders wichtig ist Fabry der Verzicht auf den Blasensteinschnitt, wenn keine Heilungsaussicht besteht bzw. ein letaler Ausgang zu erwarten ist, was vor allem bei zu großen Steinen und bei geschwächten Patienten der Fall ist: „es steht einem frommen und getreuen Wundarzt nicht an, einem einzigen Menschen das Leben abzukürzen“. Hier empfiehlt er neben „christlicher Geduld“ und der Anrufung Gottes eine Beckenhochlagerung des Kranken sowie den Versuch, den Stein digital-rektal vom Blasenhals wegzudrücken oder ihn per Katheter in die Blase zurückzustoßen. Er prangert hier wieder die unehrlichen Steinschneider an, die ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles den Eingriff versuchen und den Patienten nur schädigen. Der operative Eingriff ist für ihn ohnehin immer die ultima ratio, er fordert also das Vorliegen einer „absoluten Indikation“ zum Steinschnitt. Er begründet dies mit seiner Beobachtung, dass viele Steinpatienten auch ohne Operation – zwar „in mühseligem Stand“ und „mit großen Schmerzen“ – ein hohes Alter erreichen. Die ultima ratio sieht er dann als gegeben an, wenn der Patient ohne Hilfe „innerhalb einiger Tage“ sterben würde. Bei geschwächten Patienten zieht Fabry einen Medicus zu, um mit medikamentös-diätetischen Maßnahmen zu versuchen, den Zustand zu bessern und „Operabilität“ zu erreichen.

6 7

„Es ziemt sich nicht, die Verzweifelten (Fälle) anzugehen.“ Im Kapitel zur Anatomie der Blase wird die Ursache für die leichtere Miktion junger Männer in der „größeren austreibenden Kraft“ und den „weiteren und schlüpfrigen Harngängen“ gesehen. Die Prostata wird von ihm noch als paariges Organ („prostatae“) zur Speicherung und „Perfektion“ des Samens verstanden.

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Die Operationstechniken Blasensteinschnitt beim Mann In den Kapiteln XI–XVIII der Lithotomia werden die Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts gebräuchlichen Operationsmethoden dargestellt und auch kritisch bewertet. Nach Lagerung des Patienten mit abgesenktem Unterbauch auf einem Tisch werden seine Oberschenkel in maximaler Beugestellung mit Gurten fixiert. Um den ohne Aussicht auf wirksame Analgesie zwangsläufig stark agitierten Kranken während des Eingriffs einigermaßen ruhigzustellen, sollten vier „kräftige Männer“ bereitstehen. Seine Abbildung dazu ist von Ambroise Paré übernommen; lediglich auf die französische Herkunft hinweisende Details, wie Kleidung und Barttracht der Assistenten sowie Zierrat an den Tischbeinen sind „germanisiert“ (Abb. 1 und 2).

Abb. 1: Lagerung zum Steinschnitt – A. Paré 1579

Abb. 2: Lagerung zum Steinschnitt – W. Fabry 1652

Auf der rechten Seite des Operateurs hat ein „wohlgeordneter“ Instrumententisch zu stehen mit warmem Wasser zum Anwärmen und Mandelöl zur Lubrikation (Verbesserung der Gleitfähigkeit) der Instrumente und Finger. Ein zweiter Tisch war für die gebrauchten Gerätschaften und das Verbandmaterial vorgesehen. Fabry beschreibt dann insgesamt sechs Steinschnitt-Techniken („Handgriffe“), die er systematisch abhandelt. Als „ersten Handgriff“ (Kap. XIII) erwähnt er die zu seiner Zeit immer noch am weitesten verbreitete „Operation auf den Griff“ nach Celsus, die aber von einem „verantwortungsvollen Chirurgen“ wegen der damit einhergehenden großen Gefahren (Blutverlust, Inkontinenz, Darmverletzung, Verletzung des eigenen Fingers) nicht mehr durchgeführt werden solle.

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Alle weiteren Fabryschen „Handgriffe“ haben den apparatus magnus des Mariano Santo zur Grundlage, mit Modifikationen und Verbesserungen, die hauptsächlich von Pierre Franco, in geringerem Umfang auch vom Autor selbst stammen. „Zweiter Handgriff“ (Kap. XIV) – Einführen des Itinerarium (Abb. 3) „bis in die Blase und auf den Stein hinein“

Abb. 3: Itinerarium – Leitsonde – W. Fabry 1652

– Inzision links lateral der Raphe (mediane „Naht“ zwischen Scrotum und Anus) – Schnitt mit dem an der Spitze lanzettförmigen „Scheermesser“ auf die Furche des Itinerarium („bis auf den Wegzeiger“) – Erweiterung der Wunde und des Blasenhalses mit einem Semispeculum (= „Halbleucher“/conductor) (Abb. 4) auf dem Itinerarium

Abb. 4: Halbleucher (conductor) oder Semispeculum – W. Fabry 1652

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– Entfernen des Itinerarium – Einbringen eines wie ein Steinlöffel konfigurierten „Hackens“ (hamulus) über die konkave Seite des Semispeculum, das dann zurückgezogen wird – Extraktion des Steines unter Assistenz des im Rectum platzierten 2. und 3. Fingers der linken Hand – bei Kontaktverlust mit dem Stein und zur erneuten Dilatation des Zugangs Einsatz der „kleinen Leucherzange“ (Abb.5), ein Speculum mit spitzen Branchen, das eines der beiden von Fabry selbst entwickelten bzw. modifizierten Instrumente darstellt (s. auch 3. und 6. Handgriff).

Abb. 5: Kleine Leucherzange – W. Fabry 1652

Die äußere Inzision soll weder zu groß noch zu klein sein: Einerseits muss die Passage der Instrumente gut möglich sein, andererseits die Gefahr einer starken Blutung und einer Läsion der Blasenmuskulatur gering gehalten werden. Die Inzision auf das bis in die Blase hinein eingeführte Itinerarium impliziert ein Einschneiden auch des Blasenhalses, obwohl dies nicht eigens erwähnt wird. Die Technik entspricht also in diesem entscheidenden Detail der schon erwähnten Technik des Pierre Franco. Da die Inzision von der linken Seite des Perineums8 aus auf das in der hinteren Harnröhre und im Blasenhals liegende Itinerarium geführt wurde, wurde zwangsläufig auch der linke Prostatalappen, zumindest teilweise, durchtrennt. Somit stellt diese Technik schon einen Übergang zu dem ab Anfang des 18. Jahrhunderts vorherrschenden „Seitensteinschnitt“ dar. Man kann deshalb auch von einem „lateralisierten“ Steinschnitt sprechen, der aber im Gegensatz zum „echten“ Seitensteinschnitt des Frère Jacques (Jean Beaulieu), der weder 8

Bartisch empfiehlt in seinem „Kunstbuch“ durch „Senken des Itinerariums nach außen“ die Haut des Dammes zu spannen, um die Leitsonde mit dem Messer genau zu treffen (Dietrich, Hausmann & Konert 2009: 693–695).

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die Harnröhre tangierte, noch die hintere Urethra und Prostata (Lithotomia urethroprostatica) mit einbezog (Androutsos 2004). Obwohl durch den Leitstab ein deutlich gezielteres Operieren möglich wurde, blieb die Sphinkterläsion weiterhin ein kaum vermeidbares Grundproblem auch dieser „Franco-Technik“. Auch größere Blutungen durch Verletzung der A. pudenda interna sowie der Harnröhren- und Penisschwellkörper erscheinen aus heutiger Sicht praktisch zwangsläufig. Zeitgenössische bildliche Darstellungen dieser Schnittführung in Beziehung zu den anatomisch-topographischen Strukturen des Beckenbodens, der hinteren Harnröhre und des Blasenhalses gibt es nicht, nur Abbildungen eines Operationssitus mit der äußeren Inzision. Erst ab Ende des 18. Jh.s erscheinen Abbildungen, die die Schnittführung am Blasenhals einigermaßen realistisch und nachvollziehbar darstellen (s. Abb. 6: Ritter v. Kern, seitlicher Steinschnitt).

Abb. 6: Schnitt auf das Itinerarium im Blasenhals – lateralisierter Steinschnitt nach Kern 1828

„Dritter Handgriff“ bei großen Steinen (Kap. XV) – Wenn der Stein für Extraktion mit dem Steinlöffel zu groß ist – Einführen einer Steinzange über das Semispeculum/den conductor – Entfernen des Semispeculum – Fixation und Extraktion des Steins mittels Zange, ggf. nach Zerknacken des Konkrements Fabry bevorzugt die von Pierre Franco kreierten kräftigen Steinzangen („seine Zangen sind sehr nützlich“), während er ähnliche von Ambroise Paré angegebene Modelle zwar anspricht, aber nicht empfiehlt. An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass Paré den Steinschnitt zwar beschrieben, aber nicht selbst durchgeführt, son-

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dern sie am französischen Hofe Laurent Colot überlassen hatte. Zwei verschiedene Franco-Zangen sind im Kap. XVII der Lithotomia abgebildet: ein tenaculum ad extrahendum und eines ad confringendum calculum, wenn der Stein in toto nicht zu ziehen war. Bei Verlust des Steins aus der Zange setzt Fabry zur stärkeren Wundund Blasenhals-Dilatation seine eigene Konstruktion bzw. Modifikation, die „kleine Leucherzange“ ein (Abb. 5), ein vorne spitz zulaufendes, mittels Schraubmechanismus zu öffnendes speculumartiges Instrument, mit dessen Spitze auch nochmals nach dem Stein sondiert werden konnte. Ähnliche Instrumente gab es schon vorher (z. B. bei Bartisch), neu ist der Schraubmechanismus. Die im zweiten und dritten „Handgriff“ dargestellten Techniken sind mit dem von Georg Bartisch in seinem „Kunstbuch“ von 1575 beschriebenen Vorgehen fast deckungsgleich, abgesehen von den dort anderen Zangenkonfigurationen (Dietrich et al 2009: 433–447). Da Fabry sehr wahrscheinlich das nicht gedruckte, handschriftliche Unikat des G. Bartisch nicht kannte, ist anzunehmen, dass er in diesen beiden Kapiteln – ebenso wie vor ihm Bartisch – eigenständig den „aktuellen Stand der Kunst fortschrittlicher Steinschneider“ seiner Zeit reproduzierte. „Vierter Handgriff“ (zweizeitiger Steinschnitt) (Kap. XVI) Fabry stellt in diesem Abschnitt die Technik der Lithotomia Franconia dar, das zweizeitige Vorgehen des Erstautors Pierre Franco. – Schnitt auf das Itinerarium – Extraktion des Steines nur, wenn er sich spontan in die Wunde stellt nach einigen Tagen/nach Erholung des Patienten: digital-rektale Manipulation des Steines in die Wunde. Wenn nicht möglich, Procedere wie beim zweiten Handgriff – bei zu großem Stein: Zerkleinern mit der Zange, aber nur „stückweise“ im Abstand von je 1–2 Tagen Fabry betont, dass die Priorität für diese neue Operationstaktik Pierre Franco zusteht, den er hier explizit als „vorsichtigen Schnittarzt“ lobt, und berichtet über seine guten persönlichen Erfahrungen damit. Insbesondere erwähnt er seine eigene Beobachtung spontaner Abgänge kleinerer glatter Steine und das Tiefertreten größerer Konkremente bis ins Niveau der Wunde oder der Blasenhalsinzision. Mit dieser „aufgeschobenen“ Steinentfernung war eine – zumindest in den Augen der damaligen Akteure (und Patienten?) – schonendere Modifikation dieses von den Kranken gefürchteten, immer lebensbedrohlichen Eingriffes in das Repertoire der Steinchirurgie aufgenommen worden. Zumindest in einigen Fällen konnte die besonders schmerzhafte und traumatische Extraktion des Steines „aus der Tiefe“ vermieden werden. „Fünfter Handgriff“ (Sectio alta) (Kap. XVII) Zunächst wird der eingangs schon erwähnte Bericht über die erste Sectio alta des Pierre Franco (1556/1561) reproduziert. In der ersten deutschsprachigen Ausgabe der Lithotomia vesicae von 1626 schließt Fabry sich der prinzipiellen Ablehnung des Erstbeschreibers dieses Zugangsweges nach Abwägung der möglichen Vor- und

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Nachteile an. Aber schon in der lateinischen Ausgabe von 1628 ändert er seine Meinung und billigt die Indikation, allerdings nur bei sehr großen und tastbaren Steinen, großen Schmerzen und Todesgefahr, nicht ohne zu fordern, den Patienten vorher über den „zweifelhaften Ausgang des Schnittes“ aufzuklären. Wie groß seine Skepsis offenbar dennoch war, zeigen seine warnend-ablehnenden Ausführungen zu Pierre Rousset (1535 – nach 1603), der in seinem Traité nouveau de l’hystérotomotokie (Rousset 1581) in Analogie zur suprapubischen Inzision beim Kaiserschnitt den gleichen Zugangsweg, nach Versuchen an Leichen, als Routinemethode zur Entfernung von Blasensteinen propagierte, ohne jedoch – zu seinem Bedauern – den Eingriff an Lebenden praktiziert haben zu können. Ob Fabry diese von ihm unter bestimmten Voraussetzungen akzeptierte Operation überhaupt auch selbst durchgeführt hat, ist fraglich (Murphy 1972: 118) und geht aus seinen Schriften nicht eindeutig hervor. Für seine diesbezügliche Praxis könnte die genaue Operationsanleitung sprechen, obwohl sie den Angaben Roussets sehr weitgehend entsprechen und wahrscheinlich aus dessen Werk übernommen sind: – spezielle Lagerung: Gesäß über die Tischkante, Operateur zwischen den weit gespreizten fixierten Oberschenkeln mit je einem Assistenten an seinen Seiten – Schnitt durch Bauchdecken und Blasenvorderwand auf den digital vom Rectum her maximal elevierten Stein – Schnitt nur, wenn Stein auch tastbar (!) – 1. Assistent fasst Stein mit Zange – 2. Assistent sucht mit dem Steinlöffel (Stylus exploratorius – Cochlearium) nach weiteren Steinen – Offenhalten der Wunde mit fadenarmierten „Meysseln“ (= Streifentampons) zur Drainage von Blut und Eiter Fabrys sorgfältige Diskussion aller Aspekte dieser Operationstechnik fand hundert Jahre später große Anerkennung durch die Aufnahme des einschlägigen XVII. Kapitels der Lithotomia in das Standardwerk des bedeutenden englischen Autors William Cheselden über den hohen Steinschnitt „ A Treatise on the High Operation for Stone“ (Cheselden 1723), in dem dieser das Wissen seiner Zeit und die Originalbeiträge prominenter Steinschneider seit Celsus zusammenfasst. „Sechster Handgriff“ (eigenes neues Instrument; Kap.XVIII) In diesem Kapitel, das in der ersten Ausgabe von 1626 noch nicht enthalten ist, führt Fabry ein „eigenes“ Instrument ein, die sog. „große Leucherzange“ oder Speculo-forceps, ein vierblättriges Speculum, das mittels einer Schraube gespreizt und geschlossen werden und zugleich den Stein fassen kann (Abb. 7).

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Abb. 7: Große Leucherzange – W. Fabry 1652

Mit diesem auf den heutigen Betrachter in Relation zur Enge der Zugangswunde klobig und sehr kompliziert wirkenden Gerät sollten zwei Schritte zusammengefasst werden: die Erweiterung des Blasenhalses und das Fixieren des Konkrementes. Die Abfolge der Instrumentation ist wie folgt: – die ersten Schritte entsprechen dem „zweiten Handgriff“ – Einbringen der geschlossenen großen Leucherzange über die Konkavität des Semispeculum auf den Stein zu – Entfernung des Semispeculum und Manipulation des Steins zum Schnabel der noch geschlossenen Zange mit Hilfe der im Rectum platzierten Zeige- und Mittelfinger der linken Hand – Öffnen der Branchen, bis der Stein dazwischen liegt – Schließen der Branchen durch Schraubendrehung (Assistent) und damit Fixation des Steins – Ziehen des Steins unter rektal-digitaler Führung Fabry selbst bezeichnet sein Instrument als eine Weiterentwicklung und Verbesserung des von Mariano Santo als aperiens bezeichneten Gerätes (Mariano Santo 1543). Die Frage der Originalität dieser Speculum-Zangen-Kombination wird in der dem chirurgischen Instrumentarium Fabrys gewidmeten Dissertation von Muntenbruch (1953) diskutiert. Ähnliche Instrumente mit scharfen Haken an den Spitzen der vier Arme finden sich bei dalla Croce (1583/1607) und auch bei Paré (Abb. 8). Sie wurden jedoch zur Extraktion toter Feten bzw. in utero retinierter Köpfe eingesetzt. Fabry übernahm das Konstruktionsprinzip von dalla Croce und Paré, ließ die Haken weg und adaptierte die Dimensionen an die Erfordernisse des Blasensteinschnitts. Wahrscheinlich wegen des doch komplizierten Mechanismus konnte sich das Gerät aber nicht durchsetzen (Nöske 1982: 42). Ob es Fabry selbst

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häufig gebraucht hat, geht aus seinem Text nicht klar hervor. Jedenfalls empfiehlt er es beim Steinschnitt der Frau (s. dort) und in einem seiner zahlreichen ungedruckten Briefe zum Herausziehen von Gewehrkugeln (Franken 1954). Nöskes Wertung, dass Fabrys Instrumente für die Lithotomie meist nur Modifikationen gebräuchlicher Marianischer Typen gewesen seien (Nöske 1982: 41–42), ist sicher richtig. Dass er sich für „zahlreiche“ aber rühmend die Priorität zugeschrieben habe, trifft – wenn überhaupt – nur für die kleine und große Leucherzange zu, und auch hier zitiert er seinen großen Vorgänger Mariano Santo.

Abb. 8: Geburtshilfliche Zange – A. Paré 1579

Nach erfolgreicher Steinextraktion (Kap. XIX) wird bei allen Operationsvarianten mit einem „Steinsucher“, einer gebogenen Knopfsonde (stylus exploratorius), nach verbliebenen Konkrementen bzw. -resten gesucht. Außerdem muss die Blase von Steingrieß und Blutgerinnseln mit dem Steinlöffel gesäubert werden. Bei starker Blutung oder „Ohnmacht“ des Patienten soll der Eingriff sofort beendet, der Patient flach gelagert und die Blutstillung versucht werden. Den sicher v. a. wegen der ex­ tremen Schmerzen nicht selten vorkommenden Kreislaufkollaps bezeichnet Fabry als „Ohnmacht des Herzens“ und widmet ihrer Behandlung ein eigenes Kapitel (XX). Zur Reduktion der Schmerzen steht lediglich die Empfehlung einer schnellen und geschickten Durchführung des Eingriffs, eine „fertige Hand“, die nicht zittert und ein „glattes, angewärmtes und eingeöltes Instrumentarium“ zur Verfügung. Ein ggf. verbliebener Reststein sollte einen Tag später über die mit einem Tamponstreifen offen gehaltene Wunde entfernt werden. An dieser Stelle betont Fabry wieder die Vorteile des zweizeitigen Vorgehens von Franco und warnt davor, die Steinfreiheit auf Kosten des Patienten um jeden Preis zu erzwingen. Außerdem wird der geringere Blutverlust beim „Schnitt auf den Stab“ gegenüber dem konventionellen „Schnitt auf den Griff“ nach Celsus, bei dem die Gefahr von Gefäßverletzungen viel größer sei, abermals herausgestellt.

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Die sehr patientenbezogene Einstellung Fabrys manifestiert sich auch in seinen detaillierten Angaben zur postoperativen Nachsorge und Verbandstechnik. Zuerst wurde ein mit „blutstillendem Pulver“ (einer Mixtur aus volksmedizinischen Ingredienzien wie z. B. Hasenhaaren und „Drachenblut“9) und Eiweiß getränkter Tampon bis in die Blasenhalsöffnung eingelegt. Zur Blasenentleerung wurde der Tampon vorübergehend entfernt. Nach Fortführung dieser Prozedur über 2–3 Tage war in der Regel die komplette Blutstillung erreicht. Um die für die Heilung als hilfreich angesehene Wundeiterung zu befördern, folgten Tampons mit einer „Eitersalbe“. Die Blasenentleerung über die Wunde wurde mit gebogenen Silber-Kathetern („cannulae“) (Abb. 9) sichergestellt. Zum Auffangen des Urins gibt Fabry ein bettpfannenähnliches Sammelgefäß an, das unter das Becken des Patienten geschoben werden konnte (Abb. 10). Wundnähte lehnte Fabry ab, die (sekundäre) Wundheilung sollte nach abschließender Reinigung der Wunde durch Zusammenbinden der Oberschenkel zur besseren Adaptation der Wundränder beschleunigt werden.

Abb. 9: Cannulae – W. Fabry 1652 und Abb. 10 Urinsammelgefäß – W. Fabry 1652

Blasensteinentfernung bei der Frau In der leichter vonstatten gehenden Ausscheidung von „Schleim, Sand und sonstigem steinförderndem Material“ über den „kürzeren und weiteren“ Blasenhals (gemeint ist auch die Harnröhre) sieht Fabry die Ursache für das seltenere Auftreten von Blasensteinen beim weiblichen Geschlecht. Er steht mit dieser Anschauung wieder ganz in der Tradition der hippokratischen Medizin (Lesky 1948). Die Notwendigkeit, den Stein per Schnitt zu entfernen, sieht er selten gegeben und – noch dezidierter als beim Mann – als allerletzte Option.

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Ein gerbstoffhaltiges rotes Harz vom Drachenbaum (Dracaena draco).

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Transurethrale Steinextraktion (Kap. XXII) Wenn möglich, sollte der Stein per urethram entfernt werden, da die weibliche Harnröhre gut erweitert werden und bei einer Inzision eine Schließmuskelläsion kaum vermieden werden könne. Operatives Vorgehen: – Steinsuche/-nachweis durch bimanuelle abdomino-vaginale (bei „Töchtern“ abdomino-rektale) Palpation und obligaten Einsatz des „Sucherstabs“ (kurzer gerader Katheter) – über den Sucherstab Einführen eines Semispeculum (= conductor) bis zum Stein – über den conductor Aufsuchen des Steins mit spitzer Zange (z. B. kleiner Leucherzange s. Abb. 5) – nach Entfernung des conductor Fassen und Ziehen des Steins unter vaginaldigitaler Kontrolle – bei Schwierigkeiten Einsatz der großen Leucherzange (s. o.) – nach Entfernung des Steins Kontrolle auf Steinfreiheit mit dem Sucherstab – mit schmerzstillenden Mitteln getränkte Tampons in Scheide und Blasenhals Transvaginaler Steinschnitt Zur Vorgehensweise bei sehr großen, transurethral nicht zu entfernenden Steinen zitiert Fabry zunächst aus zwei eigenen Fallgeschichten, die er früher ausführlich in seinen Observationum Centuriae behandelt hatte. Bei einer offenbar lithogenen Blasenscheidenfistel konnte er durch Inzision und digitale Erweiterung der Fistelöffnung den hühnereigroßen Stein entfernen (Observatio I/68). Hierzu gebrauchte er ein kleines gebogenes Messer und eine Art Löffelzange (Abb. 11).

Abb. 11: Gebogenes Messerchen und Löffelzange – W. Fabry 1652

Auf die gleiche Weise hatte er bei einer wahrscheinlich geburtstraumatisch bedingten vesico-vaginalen Fistel einen großen Stein extrahieren können (Observatio III/69). Die Wunden bzw. Fisteln seien jeweils gut verheilt, und die Patientinnen seien kontinent geworden. Aus diesen „Exempeln der Natur“ mit günstigem Aus-

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gang leitet Fabry ab, dass es vor allem für die Schließmuskelfunktion schonender sei, große Steine transvaginal zu entfernen. Den von Ambroise Paré berichteten Einschnitt des Blasenhalses von der Seite her (d. h. zwischen Harnröhrenöffnung und Schambein), bzw. den von Mariano Santo angegebenen medianen Schnitt lehnt er bei Frauen wegen der Inkontinenzgefahr ab. Pierre Franco dagegen, der in diesem Zusammenhang von Fabry nicht genannt wird, bevorzugte auch bei Frauen die Inzision von Urethra und Blasenhals mit einem zweischneidigen Lithotom und lehnte die Dilatation der Urethra zur Steinentfernung ab; als Begründung nannte auch er die Inkontinenzgefahr. Es bestand also große Uneinigkeit über das Vorgehen beim weiblichen Geschlecht und keine eindeutige Lösung für das immer drohende Risiko der Inkontinenz. Bemerkenswert ist, dass Fabry an dieser Stelle dem immer noch wirkungsmächtigen hippokratischen Verdikt „jede Blasenwunde ist tödlich“ widerspricht und seine Empfehlung mit der eigenen Empirie legitimiert. Operatives Vorgehen: – transurethrales Einführen eines leicht gebogenen löffelartigen „Geleitgriffels“ (stylum conductorium) (Abb. 12) und Fassen des Steins in der Konkavität des Löffels

Abb. 12 Geleitgriffel (stylum conductorium) – W. Fabry 1652 und Abb. 13 dalla Croce-Zange zur Extraktion von Harnröhrensteinen – W. Fabry 1652

– Herunterdrücken des Steins „unter den Blasenhals“ – Schnitt mit einem umhüllten, nur an der Spitze freien Messer durch den „Mutterhals“, d. h. durch die vordere Scheidenwand, bis in den Blasenboden – Ziehen des Steins mit gekrümmter Zange oder Steinhaken – Spülung der Blase: „Abfluss von Sand und Schleim über die Scheide“ – Scheidentampon, getränkt mit diversen Kräuterextrakten

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Dieses Vorgehen ist ein gutes Beispiel für Fabrys erfahrungsgeleitete Einstellung zur chirurgischen Praxis, aufbauend auf einer kritischen Würdigung der von seinen Vorgängern publizierten Berichte. Bis zur Etablierung des suprapubischen Zugangs Ende des 18. Jh.s (Frère Come) konkurrierten die beiden inkontinenzbelasteten Steinschnitt-Techniken: die transurethrale Inzision des Mariano Santo und Pierre Franco mit dem transvaginalen Zugang Fabrys, wobei das Instrumentarium durch spätere Autoren immer wieder modifiziert wurde (Murphy 1972: 121). In Kapitel XXV behandelt Fabry die Therapie der „Verhaltung des Steins in den oberen Harngängen“. Hier unterscheidet er die unterschiedliche Prognose der einseitigen und der in der Regel letalen beidseitigen Harnleiterobstruktion. Außerdem beschreibt er die Möglichkeit des Spontanabgangs erbs- bis bohnengroßer Konkremente. Zur Linderung der Koliken und zur Beschleunigung der Steinpassage gibt er zahlreiche Rezepturen an und warnt explizit vor der Gabe starker Diuretika. „Um nichts zu versäumen“ empfiehlt er auch, einen Medicus zuzuziehen. Bei der Behandlung von Harnröhrensteinen (Kap. XXVI) wird die Entfernung per Inzision abermals nur als ultima ratio angesehen, um die Gefahr einer Fistelbildung zu vermeiden. Als Ursachen für das Steckenbleiben von Steinen in der (männlichen) Harnröhre werden neben der Größe des Konkrementes eine primär enge Urethra oder eine in der Jugend durchgemachte Gonorrhoe gesehen. Fabry beschreibt folgendes Procedere: – „intraurethrale Lithtripsie“ mittels eines in einem Silberröhrchen bis an den Stein geführten Bohrers, eines von Paré angegebenen und leicht modifizierten Instrumentes – alternativ: Extraktion mit gebogener schmaler Zange, ebenfalls ähnlich einer Zange Parés – oder mit einer von dalla Croce angegebenen, dreiarmigen in einer Röhre geführten ursprünglich zur Entfernung von Kugeln gedachten Zange (Abb. 13) – oder mit dem „Instrument des Episcopus“ (einem Berner Steinschneider), einer Art schlanker Pinzette (von Fabry selbst jedoch nicht angewandt) – Wenn ein Harnröhrenschnitt unvermeidlich ist: – keine Inzision direkt auf den Stein, sondern etwas seitlich davon „im fleischigen Ort der Rute“ (d. h. in den Schwellkörper) – Extraktion mit Steinhaken oder schlingenartigem Instrument

Zur Bedeutung Wilhelm Fabrys Die Bedeutung Fabrys als größter Chirurg deutscher Sprache an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ist unbestritten. Er ist ein Begründer der klinischen Chirurgie und beförderte ihre Entwicklung zu einer wissenschaftlichen Disziplin der Medizin (Hoffmann 1960). Seine Beinamen als „deutscher Paré“ und „Vater der deutschen Chirurgie“ reflektieren diese Einschätzung. Sein Stellenwert als Lithotomist dage-

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gen ist weniger allgemein anerkannt. Wie wichtig ist aber seine Rolle für die Steinschneidekunst und damit für diese Keimzelle des heutigen Fachgebietes der Urologie? In erster Linie verdankt Fabry seine fachspezifische Bedeutung dem Spätwerk der Lithotomia vesicalis, die viel mehr ist als eine Operationsanleitung. Es handelt sich um die erste in deutscher Sprache gedruckte Monographie über das Steinleiden mit dem Anspruch eines Lehrbuchs, das auf alle klinischen Erscheinungsformen des Harnsteinleidens – mit Ausnahme der Nephrolithiasis – und seine konservativen und operativen Behandlungsmöglichkeiten eingeht. Ein ausgesprochen pädagogisches Bestreben manifestiert sich in seinem Text immer wieder, wenn er bei bestimmten Details seiner Handlungsanweisungen junge Adepten der Steinschneiderzunft direkt anspricht. Das einzige der Schrift Fabrys vergleichbare und in vielen Aspekten ebenbürtige deutschsprachige Werk ist das Kunstbuch des eine Generation älteren Georg Bartisch aus Dresden. Dessen Schrift fand keinen Verleger und verschwand als handschriftliches Unikat in der sächsisch-kurfürstlichen Bibliothek. Sie wurde erst nach Drucklegung im Jahre 1904 und Übertragung in modernes Deutsch zunehmend gewürdigt und schließlich 2009 als Faksimile-Druck zugänglich gemacht.10 Auch Bartisch schreibt außer über die Schnitt-Technik sehr ausführlich über Steingenese, Patientenvorbereitung und Nachbehandlung. Er propagiert ebenfalls den seinerzeit „neuen“ „Schnitt auf den Stab“ des Mariano Santo, präsentiert aber weniger operativ-technische Varianten und kasuistische Erfahrungsberichte als Fabry. Wie schon angedeutet ist es schon aus geographischen Gründen eher unwahrscheinlich, dass Fabry die Schrift Bartisch’s kannte; er hätte sie ansonsten sicher zitiert. Diese natürlich nicht beweisbare Hypothese stützt sich auf Fabrys weitgehende Korrektheit, wenn es darum geht, ältere oder zeitgenössische Autoren zu zitieren, auf deren Erfahrungen oder instrumentellen Innovationen er aufbaut. Sowohl Bartisch als auch Fabry übertreffen bei weitem das sehr häufig dubiose, bestenfalls handwerklich bemühte, wenig anatomie- oder theoriegeleitete Wirken ihrer Kollegen. Nicht nur durch die Verbreitung der „modernen“ Operationstechniken aus Italien und Frankreich, auch durch ihre Patientenorientierung und (selbst-) kritische Reflexion ihres ärztlichen Handelns heben sie den Standard des Steinschnitts im deutschen Sprachraum auf eine höhere Ebene. Dies wurde auch von den Zeitgenossen erkannt und anerkannt, ablesbar an der großen Zahl „prominenter“ Patienten. Beide kämpften engagiert und vielfach mit derben Invektiven gegen marktschreierische und skrupellose Quacksalber und autodidaktische „Empiristen“ ohne solide Ausbildung, womit sie sich sicher wenig Freunde in der Zunft machten. Ganz besonders Fabry verkörpert den Übergang von einem ausschließlich erfahrungsgeleiteten Handwerker-Chirurgen zu einem zunehmend über den einzelnen Fall hinaus „wissenschaftlich“ denkenden operierenden Arzt mit profunden anatomischen Kenntnissen.11 Insofern war er seiner Zeit voraus. „Fortschrittlich“ 10 Vgl. Mankiewitz (1904); Dittrich, Hausmann & Konert (2009). 11 Fabry ist auch Autor eines Werkes über die „Vortrefflichkeit und die Notwendigkeit der Anato-

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erscheinen seine Bemühungen, bei bestimmten eher „internistischen“ Fragestellungen auch den Kontakt zu den akademisch gebildeten Medici zu suchen. Fabry war ein sehr vorsichtiger, immer auch an die Komplikationsmöglichkeiten seiner Eingriffe denkender Lithotomist. Neuerungen gegenüber war er aufgeschlossen, aber seine Bedeutung liegt im Gegensatz zu Mariano Santo und Franco nicht primär in der Rolle eines Innovators. Ohne auf theoretische Überlegungen zu verzichten, setzt er sich in erster Linie mit den praktischen Aspekten der Blasensteinbehandlung auseinander; seine große Erfahrung im Umgang mit den Patienten und allen Varianten des Steinschnitts ist auf jeder Seite seines Textes zu spüren. In dieser Hinsicht ist er Pierre Franco absolut gleichwertig, der ebenfalls Theorie und Praxis gleichermaßen beherrschte. Das Werk Parés, das sich mit der Lithotomie befasst, ist in seiner Systematik, Vollständigkeit und stilistischen Qualität ein „Sonderfall“, reproduziert es doch exakt die Techniken und Erfahrungen Francos, ohne ihn zu zitieren und ohne eigene Erfahrung des Autors mit der Lithotomie (Paré 1579: S. VCXCIX – chapitre XLIIII). Der vom Temperament eher konservative Fabry ist den klassischen medizinischen Autoritäten sehr verbunden. Er animiert seine Leser immer wieder, sich zu bestimmten Themen bei Hippokrates, Celsus, Galen und Avicenna zu informieren. Aber auch auf die Schriften der wichtigen jüngeren und zeitgenössischen Kapazitäten wie Guy de Chauliac, Vesal und Paré weist er wiederholt hin. Es sind v. a. drei Aspekte der Cystolithotomie, zu denen Fabry Neues beigetragen hat: das instrumentelle Armamentarium, die Operationstechnik großer Steine beim weiblichen Geschlecht und der suprapubische Steinschnitt, wenn hier wahrscheinlich auch nur in der Theorie. Wie schon bei der Darstellung seiner „Handgriffe“ ausgeführt, sind die beiden „neuen“ Fabry-Instrumente, die sog. kleine und große Leucherzange, Modifikationen älterer bekannter Geräte, die teilweise für Indikationen außerhalb der Lithotomie eingesetzt worden waren. Der transvaginale Zugang zu großen Blasensteinen der Frau ist sicher sein wichtigster „neuer“ Beitrag zur Geschichte der urologischen Operationstechniken. Was den suprapubischen Zugang zur Blase angeht, kannte er die aktuelle Literatur – Franco und Rousset – und erkennt trotz seiner Skepsis und Kritik schließlich eine Indikation für diesen besonders gefährlichen, zu seiner Zeit erst vor etwa 60 Jahren erstmals durchgeführten Eingriff an. Ein wesentlicher Charakterzug Fabrys ist seine patientenfreundliche Grundeinstellung. Seine in den „Handgriffen“ dokumentierte Operationslehre folgt konsequent einem Konzept der Risikoabstufung: Zuerst wird die den Kranken geringer belastende bzw. weniger riskante Maßnahme empfohlen, der „große“ Eingriff ist immer die ultima ratio. Aus heutiger Sicht mag das natürlich etwas anders aussehen – schon die Vorstellung einer Harnröhrendehnung mit doch recht kaliberstarken Instrumenten ohne suffiziente Analgesie lässt den Leser erschaudern, ganz zu schweigen von dem Martyrium der eigentlichen Steinschnitt-Prozedur. Relativ „modern“ sind die Vorstellungen Fabrys von einer präoperativen Aufklärung des mie“, Anatomiae praestantia et utilitas (Bern 1624), und hielt bereits 1595/96 öffentliche anatomische Demonstrationen in Genf und Lausanne ab.

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Patienten und der Einbeziehung seiner Angehörigen. Ebenfalls aktuell bzw. zeitlos sind seine Ausführungen über die charakterlichen und fachlichen Qualifikationen des Operateurs. Auch die exakte Indikationsstellung zum Eingriff, die wichtigste intellektuelle Leistung des operativ Tätigen, hat bei Fabry ein großes Gewicht. Wilhelm Fabry von Hilden ist durch die in seiner „Lithotomia vesicae“ auch didaktisch gelungene Synthese von Theorie und Praxis in Verbindung mit hohen ethischen Ansprüchen an sich selbst und seine Profession trotz weniger wirklich innovativer Beiträge einer der bedeutendsten europäischen „Urologen avant la lettre“ der frühen Neuzeit. Er verdient sicher auch noch einen dritten Beinamen, den eines „Vaters der deutschen Urologie“. Danksagung: Herr Dr. Antweiler, Leiter des Fabry-Museum der Stadt Hilden, war bei der Beschaffung von Primär- und Sekundärliteratur behilflich. Literatur Albucasis (1973) On surgery and instruments: A definitive edition of the Arabic text with englisch translation and commentary by M. S. Sprink and G. L. Lewis (London: The Wellcome Institute of the History of Medicine). Androutsos, G. Pierre Franco, „Chirurgien et Lithotomiste du 16ième siècle“, Progrès en urologie 14: 255–259. Celsus (1994) On medicine. Books VII–VIII. With an English translation by W. G. Spencer (= The Loeb Classical Library 336; Celsus III) (Cambridge/Mass.: Harvard University Press). Cheselden, W. (1723) A Treatise on the High Operation of Stone (London: John Osborn). dalla Croce, G. A. (1607) Officina aurea, das ist, güldene Werckstatt der Chirurgy oder Wundt-Artzney … (Frankfurt/M.: Rhode). Das, S. (2001) „Susruta, the Pioneer Urologist of Antiquity“, Journal of urology 165: 1405–1408. Diettrich. H. G., Hausmann, H., Konert, J. (2009) Georg Bartisch, Sächsischer Schnitt- und Wundarzt im 16. Jahrhundert (Wittenberg: Drei Kastanien Verlag). Douglas, J. (1723) Lithotomia Douglassiana (London). Fabry, W. (1652) Deß Weitberühmten Guilhelmi Fabricii Hildani … Wund-Artzney / Auß dem Lateinischen in das Teutsche übersetzt Durch Friderich Greiffen (Frankfurt: M., Johann Beyer); online in: URL: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/content/titleinfo/244264. Fabry, W. (1682) Opera quae extant omnia, 2.Ed. – URL: http://web2.bium.univ-paris5.fr/livanc/ index.las?cote=00247x01&do=chapitre. Franco, P. (1556) Petit traité comprenant une des principales parties de chirurgie laquelle les chirurgiens herniaires exercent ainsi qu’il est montré en la page suivante (Lyon: Antoine Vincent). Franco, P. (1561) Traité des hernies et autres excellentes parties de la chirurgie assavoir la pierre (Lyon: Thibaud Pagan). Franken, F. H. (1954) Fabricius Hildanus und die Entwicklung der Chirurgie (Diss. med. Freiburg). Gurlt, Ernst Julius (1898) Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung, Bd. 3 (Berlin: Hirschwald). Hippokrates (1978) Aphorismen. In E. Littré: Œuvres complètes d’Hippocrate, 4ièmetome, pp. 458– 609; Réimpression de l’édition Paris 1844 (Amsterdam: A. M. Hakkert) Hoffmann, K. F. (1960) „Wilhelm Fabry von Hilden, genannt Fabricius Hildanus (1560–1634), der Begründer der klinischen Chirurgie“, Medizinische Monatsschrift 39: 1–4. Jones, E. W. P. (1960) „The Life and Works of Guilhelmus Fabricius Hildanus (1560–1634) Part I/ Part II“, Medical History 4: 112–134, 196–209.

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Die Steinschneider Johannes und Carl Palm. Ein Beitrag zur Lithotomie in Ulm im 19. Jahrhundert Peter Kraus und Hans-Joachim Winckelmann Die Behandlung des Steinleidens ist so alt wie die ärztliche Tätigkeit selbst. Schon das erste überlieferte Schrifttum der Menschheit aus dem Alten Ägypten berichtet u. a. von der Therapie der Nierenkolik. Die Blasensteinbehandlung nach Celsus aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. fand bis weit in die Neuzeit hinein Anwendung. Erst die Etablierung endoskopischer Zugangswege und vor allem der extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie im 20. Jahrhundert revolutionierten die Therapie der Urolithiasis. Der folgende Beitrag beruht auf dem sich im Stadtarchiv Ulm befindenden schriftlichen Nachlass der Ulmer Chirurgen und Ärzte Johannes Palm (1794–1851) und Carl Palm (1821–1878). Der Bestand liegt als Loseblattsammlung vor und umfasst Operationstagebücher, Korrespondenzen, statistische Erhebungen etc. Ein großer Teil dieser Papiere bezieht sich auf das Blasensteinleiden und dessen operative Therapie, den Steinschnitt. Hierzu sind teils tabellarische Zusammenfassungen, teils mehrere Seiten lange Krankengeschichten mit genau beschriebenem perioperativem Management erhalten (s. Abb. 1). Diese Krankengeschichten beginnen meist mit einer kurzen Anamnese und der Diagnosestellung der Steinkrankheit (durch bimanuelle rektale Palpation und Katheterisierung), erläutern weiter die präoperative Vorbereitung (in der Regel abführende Maßnahmen), und das operative Vorgehen. Dabei gehen die Palms insbesondere auf Komplikationen der Operation ein, wie das Zerbrechen der Steine und stärkere Blutungen. Auch der postoperative Verlauf ist gut dokumentiert, insbesondere die Behandlung von Fieber und Schmerzen mit damals gängigen Medikamenten wie Kalomel1 oder der Anwendung von Fomentationen2.

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Kalomel, auch Mercurius dulcis oder mildes Mercurochlorid genannt, ist Quecksilber(I)-chlorid. Es wurde im 19. Jahrhundert bei den vielfältigsten Indikationen oral oder transdermal verabreicht, manche Autoren sprechen gar von einer „Calomelomanie“. Kalomel war indiziert als Laxativum, Antiinfektivum, Antiphlogistikum u. a. (Oesterlen 1851: 129). Unter Fomentationen oder Bähungen verstand man kalte oder warme, trockene oder im engeren Sinne des Wortes feuchte Umschläge. Diese waren mit unterschiedlichen Medikamenten auf unterschiedlichen Trägern (z. B. Leinen) beschickt. Sie wurden im 19. Jahrhundert vielfältig eingesetzt.

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Abb. 1: Ausschnitt einer Krankengeschichte aus dem Nachlass von Johannes Palm. Stadtarchiv Ulm H Palm I - 30 „Joseph Zimmermann“

Anhand dieser Berichte wird die Entwicklung der Lithotomie im 19. Jahrhundert, einer Zeit des Übergangs vom Handwerkschirurgen zum akademischen Arzt, nachgezeichnet. Die umfassendste Monografie über Johannes Palm wurde 1952 von Albrecht Rieber, Mitarbeiter des Stadtarchivs Ulm, verfasst und von Karl Palm, Urenkel von Johannes Palm, herausgegeben (Rieber 1952). Rieber dürfte dabei vor allem die heute im Stadtarchiv Ulm vorliegenden Bestände verwendet haben.3 Aus diesem Werk speisen sich im Wesentlichen die biografischen Angaben über Johannes Palm in den Dissertationen von Rinnab (2000) und Gebler (2008). Gebler erarbeitete daneben auch eine Biografie von Carl Palm, befasst sich aber hauptsächlich mit der geburtshilflichen Tätigkeit beider Ärzte. Das chirurgische Wirken der beiden Mediziner wird in der Dissertation von Kraus (2011) gewürdigt. Eine Übersicht über die verschiedenen Linien der Familie Palm und zahlreiche weitere Literaturangaben gibt die „Geschichte der württembergischen Familie Palm“ (Palm 1927). Daneben gibt es mehrere Publikationen, in denen die Familie Palm exemplarisch aufgeführt wird, beispielsweise bei Groß (1999: 249). Rückblick Steinleiden waren eine sehr häufige, zum Teil tödlich endende Erkrankung, deren Inzidenz in der frühen Neuzeit stark zunahm. Einhergehend mit einer Zunahme des Fleischanteils an der Nahrung und damit auch des Steinleidens, gewann die alte „Heilkunst“ des Steinschnitts wieder an Bedeutung. Während des abendländischen Mittelalters war der operative Eingriff zugunsten einer auf Heilkräutern basieren3

StA Ulm H Palm I 1–39.

Die Steinschneider Johannes und Carl Palm

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den konservativen Therapie vielfach aufgegeben worden.4 Die städtischen Gesundheitsbehörden waren gefordert und der Ulmer Rat reagierte bereits 1532 mit der Anstellung eines Steinschneiders (Majer 1847: 173). Über die Lithotomisten des 16. bis 18. Jahrhunderts existieren viele Vorurteile, die nur zum Teil mit der geschichtlichen Realität übereinstimmen. Zwar ist es richtig, dass die Steinschneider zuerst wie fahrende Händler von Stadt zu Stadt zogen und ihre Kunst anpriesen, jedoch waren sie entgegen des landläufigen Eindrucks von „Pfuschern“ in aller Regel examinierte Chirurgen mit hohem Kenntnisstand, deren Arbeit von den einzelnen Stadtverwaltungen streng kontrolliert wurde (Kreiner 2009: 1). Der Umstand, dass die Lithotomisten auf den Märkten, auf denen sie ihre Leistungen anboten, darauf angewiesen waren, sich gegen die zahlreiche Konkurrenz durchzusetzen, sorgte für das Bild exzentrischer Persönlichkeiten. Als Beispiele sind hier neben Johann Andreas Eisenbardt (1663–1727), der seinen Zeitgenossen als ausgewiesener Experte galt, „Frère“ Jacques Beaulieu5 (1661–1719) sowie Charles Bernoin (1616–1673) zu nennen. Auch in Ulm versuchten Steinschneider mit unkonventionellen Methoden ihre Tätigkeit anzupreisen. So wurde laut Ratsprotokoll vom 12. Dezember 1670 dem „französischen Operatoir und Schnittarzt Carle Barnoins [sic] bewilligt, […] sich allhier aufzuhalten und seine Kunst zu practizieren“. Zusätzlich zu seiner ärztlichen Tätigkeit erteilte ihm der Ulmer Rat auch die „Erlaubnis ein Kunst/ Feuer zu präsentieren“ und beauftragte den Vorsteher des Zeughauses, ihm „die gebotnen Materialien, nemlich dreißig Pfund Pullver, zwantzig Pfund Salpeters, acht Pfund Schwefels, acht Pfund Kohlen“6 auszuhändigen. Jakob Geiger schreibt in seiner Ulmer Chronik7: „Anno 1671 den 5. Januarii ist ein führnehmer und weitberühmter frantßöß Stein- und Wundarzt der viel Wochen allhier gelegen, und sehr vielen Jungen und Alten, Reichen und armen Persohnen, Männer und Weiber, Junggesellen und Jungfrauen, an Stein und Brüchen, auch allerley Schäden und Gebrechen durch seinen Kunstschnitt geholfen, daß sie wieder mit der Hülff Gottes zur Gesundheit gebracht wurden. Er ist offentlich auf dem Markt des abends zwischen fünf und sechs Uhr […] auf einem […] Seil herunter bis an die Metzig auf den Boden gefahren, gantz feurig, es hatten die Ragetten welche er an sich hengen gehabt, immer eine die ander angezündt, und ihre Schlag gar ziemlich in ein ander gethan, als er auf dem Boden herab […] an Walz Haus kommen, sind auf die 20 Ragetten auf einmal losgegangen, deren etliche unther die Leute gefahren, daß man kaum gering ausweichen können. Er hatte viel 100 Persohnen zum Zuschauen gehabt.“8

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Kreiner, B., Siebert, T. et al. (2009). Beaulieu, der ohne Profess im Habit auftrat und in 30 Jahren schätzungsweise 5000(!) Steinschnitte durchgeführt hatte, wurde von einigen Autoren als die Figur hinter dem bekannten Kinderlied „Frère Jacques“ angesehen. Es wurde jedoch nie ein sicherer Beweis für diese These gefunden (Ganem 1999: 1068 f.). StA Ulm A 3531, Nr. 8 folio147 v[erso]. StA Ulm Chronik v. Jakob Geiger G1 1750/3 S. 754–55. StA Ulm G1 1750 3 S. 754 f.

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Dieses Spektakel war nicht ungefährlich und wurde Bernoin 1673 in Regensburg zum Verhängnis. Das „Begleitprogramm“ endete tödlich, Bernoin stürzte in die Tiefe und verstarb (Kröll 1992: 178). In erster Linie diente das Schauspiel dazu, wie Bernoin selbst schreibt, den „nothleidenden personen bekandt [zu] bleiben – respective [zu] werden“ (Kröll (1992) S. 178). Ungeachtet dieser heute skurril anmutenden „Werbeaktionen“ war Bernoin ein handwerklich guter Lithotomist. Sein Talent bewahrte ihn sogar vor einem längeren Gefängnisaufenthalt: Als er 1671 nach seinem Aufenthalt in Ulm in Dillingen Station machte, kam es bei einem Streit mit einer Hure zu Handgreiflichkeiten, so dass er in „Haft genommen und etlich Wochen gefangen gelegen [ist]. [Es wurde] aber entlich wegen seiner hohen Kunst im Stein und Bruchschneiden, so er an einer hohen geistlichen Persohn […] [den] Steinschnitt [operierte], ihm das Leben geschenkt und [er] auf freien Fuß gesetzt worden.“9 Operative Methoden des Steinschnittes Über die von den Steinschneidern angewandten Operationsmethoden liegen nur spärliche Berichte vor.10 Es ist davon auszugehen, dass sie nach der von Celsus beschriebenen Methode vorgingen: nach bimanueller Verbringung großer Blasensteine an den Blasenauslass erfolgte in Steinschnittlage ein medianer perinealer Schnitt zur Steinbergung.11 Jacques Beaulieu verbesserte die Schnittführung indem er den perinealen Schnitt im Gegensatz zu Celsus nicht median, sondern lateral setzte12: Durch diesen 9 StA Ulm G1 1750 3 S. 755. 10 Eine gute Übersicht über die Fragen zur Steinbehandlung Mitte des 19. Jahrhunderts liefern die Beiträge in Skopec und Zykan (2004). 11 Celsus schreibt: „Man muss daher mit der rechten Hand den Stein von aussen immer verfolgen, während er mit den [in den After eingeführten] Fingern der linken Hand nach abwärts gedrückt wird, bis er vor dem Blasenhals zu stehen kommt. […] Ist nun der Stein bis dahin gelangt, so muss man nahe am After, über dem Blasenhalse einen mondförmigen Einschnitt machen, der sich bis zum Blasenhalse erstreckt, so dass dessen Hörner gegen die beiden Hüften hinsehen, und hernach muss man an dem tiefern und schmälern Theile der Wunde, noch unter der Haut, einen zweiten querlaufenden Einschnitt machen, wodurch der Blasenhals selbst geöffnet wird, bis die Harnröhre offen steht, so dass die Wunde um weniges grösser, als der Stein ist.“ Celsus, Buch 7 Kap. 26 Abs. II, zeitgenössisch übersetzt durch Ritter (1840: 507–508). 12 Beaulieu hatte selbst keine Schriften über den Steinschnitt hinterlassen, zeigte jedoch seine innovative Operationsmethode –anders als viele andere Steinschneider jener Zeit- bereitwillig und unentgeltlich interessierten Kollegen (Ganem 1999: 1068). So erläuterte Beaulieu 1699 Johann Jakob Rau (1668–1719), der später zum ordentlichen Professor der Medizin, Anatomie und Chirurgie an die Universität Leyden berufen wurde, seine Methode des Steinschnitts. Bei Rau wiederum lernte Lorenz Heister (1683–1758) „des Bruder Jacobs […] Manier, den Stein zu schneiden“ (Sachs 2000: 91–92). Er beschreibt die Methode 1719 in seinem berühmten Lehrbuch „Chirurgie“ wie folgt: „Er [Frère Jacques] steckte einen gants runden Catheter ohne Furche in die Blase, druckte dieselbe gegen die linke Seit des Perinaei, nahm hernach ein Messer, was länger als sonsten gewöhnlich, und machte damit eine Incision bey dem Perinaeo, aber nicht an dem Ort, wo sonsten gewöhnlich, sondern ungefehr zwey Fingerbreit von der Sutur

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sogenannten Seitensteinschnitt vermied er die Verletzung der median gelegenen Urethra und hatte deutlich weniger postoperative Komplikationen (Konert 2002: 73). Zusätzlich wurde im 17. Jahrhundert ein suprasymphysärer Zugang zur Blase gesucht, den aber nur vereinzelte Wundärzte bei großen Steinen als „hohen Steinschnitt“ mit dem Mut der Verzweiflung und unter innigen Gebeten durchführten. Die Praktikabilität dieser Methode blieb bis ins Zeitalter der Allgemeinanästhesie jedoch mit hohen Komplikationsraten verbunden. Aus dem 18. Jahrhundert ist eine Untersuchung der Morbiditäten und Mortalitäten nach Steinschnitt aus zwei großen, spezialisierten Pariser Krankenhäusern bekannt. Über 30 Prozent der operierten Patienten verstarb (peri)operativ, der Rest entwickelte Urinfisteln und chronische Infektionen (Kreiner 2009: 1). Die im 19. Jahrhundert üblichen Methoden der Lithotomie unterschieden sich vor allem durch ihren Zugang zur Blase: Man praktizierte den Seitensteinschnitt, den Schnitt durch den Mastdarm und den sogenannten hohen Schnitt. Diese drei Methoden wurden beim männlichen Geschlecht angewandt, das z. B. beim hier zu behandelnden Ulmer Steinschneider Johannes Palm über 96 Prozent aller Steinpatienten ausmachte.13 Bei weiblichen Patienten erfolgte der Schnitt in die Blase durch die vordere Scheidenwand. Beim Seitensteinschnitt erfolgte der Zugang zur Blase im Perineum. Der Hautschnitt begann links von der Raphe scroti nach schräg kaudal bis zwischen Anus und Tuber ischiadicum und reichte in die Tiefe bis zum Blasenhals. Beim Mastdarmschnitt erfolgt der Zugang zur Blase transrektal, beim hohen Steinschnitt wurde die Blase oberhalb der Symphyse eröffnet. Nach Eröffnung der Blase wurden, gegebenenfalls nach Erweiterung des Schnittes, die Steine durch Steinzangen oder –löffel entfernt. Die Wunde wurde nicht durch eine Naht adaptiert, sondern lediglich verbunden. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war der Seitensteinschnitt immer noch die vorherrschende Methode, die nur bei ausgesprochen großen Steinen nicht angewandt wurde. Die Methode zweiter Wahl war der Schnitt durch den Mastdarm, der hohe Steinschnitt wurde selten durchgeführt, da er als sehr gefährlich galt. Die Lithotripsie war kaum verbreitet (Rust 1834: 41 f., 60, 67). Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt die Lithotripsie, später auch unter zystoskopischer Sicht, zunehmend zum Einsatz (Sachs 2000: 94). Darunter versteht man die transurethral durchgeführte Steinzertrümmerung in der Harnblase. Erstmals wurde diese Operation14 1824 durch Jean Civiale (1792–1867) durchgeführt (Konert 2002: 101–120). des Perinaei zur lincken Seit, von unten nach oben zu schneidende, anfangend von der Gegend des Hintern, und aufsteigend bis fast gegen die Mitte des Perinaei, bis er endlich alles, was zwischen der Haut und seinem Catheter, durchgeschnitten und zu letzt die Blase, ohne die Harnröhre zu berühren oder zu verletzen, selbst eröffnet war.“ Heister (1724: 717–718). 13 Stadtarchiv Ulm H Palm I –29 14 „Der Operateur stellt sich zur Rechten des Kranken, er führt die Sonde ein, spritzt das Wasser in die Blase, hält damit aber sogleich inne, sofern der Kranke Urindrang spürt, worauf er die Sonde auszieht, und statt ihrer das Instrument [den sogenannten Lithotritor] einbringt […]. Ist

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Johannes Palm und Carl Palm Das Ulmer Gebiet gehörte zu den „steinreichsten“ Gegenden in Deutschland (Hirsch 1896: 324). So ist es nicht verwunderlich, dass hier die Steinschneidekunst auf eine lange Tradition zurückblickt. Vor allem ist der Ulmer Stadtphysicus Johannes Scultetus (1595–1645) zu nennen, der in seinem posthum erschienenen Werk „Wundartzneyisches Zeughauß“ u. a. den Steinschnitt detailliert mit zahlreichen Abbildungen beschreibt (Scultetus 1666: 153 f). Scultetus zitiert in seinem Lehrbuch zeitgenössische und alte Literatur. Deren Kenntnis war unerlässlich und nach der Medizinalordnung Bedingung für die Zulassung als Arzt in Ulm. Vor allem stellt er die großen Anatomen und Chirurgen des 16. und 17. Jahrhunderts, wie Andreas Vesalius (1514–1564), Fabricius ab Aquapendente (1537–1619), Antoine Paré (1510–1590) und Fabricius Hildanus (1560–1634) vor. Zahlreiche der in seinem Buch vorgestellten Instrumente stammen von da Carpi (um 1470 bis um 1530), Paré, Aquapendente und Fabricius Hildanus. 60mal zitiert Scultetus Aquapendente. Fabricius Hildanus wird über 30mal erwähnt. Hier dürfte vor allem das Interesse an den von Fabricius entwickelten neuen Instrumenten und orthopädischen Apparaten eine Rolle gespielt haben. Auffällig ist jedoch die Art, wie er ihn zitiert und auch seine Argumentation lassen vermuten, dass er gerade ihm außerordentlich kritisch gegenüberstand (Seiz 1988: 33).15 Trotz einiger Verbesserungen der technischen Bedingungen warf die Beseitigung von Harnblasensteinen weiterhin Probleme auf. Eine Wende deutete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Zu dieser Zeit wirkte in Ulm Johannes Palm (1794–1851), der einen überregionalen Ruf als Steinschneider besaß (Majer 1851: 279) und zu den erfahrensten Lithotomisten Deutschlands zählte (Kraus 2011: 38). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sein Sohn Carl (1821– 1878) als Leiter der chirurgischen und internistischen Abteilungen des Allgemeinen Kran-

man bis zum vorderen Winkel der Symphysis oss[is] pubis gekommen, senkt man zugleich den Penis und das Instrument, dessen Vorderende der Krümmung der Urethra folgen soll, welche sich an dieser Stelle vorfindet. […] Ist man erst durch die Krümmung der Urethra gekommen, so dringt das Instrument ohne alle Mühe [in die Harnblase] ein. […] Man schraubt die Druckschraube los, hält mit der linken Hand die Scheide an ihrem viereckigen Stücke, zieht dieselbe an sich, und schiebt mit der anderen Hand den Litholabe [eine durch den Lithotritor reichende Zange mit drei Branchen; der Litholabe ist selbst als Hohlkanüle gefertigt, so dass durch den Lithotritor und den Litholabe ein weiteres Gerät in die Harnblase geschoben werden kann] vorwärts, auf diese Weise öffnen sich die Branchen der Zange[…]; zu gleicher Zeit zieht man den Perforator an sich, und sucht nun mit geschlossenem Instrument den Stein auf. […] Die Zerstückelung des Steines geschieht auf verschiedene Weise. 1) Durch Zermalmen. […] 2) Durch Zerreiben. […]. Gelingt es aber nicht, den Stein zu zermalmen, so macht man an demselben noch eine oder mehrere Durchbohrungen, je nachdem es seine Größe und Härte erfordert. Die Dauer einer jeden Sitzung richtet sich nach der Empfindlichkeit des Kranken und seiner Organe. Im Allgemeinen währt die Sitzung 5 bis 10 Minuten.“ Civiale, zeitgenössisch übersetzt durch Graefe (1837: 52–59). 15 Vergleiche den Beitrag Marx und Schäfer in diesem Band.

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kenhauses in Ulm tätig. Auch er führte den Steinschnitt durch, allerdings in geringerer Zahl als sein Vater. Die Familie Palm, ursprünglich aus Schorndorf stammend, weist eine lange wundärztliche Tradition auf, der jedoch schon frühzeitig ein Wechsel zum Arztberuf gelang. (s. Abb. 2) Bereits in der dritten Generation erfolgte der soziale und professionelle Aufstieg vom Wundarzt zum Arzt. Wilhelm Friedrich Palm16 erlangte 1812 im fortgeschrittenen Alter von 48 Jahren die Erlaubnis zur Ausübung der ärztlichen Heilkunde. Familie Palm (Schorndorf/Ulm) Jakob Christoph Palm 1706 – 1758, Schorndorf Chirurg Johann Leonhard Palm 1730 – 1783, Schorndorf Chirurg Wilhelm Friedrich Palm 1764 – 1814, Schorndorf/Ulm erst Chirurg, später Arzt

Johann Friedrich Palm † 1784, Schorndorf Chirurg

Johannes Palm 1794 – 1851, Ulm erst Wundarzt (Dr. chir.), später Arzt Carl Georg Matthäus Palm 1821 – 1878, Ulm Arzt und Wundarzt

Wilhelm Friedrich Palm 1824 – 1896, Ulm Arzt (Dr. med.) Abb. 2: Stammbaum der Familie Palm

16 Ein Bruder von Wilhelm Friedrich Palm (und damit Onkel von Johannes Palm) ist das bekannteste Mitglied der Familie Palm: Der Buchhändler Johann Philipp Palm, 1766 in Schorndorf geboren, 1806 in Braunau am Inn exekutiert. (Palm 1927: 64) Er verlegte die Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“, worin zum Widerstand gegen die Franzosen und deren bayerischen Verbündeten aufgerufen wurde. Da er sich weigerte, den Namen des Verfassers preiszugeben, wurde er auf persönliche Anordnung Napoleons nach einem Schnellverfahren vor einem Militärgericht im französisch besetzten (und deshalb der französischen Gerichtsbarkeit unterstehenden) österreichischen Braunau standrechtlich erschossen. (Burgdorf 2006: 42) Ein erschreckendes Kuriosum am Rande: Hitler erwähnt auf der ersten Seite von „Mein Kampf“ Johannes Philipp Palm: Unter anderem wegen der Tatsache, dass Palm als Widerstandskämpfer in Braunau erschossen wurde, galt es dem Diktator „als glückliche Bestimmung […], dass das Schicksal [ihn] zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies“ Maisslinger (2006).

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Auch sein Sohn Johannes Palm, in Ulm geboren 1794, erhielt erst „auf dem zweiten Bildungsweg“ die Zulassung zur ärztlichen Tätigkeit. Nach der Wundarztlehre bei seinem Vater studierte er Chirurgie und Geburtshilfe in Tübingen und promovierte 1818 zum Doktor der Chirurgie. 1822 wurde er zu einer dreiwöchigen Arreststrafe wegen unbefugten Praktizierens der Inneren Medizin verurteilt. Allerdings kam er durch die Intervention des in Ulm lebenden Herzogs Heinrich, Bruder des Württembergischen Königs Wilhelm I. (regierte von 1816 bis 1864), nach einem Tag wieder frei. 1827 legte Palm schließlich die Prüfung für die Innere Medizin ab. Im Jahre 1833 wurde er zum Hospital- und Stadtwundarzt berufen. Zwei Jahre später wurde er Oberamtsarzt. Johannes Palm war in seinen letzten Lebensjahren durch eine Pericarditis in seiner Tätigkeit eingeschränkt. Er starb am 29. Mai 1851 (Gebler 2008: 9 ff.). Neben seinen Verdiensten als Steinschneider führte er auch die ersten Schwefeläther- und Chloroformnarkosen im Ulmer Raum durch (s. Abb. 3) und als einem der ersten Ärzte weltweit gelang ihm eine Unterkieferresektion (Kraus 2011: 132 f., 155 ff.). Er war damit einer der bedeutendsten Ärzte Ulms seiner Zeit.

Abb. 3: Zeitungsbericht über die erste Chloroformnarkose im Ulmer Raum. Stadtarchiv Ulm G 5 21 Der Ulmer Landbote vom 15.01.1848.

Sein Sohn Carl Palm wurde an 20. Januar 1821 geboren. Nach dem Medizinstudium in Tübingen, das er ohne Promotion abschloss17, ließ er sich 1847 in Ulm nieder. Im Januar 1852 wurde er, nach dem Tod des Vaters, zum Leiter der chirurgischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses ernannt. 17 Jahre später, im Dezember 1868, übernahm er auch die Leitung der Inneren Abteilung. Bei einem geburtshilflichen Eingriff zog sich Carl Palm eine Infektion zu, die er zunächst nicht beachtete, letztendlich aber am 27. Juni 1878 zum Tode führte (Volz 1878: 246–247). Von Johannes Palm sind 256 Steinoperationen dokumentiert. Die überwiegende Zahl der Patienten wurde nach der Seitensteinschnitt-Methode operiert. Fünfmal wird der Mastdarmschnitt erwähnt, neunmal operierte er Patientinnen nach dem „Steinschnitt beim Weibe“ durch die vordere Scheidenwand. Von Carl Palm liegen Berichte über 39 Steinschnitte vor. Bei 28 Patienten wandte er den 17 Als überzeugter Demokrat wollte er dem Staat die notwendigen Gebühren für eine Promotion „nicht in den Rachen werfen“. Gebler (2008: 17).

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Seitensteinschnitt an, siebenmal wagte er auch das neue Verfahren des hohen Schnittes (Sectio alta), vier Eingriffe wurden bei weiblichen Patienten durchgeführt (Kraus 2011: 39) (siehe Tab. 1). Den Seitensteinschnitt führten die Palms nach den in zeitgenössischen Lehrbüchern beschriebenen Methoden aus. Das operative Vorgehen beim Seitensteinschnitt änderte sich zwischen dem Beginn der ersten Operationen von Johannes Palm und dem Ende des chirurgischen Wirkens von Carl Palm praktisch nicht (Kraus 2011: 41 ff.). Im Operationsbericht vom 31. Oktober 1848 (aufgezeichnet von Carl Palm) liest man: Die Sonde hielt der Vater […]. Nach dem Hautschnitt und nach Durchschneidung der oberflächlichen Fettschichten fühlte ich mit dem Zeigefinger die Sonde und schnitt alsbald darauf ein. […] Die Pars nuda [Urethrae, i. e. Pars membranacea urethrae] und Prostata wurde nun durchgeschnitten und der vordrängende Finger fühlte jetzt den Stein. Auf der Sonde wurde, da die Öffnung in die Blase klein war, das Litho[tome] caché eingeführt und der Schnitt erweitert, so dass jetzt der Finger bequem eingehen und den Stein fühlen konnte. Der eingeführten Zange wich der Stein öfters aus und der Vater machte jetzt eine Injection mit lauwarmen Wasser, führte jetzt die Zange ein und nach einigen Versuchen gelang es denselben zu fassen, allein als ich ihn ausziehen wollte, gleitet er wieder aus der Zange heraus. Es gelang nun als bald wieder, ihn zu fassen, allein noch mehrere Male glitt er aus, erst nach dem ich ihn 4mal gefasst habe, gelang die Extraction.18 Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts treffen mit der Narkose, dem Weichgummikatheter Nelatons, dem Streben nach einer primären Blasennaht, der Listerschen Antisepsis und der v. Bergmannschen Asepsis wie bei einer Punktlandung entscheidende Voraussetzungen zusammen, die den hohen Blasenschnitt zur Standardmethode für chirurgische Blasenleiden erheben. Johannes Palm hat die Sectio alta niemals durchgeführt, Carl Palm setzte den hohen Steinschnitt siebenmal ein. Lithotripsien führten Johannes und Carl Palm nicht durch (Majer 1851: 279, Volz 1878: 247). Carl Palms Bruder Wilhelm Palm (1824–1896) jedoch praktizierte – zumindest in späteren Jahren – in der Regel die Lithotripsie. Den Seitensteinschnitt führte er nur noch bei großen Steinen aus (Hegele 1896: 166). Tabelle 1: Anzahl Steinoperationen nach Methode und Operateur: Arzt Johannes Palm (1794–1851) Carl Palm (1821–1878)

Seitenschnitt Mastdarmschnitt 242 5

Hoher Schnitt 0

Weiblicher Schnitt 9

256

28

7

4

39

0

18 Stadtarchiv Ulm H Palm I – 32 Operationsbericht Patient Andreas Maik.

Summe

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„Perioperatives Management“ des Steinschnitts Neben dem operativen Vorgehen finden sich im Nachlass von Johannes und Carl Palm auch viele Aufzeichnungen über prä- und postoperative Maßnahmen. So sind von vielen Steinpatienten die „Karrieren“ vom frühesten Auftreten der Beschwerden bis zur Heilung respektive dem Tod dokumentiert (Kraus 2011: 39–72). Die meisten Patienten der Palms waren Knaben. Das durchschnittliche Alter der Steinschnittpatienten von Johannes Palm lag bei 13,7 Jahren, wobei er die meisten seiner Patienten in einem Alter von drei Jahren behandelte. Bei Carl Palm waren die Patienten etwas älter: das Durchschnittsalter lag bei 18,9 Jahren, die meisten von ihm behandelten Patienten waren vier Jahre alt. Die überwiegende Zahl der Patienten suchte die Ärzte auf, nachdem sie meist schon seit Jahren unter Schmerzen und Blut im Harn, tropfenweiser Urinentleerung und Abgang von Harnsteinen oder Harngrieß klagte. Wurde bei der Untersuchung (bimanuelle Palpation, Sondenuntersuchung) ein Blasenstein diagnostiziert, vereinbarte man einen Operationstermin. Die Operation fand in der Regel nur wenige Tage nach der Untersuchung statt. Die Patienten, die außerhalb Ulms lebten, wurden meist von einem Wundarzt vor Ort untersucht. Dieser teilte den Palms schriftlich seinen Befund mit, in der Regel mit der Bitte um einen Operationstermin und der Anfrage nach dem präoperativen Procedere. Der Operationstermin wurde gelegentlich verschoben, wenn z. B. das Wetter zu schlecht war, um zum Wohnort des Patienten zu reisen. Die Patienten von Johannes Palm verteilten sich auf ein Gebiet, das sich von Schwäbisch Gmünd im Norden bis Krumbach im Südosten von Ulm erstreckte. Dabei fiel schon den Zeitgenossen auf, dass deutlich mehr Patienten, die auf der linken Seite der Donau wohnen, an Urolithiasis litten. Insgesamt kamen nur sechs Prozent der Patienten von Johannes Palm aus Ulm. 34 Prozent stammten aus der näheren Umgebung, und das Gros seiner Patienten, nämlich 60 Prozent, lebte weiter als 20 Kilometer Luftlinie von Ulm entfernt. Unter den Patienten war auch Dr. Johann Nepomuk Weber, ein Arzt aus Konstanz, der sich, nachdem er wegen seines Blasensteinleidens in Paris bei Civiale und an der Universitätsklinik Würzburg vorstellig geworden war, auf eine Empfehlung hin an Johannes Palm wandte und von ihm in Ulm operiert wurde.19 Meistens wurde die in der Regel nur wenige Minuten dauernde Operation in der Wohnung des Patienten ausgeführt. Dabei übernahm der örtliche Wundarzt die erste Assistenz, zwei bis drei weitere Gehilfen waren zum Fixieren und Festhalten der Patienten nötig. Zum Instrumentarium des klassischen Seitensteinschnitts gehörten Bistouris, chirurgische Messer mit beweglicher, einschlagbarer Klinge für die oberflächlichen und tiefen Schnitte. Zur intraoperativen Darstellung der Urethra benutzte man Metallkatheter. Häufig verwendete Johannes Palm zur gegebenenfalls notwendigen 19 Stadtarchiv Ulm H Palm I – 30 Operationsbericht Patient Nepomuk Weber.

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Erweiterung des Schnittes den Lithotome caché. Darunter verstand man ein Messer, dessen Schneide verdeckt lag. Nach Einführen in die Wunde konnte die Schneide im Innern der Blase aus dem Verdeck gehebelt und so der Wundkanal erweitert werden. Dieses von Jean Baseilhac (1703–1781) entwickelte Instrument minimierte das Risiko bei einem eventuell notwendigen Erweiterungsschnitt während der Operation. Die Steinschneider jeder Epoche standen vor dem Problem, dass man zur Vermeidung von Komplikationen (wie Infektionen und Fisteln) zwar einen möglichst kleinen Schnitt machen wollte, andererseits „der Durchtritt des Steins durch eine zu enge Oeffnung nach Aussage der Kranken das Schlimmste sei“ (Middeldorpf 1850: 443). So musste der Schnitt oftmals intraoperativ erweitert werden, da der Stein zu groß war, um ihn durch die Wunde herauszubekommen. Schließlich wurden Steinzangen benutzt, um damit die Blasensteine zu fassen und zu extrahieren. Die postoperative Nachsorge übernahmen die vor Ort ansässigen Wundärzte. Bis zur vollständigen Heilung, also bis der Urin wieder komplett und willkürlich durch die Harnröhre abgelassen wurde und die Wunde geheilt und schmerzlos war, dauerte es circa vier bis fünf Wochen. Als Komplikationen im Heilungsverlauf traten vor allem (temporäre) Harninkontinenz, Fistelbildung und Steinrezidive auf. Die Mortalität bei diesen Operationen lag bei Johannes Palm bei neun und bei Carl Palm bei 23 Prozent. Todesursachen waren meist Entzündungen wie Zystitiden, Nephritiden oder Wundinfektionen. Bei einem Vergleich dieser Daten mit den Ergebnissen aus zwei großen, auf Steinschnitt spezialisierten Pariser Krankenhäusern wird deutlich, dass die meist von Johannes Palm ambulant durchgeführten Eingriffe ein geringeres Mortalitätsrisiko aufwiesen (Coulson 1853: 73). Die Patienten hatten in der Regel selbst für ihre Behandlung aufzukommen, mit Ausnahme der Stadtarmen, die kostenlos im Hospital versorgt wurden. Die Höhe der Honorare war, ebenso wie das Wegegeld für den Arzt und seine Gehilfen, im Königreich Württemberg durch die Medizinaltaxe gesetzlich geregelt. Dabei zählte der Steinschnitt, für den 20 bis 44 Gulden zu entrichten waren, zu den am besten honorierten Operationen (Königlich-württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1823; Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1830). Diese Entlohnung für eine meist nur einige Minuten dauernde Operation entsprach ungefähr dem Monatsverdienst eines Maurers (Schaller 1999: 307). Die Palmsche Blasensteinsammlung Johannes Palm bewahrte die von ihm entfernten Harnsteine auf. Die so entstandene Sammlung wurde 1864 anlässlich der Versammlung des „Württembergischen Ärztlichen Vereins“ in Ulm ausgestellt. Leider wurde sie 1944 während der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs vernichtet (Rieber 1952: 22). Dass eine Blasensteinsammlung für einen Steinoperateur auch anderen Nutzen haben konnte, bemerkte Friedrich Trendelenburg (1844–1924) im Jahre 1923: „Wie unsicher war doch damals [1873] unter Umständen die Diagnose der Blasensteine! […] Fühlte die Sonde nur ein seitliches Anstreifen an dem Stein, so war man vor

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Täuschung durch Incrustationen nicht sicher. Die alten Steinschneider nahmen bekanntlich für alle Fälle einen Blasenstein in der Tasche mit“ (Trendelenburg 1923: 321 f.). Der durchschnittliche Längsdurchmesser der Steine, die Johannes Palm entfernte, lag bei circa 3,5 cm, doch mitunter waren die Steine bis Gänseei groß. Den größten Stein der Familie Palm dürfte allerdings Wilhelm Palm geborgen haben: Er entfernte in den 1870er Jahren einen 2800 Gramm schweren Blasenstein (Hegele 1896: 165).20 Laut einem Bericht im Medizinischen Correspondenzblatt aus dem Jahr 1869 hatten die Palmschen Blasensteine folgende chemische Eigenschaften: „Ihre elementare Zusammensetzung ist fast ausnahmslos, und nur quantitativ verschieden: harnsaurer oder oxalsaurer Kern, dessen verschiedenartig gefärbte und geschichtete Hülle aus phosphorsauren oder kohlensauren Kalk- und Magnesia-Ammoniaksalzen besteht“ (Schmid 1869: 194). 17 Prozent der näher beschriebenen Steine wurden als „Maulbeersteine“ bezeichnet, diese dürften Whewellit- (also Oxalat-) Steine gewesen sein.21 Die ermittelte chemische Zusammensetzung stimmt mit Untersuchungen an Steinen anderer Steinsammlungen des 19. Jahrhunderts gut überein. Ebenso korrelieren die Altershäufung und der Frauenanteil der Palmschen Fälle mit den für Europa im 19. Jahrhundert angegebenen Zahlen und mit den heute noch in Entwicklungsländern beobachtbaren Fällen (Asper 1984: 5 f.). Wie oben angedeutet hängt die Epidemiologie der Urolithiasis stark mit der sozio-ökonomischen Entwicklung zusammen (Asper 1984: 7 f.). Schon zur Zeit von Carl Palm nahm die Urolithiasis im Ulmer Raum deutlich ab, wie aus einem Brief aus dem Jahr 1868 hervorgeht: „Seit Beginn meiner Praxis im J[ahre] 1848 bis 1868 habe ich 29 Lithotomien gemacht, mein Bruder [Wilhelm Palm] ca. 15. Die Operationen verteilen sich so ziemlich gleichmäßig auf die dazwischen liegenden Jahre. Du hast vielleicht eine größere Summe von uns erwartet; allein obgleich sowohl hier als in anderen Bezirken verschiedene Medico-Chirurgen Steinoperationen ausführten, so ist doch als sicher anzunehmen, dass die Steinkrankheit in unseren Tagen viel seltener geworden ist“ (Schmid 1869: 196 f.). Mit dem Verschwinden des Blasensteinleidens geriet auch deren Behandlung in Vergessenheit. An die klassische Lithotomie erinnert heute nur noch die sogenannte

20 Dieser Stein muss mindestens 7 x 7 x 7 cm groß gewesen sein 21 Im Nachlass der Palms findet sich ein kleines Heftchen mit der makroskopischen Beschreibung und dem Ergebnis einer qualitativen chemischen Analyse von 87 Harnsteinen (StA Ulm H Palm I – 29). Vermutlich führte Johannes Palm diese Untersuchungen selbst durch. Eine vier Seiten lange Abschrift mit dem Titel „Qualitative Untersuchung von Harnsteinen auf ihre wichtigsten Stoffe“ (StA Ulm H Palm I – 30) beschreibt die Untersuchungsschritte (Reaktion beim Ausglühen der Probe, Reaktion mit Salpetersäure, Kalilauge, Salzsäure). Das Original dieser Abschrift konnte leider nicht ausfindig gemacht werden. Es findet sich in H Palm I – 30 auch noch eine zweiseitige Abschrift mit der Überschrift „Notizen über Harnsteine. Kl[aproth]. B[erzelius]. P[rout]. Chemische Untersuchungen von Alexander Marcet.“ Diese Notizen könnten sich auf Marcet (1820) beziehen.

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„Steinschnittlagerung“, die bei manchen chirurgischen, gynäkologischen und urologischen Operationen und diagnostischen Untersuchungen angewendet wird. Auch die Geschichte der Ulmer Steinschneider ist nahezu vergessen. Johannes Palm war vermutlich einer der besten Operateure seiner Zeit, aber im Wesen der Chirurgie als Handwerk, dessen „Artefakt“ vergänglich ist, liegt seinerseits die Vergänglichkeit für den Ruhm des Chirurgen. Nach der Zerstörung der Steinsammlung 1944 erinnert nur noch ein Stein an Johannes Palm: Der verwitterte Grabstein seines hohen neogotischen Grabes auf dem alten Friedhof in Ulm (Ungericht 1980: 49 f.). (s. Abb. 4).

Abb. 4: Grabstätte Johannes Palm (Ungericht)

Literatur Asper, R. & O. Schmucki (1984) „Sozio-ökonomische Aspekte der Urolithiasis“, in Vahlensieck, W. & G. Gasser (Hrsg.) Pathogenese und Klinik der Harnsteine X, (Darmstadt: Steinkopff): 5–13. Blumhardt, N. N. (1836) „Bericht über die Versammlung des württembergischen ärztlichen Vereins in Ulm, d. 30. Mai 1836“, Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen Ärztlichen Vereins 6: 181–193. Burgdorf, W. (2006) „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“, in: D’Inka, W., Kohler, B., Nonnenmacher, G., Schirrmacher, F. & H. Steltzner (Hrsg.), Frankfurter Allgemeine Zeitung (204): 42. Coulson, W. (1853) „Appendix to the Lectures on Lithotomy and Lithotrity“, The Lancet 30: 71–75.

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Peter Kraus und Hans-Joachim Winckelmann

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Die Lithobiographie des Johannes Saubertus (1592–1646). Eine posthume Patientengeschichte Marion Maria Ruisinger Der verborgen in der Harnblase ruhende Stein wurde vor der Einführung endoskopischer, radiologischer und sonographischer Verfahren erst dann sichtbar, wenn er durch den Schnitt ans Licht gebracht wurde – sei es durch den am lebenden Patienten durchgeführten Steinschnitt, die „Lithotomie“, oder durch die Eröffnung der Harnblase beim Verstorbenen. Die Lithotomie bot die Chance einer Linderung der Beschwerden, wurde wegen ihrer Gefährlichkeit und Schmerzhaftigkeit aber nur als ultima ratio durchgeführt. Wer im Erwachsenenalter erkrankte, nahm seinen Stein zumeist mit in den Tod. Dies zumindest legt der durch Susanne Specht erhobene Befund nahe, die bei der Sichtung von 3.310 Leichenpredigten der Marburger Forschungsstelle für Personalschriften in 167 Fällen ein Steinleiden, aber nur in einem Fall einen Steinschnitt erwähnt fand.1 Auch über die Häufigkeit der posthum durchgeführten Steinextraktion lässt sich nur spekulieren. In dem genannten Konvolut von Leichenpredigten fand sich lediglich in einem Fall die Schilderung einer Obduktion,2 in einigen anderen Fällen war dem gedruckten Text jedoch ein Kupferstich beigebunden, der den Nierenoder Blasenstein des Verstorbenen porträtierte.3 Mithin muss hier eine Obduktion, oder zumindest ein gezielter Einschnitt im Nieren- bzw. Blasenbereich erfolgt sein, um den Leichnam von seinem Stein zu befreien. Durch diesen, nunmehr entleibten, Stein erhielt das Leid des Verstorbenen Gestalt, wurde das Substrat der unsichtbaren Qual für die Hinterbliebenen sicht- und fassbar. Einer dieser Steine, der Blasenstein des Johannes Saubertus, soll als Ausgangspunkt für den folgenden Beitrag dienen, in dem ich mich an einer „Lithobiographie“ versuchen will, einer Ding-Geschichte, die im Leib eines Nürnberger Predigers zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs beginnt und in einem Computertomographen der Chirurgischen Universitätsklinik Erlangen ihr (vorläufiges) Ende findet. Die Transmigration des Blasensteins durch Raum und Zeit ist mit der Zuschreibung 1 2 3

Der Nürnberger Kaufmann Paul Loersch starb 1681, nachdem er innerhalb von sieben Jahren insgesamt vier Mal am Stein geschnitten worden war (Specht 2000: 104 f.) – Ich danke EvaMaria Dickhaut für die Überlassung einer Kopie der Magisterarbeit von Susanne Specht. Dabei handelte es sich um den 1713 in Nürnberg verstorbenen Rechtsgelehrten Johann Georg Detzel (Specht 2000: 48). Kupferstiche von Nierensteinen finden sich etwa in den Leichenpredigten des Regensburger Predigers Matthias Sebastian Lang von 1691 (Specht 2000: 103) und des Johann Christoph Donauer von 1718 (Lenz & Keil 1975), Blasensteine sind bei Johannes Saubertus und dem bereits erwähnten Paul Loersch abgebildet.

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wechselnder Funktionen und Bedeutungen verbunden, wird zum Teil einer Erinnerungskultur, deren ursprüngliches Ziel es war, den einstigen Träger des Steines im Rückblick zu inszenieren.4 Der Stein Der Blasenstein des Johannes Saubertus ist auf dem Kupferstich der Leichenpredigt (Abb. 1) von zwei Textblöcken umgeben, die den Verstorbenen durch die Angabe biographischer Details und durch fromme Reflexion über sein Leiden näher kennzeichnen. Hier steht zu lesen: „Abbildung des Steins, so von dem Ehrwürdigen Acht / barn und Wolgelehrten Herrn M. Iohanne Sauberto, wol- / verdienten Prediger bey St. Sebald, Antistite Ministerij Eccle- / siastici und Bibliothecario. b. m. nach dem todt auß der Harn- / blaßen also ligend geschnitten worden den 3 Nov. Ao. 1646.“

Und etwas weiter unten, links und rechts von der Abbildung des Steins: „20 Loth schwehr / ponderis civilis“

Abb. 1: Kupferstich aus der Leichenpredigt auf Johannes Saubertus (Weber 1647)

4

Der Saubert’sche Blasenstein verfolgt mich bereits etliche Jahre. Erste Forschungsergebnisse sind erwähnt in Ruisinger (2007b); eine „dreidimensionale“ Publikation erfuhr der Stein im Modul „Sieben Dinge“ der Sonderausstellung „Ausgepackt. Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg“ (Ruisinger 2007a: 271). In Folge der dadurch entstehenden Kooperation mit dem Museum der Natur in Gotha entstand ein Aufsatz für das Jahrbuch des Hauses (Ruisinger 2008b), auf dem der vorliegende Beitrag in wesentlichen Teilen beruht.

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Demnach war Johannes Saubertus Prediger zu St. Sebald, der Pfarrkirche am Fuße des Nürnberger Burgfelsens. Ein Blick in die gängigen Nachschlagewerke verrät, dass er, bevor er 1637 diese renommierte Predigerstelle antrat, eine Professur an der Nürnberger Universität in Altdorf inne hatte. Dort war es üblich, von den Professoren der Universität nach ihrem Ableben ein Ölporträt anfertigen zu lassen. 25 dieser „Altdorfer Professorenporträts“ werden heute in der Gemäldesammlung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg aufbewahrt – darunter auch das Porträt des Saubertus (Abb. 2).

Abb. 2: Ölgemälde, 1646 (?), 66 x 54 cm, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg [im Folgenden UBE], Kunst Inv. 395

Die Zuordnung des Dargestellten ist durch die Schriftzeile auf dem Gemälde zweifelsfrei möglich: „H[err] M[agister] Johannes Saubertus / Prediger zu St. Sebald, ward geborn / A[nno] 1592. Starb A[nno] 1646. / Seines Alters 54 Jahr“. Diesen unspektakulären biographischen Angaben folgt eine weitere Zeile: „Mehr übel als wo[h]l“ steht hier zu lesen. Darunter hatte der Maler drei Kreuze arrangiert, die mit den Worten „Lauter Creutz“ überschrieben sind. Die Kreuze selbst tragen die Inschrift „Im Haus“ und „Im Ambt“. Als Privatmann und als Pfarrer hatte der Verstorbene, so die Botschaft des Porträts, schwer an seinem Schicksal zu tragen. Ist diese dem Porträt beigefügte Kombination aus biographischem Text und Kreuzsymbolik schon ungewöhnlich, so mutet ein weiteres Detail des Gemäldes geradezu kurios

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an: Der Maler hatte Saubert einen kartoffelartigen Gegenstand in die rechte Hand gelegt – seinen Blasenstein, überschrieben mit den Worten „20 Loth schwer“. Der Blasenstein des Nürnberger Predigers wurde nicht nur in der Leichenpredigt und im Professorenporträt festgehalten, er fand auch Eingang in zeitgenössische ärztliche Praxisaufzeichnungen. In der mehrbändigen handschriftlichen Fallsammlung des Nürnberger Arztes Johann Georg Fabricius (1593–1668) finden sich gleich zwei Abbildungen des Steins: Im ersten Band ist eine flächig kolorierte und säuberlich ausgeschnittene Abbildung des Blasensteins eingeklebt, und dem ehemals dritten Band ist ein Blatt mit einer sorgfältig ausgeführten, aquarellierten Zeichnung des Steins beigelegt (Abb. 3). Letztere trägt folgenden erläuternden Text: „Ein solcher Stein, von dergleichen Form, Farb, Dicke und Länge, ist aus des Ehrwürdig- und Hochgelahrten, HE[rrn] M[agister] Johannis Sauberti, Prediger zu S. Sebald in Nürmberg […] Harnblasen, Dienstags den 3/13. Novembris dieses 1636. Jahrs, als Er zuvor Montags den 2/12. eiusd. seeligen todes […], geschnitten worden. / Und hat dieser Stein gewogen 20 ganzer Loth, ponderis civilis.“5

Darunter gibt ein waagerecht gezogener Tuschestrich die Originallänge des Steins wieder.

Abb. 3: Kolorierte Zeichnung, eingelegt in den 3. Bd. der Fallsammlung des Johann Georg Fabricius, UBE, Ms. 948 [2].

Die multimediale Verewigung des Saubert’schen Blasensteins, der in Kupfer gestochen, in Öl gemalt und auf Papier getuscht wurde, den man vermessen, abgewogen und maßstabgerecht wiedergegeben hatte, imponiert als bemerkenswerter Befund. 5

Handschriftliche Fallsammlung des Johann Georg Fabricius, Universitätsbibliothek ErlangenNürnberg, Bd. 3 (Sign. Ms. 948 [2]).

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Was machte dieses Produkt eines damals recht häufigen, wenn auch für den Betroffenen ausgesprochen leidvollen, Sedimentationsprozesses in den abführenden Harn­wegen so bedeutungsvoll? Wer war dieser Saubertus, und welches Ziel konnte man mit der posthumen Verewigung seines Steins verfolgt haben? Sein Träger In wissenschaftlichen Publikationen des 19. und 20. Jahrhunderts finden sich Hinweise auf Johannes Saubert v. a. in kirchengeschichtlichen Arbeiten6 und im Bereich der Norica-Forschung.7 In der Zusammenschau dieser Quellen lässt sich Saubert als engagierter Lutheraner charakterisieren, der sich vor dem Hintergrund der Religionsstreitigkeiten des Dreißigjährigen Krieges weniger gegen die Vertreter der Katholischen Kirche wandte, sondern vielmehr durch die Förderung einer strengen Kirchenzucht eine Reform in den eigenen Reihen vorantreiben wollte. Daher gilt er vielen Kirchenhistorikern auch als „Wegbereiter des Pietismus“(Wölfel 1991: 177). Als führender Nürnberger Theologe seiner Zeit distanzierte er sich scharf von einer anderen, ebenfalls in Nürnberg vertretenen Richtung des Protestantismus, den sogenannten „Weigelianern“, die Kritik an der kirchlichen Institution als solcher übten (Brecht 1993: 179). Saubert führte eine rege Korrespondenz, die ihn weit über die Grenzen der freien Reichsstadt hinaus mit gelehrten und gekrönten Häuptern vernetzte. So etwa mit dem Theologen Salomon Lentz (1584–1647) in Regensburg (Wölfel 1991), mit Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666) und, was in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, mit Herzog Ernst dem Frommen von Sachsen-Gotha (1601–1675). Saubert war an dessen Bibelwerk beteiligt (Koch 2002: 53, 56, 354 f.), das durch seinen Anspruch, einen allgemeinverständlichen Kommentar des biblischen Textes vorzulegen, seinen eigenen Intentionen entgegenkam. Auch Saubert war bemüht, komplexe biblische Inhalte in eine verständliche Form zu gießen. Er entwickelte eine bildhafte Predigtsprache, in der er die Heilige Schrift mit dem „Buch der Natur“ verband (Steiger 1997: 90). In seinen Publikationen integrierte er als drittes Element die Visualisierung der von ihm formulierten Naturgleichnisse, die er von Kupferstechern in eine leicht eingängige Bildsprache übersetzen ließ. Durch die Veröffentlichung dieser Verbindung von Bild und Text in Form von Flugblättern, die einen breiten Adressatenkreis erreichten, betrieb er die Popularisierung seiner theologischen Anliegen (Timmermann 1983). Doch Saubert ging nicht nur als Autor, sondern auch als Bewahrer und Bearbeiter historischer Werke in die Geschichte ein. Mit der Übernahme der Predigerstelle bei St. Sebald war nämlich auch die Leitung der Nürnberger Ratsbibliothek verbunden. Sieben Jahre später, 1643, publizierte Saubert die erste gedruckte Geschichte 6 7

Vgl. u.a. Tholuck 1859: 344–355, Leube 1924: 97–100, Braun 1931, Dülmen 1970, Jöns 1972, Leder 1973: 185–189, 200–202, Wölfel 1991: 217, Brecht 1993: 177, Steiger 1997: 90–92. Vgl. u.a. (Ranner 1821: 5–25, Brombierstäudl 1953, Goldmann 1958: 18–20).

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der Nürnberger Bibliothek. Als Anhang fügte er diesem Werk ein Verzeichnis aller gedruckten Bücher des Bibliotheksbestandes bei, die bis zum Jahr 1500 erschienen waren. Damit hatte Saubert die noch heute übliche Bezeichnung dieser frühen Drucke als „Inkunabeln“ oder „Wiegendrucke“ geprägt (Goldmann 1958: 18 f.) und den weltweit ersten Inkunabelkatalog geschaffen. Zu Sauberts Aufgabe gehörte es auch, auswärtige Besucher durch die Bibliothek zu führen und ihnen Einblick in die dort aufgestellten Schränke zu gewähren. Darin fanden sich nicht nur Bücher, sondern auch Naturalia, Artificialia und wissenschaftliche Instrumente, denn die Bibliothek beherbergte auch die Kunst- und Wunderkammer des Nürnberger Rats. Für die Gelehrten und Mächtigen stellten solche Kabinette seit der Renaissance ein wichtiges Element der Selbstinszenierung dar. Im frühen 19. Jahrhundert war von diesem ersten „Museum“ Nürnbergs noch eine ganze Reihe von Objekten erhalten. In Gottfried Christoph Ranners Aufstellung von 1821 findet sich etwa „ein junger Hayfisch“, „zwey Schaalen der grössern und kleinern Riesen-Schildkröte“, der „sogenannte mexicanische Abgott Vitziliputzli“, ein „Behälter mit mathematischen Instrumenten“ und „D. Martin Luthers Käppchen von schwarzem Atlas“ (Ranner 1821: 21 f.). Durch diese, wenn auch sehr gerafft dargestellte, Sichtung der Forschungslage wird Johannes Saubertus im Kontext der lutherischen Orthodoxie der Reformationszeit, aber auch im Kontext des Sammelns, Verzeichnens und Ordnens der Dinge greifbar. Über den „Patienten“ Saubertus und das weitere Schicksal seines Blasensteins verrät die Forschungsliteratur allerdings nur sehr wenig. Die Autoren beschränken sich in der Regel auf den Hinweis, dass Saubert einem Steinleiden erlegen sei. Dagegen lässt die gedruckte Leichenpredigt das Leiden des Verstorbenen nachvollziehbar werden: „Der liebe Gott hat Jhn hart angegriffen an seinem Leibe mit mancherley schmetzlichen Zufällen, sonderlich mit dem Stein und Podagra, daß er offtmals, wie ein armer Wurm, gelegen, und sich wohl in etlich Tag und Nächten nicht einmal verwenden können, wer dieses nicht glauben wolte, den würde der Stein überzeugen, welcher zwanzig Lot schwer auß seiner Blasen geschnitten worden. Nichts desto weniger hat ers für eine geringe Züchtigung gehalten, und alles mit höchster Gedult erlitten. Wie jhn aber solche Schmertzen zugerichtet haben, das ist an den heiligen Sontagen zu sehen gewest, wann er seine Cantzel bestiegen, welches ja mit solchem Zittern geschehen, daß man befürchtet, er würde ungefallen nicht herabkommen. Es ist auch zu sehen gewest an seinem elenden Gang, sintemaler gleichsam krum und sehr gebucket dahergegangen. […]“ (Weber 1647: 16).

An keiner Stelle in der Leichenpredigt wird die Möglichkeit einer Operation angesprochen. Dabei kannte man damals bereits mehrere Arten des Steinschnitts, allen voran die seit der Antike praktizierte „Manier mit der kleinen Gerätschaft“, für die lediglich ein Messer benötigt wurde, die sich aber nur für Kinder oder sehr zierliche Erwachsene eignete, sowie die 1535 von Mariano Santo beschriebene „Manier mit der großen Gerätschaft“ (Santo 1535), die den Steinschnitt erstmals auch bei Erwachsenen ermöglichte, für die aber ein umfangreiches Instrumentarium ange-

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schafft werden musste.8 Sehr große Steine, wie der des Saubertus, konnten allerdings nicht im Ganzen entfernt werden. Sie zerkleinerte der Wundarzt zuerst mit Hilfe der Steinschnittzange, um die Bruchstücke dann einzeln zu entfernen. Dieses Procedere erhöhte die Dauer, den Schmerz und das Risiko des Steinschnitts. Deshalb rieten die Wundärzte den Steinkranken zu einer frühzeitigen Operation, solange die Steine noch klein und sie bei Kräften waren. Saubert hatte sich offenbar gegen die Lithotomie entschieden, oder er hatte zumindest den dafür geeigneten Zeitpunkt verstreichen lassen. Er nahm den Stein mit in den Tod – aber nicht mit in das Grab. Am Tag nach seinem Tod wurde ihm der Stein aus der Harnblase geschnitten. Wer die Leicheneröffnung veranlasste und wer sie durchführte, ist nicht bekannt. Das hier anklingende Phänomen der nichtforensischen, zumeist häuslichen Obduktion wurde von der medizinhistorischen Forschung bislang kaum beachtet, die sich vorwiegend der Geschichte der anatomisch-pathologischen Sektion oder der forensischen Autopsie zugewandt hat.9 Fallbeispiele aus anderen, patientennahen Textgattungen wie Tagebüchern oder Konsiliarkorrespondenzen10 bestätigen jedoch den durch die Leichenpredigten erhaltenen Eindruck, dass die Leichenöffnung im Auftrag der Hinterbliebenen zumindest im 17. und 18. Jahrhundert eine gesellschaftlich akzeptierte Praxis war – ganz im Gegensatz zur anatomischen Zergliederung, die üblicherweise an den Leichnamen von Selbstmördern oder Hingerichteten ausgeführt und als massive soziale Degradierung empfunden wurde.11 Auch bei Saubertus wurde eine solche Leichenöffnung vorgenommen und sein Blasenstein, wie wir gesehen haben, in unterschiedlichen Medien verewigt. Doch was geschah mit dem Original? Transmigration Zwölf Jahre nach Sauberts Tod wird sein Stein wieder aktenkundig. Damals, im August 1658, begab sich ein denkwürdiges Ereignis für die Nürnberger, als Kaiser Leopold I. (1640–1705) auf der Rückreise von seiner Krönung im Frankfurter Dom durch Nürnberg kam. Johann Michael Dilherr (1604–1669), Sauberts Nachfolger im Amt, gab dem Kaiser eine Führung durch die Ratsbibliothek, von der er später berichtete: „Hierauff besahen Ihro Durchlaucht den Hortum Eichstaettensem […] und den Kalter oder Schrank, mit etlichen particulis Anatomicis, Craniis humanis, calculis, &c., und fragten Ihro Majestät von allem genau, die ich meistentheils Latine, weil Sie selbsten viel Latein mit beimengten, beantwortet, welches Sie auf Italiänisch dem Spanischen Anbassadeur alsobald wie8 9

Zum Stand der Lithotomie-Techniken im frühen 18. Jh. s. Ruisinger (2004). Zu den frühen anatomisch-pathologischen Sektionen vgl. Michler (1967:  13–26). Zur Geschichte der gerichtsmedizinischen Obduktion s. Fischer-Homberger (1983), Lorenz (1999), Stukenbrock (2001: 145–148). 10 Hinweise auf private Leichenöffnungen in frühneuzeitlichen Quellen werden thematisiert bei Jütte (1991: 117 f.) und Ruisinger (2008a: 207–210). 11 Zur Sozialgeschichte der Anatomie im 18. Jh. vgl. Stukenbrock (2001).

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Marion Maria Ruisinger derholten, und den anwesenden Medicum herbey rieffen, und sagten: Diß sind Sachen eures Handwercks. […] Bey Bezeigung des 20.löthigen calculi vesicae Herrn Sauberti, und eines andern in der Extraction zerbrochenen calculi, (welche beyde Ihro Majestät in Ihro Hände nahmen) […]“.12

Der Ausführlichkeit, mit der Dilherr seine Begegnung mit dem Kaiser schilderte, ist es zu verdanken, dass er dabei auch die Objekte, die dieser in seine Hand zu nehmen geruhte, einzeln erwähnte. Auf diese Weise erfahren wir, dass im August 1658 Sauberts Blasenstein im Anatomischen Kabinett der Nürnberger Ratsbibliothek aufbewahrt wurde (Abb. 4), quasi als „Gedenkstein“ für ihren früheren Leiter.

Abb. 4: Bibliothek und Sammlung des Nürnberger Rats, Kupferstich aus (Leibnitz 1674), Exemplar UBE, Sign. Trew T 526.

Dies wird dadurch bestätigt, dass auch Johann Jacob Leibnitz, der 1674 ein Büchlein über die Sammlungen der Ratsbibliothek veröffentlichte, seine imaginären Besucher vor den Blasenstein des Saubertus führte: „videbitis non calculum, sed saxum ingens, è vesica quondam Magni nostri Sauberti excisum;“ (werdet ihr nicht einen kleinen Stein, sondern einen gewaltigen Felsblock sehen, der einst aus der Blase unseres großen Saubertus herausgeschnitten wurde) (Leibniz 1674: 16). Bei Recherchen in der Literatur des 18. Jahrhunderts nimmt die Spur des Saubert’schen Steins eine überraschende, neue Wendung: In Georg Andreas Wills 12 Dilherrs Bericht wurde mehrmals veröffentlicht, u. a. bei Schudt (1717: 119), aus dem das vorliegende Zitat entnommen wurde.

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1756 erschienenem „Nürnbergischen Gelehrten-Lexicon“ steht bei dem Eintrag zu Johannes Saubertus zu lesen: „Nachdem er lange mit dem Podagra und den Steinschmerzen gekämpfet; wie denn auch nach dem Tod ein 20lötiger Blasenstein von ihm genommen worden, von dem in der Nürnb[erger] Stadtbibliothek das Modell aus Wachs, in der herzogl[ich] Gothaischen Kunstkammer aber das Original aufbewahret wird“ (Will 1756: 459).

Sollte der Stein also nicht nur als Ölbild, Kupferstich und Zeichnung festgehalten, sondern auch als dreidimensionales Wachsbild abgeformt worden sein? Warum lokalisiert Will das Original nun in Gotha, während wir es bislang in Nürnberg vermuteten? Hatte man die Wachskopie angefertigt, um das Original nach Gotha transferieren zu können, ohne sich in der Reichsstadt ganz von dieser letzten Erinnerung an Saubert trennen zu müssen? Wer hat die Kopie in Auftrag gegeben, und wer hat sie angefertigt? War das Original als Geschenk des Nürnberger Rats nach Gotha transferiert worden? Oder hatte Ernst der Fromme den Stein von der Freien Reichsstadt erbeten, um ihn als Erinnerung an den von ihm geschätzten Theologen in die Kunst- und Wunderkammer einzugliedern, die er in den 1650er Jahren einrichten ließ? Fragen über Fragen. Und natürlich die spannendste Frage: Befindet sich der Stein heute noch in Gotha? Eine entsprechende Anfrage in Gotha war von Erfolg gekrönt. Das Thüringische Staatsarchiv auf Schloss Friedenstein bestätigte, dass der Blasenstein des Johannes Saubertus in den Sammlungsinventaren der Jahre 1656 und 1659 gelistet sei. Fotografien des Blasensteines, der inzwischen zum Magazinbestand des Museums der Natur gehörte, stimmten sowohl hinsichtlich des äußeren Aspektes als auch der physikalischen Kenngrößen (Gewicht 318g, Länge 92 mm) mit den historischen Angaben überein (Abb. 5). Das aufgeklebte Papieretikett mit dem Großbuchstaben „A“ verwies zudem in die Frühzeit der Gothaischen Sammlung. Die Dingbiographie des Saubert’schen Blasensteins war in der Gegenwart angekommen, der Fall schien „abgeschlossen“.

Abb. 5: Stein, Museum der Natur, Gotha.

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Doch die Geschichte geht noch weiter: Im Sommer 2007 wurde der Stein als Leihgabe in einer Ausstellung in Erlangen gezeigt (Andraschke & Ruisinger 2007) und anschließend in der Chirurgischen Universitätsklinik Erlangen einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Dabei zeigte sich ein verblüffender Befund: Bei der orientierenden Durchleuchtung zeichnete sich im Inneren des Steins ein länglicher, kräftig ausgeprägter, deutlich strahlendichterer Gegenstand ab (Abb. 6).

Abb. 5: Röntgenaufnahme, Universitätsklinikum Erlangen 2007.

Um mehr Informationen über die Form und die Materialdichte dieses Gegenstandes zu erhalten, wurde der Stein anschließend im Computertomographen untersucht. Die hochauflösende Darstellung zeigte einen stabförmigen Gegenstand, der höchst wahrscheinlich aus Metall besteht, wie die an seiner Oberfläche auftretenden Strahlenartefakte und seine hohe Dichte nahe legen. Ein Metallstab von diesem Umfang konnte unmöglich auf natürlichem Wege in die Harnblase gelangen. Andererseits hätte Saubert eine Verletzung, bei der ein derartig massiver Metallfremdkörper eingedrungen sein konnte, wohl kaum überlebt. Und falls doch, dann wäre die Tatsache, dass er diese lebensgefährliche Verletzung überlebt hatte, sicherlich in der Leichenpredigt oder an anderer Stelle erwähnt worden. Durch die Röntgenuntersuchung konnte der Blasenstein des Johannes Saubertus, der in Gotha aufbewahrt wird, als das von Will 1756 erwähnte Wachsmodell identifiziert werden, das ihm zufolge eigentlich in Nürnberg sein müsste. Ob Will hier irrte, oder ob die Vertauschung des Steines mit seinem wächsernen Abbild erst später erfolgte, lässt sich nicht sagen. Tatsache ist aber, dass der Stein des Saubertus offensichtlich als so bedeutsam angesehen wurde, dass man sich die Mühe machte, eine Kopie anfertigen lassen, die dem Original in jeder Hinsicht täuschend ähnlich war – nicht nur in Hinblick auf die äußere Form und die Farbgebung, sondern auch in Hinblick auf das Gewicht, das bei allen Erwähnungen des Steins eine so große Rolle gespielt hatte. Durch den Metallkern liegt das leichte Wachsmodell so schwer in der Hand, dass alle Beteiligten sich haben täuschen lassen.

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Vor dem Hintergrund dieses Verdachtes wurden die Einträge in den Gothaer Sammlungskatalogen kritisch überprüft. Die Formulierungen „Abtruck des steins so in Err Sauberti Blasen gefunden worden“ bzw., drei Jahre später, „Blaßenstein wie er bey Errn Sauberto Predigern zu Nürnberg gefunden worden“13 könnten allerdings darauf hinweisen, dass es sich dabei von Anfang an nur um einen Wachsabdruck gehandelt hatte. Mit der Mutation des Blasensteins zu einem Wachsobjekt ist die bereits als gelöst gewähnte Frage nach dem Schicksal des Blasensteines des Johannes Saubertus nun wieder offen. Lediglich in Bezug auf den ungewöhnlichen Befund, dass ein Blasenstein soviel Aufmerksamkeit erhielt, dass man ihn sogar einer physikalisch korrekten Kopie würdigte, lassen sich Vermutungen anstellen. Inszenierung Auf dem Altdorfer Professorenporträt hält Saubert den Stein in seiner Rechten und weist mit der Linken gen Himmel. In eben dieser Haltung ließ er sich auch auf den Titelkupfern zu seinen zahlreichen Werken abbilden, allerdings mit der Bibel in der Hand (Abb. 7).

Abb. 7: Kupferstich des Johannes Saubertus, UBE, Portr. A, Saubert, Johannes I. 13 Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Geheimes Archiv yy VIII a Nr. 2/9 bzw. 2/11.

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Dass er auf dem Porträt, das ihn für die Nachwelt festhalten sollte, nun seinen Blasenstein präsentiert, verweist auf dessen starke symbolische Aufladung, durch die sich das profane Harnkonkrement zum Substrat göttlichen Wirkens gewandelt hatte. Mit dem Stein hält der Verstorbene nicht länger nur das Wort, sondern das Werkzeug Gottes in der Hand und erfährt als Objekt göttlichen Wirkens selbst eine metaphysische Erhöhung. Diese starke Bildsprache, die einem Naturprodukt transzendentale Bedeutung zuweist, ist ganz im Saubert’schen Sinne. In seiner bildhaften Predigtsprache und seinen bebilderten Flugblättern zog er immer wieder Parallelen zwischen der Bibel und der Natur, zwischen dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift und dem Wirken Gottes in seiner Schöpfung.14 Nicht zufällig erinnert die Bildkomposition an die aus der katholischen Kirche vertrauten Darstellungen der Heiligen, die das Werkzeug ihres Martyriums präsentieren. Auch Saubert präsentiert ein Ding, das seinen Leib zu Lebzeiten gequält hat. Doch seine Qual wurde ihm nicht von Menschenhand zugefügt, sondern vom Herrn gesandt – und, daran lässt der Vers, den Dilherr dem Kupferstich in der Leichenpredigt anfügte, keinen Zweifel, von dem so Geprüften geduldig ertragen: „Sieh an den Schmertzenstein, den dieses Hiobs-Hertz so lang getragen hat. Doch kunnt all’ dieser Schmerz des frommen Herrns Gedult mit nichten überwinden: Er ließ sich williglich bey Gottes willen finden. War groß der Schmerz; so war noch grösser die Gedult. Daher ER stetig blieb in Gotts Vatter-huld.“

Diese Zeilen rücken Saubert in die Nähe Hiobs, des im Glauben starken Dulders. Dass der Saubert’sche Freundeskreis diese Lesart forcierte, muss auch vor dem Hintergrund der Konflikte innerhalb des protestantischen Lagers gesehen werden. Die bereits erwähnten „Weigelianer“, mit denen sich Saubert sehr kritisch auseinandersetzte, mochten ihrerseits wohl ihre Zweifel an dem körperlichen Leid geäußert haben, das Saubert zu tragen hatte. Nicht zuletzt ist das „Steinporträt“ daher auch ein letztes, schlagendes Argument in Sauberts Auseinandersetzung mit seinen Widersachern. Hier wird der Blasenstein zum Beweis göttlichen Wirkens und menschlicher Glaubensgröße, zum Gedenkstein auf den Verstorbenen. Oder, wie Michael Weber es in seiner Leichenpredigt formulierte: „[…] wer dieses nicht glauben wolte, den würde der Stein überzeugen, welcher zwantzig Lot schwer auß seiner Blasen geschnitten worden“ (Weber 1647: 16). Literatur Andraschke, Udo & Marion Maria Ruisinger (Hrsg.) (2007) Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg (Nürnberg: Tümmels). Braun, Karl (1931) „Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert und die Augsburger Konfession“, Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 6: 1–24; 74–86; 145–164. 14 Vgl. hierzu Timmermann, die in ihrer 1984 publizierten Studie über „Die illustrierten Flugblätter des Nürnberger Predigers Johann Saubert“ dezidiert auf den in die Leichenpredigt eingebundenen Einblattdruck des Blasensteins eingeht, hier S. 131 f.

Die Lithobiographie des Johannes Saubertus

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Hans-Klaus Keul / Matthis Krischel (Hg.)

Deszendenztheorie und Darwinismus in den Wissenschaften vom Menschen Kulturanamnesen – Band 1

2011. 141 Seiten mit 11 Abbildungen. Kart. ISBN 978-3-515-09921-9

Wie läßt sich Darwins Evolutionstheorie im Kontext der Kultur der Moderne verorten? Die Beiträger dieses Bandes widmen sich der Geschichte und Bedeutung der Evolutions­theorie für die Humanwissenschaften, da hier Aspekte der natur- und kulturwissenschaftlichen Entwicklungslehre miteinander verschränkt auftreten. Aus unterschiedlichen Perspektiven, etwa der Evolutionsbiologie, der Philosophischen Anthropologie und Moralphilosophie, der Psychologie, der Ethnologie und der Theologie, erläutern die Autoren Facetten des evolutionären Konzepts. Doch geht es ihnen nicht um die Eröffnung einer einheitlichen Perspektive auf die Entwicklung des Menschen; wohl aber bieten die Beiträge gemeinsam mit einer Themenvielfalt auch eine Methodenvielfalt an und reflektieren kritisch auch die Grenzen der jeweiligen Fachgebiete. .............................................................................

Die Herausgeber Hans-Klaus Keul studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie an der Universität Tübingen. Er promovierte im Fach Philosophie. Als DAAD-Dozent war er in Sofia, Bukarest und Cluj tätig. An der Universität Ulm koordiniert er das Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium und den Bereich für additive Schlüsselqualifikationen. Matthis Krischel studierte Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin, Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Wissenschaftsgeschichte an der University of Oklahoma. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm. Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de

die (re-)Präsentation des unsichtbaren stellt

nach einigen theoretischen Vorüberlegungen

ein klassisches Problem der Medizin dar, das

werden in diesem Band darstellungsformen

bis heute nicht an anziehungskraft verloren

von Harnsteinen, die Bedingungen ihrer Sicht-

hat. aus historischer Perspektive lautet dabei

barmachung und entfernung sowie zuletzt ihre

eine der zentralen Fragen, inwiefern sich

repräsentationsformen im therapeutischen

Produktion und darstellung medizinischer

Kontext behandelt. auf diese Weise wird die

erkenntnis wechselseitig durchdringen. gera-

Vielfalt der ansätze zur Bildgenerierung und

de die urologische Technik, die zu den ersten

die Macht der Bildproduktion an einem bisher

medizinischen gegenstandsbereichen zählt,

in diesem Zusammenhang wenig beachteten

die das unanschauliche anschaulich gemacht

pathologischen Objekt, den Harnsteinen und

haben, bietet sich hier als untersuchungs-

ihrer versinnlichten anschauung, in augen-

feld an.

schein genommen und diskutiert.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10034-2