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German Pages 402 [404] Year 2017
Katharina Philipowski Die Gestalt des Unsichtbaren
Hermaea
Germanistische Forschungen Neue Folge
Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller
Band 131
Katharina Philipowski
Die Gestalt des Unsichtbaren Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Literatur
ISBN 978-3-11-029978-6 e-ISBN 978-3-11-030263-9 ISSN 0440-7164
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einführung 1 Körper und Präsenz in der germanistischen Mediävistik 1 Defizite der Präsenzdebatte 7 Erkenntnisinteresse 14 Exkurs: Die Blutstropfen-Episode in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ 19 Kulturhistorische Kontextualisierung 24 Gegenstandsbereich/Textgrundlage/Forschungsstand 26 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.4 1.4.1 1.4.2
35 Das göttliche Innere: anima/Seele Das zeitgenössische Wissen über die Seele 35 Antike Quellen der Seelenlehren im 12. Jahrhundert: Platonismus und Neuplatonismus 39 Christliche Anthropologie: Die Seele in der Patristik 42 Augustin 45 Die Theologie des 12. Jahrhunderts: Die Seele als Verbindung mit Gott 52 Das ›Schulbuch‹ der mittelalterlichen Seelenlehre: ›De spiritu et anima‹ 56 Zur Rezeption von ›De spiritu et anima‹: Thomasins von Zerclære ›Der Wälsche Gast‹ 60 Zwischenresümee 66
2 2.1 2.2
Die sêle in der höfischen Literatur muot/sin 81 geist 89 Zwischenresümee 92
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1
95 Der Körper im Körper: Das herze herze als Ort der Reflexion und des Willens 97 herze als Ort der Affekte 101 herze als Körperorgan: des »herzen verch« 103 Verselbständigungen von herze und lîp 115 Wessen Herz ist das herze? Wer ist ›ich‹? Zuschreibungsproblematiken 119 Das Wohnen im herzen 130 herz-Tausch 138
3.5 3.6
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VI 4 4.1 4.1.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.3 6.4
Inhalt
Die Gestalt des Ungegenständlichen im Tropus 151 Die vestimentäre Metaphorik von ›Körper‹ und ›Kleid‹ 151 Die Kleider der Wahrheit: Die Relation von Innen und Außen als poetologisches Paradigma 170 permixta allegoria 176 ›Psychomachia‹ 177 ›Rosenroman‹ 186 Architekturallegoresen: tota allegoria 206 Minnegrotte 215 Gralstempel 225 237 Brüche und Übereinstimmungen zwischen Innen und Außen Die Diskrepanz zwischen Innen und Außen: Täuschung, List und Betrug 261 Heimlichkeit: Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹ 273 Der Verlust der Königin 278 Die Tugendprobe: Visualisierung der Abgründe des Hofes 285 Die Lesbarkeit höfischer Körper 292 Exkurs: Die Diskrepanz von Innen und Außen in der Minneklage 303 Zwischenresümee 308 Erzählte Emotionen, fingierte Innerlichkeit: Die ›Innerlichkeit‹ von Emotionen in fiktionalen Erzähltexten 313 Was repräsentiert eine erzählte Emotion? 315 Körperliche Repräsentation 319 Sprachliche Repräsentation 320 Narrative Repräsentation 321 Menschen und Figuren – Facta und Ficta 331 Konsequenzen für die Interpretation 342 Narrative Innenraumerzeugung am Beispiel der Scham 355 Resümee
369
Verzeichnis der verwendeten Literatur Primärliteratur 377 Sekundärliteratur 380 Register
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Für Mathilda, meine kleine Morgenröte
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2005 von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift angenommen. 2010 habe ich sie grundlegend überarbeitet. Wichtige Anregungen dazu entstammen den Gutachten von Susanne Köbele, Hartmut Kugler und Bruno Quast, denen ich für ihre konstruktive Kritik danke. Darüber hinaus sind in die Arbeit zahlreiche Impulse und Hinweise vieler Kollegen und Freunde eingegangen, unter denen namentlich nur genannt seien Sonja Glauch, Bob Göhler, Jacob Klingner, Norbert Kössinger, Florian Kragl, Ludger Lieb, Kay Malcher, Jens Pfeiffer, Björn Reich und Antje Sablotny. Finanziell wurde die Arbeit in den Jahren 2002–2005 großzügig gefördert durch den Bayerischen Habilitationsförderpreis, der vom Bayerischen Staatsministerium verliehen wurde und das Hochschulsonderprogramm zur Förderung des exzellenten wissenschaftlichen Nachwuchses. Auch hierfür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Ich danke auch den beiden Herausgebern der HERMAEA, Christine Lubkoll und Stephan Müller, für die Aufnahme in ihre Reihe und dem Verlag für die zuverlässige und freundliche Betreuung der Drucklegung.
Einführung Körper und Präsenz in der germanistischen Mediävistik In den vergangenen Jahren ist in den Geistes-, Kultur- und Literaturwissenschaften viel und gerne über ›den Körper‹ und seine Präsenz gesprochen und geschrieben worden. Deutlich ist zu erkennen, dass »die literarische Signifikanz des Körpers, die lange Zeit in der literaturhistorischen Diskussion wenig beachtet worden ist, in den letzten Jahren […] – in den Fragenkomplexen Sexualität, weiblicher Körper und Repräsentationssysteme des Körpers – ganz neue Dimensionen gewonnen hat.«¹ Auch die germanistische Mediävistik hat sich mit zahlreichen Publikationen und der Ausbildung neuer Forschungszweige an der Diskussion um den Körper beteiligt:² Dabei wurde ein Konsens darüber gebildet, dass Körperlichkeit, Sichtbarkeit und Materialität³ Merkmale der spezifischen Poetik mittelalterlicher höfischer Literatur sind.⁴ Der Körper fungiere als der »primäre Träger höfischer Kommunikation.«⁵ Horst Wenzel hat gezeigt, dass »höfische Sozialisation den Vorrang des Auges erfordert,«⁶ weil »der gesteigerte Zwang zur Statusdemonstration […] zusätzliche Anstrengungen bei der Verhaltensmodellierung verlangt.
1 Ursula Peters: Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, 2 Bd. Hrsg. von Johannes Janota u.a. Tübingen 1992, S. 63–86, hier S. 67. 2 Vgl. den Forschungsüberblick zur historischen Anthropologie von Christian Kiening: Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven. In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik Bd. 5/1 (1996). Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe C), S. 11–129. 3 Vgl. zu diesem Begriff den Band Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1988. (stw 750) 4 Joachim Bumke: Höfische Körper – höfische Kultur. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a.M. 1994, S. 67–102; Elke Brüggen: Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs ›Parzival‹. In: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996 (Berichtsbände, Germanistische Symposien 17), S. 205–221; Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996. (Philologische Studien und Quellen 141) 5 Franziska Wenzel: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems ›Willehalm von Orlens‹. Frankfurt a.M. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 42. 6 Horst Wenzel: Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur. In: Materialität der Kommunikation, S. 178–202, hier S. 182.
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Einführung
So wird das Auge zum Garanten der sozialen Orientierung im Zeichensystem einer zunehmend raffinierter werdenden Kommunikation der Körper.«⁷ Körperlichkeit ist immer und notwendig korreliert mit der Anwesenheit, der Gegenwart oder Präsenz von Körpern. Dadurch, dass »das Sehen und Hören, die Augen und Ohren […] den Wahrnehmungsraum konstituieren, in dem sich die feudale Herrschaft öffentlich behaupten muß, optische und akustische Wahrnehmbarkeit […] deshalb für die literarische Demonstration von gesellschaftlichem Vorrang eine entscheidende Dimension bleiben,«⁸ wird »Sichtbarkeit [zum] Machteffekt.«⁹ Ungegenständliches muss deshalb gerade in der öffentlichen politischen Kommunikation des Mittelalters gegenständlich und sichtbar werden, um Geltung beanspruchen zu können. Vor allem der Historiker Gerd Althoff hat in der öffentlichen Kommunikation der Herrschaftsträger Strategien nachgewiesen, die zum Ziel haben, Präsenz zu inszenieren und zu demonstrieren. In Bezug auf diese Strategien ist davon gesprochen worden, dass »das Mittelalter sich von anderen geschichtlichen Epochen durch das Vermögen unterscheidet, Unsichtbares in Sichtbares einzukleiden und im Sichtbaren Unsichtbares aufzuspüren.«¹⁰ Aufgrund dieses Vermögens (beziehungsweise der Notwendigkeit), das Unsichtbare im Sichtbaren erfahrbar zu machen, das Ungegenständliche in Gegenständlichkeit umzusetzen, damit es wahrgenommen werden kann, ist die höfische Kultur des Mittelalters als ›Präsenzkultur‹ bezeichnet worden, die Kommunikationsformen ausgebildet habe, welche in den Verkehrsformen der Sichtbarkeit und der gegenseitigen Wahrnehmbarkeit gründen.¹¹ Hans Ulrich Gumbrecht hat die Typologie einer ›Präsenzkultur‹ skizziert. Ihre Merkmale entwickelt Gumbrecht am Beispiel der mittelalterlichen Kultur, der sie »nahesteht«.¹² Mehrere ihrer Merkmale hängen mit Körperlichkeit zusammen. So ist in einer Präsenzkultur »der Körper der dominante Gegenstand des Selbstbe-
7 Wenzel: Partizipation und Mimesis, S. 182. 8 Horst Wenzel: Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen Literatur. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 171–208, hier S. 197. 9 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 261. 10 Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 23. 11 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M. 2004. 12 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 99.
Körper- und Präsenz in der germanistischen Mediävistik
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zugs.«¹³ Die Welt einer Präsenzkultur ist eine, »in der die Menschen […] in ein Verhältnis zur sie umgebenden Kosmologie treten wollen, indem sie sich, d.h. ihre Körper, in die Rhythmen dieser Kosmologie einschreiben.«¹⁴ Und sofern der Körper in einer Präsenzkultur der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs ist, muß […] der Raum, also jene Dimension, die sich im Umkreis der Körper konstituiert, der ureigentliche Bereich sein, in dem das Verhältnis zwischen verschiedenen Menschen und das Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt ausgehandelt werden.¹⁵
Körper sind für eine Präsenzkultur deshalb paradigmatisch, weil sie eine nichtabstrakte, unmittelbare Form der Weltaneignung ermöglichen, die sich – Gumbrecht zufolge – organisiert über »nichtinterpretative Komponenten«¹⁶ wie »das Verzehren der Dinge dieser Welt, das sowohl die Praktiken der Anthropophagie und Theophagie einschließt als auch […] das Essen des Leibs und das Trinken des Bluts Christi«¹⁷ oder »das Eindringen in Dinge und Körper – d.h. Körperkontakt und Sexualität, Aggression, Vernichtung und Mord.«¹⁸ Präsenz lässt sich hier also fassen als eine Form des Weltbezuges, der nicht durch die »weltbezogene Sinnzuschreibung«¹⁹ oder das »Extrahieren von Bedeutung aus der Welt«²⁰ charakterisiert ist, sondern dadurch, dass er als substantialistischer jenseits »des Subjekt/Objekt-Paradigmas«²¹ liegt. Insofern sie die Unmittelbarkeit dessen, was ›da‹ ist, bezeichnet, ist Präsenz notwendigerweise eine »Grenzkategorie«, weil »das, was in Dingen, Phänomenen oder Situationen gegenwärtig wird, […] zwar Teil an den Ordnungen des Sagens oder Zeigens [hat]. Doch es ist zugleich deren Unverfügbares, Rückseite und Möglichkeitsbedingung: das, was in den Bedeutungen nicht aufgeht, sondern mit diesen einher und über diese hinaus geht.«²² Prägnanter formuliert, ist das Konzept von Präsenz angesiedelt innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen Alterität, Diskontinuität und Liminalität:
13 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 100. 14 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 102. 15 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S.103. 16 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 106. 17 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 107, Hervorhebung im Original. 18 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 197, Hervorhebung im Original. 19 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 71. 20 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 71. 21 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 76. 22 Christian Kiening: Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur. Scientia Poetica 10 (2006), S. 19–46, hier S. 24.
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Einführung
Alterität: das meint einen in der Spannung von Transzendenz und Immanenz situierten Präsenzbegriff, der nicht nur mit Fülle, sondern auch mit Leere, nicht nur mit Sein, sondern auch mit Nichts konnotiert ist. Diskontinuität: das meint, daß die Anknüpfung an einen religiös aufgeladenen Präsenzbegriff, die seit der Zeit um 1800 im Rahmen einer neuen Autonomieästhetik erfolgt, zugleich eine Verschiebung mit sich bringt von der Medialität des Gegenwärtigen hin zur Gegenwärtigkeit des Medialen. Liminalität: das meint, daß gerade in den Semantiken des Gegenwärtigen auch die Möglichkeit eines Nicht-Semantischen mitschwingt, von dem her sich wiederum das Mediale als Mediales erweist.²³
Zur Beschreibung dieser schwer zu fassende Kategorie ›Präsenz‹ zieht die Forschung in bemerkenswerter Übereinstimmung das Beispiel der Eucharistie heran. Sie ist die »prominenteste mittelalterliche Präsenzfigur neben den Reliquien der Heiligen […].«²⁴ Denn die konsekrierte Hostie ver weist nicht auf den Leib Christi, sondern ist Christus selbst, sie symbolisiert ihn nicht, sondern macht ihn für den Gläubigen konkret gegenwärtig und damit auch erfahrbar – wenn auch nicht erfahrbar für die Augen (denn das Brot ist Leib Christi nur substantialiter, nicht in seinen Akzidentien – und die Gestalt ist eben akzidentel), so doch erfahrbar in Bezug auf sein Heil: Ohne jeden Zweifel war das Sakrament des Abendmahls, d.h., die Herbeiführung der Realpräsenz Gottes auf Erden und unter den Menschen, das Hauptritual der mittelalterlichen Kultur. Die Feier der Messe diente demnach nicht bloß der Erinnerung an Christi letztes Abendmahl mit seinen Jüngern, sondern sie war ein Ritual, mit dessen Hilfe das ›wirkliche‹ Abendmahl und vor allem der Leib Christi und sein Blut ›wirklich‹ wieder präsent gemacht werden konnten.²⁵
23 Kiening: Gegenwärtigkeit, S. 44f. 24 Kiening: Gegenwärtigkeit, S. 28. 25 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 46. Vgl. auch: »Zeichen verstehen wir […] in einem ganz allgemeinen Sinn als durch ein Verhältnis der Referenz begründet – und deshalb liegt die Grenze der Zuständigkeit von Zeichenkonzepten genau dort, wo man nicht mehr von Verweisungszusammenhängen sprechen kann. Auch wenn die semiotische Beschreibungssprache die Phänomene bezeichnen kann, droht sie die konkret historischen Verhältnisse dabei zu verdunkeln. Natürlich steht eine Reliquie in einem Verweisungszusammenhang mit einem toten Heiligen – aber die Logik der kultischen Reliquienverehrung, das Liebkosen oder die Bestrafung von Reliquien, ja die kulturelle Brisanz des Phänomens ist damit nicht ansprechbar. Für das Mittelalter so zentrale Erscheinungen wie jene der Realpräsenz, Epiphanie, Gegenwärtigkeit […] sprengen, wie uns scheint, die Grenzen semiotischer Beschreibungskompetenz.« Stephan Müller: Ritual und Authentizität: Institutionelle Ordnungen des Mittelalters im Spiegel höfischer Literatur. Zeitschrift für Semiotik 23 (2001), S. 169–183, hier S. 172. Kritisch und differenzierend dazu Kiening: »Prominenteste mittelalterliche Präsenzfigur ist neben den Reliquien der Heiligen, die explizit in der Matrix der Begriffe ›praesentia‹ und ›virtus‹ gefaßt wurden, zweifellos die Eucharistie. Sie wird auch von modernen Theoretikern immer wieder angeführt. Doch ist sie wirklich geeignet, einen realsymbolisch-magischen Zeichengebrauch zu illustrieren? Bei genau-
Körper- und Präsenz in der germanistischen Mediävistik
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Präsenz begegnet also dort, wo keine Verweisungsstruktur, sondern verweisungslose Gegenwärtigkeit vorliegt, wo nicht bezeichnet, bedeutet und verstanden wird, sondern Sein in seiner Fülle vermittlungs- (also zeichen)los anwesend ist. Einem oft zitierten Wort Aleida Assmanns zufolge gibt es deshalb dort, wo die Dinge gegenwärtig sind, keine Zeichen.²⁶ Präsenz lässt sich nicht durch einen Akt der Sinn-Erschließung (also mittelbar) aneignen, sondern nur unmittelbar, beispielsweise im Vollzug eines Rituals²⁷ oder eines Ereignisses.²⁸ Körper und Präsenz setzen sich also wechselseitig voraus, denn Präsenz im Sinne von Anwesenheit bedarf der Gegenwart von et wa s und ist somit ein Effekt von Körperlichkeit. Umgekehrt können Körper nur dort Präsenz entfalten, wo sie nicht Zeichen eines anderen sind, sondern ihr Sinn in ihnen selbst
em Blick erhält gerade die Dimension der Präsenz einen anderen Stellenwert. Vielschichtig sind die Diskussionen um das Messopfer und die Wandlung im Gefolge des zweiten Abendmahlsstreits und der Auseinandersetzung mit Berengar von Tours, und vielfältig sind die Übergänge zwischen einem materiell-realistischen und einem spirituell-symbolistischen Verständnis der substantialen Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl.« Kiening: Gegenwärtigkeit, S. 28f. 26 Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Materialität der Kommunikation, S. 237–251, hier S. 239. 27 Vgl. zur Einführung: Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M. 1986; Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996; Caterine Bell: Ritual Theory. Ritual Practice. New York u. a. 1992; Dies.: Ritual. Perspectives and Dimensions. New York 1997; Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M. 1993; Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Hrsg. von Andréa Belliger und David J. Krieger. Opladen 1998; Rituale. Zugänge zu einem Phänomen. Hrsg. von Artur R. Boelderl und Florian Uhl. Düsseldorf, Bonn 1999; Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. 22005. Zur Diskussion in der germanistischen Mediävistik: Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996 (Germanisch-Romanische Monatsschrift Beiheft 13), S. 43–76. 28 Als knappe und heterogene Auswahl aus der Diskussion, die von vielen Fächern um den Begriff des Ereignisses geführt wird vgl. z.B.: Hans-Robert Jauss: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Kosellek und Wolf-Dieter Stempel (Poetik und Hermeneutik V). München 1973, S. 554–560; Karl-Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981; Donald Davidson: Handlung und Ereignis. Frankfurt 1990; Ralf Stoecker: Was sind Ereignisse? Berlin, New York 1992; Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994; Karl-Heinz Bohrer: Das absolute Präsenz. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M. 1994; Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2000; Ders.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002; Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003; Ders.: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a.M. 2003.
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Einführung
ruht. Im Verhältnis von Körper und Präsenz scheint der Chiasmus auf »zwischen Präsenz, absolut genommen, und Gegenwärtigkeit von etwas.«²⁹ Lechtermann bestimmt Präsenz wie Wenzel nicht semiotisch, sondern als Intensitätsmoment und als einen »Augenblick gesteigerter Gegenwart […], in dem für eine Weile etwas als etwas hervortritt und sich einer Wahrnehmung bemächtigt, die sich andersherum dem Wahrgenommenen mit besonderer Aufmerksamkeit widmet.«³⁰ Die höfische Literatur versteht sie als ein Medium, in dem sich die auf Präsenz gründende Kommunikation des Hofes fortsetzt: »Beschreibt man die höfische Kultur als Kultur des Körpers, so ist sie vom Erlebnis der Gegenwart des Anderen dominiert. Was in Geltung steht, muss in ihr nicht nur als vorhanden gewusst werden, sondern muss im Modus körperlicher Nähe erfahrbar und wahrnehmbar sein.«³¹ Im Anschluss an Wenzel spricht sie von höfischer Literatur als Repräsentation der Repräsentation.³² Literarische Präsenz hat auch (und besonders) bei Lechtermann Ereignischarakter, ohne dass jedoch deutlich würde, wie dieser mit der Skripturalität und Textualität des Mediums zu vermitteln ist, das sie erzeugt. Vielmehr wird von einer Verdoppelung der Ebenen von Repräsentation ausgegangen. Literatur repräsentiert so betrachtet ihrerseits die Repräsentationsformen am Hofe und w iederholt so eine genuin sozial-kulturelle Praxis: Begreift man höfische Literatur als ›Repräsentation der Repräsentation‹, so leistet sie eine Verstetigung im Sinne einer immer neu ›gewandelten Gegenwart‹ (Boehm) und inszeniert dabei erneut , was als Inszenierung für eine ›gesteigerte Gegenwart‹ bereits im Interaktionsraum Hof Momente der Präsenz erzeugen will.³³
Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Repräsentationsfunktion von Körpern am Hof der von literarischer Repräsentation entspricht. Natürlich muss »der enge Bereich des literarischen Lebens […] von den körperlichen Vermittlungs- und Darstellungsformen her verstanden werden: Höfische Literatur wurde gesungen und getanzt; höfische Epik ist in der Laiengesellschaft zuallermeist hörend, beim Vortrag, aufgenommen worden.«³⁴ Doch die Ebene, auf der sich die Körper der Adligen bei Hofe gesellschaftlichen Normen und Idealen
29 Kiening: Gegenwärtigkeit, S. 45, Hervorhebung im Original. 30 Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 191), S. 14f. 31 Lechtermann: Berührt werden, S. 109. 32 Lechtermann: Berührt werden, S. 31. 33 Lechtermann: Berührt werden, S. 31, Hervorhebung von mir. 34 Bumke: Höfische Körper, S. 96.
Defizite der Präsenzdebatte
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unterwerfen und an sich sichtbar werden lassen, ist eine andere als die, auf der die gesellschaftliche Repräsentation sprachlich, narrativ und literarästhetisch vermittelt wird, denn sozia le Repräsentation ist nicht sprach liche Repräsentation. Sicherlich sind beide Ebenen der Transformation darin vergleichbar, dass sie eine Umbesetzung und Neuordnung ihres jeweiligen ›Materials‹ bewirken. Doch gerade dieses – Körper im Fall der höfischen Repräsentation, Sprache im Fall der literarischen – und die Art, wie die jeweilige Repräsentation sich vollzieht, unterscheiden sich erheblich. Was also bedeutet ›Repräsentation der Repräsentation‹ konkret und welcher Art ist die Gegenwart, die durch sie verstetigt wird?
Defizite der Präsenzdebatte Eines der gravierendsten Defizite der Präsenzdebatte besteht darin, dass in dem Versuch, Präsenzeffekte in der Literatur zu erfassen, eine Differenzierung in und eine Reflexion der Ebenen, auf denen Präsenz jeweils statthat, nicht konsequent vollzogen worden ist. Die Präsenzdebatte ist (ähnlich wie die Körper- oder Emotionsforschung) niemals zu einer genuin literaturwissenschaftlichen geworden, denn sie hat nicht nach den Differenzen zwischen körperlicher und sprachlicher oder zeichenhafter Präsenz (beziehungsweise zwischen physischen und literarischen Körpern) gefragt: Wir wissen zwar, daß jede Darstellung des Körpers diesen erst hervorbringt, der Körper in Text und Bild also immer diskursiv ist, selbst dann, wenn seine Authentizität behauptet wird. Aber wir wissen nicht oder nur sehr ungenau, in welche symbolische Funktion er im jeweiligen kulturellen Referenzsystem eintritt und wie die Rückbindung an den materiellen Körper aussieht.³⁵
Der Körper, von dem in der Präsenzdebatte behauptet wird, er sei sichtbar und erzeuge Nähe, Gegenwart und Sinnlichkeit, ist also immer ein diskursiv hervorgebrachter. Das lässt sich auf zwei verschiedenen Ebenen problematisieren. Zunächst auf der, dass uns der ›Körper im Mittelalter‹ und seine Bedeutung ausschließlich medial (in Bezug auf die Zeugnisse der Literaturwissenschaft: schriftlich) überliefert sind:
35 Karina Kellermann: Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Eine Einleitung. In: Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Hrsg. von Karina Kellermann. Das Mittelalter Bd. 8 (2003), S. 3–8, hier S. 5f.
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Einführung
Die neuen Fragestellungen der Historischen Anthropologie haben den Blick für die Bedeutung des Körpers in der Kultur vorliterarischer Gesellschaften geschärft. Auch die höfische Kultur des hohen Mittelalters erscheint von daher in einem neuen Licht. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß sich die Gesellschaft dieser Zeit […] bereits im Übergang zur Schriftlichkeit befand und daß Schriftlichkeit und Mündlichkeit bereits in vielfachem Austausch standen. Fast alles, was wir über die kulturelle Funktion des Körpers in der höfischen Zeit wissen, stammt aus schriftlichen Quellen […]. Die Fähigkeit, körperliche Darstellungsmittel als Kultursignale einzusetzen und zu verstehen, war der vorliterarischen Gesellschaft eigen. Aber erst dadurch, daß lateinisch Gebildete an die Laiengesellschaft Ordnungsbegriffe und -kategorien vermittelten, die es erlaubten, die Ausdrucksformen von Körperkultur begrifflich zu fassen, zu ordnen, abzugrenzen und zu definieren, wurde es möglich, ein Programm höfischer Vorbildlichkeit zu formulieren, das sich als höfisches Zeremoniell und als höfische Gesellschaftslehre verstehen ließ. Insofern muß die höfische Kultur aus dem Zusammenwirken von Schriftlichkeit und Mündlichkeit verstanden werden.³⁶
Dazu kommt eine zweite Vermittlungsebene: Während die Körper- oder Präsenzk u lt u r des Mittelalters zwar allein im Medium der Schrift greifbar wird, aber als (kultur)historisches Phänomen jenseits der Quellen, die sie bezeugen und unabhängig von ihnen, Existenz beanspruchen kann, sind der Körper einer literarischen Figur oder ein literarischer Präsenzeffekt nicht nur schriftlich überl iefer t, sondern sie si nd Sprache und eben n icht Körper. Sie können also ihren Rezipienten Präsenzerfahrungen bereiten, besitzen aber ihrerseits keine materielle Präsenz. Anders gesagt, sind literarische Gegenstände – ganz gleich, ob es sich bei ihnen um Körper oder Gefühle handelt – immer »nur im Modus der Repräsentation […] gegeben.«³⁷ Nur vereinzelt sind Versuche unternommen worden, grundsätzlich zu klären, was es für das Forschungsparadigma Visualität, Körper und Präsenz bedeutet, dass (fiktionale) Texte stets über eine gegenüber der sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungswelt (oder ›Alltagspraxis‹) zusätzliche Reflexions-, bzw. Codierungsebene verfügen: Bei Texten nämlich, und zwar nicht nur literarischen, ist die Beobachterposition verdoppelt. Die in Texten thematisierte Körperwelt erscheint immer als eine codierte, wobei der Grad expliziter Codierung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten noch einmal differiert. Daraus ergibt sich eine weitere Unterscheidung in Bezug auf den Zeichencharakter: Die Perspektiven zwischen Beobachtern ersten und zweiten Grades differieren, d.h. die des Beobachters im Text und die des Beobachters des Textes, wozu dann noch diejenige des im Text Beobachtenden kommt. Wenn für den Rezipienten des Textes alles
36 Bumke: Höfische Körper, S. 97f. 37 Andreas Kraß: Neidische Narren. Diskurse der Mißgunst im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue und im ›Narrenschiff‹ Sebastian Brants. LiLi 138 (2005) ›Emotionen‹, S. 92–109, hier S. 106.
Defizite der Präsenzdebatte
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Zeichen ist, so nicht in gleicher Weise für die Figuren, von denen in diesem Text die Rede ist, und diese unterscheiden sich wieder, je nach dem sie Beobachter oder Beobachtete sind. Jeder Text ist im Vergleich mit der Alltagspraxis, die er thematisiert, übercodiert.³⁸
Genau auf diese ›Übercodiertheit‹ spielt Coseriu an, wenn er von der Sprache sagt, dass sie diejenige Semiotik sei, »in die alle anderen Semiotiken übertragen werden können, die aber in keine andere Semiotik im ganzen übertragen werden kann.«³⁹ Aus dieser Übercodiertheit resultiert, daß eine Erzählung ausschließlich aus Funktionen besteht: ›Alles‹ bedeutet darin in unterschiedlichen Graden. Das ist nicht eine Frage der Kunst (des Erzählens), sondern eine Frage der Struktur: In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert. […] Entweder ist alles sinnvoll oder nichts.⁴⁰
An diesem Punkt⁴¹ wäre weiter und nachdrücklicher zu fragen: Was bedeutet es für den literaturwissenschaftlichen Zugriff auf literarische (also erzählte) Präsenz, wenn diese eine immer schon codierte, womöglich eine mehrfach und auf ganz verschiedenen Ebenen codierte Präsenz ist? Die vielbeschworene Präsenz des lesbaren Körpers wäre so gesehen immer eine (in Müllers Begriffen) »übercodierte« oder textuell-literarisch perspektivierte, mithin vermittelte Präsenz und deshalb im strengen Sinne gerade kei ne Präsenz (zumindest keine im Sinne von Asemiotizität, Gegenwärtigkeit oder Vermittlungslosigkeit). So ist Horst Wenzel zwar uneingeschränkt Recht zu geben darin, dass »in der Situation des mittelalterlichen Zentralhofes […] die Semantik der Texte mit der Semantik der Körper und Konfigurationen unmittelbar verbunden [und] die Textsemantik deshalb auch zu überschreiten ist auf eine Semantik der nonverbalen Zeichen.«⁴² Doch wenn daraus gefolgert wird, dass die volkssprachige Literatur, die eingelassen wird in eine solche Situation, […] sich diesen Wahrnehmungs- und Darstellungstraditionen gegenüber behaupten muß, und sie tut dies zu einem beträchtlichen Teil durch Assimilation an die vorgegebenen Strukturen. Sie orga-
38 Jan-Dirk Müller: Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik. ZfdPh 122 (2003), S. 118–132, hier S. 127, Hervorhebung im Original. 39 Eugenio Coseriu: Zeichen, Symbol, Wort. In: Zur Philosophie des Zeichens. Hrsg. von Tilman Borsche und Werner Stegmaier. Berlin, New York 1992, S. 3–27, hier S. 6. 40 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1441), S. 109. 41 Müller deutet ihn bereits im Titel seines Aufsatzes mit dem Begriff ›Schrift‹ an. 42 Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 425.
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Einführung
nisiert sich in Anlehnung an die Wahrnehmungsformen, die durch die höfischen Rituale, ihre nonverbalen und verbalen Zeichen, vorgegeben sind,⁴³
so ist zu bedenken, dass diese Wahrnehmungsformen, an die Literatur sich als höfische assimiliert, in der Erzählung keine Wa h r neh mu ng mehr sind, sondern Da rstel lu ng (wenn auch möglicherweise Darstellung von Wahrnehmung). Ein erzähltes nonverbales Zeichen ist solchermaßen eben kein nonverbales Zeichen mehr, sondern Teil einer literarischen, sukzessive und linear voranschreitenden Erzählung. Eine nonverbale Geste oder die Signifikanz eines prachtvollen Gewandes sind im Rahmen der Literatur gerade nicht (mehr) Geste und Gewand, sondern Erzählung von Geste und Erzählung von Gewand. Was die Präsenz- und Körperforschung bislang zu ihrem Gegenstand gemacht hat, waren Geste und Gewand, nicht die Erzählung, zu der und in die sie substantiell gehören. Doch gerade dieser Unterschied ist entscheidend, denn da s Erzä h lte ist nicht d ie E rzä h lu ng. Etwas zugespitzt ließe sich sagen, dass in der Auseinandersetzung um Körper und Präsenz nicht nur die kulturwissenschaftliche, sondern auch die literaturwissenschaftliche Debatte stets auf der narratologischen Ebene der Erzählgegenstände, der histoire, verblieben ist. Mit diesem Begriff Gérard Genettes (den er synonym verwendet mit ›Geschichte‹ oder ›Handlung‹, ›Signifikat‹ oder ›narrativer Inhalt‹) ist gemeint die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand [der] Rede ausmachen, und ihre unterschiedlichen Beziehungen zueinander […]. ›Analyse der Erzählung‹ bedeutet dann, daß man einen Komplex von Handlungen und Situationen untersucht, die für sich selbst betrachtet werden, ohne Rücksicht auf das sprachliche oder sonstige Medium, das uns über sie unterrichtet: ein Beispiel wären etwa die Abenteuer, die Odysseus zwischen dem Fall von Troja und seiner Ankunft bei Kalypso erlebt.⁴⁴
Körper und Präsenz sind in aller Regel von der germanistischen Mediävistik ähnlich gegenständlich behandelt worden wie die Abenteuer des Odysseus im obigen Zitat: Als das nämlich, wovon die Literatur erzählt oder wa s durch Literatur hervorgerufen werden soll. Die Forschung hat ihre Aufmerksamkeit darauf fokussiert, was von den Körpern der Figuren erzählt wird (z.B., wie sich minne sichtbar an ihnen abzeichnet, wie sie über Gesten kommunizieren, wie Rüstung und Körper eine Einheit bilden) und dabei weithin unberücksichtigt gelassen,
43 Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 425. 44 Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998, S. 15.
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dass die Körper, von denen die Literatur erzählt, allein aus Sprache bestehen.⁴⁵ Für andere kultur- und geisteswissenschaftlichen Fächer als die Literaturwissenschaft mag dieses Detail vernachlässigenswert sein; für sie ist es entscheidend. Die Differenz zwischen einem Körper und einem erzählten Körper vermag sie jedoch nur dann zu reflektieren und zu beschreiben, wenn sie sich das Zusammenspiel der Ebenen des Erzählten (der histoire) mit der Ebene der Erzählung (des discours) klar macht. Genette zufolge werden auf der Ebene der histoire Handlungen, Figuren und Situationen f ü r sich selbst betrachtet, ohne Rücksicht auf das sprachliche oder sonstige Medium, das sie vermittelt (und in dieser Vermittlung erst hervorbringt). Dass sie ungeachtet ihrer Medialität und nur für sich betrachtet werden, bedeutet, dass die Abenteuer des Odysseus aus dem Zitat von Genette als solche ebenso gut Gegenstand einer Erzählung, eines Films oder einer bildlichen Darstellung sein könnten. In einer Fokussierung auf die histoire ist Präsenz überwiegend in der Germanistischen Mediävistik diskutiert worden.⁴⁶ Wenn beispielsweise der Körper und das Verhalten Willehalms, seine Weigerung, einen Kuss zu empfangen, seinen rostigen und zerschlagenen Panzer und sein Schwert abzulegen, sein Toben am französischen Königshof, zur Illustration von literarischer Präsenz herangezogen werden, so bezieht sich diese Argumentation allein auf die Inhaltsebene, bzw. die Bildsprache des Epos: Nicht verweist der zerschlagene Markgraf – symbolisch und sich erinnernd – auf einen nicht gegenwärtigen Zustand, sondern er ist unmittelbar und ganz dinglich dieser Zustand selbst (sein Panzer deshalb keine Metapher); nicht redet er vom Krieg in der Provence, sondern leibhaftig schleppt er ihn an den friedlichen Hof. […] Wie unmittelbar dinglich Kuß, Lanze, Panzer hier vorgestellt werden, wie wenig virtualisiert Wahrnehmung hier noch verläuft, läßt sich also zwar den ›Metaphern‹ am besten ansehen – sie werden derart zu den wichtigsten Quellen einer Wissenschaft versunkener Gesellschaften – doch lösen sich
45 »Bleibt der Begriff der ›Realpräsenz‹ dem Umgang mit dem Heiligen vorbehalten, so lässt sich für den Bereich der höfischen Dichtungen vielleicht neutraler von dem Angebot einer ›Präsenzerfahrung‹ sprechen, das die Texte, analog zu den in den Erzählungen selbst beschriebenen Präsenzerfahrungen […] thematisieren und für sich selbst reklamieren. Gerade die Texte der höfischen Literatur sprechen in diesem Sinne über sich selbst im Modus der Präsenz und inszenieren das Zusammentreffen mit ihren Benutzern als Begegnung.« Lechtermann: Berührt werden, S. 35. 46 Dass es Ausnahmen von dieser Regel gibt, versteht sich von selbst. Auf einige dieser Ausnahmen bin ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen. Vgl. demnächst: Katharina Philipowski: Vergangene Gegenwart, vergegenwärtigte Vergangenheit: Zeit und Präsenz in der mediävistischen Alteritätsdebatte. In: Alterität des Mittelalters? Hrsg. von Manuel Braun. Göttingen (Vandenhoeck) 2013.
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gerade unter diesem Blick die Metaphern als Metaphern auf, wenn man die ›Bilder‹ einer Zeit ernst nimmt, die auf eine unserer Anschauung nicht mehr faßbare Weise in Sichtbarkeiten ›gedacht‹ hat.⁴⁷
Die angeführten Belege (also der zerschlagene Markgraf, der verweigerte Kuss, die Lanze, der Panzer) könnten auch einem anderen Medium (wie einem Bildteppich) entnommen sein, ohne dass ihre Gültigkeit für die Argumentation eingebüßt würde. Präsenz ist hier allein die Präsenz der Figuren und die Auseinandersetzung mit ihr stützt sich auf die Bilder, die die Literatur verwendet, nicht auf die Sprache, in der sie es tut. Die »je eigene Gegenwärtigkeit – in der Schrift und über die Schrift hinaus –«⁴⁸ passt eben gerade nicht zwischen zwei Gedankenstriche, weil die Präsenz i n der Schrift jene jenseits der Schrift, jene über sie h i naus, überdecken muss, um sich mitteilen zu können. Denn Präsenz und Erzählung (oder Gegenwärtigkeit und Zeichen) stehen in einem Spannungsverhältnis: Wie jedes Medium tritt die Erzählung hinter das Erzählte zurück. Wir lauschen, wenn wir erzählen hören, dem, was erzählt wird, wir hören, wie der Markgraf sich am französischen Königshof aufführt und nicht, dass uns eine Geschichte erzählt wird. Denn das Medium muss sich selbst unsichtbar machen, um das, was es übermittelt, störungsfrei mitteilen zu können: Das Mediale ist freilich nichts, worauf sich hinblicken oder das sich berühren ließe, weder als Schrift noch als Sprache oder anderes, vielmehr sind wir mit einem konstitutiven Prinzip, einer relationalen Struktur konfrontiert, welche der Figur des tertiums, des Zwischen oder der Mitte gehorcht und die Eigenart besitzt, im Prozess der Mediation selbst aufzugehen […]. Medien sind paradoxe Wesen; sie zeigen, bringen zur Erscheinung, übertragen, transferieren oder wiederholen und verkörpern, doch so, dass die Medialität des Mediums dabei […] zurücktritt, d.h., dass ihr Erscheinen, Zeigen, Übertragen, Transferieren oder Wiederholen und Darstellen sich nicht mitzeigt, überträgt oder darstellt.⁴⁹
47 Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I. München 1989, S. 53. 48 Kiening: Gegenwärtigkeit, S. 46: »Mittelalterliche (volkssprachige) Texte wiederum besäßen in dieser Hinsicht ihre Spezifik darin, daß sie in höherem Maße an die Erscheinungshaftigkeit der Schrift gebunden sind, die sie ermöglicht, und in geringerem Maße abgegrenzt sind gegenüber den Kotexten und Kontexten, die sie umgeben, daß sie gleichwohl Prinzipien ausbilden, ihre Identität zu sichern und eine je eigene Gegenwärtigkeit – in der Schrift und über die Schrift hinaus – herzustellen.« 49 Dieter Mersch: Absentia in Praesentia. Negative Medialität. In: Mediale Gegenwärtigkeit. Hrsg. von Christian Kiening. Zürich 2007 (Veröffentlichungen des Nationalen Forschungsschwerpunkts ›Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven‹ 1), S. 81–94, hier S. 86, Hervorhebungen im Original. Vgl. auch: »Wir sehen den Film und nicht die Kinoleinwand, hören gesprochene Worte und keine Schallwellen, sehen ein Bild und nicht die Pixel, aus denen es sich zusammensetzt. Medien werden ihrer Aufgabe umso besser ›gerecht‹, je mehr sie
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Das gleiche Spannungsverhältnis besteht zwischen literarischer Präsenz und dem, was Genette discours oder Erzählung nennt und nicht nur von der histoire, sondern auch einer dritten narratologischen Ebene unterscheidet, nämlich der narration (dem narrativen Akt, ›dem Erzählen‹⁵⁰). Diese Ebenen sind Abstraktionen und wie alle Abstraktionen kommen sie als solche in der (Erzähl-)Realität nicht vor. Das schmälert nicht ihren Sinn und ihre Bedeutung als heuristische Hilfsmittel, denn sie erlauben es, das Zusammenspiel von Erzählen und Erzähltem innerhalb der Erzählung zu beschreiben. Nachdem in der Forschung vor allem danach gefragt worden ist, wovon erzählt wird, wenn von Präsenz erzählt wird, lässt sich entsprechend die Frage aufwerfen, wie und auf welche Weise eine Erzählung überhaupt von Präsenz erzählen kann, welche narrativen Verfahren ihr zur Verfügung stehen, um den Eindruck von Gegenwärtigkeit, Anwesenheit und Unmittelbarkeit sprachlich zu erzeugen. Denn im Erzählen von Anwesenheit verbirgt sich ein grundlegendes Paradox: Die Erzählung ist immer »ein Vergegenwärtigen von Ereignissen, die […] nicht sinnlich wahrnehmbar sind.« Nun unterscheiden sich aber das ›Erzählen‹ und das ›Erzählte‹ gerade im Akt des Vergegenwärtigens. Es handelt sich also um eine phänomenologische Unterscheidung, aufgrund deren alles Erzählen ein Erzählen von etwas ist, das nicht selbst Erzählung ist. Auf dieser Grundunterscheidung beruht die Möglichkeit, zwei Zeiten zu unterscheiden: die Erzählzeit und die erzählte Zeit. Welches ist jedoch das Korrelat der Vergegenwärtigung, wem entspricht die erzählte Zeit? Darauf gibt es zwei Antworten: einerseits ist das Erzählte, das nicht selbst Erzählung ist, nicht leibhaftig in der Erzählung gegeben, sondern nur ›wiedergegeben‹; andererseits ist das Erzählte zutiefst die ›Lebenszeit‹; und das Leben selbst wird nicht erzählt, sondern erlebt.⁵¹
Erzählen ist folglich sowohl eine Vergegenwärtigung, als auch eine reine Vermittlung, denn es ist ja ausschließlich die narrative Gestaltung, die die Ver-
sich selbst im medialen Vollzug neutralisieren, also unterhalb der Schwelle unseres Wahrnehmens verbleiben.« Sybille Krämer: Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 13–32, hier S. 22. 50 »Ich schlage vor […] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen […], den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt.« Genette: Die Erzählung, S. 16, Hervorhebungen im Original. 51 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. II: Zeit und literarische Erzählung. München 1989 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/II), S. 130f. Ricœur zitiert hier Günther Müller: Morphologische Poetik. Tübingen 1968, S. 247.
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gegenwärtigung ins Werk setzt. Erzählen ist immer schon Reflexion über die erzählten Gegenstände und Ereignisse. So ist Erzählen zwar einerseits Vergegenwärtigung, aber immer eine bereits in und durch Sprache vermittelte, oder besser: Eine Vergegenwärtigung durch (und im Modus von) Vermittlung. Sie ist – um es mit den Worten Paul Ricœurs zu sagen – »sukzessive Totalität und totale Sukzession.« Erst dort, wo nicht nur den Gegenständen der Erzählung (also der histoire) Rechnung getragen wird, sondern auch der Erzählung selbst, erst dort, wo die Präsenz, die das Handeln und Erleben der Figuren charakterisiert, mit deren Sukzessivität verknüpft wird, bewegt sich die Literaturwissenschaft auf der Ebene des discours. Und erst von dieser Ebene aus können auch die Erzählgegenstände (mögen es Körper, Emotionen, Räume oder Handlungen sein) als l itera r ische angemessen beschreibbar werden: Es ist also ganz allein die Erzählung, die uns hier zum einen über die Ereignisse informiert, von denen sie berichtet, und zum anderen über die Tätigkeit, der sie sich verdanken soll: anders gesagt, unsere Kenntnis von diesen beiden Dingen ist immer nur indirekt, zwangsläufig vermittelt durch den Diskurs der Erzählung, sofern die Ereignisse der Gegenstand dieses Diskurses sind und die genannte Tätigkeit darin Spuren, Kennzeichen und Indizien hinterläßt, die erkennbar und interpretierbar sind, wie etwa das Vorkommen eines Personalpronomens in der ersten Person, das die Identität von Figur und Erzähler bezeichnet, oder das eines Verbs in Vergangenheitsform, das die Vorzeitigkeit der erzählten Handlung gegenüber der Erzählhandlung bezeichnet, wobei freilich auch direktere und explizitere Hinweise möglich sind. Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung.⁵²
Erst von der Ebene des discours aus lässt sich die Frage diskutierten, was Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Visualität oder Präsenz im Paradigma von Textualität überhaupt bedeuten. Denn was adressiert eigentlich derjenige, der vom ›Körper‹ einer literarischen Figur redet?
Erkenntnisinteresse An diesem Punkt setzt die vorliegende Analyse an: Die auf der Figurenebene vorhandene Anschaulichkeit, Gegenständlichkeit und Sinnlichkeit des (und der) Körper macht den Rezipienten vergessen, dass es sich um eine Anschaulichkeit, Gegenständlichkeit und Sinnlichkeit handelt, die allein das Erzählen
52 Genette: Die Erzählung, S. 17.
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hervorruft. Körper, Panzer und Lanze des Markgrafen Willehalm erstehen vor unserem Auge allein dadurch, dass der Erzähler uns von ihnen erzählt. Und es ist leicht für ihn, uns Willehalms Körper, seinen Panzer und seine Lanze vor Augen zu stellen, weil sie gegenständlich und daher anschaulich sind; so leicht, dass mancher Literaturwissenschaftler sogar noch bei seinen Deutungen vergisst, dass sie nur auf der Figurenebene Körper, Panzer und Lanze sind. Doch wie erzeugt die Erzählung Anschaulichkeit und Körperlichkeit dessen, was nicht nur ungegenständlich ist, sondern prinzipiell keinen Körper haben kann? Wie kann, was sich den »Verkehrsformen der Sichtbarkeit«⁵³ entzieht wie Emotionen, Reflexionen, Erinnerung oder Bewusstsein, überhaupt zum Gegenstand des Erzählens werden? Anders gefragt: »Wie läßt sich im Horizont des höfischen Sichtbarkeitspostulats darstellen, was sich prima facie der Sichtbarkeit entzieht, unanschaulich oder – wie das Innere – unanschaubar ist?«⁵⁴ Denn das Ungegenständliche bedarf eines ›geliehenen‹ Körpers, den sie in aller Regel durch Übertragung (nämlich durch Metaphern und Allegorien), durch Personifikation oder Anthropomorphisierung erlangt. Wie aber entsteht er und wie unterscheidet er sich von jenen Körpern, die zwar ebenso fiktional sind wie der des Ungegenständlichen, aber doch leichter durch den Rezipienten ergänzt und vervollständigt werden können? Wenn der Erzähler beispielsweise behauptet, eine Dame sei die schönste aller Frauen, so kann er sich darauf verlassen, dass der Rezipient sich selbst eine Vorstellung von dieser Figur macht. Was aber stellt er sich im Falle etwa des muotes vor, in dem eine schwere Entscheidung abgewogen wird? Welche Bilder legt der Erzähler uns dafür nahe? Zwar gibt es auf der Ebene des discours keinerlei Unterschied zwischen Gegenständlichem und Ungegenständlichem, da beides gleichermaßen fiktional ist und ein erfundener Gürtel nicht ›gegenständlicher‹ ist als erfundener Zweifel. Doch auf der Ebene der histoire sind Gegenständliches und Ungegenständliches auf die gleiche Weise unterschieden wie in der Realität. Hier ist der fiktionale Gürtel für die Figuren sicht- und greifbar, der Zweifel jedoch nicht. Wie kann er es für den Rezipienten werden? Um ihn zu beschreiben, kann der Erzähler nicht – wie für alles Gegenständliche seiner Erzählung – auf das zurückgreifen, was der Rezipient aus eigener Erfahrung kennt (z.B. welche Farbe Steine haben, wie blondes Haar in der Sonne glänzt, wie ein Feuer lodert und prasselt), sondern ist auf sein Vermögen, Vorstellungen zu erzeugen, angewiesen.
53 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 15. 54 Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 318, Hervorhebung im Original.
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Mit den Innenräumen, Innenorten, Innenbildern, Innen-Architekturen, Innenrelationen, Innen-Tropen und Innen-Körpern von Figuren steht also ein narratives Paradox zur Diskussion. Denn einerseits ist die Tatsache, dass Figuren Innenräume haben, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass sie Fußnägel und Eltern haben. Sie haben sie in ihrer Eigenschaft, Modelle von Menschen zu sein und weil Erzählungen in aller Regel von Menschen erzählen und nicht von literarischen Figuren.⁵⁵ Andererseits findet jede Erzählung von Menschen ausschließlich ›in‹ der Erzählung statt. Sie regt zu Vorstellungen an, durch die ergänzt wird, was die Erzählung selbst ausspart. Wo Ungegenständliches Gegenstand der Erzählung wird, muss die Erzählung (der discours) selbst den Erzählgegenstand (histoire) erscha f fen. Das muss sie zwar auch, wo sie von Gegenständlichem erzählt und manchmal wird innerhalb eines Textes sogar darauf aufmerksam gemacht wie im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberc. Dort weist der Erzähler auf das Vermögen der Erzählung, fiktionale Referenz zu erschaffen, explizit hin, indem er seine ausführliche Beschreibung der Kleiderpracht Flories damit beschließt, seinem Publikum deutlich zu machen, dass seine Ausführungen keine Beschreibung, sondern eine Erschaffung von Kleidern gewesen ist: swer daz nu wolde nîden daz si sô schône was gekleit, daz wær ein michel tôrheit, wand ez ist âne ir aller schaden swaz ich ûf si mac geladen von sîden und von borten und von gezierde, mit worten. (v. 856–862)⁵⁶
Doch der Unterschied zwischen gegenständlichen und ungegenständlichen Erzählgegenständen liegt darin, dass der Erzähler sich im Falle gegenständlicher Erzählgegenstände stets auf gegenständliche Entsprechungen aus der Erfahrungswirklichkeit seiner Rezipienten beziehen kann. Wenn aber von etwas erzählt werden soll, das an keine konkrete Vorstellung anknüpfen kann, wo der Erzähler die Gestalt des Ungegenständlichen erfinden muss, wird der discours selbst zur histoire. Das Fehlen einer Referenz, die (notwendige) Abwesenheit dessen, wovon erzählt wird, wird dann zum eigentlichen Thema der Erzählung
55 Was natürlich nicht bedeutet, dass sie keine Ficta sin d . 56 Wirnt von Grafenberc: Wigalois. Text nach der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn herausgegeben, übersetzt, erläutert und mit Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin, New York 2005.
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vom Ungegenständlichen. Dieses stellt das Zusammenspiel von Erzählung und Erzählgegenstand aufs Eindrücklichste aus. Wo von dem erzählt wird, was selbst keinen Körper hat, wird unterschwellig immer auch das Erzählen selbst berührt und reflektiert, das Verfahren also, aus dem Nichts alles erschaffen zu können. Gerade in solchen Passagen, die die performative Kraft der Sprache ausloten, beobachten und thematisieren, sind deshalb aber auch Momente literarischer Selbstreflexionen zu erwarten. Das Erzählen vom Ungegenständlichen macht aufmerksam auf etwas, das eigentlich trivial ist und dennoch oft vergessen wird, dass nämlich jedes Innen nur in dem Maße in den Blick geraten kann, in dem es zum Außen wird und dass als notwendige Folge daraus Innen und Außen ebensowenig gegeneinander ausgespielt werden können wie Gegenwärtigkeit und Zeichenhaftigkeit, weil das eine immer nur mit dem anderen oder durch es überhaupt erfahrbar wird. Die Frage nach der ›Gestalt des Ungegenständlichen‹ ist daher eine notwendige narratologische Ergänzung und Fortführung der Körperforschung, die sich vorrangig mit denjenigen Aspekten einer Figur auseinandergesetzt hat, die innerhalb der Erzählung als sichtbar konzeptualisiert sind und nicht mit dem, was sich »den Verkehrsformen der Sichtbarkeit«⁵⁷ entzieht. Gerade auf dieses Ungegenständliche haben jedoch die höfischen Autoren selbst einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Erzählkunst verwand. Um es sprachlich adressieren zu können, wurde eine ganze Palette von Begrifflichkeiten entwickelt, zum Beispiel muot, sin, geist und herze. Diese werden im Rahmen dieser Untersuchung nicht als anthropologische, sondern als literarische Kategorien aufgefasst, womit ich mich einer methodologischen Überlegung Gert Hübners anschließe: Solange die narratologische Analyse nur das zum Gegenstand macht, was die höfische Erzählkunst selbst als Innenweltdarstellung inszeniert, läuft sie nicht von vornherein Gefahr, eine ahistorische Psychologisierung zu betreiben; diese droht erst, wenn Leerstellen des Textes im Rückgriff auf anthropologische Modernismen gefüllt werden.⁵⁸
Das Innere, das hier untersucht werden soll, kann jedoch schon allein deshalb nicht mit anthropologischen Modernismen gefüllt werden, weil es keine anthropologische, sondern eine narrative Größe ist. Es geht in der Untersuchung der narrativen Konstitution des Innenraumes einer Figur nicht darum, eine »Entwicklung des zuerst schwachen oder gar nicht vorhandenen, dann aber sich
57 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 15. 58 Gert Hübner: Erzählformen im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹. Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 407.
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immer kräftiger ausprägenden Einzelmenschen als Träger der Identiät der Problemsubjekte in der Dichtung,«⁵⁹ also das »Werden des Einzelmenschen«⁶⁰ vom »plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums«⁶¹ literarhistorisch nachzuvollziehen. Auch um die Entstehung von Individualität in der höfischen Literatur geht es nicht. Wenn im Folgenden das Innere oder die ›Seele‹ der Figuren thematisiert wird, dann nicht in einem mentalitätshistorischen, sozialen oder anthropologischen Sinne, sondern als Nachvollzug dessen, was der Erzähler oder eine Figur meinen, wenn sie von sêle, herze oder einem unspezifischen innerthalben sprechen. Konkret bedeutet das, dass ich mich darauf beschränken werde herauszuarbeiten, wie das Innere einer Figur von den Texten und in den Texten selbst narrativ gestaltet wird, welche Begriffe und Vorstellungen dazu herangezogen werden und welche nicht. Umso sorgfältiger ist deshalb dem narrativen Status der Figuren Rechnung zu tragen. Sie sind auf der einen Seite anthropologische Modellentwürfe, an ihnen werden menschliche Konflikte und Erfahrungen exemplifiziert und veranschaulicht. Andererseits sind Figuren das Resultat eines schöpferischen Prozesses, der zwar niemals autonom sein kann, weil er immer von Menschen für Menschen vollzogen wird, der sich aber von der reinen Abbildung oder auch nur verfremdenden Darstellung der sozialen Lebenswelt beträchtlich entfernen kann und muss. Weil Figuren Modelle von Menschen sind, ohne Menschen zu sein, können sie jede nur erdenkliche menschliche Handlung vollziehen. Auch Figuren durchlaufen Entwicklungen und Prozesse: Sie erinnern, sie reflektieren, sie empfinden und träumen. Dieses Vermögen wächst ihnen allerdings allein durch Sprache zu, dadurch, dass der Erzähler es ihnen zuschreibt, indem er davon erzählt, da ss eine Figur erinnert, reflektiert, empfindet oder träumt. Dieses narrativ konstruierte ›Innen‹ ist deshalb, weil es nicht Kern eines diesem gegenüber selbständigen ›Selbst‹ ist, sondern stets in bestimmten Konstellationen und Ordnungen steht, stärker auf die Handlung des jeweiligen Textes bezogen als auf die Figur, deren ›Innen‹ es ist. Die inneren Zustände und Verfassungen einer Figur (ihr Wahnsinn, ihre Wut, ihre Erinnerungen oder ihre Verwirrung) sind durch die Handlung motiviert und immer auf sie bezogen: Nur weil er Erec aus seinem Zustand des Schein-Todes erwecken soll (und nicht, weil er als
59 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a.M. 1976 (1. Aufl. Berlin 1932), S. 18. 60 Lugowski: Form der Individualität, S. 18. 61 So der Titel eines Aufsatzes zu diesem Thema von Hans Robert Jauss. In: Individualität. Hrsg. von Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988 (Poetik und Hermeneutik XIII), S. 237–269.
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zügelloser Mensch nicht anders kann), schlägt der Graf Oringles Enite so heftig, dass sie blutet und schreit. Das Innere einer Figur ist nichts Gegebenes, das von einer Geschichte vorgefunden und zu ihrem Gegenstand gemacht werden könnte, sondern umgekehrt wird das Innere der Figur von der Geschichte, die erzählt werden soll, motiviert. In der Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Innenraum durch Erzählverfahren werden vor allem die Terminologien herangezogen, die die mittelalterliche Erzählliteratur selbst verwendet, wenn sie das Innere einer Figur adressiert, und zwar sêle, muot, geist, sin und herze oder innerhalp und ûzerhalp. Dies sind die Begriffe, die in der Literatur verwendet werden, um die verschiedenen Gestalten zu bezeichnen, die dieses ›Andere des Körpers‹ annimmt. Allerdings ist der Umgang der Literatur mit ihnen und ihr Zugriff auf sie alles andere als trennscharf oder kohärent: Mal trûren die Figuren in ihrem muot, dann in gedanken oder im sin. Ausnahmsweise können sie minne in der sêle hegen, meist aber findet sie im herzen statt, dann wieder in ihrer herzen gedanc, in der herzen kamer oder einem herzen schrîn. Mal ist das Innen räumlich dargestellt, mal ist es ein körperliches Organ, mal nur ein Begriff wie z.B. sin, mit dem sich kein spezifisches Bildprogramm und keine konkrete Vorstellung verbindet: »Wenn sich also Elemente der Psychologie höfischer Literatur finden, so fehlt im allgemeinen deren semantische Differenzierung. Ihr Vokabular wird meist unterminologisch gebraucht.«⁶²
Exkurs: Die Blutstropfen-Episode in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ Die altgermanistische Forschung hat die Darstellung innerer Vorgänge in der höfischen Literatur anders beurteilt und eher ihre Systematik wahrgenommen. Besonders die Blutstropfenszene in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ hat dazu eingeladen, Übernahmen aus den systematischen monastischen und scholastischen Seelenlehren nachweisen zu wollen. So deutet Joachim Bumke die Episode als eine Auseinandersetzung mit Prozessen der Kognition: »Im Mittelpunkt der Blutstropfenszene steht ein außerordentlicher Wahrnehmungsakt.«⁶³
62 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 218. 63 Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001, S. 2. Dieser Wahrnehmungsaspekt ist in der Forschung auf vielfältige Weise interpretiert worden – der Forschungsstand ist bei Bumke sorgfältig dokumentiert.
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Doch die Art und Weise, wie dieser vom Erzähler dargestellt wird, lässt sich meiner Meinung nach nicht »genauer beschreiben, wenn man die ›neue Psychologie‹ des 12. Jahrhunderts zu Rate zieht.«⁶⁴ Denn die ganze Episode ist bei genauerer Betrachtung gerade nicht auf Systematik und Kohärenz, sondern ganz im Gegenteil auf Widersprüchlichkeit, Unstimmigkeit und sogar Unverständlichkeit angelegt, und zwar nicht nur in Bezug auf die minne,⁶⁵ sondern auch in der Darstellung des Wahrnehmungsvorganges selbst. Behauptet beispielsweise der Erzähler zu Beginn der Episode in den Versen 282,20–22 ⁶⁶ noch, dass die drei Blutstropfen Parzivals minne-Versunkenheit hervorriefen (»ûz ir [der verletzten Gans] wunden ûfen snê / vieln drî bluotes zäher rôt, / die Parzivâle fuogten nôt«), so stellt er unmittelbar danach fest, dass Parzivals triwe ursächlich für die nôt sei, die er beim Anblick der drei Blutstropfen im Schnee erleidet (»von sînen triwen daz geschach,« v. 282,23). Wenige Verse später heißt es dann, dass seine Frau Kondwiramurs ihn in den schmerzvollen Zustand versetze: »sölhe nôt fuogt im sîn wîp.« (v. 283,19) Später allerdings sind es dem Erzähler zufolge dann wieder die Blutstropfen selbst, die Parzivals Zustand herbeiführten: »daz fuogten im diu bluotes mâl« (v. 287,10), nun allerdings im Verbund mit der minne: »und ouch diu strenge minne.« (v. 287,11) Der Erzähler führt also gleich mehrere konkurrierende Ursachen für Parzivals rätselhaften Zustand an: Die erste Ursache sind die Tropfen selbst (287,10 »daz fuogten im diu bluotes mâl« und v. 290,27 »daz fuogte im snê unde bluot«). Als zweite Begründung wird auf Parzivals triwe verwiesen: »von sînen triwen daz geschach« (v. 282,23) und »als im sîn triwe dô geriet« (v. 293,8). Seine triwe ist es auch, die Parzival zu den Tropfen zurückführt, nachdem er Keie besiegt hat: »sîn triwe in lêrte daz er vant / snêwec bluotes zäher drî, / die in vor witzen machten vrî.« (v. 296,2–4). Doch auch die minne wird mehrmals als Erklärung herangezogen, und zwar in Vers 283,18: »diu starke minne sîn dâ wielt«, v. 287,10f.: »daz fuogten im diu bluotes mâl / und ouch diu strenge minne« sowie v. 294,9f.: »den
64 Bumke: Blutstropfen, S. 35. 65 »Es ist schon längst aufgefallen, daß die Zuordnung Parzivals zu den Opfern der gewalttätigen Minne den Erfahrungen, die Parzival in der Blutstropfenszene macht, direkt widerspricht.« Bumke: Blutstropfen, S. 115. Vgl. auch: »Die Disproportion zwischen dem Erzählerkommentar und dem erzählten Geschehen ist so auffällig, daß man vermuten darf, daß die Zuhörer darauf aufmerksam werden sollten. Wenn die Minne aus der Sicht des Erzählers anders beurteilt wird als aus der Sicht Parzivals, so bedeutet das, daß die Wertung der Liebe abhängig ist von der Perspektive, aus der sie betrachtet wird.« (S. 116) 66 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York 1998.
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Wâleis twanc der minnen kraft / swîgens« und v. 300,14f.: »dâ tet frou minne ir ellen schîn / an dem den Herzeloyde bar.« Als vierte Begründung wird auch noch Kondwiramurs angeführt, und zwar in Vers 283,19: »sölhe nôt fuogt im sîn wîp.« In Vers 293,9f. heißt es: »daz werde süeze clâre wîp / sand iuch [die minne] ze boten an sînen [Parzivals ] lîp,« in Vers 302,3–5: »im gap her wider witze sîn / von Pelrapeir diu künegîn: / diu behielt iedoch sîn herze dort.«⁶⁷ Schließlich wird sogar noch eine weitere Ursache für Parzivals Versunkenheit angegeben, nämlich seine Abstammung: »ungezaltiu sippe in gar / schiet von den witzen sîne, / unde ûf gerbete pîne / von vater und von muoter art.« (v. 300,16–19) Parzivals Zustand ist also so wenig auf eine einzige Ursache zurückzuführen, wie er in fest stehenden Begriffen (wie etwa »eine durch Liebeszauber ausgelöste und insania im Sinne von geistiger Verwirrung verursachende Form der Melancholie«⁶⁸) zu fassen ist. Wenn Bumke schreibt, dass es besonders verunsichernd wirke, daß der Erzähler an einigen Stellen alles tut, um die Begrenztheit seiner Sichtweise herauszustellen und seine eigene Glaubwürdigkeit zu untergraben, während er an anderen Stellen der einzige zu sein scheint, der die Zusammenhänge überschaut und der die Bedeutung der geschilderten Vorgänge in vollem Umfang versteht,⁶⁹
so ist zu ergänzen, dass der Erzähler sein Publikum offenbar auch in anderer Hinsicht zu verwirren beabsichtigt: Er bietet ihm fünf Ursachen für Parzivals Zustand an, ohne einer von ihnen den Vorzug vor den anderen zu geben oder sich schlussendlich auf eine von ihnen festzulegen. Was ist der Sinn dieser Konstruktion, die kaum anders denn als Widersprüchlichkeit verstanden werden kann? Denn die Blutstropfen selbst haben zunächst einmal gar nichts mit der minne zu tun, diese ist nicht dasselbe wie Parzivals triwe, diese wiederum ist eine ganz andere Begründung als der Hinweis auf Kondwiramurs, die ihrerseits nichts mit Parzivals Abstammung zu tun hat.
67 Entsprechend trägt Kondwiramurs auch nicht eine »Mitverantwortung« an Parzivals Zustand (wie Ulrich Ernst in seinem Aufsatz: Wolframs Blutstropfenszene. Versuch einer magiologischen Deutung. PBB 128 [2006], S. 431–466, hier S. 461, meint), vielmehr wird vom Erzähler in ihrer Person eine der fünf Ursachen bzw. Erklärungen für ihn gegeben, die unverbunden nebeneinander stehen. 68 Ernst: Wolframs Blutstropfenszene, S. 453: »Die Symptome, die der Dichter für Parzival in Anschlag bringt, deuten vielmehr auf einen bestimmten psychischen Krankheitszustand, nämlich eine durch Liebeszauber ausgelöste und insania im Sinne von geistiger Verwirrung verursachende Form der Melancholie, die im arabischen Schrifttum und der entsprechenden lateinischen Übersetzungsliteratur dem Planeten Saturn zugeordnet wird.« 69 Bumke: Blutstropfen, S. 11.
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Es wäre also deutlich zu kurz gegriffen, wollte man behaupten, dass alle Erklärungen, die der Erzähler anführt, ›irgendwie‹ zusammenhängen würden – das tun sie nicht, und dieser Eindruck soll auch nicht erweckt werden. Es geht dem Erzähler meiner Auffassung nach um etwas anderes: Darum nämlich, ganz bewusst Deutungsspielräume zu eröffnen, die sich gerade nicht zu einem Ganzen zusammenfügen, sondern in einem lebendigen, zum Teil widerspruchsvollen und dynamischen Verhältnis zueinander stehen. Diese Dynamik und der hervorgerufene Bedeutungsüberschuss sind wichtiger als ein stimmiges, plausibles Deutungsangebot. Mir scheint treffend, was Linden in Bezug auf die Verwendung der herz-Tausch-Episode in Hartmanns ›Iwein‹ feststellt: Was Walter Haug für den Prolog des Iwein-Romans […] formuliert hat, nämlich ›die Überlegenheit der Literatur über die bloße Faktizität‹, scheint angesichts des Herztauschexkurses auch für die seit dem 12. Jahrhundert allseits virulente Frage nach der Beschreibung von Innerlichkeit zu gelten, nämlich die Überlegenheit und die tiefere Wahrheit des literarischen, uneigentlich-bildlichen Sprechens gegenüber dem kruden Faktenbericht. Indem das fiktive Körperbild im literarischen Raum ohne Sanktionen gegen die Regeln anthropologischer Plausibilität verstoßen kann, wird das gängige, bereits konventionalisierte Sprechen über Minne durchkreuzt […].⁷⁰
Mit der »strukturellen Offenheit«⁷¹, von der Bumke in Bezug auf den Schluss des ›Parzivals‹ spricht⁷² und die die gesamte Handlung auszeichnet, korrespondiert also auch eine Brüchigkeit des Erzählens. Deshalb scheint »zu begreifen, wie das Nicht-Zusammenhängende zusammenhängt und das Nicht-Zusammenpassende zusammenpasst« gerade nicht »das Ziel des Erkenntniswegs zu sein, auf den der ›Parzival‹-Erzähler seine Zuhörer (und seine späteren Interpreten) geschickt hat.«⁷³ Denn eine Antwort, ›wie das Nicht-Zusammenhängende zusammenhängt und das Nicht-Zusammenpassende zusammenpasst‹, bleibt der Erzähler beharrlich schuldig. Durch seine Mehrfachbegründungen tut er ein
70 Sandra Linden: Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik im Iwein Hartmanns von Aue. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007 (Beiträge zur deutschen Philologie), S. 247–267, hier S. 267. Linden zitiert Walter Haug: Programmatische Fiktionalität. Hartmanns von Aue Iwein-Prolog. In: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Dems. Darmstadt 21992, S. 119–133, hier S. 126. 71 Bumke: Blutstropfen, S. 155. 72 »Der Offenheit der Handlungsmotive am Schluß – am deutlichsten in der Gestalt des Priesters Johannes – scheint eine strukturelle Offenheit zu entsprechen, die als eine intellektuelle Herausforderung an die Leser verstanden werden kann.« (S. 155) 73 Bumke: Blutstropfen, S. 155.
Erkenntnisinteresse
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Übriges dazu, den Rezipienten immer aufs Neue darüber zu verunsichern, was die Ursache von Parzivals rätselhaftem Zustand ist und wie er sich deuten lassen könnte. Ein Modell zur Darstellung innerer Prozesse wird in der ›BlutstropfenEpisode‹ nicht entwickelt. Ganz im Gegenteil wird dort, wo Parzival in einem stark emotionalen Sonderzustand gezeigt wird, der Eindruck von Modellhaftigkeit durch Widersprüche und Unstimmigkeiten regelrecht unterlaufen. Gerade in den Leerstellen, die der Erzähler immer wieder dort eröffnet, wo der Leser – und vermutlich auch der Zuhörer – Erklärungen und Deutungen erwartet oder zumindest erhofft, ist die Programmatik dieses Erzählens zu erblicken, das jene Geschlossenheit untergräbt, die die gelehrte Anthropologie anstrebt. Bumke legt dieses Verständnis nahe, wenn er schreibt: Ich glaube, der Erzähler wollte in der Blutstropfenszene seinem Publikum vormachen, wie ein buchgelehrter Dichter wie Hartmann von Aue Parzivals Erfahrung kommentiert hätte: mit dem schweren Geschütz der gelehrten Exegese. Die Zuhörer sollten wohl bemerken, daß diese Mittel ungeeignet waren und daß die erzählte Geschichte mit dem gelehrten Schulwissen nicht zu verstehen ist.⁷⁴
Dass die Zuhörer bemerken sollten, dass Buchgelehrsamkeit ungeeignet ist, um Parzivals Erfahrung zu beschreiben und dass die Blutstropfen-Episode mit dem gelehrten Schulwissen nicht zu verstehen ist, davon gehe auch ich aus. Anders als Bumke meine ich jedoch, dass Wolfram diese Auffassung nicht dadurch zum Ausdruck bringt, dass er Parzivals Wahrnehmungsvorgang in Begriffen der ›neuen Psychologie‹⁷⁵ konzipiert, sondern dadurch, dass er das, was in und mit Parzival geschieht, im Grunde völlig offen lässt. Denn »das Zusammenwirken der äußeren und der inneren Sinne, die Tätigkeit der Imaginatio und der Memoria und die Urteilsbildung durch die Ratio«⁷⁶ sind gerade nicht das, was den Erzähler in der Blutstropfen-Episode interessiert. Meiner Auffassung nach geht es nicht einmal um die Darstellung von »Vorgänge[n], die sich im Innern des Menschen abspielen,« sondern darum, das, was mit Parzival geschieht, das, was sich in seinem Inneren abspielt, einer möglichen Erklärung zu entziehen. Die Beobachtung, dass das Erzählen in der Blutstropfen-Episode darauf abzielt, Deutungen offenzuhalten und nicht darauf, sie vorzugeben, ist trivial.
74 Bumke: Blutstropfen, S. 130. Vgl. auch: »Man kann davon ausgehen, daß die Begriffe der traditionellen Poetik nicht geeignet sind, die Struktur einer Erzählung zu beschreiben, die sich quer stellt zu den Bildungsansprüchen der gelehrten Poetik und die sich auf Einsichten beruft, die rational nicht nachvollziehbar sind.« (S. 142) 75 Bumke: Blutstropfen, S. 35. 76 Bumke: Blutstropfen, S. 13.
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Allerdings ist die Art und Weise, wie Wolframs Erzähler in der berühmten Beschreibung von Parzivals minne-Versunkenheit verfährt, paradigmatisch für das mittelalterliche volkssprachige Erzählen vom Inneren einer Figur: Es lässt sich (etwa am ›Wälschen Gast‹ Thomasins von Zerclære) zeigen, dass dafür durchaus Erklärungs- und Beschreibungsmodelle aus der gelehrten lateinischen Literatur zur Verfügung standen, die von den Autoren höfischer Romane leicht hätten übernommen werden können. Die – in meinen Augen reizvolle – Frage ist nicht allein die, wie das unsichtbare Innere einer Figur beschrieben wird, sondern insbesondere, warum dazu nicht auf die vorhandenen anthropologischen Modelle und Systematiken zurückgegriffen worden ist. Dazu ist zunächst auf die Begriffe einzugehen, die die höfische Literatur zur Bezeichnung innerer Vorgänge verwendet. Der Begriff sêle ist durchaus nicht identisch mit dem neuhochdeutschen Begriff ›Seele‹ und er deckt das Spektrum der Kategorie des Inneren nicht ab. Dennoch bildet die sêle einen wichtigen Bestandteil davon. Kaum ein höfischer Text verzichtet darauf, zumindest beiläufig die sêle zu erwähnen, entweder dort, wo sie sich im Augenblick des Todes vom Körper trennt oder sich in Sünden verstrickt. Meist bildet sie den Gegensatz zum Körper. Wo die ganze Person angesprochen wird, geschieht dies häufig mit der Summenformel von sêle unde lîp. Orientiert man sich an der Verwendung des Begriffes sêle, so wird man jedoch schnell feststellen, wie wenig differenziert er in der höfischen Literatur verwendet wird. Die sêle wird vor allem dann thematisiert, wenn sie sich anschickt, den Körper zu verlassen, um zu Gott zurückzukehren. Immer wieder werden darüber hinaus auch einzelne sêlen beschrieben, am ausführlichsten wohl in Heinrichs von Veldeke ›Eneas-Roman‹, in dem der Protagonist zum Aufenthaltsort der Seelen Verstorbener in der Unterwelt hinabsteigt oder im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberc, wo die Seelen mehrerer Ritter in einer Art höfischem Fegefeuer geläutert werden. Dass es bislang an einer Studie zur Bedeutung von sêle in der Literatur des Mittelalters weitgehend fehlt, liegt wohl auch daran, dass sie in der Literatur selten ausführlich thematisiert wird: Die sêle wird nicht zur Darstellung innerer Vorgänge herangezogen. Das Innere ist in der höfischen Literatur (noch) nicht in der Seele angesiedelt.
Kulturhistorische Kontextualisierung Dass eine Kontextualisierung der literarischen Modelle mit den zeitgenössischen Konzepten der menschlichen Seele im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht stattfindet, spiegelt wider, wie die Literatur selbst verfährt. Sie nimmt zwar
Kulturhistorische Kontextualisierung
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Notiz von den zeitgenössischen gelehrten Konzepten, bezieht sich aber in aller Regel nicht auf sie. Natürlich verfügen auch die Figuren der mittelalterlichen Literatur über eine Seele, die den Körper im Augenblick des Todes verlässt, aber diese Seele wird nicht in die Konzeption des Innenraumes einer Figur mit einbezogen. Daraus erwächst der Untersuchung ein nicht geringes Problem: Das medizinische und theologische Wissen, das die Literatur über die Seele verrät, ist eklektizistisch und synkretistisch, ohne dass sich jeweils genau nachvollziehen ließe, woher ein Motiv, eine Formel, ein Vergleich oder ein Bild genau stammen. So häufig die sêle auch in volkssprachigen Texten begegnen mag, so wenig konturiert, profiliert und präzise ist das, was mit diesem Begriff bezeichnet wird. Deshalb ist es ebenso wenig sinnvoll, alle kulturellen Kontexte, in denen die sêle thematisiert wird, in eine Untersuchung mit einzubeziehen, wie es sinnvoll wäre, sie vollständig auszublenden. Obgleich die sêle, von der in der höfischen Literatur die Rede ist, kaum etwas gemein hat mit der anima, die von den Theologen und Philosophen des 12. und 13. Jahrhunderts analysiert und systematisiert wird, ist sie doch auch nichts anderes⁷⁷ – sie ist die gleiche unstoffliche, gottgeschaffene, unsterbliche und den Körper belebende Seele, die in der volkssprachigen weltlichen Literatur nur deshalb als eine ganz andere erscheint, weil sie dort nicht auf das hin befragt wird, was die zeitgenössischen Mediziner, die Theologen und die ›Naturwissenschaftler‹ oder Kosmologen an ihr interessiert, nämlich auf welche Weise sie mit dem Körper verbunden ist, wie, wo und wann sie entsteht, welche Existenz sie nach ihrer Trennung vom Körper hat und welchen Einfluss sie während ihrer Verbindung mit ihm auf ihn auszuüben vermag. Dass die sêle also einerseits die anima der Gelehrten ist und andererseits auch wieder nicht, stellt ein schwer zu lösendes Problem für das methodische Vorgehen der Untersuchung dar, weil eine Darstellung der Konzeptualisierung von anima in theologisch-philosophischen Diskursen wenig zum Verständnis der sêle, noch weniger aber zum Verständnis der Konzeption von Innenräumen in der volkssprachigen Erzählliteratur beiträgt. Andererseits ergibt sich dieser Befund eben erst aus der Darstellung des theologischen und philosophischen Seelen-Diskurses selbst. Die vorliegende Arbeit trägt diesem Sachverhalt Rechnung, indem sie mit einem Kapitel beginnt, das einen Überblick über die wichtigsten Traditionen
77 Vgl. dazu auch: Anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hrsg. von Katharina Philipowski und Anne Prior. Berlin 2006. (Philologische Studien und Quellen 197)
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und Positionen der zeitgenössischen Seelenlehren gibt. Das heuristische Ziel dieses Kapitels ist es jedoch gerade nicht, die Einflüsse von Theologie und Philosophie des 12. und 13. Jahrhunderts auf die volkssprachige Literatur zu dokumentieren, sondern das Ausbleiben eines solchen Einflusses nachzuweisen. Dieser Nachweis kann jedoch erst durch die folgenden Kapitel erbracht werden, die die einzelnen Formen der literarischen Innenraum-Darstellung zum Gegenstand haben. Sie zeigen, dass die Literatur nur in wenigen Ausnahmefällen auf Begriffe, Konzepte oder Denkfiguren des theologisch-philosophischen Diskurses zurückgreift.
Gegenstandsbereich/Textgrundlage/Forschungsstand Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Bestimmung des Gegenstandsbereiches. Die Arbeit versteht sich als einen Beitrag zur Literaturtheorie und versucht, exemplarische Lektüren zum Verhältnis von Innen und Außen, zur Allegorie sowie zur Vergegenständlichung des Inneren zum herzen und zur Emotionsdarstellung so zu verdichten, dass Paradigmen des Erzählens von Innenräumen erkennbar werden. Dabei verfährt sie weitgehend synchron, konzentriert sich also auf eine Bestandsaufnahme der Literatur um 1200. Zu überprüfen, inwiefern die hier entwickelten Modelle und Paradigmen eines Erzählens vom Ungegenständlichen einem historischen Wandel unterworfen sind, bleibt späteren Arbeiten vorbehalten. Aufgrund der dezidiert erzähltheoretischen Ausrichtung des Erkenntnisinteresses und der Methode hat eine Beschränkung auf eine Textsorte sich verboten, erstens, weil Gattungen sich in diesem Punkt erstaunlich wenig distinkt verhalten, zweitens, weil das Phänomen in seiner Komplexität kaum darzustellen gewesen wäre, wenn ihm Beschränkungen auf die Gattung der Minnerede, der allegorischen Dichtung oder des späthöfischen Abenteuerromans auferlegt worden wären. Armin Schulz hat in seiner Habilitationsschrift⁷⁸ am Beispiel der Heldenepik darauf hingewiesen, wie problematisch die Abgrenzung von Erzählgattungen innerhalb des mittelalterlichen Literatursystems ist: Heroische Epik liefert keinen unverstellten Zugang zu archaischen Welt- und Menschenbildern. Ihre kulturellen Rahmenbedingungen ähneln denen des höfischen Romans und der höfischen Legende, auch wenn sie unterschiedlichen Traditionen entstammen. Die Beein-
78 Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008. (MTU 135)
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flussung ist wechselseitig. ›Heldenepik‹ ist keine einheitliche Gattung, sondern ein mehr oder weniger operables Hilfskonstrukt der Literaturgeschichtsschreibung.⁷⁹
Anders als Schulz ziehe ich jedoch die Konsequenz daraus, den Aufbau meiner Arbeit nicht an Gattungskonzepten zu orientieren, die erfahrungsgemäß ihrerseits so problematisch sind,⁸⁰ dass sie zur Klärung des eigentlich verfolgten Erkenntnisinteresses oft weniger beitragen als es durch Gattungszuordnungen zu belasten.⁸¹ Denn die Darstellung eines inneren Geschehens in der Literatur und der Anschluss an die Traditionen, an welche sie dabei anknüpft, weist oft nur eine geringe textsortenspezifische Kohärenz auf. Einige literarische Muster (wie das Wohnen im herzen) begegnen in der Epik gleichermaßen wie im Minnesang, sie finden sich in der weltlichen und der geistlichen Literatur, in frühen ebenso wie in späten Texten. Wer dem literarischen Konzept vom Wohnen im herzen auf der Spur ist, kann sich deshalb kaum auf eine Textgruppe wie die Epik, den Minnesang oder die Marienlyrik beschränken. Selbst eine Limitierung auf eine literarhistorische Epoche erweist sich hier als nicht sinnvoll. Obwohl solche Begrenzungen in aller Regel nützlich und wünschenswert sind, wurden sie deshalb in der vorliegenden Untersuchung immer dann suspendiert, wenn der Gegenstand (also beispielsweise die Frage nach dem Motiv des ›Körpers als Kleid der Seele‹
79 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 50f. 80 Schulz etwa subsumiert unter dem Begriff ›Heldenepik‹ »nicht allein die stofflich auf den Wirren der Völkerwanderungszeit basierenden Epen der Nibelungen- und Dietrich-Tradition, sondern auch die aus der Anonymität heraustretenden deutschsprachigen Bearbeitungen französischer Chansons de geste und die listbetonten Brautwerbungsgeschichten, welche gleichermaßen zur Hybridisierung mit legendarischen Personenkonzepten und Handlungsmustern neigen.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 51. 81 Schulz selbst muss denn auch die Unterschiede der Gattungen, die seine Untersuchung strukturieren, immer wieder relativieren: »Die Heldenepik profiliert das Nebeneinander semiotischer und präsenzphantasmatischer Erkennensmuster, um damit die Exorbitanz von Heroen herauszustellen, Merkmalsgleichheiten und Zugehörigkeiten zur selben Sphäre zu betonen oder zu problematisieren – und nicht zuletzt dazu, gegen den Zweifel an den Zeichen, ja überhaupt am schönen Schein des Äußeren zu immunisieren. Diesen Zweifel kennt auch der höfische Roman, aber er entwirft komplexere Lösungen, um an der Geltung des Anscheins festhalten zu können.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 207. Vgl. auch: »In der Heldenepik immunisiert man sich gegen Zweifel am schönen Schein des Äußeren mit Präsenzphantasmen: Die Wahrheit teilt sich hier idealiter gewissermaßen unter- und außerhalb der Ebene sichtbarer Zeichen mit: asemiotisch und durch körperliche Präsenz (jedenfalls solange die Identität des Heros intakt ist). Der höfische Roman reagiert auf dieses Problem mitunter ebenfalls mit einer Überschreitung des sinnenhaft und semiotisch Zugänglichen: mit einer Tendenz zur Transzendierung adeliger Leiber in Epiphanien feudalen Glanzes.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 504.
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oder des ›herz-Tausches‹) es nahe legte. Der Leser mag beurteilen, ob die Heterogenität des herangezogenen Materials die Gültigkeit der Ergebnisse mindert oder erhöht. Ein Überblick über die Forschung, die sich mit der Darstellung des Inneren einer literarischen Figur in der höfischen Literatur des Mittelalters auseinandersetzt, fällt enttäuschend aus. Vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist in neuerer Zeit wenig dazu gearbeitet worden. Philosophie- und theologiegeschichtliche Arbeiten liegen zwar vor, haben aber nur begrenzte Relevanz für die hier verfolgte Frage. Zwei Arbeiten liegen am Rande des hier abgesteckten Feldes: Die Studie von Gert Hübner zur Subjektivierung in der höfischen Epik⁸² und die Arbeit Joachim Bumkes über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach.⁸³ Zunächst zu Hübner: Die narrative Struktur, die er in seiner Habilitationsschrift untersucht, fungiert als Technik, deren Funktion es ist die Differenz zwischen Erzähler und Figur zu überspielen, zu verdecken, zum Verschwinden zu bringen. Die Erzählkunst ermöglicht damit eine ästhetische Erfahrung, die der modernen begrifflichen Reflexion als Subjektivierung erscheinen muß. […] Wo man im höfischen Roman auf Fokalisierung trifft, hat man es mit einer vorbegrifflichen, allein von der narrativen Form getragenen, damit allein der ästhetischen Erfahrung zugänglichen Subjektivierung zu tun.⁸⁴
Bereits hier deuten sich Übereinstimmungen und Differenzen mit der vorliegenden Arbeit an: Die große Übereinstimmung besteht in der Beschränkung des Erkenntnisinteresses auf narrative Verfahren und auf Textstrukturen. Von einer Vereinnahmung durch die Ideengeschichte grenzt sich Hübner bewusst ab: »Diese narrativ herbeigeführte Subjektivierung ist freilich eine Angelegenheit der poetischen Technik, die sich nicht in Ideengeschichte, eine Angelegenheit der Form, die sich nicht in zeitgenössische Begriffe übersetzen läßt.«⁸⁵ Die klare Differenz liegt jedoch vor allem im Erkenntnisinteresse: Während Hübner sich für Verfahren der Subjektkonstitution durch Überblendung von Erzählerund Figurenperspektive interessiert, geht es mir um das, was am Rande seines Themas angesiedelt ist, nämlich die narrative ›Innenweltkonstitution‹. Hübner nimmt sie – eher nebenbei – in den Blick, z.B., wo er die Minnegrotten-Episode
82 Vgl. Fn. 56. 83 Bumke: Blutstropfen. 84 Hübner: Fokalisierung, S. 55. 85 Hübner: Fokalisierung, S. 119.
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in Gottfrieds ›Tristan‹ analysiert und in diesem Zusammenhang von ›Innenweltgrotten‹ spricht. Hübner selbst setzt sich jedoch allein mit denjenigen Innenwelten auseinander, die perspektivisch erzeugt werden, dadurch, dass der Rezipient gleichsam mit den Augen einer bestimmten Figur wahrnimmt oder Zeuge der Psychonarration einer Figur wird. Während er also sein Augenmerk auf die narrative Erzeugung und Ausgestaltung von Innenräumen mittels der Perspektive richtet, geht es mir um die Erzählverfahren, um die Bilder, Räume und Begriffe, die in der Literatur verwendet werden, um diese Innenwelten zu erzeugen und darum, wie sie dabei die Ungegenständlichkeit des Innenraumes in Gegenständlichkeit umsetzt. Joachim Bumke, auf dessen Studie zur Blutstropfen-Epsiode in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ ich oben bereits im Zusammenhang mit der Darstellung innerer Prozesse in der höfischen Literatur kurz eingegangen bin, nimmt sich der Frage an, »wie Vorgänge, die sich im Inneren des Menschen abspielen, im Zusammenhang einer volkssprachigen höfischen Erzählung beschrieben und gedeutet werden konnten.«⁸⁶ Bumke geht dabei zwei verschiedenen Fragen nach: Er untersucht die Art und Weise, wie innere Vorgänge in der Literatur beschrieben und gedeutet werden, aber auch »die Veränderungen, die Wolfram an der Thematik des Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens gegenüber der französischen Vorlage vorgenommen hat. Welche Bedeutung dieser Thematik in der deutschen Dichtung zukomme: darum geht es in dieser Arbeit.«⁸⁷ Dabei liegt Bumkes Schwerpunkt jedoch auf der narrativen Verarbeitung von Wahrnehmungs- und Reflexionsprozessen. Es geht ihm vor allem darum, akribisch nachzuweisen, was genau vorgeht, wenn Parzival von den Blutstropfen in Bann geschlagen und von Gawan aus dem Zauber der Zeichen im Schnee befreit wird. Er unternimmt es, die in dieser Szene ablaufenden »Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse vor dem Hintergrund zeitgenössischer Überlegungen zu diesem Thema zu erläutern.«⁸⁸ Hierin besteht auch der Unterschied zur vorliegenden Arbeit, der es weniger um Prozesse der Kognition als um Innenweltdarstellungen geht. Und während Bumke den ›Parzival‹ auf dem Hintergrund der zeitgenössischen intellektuellen Debatte um Wahrnehmung, Imagination und Reflexion liest, konzentriere ich mich auf die narrativen Strukturen, die das Spezifikum der Literatur bilden und die sie von allen anderen Diskursen, in denen Innenräume eine Rolle spielen, unterscheidet. Die vorliegende Arbeit ist insofern durch eine Bumke gegenüber
86 Bumke: Blutstropfen, S. 13f. 87 Bumke: Blutstropfen, S. 10. 88 Bumke: Blutstropfen, S. 12.
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genau umgekehrte Fragerichtung gekennzeichnet: Nicht der Einfluss zeitgenössischer Überlegungen auf die Literatur, sondern die narrativen Konzeptionen von ›Innen‹ selbst konstituieren ihren Gegenstand. Die Arbeit nimmt also ihren Ausgang von der Literatur, um ihre Verfahren bei der Darstellung des Inneren einer Figur zu untersuchen, während Bumkes Lektüre des ›Parzival‹ bereits auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Seelen- und Kognitionstheorien stattfindet, deren Niederschlag in der höfischen Literatur sie voraussetzt und nachzuweisen versucht. Allgemeinere Arbeiten zum Thema sind meist älter und gehen in der Regel nicht analytisch und interpretativ vor, sondern deskriptiv. Diese Arbeiten sind hervorragende Materialsammlungen, machen aber die vorliegende Untersuchung durchaus nicht überflüssig: So versammelt und ordnet Maria Erika Finckel in ihrer Arbeit zur Bedeutung von sêle, lîp und herze in der frühmittelhochdeutschen Dichtung und in den Texten der mittelhochdeutschen Klassik⁸⁹ Belegstellen, ohne jedoch eine eigene These dazu zu entwickeln, welche literaturwissenschaftlichen Schlussfolgerungen sich aus ihrer Klassifikation ergeben. Etwas besser ist die Forschungslage zum Begriff des herzen in der höfischen Literatur, doch auch hier hat man es wiederum mit zum Teil veralteten Arbeiten zu tun. Neben Xenja von Ertzdorffs Studien zum Begriff des Herzens und seiner Verwendung als Aussagemotiv in der höfischen Liebeslyrik des 12. Jahrhunderts⁹⁰ und ›Das Herz in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur‹⁹¹ ist vor allem Fritz Heimplätzers ›Die Metaphorik des Herzens im 12. und 13. Jahrhundert‹⁹² zu erwähnen. Von Ertzdorff und Heimplätzer beschränken sich – wie die jeweiligen Titel angeben – auf die Bedeutung des herzen in der Literatur und beziehen Begriffe wie sêle, muot und sin nur ganz am Rande mit ein. Ihre Arbeiten gehen sporadisch auch auf die begrifflichen Traditionen, nämlich die lateinische Theologie, die Patristik und die frühe Scholastik, ein. Beide sind jedoch für die vorliegende Arbeit nur von begrenztem Nutzen: Die Arbeit von von Ertzdorff legt ihren Schwerpunkt auf die französischen und provenzalischen Kanzonen und den deutschen Minnesang. Heimplätzers Arbeit bezieht zwar die Epik mit ein, doch dafür besteht seine Arbeit vorrangig aus Textbelegen, die auf die einzelnen Kapitel verteilt werden, ohne
89 Maria Erika Finckel: Die Bedeutung von ›sêle‹, ›lîp‹ und ›herze‹ in der frmhd. Dichtung und in den Texten der mhd. Klassik. Tübingen 1949. 90 Xenja von Ertzdorff: Studien zum Begriff des Herzens und seiner Verwendung als Aussagemotiv in der höfischen Liebeslyrik des 12. Jahrhunderts. Freiburg 1953. 91 Xenja von Ertzdorff: Das Herz in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur. PBB 84 (1962), S. 249–301. 92 Fritz Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens im 12. und 13. Jahrhundert. Heidelberg 1953.
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dass sie interpretativ ausgewertet oder die Befunde zu einer weiterreichenden Aussage verknüpft würden. Von der Konzeption her ähnlich wie die Arbeiten von Heimplätzer und von Ertzdorff, aber für die vorliegende Arbeit ungleich einschlägiger ist Friedrich Wilhelm Wodtkes Untersuchung zum ›Wortschatz der Innerlichkeit im Alt- und Mittelhochdeutschen‹⁹³. Worum es Wodtke geht, ist jedoch – wie der Titel bereits ankündigt – eine Art Wort- oder Begriffsgeschichte vom Platonismus über Augustin und Notker von St. Gallen bis zur geistlichen und weltlichen Literatur des 11. bis 13. Jahrhunderts, besonders bei ›Gottfried und seinen Epigonen‹ und schließlich dem Wortschatz der Innerlichkeit in der frühen deutschen Mystik von 1150 bis 1300. Nützlich ist diese Arbeit⁹⁴ vor allem als Steinbruch für Belegstellen (wie die Tabelle von Wörtern und Begriffen der Innerlichkeit, die die lateinischen Begriffe, z.B. intus, intra, intima, internus den althochdeutschen Übersetzungen gegenüberstellt) und Textbelege, auf die sich die Arbeit jedoch, vor allem gegen Ende, immer stärker beschränkt. Diese Beschränkung auf die (Quellen-) Geschichte von Begriffen, die zur Bezeichnung des Inneren herangezogen werden, hat Vor- und Nachteile. Zwar gerät das Thema nicht durch weitschweifige Exkurse aus den Augen, dafür wird der Leser mit einem Haufen einzelner Textzitate konfrontiert und so in seiner Hoffnung auf eine Synthese der zahllosen Belege zu einer umfassenderen Interpretation enttäuscht. Jüngeren Datums, dafür auf einzelne Werke beschränkt, sind die Arbeiten von Klaus Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹ im Tristan Gottfrieds von Strassburg.⁹⁵ Vom Erkenntnisinteresse her etwas allgemeiner ist Fritz-Peter Knapp: Hartmann von Aue und die Tradition der platonischen Anthropologie im Mittelalter.⁹⁶ Abgesehen von dieser Arbeit gibt es wenig Material, das sich mit der Darstellung eines inneren Geschehens in der Literatur des Mittelalters auseinandersetzt. Zu nennen wäre die Monographie von Wolfgang Herrmann zum ›Leib-Seele-Problem in Gottfrieds Tristan‹⁹⁷ oder der Aufsatz von Whitman: ›The Body and
93 Friedrich Wilhelm Wodtke: Untersuchung zum Wortschatz der Innerlichkeit im Alt- und Mittelhochdeutschen. masch. Kiel 1952. 94 Ähnlich wie die Arbeit von Finckel und Helene Adolf: Wortgeschichtliche Studien zum Leib/ Seele-Problem. Mittelhochdeutsch lîp ›Leib‹ und die Bezeichnungen für corpus. Sonderheft 5 zur Zeitschrift für Religionspsychologie 1937. 95 Klaus Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹ im Tristan Gottfrieds von Straßburg. München 1965. 96 Fritz-Peter Knapp: Hartmann von Aue und die Tradition der platonischen Anthropologie im Mittelalter. DVjs 46 (1972), Heft 2, S. 213–247. 97 Wolfgang Herrmann: Das Leib-Seele-Problem in Gottfrieds Tristan. Heidelberg 1971.
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the Struggle for the Soul of Romance: La Queste del Saint Graal‹⁹⁸. Die Aufsatzsammlung ›Body and Soul in Medieval Literature‹, in der diese Arbeit erschienen ist, ist jedoch nur scheinbar einschlägig für die hier verfolgte Frage, weil sie nicht einlöst, was ihr Titel ankündigt, sondern sich damit begnügt, Untersuchungen zu den verschiedensten kulturhistorischen Spezialthemen (die allerdings, bis auf den Artikel von Whitman, nur geringe Relevanz für die Frage nach Körper und Seele in der höfischen Literatur haben) zu versammeln. Reichhaltiger wird die Literatur zur Seele im Mittelalter, wenn das Gebiet der Literatur verlassen wird. Vor allem aus der Anthropologie, der Theologie oder der Philosophie und Philosophiegeschichte stammen zahlreiche Titel zum Thema ›Seele‹. Hier ist insbesondere die von Martin Thurner herausgegebene Aufsatzsammlung ›Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters‹⁹⁹ zu erwähnen. Weniger hilfreich, weil von wenigen Ausnahmen abgesehen eher populärwissenschaftlich, ist ›Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland‹¹⁰⁰, ein Sammelband, der vorrangig aus der Perspektive der Historischen Anthropologie geschrieben ist, um Phänomene und Strukturen des Menschen in einer Situation [zu erforschen], in der die Humanwissenschaften umfangreiches für die Erkenntnis des Menschen relevantes Material produziert haben, und in der eine philosophisch orientierte Anthropologiekritik das Ende einer abstrakten anthropologischen Norm und die Unergründbarkeit des Menschen für den Menschen herausgestellt hat.¹⁰¹
Aus dem Bereich der Philosophie sind vor allem zu nennen ›Anima e corpo nella cultura medievale‹¹⁰² und ›Ψυχη – Seele – anima‹¹⁰³. Hier werden jedoch zumeist einzelne Texte, Autoren oder philosophische Spezialprobleme behan-
98 Jon Whitman: The Body and the Struggle for the Soul of Romance: La Queste del Saint Graal. In: The Body and the Soul in Medieval Literature. Hrsg. von Piero Boitani and Anna Torti. Perugia 1998, S. 31–61. 99 Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters. Richard Heinzmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Martin Thurner. Stuttgart 1998. 100 Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hrsg. von Gert Jüttemann, Michael Sonntag und Christoph Wulf. Weinheim 2000. 101 Christoph Wulf: Präsenz und Absenz. Prozeß und Struktur in der Geschichte der Seele. In: Die Seele, S. 5–12, hier S. 11. 102 Anima e corpo nella cultura medievale. Atti del V Convegno du studi della Societa Italiana per lo Studio del Pensiero Medievale. Hrsg. von Carla Casagrande und Silvana Veccio. Firenze 1999. 103 Ψυχη – Seele – anima. Festschrift für Karin Alt zum 7. Mai 1998. Hrsg. von Jens Holzhausen. Stuttgart, Leipzig 1998.
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delt, sodass die Relevanz für eine dezidiert literaturwissenschaftliche Fragestellung gering ist. Ähnlich verhält es sich mit Einzeluntersuchungen zu mittelalterlichen Philosophen wie ›Zur Leib-Seele-Einheit des Menschen bei Thomas von Aquin‹¹⁰⁴ und: ›Seele. Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person‹¹⁰⁵ sowie ›Leib und Seele in der Geistesgeschichte des Mittelalters‹,¹⁰⁶ das zwar die Geistesgeschichte im Titel führt, aber rein philosophiegeschichtlich argumentiert.
104 Horst Seidl: Zur Leib-Seele-Einheit des Menschen bei Thomas von Aquin. Theologie und Philosophie 49 (1974), S. 548–553. 105 Klaus Kremer: Seele. Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person. Leiden, Köln 1984. (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie 10) 106 Richard Schwarz: Leib und Seele in der Geistesgeschichte des Mittelalters. DVjs 16 (1938), S. 293–323.
1 Das göttliche Innere: anima/Seele Die Diskurse und Wissens-Milieus des 12. Jahrhunderts, in denen die menschliche Seele eine Rolle spielt, sind zahlreich: Nicht nur die Philosophie und die Theologie, auch die Medizin, die Astronomie und die Musik setzen sich differenziert mit ihr auseinander. Doch nicht alle mittelalterlichen Diskurse, in denen die Seele thematisiert wird, können hier behandelt werden und so beschränkt sich die Untersuchung auf jene Bereiche, bei denen ein Einfluss auf die weltliche Literatur am plausibelsten ist. Dies sind vor allem die monastische und die universitäre Auseinandersetzung mit jenen beiden Traditionen, aus denen sich das Nachdenken über die Seele im Mittelalter speist, nämlich Platonismus und Patristik (und hier natürlich vor allen anderen Autoren Augustin), die sich ihrerseits in weiten Teilen auf den Platonismus stützt. Für die geistliche Literatur besonders einflussreich ist vor allem die monastische Theologie der Zisterzienser und Viktoriner, aber auch die neu aufkommende Platon-Rezeption in der sogenannten Schule von Chartres.
1.1 Das zeitgenössische Wissen über die Seele Wo die antike Philosophie von der Seele spricht (und das gilt für den Platonismus ebenso wie für die Stoa und den Aristotelismus), tut sie das in aller Regel nicht aus einem anthropologischen, sondern aus einem genuin philosophischen Erkenntnisinteresse heraus. Bei der Frage nach der Seele steht nicht das Fühlen und Handeln des einzelnen Menschen im Vordergrund wie in der modernen Individualpsychologie, sondern die Metaphysik, bzw. der Zusammenhang zwischen Mensch, Kosmos und Gott: »Unter Psychologie verstand man zu dieser Zeit [im Neuplatonismus] nicht die Lehre von Verhaltensweisen des Menschen und seiner inneren Konstitution; ihr Gegenstand zu dieser Zeit war die Stellung der Seele im intelligiblen Kosmos und ihre Relation zu Geist und Materie.«¹ Vormoderne und moderne Psychologie sind deshalb bereits von ihrem Gegenstand her verschieden. Für Platon etwa gehört die Seele weniger dem Individuum an als dem ewigen Kosmos: Dasjenige, auf dessen Bestimmung es Plato vor allem ankommt, ist das Verhältniss der Seele zu einer Welt übersinnlicher Wesenheiten, nämlich den Ideen. […] die Seele aber
1 Clemens Zintzen: Bemerkungen zur neuplatonischen Seelenlehre. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, S. 43–58, hier S. 44.
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Das göttliche Innere: Anima/Seele
ist dasjenige wodurch dieser Weltgrund, der ursprünglich aus seiner eigenen Werthigkeit heraus die Welt bedingt, als ein System von subjectiven Werthvorstellungen in Bezug auf Sein wie auf Sollen anerkannt und in einer Welt lebender und fühlender Wesen zur Geltung gebracht wird.²
Wenn die Erkenntnis des Einen den eigentlichen Gegenstand der Seelentheorie bildet, ist es folgerichtig, dass die wesentliche Tätigkeit der Seele im Denken und Erkennen, nicht im Fühlen gesehen wird und dass das Zentrum der Seele der Geist ist. »Die Seele ist nach alledem für Plato dem Körper gegenüber etwas Selbstständiges und Eigenartiges und die Fähigkeit, in der sich diese ihre Eigenthümlichkeit bethätigt, ist in erster Linie das Denken.«³ Das gilt für Platon und Aristoteles gleichermaßen. Und es gilt – wenn auch mit gewissen Modifikationen – auch für das Mittelalter, denn »das Mittelalter war kein radikaler Neubeginn; es hat sich von Anfang an auf antike Formen bezogen,«⁴ und zwar auch in seiner Seelenlehre. Denn obwohl das Mittelalter von Platon nur den Menon, den Phaidon, Teile des Timaios und dessen Kommentierung durch Chalcidius kannte, war es durch die Kirchenväter, die zutiefst vom Platonismus beeinflusst waren, platonisch geprägt. Augustins platonisches Denken »bewirkte, daß das christliche Denken des Westens Gott und die Seele, das Glück und das Böse in einer beschnittenen neuplatonischen Manier konzipierte.«⁵ Auch für Augustin ist der Mensch wesentlich seine Seele, doch die Seele gehört nicht dem Individuum, sondern Gott, schon weil sie Augustin zufolge aus einer göttlichen Substanz geschaffen ist. Deshalb ist der Mensch gerade dort am ›wesentlichsten‹, wo er sich selbst transzendiert, er findet dort seine wahre Identität, wo er sich auf Gott zubewegt und sich seiner Einzelheit begibt, denn für Augustin ist »etwas um so seiender, je mehr es nach Einheit strebt und Einheit verwirklicht.«⁶ Einheit meint hier aber gerade nicht Einheit in sich selbst, sondern die Einheit mit dem eigenen Ursprung – und das ist Augustin zufolge die Einheit mit Gott: »Die beiden Fragen nach Gott und Seele wurden [im Mittelalter] lange Zeit hindurch als innerlich zusammengehörend und gleichzeitig als die wichtigsten
2 Hermann Siebeck: Geschichte der Psychologie, 2 Bd.. Gotha 1880, Bd. I, S. 247. 3 Siebeck: Geschichte der Psychologie, S. 198. 4 Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus bis Machiavelli. Stuttgart 1988 (RUB 8342), S. 23. 5 Flasch: Das philosophische Denken, S. 41. 6 Kurt Flasch: Augustinus. Eine Einführung in sein Denken. Stuttgart 1994 (RUB 9962), S. 76.
Das zeitgenössische Wissen über die Seele
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in der Philosophie angesehen.«⁷ Aus dieser Perspektive heraus ist Psychologie genuin heilsgeschichtlich und nicht profan, denn: La connaissance de soi, c’est la connaissance de l’image de Dieu en nous.⁸ L’introspection, comme la raison théologique, comme la Bible, affirme qu’il est en nous un fond divin: l’image, non pas une image morte, figée, au contraire! une image de Dieu, frémissante de vie et de charité, qui tend á une ressemblance plus parfaite.⁹
In seinen Meditationen über das Wesen der menschlichen Seele geht es Augustin also nicht um den Menschen in unserem modernen Sinne, in dem er als Individuum und Person begriffen wird, sondern um Gott als Ursprung und Ziel der Seele und Ursprung und Ziel des ganzen Menschen. Augustin sucht nicht die Erkenntnis der eigenen Innerlichkeit, [ihm] geht es nicht um eine psychologische Erfassung seiner individuellen Eigenschaften. Die Natur der Seele interessiert Augustin, nicht die individuelle Färbung seiner eigenen. Nicht sich sucht er, sondern Gott. Daher überschreitet er in sich seine eigene, nur ihm zugängliche Innerlichkeit auf ein allgemeines, in jedermann antreffbares Inneres, auf die wesenhaften Strukturen des Geistes hin, in deren trinitarischer Musterung er das formative Abbild der göttlichen Trinität erblickt.¹⁰
Und seine mittelalterlichen Rezipienten haben Augustin auch genau auf diese Weise verstanden: »Im Anschluß an Augustin wurde Selbsterkenntnis im 12. Jahrhundert als erster Schritt zur Gotteserkenntnis verstanden.«¹¹ Denn Gott kann nur von demjenigen gefunden werden, der sich selbst als Geschöpf Gottes erkannt hat. Die Seelenlehre ist hier also funktional auf Selbsterkenntnis hingeordnet: Und weil jede Seele nur sich selbst unmittelbar sehen kann, bildet die individuelle Selbsterkenntnis für jede Seele die notwendige Voraussetzung dafür, auch in der Außenwelt Seelen finden zu können […]. Der fundamentale Beweis für das Dasein einer geistigen Seele kann mithin jedem nur durch sein Schauen der eigenen Seele geliefert werden.¹²
7 Seele. Ihre Wirklichkeit, Einführung S. 1–17, hier S. 1. 8 Robert Javelet: Intelligence et amour chez les auteurs spirituels du XIIe siecle. Revue d’ascetique et de mystique 37 (1961), S. 97–164, 209–268, 273–290, hier S. 228. 9 Javelet: Intelligence et amour, S. 148. 10 Wolfgang Kersting: ›Noli Foras Ire, In teipsum Redi.‹ Augustinus über die Seele. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, S. 59–74, hier S. 60. 11 Bumke: Blutstropfen, S. 18. 12 Heinrich Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie in der Frühscholastik. Münster 1906 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters), S. 21.
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Und das ist ein gravierender Unterschied zwischen spätantik-mittelalterlichen christlichen Seelenlehren und der säkularen modernen Psychologie: Erstere sieht die Seele stets als jenen Teil des Geschöpfes ›Mensch‹ an, der seinem Schöpfer am innigsten verbunden und am ähnlichsten ist, während die Seele für eine moderne Psychologie gerade das ist, was die Individualität des Menschen, seine Personalität und Einzigartigkeit begründet. Ist die Seele für die Vormoderne ein Gegenstand der Theologie oder Kosmologie, so ist sie für die moderne Psychologie der Gegenstand einer eigenen und eigenständigen Disziplin. Der größte Unterschied zwischen den Seelenlehren der Antike, beziehungsweise des Mittelalters und der modernen Psychologie ist aber der, dass die Seelen leh re im Gegensatz zur Psycholog ie als streng spekulative und nicht als empirische Wissenschaft begriffen und betrieben wird. Sie versucht nicht, Methoden, die in den Naturwissenschaften entwickelt worden sind, auch auf die Erforschung der Seele anzuwenden, vielmehr sind gerade die spekulativen Einsichten in das Wesen der Seele die eigentlich unumstößlichsten. Platon bringt zu nachhaltiger Anerkennung die Wahrheit, dass nicht nur in den äussern Vorgängen der Natur, sondern ebenso und vielleicht in noch höherem Maße in den innern Vorgängen der Seele eine Welt von Erkenntnisobjecten beschlossen sei, deren Erforschung auf unterschiednes Wesen und auf gesetzmässigen Zusammenhang hin von nun an der Naturbetrachtung zur Seite zu gehen habe.¹³
Ähnlich verläuft die Argumentation bei Augustin: Immer erwartet Augustin, sein Argument¹⁴ sichere ihm eine Erkenntnis, die von den Zweifeln der Skeptiker prinzipiell nicht erreicht werden könne. Das Argument vollzieht die Wende in das eigene Innere als den ersten Schritt zur Wahrheitssicherung. Kein Gegenstand der Außenwelt, keine Wahrnehmung kann so gewiß sein wie die Existenz, das Leben und Denken des Zweifelnden.¹⁵
Gerade weil die Seele nicht nur das ist, was die Individualität des Einzelnen garantiert, sondern auch das, was ihn über sich selbst hinaus und zum wirklichen Sein erhebt, kann untrügliche Wahrheit nicht in der veränderlichen Dingwelt gefunden werden, sondern nur innerhalb des sich selbst erkennenden Geistes.
13 Siebeck: Geschichte der Psychologie, S. 251. 14 Gemeint ist hier das Cogito Augustinus, das Augustinus in De libro arbitrio, De trinitate und De civitate dei entwickelt und das Existenz über Denken, genauer über den Zweifel, beweist; wer zweifelt, muss, um zweifeln zu können, notwendig existieren. 15 Flasch: Augustinus, S. 59f.
Antike Quellen der Seelenlehren im 12. Jahrhundert
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Man wird der Seelenlehre, so wie sie in der Antike und im Mittelalter betrieben wird, deshalb am ehesten gerecht, wenn man sie als Teilgebiet entweder der Kosmologie, der Theologie oder der Erkenntnistheorie betrachtet. Deswegen ist es irreführend, von Psychologie zu sprechen, die heute die Wissenschaft von den Zuständen und Pathologien der menschlichen Seele, des (individuellen) Denkens und Fühlens, ist. Um diesen Unterschieden Rechnung zu tragen und Verwechslungen zu vermeiden, wird deshalb im Folgenden in Bezug auf die antike und mittelalterliche Auseinandersetzung mit der Seele der Begriff ›Seelenlehre‹ gegenüber dem der ›Psychologie‹ favorisiert.
1.2 Antike Quellen der Seelenlehren im 12. Jahrhundert: Platonismus und Neuplatonismus Für den Platonismus steht am Anfang aller Überlegungen darüber, was die Seele ist der Versuch zu erklären, was sich beim Sterben eines Menschen verändert: Der eben noch lebende, zu jeder Aktivität fähige Mensch verliert das Vermögen zu Aktion und Kommunikation […]. Offensichtlich hat sich mit dem letzten Atemzug jenes X von ihm getrennt, das den Lebenden dazu befähigte, tätig zu werden. Eben darum ist psyché als der Lebenshauch, als der Atem verstanden worden, ohne den kein Mensch und kein Tier eine spontane Bewegung tun kann. So ist von Anfang an die später oft wiederholte Metapher angelegt und vorgebildet: Der Körper ist das Werkzeug, […] durch das die Seele tätig zu werden vermag.¹⁶
Hiermit ist das wichtigste Charakteristikum der Seele, so wie sie der Platonismus versteht, angesprochen: Die Seele ist Kraft, ist Dynamik, ist Energie – sie ist eins mit den kosmischen Kräften, denn der Kosmos ist, wie der Mensch, ein Lebewesen, ist lebendig und (wie die Planetenbewegungen beweisen) auch beseelt: »Wo Platon von psyché = Seele spricht, ist jenes Wesen, jener Energieträger gemeint, der Bewegung bewirkt und der, weil seiend, nur Gutes wirken kann.«¹⁷ Vor allem in seinen frühen Schriften spricht sich ein deutlicher Leib-SeeleDualismus aus: Ausgangspunkt ist die Erfahrung eines Antagonismus zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen. Der Leib wird, wie in den orphischen Lehren, als das Gefängnis der Seele gesehen, als etwas, das mit seinen Bedürfnissen, Trieben und Schwächen die geistige
16 Heinrich Dörrie: Platons Begriff der Seele und dessen weitere Ausgestaltung im Neuplatonismus. In: Seele. Ihre Geschichte im Abendland, S. 18–45, hier S. 23. 17 Dörrie: Platons Begriff der Seele, S. 33.
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Entfaltung behindert. Daher begrüßt der Philosoph den Tod als Trennung der Seele vom Leib.¹⁸
Ihrem Wesen nach ist die Seele unsterblich und, wie Platon im ›Timaios‹ ausführt, aus Gegensätzlichem gemacht, aus Teilen gefügt, damit sie (entsprechend dem Diktum, dass etwas nur durch das ihm Gleiche erkannt werden könne) alles erkennen kann. Die Seele ist Mittler zwischen dem Unvergänglichen, Einen und dem Werdenden, Dynamischen: »Dieser Schöpfer weiß von Anfang an, daß er den Inhalt des Seienden, also des Noûs, nur unter Vermittlung eines verbindenden Dritten in die Materie einführen, d.h. diese ordnen kann; […] um es mit der Diktion des Mittelplatonismus zu sagen: Sie ist alles.«¹⁹ So wird deutlich, warum die platonische Seelenlehre eine Zwischenposition zwischen Kosmologie und Theologie einnimmt: Weil das Konzept von Seele ursprünglich dazu entwickelt wurde, zu erklären, wie das Unbelebte mit dem Belebten vermittelt und verbunden ist: »So ist die Seelenlehre unvermerkt aus einem Instrument der Naturerklärung zu einem Instrument theologisch orientierter Ontologie geworden.«²⁰ Weil die Seele ihrem Wesen nach heterogen ist, ist das unentwegte Streben ihr eigentümlich, das Streben nach Erkenntnis: Diesen aus der Verwandtschaft der Seele mit dem göttlichen entspringenden Trieb nach höchster Erkenntnis betrachtet nun Plato als dasjenige Begehren, dessen Inhalt der Eigenthümlichkeit der Seele grundwesentlich zukommt und welches daher beim Menschen auch in der hervorstechendsten Form geistig-sinnlichen Begehrens als bedingender Grund wirken muss, nämlich in den verschiedenen Ausgestaltungen der Liebe.²¹
Da der Mensch den Kosmos mit seinem Geist erfasst, ist die Verwandtschaft des Lebewesens ›Kosmos‹ mit dem Lebewesen ›Mensch‹ in seiner Geistestätigkeit begründet. Während die Seele als kosmische und unsterbliche Substanz dem Körper durch die Bewegung, die sie ihm mitteilt, Leben schenkt, schlägt der Körper sie durch die Materie, in der sie befangen ist, in Ketten. Der Körper wird deshalb von Platon immer wieder (so z.B. im ›Gorgias‹, im ›Kratylos‹ und im ›Phaidros‹) als das Grab der Seele beschrieben, die sich aus
18 Franz von Kutschera: Platon: Der Vorrang des Geistigen. In: Seele, Denken, Bewusstsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes. Hrsg. von Uwe Meixner und Albert Newen. Berlin, New York 2003, S. 1–19, hier S. 2. 19 Dörrie: Platons Begriff der Seele, S. 28. 20 Dörrie: Platons Begriff der Seele, S. 29. 21 Siebeck: Geschichte der Psychologie, Bd. I, S. 195.
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unerklärlicher Hinneigung zum Schlechten dazu verführen lässt, ihn für eine gewisse Zeit zu beleben. Der Mensch ist nicht wesentlich in der Verbindung von Körper und Seele wie später bei Thomas von Aquin, sondern der Mensch ist Seele. Die Seele verfügt über den Körper wie über ein ihr fremdes und äußerliches Instrument, wie ein Schiffsmann über sein Schiff. Vernunfttätigkeit und Erkenntnis sind die Bewegungen, die der Seele wesentlich sind: »Im Lichte dieser Gedankenreihe wird der Geist zum ersten Male wirklich zugleich Anfangs- und Zielpunkt menschlich-organischer Entwickelung.«²² Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, als neue Schriften von und Kommentare zu Aristoteles im lateinischen Westen bekannt werden, ist der Platonismus die vorherrschende geistige Strömung des Mittelalters.²³ Platonisches Gedankengut wird beispielsweise durch Augustin, Macrobius und Boethius dem 12. Jahrhundert überliefert. Neben dem ›Timaios‹ selbst und dem Kommentar von Chalcidius sind dem Mittelalter viele platonisch inspirierte Schriften wie die Texte der Kirchenväter Origines, Gregor von Nyssa, Ambrosius und Dionysius Areopagita bekannt. Pagane Autoren, die für die Überlieferung relevant sind und die Bernard McGinn unter dem Begriff »Eklektische Strömungen«²⁴ versammelt, sind Apuleius, Martianus Capella, Hermes Trismegistus und vor allem der im Mittelalter überaus populäre und umfassend überlieferte Cicero. In seinen ›Disputationen in Tusculum‹ spricht er von der Seele, deren Heimat nicht der Körper sei – Sitz der Identität ist die Seele. Der Körper ist auch hier wieder das Gefängnis der Seele, und erst wenn sie durch den Tod vom Körper befreit wird, beginnt ihr wahres Leben. Begleitet wird die Platonrezeption durch den von Plotin, Porphyrius und Proklos geprägten Neoplatonismus. Dieser erkennt den Ursprung allen Seins in dem sich in alle Seinsebenen verströmenden Einen, dessen letzte Emanation die Materie bildet. Obgleich sie also die niedrigste Stufe des Einen ist, gehört sie ihm dennoch an; anders als im Platonismus, der die Materie als reines Abbild einer Idee ansieht und als Grab des Geistes, gehört im Neuplatonismus die Materie
22 Siebeck: Geschichte der Psychologie, Bd. I, S. 252. 23 Vgl.: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters. Hrsg. von Walter Beierwaltes. Darmstadt 1969; Tullio Gregory: The Platonic inheritance. In: History of Twelfth-Century Western Philosophy. Hrsg. von Peter Dronke. Cambridge 1988, S. 54–80; Marie-Dominique Chenu: Die Platonismen des XII. Jahrhunderts. In: Beierwaltes: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, S. 268–316. 24 Diesen Begriff schlägt Bernard McGinn vor und fasst darunter »a body of texts, stretching from the early fourth to the late sixth century, of diverse litera genera and intellectual value, containing both pagan and Christian anthropological material.« Three Treatises on Man. A Cistercian Anthropology. Hrsg. von Bernard McGinn. Kalamazoo, Michigan 1977, S. 10f.
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in die Abfolge von göttlichen Emanationen hinein. In Plotins Philosophie wird die Seele zu einer transzendenten Wesenheit, einer »Hypertranszendenz,«²⁵ die keiner Erlösung durch Sakramente oder kirchliche Institutionen bedarf: Es war recht eigentlich die plotinische Seelenlehre, welche den Platonismus für das Christentum unangreifbar machte. Denn wer sich die Wertvorstellungen, die der Seelenlehre Plotins zugrunde liegen, wirklich zu eigen machte, der konnte von hoher Warte auf alle Bemühungen um Rechtfertigung und auf alle Hoffnung auf Gnade herabsehen.²⁶
Für Plotin wird die (kosmische) Seele, wenn sie sich dem Veränderlichen und Dinglichen zuneigt, durch diesen Abstieg nicht tangiert, vielmehr ist es die Materie, die durch diese Herablassung der Seele belebt und verändert, und zwar aufgewertet wird. So ist die Äußerung Plotins zu verstehen, dass nicht die Seele sich im Körper, sondern vielmehr der Körper sich in der Seele befände, denn: Für Platon ist die Seele (1) Ursache aller spontanen Bewegung; sie ist (2) überindividuelles Prinzip; sie ist (3) ein Glied in einer Kette, durch die sich das Gute in diese Welt übersetzt; daher muß sie als Maß und als Harmonie beschrieben werden; endlich ist sie (4) an und für sich seiend und somit unzerstörbar = unsterblich.²⁷
1.3 Christliche Anthropologie: Die Seele in der Patristik Die Patristik diskutiert die Frage von Seele und Körper primär im Rahmen einer anthropologischen Christologie, also im Zusammenhang mit Fragen der Leidensfähigkeit und Leiblichkeit Christi. Wo sie auf den menschlichen Körper und die menschliche Seele eingeht, ist sie stark vom Platonismus beeinflusst. Vor allem die platonische Idee des Körpers als Grab der Seele wird von der Patristik aufgegriffen und tradiert: Con questo spirito si arriverà nell’eta carolingia a stabilire – a dire il vero in maniera piuttosto maccanica – il metodo di composizione, soprattutto in materia di teologia, che doveva consistere in una trasmissione o una ripetizione di quanto avevano detto i Padri della Chiesa e i cristiani ortodossi, impedendo così, o quanto meno limitando, la riflessione personale.²⁸
25 Zintzen: Zur neuplatonischen Seelenlehre, S. 44. 26 Dörrie: Platons Begriff der Seele, S. 41. 27 Dörrie: Platons Begriff der Seele, S. 20. 28 Ilario Tolomio: ›Corpus Carcer‹ nell’alto Medioevo. Metamorfosi di un concetto. In: Casagrande, Veccio: Anima e Corpo, S. 2–19, hier S. 4.
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Beiden ist nicht nur eine gewisse Leibverachtung, sondern auch eine deutliche Ambivalenz in ihrer Haltung dem Körper gegenüber gemeinsam. Denn einerseits gehört der Leib dem Materiellen an und steht damit weit unter allem Geistigen. Doch da alles Materielle auch Schöpfung ist, darf es nicht nur nicht verworfen werden, sondern gibt auch Anlass zum Lobpreis des Schöpfers: There were some aspects of the thought of the Christian Fathers which would later lead men to prize nature highly and investigate it closely. Among these was the doctrine that the world, created by God according to number, weight and measure, was good and therefore worthy of man’s attention. More important ultimately was the ›creationist‹ view, which insists that God created the world out of nothing and without intermediaries, thus tending to minimize animism. The Fathers though were much more interested in other matters and so tended to ignore the physical world, except insofar as it exhibited God’s goodness or mirrored the spiritual world.²⁹
Doch abgesehen von der Tatsache, dass Gott die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen und für gut befunden hatte, ist es vor allem die Inkarnation, der Akt also, in dem Gott selbst Fleisch angenommen hat, der auch die platonischen Christen dazu zwingt, der Materie Wertschätzung zuteilwerden zu lassen: But there is a yet more fundamental commitment of the Catholic faith that has in the end even more profound consequences for any project of Christian Platonism, and that is the commitment to the man Jesus Christ as ›the one mediator between God an human beeings‹ (1 Tim. 2:5). The year after Augustine’s death, that commitment was formulated by the third ecumenical council, at Ephesus in 431, in the following terms: the flesh of Jesus Christ is ›life-giving flesh‹.³⁰
Dieser Widerspruch in der Beurteilung der Materie als einerseits gottgeschaffen und gottgewollt, aber andererseits in der größtmöglichen Entfernung zum göttlichen Geist stehend, teilen Platonismus und Patristik. So verfällt beispielsweise der Kirchenvater Origines einem Dualismus, der später vor allem von Thomas von Aquin heftig kritisiert werden wird. Diese Leibverachtung speist sich vor allem aus einer östlichen Spiritualität und ist unter den westlichen Kirchenvätern gerade bei denen stark ausgeprägt, die von den griechischen Vätern beeinflusst sind:
29 Richard C. Dales: The intellectual Life of Western Europe in the Middle Ages. Leiden, New York, Köln 1992, S. 265. 30 Phillip Cary: Augustine’s Invention of the Inner Self. The Legacy of a Christian Platonist. Oxford 2000, S. 46.
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Die Art und Weise, wie die lateinischen Autoren die Erschaffung und Wiederherstellung des Menschen nach dem bzw. zu dem Bild Gottes verstanden, war stark beeinflußt von ihrem Erbgut aus jüdischen und griechischen Quellen. […] Es gibt natürlich wichtige Unterschiede zwischen der jüdischen und der griechischen Anthropologie, vor allem was die griechische Trennung zwischen Körper und Seele betrifft; dies führte nämlich dazu, daß die Seele als die wahre Person und die Unsterblichkeit der Seele als das eigentliche menschliche Schicksal angesehen wurde.³¹
In dieser Tradition bildete sich bei einigen Kirchenvätern wie Gregor von Nyssa die Tendenz aus, ihre Leibfeindlichkeit durch eine Unterscheidung zwischen zwei menschlichen Körpern gegen das Argument, dass nicht verachtet werden dürfe, was Gott selbst geschaffen hat, zu rechtfertigen. Denn nicht der Leib, den der Mensch während seines irdischen Lebens habe, sei der Leib, den Gott geschaffen habe, sondern allein der sündenfreie, verklärte Auferstehungsleib: L’autre développement est relatif au statut eschatologique qui est à reconnaître à la véritable nature humaine. Il se fonde sur la doctrine de Grégoire de Nysse d’une double création du sujet humain pour sérier deux états du corp. Il y a d’abord, d’une antériorité axiologique, le corps ›spirituel‹ tel que pour le premier homme l’a conçu la Pensée créatrice: c’est le corps dit spirituel, qui est non sexué et immortel.³²
Deutlich erkennbar ist das Bestreben, die conditio humana jenseits jeder materiellen Bestimmung zu begründen. In dieser Ent-Körperlichung des Menschen artikuliert sich der gesamte aus dem Platonismus ererbte Dualismus, der viele der frühchristlichen Kirchenväter beeinflusst. Dieser Einfluss macht sich bis ins frühe 13. Jahrhundert hinein bemerkbar: »Der Trend im 12. und 13. Jahrhundert, ›das eigentliche Sein des Menschen‹ als einen völlig leibfremden, engelartigen Zustand zu deuten, ist unübersehbar.«³³ Viel zu dieser Entwicklung beigetragen haben die Sentenzen des Petrus Lombardus, der im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts, begünstigt durch das Laterankonzil von 1215, den Rang einer »seconde Bible«³⁴ einnimmt:
31 Bernard McGinn: Der Mensch als Abbild Gottes – die westliche Christenheit. In: Geschichte der christlichen Spiritualität Bd. I: Von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert. Hrsg. von Bernard McGinn, John Meyendorff und Jean Leclercq. Würzburg 1993, S. 317–334, hier S. 318. 32 Edouard-Henri Wéber: Le Person humaine au XIIe siècle. L’avènement chez les maîtres parisiens de l’acception moderne de l’homme. Paris 1991, S. 45. 33 Ingrid Craemer-Ruegenberg: Die Kritik des Thomas von Aquin an der origenistischen Seelenlehre. In: Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin, New York 1977 (Miscellanea mediaevalia 11), S. 235–252, hier S. 237. 34 Wéber: Le Person humaine, S. 58.
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Systématisant sans aucune réserve la thèse d’Augustin sur le péché originel relié de façon directe au désir sexuel, Pierre Lombard, qui y joint des emprunts aux auteurs ascétiques postérieurs, n’hésite pas à enseigner que la corruption de la chair infecte l’âme. Toutefois, soucieux de parer au dualisme manichéen, il ajoute en fidèle augustinien que c’est là situation pénale chez l’homme déchu, car c’est le péché de l’âme qui rendu la chair corrompue.³⁵
Dennoch stimmen die Positionen von Patristik und Platonismus durchaus nicht in allen Punkten überein und die Patristik weicht in wichtigen Fragen vom platonischen Seelenbegriff ab. Ihm gegenüber betonen Justin, Irenäus und Tertullian, die sich dabei auf den Johannesprolog beziehen, dass der Leib nicht Leben ist, sondern Leben hat, von Gott kommt, geschaffen ist und auch für das Leben nach dem Tod der Gnade Gottes bedarf. Dass die Seele prinzipiell endlich ist, erhellt ihnen zufolge schon daraus, dass Gott die Seele dem Menschen eingehaucht hat, womit feststeht, dass sie Beginn und Ende hat. Da der Kosmos geschaffen (und nicht ungeschaffen!) ist, lehnt beispielsweise Justin eine präkosmische Existenz der Seele ab und betont ihre wesentliche Beziehung zum Leib. Die Seele bildet eine Einheit mit dem Körper, Tertullian bezeichnet sie als das Band des Fleisches. Weil die Seele mit und für den jeweiligen Menschen geschaffen wird, kann es auch keine Seelenwanderung geben.³⁶
1.3.1 Augustin Das Mittelalter und seine Auffassung von der Seele ist in ganz besonderem Maße abhängig von der Seelentheorie Augustins.³⁷ Für seine Anthropologie bedient
35 Wéber: Le Person humaine, S. 59. 36 Zur Frage nach der Unsterblichkeit der Seele vgl.: Richard Heinzmann: Die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Leibes. Münster 1965 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 40); Leo Scheffczyk: ›Unsterblichkeit‹ bei Thomas von Aquin auf dem Hintergrund der neueren Diskussionen. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte Heft 4. München 1989; Seidl: Zur Leib-Seele-Einheit; Josef Seifert: Das Leib-Seele-Problem. Ein systematisch-kritischer Beitrag zur philosophischen Diskussion der Gegenwart. Darmstadt 1989; Heino Sonnemans: Seele – Unsterblichkeit – Auferstehung. Zur griechischen und christlichen Anthropologie und Eschatologie. Freiburg i.Br. 1984. 37 Martin Grabmann sammelt in seiner Monographie ›Grundgedanken des heiligen Augustinus über Seele und Gott in ihrer Gegenwartsdeutung. Darmstadt 1967‹ verschiedenste Zitate aus der Forschung, die Augustins Bedeutung für die Entwicklung einer theologisch-systematischen Anthropologie, deren Zentrum die Seele bildet, belegen. Vgl. dazu S. 22–24.
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er sich vor allem zweier Quellen: Platon und Paulus.³⁸ Die Seelenlehre Platons ist bereits weiter oben behandelt worden. Für Paulus ist die Grundbestimmung des Menschen eine grundsätzlich ambivalente. Durch den Sündenfall lebt er in einer unüberwindbaren Gottesferne: Der gefallene Adam ist dieser ›erste Mensch‹, der Prototyp der psychischen Menschheit. Er ruht in sich selbst, hat kein Verhältnis zum Creator. […] In dieser Haltung wird das Verhältnis von Fleisch und Geist, Leib und Seele im Menschen zum Mißverhältniß. Das Fleisch wird zum Gegenpol des Geistes, und der menschliche Geist wird infiziertes Objekt.³⁹
Allein durch Christus und die Abwendung vom eigenen Körper, dessen Konstitution noch vom Sündenfall zeugt, kann die sündhafte Natur des Menschen überwunden werden: »Diese Dualität der Möglichkeit ›Mensch‹ sucht Paulus im Alten Testament zu begründen und findet den Stoff hierzu in der Genesis I, 27 und II, 6.«⁴⁰ So tut sich eine fundamentale Kluft auf: Durch seinen sündenbehafteten Leib ist der Mensch mit dem Urvater Adam verbunden, durch den die Gottesferne verursacht worden ist, durch die Seele, die zu Gott strebt, kann die Gottesferne überwunden werden, aber dies setzt die Überwindung des Fleisches voraus. Der Mensch ist also in eine ganz konkrete Spannung von Körper und Seele gestellt – der Seele ist das Streben zu Gott inhärent, der Leib hingegen ist dazu angetan, das Streben zu Gott zu untergraben. Obwohl Paulus nicht leugnet, dass auch der Körper zum Wesen des Menschen dazugehört, löst er den Dualismus zwischen Körper und Seele nicht auf, im Gegenteil: »Oft scheint es, als ob Paulus selbst noch Gefallen habe an der Zerreißung des Ich in die Komponenten Fleisch und Geist, als ob er die Kluft in der eigenen Existenz trotz der beherrschenden Stellung des Geistes nicht überwinden wolle.«⁴¹ Augustin übernimmt sowohl von Paulus als auch von Platon die grundsätzliche Dualität in der Bestimmung der menschlichen Natur. Der Mensch ist zwar als Körperwesen geschaffen, doch dasjenige, was ihn mit Gott verbindet, was ihn den Tieren gegenüber auszeichnet und seine Untersterblichkeit begründet, ist ausschließlich seine Seele: »Wie das Verhältnis von Gott und Mensch nur ein
38 Zum platonischen Einfluss auf Augustinus’ Seelenlehre vgl.: Cary: Augustine’s Invention of the Inner Self; A. Hilary Armstrong: St. Augustine and Christian Platonism. Villanova 1967. 39 Erich Dinkler: Die Anthropologie Augustins. Stuttgart 1934, S. 13. 40 Dinkler: Die Anthropologie Augustins, S. 11. 41 Dinkler: Die Anthropologie Augustins, S. 21.
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spezielles von Gott und Seele ist, so ist auch das Imago-Verhältniss ausschließlich auf die anima rationalis bezogen.«⁴² Die augustinische Anthropologie ist insofern nicht nur durch einen fundamentalen Dualismus, sondern auch von einer Abwertung des Leiblichen charakterisiert. Diese entwickelt Augustin wiederum in Anlehnung an Paulus. Um sein Wesen zu verwirklichen, muss der Mensch seine Leiblichkeit überwinden: So sind Anthropologie und Psychologie des heiligen Augustin mit einer Moral verkettet, die ihre Wesenseigenschaften rechtfertigt. Weil in einer solchen Lehre der Mensch vor allem seine Seele ist, so können bestimmte Tätigkeiten doch dem Menschen im besondern zugeschrieben werden, wenngleich nur die Seele an ihnen beteiligt ist. Von hierher rührt eine natürliche Erkenntnistheorie und Theologie, die im entgegengesetzten Sinne des Leibes gerichtet und andauernd darauf bedacht sind, uns vom Leibe wegzuwenden, um uns zur Seele zu führen, wo sich unser größtes Gut findet.⁴³
Um den Dualismus zwischen Körper und Seele auch philosophisch begründen zu können, argumentiert Augustin für eine Substantialität der Seele: »Beweisen, daß die Seele eine Substanz sei, heißt für den heiligen Augustin nun aber an erster Stelle zeigen, daß sie vom Leibe verschieden sei. […] Wenn, wie wir sagten, alles, was für sich besteht, eine Substanz ist, dann braucht man nur zu beweisen, daß die Seele getrennt vom Leibe lebt, um zu beweisen, daß sie eine geistige Substanz ist.«⁴⁴ Ursprung und Ursache der Verworfenheit des Körpers ist der adamitische Sündenfall: Es ist notwendige Konsequenz der von Gott im Paradies gesetzten Ordnung, daß vom Zentrum des Menschseins, von der Seele aus, der ganze Mensch sein Prädikat erhält, daß von der seelischen Wandlung eine Umkehr der ganzen Existenz erfolgen muß. So wird auch der Leib, der einst von der Seele sein Leben und seine Befehle erhielt, jetzt in seiner Ganzheit verdorben. Die Infizierung des Lebensnervs bewirkte eine allgemeine Verseuchung der Kreatur. Die sanitas des Leibes, der paradiesische status mirabilis wird zur Krankheit und Gebrechlichkeit.⁴⁵
Augustin entwickelt seine Seelenlehre nicht in einem gesonderten Text, sondern in verschiedenen Schriften, in denen er sich auf unterschiedliche Weise mit dem Problem der Seele auseinandersetzt: In ›De quantitate animæ‹ verteidigt er den
42 Dinkler: Die Anthropologie Augustins, S. 68. 43 Étienne Gilson: Der heilige Augustinus. Eine Einführung in seine Lehre. Hellerau 1930, S. 87. 44 Gilson: Der Heilige Augustinus, S. 87f. 45 Dinkler: Die Anthropologie Augustins, S. 85.
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Immaterialismus der Seele gegen die materialistischen Seelenkonzeptionen der Manichäer und des Kirchenvaters Tertullian. In ›De magistro‹ entwickelt er eine Psychologie des Lernens und Lehrens, in ›De genesi ad litteram‹ werden verschiedene psychische Funktionen unterschieden, in ›De libero arbitrio‹ differenziert Augustin die äußeren von den inneren Sinneswahrnehmungen. Am systematischsten aber behandelt er die Seele in ›De Trinitate‹:⁴⁶ In diesem spekulativen Traktat entwickelt Augustin, motiviert vom Geist-Wort von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, eine Seelenlehre, die die einzelnen Seelenfunktionen und -schichten trinitarisch auslegt und nach dem Maß ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit der göttlichen Trinität ordnet; dabei erblickt er in der reinen Selbstbeziehung des Geistes aufgrund der hier herrschenden Identität von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt und Erkenntnisbeziehung die reinste Ausprägung der göttlichen Dreipersonalität und bestimmt darum auch den selbsttransparenten menschlichen Geist als gottnächsten Teil der geschaffenen Welt und das Wertvollste im Menschen.⁴⁷
Der Körper hingegen ist durch die Sünde nicht nur der Sterblichkeit, sondern auch der Begehrlichkeit verfallen: Der Leib mit seiner Sucht nach sinnlicher Lust wiederstrebt der Seele. Der einst im Paradies nur ganz latent vorhandene Dualismus von Leib und Seele wird jetzt durch den Fall existentieller Faktor. […] Wie zwischen Gott und Mensch ein Wall aufgeworfen ist, so auch zwischen Seele und Leib. Der ganze Mensch wird zur inneren Spannung, zur inneren Zerrissenheit.⁴⁸
Orientiert am Modell des ›alten Menschen‹, also dem gefallenen Adam, und dem ›neuen Menschen‹, nämlich Christus, entwickelt Augustin die Konzeption des homo exterior, der sich an die materielle Welt und sein eigenes Sein verliert, und des homo interior,⁴⁹ der sich von der Welt der Körper in sich selbst zurückzieht und dort den Weg zu Gott findet: »Dem homo exterior entspricht der Leib, dem homo interior die Seele. In dieser Duplizität menschlicher Existenz spiegelt sich der paulinisch-augustinische Gedanke des gegenseitigen Kampfes zwischen
46 Grabmann: Grundgedanken des heiligen Augustinus, S. 22. 47 Kersting: ›Noli Foras Ire‹, S. 59. 48 Dinkler: Die Anthropologie Augustins, S. 87. 49 Beispielsweise in den ›Confessiones‹, in denen er ein Gespräch widergibt, das er mit sich selbst führt: »et direxi me ad me et dixi mihi: ›tu quis es‹? et respondi: ›homo‹. et ecce corpus et anima in me mihi praesto sunt, unum exterius et alterum interius. quid horum est, unde quaerere debui deum meum, quem iam quaesiveram per corpus a terra usque ad caelum, quousque potui mittere nuntios radios oculorum meorum? sed melius est interius.« S. Aurelius Augustini Confessionum Libri XIII, ed. Martinus Skutella. Stuttgart, Leipzig 1996, Buch X, Kap. VI, S. 215, 25–216,2.
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›Fleisch‹ und ›Geist‹ wider. Die Vorrangstellung gebührt dem homo interior…«,⁵⁰ weil er, der geistige, weltabgewandte Mensch es ist, der den Weg zu Gott weist: »Das Subjekt, in welchem die Wahrheit wohnt, muß eben dem geistigen Wesen der Wahrheit entsprechen und kann infolgedessen nicht der Leib, sondern nur die Seele sein.«⁵¹ Der Körper hat an dieser Wahrheit keinen Anteil. Ganz bewusst soll der Mensch seine Aufmerksamkeit nicht seiner physischen Natur, sondern seiner heilsgeschichtlichen Konstitution zuwenden. Nicht seiner Schöpfung soll der Mensch sich hingeben, sondern Gott selbst: »Grundvoraussetzung aller Erkenntnis ist die Trennung der mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbaren sinnlichen Welt von der intelligiblen Welt, die nur dem ›geistigen Erkennen‹, der Einsicht zugänglich ist.«⁵² Augustins Anthropologie betont die erkennende Funktion der unkörperlichen, unsterblichen, ungeteilten und unausgedehnten Seele. Die Seele ist Bewegungsursache, Formursache und Zweckursache des Körpers. »Die Seele ist selbst ontologisch und axiologisch geordnet und unterscheidet daher in sich verschiedenrangige Schichten, deren höchste sie als Analogon Gottes ausweist.«⁵³ Die Seele und nicht (wie der Auffassung Aristoteles’ zufolge) ein LeibSeele-Hylemorphismus konstituiert die Person. Der Körper ist für Augustin nicht einmal für die Sinneswahrnehmungen zuständig, sondern muss eher als Instrument der Seele angesehen werden: »Hören, Sehen und all die anderen Wahrnehmungsarten sind seelische Leistungen. Nicht die Körpersinne erzeugen Wahrnehmungen, sondern die Seele erzeugt Wahrnehmung.«⁵⁴ Ihre Erfüllung findet die Seele in der Abkehr von den weltlichen Dingen und der Hinwendung zu Gott: Der eigentliche Mensch war für ihn [Augustin] die Seele. Dies blieb für das mittelalterliche Denken eine Scheinselbstverständlichkeit, die sich auch dann nicht verlor, als im 13. Jahrhundert die aristotelische Philosophie im lateinischen Westen die Führung übernahm. Die ›substantielle Einheit‹ von Leib und Seele wurde dann zwar proklamiert, aber von der Selbständigkeit des Geistes her konzipiert. […] Der Dualismus des Descartes ruht noch auf augustinischen Grundlagen.⁵⁵
50 Rudolf Strauss: Der neue Mensch innerhalb der Theologie Augustins. Zürich 1967, S. 37. 51 Grabmann: Grundgedanken des heiligen Augustinus, S. 59. 52 Strauss: Der neue Mensch, S. 33. 53 Kersting: ›Noli Foras Ire‹, S. 61. 54 Kersting: ›Noli Foras Ire‹, S. 68. 55 Flasch: Augustinus, S. 78.
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Augustin wird (vor allem als Verfasser der ›Confessiones‹) gerne als ein Beispiel früher Subjektivität und Individualität herangezogen (Krüger beispielsweise spricht in Bezug auf Augustins Theologie von der »Entdeckung des Ich«⁵⁶) und damit leicht missverstanden. Die Bedeutung der augustinischen Seelenlehre liegt nicht darin, das einzigartige Subjekt entdeckt zu haben, sondern die unmittelbare Verwandtschaft des Geistes mit der göttlichen Substanz: »Auch verleiht das Christentum den Menschen keineswegs Individualität, indem es sie mit einer Seele ausstattet, wie es bisweilen heißt. Die Seele ist eine transzendentale Instanz und gehört dem einzelnen Menschen nicht zu.«⁵⁷ Dies gilt es stets zu bedenken, wenn Augustins Einfluss für das 12. und 13. Jahrhundert geltend gemacht wird: Augustin ist fraglos einflussreich, seine Schriften werden ausgiebig rezipiert und zitiert. Aber gerade seine Seelenlehre ist (wie die der Patristik insgesamt) primär Theologie, weil nicht die Seele selbst, sondern Gott ihren eigentlichen Gegenstand bildet. Denn »das Ich ist der Spiegel Gottes« und »nur als Bild Gottes ist der Mensch Person.«⁵⁸ Die menschliche Seele interessiert Augustin folglich nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie aus göttlicher Substanz geschaffen ist und so den Menschen substantiell mit Gott verbindet: »Der Vorgang der Verinnerlichung ist daher bei Augustin nicht verständlich ohne den von ihm noch grundsätzlicher angestrebten der Transzendierung des zeitlichen Wesensorts des Menschen. Mit anderen Worten: Die Selbsterkenntnis ist unverbrüchlich kombiniert mit der Gotteserkenntnis.«⁵⁹ Kein anderer Kirchenvater ist für die mittelalterlichen Seelenlehren einflussreicher gewesen als Augustin: »In formaler Hinsicht blieb die Autorität Augustins das gesamte Mittelalter hindurch unangefochten.«⁶⁰ Vermittelt wurde seine Seelenlehre u. a. durch Petrus Lombardus und das pseudo-augustinische seelentheoretische Lehrbuch ›De spiritu et anima‹, auf das noch näher einzugehen sein wird. Die spiritualistische Anthropologie des neuplatonischen Augustinismus setzt sich so bis weit ins 12. Jahrhundert fort, wo Bernhard von Clairvaux von der ›duplex hominis substantia‹ spricht. Unter Rückgriff auf platonische Begrifflichkeiten beschreibt er den Körper als ›Krankenbett‹ (»Grabatum nostrum corpus est«), als ›Hindernis und Beschwernis‹ (»Primum enim impedi-
56 Gerhard Krüger: Grundfragen der Philosophie. Geschichte, Wahrheit, Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1965, S. 110ff. 57 Michael Sonntag: ›Das Verborgene des Herzens‹. Zur Geschichte der Individualität. Reinbek bei Hamburg 1999 (rororo 55598), S. 67. 58 Kersting: ›Noli Foras Ire‹, S. 73. 59 Alois M. Haas: Christliche Aspekte des ›Gnothi seauton‹. Selbsterkenntnis und Mystik. In: Ders.: Geistliches Mittelalter. Freiburg (Schweiz) 1984 (Dokimion 8), S. 45–70, hier S. 48. 60 Brachtendorf: Augustins Begriff des menschlichen Geistes, S. 114.
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mentum nostrum et occupatio gravis ipsa est necessitas huius miseri corporis..«), als ›Fessel und Gefängnis‹ (»…unde, nisi de conclavi huius saeculi, de ergastulo huius corporis, de compedibus necessitatis, curiositatis, vanitatis et voluptatis […] Necessitates multae miseri huius corporis detinent nos«).⁶¹ Gerade das 12. Jahrhundert ist in seiner kontemplativen Grundausrichtung stark augustinisch geprägt. Das beginnt bereits bei der Terminologie: Das begriffliche Rüstzeug für die Erforschung des ›inneren‹ Menschen im 12. Jahrhundert stammte zum großen Teil von Augustin. […] Von Augustin stammte auch der Satz, der als Motto der Spiritualität des 12. Jahrhunderts stehen könnte: ›Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im innern Menschen wohnt die Wahrheit‹ (Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas).⁶²
Augustinisch sind aber nicht nur die anthropologischen Begriffe und Konzepte des 12. Jahrhunderts, sondern auch die Definition von Selbsterkenntnis als Weg zur Gotteserkenntnis. Selbsterkenntnis dient nicht der Individualisierung. Vielmehr gemahnt die Selbsterkenntnis an die eigene Gebrechlichkeit und Sündhaftigkeit. So lassen sich zwei Grundtendenzen der Selbsterkenntis unterscheiden: Die eine zielt auf die sterbliche, kontingente Verfaßtheit des Menschen und macht ihm seine Hinfälligkeit klar. […] Die andere – insbesondere neuplatonische Umdeutung (Plotin, Proklos) – nimmt das ›Gnoti seauton‹ zum Anlaß einer umfassenden Askese, in deren Absicht die Hinführung der Vernunft zur Erkenntnis ihrer eigenen Göttlichkeit steht.⁶³
Beide Ausprägungen von Selbsterkenntnis dienen also nicht jener Selbsterkenntnis, die für den modernen Menschen untrennbar mit Subjektivität und Individualität verbunden ist: Die ›Erfindung des Selbst‹ im 12. oder 13. Jahrhundert […] ist eine Erfindung der Historiker. Man wird dort keine Individualität in irgendeinem neuzeitlichen Sinn erkennen, ein besonderes Ich, das Kriterien der Lebensführung aus dieser Besonderheit ableitet, sondern im Gegenteil die Versenkung in den homo interior, den inneren Menschen als das, was alle Christenmenschen eint und ihnen gemeinsam ist, sie als Menschen, nicht als Individuen
61 Zitiert nach S. Bernardi Opera, hrsg. von Jean Leclercq, C. H. Talbot, H. M. Rochais. Rom 1957–1977, hier IV Hebd. S. 14 (Bd. 5, S. 66, Zeile 14f.); Sept. 1,5 (Bd. 4, S. 348, Zeile 9f.); Nat. 2,3 (Bd. 4, S. 206, Zeile 1–3.9). 62 Bumke: Blutstropfen, S. 16. Bumke zitiert hier Augustins ›De vera religione‹ 39,72 aus der Ausgabe Sancti Aurelii Augustini De vera religione. Cura et studio Klaus-Detlef Daur (Opera 4,1). Turnhout 1962, S. 169–260. 63 Haas: Christliche Aspekte, S. 55.
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auszeichnet, nämlich ›Selbst‹, ›Seele‹ oder ›Ich‹ (seipsum, anima, ego) als gottgegebene Grundvoraussetzung ihres Mensch-Seins,⁶⁴
sondern der Einsicht in die Nichtigkeit dieses Selbst und die Notwendigkeit, es auf die eigene Unsterblichkeit und Gott hin zu überschreiten. Christliche Selbsterkenntnis bedeutet im Mittelalter – und gerade im augustinisch geprägten 12. Jahrhundert – Erkenntnis der Nichtigkeit alles Irdischen: »Es ist das Verdienst des 12. Jahrhunderts, diese beiden christlichen Varianten [die Einsicht in die eigene Hinfälligkeit und die Askese] des ›Gnothi seauton‹ zu entscheidenden Werten ausgebildet zu haben, die hinfort im Vokabular der Innerlichkeit […] nicht mehr wegzudenken sind.«⁶⁵
1.4 Die Theologie des 12. Jahrhunderts: Die Seele als Verbindung mit Gott Obgleich Teile der aristotelischen Natur- und Seelenlehre auch dem 12. Jahrhundert bereits durch Boethius, Chalcidius’ ›Timaios‹-Kommentar und vor allem die Schrift ›De natura hominis‹ des Nemesius von Emesa (ca. 400), die um 1085 durch Alfanus von Salerno und 1165 erneut von Burgundio von Pisa übersetzt wurde, bekannt gewesen sind, spielt die aristotelische Seelenlehre im 12. Jahrhundert noch keine nennenswerte Rolle. Nemesius konstituiert zwar mit ›De natura hominis‹ »a distinct link with the peripatetic biological tradition.«⁶⁶ Doch obwohl Nemesius darin die einschlägige aristotelische Seelen-Definition von der Seele als erstem Akt eines mit Organen ausgestatteten, potentiell belebten Körpers anführt, fehlt das Verständnis für den aristotelischen Formbegriff, das eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Bestimmung voraussetzt: Schon vor dem Bekanntwerden der aristotelischen Psychologie des 13. Jahrhunderts […] war die Seelendefinition des Stagiriten aus dem Timaeuskommentar des Chalcidius bekannt. Die mit dem philosophischen Begriffsmaterial des Aristoteles nur dürftig vertraute Welt des Frühmittelalters lehnte jedoch […] aus ihrer augustinisch-spiritualistischen Einstellung heraus die stark biologisch orientierte Formulierung ab; es fehlte ihr vor allem das richtige Verständnis für den aristotelischen Formbegriff.⁶⁷
64 Sonntag: ›Das Verborgene des Herzens‹, S. 67. Hervorhebungen im Original. 65 Haas: Christliche Aspekte, S. 55. 66 S. D. Wingate: The Medieval Latin versions of the Aristotelian Scientific Corpus. London 1931, S. 32. 67 Leo Norpoth: Der pseudo-augustinische Traktat: De Spiritu et Anima. Philosophische Dissertation. München 1924, erstmals gedruckt anstelle einer Festschrift. Köln, Bochum 1971, S. 80.
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Dass das 12. Jahrhundert für die Frage nach der Seele Aristoteles (oder die aristotelischen Bestimmungen, über die es verfügte) nicht heranzog, lag aber wohl nicht nur daran, dass es ohne seinen Formbegriff seine hylemorphische Seelen-Definition nicht nachvollziehen konnte, sondern vor allem daran, dass seine Fragen nach der Seele von einem asketischen Streben zu Gott bestimmt waren und nicht von einem säkularen Wissensdrang, der sich auf die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten richtete: Einige behaupteten sogar, daß das 12. Jahrhundert mit seinem gesteigerten Trachten nach Selbsterforschung […] ›die Entdeckung des Individuellen‹ brachte. Übertriebene Behauptungen hinsichtlich eines neuen Individualismus lassen jedoch sowohl die vielfältigen Bindungen des Denkens im 12. Jahrhundert an die Vergangenheit, vor allem an Augustinus, außer acht, wie sie den Unterschied übersehen, der zwischen dem Selbst besteht, das in Wechselwirkung mit einer Gruppe und in Übereinstimmung mit einem Archetyp oder Vorbild gewachsen ist, und jenem Selbst, das dem modernen Begriff von Individualismus entspricht.⁶⁸
Der grundlegende Unterschied zwischen den Auseinandersetzungen um die Seele im 12. und im 13. Jahrhundert dürfte also vor allem in der Richtung des Fragens und des Erkentnisinteresses liegen. Genau das ist es, was die Beschäftigung des 12. Jahrhunderts mit der Seele von der des 13. Jahrhunderts auf so fundamentale Weise unterscheidet: Während das 12. Jahrhundert vor allem den geistigen Weg zur Erkenntnis Gottes sucht, strebt das 13. auf dem Weg, den ihm die philosophischen Übersetzungen aus dem Arabischen gewiesen hatten, nach einem rationalen und kohärenten Weltbild. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts hatten ein Wissen vorzutragen, das nicht mehr der klösterlichen Meditation diente und das nicht Offenbarungsquellen entnommen war. Ihre lebenslange, intensive Beschäftigung mit den Werken des Aristoteles und der Araber zeigte ihnen, was eine zusammenhängende wissenschaftliche Untersuchung war; ein neuer Begriff von wissenschaftlichem Vorgehen und immanenter Kohäsion war die Folge.⁶⁹
Genau das verhält sich anders im Fall der monastischen Autoren, die im 12. Jahrhundert die einschlägigen Werke zur Seelenlehre verfassen. Vor allem bei den Zisterziensern (obwohl gerade sie es sind, die die arabischen medizinischen Werke besonders rege rezipieren) stellt sich die Frage nach dem Wesen der menschlichen Seele im Rahmen einer kontemplativen Aufstiegsmystik. Auch
68 McGinn: Der Mensch als Abbild Gottes, S. 328. 69 Flasch: Das philosophische Denken, S. 27.
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dort, wo die Theologie sich mit der Seele auseinandersetzt, tut sie das vor allem, um sich Gott anzunähern:⁷⁰ It was […] of the essence of twelfth-century thought that it was theologically orientated. The world had neither meaning nor intelligible pattern until it was related to God. Psychology, as the Cistercians understood it, was the study of the mind or soul in its ascent to God, friendship was the relationship of men in Christ, and autobiography was the confession of God’s goodness and the writer’s sin.⁷¹
Das (natur-)›wissenschaftliche‹ theologische Bemühen ist im 12. Jahrhundert insofern als spirituelle Erkenntnisbewegung, nicht als säkularer Forscherdrang zu verstehen. So beispielsweise bei Wilhelm von St. Thierry (1075–1148) in seinem Traktat ›De natura corporis et animæ‹: Wie betont Wilhelms [von St. Thierry] Grundperspektive in seinen Aussagen über den Menschen eine theologische und aszetische-moralische ist und sein will, zeigt sich im übrigen auch an der Weise wie er, ganz an Augustinus orientiert, die Selbsterkenntnis, zu der der Mensch aufgefordert ist und zu der ihm der vorgelegte Traktat verhelfen möchte, verstanden wissen will. Inhaltlich ist sie das Innewerden der Armseligkeit des Menschen, vor allem aber der Weise, in der der Mensch bzw. die Seele Bild Gottes ist. In sich selbst könne diese Selbsterkenntnis indes nicht ihr Genügen finden.⁷²
Deshalb trifft es auch nicht zu, dass »one of the common preoccupations of the [Cistercian] school is an interest in the soul for its own sake.«⁷³ Vielmehr waren »the Cistercians […] speculative, but they speculated only in order to arrive at the solution of a completely practical problem. Ultimately they were moralists, their principal aim being the achievement of union with God by means of the ascetic life.«⁷⁴ Die Seele wird im 12. Jahrhundert nämlich zumeist nicht⁷⁵ – und vor allem bei den Zisterziensern nicht – um ihrer selbst willen untersucht, sondern ist (ent-
70 Vgl.: »Selbsterkenntnis, die nicht unmittelbar dazu dient, das Empfinden des einzelnen für Sündhaftigkeit und sein Bekenntnis zur Demut zu vermehren – sondern sich verkehrt in curiositas, d.h. in eine rein intellektuelle Übung ohne moralische Umgestaltung –, ist für Bernhard ein Greuel.« McGinn: Der Mensch als Abbild Gottes, S. 329. 71 Colin Morris: The discovery of the individual 1050–1200. Toronto 1995 (1. ed. 1928), S. 161. Hervorhebungen im Original. 72 Theodor Köhler: Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert. Die Erkenntnisbemühungen um den Menschen im zeitgenössischen Verständnis. Leiden 2000 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 71), S. 70. 73 G. Webb: An Introduction to the Cistercian de Anima. London 1962, S. 4. 74 G. Webb: The Cistercian de Anima, S. 18. 75 Dass es Ausnahmen gibt, wird nicht bestritten.
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sprechend der Erforschung des menschlichen Körpers) in jedem Punkt auf ein theologisches Erkenntnisinteresse bezogen, vermag das Wissen um Aufbau und Wesen der Schöpfung den Menschen doch in die Lage zu setzen, Gott in seinen Werken zu verehren. Nur scheinbar lassen die Titel ›De natura corporis et animæ‹ oder ›De unione corporis et spiritus‹ [erkennen], daß das Interesse am ›inneren‹ Menschen immer zugleich ein Interesse am ›äußeren‹ Menschen einschloß. Das Funktionieren der inneren Sinne war nicht zu beschreiben und nicht zu verstehen, wenn man nicht vorher geklärt hatte, wie die äußeren Sinne arbeiten,⁷⁶
denn das Interesse am ›äußeren‹ Menschen entspringt dem Interesse am ›inneren‹ Menschen und ist als die gleiche Frage in anderer Formulierung zu verstehen. Alles Forschen als ›Selbstzweck‹, aus reiner Erkenntnislust, ist, gut augustinisch, ›cupiditas oculorum‹ und damit verwerflich. Gerade ›De natura corporis et animæ‹ Wilhelms von St. Thierry verfolgt ein keineswegs am Körper des Menschen interessiertes, sondern ein kontemplatives Interesse: Für Wilhelm von St. Thierry ist die Reflexion auf den Menschen wie für Hugo von St. Viktor oder Bernhard von Clairvaux unmittelbarer Vollzug spiritueller Selbsterkenntnis, die den Menschen zu Gott emporführt und ihn zugleich davor bewahrt, in eitler, nutzloser Neugier sein Erkenntnisstreben an die äußeren Dinge der Natur zu verschwenden. Reflexion auf den Menschen an sich zum Zweck der Selbsterkenntnis einerseits und Erkenntnis, die den Dingen in der Natur außerhalb des Menschen nachgeht, andererseits treten somit bei Wilhelm von St. Thierry spürbar auseinander. […] Wilhelms Sicht […] ist von den Gedankengängen des Augustinus geprägt, die dieser in De vera religione in die Aufforderung münden läßt, sich nicht nach außen zu wenden, sondern in sich selbst zurückzukehren, dorthin, wo im inneren Menschen die Wahrheit wohnt.⁷⁷
Und Hugo von St. Viktor, der die ›Explanatio in canticum Beatæ Mariæ‹ (in die Kontroversen über die Einheit der Seele eingeflochten sind) und ›De unione corporis et spiritus‹ geschrieben hat, steht Wilhelm von St. Thierry in seiner augustinischen Weltabkehr in nichts nach. Für Wilhelm ist die Selbsterkenntnis »kein Selbstzweck, vielmehr nur zweckdienlich im Hinblick auf den Aufstieg des Menschen zu Gott, wie es auch der Vorstellung von Selbsterkenntnis des Menschen bei Hugo von St. Viktor entspricht.«⁷⁸ Beide, Hugo von St. Viktor und Wilhem von St. Thierry, behandeln in ihrem Fragen nach der Seele zwar auch den menschlichen Körper. Aber sie bemühen
76 Bumke: Blutstropfen, S. 21. 77 Köhler: Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses, S. 65f. 78 Köhler: Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses, S. 70.
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sich merklich darum, diese Darstellung in einen heilsgeschichtlichen Kontext einzubinden. Beide sehen sich im strengen Gegensatz zu jenen, die – wie beispielsweise Wilhelm von Conches – den Menschen im Rahmen ihrer Naturerforschung behandeln. Denn für sie ist er weniger Teil der Natur als Teil der göttlichen Heilsordnung. Deshalb ist auch für sie wie für Augustin der Mensch im wesentlichen identisch mit seiner Seele. Der Körper ist der Aspekt seines Seins, der störend und belastend auf ihr Streben nach Vereinigung mit Gott einwirkt, indem die Seele »von der Last ihres sterblichen Leibes niedergedrückt«⁷⁹ wird. Zu erforschen ist nicht die Welt um der Selbsterkenntnis willen, sondern der Mensch um der Gotteserkenntnis willen: »Der Aussagenbereich über den Menschen in De natura corporis et animæ ist also von anderer Art als der in der Philosophia des Wilhelm von Conches. Er bringt den Menschen insgesamt zur Sprache, insofern er Teil der Heilsordnung, nicht insofern er Teil der Naturordnung ist.«⁸⁰
1.4.1 Das ›Schulbuch‹ der mittelalterlichen Seelenlehre: ›De spiritu et anima‹ Der Traktat ›De spiritu et anima‹ hat als ›Schulbuch der Seelenlehre‹ des 12. Jahrhunderts zu gelten, da er kompilatorisch die wichtigsten Quellen der zeitgenössischen Seelentheorien aufgreift. Weil er bis zu Thomas von Aquin als eine Schrift Augustins gegolten hatte, war seine Autorität unangefochten. Entsprechend breit ist dieses ›Schulbuch‹ überliefert, allerdings wohl nicht nur wegen seiner Zuschreibung zu Augustin, sondern auch, weil es die wichtigsten Erkenntnisse über das Wesen der Seele zusammenträgt und systematisiert: The Liber de Anima et Spiritu of Alcher of Clairvaux one may well think of as the basic Cistercian de Anima textbook. It is, as Gilson says, »a compilation of innumerable notions on the soul, drawn from all the Latin sources available at the time […]: Lactantius, Macrobius, Augustine and Boethius, Bede, Alcuin and Hugh of Saint Victor.«⁸¹
Seine Quellen sind vor allem Augustin, und zwar ›De quantitate animæ‹, ›Confessiones‹, ›Soliloquia‹ und ›De genesi ad litteram‹. Verarbeitet ist außerdem der ›Commentarius in somnium Scipionis‹ des Macrobius, der ›De anima‹-Traktat des
79 Haas: Christliche Aspekte, S. 57. 80 Köhler: Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses, S. 71. 81 Webb: The Cistercian de Anima. Hervorhebungen im Original. Webb zitiert hier: Étienne Gilson: La philosophie au moyen âge. Paris 1944, S. 301.
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Cassiodorus, Alcuins ›De animæ ratione‹, Hildeberts von Lavardin ›Liber de conflictu carnis et animæ‹, die ›Meditationes‹ Anselms von Canterbury und von den Zeitgenossen vor allem Wilhelms von Conches ›Philosophia‹, Wilhelms von St. Thierry ›De natura corporis et animæ‹, Richards von Clairvaux ›Sermones in Cantica Canticorum‹ (die ihm später abgesprochen wurden) und Hugos von St. Viktor sowie Isaaks von Stella ›Epistola de anima‹. Auch Autoren wie Alanus de Insulis kennen, erwähnen und nutzen dieses umfassende Kompendium zur Seelenlehre: Wenn man die wichtigsten Themata überschaut, die zur Behandlung kamen – Selbsterkenntnis, Einteilung der seelischen Vermögen, Ebenbildlichkeit der Seele, Leib-Seele-Problem, Unkörperlichkeit, physiologisch-somatologische Fragen, außerordentliche Erkenntnisarten, Sinneserkenntnis –, wird man in diesem Teile des Traktates ein über die meisten damals interessierenden Fragen der Psychologie unterrichtendes Handbuch sehen können.⁸²
Ziel des Traktates ist es aber nicht, Einsichten in die Seele als wissenschaftlichen Selbstzweck zu geben. Der Traktat verfolgt keine wissenschaftlichen oder psychologischen, sondern klar theologisch-kontemplative Ziele. ›De spiritu et anima‹ ist ein monastisches Werk. Es wirkt darauf hin, dass »dem von der Welt abgewandten und in frommer Ergebung auf Gott hin gerichteten Menschen der Weg zu Gott geöffnet wird.«⁸³ Damit hat der Traktat »den Zweck, der Gotteserkenntnis die Grundlage abzugeben«:⁸⁴ Ab hoc ergo mundo ad Deum revertentes, et quasi ab imo sursum ascendentes per nosmetipsos transire debemus. Ascendere enim ad Deum, est intrare ad se ipsum: et non solum ad se intrare, sed ineffabili quodam modo in intimis, se ipsum transire. Qui enim interius intrans et intrinsecus penetrans se ipsum transcendit, ille veraciter ad Deum ascendit.⁸⁵
82 Norpoth: De Spiritu et Anima, S. 17. Dieser Text ist eine überlieferungsgeschichtliche und textkritische Untersuchung sowie eine philosophiegeschichtliche Analyse mit Edition des zwischen Kapitel 33 und 34 eingeschobenen Abschnittes ›De septiformi distinctione rerum‹. Im Folgenden wird er abgekürzt zitiert als ›Norpoth: De Spiritu et Anima. Wo aus der Edition (Patrologiae Latinae Cursus completus 40, Col. 779–832) zitiert wird, wird die Abkürzung ›De spiritu et anima‹ mit Abgabe des Kapitels und der Columne verwendet. 83 Norpoth: ›De Spiritu et Anima‹, S. 74. 84 Norpoth: ›De Spiritu et Anima‹, S. 74. 85 ›De spiritu et anima‹, Caput XIV, Col 791. Dieser Aufstieg zu Gott durch die eigene Seele kann deshalb vollzogen werden, weil die Seele gottähnlich ist und so die Erkenntnis der Seele den Weg zu ihm eröffnet. Der Weg zu Gott führt zunächst ins eigene Innere, und streng augustinisch kann allein dieser Weg schließlich zu Gott führen: »Erst wenn die Seele in der Erhebung über sich selbst hinaus hierher [zu einem Punkt, von dem aus sie sich zum Göttlichen aufschwingen
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Es ist nicht ohne Grund, dass dieser Traktat für eine Schrift Augustins gehalten worden ist. Er veranschaulicht eindrucksvoll die Kontinuität der augustinischen Seelenlehre von der Spätantike bis ins 12. Jahrhundert: Unser Traktat [›De Spiritu et Anima‹] ist nur stellvertretend für Ansichten einer Erkenntnis- und Seelentheorie, die dem 5. Jahrhundert ebensogut zu eigen sein konnte, wie sie es dem 12. Jahrhundert war, die am Eingang des Mittelalters nicht anders gelehrt wurde als unter dem Gipfel der Scholastik. Zwischen diesen beiden chronologischen Grenzpunkten ist die Chronologie für diese Disziplin des mittelalterlichen Denkens so gut wie aufgehoben, ist sie jedenfalls belanglos geworden. […] In diesen Jahrhunderten ist alle christliche Psychologie augustinisch, augustinisch immer in ihrem Wesen, zum Teil sogar authentisch augustinisch, d.h. die eigenen Worte und Gedanken des Kirchenvaters sind als auctoritatem habentes in späteren Abhandlungen über die Seele enthalten.⁸⁶
Die Attribute, die der Traktat der Seele zuweist, gehören seit Augustin zum Gemeingut des abendländischen Wissens über die Seele: Obwohl sie substa nt iel l ist, ist sie dennoch i m mater iel l, was bedeutet, »daß [die Seele] nicht aus Materie und Form besteht, sondern reine Form ist.«⁸⁷ Diese Bestimmung ist im 12. Jahrhundert nicht ganz unkontrovers, weil immer wieder (wie z.B. bei Cassianus und Gennadius von Marseille) darauf hingewiesen wird, dass es nichts Immaterielles gäbe außer Gott. Aus der Immaterialität der Seele leitet sich ihre G eist igkeit ab: Die Seele ist nicht räumlich, sondern in jedem Teil des Körpers gleichermaßen gegenwärtig und hat keine Ausdehnung. Das wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, dass sie in voneinander differenzierbare Vermögen aufgegliedert werden kann wie in die vis rationalis, irascibilis und concupiscibilis. Anders als Platon, auf den diese Konzeptionen zurückgehen, wird hier nämlich keine Lokalisierung dieser Kräfte im Körper vorgenommen.⁸⁸ Das Bemühen, die Seele als eine ei n heit l iche, u ntei lba re und kohä rente Substa nz aufzufassen, ist unverkennbar. Mit dieser Einheitlichkeit und prinzipiellen Selbständigkeit der Seele ist aber immer auch ein unaufhebbarer Dualismus in Kauf genommen: Da die
kann] gelangt ist, besitzt sie die volle, ganze Wahrheit und das auf Erden größtmögliche Glück. So schreitet der Weg der Erkenntnis von der Außenwelt zum seelischen Inneren und darüber hinaus zum erhabenen Göttlichen (ab exteritoribus ad interiora, ab interioribus ad superiora).« Norpoth: ›De Spiritu et Anima‹, S. 138f. 86 Kolb: Der Begriff der Minne, S. 126, Hervorhebung im Original. 87 Norpoth: ›De Spiritu et Anima‹, S. 84. 88 Zur Lokalisierung der einzelnen Seelenvermögen in spezifischen Körperteilen vgl. Alexander Brungs: Metaphysik der Sinnlichkeit. Das System der Passiones Animæ bei Thomas von Aquin. Halle 2002 (Akademische Studien und Vorträge 6), S. 20ff.
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Seele über ihre eigene, vom Körper unterschiedene und unabhängige Substanz verfügt, ist der Mensch stets als ein Zusammengesetztes zu sehen, das sich eben nicht aus einer, sondern aus zwei verschiedenen Substanzen konstituiert: »Wie diese naturphilosophische Ansicht auch beurteilt werden mag, jedenfalls ist dadurch der Gegensatz zwischen Körper und Geist scharf ausgeprägt. Und so fein auch der feinste Körper und so geistähnlich und fast unkörperlich er sein mag, der Geist kann niemals Körper werden und der Körper niemals Geist.«⁸⁹ Hier deutet sich der Dualismus zwischen Seele und Körper an, der u.a. in ihrer Substantialität, beziehungsweise ihrer Immaterialität begründet ist: Die Verbindung von Körper und Seele ist letztlich nicht zu erklären und Augustin zufolge »schwieriger zu glauben als die Menschwerdung Gottes.«⁹⁰ Alcher differenziert in ›De spiritu et anima‹ die Seelenvermögen in die Sinneserkenntnis, die er auf sensus und imaginatio aufteilt, die eng mit den fünf äußeren Sinnen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn) zusammenarbeiten und durch sie ihre Eindrücke und Wahrnehmungen gewinnen. Gemeinsam bilden sie die niedere Erkenntnis, weil jedes sinnengebundene Erkennen zutiefst fehlbar ist. Weil die Seele unkörperlich ist, ist sie unvergänglich. Alcher verwendet, um das Verhältnis der unsterblichen Seele zum vergänglichen Körper zu illustrieren, den Vergleich mit einem Musikinstrument, das ertönt, wenn es vom Musiker gebraucht wird. Wird das Musikinstrument zerstört, hat das jedoch keinerlei Auswirkungen auf den Musiker – es ist allein sein Instrument, das der Zerstörung unterworfen ist. Ein ähnlich instrumentelles Verhältnis besteht zwischen der Seele und ›ihrem‹ Körper. Die Unvergänglichkeit der Seele erklärt sich vor allem aus ihrer Gott-Ebenbildlichkeit. Gerade darin drückt sich ihre Ebenbildlichkeit aus, dass die Seele – wenn auch nur durch Gottes Gnade – unsterblich ist. Dieser Punkt ist nicht nur für ›De spiritu et anima‹, sondern in nahezu allen christlichen Seelenlehren des 12. Jahrhunderts zentral: Die Seele ist eine göttliche oder gottähnliche (wenn auch nicht gottgleiche) Substanz, die durch ihre Geschaffenheit, ihre Unsterblichkeit und ihre Unstofflichkeit die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott begründet: Selon Richard [von St. Viktor] l’âme humaine, avons-nous vu, doit passer à la ›ressemblance‹ personnelle de l’Esprit-Saint. Traduisez: elle doit devenir ›pneumatique‹, dépasser le sensible et la raison. C’est que nous sommes les images de Dieu, hélas terniers trop
89 Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor, S. 38. 90 Strauss: Der neue Mensch, S. 42. Strauss verweist hier auf ›De Civitate Dei‹ X, 29,2 (unter Verwendung von Migne PL).
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souvent par la ›dissemblance‹. Enlisées dans cette ›région‹ de la chair, dans les marais du péché.⁹¹
Welchen Ursprungs die Seele ist, ist bis zum 12. Jahrhundert noch weithin strittig. Diskutiert werden zwei Positionen: der Generatianismus, der davon ausgeht, dass die Seele durch den Zeugungsakt vom Vater auf das Kind übergehe und der Kreatianismus, der Gott zum Schöpfer aller menschlichen Seelen macht. Vor allem die Erbsündenlehre bereitet den Kreatianisten Probleme. Man ging deshalb dazu über, die Erbsünde sich durch das Fleisch fortpflanzen zu lassen. Denn so ist allein dieses vom Makel der Erbsünde betroffen und nicht die Seele, die als makellose aus dem göttlichen Schöpfungsakt hervorgeht.
1.4.2 Zur Rezeption von ›De spiritu et anima‹: Thomasins von Zerclære ›Der Wälsche Gast‹ Im Einleitungskapitel ist bereits angedeutet worden, dass das Vokabular, das zur Beschreibung des Inneren einer literarischen Figur herangezogen wird, in aller Regel unterminologisch gebraucht wird. Das zweite Kapitel wird diese Behauptung durch Textbelege untermauern. Der Sachverhalt, dass die höfische Literatur die theologischen Seelenlehren des 12. Jahrhunderts nicht aufgreift, könnte nun leicht darauf zurückgeführt werden, dass die höfischen Autoren und ihre Rezipienten mit den theologischen Seelenlehren nicht vertraut gewesen sind. Ohne eine weitergehende und genaue Vertrautheit der Autoren höfischer Literatur mit den Seelenlehren unterstellen zu wollen, soll zumindest die Möglichkeit einer solchen Kenntnis (die ja bereits durch die monastische Ausbildung vieler höfischer Autoren nahegelegt wird) an einem Beispiel unterstrichen werden: Am Beispiel des ›Wälschen Gastes‹ Thomasins von Zerclære, der als einziger (mir bekannter) Text mit höfischem Hintergrund⁹² eine an die theologischen Seelen-
91 Javelet: Intelligence et amour, S. 145. 92 Mit dieser Formulierung ist die Zwischenstellung des ›Wälschen Gasts‹ zwischen laikaler Didaxe und höfischer Tugendlehre angedeutet. In seinem Artikel zu Thomasin von Zerklære weist Christoph Cormeau darauf hin, dass der Autor vor der Abfassung des ›Wälschen Gasts‹ »in der oberital.-provenzalischen Literatursprache ein ›buoch von der hüfscheit‹ (v. 1174f., 1552ff.), über das rechte Minneverhalten« verfasst habe (Christoph Cormeau: Art. ›Thomasin von Zerklære‹, 2 VL, Bd. 9, Sp. 896–902, hier Sp. 897, Hervorhebung im Original.). Doch auch inhaltlich steht der ›Wälsche Gast‹ höfischen Idealen nahe, erstens durch den adligen und laikalen höfischen Adressatenkreis, den er anspricht, zweitens aber auch durch die Quellen, die er verwendet. Neben den scholastischen Autoren, aus denen er insbesondere für seine Seelenlehre geschöpft haben könnte (»Th. ist hochgebildet, wenngleich über seinen Ausbildungsgang nichts bekannt
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lehren angelehnte Auseinandersetzung mit der Seele entwickelt, lässt sich eine solche Vertrautheit plausibilisieren. Der Abschnitt über die menschliche Seele scheint mir eine Rezeption von Alchers von Clairvaux ›De spiritu et anima‹ nahe zu legen. Das möchte ich an folgenden Punkten exemplarisch zeigen: An Thomasins Terminologien, an den Differenzierungen der Seelen-Kräfte, die er vornimmt und am Prozess der Wahrnehmung, den Thomasin weitgehend analog zum Traktat ›De spiritu et anima‹ konzipiert. Im VII. Buch seines ›Wälschen Gasts‹ von 1215/16⁹³ schickt sich Thomasin an, eine Seelenlehre zu entwickeln, die er mit den Worten einleitet: »und sage iu waz meisterschaft / diu sêle im lîbe müge hân.« (v. 8486f.)⁹⁴ Zunächst greift er die Bestimmung der Substantialität der Seele auf, wenn er den Menschen als Wesen aus Leib und Seele definiert: Hie wil ich iuch wizzen lân daz ein iegelîch man von sêle und lîbe geschaffen ist. dâ von sô muoz er zaller vrist von in bêdn die krefte hân die in bêdn sint undertân. (v. 8499–8504)
In Alchers Worten hört sich die Bestimmung der Substantialität der Seele folgendermaßen an: »Ex duabus substantiis constat homo, anima et carne; anima cum ratione, carne cum sensibus suis: quos tamen sensus non movet caro absque animæ societate; anima vero rationale suum tenet sine carne.«⁹⁵ Auch Thomasin deutet in der Einordnung des Körpers und der Bestimmung seines Verhältnisses zur Seele an, dass die Ebenbildlichkeit nicht in ihm, sondern in der Vernunftfähigkeit des Menschen begründet liege:
ist. […] Deutlich erkennbar ist seine Anlehnung an Autoren der sog. Schule von Chartres; das Wilhelm von Conches zugeschriebene ›Moralium dogma philosophorum‹, […] des Alanus ab Insulis ›Anticlaudianus‹ und ›De planctu Naturæ‹, Johannes von Salisbury,« Cormeau: ›Thomasin von Zerklære‹, Sp. 899) sind das auch »Antiken-, Artusroman und Karlsgeschichte.« Cormeau: ›Thomasin von Zerklære‹, Sp. 899. 93 Vgl. VL Bd. 9, Sp. 896–902. 94 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. von Heinrich Rückert. Quedlinburg, Leipzig 1852. Zwar liegt mittlerweile eine neuere Edition vor (Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms. Berlin, New York 2004), doch diese ediert den Text von Rückert und umfasst nur Auszüge des Werkes, weshalb ich aus der alten Edition zitiere. 95 ›De spiritu et anima‹, Caput III, Col. 781.
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Got machet uns nâch sîner getât, do er uns gap des sinnes rât: solt wir danne daz verkêren ze bœsen dingen und zunêren, daz an uns gotes bilde hât, sô volgte wir niht wîsem rât. (v. 8623–8628)
Alcher bemerkt zur Frage nach der Ebenbildlichkeit, dass die Seele eine eigenständige Substanz sei. Weil das, was dem Menschen seine Personalität verleiht, nämlich die Tatsache, dass er Geschöpf Gottes ist, in seiner Seele besteht, bedarf er des Körpers nicht – dieser ist allein ein Instrument der Seele, die ihn regieren soll: »Animus corporis dominator, rector, habitator videt se per se: per se ipsum semetipsum videt. Non quærit auxilium corporalium oculorum, imo vero ab omnibus corporis sensibus tanquam impedientibus et perstrepentibus abstrahit se ad se, ut videat se in se, ut noverit se apud se.«⁹⁶ Im ›Wälschen Gast‹ ist der Körper die Magd der Seele. Sie zu unterwerfen und zu züchtigen ist Aufgabe der Seele: alsô diu sêle tiwerre ist danne der lîp zaller vrist, alsô ist ouch der sêle kraft tiwerre danne des lîbes maht. (v. 8509–8512)
Sündig wird die Seele dann, wenn sie den Versuchungen des Leibes erliegt und ihn nicht beherrschen kann. Deshalb ist es auch nur gerecht, dass sie körperlich zu leiden hat, wenn sie in der Hölle leibliche Schmerzen erdulden muss: Niemen sol des nemen wunder daz diu sêl muoz haben kumber: sît si volgt des lîbes rât, von reht si ouch den kumber hât, wan si solt mit widerstrît betwingen den lîp zaller zît. (v. 9589–9594)
Obwohl die Seele den Körper beherrschen soll wie ein König seinen Untertan, besteht zwischen beiden kein Verhältnis von Feindschaft, vielmehr sind Körper und Seele Genossen und die Seele liebt ›ihren‹ Körper, auch wenn sie von ihm wie in einem Gefängnis festgehalten wird: »Quibusdam affectibus et quadam amicitia anima corpori conjungitur, secundum quam amicitiam nemo carnem suam
96 ›De spiritu et anima‹, Caput II, Col. 781.
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odio habet. Sociata namque illi, licet ejus societate prægravetur, ineffabili tamen conditione diligit illud; amat carcerem suum, et ideo libera esse non potest.«⁹⁷ Der Körper ist zwar in seiner Unvernunft auf die Anleitung und Herrschaft der Seele angewiesen, doch es wird ihm keine Verachtung zuteil. Als Schöpfung Gottes ist er bewundernswert. Thomasin preist den menschlichen Körper als kunstvoll und vernünftig aufgebaut: und merke waz man unde wîp wunders hânt in ir lîp von âdern unde von gebeine. du solt wizzen daz niender eine âder ist überec; der lîp ist harte wol geworht mit list. daz diu sêl dar inne bestât und doch ander natûre hât, daz ist ein grôziu meisterschaft die dar geleit hât gotes kraft. (v. 9695–9704)
So wie Thomasin den Menschen als Schöpfung aus den zwei verschiedenen Substanzen Körper und Seele betrachtet, so erkennt er auch in der menschlichen Wahrnehmung und Reflexion ein Ineinandergreifen und ein Zusammenspiel der physischen und psychischen Kräfte. Die Wahrnehmung beginnt mit den fünf Sinnen, die er als ›Türen‹ auffasst und bezeichnet: Jâ hât ieglîch man und wîp vümf tür in sînem lîp. ein ist gesiht, diu ander gehœrde, diu dritte wâz, diu vierde gerüerde, die vümften ich gesmac heiz. swaz man in der werlde weiz, daz muoz in uns immer vür ze etlîcher der vümf tür. (v. 9449–9456)
Diesen fünf äußeren Sinnen stehen nun vier innere Kräfte oder Tugenden gegenüber: imaginatio, ratio, memoria und intellectus. Imaginatio holt die Eindrücke aus der Sinnenwelt in die Wahrnehmung und Reflexion des Menschen hinein: »Imaginâtio ir swester [der memoria] gît / swaz vor den ougen lît.« (v. 8813f.) Was die imaginatio auffängt, wird der ratio vorgelegt. Sie ist die Instanz, die entscheidet, was der memoria anvertraut und was verworfen werden soll:
97 ›De spiritu et anima‹, Caput XIV, Col. 789.
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Swaz Imaginâtiô begrîft, ez sî anders od mit gesiht, ez sî wâzend ode rüerent, ez sî smechend ode hœrent, daz sol si hin zir vrouwen bringen, sô mag ir niht misselingen. Râtiô bescheiden sol waz stê übel ode wol, und sol enphelhen swaz ist guot der Memorjâ ze huot. (v. 8821–8830)
Bei Alcher wird das entsprechende Geschehen folgendermaßen beschrieben: Hanc triplicem vim animæ, id est, sensualem, rationalem, et intellectualem, philosophi partes vocaverunt, non integrales, sed virtuales: quia potentiæ ejus sunt, Sensualitas ea vis animæ est, qua corpus vegetat, et per corporis sensus ista exteriora sentit et discernit. Omnes enim sensus, tam exteriores quam interiores, ad animam referuntur, upote ab illa procedentes: ut enim sentiant, omnes ad anima habent. Ratio vis est animæ supra corporalia, et infra spiritualia collocata.⁹⁸ Ratio est quædam vis animæ, quæ omnia discernit et judicat.⁹⁹
Die Memoria ist der Ratio auch bei Alcher als Untergebene zugeordnet: »Memoria etiam consors et cooperatrix est rationis; quoniam sine ea ratio nec ad incognita procedere, nec cognitorum scientiam retinere potest. Memoria est vis animæ accepta retinens, præterita repetens, elapsa recolligens.«¹⁰⁰ Die ratio ist der imaginatio, die der Mensch mit den Tieren teilt, übergeordnet und der Unterscheidung von Gut und Böse fähig: »Râtiô diu kraft kan / bescheiden daz übel vomme guot.« (v. 8842f.) Diese Überordnung der ratio über imaginatio und sensus betont auch Alcher: Solo sensu circa corpora, et imaginatione circa corporum similitudines et locorum versatur, et in eis sive vigilando, sive dormiendo distrahitur. Cum vero ab hac distractione per puram intelligentiam ascendens in unum se colligit, rationalis dicitur. Ratio siquidem est animi aspectus, quo per se ipsum verum intuetur.¹⁰¹
Der Intellectus ist sowohl bei Thomasin als auch bei Alcher dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung enthoben. Seine Zuständigkeit richtet sich auf nicht
98 ›De spiritu et anima‹, Caput XXXVII, Col. 808. 99 ›De spiritu et anima‹, Caput XXXVIII, Col. 809. 100 ›De spiritu et anima‹, Caput XXXVII, Col. 808. 101 ›De spiritu et anima‹, Caput I, Col. 781.
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weiter spezifizierte Weise auf Gott und die körperlosen Engel: »Intellectus sol wesen bot / hin zen engeln und ze got.« (v. 8831f.) Seine Funktion ist es, sich unter Vernachlässigung aller irdischen Gegebenheiten ganz auf Gott zu richten. Wo die Hinwendung zu ihm unterbleibt, verkümmert er: der Intellectus ist verlorn der uns alln ist an geborn, wan er wil niht erkennen got, leistent sînen willn und sîn gebot. (v. 8849–8852)
Bei Alcher ist intelligentia neben intellectus die Instanz, über die der Mensch Gott und die Prinzipien des Kosmos erkennt: »Intellectus sive intelligentia, ea vis animae est, qua de divinis, quantum homini possibile est, cognoscitur.«¹⁰² Sowohl bei Alcher, als auch bei Thomasin findet sich die Verknüpfung der niederen Erkenntniskräfte, die sensus und imaginatio heißen: Sensus und imaginatio, Empfinden und Vorstellen, machen das Gebiet des niederen Erkennens aus, das als sensualitas bezeichnet wird. In dem Bestreben, das Verhältnis von Leib und Seele als möglichst innig darzutun, haben wir unseren Mönch [Alcher] bereits einen weitgehenden Parallelismus zwischen der sinnlichen und der Verstandesseele aufstellen sehen. Bei dieser Gelegenheit fügt er dem Wahrnehmen und Vorstellen das sinnliche Gedächtnis hinzu.¹⁰³
Genau wie im ›Wälschen Gast‹ findet in ›De spiritu et anima‹ eine Annäherung der fünf körperlichen Sinne an den Wahrnehmungsapparat statt. Auffällig ist auch die Nähe zwischen imaginatio und memoria. Thomasin nennt die beiden sogar Schwestern: »si habent vil nâch ein amt, / wan si sint swester, die zwô, / Memorjâ und Imaginâtiô.« (v. 8810–8812) Auch Alcher bezieht in ›De spiritu et anima‹ die phantasmata, also die Bilder, die die imaginatio formt, und das Gedächtnis, in dem sie aufbewahrt werden, eng aufeinander. Dies sind nur einige der Punkte, in denen die Seelenlehre des ›Wälschen Gasts‹ mit Alchers ›De spiritu et anima‹ übereinstimmen. Für den weiteren Argumentationsverlauf ist es nicht entscheidend, ob Thomasin in seinem höfischen Tugendspiegel tatsächlich ›De spiritu et anima‹ verarbeitet oder eine andere augustinisch beeinflusste monastische Seelenlehre. Wichtig ist, dass die augustinischen oder augustinisch beeinflussten Seelenlehren des 12. Jahrhunderts durchaus auch im literarischen Milieu des Hofes, also dort, wo es um Ritter-
102 ›De spiritu et anima‹, Caput XXXVII, Col. 808. 103 Norpoth: ›De Spiritu et Anima‹, S. 123.
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schaft und minne, um âventiure und êre geht, wahrgenommen worden sind und übernommen werden kon nten. Die Seelenlehre des ›Wälschen Gastes‹ belegt, dass es möglich war, die zum Teil philosophisch anspruchsvollen und komplexen Theorien zur Seele zu vulgarisieren. In dieser reduzierten und eingängigen Terminologie und Modellhaftigkeit hätten die scholastischen Konzepte leicht Eingang in die Innenwelt-Darstellungen auch anderer höfischer Texte finden können. Gerade auf diesem Hintergrund muss es besonders auffallen, dass sie es dennoch kaum je getan haben.
Zwischenresümee Es lässt sich am Ende des Exkurses zur Rolle der Seele in den verschiedenen Wissensmilieus des 12. Jahrhunderts feststellen, dass die Auseinandersetzung des vor-aristotelischen Mittelalters mit der Seele im Wesentlichen augustinisch-monastisch geprägt ist. Selbst dort, wo arabische Naturphilosophie und Medizin rezipiert werden, geschieht das in zumeist konservativer Perspektive, nämlich um die primär augustinisch akzentuierte, dualistische Anthropologie aufrecht zu erhalten, die nach wie vor die Richtung der Fragen, der Adaption neuen Wissens und des Erkenntnisinteresses vorgibt. Erst Thomas von Aquin stellt dem platonischen Dualismus, der sich über die Kirchenväter und die kontemplative Mönchstheologie fortsetzt, die Verankerung der menschlichen Seele im Körper entgegen. Die augustinische Prägung der Seelenlehre des 12. Jahrhunderts besteht zunächst darin, dass die Seele weder das anthropologische, noch das emotionale Zentrum des Menschen ist, sondern die Vermittlungsinstanz zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Die Besinnung auf die Seele erschließt dem Menschen weder die Natur, noch sein eigenes, innerstes Wesen, sondern vor allem anderen das Wesen Gottes. Um eine Annäherung an dieses transzendentale göttliche Wesen vollziehen zu können, ist der menschliche Körper nicht nur nicht hilfreich, sondern durch seine Sinnlichkeit und Begehrlichkeit hinderlich. Alle theologischen Theorien, die plausibel zu machen versuchen, aus welchem Grunde die unsterbliche und gottgeschaffene Seele, deren Natur es ist, zu Gott zu streben, sich dennoch in der Schöpfung mit der hinfälligen, sterblichen und sündigen Materie vereinigt, müssen schließlich auf den unerforschlichen Willen Gottes verweisen, um dieses Wunder zu plausibilisieren: Man war eher geneigt, im Leibe ein Hindernis zu sehen als ein notwendiges Organ. Wenn darum Hugo [von St. Viktor] die Musik zwischen Leib und Seele in »jene natürliche Freundschaft« setzt, »vermöge welcher die Seele an den Körper nicht durch körperliche Fesseln, sondern durch gewisse Neigungen gebunden ist, um dem Körper Bewegung und Empfin-
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dung zu geben […]«, so anerkennt er zwar ein Bedürfnis nach Beseelung auf Seite des Leibes, aber nicht auf Seite der Seele.¹⁰⁴
Diese Feststellung scheint zunächst mit der Formel von der Entdeckung der Natur im 12. Jahrhundert in Widerspruch zu stehen. Doch dieser scheinbare Widerspruch lässt sich leicht auflösen: Zwar ›entdeckt‹ das 12. Jahrhundert die Natur, aber es entdeckt sie im Rahmen seiner Suche nach Gott. Auch der Körper des Menschen interessiert selbst dort, wo er – wie bei den Autoren der ›Schule von Chartres‹ – in den Blick rückt, nur aus einem letztlich spirituellen Erkenntnisinteresse heraus: Il y a même une tendence chez les spirituels du XIIe siècle, surtout chez les Cisterciens, à simplifier la division trichotomique, si fortement marquée par Hugues de Saint-Victor, en opposant directement le charnel et le spirituel. Mais chez tous, et chez le moraliste saint Bernard en particulier, la ›région‹ de l’âme où se heurtent le charnel et le spirituel, fait l’objet d’analyses complexes et parfois embroillées. C’est en elle que la raison est spiritualisée; car »seule l’œil voit l’invisible. Alors que le sens charnel est tout extérieur, le sens du cœur est tout intérieur«.¹⁰⁵
Der Körper bedarf der Seele wie die Materie der Form bedarf, um überhaupt in die Existenz eintreten zu können. Dieses Verhältnis ist – in Bezug auf die menschliche Seele – einseitig: Während der Körper ohne die Seele nur ein formloser Klumpen ist, begibt sich die Seele durch ihre Verbindung mit dem sterblichen Körper in die Gefahr, ihre Reinheit zu verlieren. In der Zeit vor Thomas von Aquin wird der Zustand der Körperlosigkeit immer noch als der vollkommene und natürliche Zustand der Seele betrachtet. Während für Thomas »der natürliche Ort der Seele der Leib war,«¹⁰⁶ galt der Frühscholastik »dagegen die Trennung vom Leibe als natürlicher Zustand [der Seele].«¹⁰⁷ Allein der normale Zustand des Geistes ist sie [die Verbindung mit dem Körper] nicht; der Geist muß seine Einfachheit in der sinnlichen Vorstellung aufgeben und wird erst wieder glücklich, wenn er diese ablegt, sich in seine Einfachheit zurückzieht und das Himmlische und Geistige und Einfache betrachtet. Wie Ambrosius und Gregor der Große gelehrt [haben], ist das Fleisch bloß das Gewand und der Mantel der Seele, und die Seele sollte alles Körperliche wieder so leicht und schmerzlos ausziehen und ablegen können wie ein Kleid.¹⁰⁸
104 Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor, S. 72. Ostler übersetzt hier aus ›De Anima‹ (PL 194, 1881 D–1882 D). 105 Robert Javelet: Psychologie des Auteurs spirituels du XIIe siècle. Revue des Sciences Religieuses 33 (1959), S. 97–164 und 209–268, hier S. 221. Javelet zitiert aus PL CXCVI, 4D. 106 Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor, S. 78f. 107 Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor, S. 79. 108 Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor, S. 79.
2 Die sêle in der höfischen Literatur Nachdem der theologisch-philosophische Seelen-Diskurs skizziert worden ist, soll zunächst dargestellt werden, welche Bedeutung dem Begriff ›sêle‹, der den Terminus ›anima‹ übersetzt, in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur zukommt. Aus einer christlichen Perspektive ist der Ort des Inneren zunächst die Seele. Der christlichen Seelenlehre zufolge lässt sie sich dadurch bestimmen, dass sie gottgeschaffen und unstofflich ist, dementsprechend keiner Lokalisierung unterworfen und sich nach dem Tod vom Körper trennt, um eine Reinigung zu durchlaufen und dann ein ewiges Leben beziehungsweise Leiden anzutreten: Im Mhd. ist das Substantiv sêle, im Unterschied zu den generell die geistig-seelischen Kräfte bezeichnenden mhd. Termini herze, muot, gemüete und sin, angesichts der christlichen lîp-sêle-Polarität vor allem auf die religiös gedeutete unsterbliche Geist-Substanz des Menschen im Gegensatz zu Leib und sterblichem Leben bezogen.¹
In der Verwendung des Begriffes in der Literatur wird dieser Gegensatz konkret: In aller Regel ist die sêle der Ort, an dem Gott sich den Menschen mitteilt und der Aspekt des Selbst, mit dem der Mensch sich Gott zuwendet. Für die Darstellung der inneren Prozesse der Figuren wie Erinnerung, Emotion, Affekt oder Reflexion wird auf sie nur ausnahmsweise zurückgegriffen. Denn die sêle gehört Gott und zu Gott; ihm wird sie deshalb auch am Ende des Lebens wieder zurückgegeben. Diese Vorstellung manifestiert sich dort, wo Figuren ihr eigenes Lebensende reflektieren. Die sêle wird hier stets mitgedacht, beispielsweise im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, wo Lunete sich auf ihre Hinrichtung vorbereitet, indem sie »stuont […] ûf ir knien an ir gebete / und bat got der sêle pflegen« (v. 5157–5159)² oder im ›Erec‹, wo Enite voller Verzweiflung darum bittet, dass »got [ruoche] unser sêlen phlegen…« (v. 5839).³ Als Tristan in Gottfrieds von Straßburg gleichnamigem Roman Kurvenal für den Fall seines Todes instruiert, sagt er:
1 Beat Wolf: Vademecum medievale. Glossar zur höfischen Literatur des deutschsprachigen Mittelalters. Bern 2002, Art. ›sêle‹, S. 79, Hervorhebungen im Original. 2 Hartmann von Aue: Iwein, hrsg. von G. F. Benecke und K. Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff. Berlin 71968. 3 Hartmann von Aue: Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985. (ATB 39)
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›und ist aber ez also getan, daz mir in dirre jares vrist gelücke niht geschehen ist, so muget ir iuch min wol bewegen, so lat ir got der sele pflegen und nemet ir iuwer selbe war.‹ (v. 7462–7467)⁴
Auch Brangäne ist im gleichen Roman durchaus bewusst, dass ihre sêle zu Gott zurückkehren werde, nachdem die gedungenen Mörder sie zu Tode gebracht haben werden und sagt: »›die sele die bevilhe ich gote, / den lip hin ziuwerm gebote‹.« (v. 12847f.) Von sêle wird aber auch dort gesprochen, wo es nicht um den direkt bevorstehenden Tod, sondern um die ewige Seligkeit oder die ewige Höllenpein geht – so im ›Parzival‹: »swer die [armuot] durch triwe lîdet, / hellefiwer die sêle mîdet« (v. 116, 17f.)⁵ und: »…sorge et umb dîn ende, / daz dir dîn arbeit hie erhol / daz dort diu sêle ruowe dol.« (v. 499, 28–30) Von Partonopier wird gesagt, dass ze lûter und ze süeze ist iuwer lîp dar zuo vil gar, daz iuwer sêle missevar werd in der helle rouche. (v. 7580–7583)⁶
In manchen Fällen wird die Bestimmung der sêle einer Figur für das Paradies oder die Hölle hervorgehoben wie im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach. Dort wird über die sêle des Ritters Vivianz gesagt: »vor dem tievel nam der sele war / der erzengel Cherubin.« (v. 49, 10f.)⁷ Im ›Trojanischen Krieg‹ wird von Hector berichtet, dass er: »verr in der helle crüfte / sant […] vil mange sêle.« (v. 31314f.)⁸ Die Tatsache, dass die sêlen für ein lasterhaftes Leben zur Rechenschaft gezogen werden und sich in diesem Leben entscheidet, ob sie selig oder verdammt sein werden, ist den Figuren stets
4 Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke. Dublin, Zürich 14 1969. 5 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Berlin, New York 1998. 6 Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871, Neudruck Berlin 1970. 7 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hrsg. von Werner Schröder, neu bearbeitet von Dieter Kartschoke. Berlin, New York 1989. 8 Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Hrsg. von Adelbert von Keller. Amsterdam 1965.
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bewusst. So hofft Engelhard, dass die Seelen seiner Kinder, deren Leben er für seinen Freund Dietrich opfert, der ewigen Seligkeit teilhaftig werden: ›ir sêle ist immer dort genesen, ob si daz leben hie verzernt, mit ir bluote si genernt sich selben vor der helle.‹ (v. 6150–6153)⁹
In Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ wird über den Ritter Wirnt von Grafenberg, dem die ›Frau Welt‹ begegnet, berichtet »er schuof daz zallen stunden, / dô im der lîb erstorben was, / daz im diu sêle dort genas.« (v. 256ff.)¹⁰ Der Text schließt mit der Ermahnung zur Umkehr: »Von Wirzeburc ich Cuonrât / gibe iu allen disen rât, / daz ir die werlt lâzet varn, / welt ir die sêle bewarn.« (v. 271–274) Das Wissen darum, dass die unsterbliche Seele sich nach dem Tode vom Körper trennt, um zu leiden oder der himmlischen Freuden teilhaftig zu werden, ist allen literarischen Gattungen des Mittelalters gemein. Auch in der weltlichen Literatur lässt sich diese Vorstellung sowohl in narrativen Großformen als auch im Minnesang nachweisen: So stellt beispielsweise der Erzbischof von Paris, der Partonopier die Gefahren ausmalt, denen er seine Seele aussetzt, wenn er sich mit dem Teufel einlässt, ihm auch vor Augen, was den verdammten Seelen im Höllenfeuer widerfährt: ›reht als ein frouwe, diu gebirt, als hât diu sêle grimmez leit. ir bitterlichen arbeit kein marter übergiudet.‹ (v. 7602–7605)
Und Enite wird vom Erzähler mit einer körperlosen Seele verglichen, wenn er berichtet, sie fühle sich wie die erlöste Seele, als ihr die Pferde, die ihr von Erec anbefohlen wurden, endlich abgenommen werden: ir was als der sêle der von Michâêle wirt der hellewîze rât, diu lange dâ gebûwen hât. (v. 3650–3653)
9 Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Paul Gereke. Tübingen 1963 (2. Aufl. von Ingo Reiffenstein) (ATB 17). 10 Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Hrsg. von Heinz Rölleke nach der Ausgabe von Edward Schröder. Stuttgart 1968.
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Um ein Beispiel aus dem Minnesang anzuführen: Albrecht von Johansdorf erwähnt in seinem Lied ›Mich mac der tôt von ir wol scheiden‹ die Freude der Seelen, denen sich Himmelpforten öffnen: »daz meine ich sô: [ ] die sêlen werden vrô, / sô si ze himele kêren mit schallen.« (MF 87,27f.)¹¹ In seinem Kreuzlied ›Guote liute, holt die gâbe‹ findet sich in der Lesart der Handschrift C folgender Passus: Lident eine wile willekliche not vür den iemermere wernden tot got hat iu sele und lip gegeben. gebt im des libes hie, daz wirt der sele dort ein ewig leben. (MF 94, 21–24)¹²
Innerhalb des stärker geistlich konnotierten Kontextes des Kreuzliedes ist angedeutet, was für das semantische Feld von sêle (und die Verwendung des Begriffes in der Literatur) von entscheidender Bedeutung ist: seine Opposition zum Begriff ›lîp‹. Erst dessen Überwindung, sein tôt, ermöglicht sein ewiges Leben als verklärter Auferstehungsleib, der dann mit der Seele wiedervereinigt sein wird. Mit dem (impliziten) Hinweis auf die Notwendigkeit der Überwindung des Leibes im Dienst der Seele weist das Lied jedoch eine für das Kreuzlied typische Gattungsspezifik auf, die darauf zurückzuführen ist, dass das Kreuzlied innerhalb des Minnesangs eine singuläre Zwischenstellung zwischen Minnedichtung und geistlicher Literatur einnimmt. Daher erklärt sich auch, dass hier – anders als in der höfischen Literatur sonst, unabhängig davon, ob es sich um Minnesang oder narrative Formen handelt – die sêle im Gegensatz zum lîp gefasst und verstanden wird. So kommen dort auch Überlegungen darüber, ob und wo die sêle im Körper überhaupt lokalisiert ist, kaum je vor. Paradigmatisch in ihrer Unschärfe sind Formulierungen wie hier im ›Daniel von dem blühenden Tal‹ des Strickers – die sêle hält sich irgendwo ›im‹ Körper auf, bevor sie durch den Tod aus ihm ›vertrieben‹ wird: der künic fuorte ein salben an beiden sînen handen gegen den vîanden, an swen er sie gestreich,
11 Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. I ›Texte‹. Stuttgart 361988. 12 Die Edition folgt für die entsprechende Strophe der Lesart der Handschrift A und gibt die Lesart von C nur im Apparat an. Aus ihm sind die zitierten Verse entnommen, wobei die Normalisierungen der Edition (z.B. Auflösung der Abkürzungen, Einfügungen von Kommata) bis auf die Zirkumflexe übernommen worden sind.
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daz si im durch den lîp weich und im die sêle dâ ûz treip daz si niht lenger dâ inne beleip. (v. 5639–5644)¹³
Demgegenüber meint der Erzähler in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹, dass der Körper die sêle auf eine nicht weiter bestimmte Weise ›trage‹: »unz oht der lîp die sêle truoc.« (v. 3961)¹⁴ Das Verhältnis von Körper und Seele ist hier deutlich nicht hylemorphisch gedacht: sêle und Körper durchdringen sich nicht, bilden keine Einheit, die den Menschen als einen ganzen ausmacht, sondern sind stets als zwei getrennte Einheiten konzipiert. Dieses dualistische Verhältnis zwischen lîp und sêle wird auch nahegelegt durch die immer wiederkehrende Formel lîp unde sêle, sêle unde lîp, die dazu herangezogen wird, eine Figur in ihrer Ganzheit anzusprechen, einer Ganzheit aber, die additiv ist: sêle unde lîp. Die Betonung liegt hier auf dem ›unde.‹ So bezeichnet Tristan Isolde als die »…die ich minne und meine / me danne sele unde lip« (v. 19542f.) und spricht mit der Formel sêle unde lîp eben jene Gesamtheit der menschlichen Person an, die sich aus beidem zusammensetzt. Nicht nur, aber vor allem in der geistlichen Literatur, begegnet die sêle als vom Körper getrenntes unsterbliches Geistwesen, das nach dem Tod des Menschen auf die Wiedervereinigung mit dem Körper wartet und an dem Belohnung oder Strafe für das tugend- oder lasterhafte irdische Leben vollzogen werden.¹⁵ Die sêle ist in dieser Konnotation eine Art Mensch ohne Körper, identifizierbar,
13 Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. Hrsg. von Michael Resler. Tübingen 1995. (ATB 92) 14 Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Hrsg. von Florian Kragl, Bd. 1: Text und Übersetzung. Berlin, New York 2006. 15 Die zeitgenössischen Vorstellungen von der Zeit vor der leiblichen Auferstehung sind wenig einheitlich und kohärent. Die lateinischen Dialoggedichte zwischen Körper und Seele legen beispielsweise die Vorstellung nahe, dass nach dem Tod nur die Seele in der Hölle leidet und der Körper im Grabe verwest, bevor er am Tage des Jüngsten Gerichts mit ihr wiedervereinigt wird. Gerade vom Zustand vor dieser Wiedervereinigung erzählen sie aber nicht (vgl. dazu: Katharina Philipowski: Bild und Begriff: sêle und herz in geistlichen und höfischen Dialoggedichten des Mittelalters. In: Anima und sêle, S. 299–320). Die Körperlosigkeit der vom Körper getrennten Seele hat aber keinerlei Auswirkungen auf ihre Leidensfähigkeit, denn am Ende der Gespräche zwischen Seele und Körper kommen Teufel aus der Hölle, um die Seele zu ihr zurückzuschleppen und schlagen zu diesem Zwecke Haken in sie. Obgleich Körper und Seele also nicht nur von unterschiedlicher, sondern letztlich von nicht zu vereinbarender Substanz sind, können beide doch nicht ohne einander imaginiert werden. Gerade in der literarischen Konzeption bedarf der Körper eines Bewusstseins, um handeln zu können. Auf der anderen Seite bleibt die Seele als körperlose unanschaulich.
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lokalisierbar und schmerzempfindlich. Die weltliche höfische Literatur greift stellenweise auf diese Konzeption zurück: In Heinrichs von Veldeke ›Eneas‹ trifft dieser auf körperlose sêlen, als er in die Unterwelt hinabsteigt, und auch Wigalois begegnet körperlosen Rittern in einer Art höfischem Fegefeuer. Doch sowohl in der geistlichen als auch in der weltlichen Literatur bleibt der Status des Körpers körperloser Wesen undeutlich. So wird beispielsweise im ›Eneas‹ zwar von sêlen erzählt, doch wie es um ihre Körperlichkeit oder Körperlosigkeit bestellt ist, wird nicht erwähnt. Allerdings ist zu erkennen, dass Heinrich sich noch stärker als die altfranzösische Bearbeitung bemüht, das Motiv der Körperlosigkeit und Unberührbarkeit zurückzunehmen.¹⁶ So stellt es beispielsweise kein Problem dar, von den großen körperlichen Qualen zu erzählen, die die Seelen der Selbstmörder zu erdulden haben, denen Eneas auf seiner Unterweltfahrt begegnet: die trachen und die lêwen und die lintworme die sûchten sie ze storme und die lêbarde mûten sie vil harde, die si sêre bizzen. daz fleisch si in zerizzen und von dem beine nûgen. si macheten in genûgen blûtende wunden. (v. 2954–2963)
Mit dieser prononciert sinnlichen Darstellung dessen, was den an sich körperlosen, aber stark anthropomorphisierten Seelen angetan wird, bildet der Text keine Ausnahme: Sowohl in der weltlichen, als auch in der geistlichen Literatur
16 Während Vergil Eneas dreimal versuchen lässt, seinen Vater zu umarmen, unternimmt er diesen Versuch im ›Roman d’Eneas‹ nur einmal. Bei Veldeke kommt es dazu gar nicht mehr. Anchises weist seinen Sohn darauf hin, dass er trotz seiner vermeintlichen Körperhaftigkeit nicht berührt werden könne. Damit hebt Veldeke diese Körperlichkeit der Seelenerscheinung, die Vergil und der französische Bearbeiter durch die Darstellung der vergeblichen Versuche der Berührung negiert hatten, deutlich hervor und lässt demgegenüber die Tatsache, dass es sich nur um eine vermeintliche oder eine suggestive Körperlichkeit handelt, in den Hintergrund treten. Der Leser teilt Eneas’ Eindruck von der Körperlichkeit seines Vaters, die ja auch von den Worten Anchises »›swie fleischlîch ich schîne, / ichn bin doch niwan ein geist‹« (Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller übersetzt, mit Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1989 [RUB 8303], v. 3608f.) unterstrichen wird. Vgl. hierzu: Anne Prior: Seele in der Unterwelt. Konzeption im Eneas-Roman Heinrichs von Veldeke. In: anima und sêle, S. 285–297.
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wird offen gelassen, wie die Seelen, die zu ›ihrem‹ mittlerweile verwesenden Leichnam, zu Verwandten oder Freunden zurückkehren und oft darüber klagen, welche Martern sie im Jenseits zu erdulden haben, beschaffen sind und wie zu erklären ist, dass sie zwar vom Körper getrennt, aber dennoch sein Aussehen haben und leidensfähig sind: Was die Menschen schauen, ist nur ein Abbild (similitudo, forma, species, effigies, imago) der lebenden Menschen, die diese Toten einst waren. Sehr häufig werden sie auch durch das Adverb quasi qualifiziert, denn obwohl sie tot sind, erscheinen sie ›gleichsam‹ lebendig. Das Wort quasi taucht in der gesamten Visionsliteratur auf, was ich für sehr bedeutsam halte. Es drückt den Zweifel und die Unsicherheit angesichts all dieser Phänomene aus, die eindeutig immateriell sind, aber dennoch greifbar scheinen.¹⁷
So ergibt sich aus einer Begriffsanalyse von sêle ein merkwürdig widersprüchlicher und inkohärenter Befund: Einerseits ist der Begriff als Gegenstück zum lîbe angelegt; oft werden sêle und lîp als Gegensätze dargestellt – was den Körper erfreut, schadet der Seele und um sie zu retten, muss der Körper seine Triebe und Begierden unterdrücken. Doch das Gegensatzpaar sêle und lîp hat nicht die Funktion, anthropologische Spekulationen zu diskursivieren, ist also kein Anlass, darüber zu reflektieren, was die Seele eigentlich ist und wie sie sich zum Körper verhält. In der Formelhaftigkeit von sêle und lîp scheint die anthropologische Reflexion eher stillgestellt als angelegt zu sein. Gerade Formelhaftigkeit und Stereotypie dieses Dualismus scheinen ihn davor zu bewahren, in Frage gestellt oder differenziert zu werden. Die Formelhaftigkeit von lîp und sêle limitiert so zwar die Differenziertheit der Aussagen, die über und durch sie getroffen werden können, eröffnet aber ihrer Verwendung einen großen Spielraum. Gerade die Widersprüchlichkeit in der Verwendung von sêle als gottgeschaffener Lebenshauch, als spiritueller Antagonist des triebhaften Körpers, als Bezeichnung für den unkörperlichen, aber dennoch leidensfähigen Teil des Menschen, der nach dem Tod seiner Wiedervereinigung mit dem Leib harrt, macht deutlich, dass dem Konzept sêle in der weltlichen Literatur keine Systematik zugrunde liegt und die Literatur an einer solchen – bei aller Aufmerksamkeit für innere Vorgänge – auch nicht interessiert ist. Anders als beispielsweise das herze, das bewohnt und getauscht wird, entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit ihr keine topische Bildsprache. Nahezu alles kann mit dem Begriff sêle verbunden werden, ohne dass eine klare gestalterische Absicht hinter der jeweiligen Verwendung erkennbar würde. Dass die Seele, der in der Hölle die schrecklichsten
17 Jean-Claude Schmitt: Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im Mittelalter. Stuttgart 1995, S. 37f.
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Qualen zugefügt werden, als körperliches Wesen dargestellt wird, obwohl sie ja gerade über den Unterschied zur Stofflichkeit des Körpers definiert wird, geht nicht allein auf die christlichen Vorstellungen über das Leben der Seele nach dem Tode zurück. Die Körperlichkeit der Seele in der literarischen Darstellung hängt auch damit zusammen, dass eine vollkommen unstoffliche, unsichtbare Seele weder imaginiert werden kann, noch in der Literatur darstellbar wäre. Dass die Seele in der Hölle körperliche Schmerzen erleidet, zeigt, dass sie überhaupt nur insoweit einer literarischen Gestaltung zur Verfügung steht, als sie ihre Unkörperlichkeit abzustreifen vermag, insoweit sie also aufhört, die unstoffliche, reine Seele der Theologen zu sein. Wo die Literatur das Konzept der Seele aufgreift, löscht sie jene Merkmale, die sie in der scholastischen Theologie hat, gerade du rch diesen Zugriff aus. Was von ihr übrig bleibt, ist ein eigentümlich widersprüchliches Geschöpf, unstofflich und dennoch sichtbar, körperlos und dennoch leidensfähig. Die Widersprüche, die eine solche Konstruktion aufwirft, beschäftigen die Philosophen und Theologen, die Literatur hat keine Veranlassung dazu und auch die Rezipienten verstehen wohl trotz aller Widersprüche, was gemeint ist, wenn eine sêle als Handlungsträger auftritt – obwohl es nirgends erklärt wird. Dass die sêle ausnahmsweise auch im Rahmen des minne-Diskurs eine Rolle spielen kann, belegt denn auch nicht ihren Zusammenhang mit ›Innerlichkeit‹ oder ihre Eignung als Kategorie von Innenraum, sondern eher ihre Unspezifik. Die sêle hat in der weltlichen Literatur kein eigenes Profil und gerade deshalb kann sie auch zum Ort von minne werden, so wie sie auch der Gegenspieler des Körpers oder auch (z.B. in der Mystik) der Ort der Begegnung mit Gott ist. Es ist vor allem der Minnesang, der die sêle gelegentlich zum Sitz der minne macht. In der folgenden Darstellung möchte ich mich hauptsächlich auf die Lieder Heinrichs von Morungen beziehen, um zu zeigen, welch’ breiter Gestaltungsspielraum der Verwendung des Begriffes ›sêle‹ zur Verfügung steht. Einige Stichproben aus seinen Liedern mögen hier genügen: In Lied IV ›In sô hôher swebender wunne‹ beschreibt Morungen den trôst seiner Dame als etwas, das durch seine Seele bis ins Herz hinein geht: »Sît daz mich ir trôst enpfie, / der mir durch die sêle mîn / mitten in daz herze gie.« (MF 125,23–25) Die Konzeption der sêle, durch die der trôst der Dame hindurch dringt, ist nur auf dem Hintergrund des gesamten Liedes zu verstehen, das von Durchdringung und dynamischer Wechselseitigkeit erzählt. Bereits der Abgesang der ersten Strophe deutet dieses subtile Thema an: Es ist der trôst der Dame, der das Text-Ich empfängt, doch sogleich wird die Richtung des Empfangens umgekehrt. Denn im nächsten Vers geht die Bewegung nicht mehr vom Ich aus, sondern vom Trost – hatte kurz zuvor das Ich sich gleichsam auf den Trost zubewegt, ist es nun dieser, der ihm durch sêle und herze hindurchgreift. Dieser Gestus der sich
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umkehrenden Bewegung wird von den in B und C bezeugten restlichen drei Strophen aufgenommen, so gleich in den ersten beiden Versen der nächsten Strophe: »Swaz ich wunneclîches schouwe, / daz spile gegen der wunne, die ich hân« (MF 125,26f.). »Das Wundervolle, das ich erblicke, soll sich spiegeln in der Wonne in mir« – in diesem kurzen Gedanken sind zwei (Blick-)Richtungen eingefangen: der Blick hinaus auf das wunneclîche und zurück von diesem zur eigenen wunne. So soll sich das Äußere im Inneren, die Grenze überspielend, manifestieren. Luft und Erde, Wald und Wiese zeigen nicht, wie sonst üblich, die Zeit der Freude an, sondern sind hier als empfangend imaginiert: »luft und erde, walt und ouwe / suln die zît der vröide mîn enpfân.« (MF 125,28f.) Die Natur selbst wird durch die Freude des Liebenden belebt, als Empfangende personifiziert und ausgezeichnet. Überdeutlich wird die Bewegung der Schrankenlosigkeit in der dritten Strophe: Das wunneclîche maere, Ursache der überfließenden Freude, erfüllt das Ohr des Liebenden, die sanfte tuonde swaere senkt sich in sein Herz und kehrt sich (dort?) um in jene wunne, die als Tau den Augen entspringt. Damit ist nicht nur erneut eine Bewegung von außen nach innen in die von innen nach außen umgekehrt, sondern auch das wunneclîche maere, das den Weg übers Ohr nimmt, in die Träne transformiert, die durch das Auge hinausdrängt – eine Bewegung, die erst in der vierten Strophe und bei der Notwendigkeit, zu sprechen, ins Stocken kommt. Im Zusammenhang dieses kreisenden, schrankenlosen Taumelns muss auch die Besetzung der sêle in der ersten Strophe verstanden werden. Worum es dabei geht, ist eben kein festumrissener Ort, keine wohlgeordnete Position in durchdachter Nähe oder bemessenem Abstand etwa zum Herzen. Vielmehr ist es gerade das Einstürzen von Grenzen und Relationen, die sêle und herze hier auf jene Weise einander zuordnen wie die Dame und den Überwältigten – nicht auf eine Weise, die deutliche Gestalt annehmen würde, sondern auf eine, die im Taumel von varen, vliegen, enpfangen, gen, spilen, komen, sten, entspringen, dringen und sprechen in wechselnde Richtungen verschwimmt. Deutlicher lässt sich das erkennen bei einem Vergleich des eben erwähnten Verhältnisses von sêle und herze mit Reinmars Lied XVI »Si jehent, der sumer der sî hie«, in dem nicht wie oben das herze das Zentrum der sêle, sondern umgekehrt die sêle das Zentrum des herzen bildet. Das weibliche Ich des Liedes beschreibt seine Trauer in Bildern körperlicher Prozesse: »dô man mir seite, er waere tôt, / dô wiel mir daz bluot / von deme herzen ûf die sêle mîn.« (MF 168,15–17). Hier ist offenbar die sêle als Zentrum des herzen gedacht, eine Vorstellung, die die Gattungen übergreift und sowohl im Minnesang als auch in der Epik nachzuweisen ist, wie Formulierungen aus dem ›Partonopier‹ nahelegen: »sîn herze was nâch ir verwunt / vil nâch biz ûf der sêle tôt« (v. 16590f.) und:
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er sol den tôt erwerben, der in des tages tûsentstunt versêre und im sîn herze wunt biz ûf die sêle mache. (v. 9346–9349)
Diese formelhaften Formulierungen sind stereotyp. Sie transportieren in ihrer Bildsprache eine festgefügte Aussage, die versatzstückartig innerhalb eines größeren Kontextes eingesetzt, allerdings auch leicht modifiziert werden kann, wie sich gerade an ›Si jehent, der sumer der sî hie‹ zeigen lässt. Der oben zitierte Wortlaut stammt aus der Handschrift a.¹⁸ B und C geben den Sachverhalt folgendermaßen wider: »ze hant viel mir der muot von dem [C: deme] herzen ûf die sêle mîn.«¹⁹ Hier ist es also nicht das Blut, sondern der muot, der vom herzen auf die sêle fällt. Gerade im Versuch, die jeweiligen Lesarten ins Neuhochdeutsche zu übersetzen, teilt sich mit, wie sinnlos eine Befragung des Verses auf die jeweilige kohärente oder auch nur terminologisch stimmige Verknüpfung von muot, sêle und herze ist. Nicht feststehende Inhalte werden hier einander zugeordnet, sondern innere Bewegungen, die in stets neuer Kombination miteinander verknüpft werden können. Das Lied ›Vil süeziu senftiu toeterinne‹ verschränkt die Positionen von ich, dû, lîp und sêle zu einer ganz anderen Aussage. Hier ist die sêle Garant der Unverbrüchlichkeit des Dienstverhältnisses, das gerade durch seine Einseitigkeit in seiner Absolutheit bestätigt wird: Waenent ir, ob ir mich toetet, daz ich iuch iemer mêr beschouwe? nein, iuwer minne hât mich des ernoetet, daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe. sol mir hie niht guot geschehen von iuwerm werden lîbe, sô muoz mîn sêle iu des verjehen, dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe. (MF 147,8–16)
Das Ich geht in seiner Aussage auf feinsinnige Weise vom Dualismus zwischen lîp und sêle aus und warnt die ungnädige Dame davor zu glauben, dass sie mit einer Tötung des lîbes die Werbung beenden könne. Denn damit werde sie nur auf eine andere und höhere Ebene gehoben: Erlischt das Ich, so wird die sêle den Dienst fortsetzen und es in seiner Eigenschaft, Werbender zu sein, unsterb-
18 a ist eine »Bezeichnung Lachmanns für die von einer 2. Hand auf bl. 40–43 geschriebenen Strophen der Hs. A.« MF Bd. I, S. 12. Hervorhebung im Original. 19 Aus: Reinmar: Lieder, nach der Weingartner Liederhandschrift (B) mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Günther Schweikle. Stuttgart 1986. (RUB 8318)
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lich machen. Selbst der Tod kann also die minne nicht auslöschen, sondern, indem er die minne des Ich zur minne der sêle läutert, nur auf eine höhere Ebene transzendieren. Erbittet das Ich im Rahmen seines gegenwärtigen und irdischen Dienstes (›hie‹) seinen Lohn noch von ihrem werden lîbe, so wird ›dort‹ seine sêle nun allein ihrer sêle dienen; der Körper spielt auf dieser Ebene keine Rolle mehr. Mit seinem Erlöschen werden dienst und minne jedoch nicht nur von aller Leidenschaft des Sinnlichen befreit, sondern auch die immer nur andeutungsweise suggerierte Asymmetrie zwischen Werbendem und unerreichbar hoher Dame aufgehoben. Im jenseitigen ›dort‹ des letzten Verses begegnen sie sich nicht mehr als begehrendes ›er‹ und abweisende ›sie‹, auch nicht als inferiorer ›er‹ und superiore ›sie‹, sondern als zwei sêlen, die in ihrer Transzendenz gleichnah zu Gott und folglich nun auch endlich gleichnah zueinander sind. Im Rahmen dieses Liedes ist die sêle also wiederum nicht, zumindest nicht nur, Instanz eines Inneren, sondern Instrument der Pointe, die das Lied entwickelt: Der Dienst, den das Ich leistet, ist nicht nur unverbrüchlich, sondern erreicht in seiner vermeintlichen Zerstörung durch den (Liebes)Tod des Ich eine Transzendierung, die seine minne weiter läutert und in der Läuterung nicht nur verewigt, sondern auch vollendet. Wenn es etwas gibt, das die Verwendung des Begriffes ›sêle‹ charakterisiert, dann nur seine Unfestigkeit, seine Flexibilität und seine daraus resultierende Geschmeidigkeit, die gerade Morungen dazu nutzt, feinste Bedeutungsnuancen innerhalb seiner Lieder zu entwickeln. Das kann er allerdings nur, weil die Konnotation dessen, was sêle ist, nicht festgelegt, sondern offen und daher immer neu ausdeutbar ist. Ähnlich wenig festgelegt, dafür aber weit weniger kunstvoll in die jeweiligen Minnekonzeptionen eingebunden, ist die Verwendung des Konzeptes sêle in der Erzählliteratur. Im ›Wilhelm von Österreich‹ sprechen sich Aglye und Wilhelm jeweils mit »›mîn sêle‹« an oder als »›du sel mines libes.‹« (v. 11193)²⁰ Engelhard ist durch seine minne zu Engeltrut bis auf den Grund seiner sêle verwundet: »›wan sît ich, edel frouwe, erkôs / zem êrsten iuch, sô bin ich wunt / vil gar biz ûf der sêle grunt…‹.« (v. 2032–2034) Gleiches gilt für Engeltrut, der Engelhards Leid in ihre sêle dringt: daz ir daz herze niht zerbrach daz waz ein grôzez wunder, wan ir sîn leit besunder enmitten in ir sêle dranc. (v. 3596–3599)
20 Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. Hrsg. von Ernst Regel. Berlin 1906.
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Auch Partonopiers Kummer reicht bis in den Grund der sêle: ›sô ger ich, frouwe mîn, daz ir den lîp benemen heizet mir. daz ist mir lieber tûsenstunt, dann ich biz ûf der sêle grunt müez iemer sîn beswæret.‹ (v. 8379–8384)
Ohne in ein spezifisches Verhältnis zum herzen gesetzt zu werden, ist die sêle hier eine reine Floskel. Ohne jede Sinnveränderung könnte Partonopier an dieser Stelle auch »biz ûf des herzen grunt beswæret« sein. Hinter der Verwendung von sêle an eben dieser Stelle verbirgt sich keine erkennbare narrative Aussage. Damit ist der Beleg aus ›Partonopier‹ keine Ausnahme, sondern exemplarisch. Die Verwendung von sêle in Minnesang und Epik weist Unterschiede und Übereinstimmungen auf. Die Unterschiede bestehen darin, dass die beweglichen Formeln der Zuordnungen von sêle und herze innerhalb der einzelnen Lieder zur Konzeption der poetischen Aussage genutzt werden können und – wie sich vor allem an Morungen zeigen lässt – auch genutzt werden. Zwar ist auch im Minnesang eine deutliche Kontur des semantischen Feldes von sêle nicht zu erkennen. Doch innerhalb eines Liedes ist die Verwendung des Begriffes zumindest stellenweise planvoll und konzeptionell begründbar. In der Epik scheint eine solche konzeptionelle Begründung für die Wahl des Begriffes sêle nur ausnahmsweise möglich. Das Konzept der sêle scheint für die höfischen Autoren wenig Spezifik zu besitzen. Diese weist der Begriff allein dort auf, wo er in einem religiösen Zusammenhang gebraucht wird. Hier kommt er dem, was unter ›Seele‹ verstanden wird, nahe und wird zumeist dem lip gegenüber gestellt. In Bezug auf minne besitzt die sêle keinerlei Spezifik, sodass die Autoren des Minnesangs, allen voran Morungen, sich des Begriffes gänzlich frei bedienen können, um entweder mit seinen religösen Konnotationen zu spielen wie in ›Vil süeziu senftiu toeterinne‹, den Begriff analog zu ›muot‹ zu verwenden oder auch völlig neu zu besetzen wie im Falle von ›der sêle grunt‹. Vor allem dort, wo von minne erzählt wird, wird nur selten auf den Begriff ›sêle‹ zurückgegriffen. Für die zentralen Themen der höfischen Literatur, für das Erzählen von minne, Adel, Herrschaft und êre, spielt die sêle keine Rolle. Begriffe, die stattdessen überall in der mittelhochdeutschen Literatur begegnen, wo solche inneren Prozesse thematisiert werden, sind muot, geist oder sin, und zwar sowohl in der Epik als auch im Minnesang. Es ist im folgenden Kapitel zu überprüfen, wie spezifisch diese Begriffe verwendet werden, welche Konzeptionen von Innen sie mit sich führen und welches Verhältnis jeweils zwischen ihnen besteht.
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2.1 muot/sin muot ist eine der häufigsten Begriffe, die zur Darstellung des Inneren einer Figur in der höfischen Literatur herangezogen werden und bedeutend zahlreicher als sêle. Im Gegensatz zur sêle, die eine religiöse Konnotation haben kann, ist der muot eine gänzlich irdische, aktive und vor allem eine soziale Größe, eine Gestimmtheit und Befindlichkeit, durch die sich eine Figur handelnd auf ihr soziales Umfeld bezieht, auf es reagiert und sich, wiederum als soziales Wesen, anderen gegenüber zu erkennen gibt: »In seiner weitesten Bedeutung ist ›muot‹ Kollektivbegriff, der alle Einzelphänomene des menschlichen Innern umgreift: Fühlen, Denken, Begehren, Streben. Im engeren Sinne bedeutet ›muot‹ das Gestimmtsein auf der Grundlage des Gefühls.«²¹ Diese Konnotation ist bereits in der althochdeutschen Bedeutung von muot nachzuweisen: Im Altsächsischen und Althochdeutschen ist môd – muot das Wort, dessen Inhalt die Seele, den Geist, das Gemüt des Menschen als sein einheitliches, ungeteiltes Inneres auffaßt. Das bedeutet für Werke, denen verbindliche Übersetzungsgleichungen zugrunde liegen, daß muot animus und mens übersetzt, es bedeutet für freier gestaltete Werke, daß muot sich nicht in das christliche Lehngut einreiht, […] sondern nicht mehr und nicht weniger als das gesamte Innere des Menschen bezeichnet, ganz gleich, durch welches lateinische Wort dieser Inhalt ausgedrückt ist, durch cor, spiritus, voluntas, anima, animus oder mens… .²²
Von allen Kategorien des Inneren ist muot am unbestimmtesten, weil der Begriff sowohl rationale wie irrationale Antriebe und Kräfte umfassen kann: Breit ist der Bedeutungskreis des zum idg. *mê-, *mô- (=heftigen und kräftigen Willens sein, heftig streben) gehörenden, die lat. Termini anima, animus, cor, spiritus und mens wiedergebenden mhd. Substantivs muot. Das ganze Seelenleben des Menschen umfassend, bezeichnet es einerseits die irrationalen, emotionalen Kräfte und Affekte des Menschen […], andererseits die rationalen Kräfte des Subjekts, welche das Intellektuelle und das Voluntative, das Denken und das Wollen gleichermaßen umschließen.²³
Im Mittelhochdeutschen setzt sich (zumindest in der Epik) der Aspekt von Handlung und Hinwendung zu etwas oder jemandem, also der soziale Aspekt des Begriffs in der Verwendung durch. So kann ein Ritter nicht nur einen hôhen, sondern auch einen »hêrlîche[n]« (Parzival 171,10) oder »dienstlîche[n]« (Parzival 819,17) muot haben.
21 Heimplätzer: Metaphorik des Herzens, S. 21. 22 Becker: Geist und Seele, S. 156. 23 Vademecum medievale, Artikel ›muot‹, S. 60f.. Hervorhebung im Original.
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In der Epik kann mit muot stärker als im Minnesang eine handlungsmotivierende Absicht, ein Wunsch oder, seltener, auch ein Zustand bezeichnet werden. muot ist in der Epik weniger Stimmungslage oder ein erzählter, den Text dominierender Zustand als dasjenige, was den Fortgang des Geschehens motiviert, also eine narrative, Handlung erzeugende Dynamik. Der muot einer Figur kündigt oftmals eine Handlung an, indem er das Folgende motiviert. Eine solche handlungsleitende Intention bezeichnet muot beispielsweise im ›Partonopier‹, wo davon die Rede ist, dass dieser »nam / in sîn herze disen muot, / daz er lant, êr unde guot / dort heime gerne wolte sehen…« (v. 2714–2716) oder wenn im ›Parzival‹ Feirefiz sagt: »›gein rîterschefte het ich muot‹.« (v. 771,11) Der Riese, der den Artushof im ›Daniel‹ herausfordert, berichtet von seinem Volk: ›daz rîten und daz hovespil ist dâ drî stunt an dem tage (dâ liget prîs an ir bejage, wand ir muot ze fröuden stât.‹) (v. 700–703)
Auch im Sinne von Willen oder Wunsch begegnet muot häufiger, so wenn im ›Daniel‹ der Bote König Matûrs Artus fragt, als er seine Haltung und seine Absichten erfahren will: »›nû sage mir schiere dînen muot‹« (v. 808) oder wenn Partonopiers Mutter diesem vor Augen stellt, dass »›swaz wîbes du wilt minnen, / diu muoz erfüllen dînen muot.‹« (v. 9544f.) Als Iwein sich auf den Weg machen muss und nicht länger warten kann, beschwört man ihn um Gaweins Willen weiter auszuharren und bewegt ihn damit dazu, seine Haltung zu ändern und zu bleiben: »Daz beweget im den muot: / wan er was biderbe unde guot.« (v. 4859f.) Als Iwein hilfesuchend zu einer Burg gelangt, trifft er auf einen umsichtigen Knappen, der ihn einlässt, denn: »der erkande wol sîns herren muot: / sîn herre was biderbe unde guot.« (v. 5581f.) Hier klingt bereits eine weitere Konnotation an, die muot haben kann, nämlich die eines Zustandes oder einer Verfassung. Einen Zustand bezeichnet der Begriff in Verwendungen wie: »Êrec durch sînen grimmen muot / im dehein antwurt enbôt.« (v. 3221f.) Daniel »vienc […] eines lewen muot.« (v. 1075) Die Witwen im ›Erec‹ wurden überwunden, diu vil riuwigen wîp, daz si ir muot und ir lîp ze vreuden verkêrten. (v. 9953–9956)
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muot kann auch genau zwischen Absicht und Zustand stehen, beziehungsweise beides umfassen, so wenn Trevrizent »der spîse het […] keinen muot…« (v. 452,21), also appetitlos ist und auch keinen Antrieb verspürt, zu essen. Er kann Reflexions- und Entscheidungsinstanz oder sogar die freie Entscheidung selbst sein. So sagt Meliurs Schwester zu dieser: ›du minnest dînen liuten und niht dir selber, wizze Krist. dâ von du, swester, alle frist hâst dînen frîen muot verlorn.‹ (v. 11702–11705)
In diesem Fall ist muot nur schwer zu übersetzen; umschreibend müsste wohl formuliert werden »deshalb hast du, Schwester, keinen Anspruch darauf, dein persönliches Belieben, deinen Willen durchzusetzen.« muot kann in Ausnahmefällen aber auch im Sinne von Reflexion verwendet werden, wo eine Figur in sich geht, mit sich zu Rate zieht oder einfach nachdenkt. Daniel »dâhte in sînem muote… .« (v. 1353) Im ›Erec‹ »kam der muot in ir gedanc… (v. 3167) und Iwein »wîssagete sîn muot, / als er mir selbem ofte tuot… .« (v. 3097f.) Im Minnesang begegnet muot mit einem noch breiteren Bedeutungsspektrum als in der Epik. Außer einem hôhen muot kann das Lied-Ich auch einen »wunneclîchen« (Reinmar der Alte, MF 188,21), »kranken« (Albrecht von Johansdorf, MF 90,6), »tumplîchen« (Bernger von Horheim, MF 114,4), »unstaeten« (Dietmar von Eist, MF 33,14), »reinen« (Hartmann von Aue, MF 209,25) oder »wilden« (Reinmar der Alte, MF 180,11) muot haben. Zwar wird mit dem Begriff muot stets ein innerer Zustand bezeichnet, aber es ist einer, der für die Anderen erkennbar wird und ihrer Wahrnehmung entspricht. Anders als in der erzählenden Dichtung ist der muot im Minnesang eine thematisch-programmatische Festschreibung. Die Rollenhaftigkeit von Thematik, Sprecher und Motivik verdichtet sich im muot, der den Ton des Liedes bestimmt. Er legt seine Programmatik für das jeweilige Lied fest und dient als Chiffre für seine Kennzeichnung. So dominiert der muot des Rollen-Ichs das Lied, indem er seine poetische Aussage benennt. Wenn beispielsweise Rudolf von Fenis das ›Ich‹ seines Liedes über seine vergebliche Hoffnung räisonnieren lässt: Dô wolte ich, daz mir gelunge, sô daz ich doch sanfte runge. was daz niht ein tumber muot? wer gewan ie sanfte guot? (MF 85,3–6),
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dann ist die tumbheit seines muotes die Perspektive, aus der heraus seine Haltung, seine Absichten und Hoffnungen beurteilt und bewertet werden. Wenn dieses Ich zu Beginn der Strophe berichtet, es sei »ledic vor allen wîben. / alsus wânde ich vrô belîben« (MF 84,37f.), so deutet der tumbe muot diese Hoffnung bereits zum wân, konnotiert ihn als naiv und unreflektiert und schließt eine Erfüllung der Hoffnung damit aus. In Hartmanns von Aue Lied ›Mîn êrste rede, die sî ie vernan‹ berichtet das Ich von seiner Dame, sie hätte sich im Laufe seiner Werbung dieser gegenüber anders besonnen: Mîn êrste rede, die sî ie vernan, die enphie si, daz mich dûhte guot, biz sî mich nâhen zir gewan, zehant bestuont si ein ander muot. (MF, Wa 217,1–4)
Und so kann der muot hier auch zum Vorhaben, zur Absicht oder sogar zu dem Vermögen werden, sich frei zu entscheiden. In einem Lied des Burggrafen von Regensburg ist der muot jene Instanz, von der Liebesentscheidungen getroffen werden und durch die die Dame ihren Ritter erwelt: »Sine mugen alle mir benemen, den ich mir lange hân erwelt / ze rehter staete in mînem muot, der mich vil meneges liebes went.« (Burggraf von Regensburg, MF 16,8–11) Hartmann von Aue lässt in einem Lied einen Ritter den Rat seiner Freunde in seinem muot abwägen: »Si jehent, welle ich minne pflegen, / sô müeze ich mich ir bewegen. / doch sô râtet mir der [ ] muot ze beiden wegen.« (MF 216,12–14) Demgegenüber ist es bei Dietmar von Eist das herze, das Rat erteilt – auch wenn es der falsche ist: Ich suohte guoter vriunde rât, der aller beste hât mir noch gerâten niht zu wol. jâ enweiz ich, war umbe er daz lât: mîn herze meine ich, daz vor allen vriunden râten sol. (Lied XVI, I,1–4)
Bei Heinrich von Rugge wiederum sind die Ratgeber die sinne: In mîner besten vröide ich saz und dâhte, wiech den sumer wolte leben. dô rieten mîne sinne daz – des ich enkeinen trôst niht kan gegeben –, Daz ich die sorge gar verbaere unde hôhes muotes waere. (MF 109,9–14)
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Meinloh von Sevelingen schließt sich ihm darin an. In einem seiner Lieder sind für die Sprecherin die sinne Ratgeber: »mir râtent mîne sinne an deheinen andern man.« (MF 13,25f.) Und wenn in einem Lied Friedrichs von Hausen das Sprecher-Ich von seiner Dame sagt: »von der sprich ich niht wan allez guot, / wan daz ir muot / wider mich ze unmilte ist gewesen,« (MF 46,31–33) so ist damit wohl gemeint, dass jene Instanz, die das Verhalten einer Figur einer anderen gegenüber festlegt, ihm gegenüber nicht jene milte an den Tag gelegt hat, die er verdient zu haben glaubt. Wie die sêle, so kann auch der muot mit anderen ›Innen-Konzepten‹ verknüpft werden. Bei dem von Kürenberg kann beispielsweise das herze einen eigenen muot haben – in diesem Falle einen trûrigen: »und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot.« (MF 8,23f.) Frauenlob verwendet muot in diesem Sinne, wenn er ihn in einem seiner Lieder zum ›Her Mut‹ personifiziert und mit ihm konferiert: Swenn ich aleine bin bi mir, sô frege ich minen mut, wa sie, die schöne, si. (Lied XIV,3,1f.) ²⁴ ›Her Mut, ich sihe min lebendez heil, gar [] engel unde wip. wol, wünschet ir, wol mich, wol. her Mut, und wizzet, sie tusent selde in min ougen hat gewidemt in ir wesen.‹ (Lied XIV,4,1–5)
Was hier als Mut bezeichnet wird, erinnert an das, was in anderen Texten meist als sin bezeichnet wird. sin kann sowohl der Ort einer intellektuellen Auseinandersetzung wie Erinnerung oder Empfindung sein: Mhd. sin bezeichnet zunächst den Sinn als einen der fünf körperlichen Sinne, als die Fähigkeit der sinnlichen, äußeren Wahrnehmung, dann, auf das Geistig-Seelische übertragen, den Sinn als Fähigkeit, als Tätigkeit und als Ergebnis einer geistigen Tätigkeit, was etwa in den Begriffen Geist, Verstand, Vernunft, Weisheit / Verstehen, Gedanke, Denken / Einsicht und Bewußtsein zutage tritt.²⁵
In eben dieser, eher auf das Resultat eines intellektuell-geistigen Prozesses verweisenden Bedeutung, wird sin bei Frauenlob gebraucht als Personifikation des sin: »›Her Sin, nu bildet mir ein wip, / sit ich ouch trage eines mannes lip.‹ / ›ob
24 Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. 1. Teil Einleitungen, Texte. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hrsg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Göttingen 1981. 25 Vademecum medievale, Artikel ›sin‹, S. 81–83, Hervorhebungen im Original.
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ich erkenne ir bernden lobes künne. Ich tunz mit willeclicher hege.« (Minneleich III,2,1–4) Bei Hadlaub ist der sin ein Bote, der die Distanz zur Dame überwindet. Sein angestammter Ort ist des herzen grunt: Swie verre ich von der schœnen var, ich habe ein botten, der vert alse drâte: der vert zuo zir in einer stunt. den sende ich alle morgen dar zuo zir und ouch vil mangen âbint spâte. der botte ist nicht der hêren kunt, wan er gêt von mîns herzen grunt: es ist mîn sin, der vert zuo zir, swie verre ich bin. si sælig wîb, ach, möchte mîn lîb als ofte zuo zir kêren! (XXXVII,5,1–12) ²⁶
Hier zeigt sich deutlich, dass keiner der Begriffe zur Beschreibung innerer Vorgänge oder Zustände sich umstandslos mit neuhochdeutschen Begriffen übersetzen lässt, weil sie keine fixierbaren Wortfelder besetzen: Der sin ist in Hadlaubs Lied weder der Gedanke noch das herze, das in vielen anderen minneLiedern den Körper verlässt, um bei seiner Dame sein zu können, sondern eine Schnittmenge beider, denn die Gedanken entspringen nicht dem herzen und das herze ist hier der Ort, von dem aus der sin seine Reisen unternimmt, kann also mit ihm nicht identisch sein. Ähnlich ungreifbar ist die Verwendung auch in anderen Zusammenhängen: ›sin‹ ist kein ausschließlich intellektueller Terminus. Das Wort umfaßte seit je im Deutschen den ganzen Bereich des Bewußtseins überhaupt. Im Mhd. bedeutet ›sin‹ einmal äußerer Sinn (sensus). Im Minnesang […] steht ›sin‹ in erster Linie in der Bedeutung von innerer Sinn allgemein. Als solcher meint der ›sin‹ sowohl Gesinnung und Neigung als auch ›intellectus‹.²⁷
»Das Wort sin (m.) gibt es nur im Althochdeutschen und im Friesischen; es ist Verbalabstraktum zu sinnen.«²⁸ Offenbar wird sin zunächst zur Bezeichnung sprachlich-intellektueller Fähigkeiten verwendet, denn: »weder für den
26 Johannes Hadlaub: Lieder und Leichs. Hrsg. und kommentiert von Rena Leppin. Stuttgart 1995. 27 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 28. 28 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 162.
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Helianddichter noch für Otfried, sondern erst für Notker ist im Bereich des Seelischen eine Bezeichnung dessen notwendig, was den Menschen vor den Tieren auszeichnet und ihn befähigt, objektiv zu sein.«²⁹ Es erstaunt deshalb nicht, dass der Begriff sich gerade im Umfeld einer Boethius-Übersetzung findet: Sicher hat ihn [Notker] der Boethische Terminus sensus in der Erkenntnislehre des 5. Buches zu dem Wort sin geführt. Aber schon bei Notker bleibt sin nicht an sensus gefesselt, sondern wird, unabhängig von lateinischen Termini, in die christliche Terminologie eingebaut zur Widergabe eines besonders umfassenden sensus, eines animus oder mens, wenn diese besonders auf das Geistige und auf das Bild Gottes im Menschen zielen, und für ingenium, intelligentia, intentio.³⁰
In der höfischen Literatur ist sin jedoch nicht primär als Reflexionsvermögen konnotiert, sondern bezeichnet in der Regel eine Absicht. In dieser Bedeutung begegnet sin zum Beispiel dort, wo Penthesilea ihren Gatten Malfer im ›Rennewart‹ fragt: »›herre, wie stant dine sinne?‹« (v. 32684)³¹ als sie wissen will, auf welchen Namen ihr gemeinsames Kind getauft werden soll. Weil sin eine Absicht oder einen Entschluss bezeichnen kann, ist es möglich, »falschen sinnes« zu sein, andere also betrügen oder schädigen zu wollen. Der heidnische Brautwerber, dem Meliur zugunsten von Partonopier vorenthalten wird, fühlt sich betrogen und verlangt ›daz schœne wîp und der zweier manne lîp, die mit valschen sinnen mich schieden von ir minnen.‹ (v. 19245–19248)
Demgegenüber lobt im ›Wilhelm von Österreich‹ ein von Wilhelm reich beschenkter Bote dessen Großzügigkeit, indem er sagt: »›Mahmet der rich / mzz im danken swer er si! / sim sinne wont hainlich sache bi.« (v. 6664–6666) sin kann aber auch die Zustimmung zu etwas oder eine Entscheidung bezeichnen. So sagt Iwein: ›daz ich ze vriunde hân erkorn mîne tôtvîendinne, dazn ist niht von mînem sinne: ez hât ir gebot getân.‹ (v. 1654–1657)
29 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 163. 30 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 164. 31 Ulrich von Türheim: Rennewart. Hrsg. von Alfred Hübner. Berlin, Zürich 21964. (DTM 39)
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Die sêle in der höfischen Literatur
In ›Biterolf und Dietleib‹ wird der Kontrast zwischen dem zarten Alter Dietleibs und seiner Verständigkeit ausgedrückt mit dem Hinweis: »der tumbe sprach mit sinne… .«³² (v. 4228) Weil sin zumeist eine reflexive oder rationale Bedeutung hat, kann er anderen Vermögen wie der sêle oder dem muot zugeordnet sein. In diesem rationalen Bezug, in seiner Bedeutung als Entscheidung oder Überlegung, kann der Singular (der sin) mit dem Plural (die sinne) verknüpft sein. Diese sind dann nämlich gerade nicht die neuhochdeutschen ›Sinne‹, sondern Verstandeskräfte. Im ›Wilhelm von Österreich‹ ist beispielsweise die Rede von der »sel sinne.« (v. 12764) In dieser Bedeutung begegnen die sinne auch im Minnesang, hier in einem Lied Hartmanns von Aue, das darauf abhebt, dass die minne dazu angetan sei, den Liebenden seiner sinne zu berauben, dass aber nur demjenigen bei der Werbung Erfolg beschieden sei, der es versteht, sie beisammen zu halten. Die sinne werden hier dem unsin gegenüber gestellt: Mîn vrowe gert mîn niht: diu schulde ist mîn. sît sinne machent saeldehaften man, und unsin staete saelde nie gewan, ob ich mit sinnen niht gedienen kan, dâ bin ich alterseine schuldic an. (MF 205,14–18)
Häufiger als im Sinne von Vernunft, Klugheit oder List begegnet sin dort, wo ausgedrückt werden soll, dass eine Figur den Verstand verloren hat, also in der Bedeutung von Besinnungslosigkeit. Diese Konnotation ist gattungsübergreifend und findet sich in der Epik und im Minnesang, in der Märendichung wie in der Spruchdichtung – hier in einem Lied Dietmars von Eist: »si roubet mich der sinne mîn…« (MF 40,22), bei Heinrich von Rugge: »Daz tuot diu minne, diu benimt mir die sinne…« (MF 101,19) und Ulrich von Gutenburg: »der ougen blicke mich vil dicke mîner sinne roubent.« (MF 72,2) Die gleiche Verwendung findet sich in der Epik, z.B. im ›Iwein‹: dâ was ir hâr und ir lîch sô gar dem wunsche gelîch daz im ir minne verkêrten die sinne, daz er sîn selbes gar vergaz. (v. 1333–1337)
Später heißt es:
32 Biterolf und Dietleib. Hrsg. von Oskar Jänicke. Berlin, Zürich 1963. (1. Aufl. 1866, Deutsches Heldenbuch I)
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Swie im sîne sinne von der kraft der minne vil sêre wæren überladen, doch gedâht er an einen schaden. (v. 1519–1522)
Wer den Verstand verliert wie Iwein, der ist »nacket beider, / der sinne unde der cleider« (v. 3359), so wie es auch Partonopier geschieht, von dem Meliurs Schwester dieser sagt, »›dîn ungenâde, sælic wîp, / hât in gemaht der sinne frî‹.« (v. 11358f.) Schließlich kann sin auch die Bedeutung von Sinneswahrnehmung oder Wahrnehmungsvermögen haben wie im ›Iwein‹, wo von den Untertanen Ascalons darüber gerätselt wird, weshalb sie den Mörder ihres Herrn nicht finden können: »sî sprâchen ›warst der man komen, / ode wer hât uns benomen / diu ougen und die sinne?‹« (v. 1273–1275) Nur ausnahmsweise kann sin darüberhinaus auch eine umfassendere Bedeutung haben wie hier im ›Partonopier‹, wo Meliur um ihren vermeintlich toten Geliebten trauert: si hete sich gesundert von allen fröuden an der stunt und waz biz ûf der sinne grunt beswæret in dem muote. (v. 11970–11973)
Die Beobachtung, die am Ende des Kapitels zu sêle stand, ist auch in der Auseinandersetzung mit dem sin zu machen, am deutlichsten in den Komposita, die der Begriff bildet: In Meliurs muot befindet sich der sinne grunt – die Begriffe muot, sinne und grunt sind hier nicht terminologisch gebraucht, sondern mehr oder weniger inhaltslose Chiffren, die ein dynamisches inneres Geschehen ausdrücken, das weder Bildlichkeit, also Anschaulichkeit, noch Prägnanz anstrebt.
2.2 geist Der Begriff gêst oder geist wird im Althochdeutschen verwendet, um den lateinischen Begriff spiritus zu übersetzen: Das Wort »ist ausersehen worden, ein sehr wichtiges Wort der christlichen Terminologie zu übersetzen, und wird in der strengen Übersetzungsliteratur vielfach ohne Rücksicht auf die besondere Bedeutung von spiritus im Textzusammenhang dazu herangezogen.«³³ Schon hier unterliegt der Begriff einer engen semantischen Begrenzung, die geist von allen anderen bisher besprochenen Begriffen unterscheidet: »Das Wort
33 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 170.
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Die sêle in der höfischen Literatur
geist kann für spiritus sanctus uneingeschränkt und für spiritus dei immer dann eingesetzt werden, wenn es nicht den Atem, den Hauch Gottes bezeichnet. […] Damit scheinen sich die Verwendungsmöglichkeiten dieses Wortes eigentlich schon zu erschöpfen.«³⁴ Denn: Hat spiritus physiologische oder physische Bedeutung und wird diese Bedeutung erkannt, so vermeidet man das Wort geist. Ebenso einheitlich ist die Verhaltensweise, wenn spiritus im Zusammenhang mit dem Fühlen, Wollen, Denken, der Stimmung oder der Gesinnung erscheint; gêst-geist kann diesen Wortinhaltssektor nicht übernehmen.³⁵
geist ist jener Begriff, der auch in der mittelalterlichen Literatur am seltensten zur Beschreibung, beziehungsweise zur Lokalisierung eines inneren Geschehens herangezogen wird. geist bezeichnet zunächst in den zahlenmäßig häufigsten Fällen den heiligen geist, der auch hêrer geist genannt wird, aber auch einfach als geist bezeichnet werden kann und oft mit vater und sun in einem Atemzug genannt wird. Deshalb kann es nicht überraschen, dass der Begriff sich im Minnesang nur ausnahmsweise findet. Was die (seltenere) profane Verwendung des Begriffes anbelangt, so kann er ein körperloses Gespenst meinen wie im ›Iwein‹, wo Laudine und ihr Hof den Mörder Ascalons suchen. Weil sie ihn nicht finden können, meinen sie, es mit einem Geist zu tun zu haben: »›ez ist niuwan alsô komen: / der im den lîp hât genomen, / daz ist ein unsihtic geist‹.« (v. 1389–1392) In Ulrichs von Eschenbach ›Alexander‹ kommt ein Ritter durch einen bösen Geist zu Tode: »ein bœser geist den ritter sluoc, / daz man in tôt von dannen truoc.« (v. 22349f.) In diesem Sinne begegnet geist auch im ›Erec‹, wo die Fee Morgane beschrieben wird, die das Pflaster herstellt, mit dem Erec geheilt wird. Sie ist Herrin über die bösen Geister, die hier mit Teufeln gleichgesetzt werden: si lebete vaste wider gote, wan ez warte ir gebote daz gevügel zuo dem wilde an walde und an gevilde, und daz mich daz meiste dunket, die übelen geiste, die dâ tiuvel sint genant, die wâren alle under ir hant (v. 5190–5197)
oder im ›Trojanischen Krieg‹, wo Hekate Geister beschwören kann: »des wart vil manic wilder geist / von ir gemüniget und gemant.« (v. 10526f.)
34 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 171. 35 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen, S. 171.
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geist kann in der Erzählliteratur ausnahmsweise etwas stärker an das semantische Feld von sêle angenähert werden und in Konkurrenz zu ihr treten. In Herborts von Fritslar ›Liet von Troye‹ wird in der Beschreibung von Patroclos’ Tod berichtet, wie sein Geist sich vom Körper löst: Patroclo wart ein wunde In daz herze so groz Daz er tot zu der erden schoz Der geist vur sine vart Patroclus wart also hart Vnd also kalt als ein stein Im starten arm und bein. (v. 4989–4995)³⁶
Im ›Trojanischen Krieg‹ führt ein Ritter die ungetauften Seelen zur Hölle, die hier nicht als Seelen, sondern als Geistwesen bezeichnet werden: »ze helle zôch er eines zuges / vil ungetoufter geiste.« (v. 12582f.) Deutlich werden sêle und geist hier als Synonyme gebraucht – wie auch im ›Alexander‹ Ulrichs von Eschenbach, wo sich auf dem Schlachtfeld nicht Körper und Seele trennen, sondern lîp und geist: »nâch valle zetret sach man in [Zorcas] ligen. / den tôt sach man in lernen, / den geist sanden sie den sternen.« (v. 8524–26) Dass hier der Begriff geist gegenüber sêle bevorzugt wird, lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass die Figuren Heiden sind, deren Lebenshauch nach ihrem Tod nicht zu Gott, sondern den Sternen aufsteigt. In Einzelfällen steht geist nicht für die sêle, sondern für das Leben insgesamt. Heinrich von Freiberg führt den Leser in seinem ›Tristan‹ ins innerste Innen seines Protagonisten, nämlich in Tristans »herzen inren schrîn, / aldâ sîn geist sîns lebens pflac.. .« (v. 802f.) Ansonsten begegnet geist vereinzelt in Bedeutungen, die anderen Begriffen gegenüber kaum abgrenzbar sind: Im folgenden Zitat aus Strickers ›Karl‹ wäre geist etwa mit Vernunft oder Willen zu übersetzen. An der Stelle von geist könnte ebenso gut sin oder herze stehen: er was starc küen unde balt, daz er nû sprechen solte. swaz sîn selbes geist wolte, des muose sîn vleisch volgen. (v. 1832–1835)³⁷
36 Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Hrsg. von Karl Frommann. Quedlinburg, Leipzig 1837. (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 5) Im Zitat sind Abkürzungen aufgelöst und Schaft-s zu Rund-s umgeschrieben. 37 Karl der Grosse von dem Stricker. Hrsg. von Karl Bartsch. Berlin 1965. (1. Aufl. Quedlinburg und Leipzig 1857) Im Zitat sind Schaft-s zu Rund-s umgeschrieben
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Die sêle in der höfischen Literatur
Zwischenresümee Eine literarische Figur verfügt in der mittelhochdeutschen Literatur zwar über ein komplexes und vielgestaltiges Innenleben, das auch terminologisch differenziert wird. Doch obgleich die Begriffe zur Bezeichnung der Kräfte und Instanzen, die im Inneren einer Figur angesiedelt sind, unterschiedliche semantische Felder besetzen und ihre Verwendung meist nicht kontingent ist, sind sie dennoch alles andere als trennscharf und distinkt. Mancher Unterschied in der Verwendung der Begriffe ist der Gattung geschuldet: So finden sich im Minnesang nahezu keine Belege für geist. Eine kohärente Bedeutungseingrenzung lässt sich aber auch gattungsspezifisch nicht durchführen. Dieser Befund legt die Frage nach seiner Ursache nahe: Warum bildet die mittelhochdeutsche Literatur eine ganze Fülle von Begriffen zur Bezeichnung innerer Vorgänge und Sachverhalte aus, die in ihrer Verwendung aber kaum diffenziert und oft sogar gegeneinander austauschbar sind? Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Begriff sêle den lateinischen Begriff anima übersetzt. Doch die höfische Literatur, von der in der Forschung immer wieder behauptet worden ist, dass durch sie auf ganz neuartige Weise das, was im Innern der Menschen vorgeht, zum Gegenstand gemacht wurde. In der Lyrik setzte sich eine Liedform durch, in der der Sänger reflektierend von seiner Liebe und seiner innere[n] Bewegung spricht: von dem Gedankenflug, der ihn um seine Geliebte fliegen läßt […], von seiner inneren Zerrissenheit […],³⁸
greift ihn in ihrer Auseinandersetzung mit diesem ›Innern der Menschen‹ nur sporadisch auf. Die Stichproben zur poetischen Funktion des Begriffes ›sêle‹ in der höfischen Literatur legen ein ambivalentes Ergebnis nahe: Einerseits verfügt die höfische Literatur über ein ganz selbstverständliches Wissen von der menschlichen sêle. Nicht nur in der geistlichen, sondern auch in der weltlichen und höfischen Literatur ist dieses Wissen um die Sterblichkeit des Körpers und die Unsterblichkeit der sêle überall präsent. Doch in auffälligem Gegensatz zu dieser Allgegenwart und Selbstverständlichkeit steht, dass die Texte kaum ein Interesse an der Natur der sêle erkennen lassen. Die Frage nach ihrem Sitz im Körper und ihrem Wirken und den Erscheinungsformen ihrer Kräfte im lebendigen Körper wird in der höfischen Literatur kaum je gestellt, ihr Zusammenspiel mit dem Leib und ihre Substantialität, die in der Theologie und in der geistlichen
38 Bumke: Blutstropfen, S. 27.
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Literatur zu einem mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Dualismus führen, werden hier nicht problematisiert, nicht einmal angedeutet. Offenbar sahen die höfischen Autoren keinen Anlass oder keine Möglichkeit, Fragen, die mit der Seelenlehre zusammenhängen (wie die nach der Materialität der Seele, ihrer Existenz nach dem Tod des Körpers, ihrer Lokalisierung, ihrer Gottgeschaffenheit und ihrem Erscheinungsbild), aufzugreifen. Obwohl sie also das Konzept von anima/sêle kennt und sogar differenzierte Kenntnis der theoretischen Auseinandersetzung mit ihr haben konnte, zieht die höfische Literatur es dort, wo der Innenraum einer Figur entworfen werden soll, wo von inneren Vorgängen wie minne, Reflexion, Emotion oder Erinnerung erzählt wird, nicht heran. Wo sie es doch tut, verfährt sie ekklektisch und unsystematisch. Wird man von weltlicher Literatur auch nicht erwarten, dass sie in der Darstellung ihrer Gegenstände systematisch verfährt, so muss doch auffallen, dass sie die Möglichkeit, auf jene Systematik zurückzugreifen, die zur Beschreibung und Bezeichnung des menschlichen Inneren zur Verfügung steht, kaum nutzt. Zurückgewiesen wird offenbar die augustinische Auffassung der Seele als einer gottähnlichen Substanz, die den Menschen mit seinem Schöpfer in Beziehung setzt, ihn also gerade nicht als Individuum konstituiert: Zentrum des Fühlens, Reflektierens und Wollens scheint in der höfischen Literatur nämlich gerade nicht sie, sondern das herze zu sein.
3 Der Körper im Körper: Das herze Die sêle ist, wie im vorhergehenden Kapitel deutlich wurde, nicht Zentrum des Fühlens einer Figur. Dieses Zentrum ist in der höfischen Literatur nicht körperlos, sondern selbst ein Körper – gleichsam ein Körper im Körper. Es ist das Herz, mittelhochdeutsch herze. Seine Bedeutung resultiert zu einem großen Teil aus seiner ursprünglich biblischen Semantik: Ein Vergleich der Verwendungsweisen der beiden Begriffe [›anima‹ und ›cor‹] zeigt, daß das Herz das von Gott gebildete vernünftige geistige Zentrum des Menschen ist. In ihm vollzieht sich der den Menschen von allen anderen Geschöpfen auszeichnende Akt der geistigen Erkenntnis: die Unterscheidung von Gut und Böse. Das Herz ist in biblischer Sicht nicht ein bevorzugtes Organ zum Empfang religiöser Erfahrungen, neben dem es noch andere geistige Zentren gibt oder geben kann, sondern der in ihm, gleichsam wie in einem Punkt, zusammengezogene Mensch in seiner geistig-geschöpflichen Gesamtheit.¹
Bezeichnenderweise wird, wie das folgende Kapitel zeigen soll, die weltliche mittelhochdeutsche Literatur diese biblische Konnotation des Begriffs jedoch nicht beibehalten. Das herze ist nicht der »wie in einem Punkt zusammengezogene Mensch«, sondern tritt der literarischen Figur als ein Gesprächspartner, Ratgeber, Komplize oder Antagonist gegenüber. Es wird also vom eigenen Inneren zum eigenen Anderen (oder anderen Eigenen), in jedem Falle aber vom Ich zum Du. Der Paradigmenwechsel in der Konzeption des herzen liegt also weniger darin, dass es zum Zentrum einer neuen poetischen Tiefe würde: Ihre schöpferische Tat [die der Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts] lag nicht darin, daß sie das Herz in Opposition zur unsterblichen Seele entdeckte, um damit der christlichen Transzendenz zu entgehen, sondern daß sie die Möglichkeit erkannte, den biblisch-augustinischen Herzbegriff für das ritterliche Leben in der Welt in seinem Ausgespanntsein zwischen die Trauer der Verlassenheit und die höchste Freude durch die begnadete Erfüllung fruchtbar zu machen.²
Die Literatur entwickelt also aus jenem Ort der Abgeschlossenheit, der Inwendigkeit, der Gottesbegegnung und der Emotionalität ein alter ego; dem Ich tritt mit dem herzen ein Du entgegen, das vormals stets als Ich gedacht worden war. Dieses Du gehört substantiell zum Ich der literarischen Figur, vermag sich aber von ihm zu trennen, zu entfernen und sich ihm gegenüber personal zu verselbständigen – es pluralisiert das Ich:
1 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 251. 2 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 262.
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Der Körper im Körper: Das herze
Ainsi, pour cuer, le dictionnaire de Tobler-Lommatzsch énumère, à l’intérieur d’un article copieux, les principaux usages suivants: partie du corps; siège de diverses sensations physiques; siège de la joie, de la douleur, de la honte; intention, disposition d’esprit, volonté; sympathie, inclination; siège du courage, et courage; siège de l’intelligence et du jugement, de l’imagination, de la conviction, de la pensée, de la mémoire; la personne tout entière³
und spaltet es in diverse Rollen und Sprechinstanzen auf: Mit herze wird dort [in der zeitgenössischen höfischen Literatur] das Innere als Bühne entdeckt, auf der unterschiedliche Antriebe, unterschiedliche Werte, Frauen- und Gottesdienst, Minne und Ehre, miteinander streiten; das herze ist eine der Instanzen des Ich, Gegenpart z.B. des lîp, mit dem es um die Vorherrschaft kämpft, und es ist […] Inbegriff und Sitz all jener affektiven Antriebe, die bloß konventionelle Werte in der höfisch-feudalen Gesellschaft wie Stand, Geburt, Schönheit, Reichtum in Frage stellen.⁴
Der Begriff herze kann die belebenden Vitalkräfte einer Figur benennen und einfach ›das Leben‹ bedeuten – dies ist eine Bedeutung von herze, die im Mittelalter eine besonders lange und ungebrochene Tradition hat: Schon die Antike erkannte im Herzen die Lebensmitte, im Mittelalter war dann diese Vorstellung weit verbreitet. Es ist kaum anzunehmen, daß spezielle Kenntnisse jener antiken Lehren etwa bei den höfischen Dichtern vorhanden gewesen sind. Sie werden das Herz als Lebensmitte als ein Gemeingut mittelalterlicher Bildung aufgenommen haben. Im Einfluß der religiösen Verinnerlichung verlagern sich durch christliche Gedanken die Akzente vom physischen auf das innere, geistige Leben. Daher wurde es besonders seit dem 12. Jahrhundert möglich, in der Herz-Jesu-Verehrung vom körperlich getroffenen Herzen des Herrn symbolisch auf sein geistiges zu schließen, das von der Liebe verwundet wurde.⁵
Diese beiden Bedeutungen von Körperorgan auf der einen und von Lebenszentrum auf der anderen Seite überlagern sich in Bezug auf die Semantik von herze: Mit dem Wort herza werden dem mittelalterlichen Menschen zwei ›Felder‹ ins Bewußtsein gerufen, das ›Feld‹ der spirituellen Auslegung, die das Ding, das Körperorgan Herz erfahren kann, und das Feld der Dinge, denen der spirituelle Sinn ›Herz‹ innewohnt. Beide ›Felder‹ beeinflussen den Wortinhalt von herza und tragen zur Vermehrung der Verwendungsmöglichkeiten im Althochdeutschen bei. Das doppelte Auftreten des Wortes Herz – sowohl auf der Seite der allegorischen Gegenstände als auch auf der der Auslegung – geben ihm auch
3 Anita Guerreau-Jalabert: »Aimer de fin cuer«. Le cœur dans la thématique courtoise. In: Il cuore – The Heart. Micrologus XI (2003), S. 343–371, hier S. 346. 4 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 217f., Hervorhebungen im Original. 5 Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹, S. 26.
herze als Ort der Reflexion und des Willens
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weiterhin eine Vorrangstellung im volkstümlich christlichen, aber auch im dichterischen Wortschatz.⁶
Dies ist das Charakteristische für den Gebrauch des Begriffs in der mittelhochdeutschen Literatur, dass das herze nicht nur viele verschiedene Bedeutungen haben kann, sondern diese Bedeutungsfülle und das Changieren zwischen den einzelnen Bedeutungen ganz bewusst für die poetische Aussage genutzt wird. Bevor gezeigt wird, auf welche Weise sich das vollzieht, sollen die verschiedenen semantischen Facetten des Begriffs herze herausgearbeitet, gebündelt und vorgestellt werden.
3.1 herze als Ort der Reflexion und des Willens In seiner häufigsten und unproblematischsten Verwendung ist das herze das Zentrum von Selbstbesinnung, Überlegung, Nachdenken und Willen: Viele Beispiele gäbe es, die deutlich machten, daß mhd. herze ›-Physis‹ weiter gefaßt sein konnte als heute und den Raum des Denkens, der Gedanken, die wir heute im Kopf sehen, mit umfaßte. Die vielfach auftretende Formel herze unde sin ist deshalb zunächst als Doppelformel im Sinne etwa von ›Denken und Trachten‹ zu verstehen und nicht als Gegensatzpaar im Sinne von ›Gefühl und Verstand‹.⁷
Das herze ist jener Ort, an dem Überlegungen angestellt, Entscheidungen getroffen und abgewogen werden: Im Gegensatz zur heutigen Anschauung, wonach der Kopf als Sitz des Verstandes dem Herzen als Sitz des Gefühls gegenübersteht, wurde im Mittelalter das Herz sowohl als Ort des Gefühls wie des Verstandes angesehen. […] Zwar ist die Bedeutung des Gehirns beim Denkvorgang den mittelalterlichen Denkern längst bekannt (Galen z.B.), dennoch behauptet sich aber die Vorstellung, daß der Verstand vom Herzen ausgehe.⁸
Es ist gerade dadurch charakterisiert, dass es zwar zum sichtbaren Körper gehört, dadurch aber, dass es sich in diesem Körper befindet, unzugänglich und unsichtbar bleibt. Das herze ist – ganz allgemein – der Ort geistiger Wachheit und Aufmerksamkeit, der Aufnahmebereitschaft und Offenheit: »Ein Bedenken,
6 Becker: Geist und Seele im Altsächsischen und Althochdeutschen, S. 167. 7 Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, Artikel ›herze. Die personale Mitte‹, S. 86–91, hier S. 87, Hervorhebungen im Original. 8 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 24.
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Der Körper im Körper: Das herze
Erwägen und Urteilen im herzen zeigt deutlich die Verbindung mit dem Bezirk des Verstandes.«⁹ Auch der Vortrag von Literatur kann deshalb nur dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn sich das herze ihm öffnet: maneger biutet diu ôren dar: ern nemes ouch mit dem herzen war, sone wirt im niht wan der dôz, und ist der schade alze grôz: wan si verliesent beide ir arbeit, der dâ hœret und der dâ seit. (›Iwein‹, v. 251–256)
Die rein affektive Aufgeschlossenheit wird zur geistigen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand beispielsweise dort, wo eine Figur sich besinnt, konzentriert oder bedenkt. Dass eine Überlegung oder Überzeugung von herzen kommt, bezeugt dann ihre Ernsthaftigkeit und verleiht ihr Nachdruck. In diesem Sinne erzählt Gottfried, dass die Fremden, die das Kind Tristan beobachten, »in ir herzen jahen, / sin gesæhen nie dekeine jugent / gezieret mit so maneger tugent.« (v. 2276–2278) Das herze ist auch bei Albrecht von Johansdorf Ratgeber: »iedoch sô râtet mir daz herze mîn: / Sold ich minnen mêre danne eine, / daz enwaer mir niht guot.« (MF 86,4–6) Auch bei Heinrich von Rugge und Reinmar ist das herze die Instanz, die die Entscheidung für eine Dame trifft: »Mir gap ein sinnic herze rât, / dô ich si ûz al der welte erkôs« (Heinrich von Rugge, MF 103,11f.) und »daz râtet mir daz herze mîn.« (Reinmar, MF 188,27) Bereits in dieser Ratgeberfunktion deutet sich, dies allerdings auffällig häufig im Minnesang, an, dass das Herz sich gegenüber der Sprecherinstanz dramatisch verselbständigen kann, beispielsweise dort, wo es einen falschen, schlechten Rat gegeben hat oder einen, unter dessen Konsequenzen das Ich zu leiden hat. In einem Lied von Bernger von Horheim wird das herze für den Rat, den es gegeben hat, zur Rechenschaft gezogen: »herze, die schulde wâren dîn: / du gaebe mir an sî den rât!« (MF 112,26f.) Das herze ist in solchen Fällen dann nicht sinnic, sondern ein Verräter wie bei Heinrich von Veldeke, wo »mîn tumbez herze mich verriet« (MF 56,7) oder bei Hartmann von Aue, wo »mich mîn selber herze trouc.« (MF 213,10) Allerdings sind solche Beschuldigungen in aller Regel floskelhaft und sollen wohl auch in ihrer Floskelhaftigkeit wahrgenommen werden. Wo das herze als Verräter angeklagt wird, wird bereits mit dem Motiv der Verselbständigung gespielt, die die Einheit von herze und dem Ich, aus dessen Perspektive es angeklagt wird, zu einer prekären macht, ohne dass sie doch je aufgehoben werden könnte. Denn
9 Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹, S. 30, Hervorhebung im Original.
herze als Ort der Reflexion und des Willens
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so sehr der Schmerz um die erfolglose Werbung dem herzen vorgehalten wird, so sehr es für die Entscheidung, der unnachgiebigen Dame bedingunglos zu dienen, verflucht werden mag, so deutlich ist auch, dass das herze – gerade aufgrund der Unerreichbarkeit und Unerbittlichkeit der Dame – richtig gewählt hat. Dem Minnesang gelingt es also in der Anklage des Ich dem herzen gegenüber, das komplexe Verhältnis nicht nur zwischen Werber und Dame, sondern auch zwischen herze und Ankläger gleich auf zwei Ebenen zu entwickeln: Erstens, indem die Vorwürfe des Ich als unbegründet und vorschnell entlarvt werden. Sie fallen letztlich nur auf das klagende und anklagende Ich zurück, das sich dem herzen gegenüber als ungeduldig und wankelmütig zeigt. Das Ich bezeugt damit, dass dieses als sein eigener ›besserer‹ Teil leidensfähiger ist als es selbst. Zweitens, indem gerade diese unterschwellige Überhöhung des herzen dem Ich gegenüber darauf hindeutet, dass beide in ihrem Handeln notwendig aufeinander bezogen sind: Das herze hat die Dame erwählt, das durch die Ablehnung der Dame enttäuschte Ich beklagt seinen Kummer, doch insofern dieser substantieller Teil der höfischen Dienst-minne ist, sind deren Aspekte (die dem herzen zugeordnet sind) und die des Kummers (artikuliert durch die Klage des Ichs) doch wieder in eine Werbung reintegriert, in deren Rahmen beide gemeinsam agieren, dienen und leiden. Schließlich ist es immer das eigene herze des Ich, das spricht, und auch die Vorwürfe, die es an das herze richtet, können nicht dementieren, dass es zwar nicht identisch mit dem Ich ist, aber doch nur ein anderer Aspekt der Bewertung einer gemeinsamen Entscheidung, eines gemeinsamen Begehrens und eines gemeinsamen Kummers. Jede Gegenüberstellung von herze und lîp hat so unterschwellig immer auch die existentielle Verbundenheit beider zum Gegenstand. herze und lîp sind Opponenten, die nicht klar voneinander unterschieden werden können, kann doch das herze ohne den Körper weder erkennen, noch werben. Dennoch verfügt es über eine diffuse eigene Form von Wahrnehmung oder Reflexionsvermögen, das aber gerade nicht systematisch aufgebaut ist – seine Gedanken fliegen ihm zu und sind dann die seinen: »nu kom dem degen hêre / in sîn herze der gedanc, / swie er doch mit nœten ranc […].« (›Meleranz‹, v. 6154–6156)¹⁰ Deshalb kann das herze nicht nur Gedanken hegen (»Gâwâns herzen gedanc,« ›Parzival‹, v. 584,9), sondern auch zu Überzeugungen gelangen, wie z.B. in einem Lied von Friedrich von Hausen, wo das »herze den gelouben hât.« (MF 48,3) Im herzen finden Überlegungen und Selbstbefragungen statt: »Waz ist vür daz trûren guot, daz wîp nâch lieben manne hât? / gerne daz mîn herze erkande,
10 Der Pleier: Meleranz. Hrsg. von Karl Bartsch. Stuttgart 21974. (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 60)
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Der Körper im Körper: Das herze
wan ez sô betwungen stât.« (Dietmar von Eist, MF 32,1f.) Dort werden Gedanken formuliert und dem Ich gegenüber ausgesprochen, so wie in der Redeweise »sich sagen, dass…«: »In seinem herczen er dez iach, / Daz er nie schöner purch gesach.« (›Garel‹, v. 3162f.)¹¹ Das herze ist der Ursprungsort des Gedankens, der »endiuzet noch erklinget, / sô er vom herzen springet.« (›Parzival‹, v. 466,23f.) Weil im herzen ›gedacht‹ wird, ist es sinnic: »swelch sinnic herze sich versann, / daz solt ir gerne gnædic sîn.« (›Lanzelet‹, v. 5266f.) Gawan handelt so, wie es ihm seines »herzen sin [rætet].« (›Parzival‹, v. 523,20) Doch das herze ist nicht nur Stätte der Überlegung, sondern auch der Entscheidung und des Wollens: »der wille in sînem herzen lac« (›Parzival‹, v. 13,15); »ez was ir herzen wille.« (›Parzival‹, v. 757,12) Offenbar sind »wollen, wünschen und begehren […] im ›Tristan‹, aber auch in anderen Dichtungen, mit herze verbunden.«¹² Dessen Wünsche und Entscheidungen werden nicht an andere Instanzen, wie etwa die Ratio oder den Intellekt, weitergeleitet und von ihnen befürwortet oder verworfen. Vielmehr scheint das herze der uneingeschränkte Souverän im Inneren einer Figur zu sein. Es setzt seine Position in der Regel auch durch: »er ist, als in mîn herze wil,« (Dietmar von Eist, MF 40,10) »sô hât iedoch daz herze erwelt ein wîp«, (Friedrich von Hausen, MF 47,12) »sô wil iedoch daz herze niender wan dar,« (Reinmar, MF 159,22) »mîn herze erkôs mir dise nôt.« (Burggraf von Rietenburg, MF 19,33) Deshalb sind Tugenden und Laster¹³ gerade im herzen angesiedelt, weil dieses für das Verhalten und Handeln einer Figur die maßgebliche Instanz ist: Die Tugenden, ganz gleich ob sie sich auf das Verhalten des Menschen in der höfischen Gesellschaft beziehen, oder ob im christlich moralischen Sinne das Verhalten des Menschen zu Gott durch sie bestimmt wird, haben ihren Ursprung im Herzen. Alle Weisen des Verhaltens gehen auf das Herz als den Ort der Entscheidung zwischen gut und böse zurück.¹⁴
Doch das herze ist nicht nur Ort der Reflexion, des Willens und der Entscheidung, sondern auch der Affekte.¹⁵
11 Garel von dem blüenden Tal. Ein höfischer Roman aus dem Artuskreise von dem Pleier. Hrsg. von M. Walz. Freiburg i. Br. 1892. 12 Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹, S. 33, Hervorhebung im Original. 13 »Wie in der Bibel haben auch im ›Tristan‹ Untugenden ihren Ursprung im herzen.« Speckenbach: Studien zum Begriff ›edelez herze‹, S. 37. 14 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 36. 15 Zu Affekt und Emotion vgl. ausführlicher Kapitel 6.
herze als Ort der Affekte
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3.2 herze als Ort der Affekte »Weit verbreitet ist im Mittelalter die Vorstellung vom Herzen als dem Mittelpunkt menschlichen Fühlens.«¹⁶ Öfter als von Tugenden und Lastern ist in der höfischen Literatur von Affekten oder Emotionen wie scham, zorn und haz die Rede, und auch sie sind im herzen lokalisiert, so dass es Zentrum sowohl der guten als auch der verwerflichen Regungen sein kann: Im ›Parzival‹ »hât mîn herze sich geschamt,« (v. 116,12) in Ulrichs von Eschenbach ›Alexander‹ spürt Nabuchodonosor, »wie zorn sîn herze ruorte« (v. 7673) und im ›Tristan‹ trägt Morold seinem Feind »in dem herzen haz.« (v. 6225) Alle diese Affekte oder Emotionen,¹⁷ die in mehr oder weniger hohem Maße die Handlung lenken, nehmen ihren Ursprung vom herzen und so geht auch Unüberlegtes, Impulsives, Unkontrolliertes von dort aus: ezn sprichet niemannes munt wan als in sîn herze lêret: swen iuwer zunge unêret, dâ ist daz herze schuldec an. in der werlte ist manec man valsch und wandelbære, der gerne biderbe wære, wan daz in sîn herze enlât. (›Iwein‹, v. 194–201)
Und auch Affekte wie Begehren und Freude können im herze ihren Sitz haben: »Obe ich verbir die bloeden gir, / die noch mîn herze treit.« (Heinrich von Rugge, MF 97,2f.) »Guoter wîbe saelekeit / vröite noch daz herze mîn.« (Hartmann von Aue, MF 214,1f.) Im ›Tristan‹ wird von der minne gesagt, dass sie »sleich zir beider herzen in.« (v. 11712) Sie füllt es wie ein Gefäß vollständig aus: »ir herze wart der minne vol.« (›Erec‹, v. 1492) Doch weil minne im herzen lokalisiert ist, muss es notwendig auch der Ort des Kummers sein, wenn die minne nicht erwidert wird. In Gottfrieds ›Tristan‹ wird beklagt daz ich so lützel vinde der, die luterliche herzeger durch vriunt ze herzen wellen tragen niwan durch daz vil arme clagen, daz hie bi zetelicher zit verborgen in dem herzen lit! (v. 195–200)
16 ›Vademecum medievale‹, S. 33. 17 Zur Frage der Unterscheidung von Affekten und Emotionen vgl. Kapitel 6.
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Der Körper im Körper: Das herze
Auch im Minnesang ist das trûren im herzen zuhause oder wird unmittelbar von ihm empfunden: »trûric ist mir al daz herze mîn,« (Dietmar von Eist, MF 32,20) »trûric ist daz herze mîn,« (Heinrich von Veldeke, MF 59,15) »daz mir daz herze trûret tougen,« (Gottfried von Straßburg, Lied II, 6,5) »und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot.« (Der von Kürenberg, MF 8,23f.) Deutlich wird hier bereits, dass das herze sowohl Ort der Überlegung ist, als auch des Affekts und der Überwältigung, ohne dass sich beides in irgendeiner erkennbaren Weise gegenseitig beeinträchtigen würde. An keiner Stelle wird problematisiert, dass das herze damit das Rationale wie das Irrationale umfasst; wohl vor allem deshalb, weil beide nur moderner Vorstellung zufolge notwendig Gegensätze sind. Was bei den erwähnten Beispielen ebenfalls bereits mitschwingt, ist eine gewisse Unklarheit darüber, ob das herze ein körperliches Organ oder ein metaphorischer Ort des Fühlens ist. Diese Uneindeutigkeit resultiert auch aus der Wortgeschichte des Begriffs: Das Wort selbst, altisl. hjarta, altengl. heorte, altsächs. herta, ist idg. Ursprungs. Es ist somit als körperliches Organ bekannt und benannt. Aber erst mit dem Einströmen des Christentums und der sogleich beginnenden Übersetzertätigkeit verbreitet es sich als geistiger Begriff sehr rasch sowohl im Altnordischen als auch im Altenglischen und im Althochdeutschen.¹⁸
Der Begriff bezeichnete ursprünglich also das Körperorgan und wurde sekundär mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen. Das auffälligste Merkmal dieser Verwendung des Begriffes herze ist, dass sie unentwegt zwischen zwei Konnotationen hin- und herzupendeln scheint. Es ist ein Körperteil aus Fleisch und Blut, aber auch poetische Metapher für das innerste Wesen einer Figur. Das herze ist einerseits ein sterblicher, sichtbarer Teil des Körpers einer Figur, andererseits aber auch Vergegenständlichung und Visualisierung beispielsweise der minne. Diese (scheinbare) Metaphorizität schließt jedoch seine Fleischlichkeit und Stofflichkeit durchaus nicht aus. Es ist nicht entweder das eine oder das andere, sondern sowoh l das eine a ls auch das andere. Aus diesem Grunde kann stattfinden, was auf den ersten Blick überraschen muss, dass nämlich das herze dem lîbe, dem es ja zugehört, als eigenständiger Akteur, sogar als Antagonist, gegenübertreten kann.
18 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 278, Hervorhebungen im Original.
herze als Körperorgan: des »herzen verch«
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3.3 herze als Körperorgan: des »herzen verch«¹⁹ Viele Textbelege der Erzählliteratur und des Minnesangs vermitteln den Eindruck, das herze, von dem die Rede ist, sei nichts weiter als ein Körperteil, der sich auf der linken Seite der Brust befindet und ein Muskel, der den Blutkreislauf durch den Körper aufrecht erhält. Nichts an diesem Herzen ist metaphorisch oder metonymisch. Das herze muss nicht den »wie in einem Punkt zusammengezogene[n] Menschen in seiner geistig-geschöpflichen Gesamtheit«²⁰ bedeuten, sondern kann ein Körperteil sein wie die Hand oder der Fuß. So erzählt etwa der ›Parzival‹ von einer kurzen Herzoperation: Gawan trifft auf eine Dame, die um einen schwer verwundeten Ritter klagt, dem er dadurch das Leben rettet, dass er ihm ein Röhrchen in die Wunde stößt, durch das das Blut herausrinnen kann, so dass das Herz vom Druck des Blutes befreit wird: ›disem rîter wold ich sterben wern, ich trûwt in harte wol ernern, het ich eine rœren: sehen unde hœren möht ir in dicke noch gesunt. wan er ist niht zu verhe wunt: daz bluot ist sînes herzen last.‹ (v. 506,5–11)
Im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue wird »daz swert durch in gestochen / dâ vor dâ daz herze lît.« (v. 5070f.) Diese Beschreibungen scheinen unzweideutig und unkompliziert zu sein, sofern sie eindeutig vom Körper der jeweiligen Figuren zu erzählen scheinen. Nicht um einen Ort der Reflexion oder des Fühlens geht es hier, sondern um einen ganz konkreten Körperteil. Doch mit diesem hat es eine eigene Bewandtnis. Während die Füße einer Figur von Ausnahmen abgesehen in aller Regel einfach Teile ihres Körpers sind, weist das herze zumeist Mehrfachkonnotationen auf. Besser gesagt: Die Verwendung des Begriffs spielt mit den verschiedenen Bedeutungen, die er aufweisen kann und damit, dass es diese Bedeutungen gleichzeitig aufweisen kann; es kann Körperorgan und Zeichen zugleich sein. Was die Auseinandersetzung mit dem herze so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass seine Bedeutung ihm gerade daraus erwächst, dass in jeder Verwendung des Begriffs sein gesamtes Bedeutungsspektrum mitschwingt, und zwar auch dort, wo es gerade nicht metonymisch, nicht metaphorisch oder ganz konkret im Sinne eines Körperorgans verwendet zu werden scheint.
19 ›Parzival‹, v. 493,12. 20 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 251.
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Der Körper im Körper: Das herze
Die Frage nach der Bedeutung von herze ist also keine Entscheidungsfrage zwischen ›übertragen‹ oder ›Körperorgan‹, wie im folgenden Zitat suggeriert: »Das mhd. Substantiv bezeichnet in der höfischen Dichtung verhältnismäßig selten in concreto das Körperorgan Herz. Viel häufiger ist dort der übertragene Wortgebrauch, in welchem das Herz als Sitz seelischer und geistiger Kräfte erscheint und auch diese selbst bezeichnet.«²¹ Der Status des herzen ist auch dort, wo es ›nur‹ Körper zu sein scheint, entgegen allem Anschein durchaus nicht präzise zu bestimmen: Cet organe que l’on peut détacher de manière non sanglante de son support naturel, sans même mettre en danger la vie de l’individu, est une synecdoche de Moi amoureux, un symbole, à la fois objet concret et représentable que l’on n’hésite pas à peindre (mais sous la forme abstraite et quasi-héraldique de l’ex-voto, figure géométrique parfaite dans sa symétrie. Surface plutôt que volume, et dont la couleur rouge si prégnante rapelle que dans l’anatomie réelle d’un corps, il est le réceptacle du sang, en même temps que se concentrent en lui les feux de la passion), et foyer de connotations affectives, psychiques ou morales.²²
Die Sache ist so eindeutig also nicht. Um herauszufinden, was für eine Art von Herz jeweils gemeint ist, bedarf es eines zweiten Blicks. Wenn Itonje beispielsweise befürchtet, dass ihr Bruder »›mîns herzen verch versnîden‹« (›Parzival‹, v. 710,29) werde, dann macht sich in dieser Formulierung die doppelte Konnotation des herzen bemerkbar: Itonje spricht vom ›Fleisch‹ ihres Herzens und meint damit nicht nur ihr eigenes Herz oder sich selbst, sondern (auch) ihren Geliebten. Doch weil – darauf wird gleich näher einzugehen sein – der Geliebte den Aussagen der Literatur selbst zufolge im herzen der Geliebten wohnt oder ihr herze ist, ist eine semantische Trennung zwischen dem Körperteil herze als dem emotionalen Sitz der Empfindungen einerseits und der Person des Geliebten andererseits nicht durchführbar. Und darin liegt wohl auch die Bedeutung der enigmatischen Äußerung Itonjes: Wenn Gramoflanz im Kampf durch ihren eigenen Bruder getötet wird, durchbohrt dieser damit auch ihr eigenes herze – nicht, weil sie dann unglücklich ist, sondern weil Gramoflanz selbst ihr herze ist. Entscheidend aber ist, dass das herze hier nicht entweder Zentrum von Itonjes Fühlen oder der Geliebte ist, sondern beides gleichermaßen und beides zugleich. Doch ähnlich wie in Bezug auf andere Kategorien des ›Inneren‹ wie muot und geist scheint auch mit dem Begriff ›herze‹ eine klare Zuordnung durchaus
21 ›Vademecum medievale‹, Art. ›Herze‹, S. 32, Hervorhebungen im Original. 22 Armand Strubel: Cœur personifié, réifié, hypostasié: Les avatars de l’organe dans la littérature du XVe siècle. In: Il cuore – The Heart, S. 449–468, hier S. 463f.
herze als Körperorgan: des »herzen verch«
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nicht intendiert zu sein. Zwar lassen sich in Bezug auf einzelne Formulierungen oder Gebrauchszusammenhänge Aspekte benennen, die deutlicher oder schwächer akzentuiert werden. So kann das herze stärker im Sinne eines Körperorgans oder stärker im Sinne einer Metonymie oder eines Symbols verwendet werden. Doch diese Bedeutungen sind dynamisch, sie können sich verschieben, verunklaren und verwandeln, und offenbar besteht gerade darin das narrative Potential der Kategorien des Inneren. Wenn in einem Lied von Reinmar steht: »Ich hân hundert tûsent herze erlôst / von sorgen, alse vrô was ich,« (MF 184,31f.) wen (oder was?) hat das ›Ich‹ dann erlöst oder erfreut? Die Herzen der Betrübten? Oder diese selbst? Sind sie identisch mit ihren (bedrückten) Herzen? Oder die herzen mit ihnen? Was ist es eigentlich, das der Dame in Morungens Lied gezeigt wird, wenn es heißt: »als er zeige ich ir mîn wundez herze / unde valle vür sî unde nîge ûf ir vuoz.« (MF 135,34f.) Und wer empfindet den Schmerz, wenn es »tuot manc tûsent herzen wê / daz strenge mortlîche rê / an mîme hêrren ist getân« (›Parzival‹, v. 321,13–15) – das Herz der Tausenden oder diese Tausenden selbst? Und was soll sich der Leser vorstellen, wenn der bedrückte Gawan klagt, dass sein herze aus seinem Körper verschwunden sei? »›dâ lag ein herze unden: / ich wæn daz ist verswunden‹« (›Parzival‹, v. 547,23f.)? Womöglich soll er sich gar nichts vorstellen, und das herze als Schnittstelle unterschiedlichster Bedeutungsoptionen leistet genau das: Indem es in jeder denkbaren Verwendung stets die alternativen Möglichkeiten seines Begriffsgebrauchs mit transportiert – in der metaphorischen die metonymische und umgekehrt – entfaltet es seinen entscheidenden Bedeutungsüberschuss. Dies gilt es im Weiteren zu beachten: Das herze ist nicht Metapher oder Metonymie, Symbol oder Organ, sondern gleichermaßen das eine wie das andere. Ein Beispiel soll zunächst dazu dienen, die rein metaphorische Deutung des herzen zu erschüttern. Im anonym überlieferten altfranzösischen Heldenepos ›Raoul de Cambrai‹ aus der Mitte des 12. Jahrhunderts kämpfen Raoul und sein Widersacher John gegeneinander und töten sich gegenseitig nach langem Gefecht auf dem Schlachtfeld. Nachdem beide gefallen sind, werden ihnen ihre herzen herausgeschnitten. Es soll geprüft werden, wer von den beiden Helden der Tapferere gewesen ist: lui et R[aoul] a pris de maintenant, andeus les oevre a l’espee trenchant, les cuers en traist, si con trovons lisant. Sor un escu a fin or reluisant les a couchiés por vëoir lor samblant: l’uns fu petiz, ausi con d’un effant;
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Der Körper im Körper: Das herze
et li R[aoul], ce sevent li auqant, fu asez graindres, par le mien esciant, qe d’un torel a charue traiant. (v. 3059–3067)²³
Bereits diese kurze Passage macht deutlich, dass eine Differenzierung des herzen in Fleisch und Identität, in Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, der Komplexität der Bezüge zwischen beidem nicht gerecht wird. Es ist Fleisch und Blut, Teil des menschlichen Leibes, den es belebt und mit dem es vergeht. Doch gleichermaßen ist es, gerade in und wegen dieser Eigenschaft, auch jener Teil einer Person, der ihre soziale Rolle vergegenständlicht und sichtbar macht. Selbst in seiner ›Physis‹ ist der Heroe zeichenhaft. Nichts an seinem Körper, nichts an ihm selbst ist a-semiotisch: Seine Kleidung bezeichnet, seine Sprache, seine Waffen, sein Körper, selbst seine Körperorgane tun es. Doch verfehlt der Begriff des Zeichens das, was das Herz Raouls im Erzählzusammenhang auch ist. Denn das, was es vordergründig bezeichnet, Raouls Tapferkeit, liegt ja gerade in seinem Herzen begründet: Weil er das Herz von der Größe eines Ochsenherzen hat, ist er tapfer. Doch darüber hinaus ist auch die Somatik des Herzens unklar. Sollen wir uns wirklich vorstellen, dass Raoul ein monströses Herz in seiner Brust hat oder ist die Aussage bei aller Faktizität dessen, was beschrieben wird, doch eher metaphorisch aufzufassen? Ich glaube, dass eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Optionen die Bedeutung der Sache verfehlt. Das herze, um das es hier geht, entfaltet seine Bedeutung durch eben den Bedeutungsüberschuss, der weiter oben bereits angesprochen worden ist und durch die notorische Unklarheit, ob es sich bei den Zuständen dieses Herzens um Metaphorik oder konkrete Körperlichkeit handelt. Gawans, Willehalms und Raouls herzen entstammen nicht Körpern, die der Natur unterworfen sind, und zwar nicht allein deshalb, weil es Körper aus Sprache sind. Die Sprache, die sie bildet, erzählt nicht von Körpern, wie wir sie haben, sondern von Körpern, die sich ineinander verschränken können, die vor Kummer sterben, die Blut weinen, denen untriuwe oder êre in Fleisch und Blut übergehen. Nur dass diese Redewendung wiederum verfehlt, was sie meint, weil untriuwe und êre nicht in ein ihnen Äußeres übergehen, wo Iwein durch seine
23 Raoul de Cambrai. Edited with an Introduction, Translation and Notes by Sarah Kay. Oxford 2000. »Guerri ritt dorthin, wo er ihn [John] liegen sieht und nimmt seinen und Raouls Körper. Mit einem scharfen Schwert öffnet er beide und nimmt ihnen die Herzen heraus, wie es geschrieben steht. Er legt beide auf einen goldglänzenden Schild um sie zu betrachten: Eines war klein wie das eines Kindes, während Raouls, wie jeder weiß und ich bestätigen kann, sehr viel größer war als das eines Ochsen am Pflug.«
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untriuwe schwarz und stumm wird und Raoul ein herze von der Größe eines Ochsenherzen besitzt, sondern die schwarze untriuwe und die ochsengroße êre Merkmale des Körpers und gerade nicht unkörperlich sind. Aus diesem Grunde sind sie, wo sie sich am Körper als Größe, Farbe oder Schönheit manifestieren, keine Zeichen, keine Tropen, keine Metaphern, und doch irgendwie alles zusammen. So schwer sich die Interpretation mit dem herzen zwischen Körperlichkeit und Metaphorizität tut, so verbreitet ist das (Spiel mit dem) Schwanken zwischen beidem in der Literatur. Es findet sich auch in der isländischen ›Völsungasaga‹. Dort sind Högni und Gunnar, denen die Figuren Hagen und Gunther aus dem ›Nibelungenlied‹ entsprechen, Brüder. Atli, der habgierige und verräterische Mann von Gunnars und Högnis Schwester Gudrun, lädt sie zu einem Fest ein, auf dem er die Brüder angreift, überwindet und trennt. Er will sie zwingen ihm zu sagen, wo sie ihren gewaltigen Hort versteckt haben. Um Gunnars Mut zu brechen, lässt Atli einem Knecht das Herz herausschneiden, bringt es Gunnar und behauptet, es sei das Herz seines Bruders Högni. Gunnar jedoch durchschaut die Lüge sofort: Der [Gunnar] aber sprach: »Das ist das Herz Hjallis des Feigen, das ich hier sehe; es gleicht nicht dem Herzen Högnis des Kühnen, denn gar sehr bebt es jetzt, aber noch doppelt so stark bebte es, als er es noch in der Brust trug.« Da gingen sie auf König Atlis Befehl zu Högni und schnitten ihm das Herz aus. […] Sie zeigten Gunnar das Herz Högnis. Er sprach: »Hier sehe ich das Herz Högnis des Kühnen. Es gleicht nicht dem Herzen Hjallis des Feigen, denn es bebt jetzt kaum, aber weniger bebte es noch, als er es in der Brust trug.«²⁴
Eine Analogie zum Motiv des Herz-Vergleichs stellt eine Passage aus dem ›Reinfried von Braunschweig‹ dar. Zwar wird hier nicht das herze eines Heroen aus dessen Körper herausgelöst. Die Analogie besteht eher darin, dass sich in ihm der Charakter einer Figur verdichtet. Als der Erzähler die Klage Yrkanes um den Aufbruch ihres Gatten ins Heilige Land beschreibt, vergleicht er sie mit Sigune, dem Sinnbild weiblicher triuwe aus Wolframs ›Parzival‹. Diese Verknüpfung von Yrkane mit Sigune bleibt jedoch nicht abstrakt, sie besteht nicht in einem Vergleich, sondern buchstäblich im Fleische, denn Yrkane hat – den Aussagen des Erzählers zufolge – Sigunes herze in ihrem Körper:
24 Isländische Heldenromane. Hrsg. von Felix Niedner und Gustav Neckel, übertragen von Paul Herrmann. Düsseldorf, Köln 1966 (Thule 21), S. 127.
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Der Körper im Körper: Das herze
ir weinen und ir riuwen was sunder wandels lûne. daz herze daz Sigûne hie vor in irme lîbe truoc, daz hât diu minnenclîche kluoc mit triuwer klag in sich genomen alsô, wan sî wolte komen an keinen friedel anders. (v. 15236–15243)²⁵
Wie im Falle von Raouls ochsengroßem herzen drängt sich auch hier die Frage auf, ob die Eigenschaft der Figur aus der Beschaffenheit ihres Leibes resultiert oder diese Indikator und Beglaubigung der außergewöhnlichen Eigenschaft ist, die sie charakterisiert. Verfügt also Yrkane deshalb über die Tugend der triuwe, weil sie Sigunes herze in sich trägt? Oder besitzt sie nur die gleiche triuwe wie Sigune? Ist also doch in letzter Konsequenz das herze nur ein Zeichen jener triuwe, die Sigune Schionatulander gegenüber bewiesen hat und die nun auch Yrkane Reinfried gegenüber zeigt? Oder ist das herze Ausdruck dieser triuwe? Der Text macht an dieser Stelle nur eine Andeutung, wenn er davon erzählt, dass Yrkane mit »triuwer klag in sich genomen [hât] daz herze daz Sigûne hie vor in irme lîbe truoc.« Der Sinn dieses Textbelegs erschließt sich erst, wenn zu seiner Deutung Zeichenhaftigkeit und konkrete Dinglichkeit nicht gegeneinander ausgespielt werden. Für diese These sollen im Folgenden weitere Beispiele beigebracht werden, die ganz bewusst aus verschiedenen Gattungen zusammengetragen sind, um dem Eindruck zu entgegnen, dass das Gesagte nur auf Texte bestimmter Gattungen zuträfe. Ich beginne die Beispielreihe mit einem Text der Dietrichepik, nämlich dem Eckenlied E2. Dort trifft Dietrich, nachdem er den Riesen Ecke erschlagen hat, dessen Bruder Fasolt. Als er seine Kräfte zu spüren bekommt, sagt Dietrich: ›du bist ain degen roter; got msse mich vor dir bewarn. Eggen herz ist in dich gevarn, swie er lak vor mir toter im wald, do ich von im rait.‹ (›Eckenlied‹ E2, Str. 197,3–7)²⁶
Aus der Frage nach der Anzahl der herzen, die Fasolt Kampfkraft verleihen, erwächst nun eine Art Rechtsstreit, der nicht auf eine metaphorische Redensart
25 Reinfried von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch. Hildesheim, Zürich, New York 21997. (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 109) 26 Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen. Hrsg. von Francis B. Brévart. Tübingen 1999 (ATB 111), Teil 1.
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zurückgeht, sondern die Spielregeln des Kampfes empfindlich tangiert. Dietrich verlangt, dass sein Gegner nicht weiter mit doppelter Stärke gegen ihn antrete: ›ich wn, din zwene tnt mir lait hie. zwar, das solt du miden und solt den an gesellen lan! bestast du mich allaine, so bist ain kner man.‹ (Str. 197,9–13)
Ecke allerdings pariert Dietrichs Vorwürfe mit dem Hinweis, dass auch er mit der Kraft zweier Amelunge kämpfe, nämlich ebenso wie Ecke mit dem herzen seines mittlerweile erschlagenen Bruders. Dessen Kraft hängt offenbar nicht an seinem sterblichen Körper, sondern an der Sippe und kehrt deshalb zu ihr zurück, so dass nun Diethers Bruder über dessen Kraft verfügt: ›Was wist du mit zwain herzen mir? so ist Dietheres herz in dir, din brder wunderkne. den und ch dich gebar ain wip. do fr sin kraft in dinen lip, do in slc uf der grne von Raban Wittich, der kne man.‹ (Str. 198,1–7)
Ganz wie im Falle von Sigunes Herzen, das Yrkane in ihrem Leibe hat, ist auch Eckes Herz, das Dietrich nun in Fasolts Körper spürt, gleichermaßen der konkrete Bestandteil eines Körpers und Zeichen von Heroentum. Meint Dietrich tatsächlich, dass Eckes Herz dessen Körper verlassen hat, um sich (auf welche Weise?) in denjenigen Fasolts zu begeben? Diese Frage zielt am Phänomen vorbei, weil sie von einer Unterscheidung ausgeht, die die Texte selbst offenbar nicht vornehmen. Und deshalb kommt man diesem herzen auch mit der Zuordnung zu Innen oder Außen nicht bei. Besonders eindrucksvoll und drastisch lässt sich dies an Konrads von Würzburg ›Herzmäre‹ veranschaulichen. Dort wird einem Ritter, nachdem er, getrennt von seiner verheirateten Geliebten, den Liebestod erlitten hat, auf seinen Wunsch hin das herze herausgeschnitten und seiner Dame zugesandt, gerät aber auf dem Weg zu ihr in die Hände ihres Gatten, der es in der Küche zubereiten und von seiner ahnungslosen Frau verspeisen lässt. Die Bedeutung des Textes²⁷ erschließt sich erst, wenn das herze hier weder als Herz noch als Zeichen der Liebe des Ritters seiner Dame gegenüber betrach-
27 Als noch anfechtbarer als bei anderen ›unfesten‹ mittelalterlichen Texten gestaltet sich die
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tet, sondern beides konsequent zusammengedacht wird. Was sich auf den ersten Blick als die Geschichte von der sadistischen Rache eines eifersüchtigen Ehemannes darstellt (und auch von der Stoffgeschichte als solche akzentuiert wird), erschließt sich dann nämlich als eine kunstvolle Konstruktion, die um die präzise Bestimmung des Konzepts von herze viel eher kreist als um Fragen der Rache oder Eifersucht. Die Geschichte weist zwei Höhepunkte auf: Der erste ist jener, in dem die Dame das herze ihres Geliebten verspeist, der zweite jener, als der Ehemann seiner Frau eröffnet, was sie gegessen hat. Während der erste von der süeze der »sundertrahte,« (v. 411)²⁸ vom »hohe[n] flîze« (v. 412) der Zubereitung und den »edeln würzen« (v. 419) dominiert wird, die die Speise so »zuckermæze« (v. 450) und »reine« (v. 451) machen, dass die Dame nie etwas Besseres gegessen zu haben glaubt, ist der zweite Moment von den Worten des Mannes dominiert, durch die er der Frau mitteilt, was sie gegessen hat. Hier fallen der Ernst und die Hochachtung in der Beschreibung des Ehemannes auf. Keine Häme, keine Geringschätzung für seinen ›Nebenbuhler‹, keine Herabsetzung von dessen Werbung um seine Gattin sind bemerkbar. Die Person des Ehemannes, seine Kränkung, seine Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Boten und seine eigenen Gefühle treten gänzlich in den Hintergrund. Stattdessen wird die Handlung knapp, aber vollkommen akkurat und in höfischer Literatursprache, zusammengefasst: Der Ehemann ist nicht nur bei der Motivierung der Trennung von Aktivität entlastet, so daß er fast freundlich fürsorgend erscheint. Von der grausigen Tat, daß er seiner Frau das
Interpretation beim ›Herzmäre‹. Dieser im Mittelalter offenbar ausgesprochen populäre Text wird vor allem in Schröders Edition gelesen, die auch die Grundlage der folgenden Interpretation bildet. Allerdings fußt seine Edition »auf keiner einzigen Handschrift, sondern ist ein künstliches Gebilde, das dem philologischen Scharfsinn des Herausgebers alles verdankt.« David Blamires: Konrads von Würzburg ›Herzmære‹ im Kontext der Geschichten vom gegessenen Herzen. Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5 (1988/89), S. 251–261, hier S. 251. Das Problem jeder (möglichen) Edition des ›Herzmäre‹ resultiert daraus, dass »Versbestand und Wortlaut der verschiedenen Textzeugen äußerst variabel sind. Die älteste und zugleich kürzeste Handschriftenfassung, die Hatzfeldtsche, umfaßt nur 480 Verse, während die Liedersaalfassung mit 602 Versen am längsten ist. Versauslassungen, -zusätze oder -umstellungen bezeichnen alle Textzeugen im Vergleich mit Schröders Text. Nur die Straßburger Fassung entspricht ziemlich eng der Schröderschen Textausgabe, aber sie liefert einen gekürzten Schluß im Vergleich zu dem der Liedersaalfassung, den Schröder für ursprünglich hält und in dem, wie sonst nur noch in der Münchener Fassung (Cgm. 714), Konrads Name als der des Verfassers auftaucht […].« Blamires: ›Herzmære‹, S. 251f. 28 Konrad von Würzburg: Herzmäre. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg. von Klaus Grubmüller. Frankfurt a.M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 262–294. (Grubmüller übernimmt Schröders Text aus der letzten Ausgabe).
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Herz des Geliebten vorsetzt, kann er zwar um des Zentralgedankens willen nicht entlastet werden. Aber schon unmittelbar danach ist er durch seine Worte über die kostbare Speise fast meditativ-mitfühlend gezeichnet, vielmehr: er spricht aus, was eigentlich dem Erzähler zukommt; das ornamentale Spiel mit wörtlicher und metaphorischer Bedeutung von wilde und zam ist Konrad wichtiger als eine durchgängige Psychologie des Widerparts oder eine Ausgestaltung des Konflikts mit ihm.²⁹
Der Ehemann wird hier nicht nur zum Erzähler, sondern sogar zum auktorialen Erzähler, der weiß, was er eigentlich nicht wissen kann, nämlich, welche Gefühle der Ritter für die Dame gehabt, was er um ihretwillen erlitten hat, aus welchen Gründen und wie er gestorben ist: ›der nâch dir hât erliten gnuoc jâmers alle sîne tage. geloube mir waz ich dir sage: er ist von sender herzenôt nâch dîner süezen minne tôt.‹ (v. 468–472)
Nachdem er seiner Frau diesen Bericht abgestattet hat, verschwindet der Ehemann aus dem Text und kommentiert selbst den Tod seiner Frau nicht mehr. Seine Funktion beschränkt sich offenbar darauf, die Trennung der Liebenden und den Verzehr des herzen zu motivieren sowie die Frau über das Schicksal des Ritters aufzuklären. Dabei wird die Bedienung von Klischees sorgfältig vermieden. Blamires weist darauf hin, dass die Erzählungen vom verzehrten Herzen sich in zwei Gruppen gliedern: In der ersten (die die größere Gruppe bildet) wird der Ehemann als grausam und eifersüchtig geschildert. Er ist es auch, der den Tod des Ritters herbeiführt. Demgegenüber bleibt der Ehemann in Konrads ›Herzmäre‹ »ein angesehenes Glied des Gesellschaftsbereichs, dem auch die anderen Personen angehören, wie auf ihn angewandte positive Epitheta zeigen: ›werder man‹ (v. 61), in fünf der acht Handschriften, ›guoter‹ bzw. ›edel herre‹ (v. 89) in allen acht Handschriften.«³⁰ Deshalb ist es so selbstverständlich nicht, dass er »im Gesamtzusammenhang des ›Herzmære‹ die negative Position vertritt,«³¹ denn er beurteilt das
29 Burghart Wachinger: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms und L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 56–82, hier S. 75f. 30 Ursula Schulze: Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst im ›Herzmære‹. In: Mediævalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb. München 1971, S. 451–484, hier , S. 464. 31 Schulze: Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 465.
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Wesen der minne zwischen dem Ritter und seiner Frau nicht falsch,³² sondern vollkommen richtig, wie seine Darstellung des Lebens, Leidens und Sterbens des Ritters zeigt. Gerade auf dem Hintergrund der Tatsache, dass der Ehemann nach dem Tod seiner Frau kein weiteres Mal mehr erwähnt wird, fällt die Getragenheit und die Literarizität seiner Worte auf, von denen man meint, sie nicht aus dem Munde des Ehemannes zu vernehmen, sondern aus dem des Erzählers: ›Frouwe‹, sprach er aber zir, ›vernim vil rehte waz ich dir mit worten hie bescheide: zam und wilde beide was disiu trahte, sam mir got! den fröuden wilde sunder spot, den sorgen zam ân underlâz: du hâst des ritters herze gâz daz er in sîme lîbe truoc, der nâch dir hât erliten gnuoc jâmers alle sîne tage. geloube mir waz ich dir sage: er ist von sender herzenôt nâch dîner süezen minne tôt, und hât dir daz herze sîn und daz guote vingerlîn zeime urkünde her gesant bî sînem cnehte in ditze lant.‹ (v. 459–476)
Die Darstellung des Ehemannes entbehrt jeglicher erkennbarer Emotion, der Bote des Ritters hätte sie kaum anders formuliert, vielmehr scheint es so, als sei der Ehemann, der an keiner Stelle des Textes als feindselig, zornig oder affektiv charakterisiert wird, zum Sprachrohr des Ritters geworden, und zwar nicht zu irgendeinem Boten, sondern zu einem, der die höfische Liebes- und Literatursprache souverän beherrscht. Der Ehemann spricht nicht als Geschädigter oder Verratener, sondern als unbeteiligter Erzähler, als derjenige, der durch die Sprache die Figuren und die Handlung beherrscht. Und tatsächlich tut er das ja auch: Er hat zunächst die Trennung der Liebenden erzwungen, die Übermittlung der Botschaft an seine Frau verhindert und dann dafür Sorge getragen, dass sie das herze des Ritters verspeist. Das Einzige, was nicht seinem unmittelbaren Einfluss unterworfen ist, ist die minne selbst, ihr Beginn zu Anfang und der minne-Tod, der die Handlung beschließt und das Paar vereinigt.
32 Wie Schulze (ebd.), S. 465, meint.
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Wichtig zur Deutung des Endes ist die Spannung, die zwischen den beiden unmittelbar aufeinander folgenden Höhepunkten besteht. Denn dass die Dame das kostbare und köstliche herze isst, bringt die Handlung zunächst nicht weiter. Außer durch seine ungewöhnliche süeze, die die Dame begeistert, entfaltet das herze keine Wirkung auf sie.³³ Es ist erst die E rzä h lu ng des Ehemannes, die die heftige Reaktion der Dame auslöst: »Die Nachricht, es handle sich um das Herz ihres Geliebten, führt zum Tod der Ehefrau und Geliebten.«³⁴ Notwendig muss das eine auf das andere folgen, doch im Ergebnis ist es nicht das gegessene herze, das der Dame das Leben nimmt, sondern die vernommenen Worte sind es, die hier nicht die des Ehemannes zu sein scheinen, sondern die des Erzählers. Und sie haben nicht das herze zum Gegenstand, sondern minne, sorgen, jâmer und herzenôt des Ritters. Diese Worte führen, gemeinsam mit dem gegessenen herze, das dramatische Ende herbei. Der Tod der Dame ist nicht »eher seelisch als körperlich«³⁵ und es ist auch zu einfach, nur die minne als Ursache ihres Todes zu betrachten wie Blamires, der schreibt: »Der Tod der Dame entspringt der Intensität ihrer Liebe zum verstorbenen Ritter, ebenso wie er selber an der Trennung von seiner Geliebten stirbt. Die Minne selbst ist der Grund ihres Sterbens.«³⁶ Denn gerade die kunstvolle Erzählung von den verschlungenen Wegen des herzen aus der Brust des Ritters über den Boten zum Ehemann der Dame und in ihren Körper hinein zeigt ja, dass ihr Tod nicht ein einfaches Sterben vor Kummer ist, sondern eine Reaktion, die auf den Tod des Ritters und den Verzehr seines herzen nur mittelbar, nicht unmittelbar antwortet. Der Tod der Dame wird also weder durch das Fleisch in ihrem Körper noch durch die Worte in ihrem Ohr herbeigeführt, sondern dadurch, dass beides eins ist: Die Dramatik der Szene liegt darin begründet, dass das herze ihres Geliebten, das, von dem ihr Mann spricht, dasjenige ist, welches sie gegessen hat. Es gibt im ›Herzmäre‹ nicht zwei mögliche Lesarten von herze (wie die Forschung unermüdlich behauptet),³⁷ sondern nur ein einziges herze, nämlich das des
33 So auch Quast: »Nicht das Mahl, die Realpräsenz des einverleibten Organs, sondern das retrospektiv mittels der Erzählung des Ehemannes symbolisch aufgeladene Mahl stellt die Gemeinschaft mit dem toten Geliebten her.« Bruno Quast: Literarischer Physiologismus. Zum Status symbolischer Ordnung in mittelalterlichen Erzählungen von gegessenen und getauschten Herzen. ZfdA 129 (2000), S. 303–320, hier S. 317. 34 Quast: Literarischer Physiologismus, S. 314. 35 Blamires: ›Herzmære‹, S. 258. 36 Blamires: ›Herzmære‹, S. 260. 37 »Das herze ist aber an sich zweideutig. Aus einer primär psychischen Perspektive kann es als die Quelle der Gemütsbewegung betrachtet werden. So bildet es mit dem (physischen) lîp eine Einheit in der minne. […] Das herze ist aber zugleich selber ein physisches Organ, Teil von
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Ritters, das sich am Ende im Körper seiner Dame befindet und dasjenige, welches die Dame als Zeugnis der minne durch die Erzählung ihres Mannes vernimmt. Beides ist das herze des Ritters und beides zusammen führt den Tod der Dame herbei. Es ist gerade nicht nur »Symbol der Liebe«³⁸ und nicht nur »Zentrum der Liebe,«³⁹ sondern immer auch Körperteil des Ritters. Konrad führt im ›Herzmäre‹ ein Erzähl-Experiment durch, das die konventionellen Formeln der minne-Literatur nutzt, dabei aber die Körperlichkeit des herzen konsequent und bis zum Schluss aufrechterhält.⁴⁰ Bei Konrad macht es sich nicht metaphorisch, sondern ganz buchstäblich und in seiner ganzen Fleischlichkeit auf den Weg, um zur Geliebten zu gelangen und sich mit ihr – wiederum nicht metaphorisch, sondern konkret und gleichsam ›im Fleische‹ – zu vereinigen. Und ganz buchstäblich nimmt es die Geliebte in ihren eigenen Körper auf und besiegelt diese Aufnahme mit ihrem physischen Tod: Unrichtig wäre es im Sinne moderner Anthropologie von einer ›Somatisierung‹ des Psychischen zu sprechen, denn im Begriff der Somatisierung ist die Realität des Psychischen vorausgesetzt, die sich körperlich Ausdruck verschafft und an körperlichen Symptomen ablesbar ist. Hier aber muß diese Realität allererst entdeckt und gesichert werden. So erscheint hier umgekehrt ein körperlicher Defekt (das schwere Herz, der schwere Körper, das versagende Herz) das Primäre zu sein; er zieht eine körperliche Verwundung nach sich, die dann sich als seelischer Schmerz äußert. Äußerer Defekt und Verwundung haben nicht nur eine psychische Dimension, sondern sind Erscheinungsformen des Psychischen. Statt von einer Somatisierung des Psychischen müßte man eher von einer Psychisierung des Somatischen sprechen.⁴¹
Doch diese Fleischlichkeit ist immer Sprache, ist fleischliche Sprachlichkeit und sprachliche Fleischlichkeit. Der Erzähler bemüht sich im Prolog wie im Epilog, daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen: »sagen unde singen« (v. 13), »singen oder lesen« (v. 21) bilden die Fasern dieser Art von Fleisch, das aus »rede« (v. 24) besteht. Damit wird der Effekt, den die Erzählung des Mannes auf die Dame
diesem lîp und Sitz des Lebens. Im Begriff der minnen wunde […] wird diese Zweideutigkeit zugespitzt, insofern vom Herz gesprochen wird, als könnten durch Worte ausgelöste Empfindungen eine unmittelbare, sogar tödliche Wirkung auf ein physisches Organ haben.« Timothy R. Jackson: Außen und Innen bei Konrad von Würzburg. Die Achill-Deidamia-Episode im ›Trojanischen Krieg‹. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 219–250, hier 224. 38 Schulze: Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 454. 39 Schulze: Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 455. 40 Vgl. für die Ausführungen zur Körperlichkeit des herzen Müller: Höfische Kompromisse, S. 351–361. 41 Müller: Höfische Kompromisse, S. 354.
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hat, auf der Ebene des Textes gespiegelt. Das Erzählen vom Tod lässt die Dame sterben, der Tod des Ritters bewirkt über die Erzählung des Ehemannes den Tod der Dame. histoire und discours, Erzählgegenstand und Erzählen fallen im herzen des ›Herzmäre‹ in eins. Der Rezipient wird dazu aufgefordert, das, was beschrieben worden ist, nachzuvollziehen, nämlich »diz mære in sînen muot [zu] setzen.« (v. 584f.) Deshalb wird auch der Versuch, es entweder nu r als Effekt von Symbolisierung oder nu r von Desymbolisierung (oder »Verbuchstäblichung«⁴²) zu deuten, der Komplexität dessen, was Konrad in diesem Text am Beispiel des Herzens literarisch durchspielt, nicht gerecht. Es ist nicht Symbol und wird folglich auch nicht de-symbolisiert, wie Quast meint: »Konrad setzt in einem narrativen Dreischritt von Symbolisierung, Desymbolisierung und erneuter Symbolisierung einen symbolisch konstruierten Physiologismus in Szene.« ⁴³ Zwar trifft der Begriff des ›symbolisch konstruierten Physiologismus‹ die Sache, doch dieser symbolisch konstruierte Physiologismus entsteht gerade dadurch, dass das herze nicht in bestimmten Versen das eine und in anderen das andere ist, sondern während der ganzen Erzählung gleichermaßen Fleisch und Zeichen. Tatsächlich also ist Konrads Physiologismus »ohne die konstitutive Ordnung des Symbolischen gar nicht zu denken.«⁴⁴ Doch das bedeutet nicht, dass »nicht das Herz als Organ, sondern das Herz als Zeichen […] den Liebestod der Herrin«⁴⁵ bewirkt. Sie stirbt nicht aufgrund einer bloßen Behauptung oder eines abstrakten Zeichens, sondern weil das Herz, von dem ihr Ehemann spricht, sich in ihrem Körper befindet. Der Reiz und die literarische Qualität des ›Herzmäre‹ bestehen gerade darin, dass sich das eine nicht gegen das andere ausspielen lässt.
3.4 Verselbständigungen von herze und lîp Weil das herze sich weder als Metonymie, noch als zeichenhaft-symbolisch verstehen lässt, sondern stets in der Schwebe zwischen beidem bleibt oder beides in sich vereinigt, ist es eine Transgressionskategorie. Es überschreitet nicht nur die Grenzen zwischen Tropus und Körper, so dass sich nicht sagen lässt, was es ist, sondern es überschreitet auch die Grenzen des Körpers und die der Identität, so dass sich nicht sagen lässt, wer es ist: Es geht verloren, wechselt das Geschlecht
42 Quast: Literarischer Physiologismus, S. 305. 43 Quast: Literarischer Physiologismus, S. 316. 44 Quast: Literarischer Physiologismus, S. 319. 45 Quast: Literarischer Physiologismus, S. 319.
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oder ist ursächlich dafür, dass ›sein‹ Körper es tut, es wird getauscht oder zerbrochen. Immer wieder wird davon erzählt, wie Figuren ihr herze verlieren – wer sein eigenes verschenkt oder eintauscht, lebt ohne sein herze weiter, behält aber dennoch seine Identität. Diese erlischt nicht mit seinem Verlust. Aber aus wessen Perpektive wird dann eigentlich erzählt? Aus der des lîbes? Es sind genau diese Fragen, die literarische Muster wie die vom herz-Tausch oder dem Wohnen im herzen aufwerfen und provozieren. Im ›herz-Diskurs‹ wird durchaus nicht nur die minne einer Frau oder eines Mannes behandelt, sondern etwas weitaus Grundsätzlicheres: Es geht beim Körper im Körper, der bewohnt, gestohlen, zerbrochen oder verschenkt werden kann, nicht nur um ›die Liebe‹, sondern um die Identität. In diesem Sinne ist auch die enigmatische Passage in Herborts von Fritslar ›Liet von Troye‹ zu verstehen. Dort beklagt Diomedes, der in minne zu Briseida entflammt ist, dass er sein herze zusammen mit sêle und sin an sie verloren habe und nun ›herzlos‹ ein mit Stroh ausgestopftes Loch in seiner Brust trage, wo einst sein herze gesessen habe: Ich bin sere gephant Von miner frouwen briseida Sie hat min herze mit ir da Vm daz ich hie in fleische bin Doch ist min sele und min sin Al mit eime wibe Ich han niht in dem libe Da min herze solde wesen Da trage ich eine lichte fesen Oder ein stro oder einen wisch Ich hafte an ir als ein fisch Tut an einer ruten. (v. 9417–9428)
Hier wird deutlich die Konkurrenz artikuliert zwischen einem Ich, das sich über die Sprache konstituiert und dem, was diesem Ich fehlt, nämlich das herze, das im Ich ein Loch hinterlassen hat. Zwar behauptet dasjenige, was zurückgelassen worden ist (was auch immer das sein mag), im ›ich‹ nach wie vor den Anspruch auf Identität und spricht diese damit dem herze, der sêle und dem sin ab. Dem Ich ist hier nichts zurückgeblieben als allein der lîp und die Behauptung von Identität, die angesichts des existentiellen Verlustes von herze, sêle und sin zweifelhaft klingen muss – und soll. Die Verlaufslinien der hier beschriebenen Spaltung trennen nicht das eigene Ich vom geliebten Du. Es wird mehr als ein Liebesproblem verhandelt – mit dem ›herze‹ wird die Frage nach Identität aufgeworfen. Das herze ist zwar einerseits körperlich wie der Körper, aber es ist andererseits dem Körper gegenüber
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autonom und kann ihn verlassen. Es ist unseren Begriffen nach ›innen‹, unterwandert diese Vorstellung jedoch, indem es selbst zur Hülle und zum Gefäß, also zum ›Außen‹ eines anderen wird, z.B. wenn es die Geliebte beherbergt oder sich im herze ein Schrein oder eine Kammer befindet oder etwas im herzen lokalisiert wird wie die riuwe ⁴⁶ oder der muot, der sin oder die Gedanken. Das herze problematisiert das Verhältnis gegenüber ›seinem‹ Körpers nicht nur dadurch, dass es in sich selbst einen zusätzlichen Innenraum schafft, sondern auch dadurch, dass es seinen Platz im Körper immer wieder verlässt. So holen die Blicke der Geliebten dasjenige, was ›innen‹ ist, an die Oberfläche des Körpers, indem sie nicht nur das herze im lîbe erblicken, sondern sogar noch in dieses hinein- »[Gênt] ir wol liehten ougen in daz herze mîn, / sô kumt mir diu nôt, daz ich muoz klagen« (Heinrich von Morungen, MF 125,1f.) oder durch es hindurchblicken können: »swenne ir liehten ougen sô verkêrent sich, / daz si mir aldur mîn herze sên.« (Heinrich von Morungen, MF 126,32f.) In Reinmars des Alten ›Ich lebte ie nâch der liute sage‹ (MF 152,25) wünscht sich eine Dame Rat von demjenigen, »der ime in sîn herze kan gesehen.« (MF, Wa 71,21) Gahmuret ist derart anziehend, dass er sich Belakanes herze zu öffnen vermag: »er entslôz ir herze gar.« (›Parzival‹, v. 23,26) Mag es auch ›innen‹ sein, so ist das herze doch an diesem Ort nur, um von außen dort aufgesucht zu werden. Ganz und gar nicht also »bleibt [das Herz] doch [sei es psychisch oder physisch aufgefaßt] gewöhnlich im Innern verborgen.«⁴⁷ Es ist vielmehr transitorisch, befindet sich ständig auf der Schwelle, im Übergang vom Inneren zum Äußeren. So steht es in regem Austausch mit den Augen:⁴⁸ Durch sie gelangt der Geliebte ins Herz »durch diu ougen in ir herze er gienc,« (›Parzival‹, v. 311,28) über sie gießt das herze seinen Regen nach außen aus: »ir herzen regen die
46 »daz herze, dâ diu riuwe inne stât« (Heinrich von Veldeke, MF 60,15). 47 Jackson: Außen und Innen bei Konrad von Würzburg, S. 224. 48 Es ist die Kooperation zwischen Augen und herze, die die Wahl für die oder den Geliebten trifft: daz herze muoz enpfâhen liep oder leit vil drâte al nâch der ougen râte: wan swaz den ougen sanfte tuot daz dunket ouch daz herze guot, und ist im zwâre wol dâ mite. herze und ougen hânt den site daz si gehellent under in. daz ouge muoz des herzen sin ze minneclichen dingen leiten unde bringen. (›Engelhard‹, v. 1042–1052)
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güsse warp« (›Parzival‹, v. 25,29) »und liehter ougen herzen regen.« (›Parzival‹, v.191,29; 330,22) Es kann aber nicht nur seinen Regen nach außen senden, sondern selbst die Schwelle des Körpers überschreiten und sich auf den Weg zu der oder dem Geliebten machen oder, von der êre beflügelt, aus sich heraus und über sich hinauswachsen: »sîn prîs hôch wahsen kunde, / daz d’andern wâren drunde, / ûz sînes herzen kernen.« (›Parzival‹, v. 613,17–19) Es kann aus der Brust gerissen werden, sich von innen gegen die Brust werfen, die Brust kann sich ihrerseits öffnen und den Blick des Betrachters auf das herze und die in ihm weilende Geliebte freigeben. Es ist sowohl innen wie außen, es ist Hülle, Gefäß und Kammer, aber auch Gegenstand, der herausgeschnitten, herausgerissen, herausgesandt werden kann, es verselbständigt sich, es ist Ich, aber als Ratgeber, als Freund und Gesprächspartner auch Du. Es kann vom Anderen in Besitz genommen oder gegen das herze des Anderen eingetauscht werden, der Andere kann sogar zum eigenen herzen werden, das eigene Selbst zum herzen des Anderen: »ich was sîn herze, er was mîn lîp.« (›Parzival‹, v. 613,27) Die Dynamik und Transitorik des herzen ist dem Gebrauch in der theologischen und frühmittelhochdeutschen Verwendung gegenüber neu akzentuiert. Dort war es ein Raum der Abgeschlossenheit und Inwendigkeit gewesen: »Die Würde der menschlichen Persönlichkeit, so wie sie die Bibel sieht, ruht auf dieser Abgeschlossenheit des Herzens, in der es im letzten jedem äußeren Zugriff entzogen ist.«⁴⁹ Offenbar ist es genau die Renitenz dieses vitalen Kerns, der dem herzen eine solche Karriere sowohl im Minnesang als auch in der Erzählliteratur des Mittelalters bereitet hat. Daraus leiten die Formeln vom herz-Tausch, vom Wohnen im herzen oder von der Verwundung des herzen in der höfischen Literatur ihren besonderen narrativen Reiz ab. Denn wäre es eine bloße Metapher, so könnte Heinrich von Morungen nicht behaupten, dass derjenige, der ihm sein herze aufbräche, seine Dame dort sitzen sehen könnte. Die Pointe dieser kleinen, später oft aufgegriffenen poetischen Wendung resultiert daraus, dass das herze hier sowohl als Körperorgan, das sich in der Brust befindet und den Körper belebt, als auch als Sitz von minne, in dem die Anwesenheit der geliebten Herrin imaginiert wird, verstanden werden kann. Aus dieser Perspektive von Entgrenzung, nicht aus der von minne, möchte ich die Rolle des herzen im Folgenden untersuchen, um zu zeigen, dass es nicht das gleichsam körperlich gedachte Innere einer Figur bildet, das, was spätere Zeiten ›Seele‹ nennen werden, Ort jener Prozesse, die die Identität einer Figur ausmachen: Erinnerung, Willen, Empfindung oder Reflexion. Ganz im Gegenteil
49 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 255.
Verselbständigungen von herze und lîp
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ist gerade das herze durch seine Dynamik und Transgressivität charakterisiert, die das Verhältnis zwischen ihm und ›seinem‹ Körper zu einem prekären macht.
3.4.1 Wessen Herz ist das herze? Wer ist ›ich‹? Zuschreibungsproblematiken Die formelhafte Wendung herze unde lîp begegnet in der höfischen Literatur häufig. Sie scheint analog zur Formel lîp unde sêle gebildet zu sein, das das lateinische corpus et anima übersetzt. Doch anders als corpus et anima oder sêle unde lîp bezeichnen herze unde lîp im strengen Sinne eben gerade keine Gegensätze. Und sie können es auch deshalb nicht sein, weil beide stofflich sind, nämlich Fleisch und Körper: Das herze ist aus dem gleichen Fleisch geschaffen wie der Körper, es ist sterblich wie dieser und vergeht mit ihm. Es ist dem Körper gegenüber also in keiner Hinsicht übergeordnet oder privilegiert, es ist ebenso wenig gottgeschaffen wie dieser, ebenso wenig unsterblich, aber es ist, obwohl selbst nur Körper, doch ein ganz besonderer Körperteil. Es kann sich dem Körper gegenüber verselbständigen, ihm gegenüber feindselig auftreten, ihn sogar verraten wie in einem Lied Heinrichs von Rugge: »Mir hât daz herze verrâten den lîp.« (MF 101,31)⁵⁰ Was diese Formulierung aussagt, ist zunächst, dass herze und lîp keine Einheit bilden. Während unser Verständnis beides einem gemeinsamen Körper subsumiert, behauptet die mittelalterliche Literatur in Minnesang und Epik, dass das herze zwar Teil des eigenen Körpers sei, aber auch Teil des Körpers eines anderen werden kann wie im ›Parzival‹, wo Orgeluse über Cidegast sagt: »›ich was sîn herze, er was mîn lîp‹.« (v. 613,27) Darüber hinaus kann ein Körper auch ohne herze existieren und sogar in offene Auseinandersetzung mit ihm treten. In einer einfachen und unauffälligen Form wird das bereits in der Summenformel herze unde lîp artikuliert, die als feststehende Umschreibung für die Ganzheit einer Figur verwendet wird – so beispielsweise bei Heinrich von Rugge: »des vröit sich herze und al der lîp« (MF 106,12), bei Bernger von Horheim: »sît ich ir gap beidiu herze unde lîp« (MF 114,15), Heinrich von Morungen: »Leitlîche blicke unde grôzlîche riuwe / hânt mir daz herze und den lîp nâch verlorn« (MF 133,13f.) oder Rudolf von Fenis: ›diu mir daz herze und den lîp hât betwungen, daz ich ir niht vergezzen mac.« (MF 84,1f.) Diese konventionelle und verbreitete Formulierung macht eines unmissverständlich deutlich: Das herze gehört nicht zum Körper. Es ist ein Supplement,
50 Wortlaut entsprechend Hs. C. Die Herausgeber haben den Vers umgestellt in »Mir hât verrâten daz herze den lîp.«
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das ihn in der Summenformel herze unde lîp einerseits vervollständigt, aber gerade mit und in dieser Vervollständigung bezeugt, dass beide keine unauflösliche, sondern eine prekäre (und oft genug gar keine) Einheit bilden, dass es also einen Körper auch ohne herze geben kann und ein herze ohne lîp. Die prekäre und dennoch unlösbare Einheit zwischen ihnen bildet die Grundstruktur der Streit- oder Dialoggedichte zwischen herze unde lîp, die zwar angedeutet auch im Minnesang begegnen, aber zur Entfaltung vor allem in der Erzählliteratur und den Minnereden gelangen. Hauptthema des literarischen Musters, das den Streit zwischen herze und lîp zum Gegenstand hat, ist (vordergründig) die höfische minne. Eher nebenbei wird von der Verselbständigung des herzen gegenüber dem Körper erzählt, dem es zwar entstammt, aber nicht zwingend zugehört. Das herze ist zwar – und auch das wird immer wieder betont – aus der gleichen Substanz geschaffen wie der Körper, aber es ist nicht nu r Körper. Es ist also zu fragen, welche Art von Körper(teil) das herze ist, das zwar aus Fleisch besteht, sich aber offenbar dennoch dem Körper gegenüber verselbständigen kann. Die bisher behandelten Beispiele zeigen zwei Dinge deutlich: zunächst, dass herze und lîp nicht identisch sind und nicht zwingend zusammengehören. Der Körper kann ohne ein herze existieren, dieses ohne seinen Körper. Und oft genug herrscht nicht nur offener Dissens, sondern sogar Feindschaft zwischen beiden. Zweitens ist erkennbar, dass die Spannung zwischen herze und lîp nicht den Dualismus von Körper und Seele auf einer anderen Ebene spiegelt. Von Dualismus kann hier ebenso wenig die Rede sein wie von Identität, die darauf gründete, dass beide, herze und lîp, fleischlich und vergänglich seien: »Herz und Leib sind untrennbar zusammengehörig, aber unüberbrückbar getrennt.«⁵¹ Hartmann von Aue hat mit seinem ›Klage‹ genannten Streitgespräch zwischen den Kontrahenten herze und lîp, die sich gegenseitig die Schuld am erfolglosen minne-Dienst geben, geradezu traditionsstiftend gewirkt. Ein dem Hartmann’schen Streitgespräch ähnlicher Text findet sich beispielsweise im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein. Doch hier werden die Rollen von lîp und herze noch um die des Erzählers vermehrt, der weder mit dem einen, noch mit dem anderen identisch ist, sondern wie ein Vermittler mit beiden im Gespräch steht bzw. berichtet, was beide miteinander vereinbaren. Während der kurzen Unterredung beider ist der Erzähler ein Außenstehender.
51 Susanne Köbele: Der paradoxe Fall des Ich. Zur Klage Hartmanns von Aue. In: anima und sêle, S. 265–283, hier S. 269. Vgl. im selben Band: Katharina Philipowski: Bild und Begriff: sêle und herz in geistlichen und höfischen Dialoggedichten des Mittelalters, S. 299–319.
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Die Interaktion zwischen ihnen beginnt harmonisch, als das herze eine Dame aussucht und dem Körper seine Wahl vorschlägt. Dass der vom herzen Angesprochene nicht der Erzähler, sondern der lîp ist, wird jedoch erst in dem Moment deutlich, als dieser vom herzen als lîp angesprochen wird. Hier ist es also nicht der lîp, der das herze anspricht, sondern es ist das herze, das sein Gegenüber zum lîbe macht: Do sprach min herze wider mich: ›guot vriunt, geselle, wil du dich für eigen einer vrowen geben und ir ze dienest immer leben, daz sol disiu vrowe sin, daz rat ich uf die triwe min; diu ist gar allez wandels vri, der sül wir sin mit triwen bi.‹ ›Ich volge dir, herze, swes du wil, doch ist uns beiden gar ze vil, daz wir ir dienen umb den solt, den man von guoten wiben holt. ja ist diu guote vrowe min vil hoher denn wir beidiu sin, si ist ze hohe gar uns geborn, des mac der dienst werden verlorn.‹ ›Swic, lip, und hore, ich wil dir sagen… .‹ (Str. 17–19)⁵²
Es ist allerdings nicht eindeutig, wen das herze eigentlich anspricht. Zwar nennt es seinen Gesprächspartner lîp, doch es ist der Erzähler, der die Worte des herzen wiedergibt, indem er sagt: »Do sprach min herze wider mich.« Vielleicht aber ist es in Bezug auf einen Text wie den ›Frauendienst‹ unangemessen, die Begriffe genau voneinander abgrenzen zu wollen. Schließlich bereitet es offenbar auch keinerlei Schwierigkeiten, wenn dort der lîp in seiner Antwort auf das herze auf seinen eigenen lîp verweist: ›Herze, ich swer dir einen eit uf alle min saelicheit, daz si mir ist für elliu wip und lieber danne min selbes lip. uf den minneclichen wan, den ich gegen ir vil guten han,
52 Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Viktor Spechtler. Göppingen 1987.
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so wil ich hiut und immer me ir dienen swie so ez mir erge.‹ (Str. 20)
Zu einem Streitgedicht im eigentlichen Sinne wird der Text erst dort, wo der IchErzähler Ulrich zwar endlich ein Treffen mit der Dame herbeiführen kann, bei ihrem Anblick jedoch hoffnungslos verstummt. sin, zunge und munt versagen ihren Dienst und lassen das Ich im Stich: Sa rait ich paltlich zuo ir dar; so si min bi ir wart gewar, si kert sich von mir umbe hin. da von so zaghaft war min sin, daz mir erstumbet an der stunt diu zunge min und ouch der munt und mir daz houbet nider seic: min lip reht als ein stumbe sweic. (Str. 122)
Zwar ist es in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur alles andere als ungewöhnlich, dass der lîp als pars pro toto des ganzen Protagonisten fungiert. Doch hier findet nicht einfach eine Gleichsetzung des Erzählers mit dem lîbe statt, vielmehr wird dieser nur vom herzen als solcher angesprochen, was ein feiner, aber entscheidender Unterschied ist, denn tatsächlich ist ja aus der Perspektive des herzen der ›andere‹ der lîp. Fraglich ist nur, welche Rolle der Erzähler zwischen beiden noch einnehmen kann. Das herze schilt den lîp, weil es durch seine Unbeholfenheit nicht dazu kommt, sich der Dame gegenüber auszusprechen: ›ja, du vil gar verzagter lip, und fürhtestu ein so gut wip? si het dir weiz got niht getan, we, daz din munt niht reden kan! Lip, nu hoere, waz ich sage! wil du mit worten sin ein zage, so kan dir nimmer liep geschehen.‹ (Str. 123,5–8; 124,1–3)
Es fällt auf, dass das erzählende Ich herze und lîp als ›sein‹ Herz und ›seinen‹ Leib anspricht, gleichwohl aber wechselweise in die Rollen des einen oder anderen schlüpft. Wenn beispielsweise das herze den lîp dafür beschimpft, dass er es nicht wagt, die Dame anzusprechen, so bezieht der Erzähler diese Kritik nicht auf ›seinen‹ lîp, sondern auf sich selbst: »Min herze vil gestrafte mich« (Str. 125,1), obwohl das herze sich explizit an diesen gewandt hatte: »›Lip, nu hoere, waz ich sage‹!« (Str. 124,1) Der Erzähler ist also die Summe von herze und lîp,
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nimmt aber im Streitgedicht stets die ihm von seinem jeweiligen Gesprächspartner zugewiesene, also okkasionelle, Identität ein: Für das herze ist er der lîp, für diesen das herze. Diese stets nur zugewiesene Identität ist jedoch so instabil, dass sie weder einen anderen Namen als das bloße ›Ich‹ erhält, noch eine Eigenständigkeit jenseits von herze und lîp besitzt. Nur dem Rezipienten gegenüber tritt diese schillernde, unfassliche Figur als ›Ich‹ auf, im Dialog mit herze und lîp ist es gerade kein Ich, sondern nur das jeweilige Gegenüber, das konkurrierende Du, das sich jedoch nicht zu jener Position verstetigt, die über herze und lîp als ein beides Umfassendes steht. Obwohl die Konstellation, dass zwischen oder über ihnen eine weitere Instanz agiert, die weder mit dem einen noch mit dem anderen identisch ist, verwirrend erscheint, ist sie durchaus weder in der Erzählliteratur noch im Minnesang selten. Sie begegnet beispielsweise im Kreuzlied Friedrichs von Hausen, in ›Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden.‹ (MF 47,9) Es spricht ein Ich, das vom Zerwürfnis zwischen seinem herzen und seinem lîbe berichtet. Während dieser gegen die Heiden streiten will, hat sich jenes an eine Dame gebunden. Beide wollen – so der Sprecher – einander nicht mehr folgen. Welche Position er selbst ihnen und ihren jeweiligen Ansprüchen und Interessen gegenüber einnimmt, bleibt offen. Der Sprecher geriert sich als derjenige, der sich weder für den Kampf noch für die Dame entscheidet, sich zu beiden auch nicht äußert und dessen Interesse darin besteht, einen Ausgleich zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen. Wer aber ist derjenige, den das herze in der zweiten Strophe »vil trûreclîchen lân« (MF 47,26) will? Sît ich dich, herze, niht wol mac erwenden, du wellest mich vil trûreclîchen lân, sô bite ich got, daz er dich geruoche senden an eine stat, dâ man dich welle enpfân. Owê! wie sol ez armen dir ergân? wie getorstest du eine an solhe nôt ernenden? wer sol dir dîne sorge helfen enden mit triuwen, als ich hân getân? (MF 47,25–32)
Offenbar hat der Sprecher sich nun auf die Seite des lîbes geschlagen, denn er verabschiedet das herze (»sît ich dich, herze, niht wol mac erwenden«, MF 47,25), das seinerseits bereits den Abschied vollzogen hat (»du wellest mich vil trûreclîchen lân«, MF 47,26). Doch von wem hat es sich abgewandt? Spricht in der zweiten Strophe der lîp, von dem der Sprecher berichtet hat, dass er und das herze sich trennen wollen? Oder sind er und lîp identisch? Wer ist dann aber das mîn in der Rede »mîn lîp«? Wessen lîp ist der lîp?
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Wenn am Ende der zweiten Strophe die Sorge um das herze geäußert wird: »wer sol dir dîne sorge helfen enden / mit triuwen, als ich hân getân?« (MF 47,31f.), so klingt nun eine Übereinstimmung zwischen dem herzen und dem lîbe an, von der es in der ersten Strophe hieß, dass sie vormals zwischen beiden geherrscht habe (»diu mit ein ander wâren nu manige zît«, MF 47,10). Ist es also der lîp, der hier, in der zweiten Strophe, um den Verlust des herzen klagt? Tatsächlich ist Thema des Liedes ja eben die Trennung zwischen diesen beiden, nicht zwischen dem herzen und einem diffusen ›Ich‹. Dann müsste zwischen der ersten und der zweiten Strophe allerdings ein Sprecherwechsel stattgefunden haben; und genauso scheint es auch zu sein. Denn die dritte Strophe (die sich zumindest in C unmittelbar an die zweite anschließt) nimmt den Sprachduktus des um sein herze gebrachten lîbes auf. Er hat »daz kriuze in gotes êre« (MF 47,18) genommen, ist aber dennoch nicht »ledic […] von solicher swaere« (MF 47,17) und deshalb auch kein wirklich »lebendic man« (MF 47,21). Nun wird auch deutlich, warum das Ich nicht lebendic ist und es auch nicht sein kann: Weil das Ich, das hier spricht, der lîp ist, der sich, getrennt von seinem herzen, unvollständig und voller Kummer, also nicht lebendic, fühlt. So erklärt sich, dass die vierte und letzte Strophe von Entfremdung spricht (»Niemen darf mir wenden daz zunstaete, / ob ich die hazze, die ich dâ minnet ê,« MF 47,33f.), davon, wie sich minne verkehren kann und im Trotzen und Zürnen endet. Das herze hat sich aus dem Lied sukzessive zurückgezogen und den lîp gemeinsam mit dem Sprecher zurückge- und sich selbst überlassen. Dieser ist insofern nicht Gegenstand des Liedes, als er nicht derjenige ist, über den gesprochen wird, sondern derjenige, der spricht. Zumindest findet sich im ganzen Lied keine Adressierung des lîbes, nirgends wird er explizit angesprochen wie das herze. Auch im ›Frauendienst‹ war es ja nur das herze, das den lîp anredete und nicht der Sprecher. Dieser spricht nicht mit ihm, denn er identifiziert sich mit dem lîp, er steckt ›in‹ ihm. Offenbar wird in aller Regel aus der Perspektive des Körpers heraus wahrgenommen, gesprochen und erzählt. Das herze ist – auch hier wieder – der oder das Andere, das zwar Teil hat an der vielstimmigen Identiät, die literarisch entworfen wird, aber dennoch in die Rolle des Ichs viel weniger integriert und eingebunden ist als der lîp – vielleicht, weil das herze nicht über eine eigene Wahrnehmung verfügt, sondern dazu der Sinnesorgane des Körpers bedarf, wie das herze in Hartmanns ›Klage‹ bemerkt: ›dû weist wol wiez dar umbe stât, daz ich sô vil niht wizzen mac wenn ez sî naht ode tac. ich erkenne übel noch guot,
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ich bin frô noch ungemuot, wan als mich von dir wirt ane brâht.‹ (v. 536–541)⁵³ ›Enblant ez dînen ougen, wan des ist unlougen diu ensîn geschaffen dar zuo daz sî spâte unde fruo übel unde guot ersehen und mir ân mînen danc spehen swaz mir der dinge ist erkant: durch daz hân ich sî genant des herzen spehære. ir spehens ich wol enbære. swaz in der werlte geschiht, des einweiz ich anders niht, wan als dû mirz enbiutest bî in.‹ (v. 545–557)
Das herze ist nicht nur zum Zwecke der Wahrnehmung vollständig auf den Körper und dessen Organe angewiesen, es kann ihn von sich aus nicht einmal unmittelbar beeinflussen. Es ist sein »râtgebe« (v. 923), kann den Körper aber nicht steuern: »›ichn hân gewaltes wan den muot / und den frîen gedanc‹.« (v. 916f.) Deshalb beklagt es auch mehrmals den Ungehorsam des lîbes (z.B. v. 896). Es ist in verschiedener Hinsicht bezeichnend, dass die Position des herzen einerseits als Empfindungs- und minne-Zentrum charakterisiert werden kann, dass ihm auf der anderen Seite aber eine kaum zu übersehende Abhängigkeit vom lîbe verliehen wird. Wenn tatsächlich das herze der »gleichsam wie in einem Punkt zusammengezogene Mensch in seiner geistig-geschöpflichen Gesamtheit«⁵⁴ ist, dann muss es überraschen, dass dieser Sitz von Identität kaum je die Ich-Perspektive einnimmt, sondern diese vielmehr dem lîbe zugewiesen wird. Dass der Sprecher in aller Regel aus seiner Perspektive das herze adressiert (oder umgekehrt vom herzen als lîp angesprochen wird), ist dabei alles andere als zwingend. Dass er sich mit dem lîbe identifiziert und sogar solidarisiert, bestätigt die Vermutung, dass das herze nicht nur Ort der minne, sondern vor allem Ausgangspunkt von Entzweiung, Fremdheit und Entfremdung ist.
53 Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das Zweite Büchlein. Hrsg. von Ludwig Wolff. München 1972. (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 4) 54 von Ertzdorff: Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen Literatur, S. 251.
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Fremd sind einander in ›Ain mynn red von hertzen und von leib‹ im (allerdings sehr viel jüngeren) Liederbuch der Clara Hätzlerin⁵⁵ sowohl herze als auch der leib. Weder das eine noch das andere werden dem Erzähler als ›sein‹ hertze und ›sein‹ leib zugeordnet, sie sind also nur herz und leib ohne ein Possessivpronomen, das sie auf ein ›Ich‹ beziehen würde. Und sie gehen im Erzähler, um dessen hertze und leib es sich offenkundig handelt, insofern sie das Wort ergreifen, als er zum Sprechen aufgefordert wird, nicht auf. Zwar wird die Handlung aus der Sicht eines Ich-Erzählers wiedergegeben, der sogar nähere Aussagen zum Hergang des Geschehens macht: Ich kam an ainem morgen heẅr Für den wald nach aubenteẅr, Da hort ich in des waldes tron Die vögelen mit süssem don. (v. 1–4)
Sogar Auskunft über die Umstände der Niederschrift des Gesprächs erhält der Leser von ihm: Nit lenger ich allda belaib, Ich zoch ze hus vnd schraib Die aubenteẅr an der statt, Die allhie ain ende hatt. (v. 235–238)
Doch das Verhältnis zwischen dem Ich (das auf der Wiese die Personifikationen von Zucht, Tugend, Scham und Minne in Gestalt von Frau Venus trifft) und den Akteuren hertz und leib bleibt zunächst unklar. Es ist das Erzähl-Ich, das das Gespräch beginnt, indem es die Damen, auf die es trifft, grüßt und sich bei Frau Venus beklagt: Ach, fraw, ich hn lang gedacht, Ob ich eüch yendert fund, Das ich eüch tätt gepresten kund, Vnd was ich arbait hn. (v. 98–101)
Nachdem der Erzähler die Ich-Erzählung begonnen hat und auch als Ich seine Klage mit den Worten: »Nun hört, was mein clag sey« (v. 108) begonnen hat, kippt
55 Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von Carl Haltaus, mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966, S. 211–214. In den Zitaten sind Schaft-s zu Rund-s umgeschrieben.
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die Erzählhaltung in dem Moment, wo sich das hertz unvermittelt auf die Aufforderung der Frau Venus an den Erzähler, seine Klage vorzubringen hin, zu Wort meldet: Das hertz sprach, lasz mir die schuld, Wir süllen baid vmb ir huld Werben zu allen stunden, Wir haben lieb by schön funden. (v. 121–124)
Der leib antwortet: Der leib sprach: hertz mich wundert; Das du dir hast besundert Vnd ain lieb zu stätt erwelt, Das dich doch peinigt vnd quelt. Als ich gen nacht sol haben r, So gat mir senen vnd seüftzen z Vnd vil manig angstlich schwaisz, Yetzunt kalt vnd dann ze haisz. (v. 133–140)
Es ist wohlgemerkt nicht mîn hertz oder mîn leib, die hier an Stelle des Ich-Erzählers sprechen. Besonders das Verhältnis zwischen leib und Erzähler wird gegen Ende der Rede immer unbestimmbarer. Die Klage des Erzählers wird schließlich abgeschlossen mit den Worten: »Nun ratt, ir werden frawen, z, / Wie ich armer leib get, / Das ich gewynn der mynne pflicht.« (v. 189–191) Auch hier wird der Erzähler mit dem leib identifiziert, beziehungsweise dieser spricht aus der Perspektive des Erzählers. Eine Trennung zwischen leib und hertz wird jedoch zurückgewiesen. So sagt das hertz: chain vnderschaid Sol wesen zwischen vns baid. Hab dir den nutz, lasz mir die er, Der lon ist dein, des ich ger, Den hilff mir ze erwerben. (v. 159–163)
Und der leib antwortet: »ich will vnd mag / Wissen fürwr gewis, / Stirbst du, das ich nit genis. (v. 166–168) Besonders deutlich kollabieren die Differenzierungen zwischen leib und hertz in der Schlussrede von Frau Venus. Sie antwortet auf eine Klage, die der leib vorgetragen hat und rät diesem, er möge sprechen »zu allen zeiten wol, / Als ain redlich hertz sol.« (v. 205f.) Darüber hinaus soll er überwinden »Leid, das dir zu hertzen gtt.« (v. 223)
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Die Gegenüberstellung von leib und hertz, die den Aufbau und die Pointe des Textes trägt, wird also entweder nicht sorgfältig durchgeführt oder absichtsvoll unterlaufen. Auch die ›Minneburg‹ enthält ein Gespräch zwischen herz und lîp, das in vielen Punkten mit der Klage von hertz und leib aus dem Liederbuch der Clara Hätzlerin übereinstimmt. Auch hier klagt der Erzähler der Personifikation Frauw Mynne sein Leid und auch hier entsteht ein Dialog zwischen leib und hertz im Rahmen der Liebesklage. Und genau wie im Dialog aus dem Liederbuch der Clara Hätzlerin und in Hartmanns ›Klage‹ ist das Erzähler-Ich auch hier nicht mit dem herzen, sondern mit dem lîbe identisch – Ich ist also der Körper, während das herze zwar im Rahmen von Figurenrede ebenfalls ›Ich‹ sagen kann, ansonsten jedoch, als vom erzählenden lîbe angesprochen, in die Rolle des ›Du‹ versetzt wird. Fraw Mynne erklärt sich dazu bereit, sich die Klagen des Liebenden anzuhören. Dieser trägt sein Leid in der Form eines Dialogs zwischen herze und lîp vor. Der lîp richtet das Wort an das hertze: ›Ach hertze min innewendigs, Du armes und sendigs, Du truriges, du betruptes, In leide du verubtes, Wie machtu also zecklich Und also gar gequecklich Mich mit sulhem leide gederren Oder wie machtu versperren In dir so jamerbernde not? Dir wer beßer vil der tot, Wann daz du also lange Und also gar gestrange Dich mit leit so twingest…‹ (v. 5013–5025)⁵⁶
Aus diesem Gesprächsanfang könnte man schließen, dass der lîp ganz unbeteiligt am Kummer des hertzen sei, doch dem ist nicht so, wie sich im Laufe des Dialoges herausstellt: ›Sag mir, hertz, was ist der hecke Dar umb du bist so gar betrubt? Wiß daz ich durch dich gebt
56 Die Minneburg. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift (cpg. 455) unter Heranziehung der Kölner Handschrift und der Donaueschinger und Prager Fragmente. Hrsg. von Hans Pyritz. Hildesheim 21991. (DTM 43)
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Bin in trubsal aller meiste Umb din betruptniße, daz du treist.‹ (v. 5030–5034)
Es leidet also der lîp, so könnte man meinen, aus Mitleid mit dem hertze und dem Kummer, den dieses trägt – denn bisher ist dieses Leid nur das des hertzen. Doch der lîp fährt fort: ›Auch wiße, hertze, sunder wan Daz mich din leit so noch get an, Daz ich selten reht derlache‹. […] ›Mir ist alle freud ein smertze, Wo der iht vor mir geschicht; Wann zwor ich kenn min selbez niht. Mir ist daz auwich [?] uz gekert. Din leit daz hat mir leit gemert, Also daz mir ist freud verflucht. Dez han ich uff mich so verrucht, Daz ich selber min niht ahte.‹ (v. 5035–5049)
Der lîp tritt hier also in der Rolle desjenigen auf, dem fremdes Leiden Kummer bereitet, dem seine eigene Freude dadurch verdorben wird, dass ihm das Leid eines anderen nahe geht, so nahe sogar, dass er sich dadurch selbst fremd wird. Nach der eindringlichen Bitte des lîbes an das hertze, doch endlich zu sagen, was ihm so großen Kummer bereite, holt dieses zu einer allegorischen Beschreibung seines vergeblichen Minnewerbens aus: Es habe sich eine angemessene Form, eine »sunderliche natur« (v. 5109) gesucht und sie in »eins vogels figur« (v. 5110) gefunden – und zwar in der Gestalt einer Krähe. Die hartherzige und grausame Dame des hertzen wird im Bild eines Adlers veranschaulicht, dem sich die Krähe nun anschließen will. Dieser große und stolze Vogel lehnt den ehrerbietig angetragenen Dienst aber nicht nur brüsk ab, sondern zerdrückt die Krähe zwischen seinen Krallen. Es ist dieser haz des schönen Adlers auf den niedrigen schwarzen Vogel, der das hertze beschwert. Es beendet seine traurige Geschichte mit der Warnung an den lîp, sich nicht dort hinzubegeben, wo der missgünstige und gefährliche Adler sitzt. Nun erst bekennt der lîp seine unauflösliche Gemeinschaft mit dem hertzen: ›Fych dych! waz sagestu, hertze min? Wie wenestu daz ich ane dich Muge gesin und auch daz ich Gemyden mg den stoltzen arn, Dez wirde man sicht so hoch uff varn Und sinen wunnenclichen schin?
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Ich wen, ez mge niht gesin. Doch vorcht ich, ich muße volgen dir. Hertze, hulffe ez iht, ich wolt mit gir Mich dir mit im zu eigen geben, Daz er dich ließe in gnoden leben.‹ (v. 5316–5326)
Hier herrscht offenbar keine Feindschaft zwischen hertze und lip mehr. Beide bilden vielmehr eine Leidensgemeinschaft, deren Kummer jedoch offenkundig, anders als in Hartmanns ›Klage‹, nur vom hertzen ausgeht und nur von diesem empfunden wird. Der Anteil des lîbes an der Werbung bleibt unklar. Im Rahmen des Dialoges mit dem hertzen ist seine Funktion allein die, es anzusprechen und seiner Loyalität zu versichern.
3.5 Das Wohnen im herzen Im herze werden Handlungsvollzüge lokalisiert, die zu stereotypen Formeln innerhalb der minne-Kasuistik verdichtet werden wie das Liegen, Sitzen oder Wohnen im herzen. Diese Lokalisierung konkretisiert sich in der höfischen Literatur in Formulierungen wie den folgenden: »iedoch twang in des ein wîp / diu in sîme herzen lac.« (›Parzival‹, v. 591,14f.) Iwein glaubt von Laudine, sie »müese ir zorn allen lân / und mich in ir herze legen.« (v. 1636f.) Als Artus das Fest, mit dem Erecs Hochzeit begangen wird, in die Länge zieht, tut er das »Êrecke ze liebe tet er daz, / wan er in sînem herzen saz.« (v. 2216f.) Oft sind die Affekte einer Figur jedoch nicht im herzen selbst lokalisiert, sondern in einem Raum, der noch ein weiteres, noch ›intimeres‹ Zentrum innerhalb des Herzens bildet, etwa indem sie »innerhalp des herzen,« (›Tristan‹, v. 12190) in der »herzen kamere,« (v. 4994) in einem »herzen schrîn« (›Lanzelet‹, v. 4233) liegen oder, wie im ›Parzival‹, im »herzen kernen.« (v. 613,19) Das Motiv des Wohnens im herzen ist in der höfischen Literatur nicht nur populär und verbreitet, sondern nahezu allgegenwärtig, wo der Zustand der minne beschrieben wird. Im ›Meleranz‹ heißt es: diu maget was gesezzen enmitten in sîn herze. der minneclîche smerze twanc in tougenlîche. (v. 1500–1503)
Und auch das Wohnen im herzen ist, ebenso wie das Motiv des herz-Tausches, nicht gattungsspezifisch, sondern wird in der Epik auf vergleichbare Weise verwendet wie im Minnesang, beispielsweise bei Johannes Hadlaub:
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Mich dunket, man sæhe mîn frowen wolgetân, der mir mîn brust ûf bræhe, in mînem herzen stân. (I,6,1–4)
Das Motiv des Wohnens im herzen ist traditionsreich und geht, wie Friedrich Ohly in seiner richtungweisenden Studie zu diesem Motiv gezeigt hat, vor allem auf Paulus und Augustin zurück: »Die Metapher vom Wohnen im Herzen ist alt. Paulus wünscht den Ephesern, Christum habere per fidem in cordibus vestris (Eph. 3, 17).«⁵⁷ Augustin spricht, z.B. in den ›Confessiones‹ davon, dass »Angusta est domus animae mea, quo venias ad eam: dilatetur abs te.«⁵⁸ Doch ähnlich wie im Fall der Adaption des Motivs vom Körper als Kleid, das im Rahmen eines eigenen Kapitels untersucht wird und das ebenfalls geistlicher Provenienz ist, liegt auch der Übernahme des ursprünglich geistlichen Motivs vom Wohnen im herzen durch die höfische Literatur eine bemerkenswerte Umbesetzung zugrunde.⁵⁹ Sie besteht in einer grundlegenden Profanierung: Wo zuvor Gott in den Menschen hatte einkehren und wohnen sollen, da befindet sich nun das Herrschaftsgebiet der Geliebten: Die Vorstellung, wonach durch die Minne ein fremdes Wesen in das eigene Ich einzieht, findet ihre Darstellung in dem Bild von der Herzenswohnung. Die Geliebte oder Frau Minne selbst erhalten ihren Platz im Herzen. Auf das Herz werden Begriffe aus den mittelalterlichen Wohnverhältnissen übertragen. Es ist Kammer, Herberge, Klausur oder auch Tempel. Es kann als Schrein benannt werden, in dem die Geliebte eingeschlossen ist. […] Wir haben für das Bild im Minnesang seit Hausen eine große Anzahl von Belegen. Es gehört mit zu den beliebtesten Minnemetaphern überhaupt.⁶⁰
Besonders deutlich lässt sich die Übernahme aus dem geistlichen Bereich, wo es Gott ist, der im herzen des Menschen wohnt, und die Übertragung auf den
57 Friedrich Ohly: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Hrsg. von Dems. Darmstadt 1977, S. 128–155, hier S. 129, Hervorhebung im Original. 58 S. Aureli Augustini Confessionum. Ed. Martinus Skutella. Stuttgart, Leipzig 1996, I, 5,6, 59 Vgl. dazu: Nigel F. Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ›Einwohnen im Herzen‹ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum und Annette Volfing. Tübingen 2008, S. 197–224, hier S. 204, wo Palmer in Bezug auf die Verwendung der Herzensraummetaphorik von der »Profanierung einer sakralen Metapher« spricht. 60 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 128.
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minne-Diskurs an der Frage zeigen, die in der Dichtung topisch diskutiert wird, nämlich der, wie der andere in das herze hineingekommen ist.⁶¹ Das geschieht in der Regel übers Auge: Durch die Augen dringt (üblicherweise die Dame) in das herze des Liebenden ein und nimmt es in Besitz. Dieser Vorgang wird von den Autoren als rätselhaft und unerklärlich dargestellt, immer aufs Neue thematisiert und mit ähnlichen Vorgängen verglichen und veranschaulicht. Weiter wird gefragt, wie es denn sein könne, dass die Dame durch die Augen ins herze gelangt, ohne den Liebenden zu verletzen oder ihm dabei physischen Schmerz zuzufügen. Für Reinmar ist der Vorgang, durch den seine Dame ihm unbemerkt ins herze geschlichen ist, ein minneclîchez wunder: ein minneclîchez wunder dâ geschach: Sie gie mir alse sanfte dur mîn ougen, daz sî sich in der enge niene stiez. in mînem herzen sî sich nider liez, dâ trage ich noch die werden inne tougen. (MF 194,21–25)
Eines der prominentesten Beispiele für die Beantwortung der Frage, wie die Anwesenheit der Dame im Herzen des Liebenden zu denken sei, ist eine Stelle aus der ›Orgeluse-Episode‹ im ›Parzival‹:⁶² Gawan ist in minne zu Orgeluse entbrannt, sie hat sein herze in Besitz genommen. Doch dieser ›Besitz‹ ist keine reine Redewendung, sondern tritt konkret ins Bild – Orgeluse gelangt auf dem Weg durch Gawans Augen in sein herze hinab: Orgelûse kom aldar in Gâwâns herzen gedanc, […] wie kom daz sich dâ verbarc sô grôz wîp in sô kleiner stat? si kom einen engen pfat in Gâwânes herze, daz aller sîn smerze von disem kumber gar verswant. (v. 584,8–17)
Was den Erzähler am Vorgang der Einkehr der Dame im Herzen des Liebenden interessiert, ist offenbar nicht allein der Zustand der minne. Die Darstellung des
61 Die Überlegungen, die diesem Kapitel zugrunde liegen, habe ich ausführlicher dargestellt in der Einzeluntersuchung: Das ›minneclîche wunder‹ in der spätmittelalterlichen Mariendichtung und im späten Minnesang. In: FS Gerald M. Browne. Champaign, Illinois 2004, S. 27–36. 62 Mit ihr setzt sich Palmer ausführlich auseinander. Vgl. Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich.
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Vorgangs, die Konkretisierung, macht diese Einkehr zu etwas Groteskem,⁶³ sie betont das Groteske, das die Erfahrung von minne immer auch charakterisiert. Denn minne ist nicht (nur) ›Liebe‹, sondern zumeist auch mehr oder weniger stark ausgeprägter Selbstverlust oder Selbstentfremdung. Die Erfahrung dieser Selbstentfremdung durch übermäßige Fokussierung auf den Anderen produziert eine Vielzahl von Vergleichen. Paradigmatisch ist in der minne-Literatur ein Vergleich, der aus der geistlichen, genauer: aus der Mariendichtung übernommen wurde. Die für den Vergleich konstitutive Entsprechung zwischen der Erfahrung von minne und der Marienverehrung besteht in der Rätselhaftigkeit, ja Paradoxie, die beiden zugrunde liegt: Wie kann ein Mensch das herze eines Anderen bewohnen oder besitzen, ohne ihn zu verletzen? Und wie kann eine Jungfrau ein Kind empfangen, ohne dass ihre Jungfräulichkeit dabei angetastet würde? Paradoxien wie diese beiden sind nicht nur Gegenstände der intellektuellen Auseinandersetzung, sondern auch produktive Formen der Diskursivierung. Das Nachdenken über sie erzeugt neue Spielräume und treibt die Sprache, die sie erfassen will, an ihre Grenze. Jungfrauengeburt und minne werden gedeutet mit dem Verweis auf das Glas, durch das die Sonne fällt, ohne es zu beschädigen: »Die Betonung der Unverletztheit des Körpers weist auf das Dogma der unbefleckten Empfängnis hin. In der geistlichen Lit. des Mittelalters wird die Empfängnis der Gottesmutter gerne verglichen mit dem Strahl, der durch Glas dringt, ohne dieses zu verletzen.«⁶⁴ Das Motiv des Lichtstrahls, der durch das Glas fällt, begegnet bereits in der lateinischen hymnischen Mariendichtung des 12. Jahrhunderts: Vitrum sole penetratur, Numquam tamen violatur In ingressu luminis;
Mater Christi fecundatur, Fecundata gravidatur Salvo iure virginis.⁶⁵
Sicut vitrum radio Solis penetratur, Inde taman laesio Nulla virto datur,
Deus, Dei filius, Sua prodit nupta, Non perit lux oculi, Cum lux evagatur;
63 Palmer bezeichnet den Effekt sogar als den der Lächerlichkeit: »Damit mündet die Präsentation abstrakter Liebesmetaphorik als eines realistischen, physischen Vorgangs in das bewußt komische, ja lächerliche Bild von der Frau, die zu groß für die ihr zugewiesene Klause ist und sozusagen mit dem Kopf herausragt.« Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich, S. 200. 64 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 68. 65 Analecta hymnica medii ævi. Hrsg. von G.M. Dreves und Cl. Blume, 55 Bände. Leipzig 1886– 1922, Bd. 54, 259, 7.
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Der Körper im Körper: Das herze
Sic, immo subtilius, Matre non corrupta
Nec in ortu flosculi Mater defloratur.⁶⁶
Aus der lateinischen Mariendichtung wird es, wie das ›Arnsteiner Marienlied‹ aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts belegt, in die volkssprachige Mariendichtung übernommen: swenen so daz dunket unmugelich, der merke daz glas, daz dir is gelig: daz sunnen liet schinet durg mittlen daz glas, iz is alinc unde luter sint, als iz e des was. durg daz alinge glas geit iz in daz hus, daz vinesternisse verdrivet iz dar uz. (v. 16–21)⁶⁷
Um 1172 entsteht das ›Marienleben‹ Wernhers, der das Motiv aufgreift: Als der sunne schinet durch ain glas Und es nut brichet umbe das, Ob es durch vert der sunnen schin, Also ht das kint die mter sin Durch varen gar n allen bruch. (v. 2733–2737)⁶⁸
Walther von der Vogelweide adaptiert den Vergleich mit dem Licht, das durch ein Glas hindurch fallen kann, ohne es zu verletzen oder auch nur zu berühren, in seinem bekannten Marienleich: »Als diu sunne schînet durch ganz gewürhtez glas, / alsô gebar diu reine Crist, diu magt und muoter was.« ⁶⁹ Gegen Ende des 13. Jahrhunderts greift Konrad von Würzburg in der ›Goldenen Schmiede‹ das Bild auf: von dir quam der mandelkerne durch die schalen ganz: reht als der lihten sunnen glanz durch daz unverwerte glas; din geburt gefriet was vor aller hande meine (v. 432–437)⁷⁰
66 Ebd., 265,9. 67 Das Arnsteiner Marienlied, in: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Werner Schröder, Bd. II. Tübingen 1972 (ATB 72), S. 173–183. 68 Das Marienleben des Schweizers Wernher aus der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Arthur Hübner. Dublin, Zürich 21967. (DTM 27) 69 Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996, L. 4,9–12. 70 Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder. Göttingen 1969 (1. Aufl. 1926).
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und um 1300 Albrecht von Neustadt in ›Gottes Zukunft‹:⁷¹ Die magt eins kindelins genaz. An allen meil daz waz: Als die sonne durch daz glaz Schinet und dannoch blibet ganz, Der megede bleip der kusche kranz. Ir magtum rein und klar Wart nie gehaltzet umb ein har. (v. 1406–1412)
Schließlich findet es im Spätmittelalter Verwendung bei Michel Beheim:⁷² so ist das perlin glancz getrungen durch die schalen gancz, und durch das vest und gancze glas brach ach der sunnen zwire, das es dach unverseret was. (442, 25–29)⁷³
Der Topos von der Empfängnis ohne Beiwohnung ist ein »theologische[s] und von den Dichtern aufgenommenes Sprechen,«⁷⁴ welches die Elemente des Paradoxalen aus dem theologischen Kontext herauslöst und für die Darstellung der höfischen minne nutzt. Ein Beleg dafür findet sich in einem Lied Heinrichs von Morungen. Dort wird von der vil lieben Dame gesagt: »Sî kan durch diu herzen brechen / sam diu sunne dur daz glas.« (MF 144,24f.) Bei Reinmar von Zweter heißt es: Diu Minn hât reht der sunnen craft, der schîn erzeiget meisterschaft an eime ganzen glas, swâ daz vor einem venster stât. Dâ durch sô schînets âne crac unt liuhtet in dem hûse den tac: alsô tuot diu Minne, swâ ir blic von spilnden ougen gât. […]
71 Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland, Gottes Zukunft und Visio Philiberti. Hrsg. von S. Singer. Dublin, Zürich 21967. (DTM 7) 72 Zu Belegen des Motivs im volkssprachigen und lateinischen mystischen Schrifttum des Mittelalters vgl.: Anselm Salzer: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie. Darmstadt 1967, S. 71–74. »Glas: Wie die Sonne durch das Glas dringt, ohne es zu verletzen, so ward Maria Mutter und blieb dennoch Jungfrau.« Dort finden sich auch zahlreiche Hinweise auf weltliche Texte, die hier nicht berücksichtigt wurden. 73 Die Gedichte des Michel Beheim. Hrsg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald, Bd. III/1, Gedichte Nr. 358–453. Berlin 1971. (DTM 65/1) 74 Ohly: Cor amantis non angustum, S. 143.
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Der Körper im Körper: Das herze
durch des mannes lîp si schiuzet, in sînem herzen sich besliuzet, daz ez brinne. (Minnen-Ton 268, 1–6 und 10f.)⁷⁵
Diese Rätselhaftigkeit des Fremden im Eigenen und des Kleinen im Großen ist auch der Gegenstand eines minne-Gespräches zwischen Wilhelm und Beatrise in Rudolfs vom Ems ›Willehalm von Orlens‹. Die kindliche Naivität Beatrises gibt dem Erzähler Anlass, die komplexe Bildsprache des Motivs ganz auszuschöpfen. Wilhelm erklärt Beatrise, die noch ein Kind ist: »›do ligent ir minem herzen bi‹,« worauf sie fassungslos antwortet: ›Slicher rede gehort ich nie. Du bist doch da, so bin ich hie, Wie mht ich in das herze komen?‹ ›Do het sich iuwer an genomen Min herz und hat die sinne Bewent an iuwer minne, Und min úch von herzen so Das ich vil ofte wird unvro.‹ (v. 4234–4242)⁷⁶
Die Deutung dieser Passage als parodistisch oder komisch wäre vorschnell und vereinfachend. Hier wird nicht von einem einfältigen jungen Mädchen erzählt, das nicht weiß, was minne ist und die poetische Sprache ihres Freundes missversteht. Vielmehr entfalten Textstellen wie diese die komplexe Bedeutung des herzen zwischen Übertragung und Buchstäblichkeit. Wo Beatrise nicht begreift, dass sie sehr wohl gleichzeitig Wilhelm gegenübersitzen und sich in seinem herzen befinden kann, wird nicht gesagt, dass eine solche ›Parallelpräsenz‹ eben faktisch unmöglich und das Wohnen im herzen deshalb nichts als eine poetische Redewendung sei: Wilhelm wird nicht als ein Schwärmer dargestellt, der Dinge behauptet, die unserem (wie dem mittelalterlichen) Weltverständnis widersprechen, sondern Beatrise ist es, die aufgrund ihrer Kindlichkeit (noch) nicht versteht, dass möglich ist, was den Naturgesetzen widerspricht. Das allerdings wird sie – der Leser ahnt es – bald schon begreifen. Das Erzählmuster der Kinder-minne, das hier vorliegt, relativiert nämlich keineswegs die Ernsthaftigkeit der minne zwischen Wilhelm und Beatrise, sondern unterstreicht sie. Gerade die Tatsache, dass Wilhelm bereits im zarten Knabenalter von der minne zu einem Mädchen ergriffen wird, das noch viel zu jung ist, um die ganze Tragweite der minne zu ermessen, bezeugt und bestätigt die Unwiderruflichkeit der
75 Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hrsg. von Gustav Roethe. Leipzig 1887. 76 Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstl. Fürstenberg. Hofbibliothek in Donaueschingen von Viktor Junk. Dublin, Zürich 21967. (DTM 2)
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Bindung, von der der Roman erzählt. Diese Bindung ist nicht nur stark, sondern in ihrer Unbedingtheit auch bedrohlich, sie ist irrational und für die von ihr Betroffenen unverständlich. Die einfältigen Worte Beatrises weisen nicht allein auf ihre Kindlichkeit hin, sondern auch auf den Sachverhalt, dass die Einwohnung im Herzen, also die Wirkmächtigkeit der minne, de facto unverständlich und unbegreiflich ist. Und Unverständlichkeit ist auch die Entsprechung, die die Übertragung des Vergleiches mit dem Sonnenstrahl, der das Glas durchdringt, ohne es zu verletzten, aus dem geistlichen in den weltlichen Bereich begründet. Durch diese Übertragung wird die Dame im herzen nicht als mariengleich überhöht und es wird auch kein direkter Zusammenhang zwischen weltlichem und geistlichem Liebesbegriff hergestellt. Der Adaption des Motivs liegt also nicht der Wunsch zugrunde, die Verbindlichkeit der poetischen Aussage durch eine religiöse Dimension zu sichern, wie von Ertzdorff meint: Diese beiden antithetisch aufeinander bezogenen Aussagen [die Ergriffenheit des Herzens durch die Liebe und die Anwesenheit des Herzens bei der Geliebten] sind dadurch, daß sie zuerst in der volkssprachigen religiösen Literatur für die religiöse Erfahrung eingesetzt wurden, zunächst in der höfischen Liebeslyrik keine unverbindliche Spielerei, sondern ein durchaus ernst zu nehmender Versuch, die geistige Erfahrung der höfischen Liebe verbindlich auszudrücken.⁷⁷
Offenbar geht es vielmehr darum, dass in beiden Fällen (in Bezug auf die Empfängnis ohne Beiwohnung wie auf das Wohnen im herzen) ein Widerspruch als solcher reflektiert und versprachlicht wird: minne ist ein Phänomen, das die menschliche Fassungs- und Vorstellungskraft übersteigt. Und sie besitzt gerade deswegen eine besondere Dignität. Und nicht nur das: Die Formeln vom Wohnen im herzen und vom herzTausch kreisen um Kriterien zur Bestimmung der eigenen Identität, die jeweils als bedrohte oder prekäre dargestellt wird: Das minnende Ich erlebt sich als fremdbestimmt und gespalten, als ›besessen‹ durch ein ›Du‹, das die eigene Mitte, das eigene Zentrum besetzt und dominiert. Bezeichnenderweise wird dieser Zustand wertfrei geschildert, er ist weder wünschenswert noch leidbesetzt, doch er ist ursächlich für den Verlust der eigenen Identität. Nicht die tiefe, unverbrüchliche minne zwischen zwei Menschen wird in der Formel des ›Wohnens im Herzen‹ thematisiert, sondern die konsequente Weiterentwicklung jenes Zustandes von Selbstverlust, der bereits weiter oben im Konzept des herzen als ›Du‹ erkannt worden ist. Dieses Du ist nämlich kein vertrautes, kein
77 von Ertzdorff: Die Dame im Herzen, S. 10.
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Der Körper im Körper: Das herze
Du, mit dem das ›Ich‹ je verschmelzen könnte. Zwar können Leiber eins werden, doch herzen können es niemals. Sie bleiben immer an eine Person gebunden, auch dort noch, wo Momente größter Innigkeit beschrieben werden wie in einem Tagelied Wolframs, wo die Dame die Einheit zwischen sich und ihrem Geliebten mit den Worten beschwört: »Zwei herze und ein lîp hân wir.« (MF 3,18) Dass die Verwendung der Formel vom Wohnen im herzen auf ein alteritäres Körperkonzept zurückgeht, wie Palmer nahelegt,⁷⁸ scheint mir so eindeutig nicht. Denn zunächst ist von einem anderen Da rstel len nicht unmittelbar auf ein anderes E mpf i nden zu schließen. Zwar legen die Textbelege zum Wohnen im Herzen auch in meinen Augen den Eindruck nahe, dass sie einer ›anders gelagerten Einstellung zur traditionellen Leib-Seele-Thematik‹ entspringen. Doch ich würde diese anders gelagerte Einstellung vor allem darin erkennen, dass die Autoren, die auf die Formel vom Wohnen im herzen zurückgreifen, dies tun, um damit die Frage nach der Identität stellen zu können. Diese Frage wird durch die radikale Erfahrung von minne nicht beantwortet, sondern in ihrer existentiellen Dringlichkeit überhaupt erst aufgeworfen.
3.6 herz-Tausch Weil das herze im Gegensatz zur sêle stofflich ist, eröffnet es der literarischen Gestaltung des Verhältnisses zwischen beiden vielfältige Möglichkeiten. Abgesehen davon, dass es, nicht anders als der restliche Körper, sterblich ist, kann beispielsweise im Gegensatz zur sêle nur das herze den Körper verlassen, um bei dem oder der Geliebten zu weilen. Damit ist es wesentlich besser als die sêle dazu geeignet, (das Verlangen nach) Nähe und Zusammengehörigkeit augenfällig und darstellbar zu machen. Die sêle verharrt stets bei sich selbst, sie hat keine Dynamik, keine Begehrlichkeit und keine Eigenbewegung. Das herze überschreitet demgegenüber die Grenzen der Abgeschlossenheit und Selbständigkeit des Körpers. Es ist der Ort, an dem das Verlassen der Ich-Fokussierung und die Begegnung zwischen Liebenden stattfindet. Die Stofflichkeit und Gegenständlichkeit des herzen bedeutet jedoch auch, dass es – anders als die sêle – dem Leib gegenüber in keiner Weise privilegiert ist: Es ist Fleisch wie er und kann ihn deshalb nicht überdauern, es teilt seine
78 »Könnte es aber nicht sein, daß das körperliche Empfinden von inneren Erlebnissen auf Grund einer anders gelagerten Einstellung zur traditionellen Leib-Seele-Thematik in der Vergangenheit einen anderen Stellenwert gehabt hat als heute?« Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich, S. 215.
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Hinfälligkeit, seine Leidenschaften und seine Sterblichkeit. Dennoch wird die Grenze, die eigentlich zwischen Körper und Seele liegt, auf das Verhältnis zwischen diesem und dem herzen übertragen. Wenn auch ihm zugehörig wird es in der minne-Literatur in aller Regel als sein Gegenüber konzipiert. Seine prinzipielle Verselbständigung gegenüber dem Körper bildet gemeinsam mit der unauflöslichen Einheit, die zwischen ihnen besteht, die Voraussetzung dafür, dass das Verhältnis zwischen dem herzen und dem lîp in immer neuen Variationen der Motive von Selbstverlust und Vereinigung mit dem geliebten Anderen durchgespielt werden kann. Das herze kann, wie bereits erwähnt, den Körper verlassen. Wenn sich dieser Vorgang zwischen zwei Liebenden wechselseitig vollzieht, ist dies ein herz-Tausch. Zunächst scheint er Effekt und Veranschaulichung von gegenseitiger minne zu sein – so zumindest will es der Konsens der Forschung: »Wie in der Lyrik, so ist auch in der Epik der Herztausch beim Abschied eine gern verwendete Chiffre, um die innige Zusammengehörigkeit der Liebenden zu veranschaulichen.«⁷⁹ Es wird anhand ausgewählter Textbelege zu überprüfen sein, ob diese Deutung zutrifft. Der herz-Tausch ist, ebenso wie das Wohnen im herzen, nicht gattungsspezifisch. Er wird in der Epik gleichermaßen beschrieben wie im Minnesang oder der Novellistik des Mittelalters, d.h. überall dort, wo von minne gesprochen wird, kann auch ein herz-Tausch stattfinden. Die mittelhochdeutsche höfische Literatur erfindet die Vorstellung von den Liebenden, die ihre Herzen wechselseitig austauschen, nicht, sondern übernimmt sie: Alle diese Bilder [z.B. ›Das Herz strebt zur Geliebten‹, ›Das Herz wird übergeben‹ oder ›Das Herz weilt bei der Geliebten‹] sind vor dem Minnesang in außerdeutschen Literaturen zu finden. In der arabischen […] und der provenzalischen Lyrik […] gehören sie zum festen Bestand der Liebesmetaphorik. Auch in der lat. Lit. sind die Bilder geläufig.⁸⁰
Ein herz-Tausch findet z.B. im ›Erec‹ Hartmanns von Aue statt: als er wolde rîten und von vrouwen Ênîten dô begunde scheiden, von den gesellen beiden ein getriuwiu wandelunge ergie,
79 Ehrismann: Höfische Wortgeschichten, S. 91. 80 Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens, S. 84.
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Der Körper im Körper: Das herze
unde sage iu rehte wie: der vil getriuwe man, ir herze vuorte er mit im dan, daz sîn beleip dem wîbe versigelt in ir lîbe. (v. 2358–2367)
Der hier beschriebene Tausch ist unproblematisch, er tangiert die (Geschlechts-) Identität der Beteiligten in keiner Weise. Zwar findet eine wandelunge statt, doch sie berührt nicht die Kohärenz der Figuren: Erec bleibt Erec, auch wenn er Enites Herz in sich trägt, sie schenkt das ihre Erec und hat nun das seine in ihrem lîbe. Der herz-Tausch betrifft allein das Verhältnis von herze und lîp. Geschlecht und Identität werden von diesem Tausch nicht berührt. Es ist der Körper, der beides bestimmt, nicht das herze. Erec bleibt auch mit Enites herze in seinem Körper er selbst, so wie sie mit seinem herzen Frau bleibt. Ein komplizierterer herz-Tausch wird in Hartmanns von Aue ›Iwein‹ geschildert. Die Ausgangssituation ist die einer physischen Trennung: Iwein begleitet nach seiner Hochzeit mit Laudine Gawein an den Artushof. Seine Frau bleibt zurück. An diesem Punkt schaltet sich die Personifikation der minne kommentierend in die Erzählerrede ein und weist die Darstellung des Erzählers ›Hartmann‹ mit den Worten zurück: »›dune hâst niht wâr, Hartman‹,« (v. 2982)⁸¹ womit sie darauf besteht, dass von einer faktischen Trennung nicht die Rede sein könne, weil zwischen dem Paar, obwohl es sich (physisch) trennt, keine wirkliche Trennung stattfände. ›Hartman‹ korrigiert sich darauf hin und stellt die Trennungsszene nochmals, und diesmal differenzierter, dar: sî wehselten beide der herzen under in zwein, diu vrouwe und her Îwein: im volget ir herze und sîn lîp, und beleip sîn herze und daz wîp. (v. 2990–2994)
Was geschieht hier? Zunächst erfolgt ein herz-Tausch: Iwein erhält das herze Laudines, sie das seine. Nun befindet sich in Iweins lîp Laudines herze, in ihrem lîbe das seine. Doch der Modus, in dem sich die jeweiligen Identiäten neu konfigurieren, ist geschlechtsspezifisch. Iwein behält eine Identität, die offenbar weder an das herze (welches nun dasjenige Laudines ist), noch auch an seinen lîp gebunden ist. Er besitzt beides gleichermaßen wie Gegenstände, über die er
81 Vgl. zu dieser Textstelle auch: Wolfgang Dittmann: Dune hâst niht wâr, Hartmann! Zum Begriff der wârheit in Hartmanns Iwein. In: FS Ulrich Pretzel. Hrsg. von Werner Besch. Berlin u. a. 1963, S. 150–161.
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verfügt und in denen das ›Er‹, über das der Erzähler spricht, nicht aufgeht. Laudines Identität scheint demgegenüber nicht in gleichem Maße wie die Iweins herze und lîp übergeordnet zu sein. Denn Laudine wird, anders als Iwein, mit ihrem lîbe identifiziert: Das, was Iweins herze umschließt – der lîp – ist sie, ist das wîp. Mit wîp ist folglich Laudines lîp gemeint, umgekehrt ist der lîp das wîp Laudine. Doch nicht nur für Laudine, auch für Iwein ist der herz-Tausch mit einem Verlust verknüpft. Beide verlieren ihre Namen und ihre ständische Identität. Aus dem her Îwein wird ein im, aus der vrouwe wird daz wîp. Zwar könnte man die Wahl des Begriffs mit dem Reimzwang erklären und auf die Parallele beispielsweise in der herz-Tausch-Episode im ›Erec‹ verweisen, die den gleichen Reim aufweist. Doch möglicherweise verbirgt sich hier noch Anderes als Reimzwang alleine. An die Beschreibung vom herz-Tausch schließt sich ein rätselhafter Abschnitt an, in dem sich der Dialogpartner der personifizierten minne über die Vorstellung lustig zu machen scheint, ein Mensch könne ohne Herz weiterleben. Es wird wieder die Doppelkodierung des herzen augenfällig, das auch hier gleichermaßen poetisch-metaphorisch wie auch als konkretes Körperorgan verstanden wird: Dô sprach ich ›mîn vrou Minne, nu bedunket mîne sinne daz mîn her Îwein sî verlorn, sît er sîn herze hât verkorn: wan daz gap im ellen unde kraft. waz touc er nû ze rîterschaft? er muoz verzagen als ein wîp, sît wîbes herze hât sîn lîp und sî mannes herze hât: sô üebet sî manlîche tât und solde wol turnieren varn und er dâ heime daz hûs bewarn.‹ (v. 2995–3006)
Diese Darstellung muss erstaunen. Mit großer Selbstverständlichkeit hatte der Erzähler gerade die Identität Iweins jenseits von herze und lîp angesiedelt, wenn er von ›seinem‹ (wessen?) herzen und ›seinem‹ lîbe gesprochen und dadurch beiden gegenüber ein selbständiges Drittes eingeräumt hatte, das ihnen gleichsam als ›er‹, als ›Iwein‹, übergeordnet bleibt. Der Erzähler selbst hatte also eine Trennung durchgeführt, die er nun bestreitet und zurücknimmt, wenn er suggeriert, dass die Identität Iweins auf dem Spiel stehe, nachdem er sich zugunsten Laudines von seinem eigenen herzen getrennt habe. Der Erzähler problematisiert dabei nicht alleine, dass eine Figur ohne herze eigentlich nicht leben kann, sondern geht auch auf den Sachverhalt ein, dass Iwein nun Laudines herze
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in seiner Brust hat, was ihn zu der Befürchtung veranlasst, dass Iwein nun, mit einem Frauenherzen ausgestattet, wohl das Haus hüten müsse, während Laudine mit ihrem männlichen herzen Turniere austragen könne. Er legt damit nahe, dass das herze nicht nur das Zentrum von Affekten sei, sondern auch Sitz des Geschlechts – ein weibliches herze macht einen Mann zur Frau und umgekehrt. Das herze also definiert hier das Geschlecht,⁸² nicht der lîp: waz touc er [Iwein] nû ze rîterschaft? er muoz verzagen als ein wîp, sît wîbes herze hât sîn lîp und sî mannes herze hât: sô übet sî manlîche tât und solde wol turnieren varn und er dâ heime daz hûs bewarn. (v. 3000–3006)
Diese Schlussfolgerung, die komisch wirken mag, entsteht dadurch, dass ›Hartmann‹ und seine Gesprächspartnerin ein Missverständnis inszenieren und spielerisch aneinander vorbeireden, indem sie sich auf das herze in der selben Weise beziehen, wie es moderne Interpreten tun: Sie fassen es entweder nur als Körperorgan, also in seiner Fleischlichkeit und Gegenständlichkeit auf oder nu r in seiner Bedeutung als »Chiffre [für] die innige Zusammengehörigkeit der Liebenden.«⁸³ Beide Lesarten verfehlen jedoch gleichermaßen das, was sich im herz-Tausch vollzieht: »Das wörtliche Mißverständnis des Herzenstauschs dient nicht dazu, in die Metaphorizität der Rede von inneren Vorgängen einzuüben, denn es setzt diese schon voraus, profiliert sie aber vor dem Hintergrund eines anderen möglichen, ›naiveren‹ Verstehens. Nur dann hat das Spiel seinen Reiz.« ⁸⁴ Die minne hat folglich Recht mit dem Hinweis, dass sie die Kraft verleihe, »daz ofte man unde wîp / habent herzelôsen lîp / und hânt ir kraft doch deste baz.« (v. 3017–3019) Und der Erzähler hat Recht, wenn er darauf besteht, dass es ein Wunder sei, wenn Männer und Frauen in der Lage seien, ohne herze weiterzuleben:
82 Vgl. dazu auch das Kapitel ›Stärke und Schwäche‹ des Herzens bei Heimplätzer: Die Metaphorik des Herzens. Dort führt er zahlreiche Belege aus dem Minnesang an, die illustrieren, dass auch dort das Herz das Geschlecht konstituiert. 83 Ehrismann: Höfische Wortgeschichten, S. 90. 84 Müller: Höfische Kompromisse, S. 356, hier aber auf den Eneas-Roman bezogen.
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do engetorst ich vrâgen vürbaz: wan swâ wîp unde man âne herze leben kan, daz wunder daz gesach ich nie. (v. 3020–3023)
Nur wo beide Bedeutungen von herze, die hier (wie auch im Gespräch zwischen Beatrise und Wilhelm) auseinanderfallen, überblendet werden, wird deutlich, welche Funktion der herz-Tausch für die Geschlechteridentiät hat. Die Befürchtung des Erzählers, dass Iwein zur Frau und Laudine zum Mann werden könnte, widerspricht auf eklatante Weise dem, was der Erzähler zuvor gesagt hat. Hatte er selbst doch nach dem herz-Tausch unbeirrt von ›ihm‹ (Iwein), und ›ihr‹ (Laudine), gesprochen. So sollen seine Überlegungen und Provokationen wohl auch keine Antwort auf die Frage geben, wo die (Geschlechts-)Identität ihren Sitz habe, was Identiät begründe und wie sie zu verlieren oder zu bewahren sei, sondern sie vielmehr nur aufwerfen:⁸⁵ Frau Minne erklärt nicht, warum ›herzelôse‹ Körper trotzdem ihre Kraft behalten. Sie löst die Metapher auch nicht auf, indem sie die übertragene Bedeutung der Redeweise thematisiert, sondern beharrt ohne Rücksicht auf Verstöße gegen Realistik und Plausibilität auf eine Gültigkeit jenseits der Paradoxie. In der Konsequenz bedeutet dies: Die Meisterschaft der Minne ist unhinterfragbar, und es ist gerade diese Unergründbarkeit mit den Mitteln des Verstandes, die die literarische Wirkung von Metaphern wie der des Herzenstauschs ausmacht.⁸⁶
Ein weiteres Mal wird deutlich, was weiter oben bereits angesprochen wurde: Wo der herz-Tausch und das Wohnen im herzen thematisiert werden, geht es nicht allein und vielleicht nicht einmal primär um minne, vielmehr wird die Frage der Identität verhandelt, werden Instanzen und Ebenen der Identität diskutiert – und damit auch Geschlechtsidentitäten:⁸⁷ Außerdem – doch dieser Aspekt soll nur angedeutet werden, weil er in eine andere als die hier verfolgte Richtung weist – werden der Status von Rede und ihr Geltungsanspruch problematisiert.
85 Deswegen gilt in meinen Augen gerade nicht, dass sich »das Spiel mit den unterschiedlichen Bedeutungen poetischer Rede […] rational auflösen« lässt. Müller: Höfische Kompromisse, S. 359. 86 Linden: Körperkonzepte jenseits der Rationalität, S. 259. 87 Vgl. hierzu auch Müller: Höfische Kompromisse, S. 358: »Der leiblich anwesende Iwein reitet weg, aber ohne sein Herz, vielmehr mit ihrem; die leiblich anwesende Laudine bleibt mit seinem zurück. Wer reitet dann aber weg? Wer ist dieser er, dem ir herze und sîn lîp folgen? Iwein? Offenbar gibt es eine Ich-Instanz jenseits von herze und lîp. Aber was ist dieser Iwein nicht nur ohne sein herze, sondern, der Formulierung zufolge, auch abzüglich seines lîp […]?« Hervorhebungen im Original.
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Denn die minne und der Erzähler reden ja gerade deshalb aneinander vorbei, weil sie einen anderen Sprachgebrauch pflegt als er: Sie bewegt sich mit ihren Aussagen im Diskurssystem der fiktionalen Literatur, dem er sich mit seinem Beharren auf dem Faktischen entzieht. Kommen wir auf das Verhältnis zwischen herze und Geschlecht zurück. In Ulrichs von Eschenbach ›Alexander‹-Roman steht mit der Tapferkeit auch die Männlichkeit des herzen im Vordergrund: »sîn menlich herze, daz er truoc, / ze allen zîten des gewuoc / daz ze manheit hôrte.« (v. 4641–4643) In der ›Rabenschlacht‹ artikuliert sich die Geschlechtlichkeit des herzen unterschwellig in der Aufforderung, ein männliches (und damit eben kein weibliches oder ›weibisches‹) herze zu haben: »›Nû habt manlich herze / und unverzagten mt‹.« (Str. 527,1f.)⁸⁸ Ulrich von Türheim greift im ›Rennewart‹ diesen Topos im Gespräch zwischen Willehalm und Rennewart auf, allerdings ohne ihn dabei explizit mit dem herz-Tausch in Verbindung zu bringen: Rennewart hat Alyze geheiratet. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht unterhält er sich mit Willehalm, der dem Brautpaar einen Besuch abstattet. Rennewart versucht Willehalm gegenüber seinen neuen Zustand der Vereinigung mit Alyze zu beschreiben: ›uns hat got daz heil gegeben daz ich bin sie und sie ist ich.‹ – ›Rennewart, vil lieber, sprich: bistu zu Alysen worden und hast verlorn den mannes orden? daz mz mir ymmer me shaden. Rennewart, rche her wider laden dins herzen manlichen mt. Alyse nymmer slag gett, wie sie anders nu gevar.‹ (v. 5404–5413)
Im Gegensatz zum herz-Tausch im ›Iwein‹ verändert zwar die minne (die womöglich hier einen herz-Tausch bereits impliziert) die Identität einer Figur so stark, dass Rennewart in Bezug auf sich selbst von vertauschten Identitäten spricht und Willehalm ihn als Alyze bezeichnen muss (»›bistu zu Alyzen worden‹«). Offenbar determiniert das herze zwar die Geschlechtsidentität, aber doch nicht so eindeutig, dass Rennewart Willehalm als Alyze antworten würde. Resultat des Identitätsverlustes, den die minne hier herbeigeführt hat, ist eine Vermischung und Verunklarung der Geschlechtszugehörigkeit, so dass der Mann zwar nicht
88 Die Rabenschlacht. Hrsg. von Elisabeth Lienert und Dorit Wolter. Tübingen 2005. (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Dietrichepik 2)
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mehr ritterlich kämpfen kann, die mit seinem ritterlichen herzen ausgestattete Dame aber nicht an seine Stelle zu treten vermag, weil sie eben doch noch eine Frau ist, und das ist sie, weil sie den Körper einer Frau hat: »›Alyse nymmer slag getuot, wie sie anders nu gevar.‹« Anders als Laudine, die nach dem Tausch der herzen Turniere austragen könnte, findet hier kein angedeuteter Rollentausch statt, sondern nur der Verlust von männlicher Kampfkraft. Solche Darstellungen der geschlechtsbestimmenden Funktion des herzen sind keine Seltenheit. Auch in Herborts von Fritslar ›Liet von Troye‹ geraten die Geschlechtsidentitäten der Figuren ins Wanken, wenn die minne ihnen ihre herzen raubt. Medea, die Jason verfällt, nimmt die entstehende minne als Entgrenzung und Transformation in den Gegenstand ihrer minne wahr, während sie Jason in sich selbst, nämlich Medea, transformiert sieht. Sie beklagt diesen Ich-Verlust mit folgenden Worten: ›Wie ist mir armen geschen Man mag wunder an mir sehen Mich dunket daz ich Iason si Vnd eines andern dabi Daz Iason si ich Daz ist auch wunderlich Wen er ist hie ich bin da Bin ich medea Vnd hat Iason minen sin So weiz ich wol daz ich zwei bin Daz engeschuf got nie Bin ich da und er hie Wie solde ich danne genesen Des mvz ich iedoch Iason wesen Bin ich Iason so bin ich ein man War vmbe quele ich arme dan Daz ich selbe werde min Die rede was rvwic sin.‹ (v. 855–872)
Zwar wird der herz-Tausch hier mit keinem Wort erwähnt, aber das muss er wohl auch nicht, da das bereits konventionalisierte Erzählmuster als bekannt vorausgesetzt werden darf. Zudem ist der eigentliche Punkt des Tausches hier noch nicht erreicht, denn Medea kann noch nicht wissen, dass Jason ihre minne erwidert. Was sie erduldet, sind also nicht Schmerzen der Trennung, die üblicherweise den herz-Tausch herbeiführen, sondern solche der Ungewissheit und der quälenden minne. Hier – wie auch an anderen Stellen im ›Liet von Troye‹ – macht sich minne durch die Erfahrung von Identitätsverlust bemerkbar. Ein Tausch der herzen ist hierfür gar nicht zwingend erforderlich. So verfällt Achilles in minne zu Poli-
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Der Körper im Körper: Das herze
xena, der Tochter von Priamus. Nach und nach wird er krank und schwächlich und verliert mit der Männlichkeit auch seine Identiät: Die selbe maget im nam Daz beste daz er hete Sterke vnd stete Im half mannes herze niet Sint er dar ane geriet Daz in des duchte Daz ir varwe luchte Gliche wol der svnnen Im was gar entrunnen Der tugende der er ie gwan Vnz dar was er gewesen ein man Do zv ginc im der manheit Er bleip in einer cranheit. (v. 11160–11172)
Bezeichnenderweise spricht Achill in seiner Klage den Verlust seiner Kampfeskraft, den er durch die minne erleidet, explizit an. Er wird nicht nur krank, sondern er hat sein männliches herze und damit seine männliche Stärke verloren: ›Ich mac mich harte wol schamen Daz mir durch eines wibes namen Mannes herze ist engan Ich forchte ich mvzze den namen han Daz ich heizze ein wibe tore.‹ […] ›Daz min mvnt nie gesprach Noch min ouge nie gesach Noch min ore nie vernam Vn in minen mvt nie quam Daz ist in hone wis mir kvmen Vn hat mir selber mich benomen Vn eime andern gegeben Swie sere ich dar ane streben Daz ich wider werde min So mvz ich doch der frowen sin Die min deheine achte hat.‹ (v. 11177–11203)
In diesem Fall ist es nicht das weibliche herze, das den Identitätswechsel des Mannes herbeiführt, sondern der Verlust des männlichen herzen durch die minne. Ob ein Mann das seine gegen das der Geliebten eintauscht oder ob er es verliert oder verschenkt, macht für die Krise, die der Verlust des herzen nach sich
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zieht, offenbar keinen Unterschied. Doch so deutlich diese Krise auch sein mag, sie stellt kaum je in Frage, dass die männliche Identität an den lîp geknüpft ist. So ähnlich die Formulierungen bei der Beschreibung des herz-Tausches auch sein mögen, in Bezug auf die Formeln, die ihn, seinen Ablauf und seinen Effekt beschreiben, herrscht in der Literatur doch bei Weitem keine Einigkeit. Während die Personifikation der minne im ›Iwein‹ noch betont hatte, dass sie es den Liebenden ermögliche, ohne herze zu leben und dabei doch keinen Mangel zu leiden (»und hânt ir kraft doch deste baz,« v. 3019), so trifft das auf Pleiers ›Meleranz‹ gerade nicht zu: Er hat sein herze an eine Dame verloren und leidet ganz offenkundig unter dem daraus resultierenden Zustand der ›Herzlosigkeit‹. Deshalb versucht er seine Dame dazu zu bewegen, ihm im Wechsel das ihrige zu überlassen: ›mîn herze hât ze iu gesworn: frowe, daz habt ir bî iu hie. ich gefriesch grœzer wunder nie: ir habt mîn herze mir benomen. frowe, ez wil von iu niht komen, des sult ir mir iur herze geben. lât mich niht âne herze leben; wehselt mit mir, frowe mîn. iur herze lât mîn herze sîn, mîn herze ist iuwer herze gar.‹ (v. 4020–4029)
Der Erzähler in Hadamars von Laber ›Jagd‹ geht sogar so weit, sich selbst aufgrund seiner ›Herzlosigkeit‹ als minne-Untoten zu beschreiben: »›wie sol ein lebendiger tôter / sîn ding anfâhen und aber furbaz leben?«‹ (123,6f.)⁸⁹ Wenig später greift er dieses Motiv nochmals auf, wenn er sagt: »›Swer mich wil rehte nennen, / der sol mich heizen den lebendigen tôten‹.« (363,6f.) Diese Formulierung erinnert an das Kreuzlied Friedrichs von Hausen. Dort hatte das Ich beklagt, dass es kein »lebendic man« (MF 47,21) mehr sei. Diese Aussage war hier jedoch auf den lîp bezogen worden, der mit der Fomulierung lebendic man den Zustand eines Körpers bezeichnet, der sein herze verloren hat. Auch der Sachverhalt, dass es stets der lîp ist, der die Trennung vom bzw. den Verlust des herzen beklagt, niemals aber das herze, das seinen lîp vermisst, deutet darauf hin, dass der Erzähler (bewusst oder unterschwellig) die Perspektive des lîbes einnimmt und sich – allen identitätsstiftenden Kräften des herzen
89 Hadamar’s von Laber Jagd. Hrsg. von Johann A. Schmeller. Amsterdam 21968. (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 20)
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Der Körper im Körper: Das herze
zum Trotz und obwohl es (wie im nächsten Textbeispiel) als mîn der beste teil bezeichnet wird – mit ihm, nicht mit dem herzen identifiziert. Aufmerksamkeit verdient im Beispiel des ›Meleranz‹ (abgesehen vom Vorgang des Tausches) auch die Bewertung des Vorgangs als Wunder: ich gefriesch groezer wunder nie (v. 4022); ganz geheuer scheint dem Liebenden also nicht zu sein, was mit seinem herzen geschieht – hier etwa bei Reinmar von Brennenberg: ich bin mit ganzem lîbe enzwei geteilet wunderlîche: da ich halber bin, dâ wænet man mich ganzen sehen, und siht doch nieman dâ mîn ist daz beste sicherlîche. diu liebe hât daz herze mîn, dast mîn der beste teil, der stæte muoz bî ir belîben. sô trage ich lîbeshalp den schîn den liuten vor in ganzer schouwe, mannen unde ouch wîben. nu sprechet an, wer wart alsus geteilet ie? jâ bin ich leider ganzer weder dort noch hie, und bin doch endelîche beide hie und dâ. der mich nu suochen solte, wie wold er mich vinden oder wâ? (IV 9,2–12)⁹⁰
In diesem Zitat spricht sich pointiert aus, was latent in jeder poetischen Ausgestaltung des herz-Tausches und des Wohnens im Herzen angelegt ist, nämlich das Motiv der Pluralisierung von Ich-Aspekten und -Rollen, von Ich-Gefährdung und Ich-Verlust. Entscheidend ist, dass das Verhältnis zwischen lîp, herze und ich ein dynamisches ist. Die Rollen und Funktionen scheinen unter ihnen zu wechseln, eine klare Abgrenzung zwischen lîp und herze wird nicht hergestellt oder sogar vermieden, genauso wie eine zwischen herze und ich oder zwischen lîp und ich. Die Darstellung des herz-Tausches und des Wohnens im herzen dokumentieren »eine reflektierte Irrationalität«⁹¹ von minne: »Hier wird nicht etwa eine Mehrdeutigkeit der Sprache durch eine Eindeutigkeit des Körpers festgelegt und verständlich gemacht, vielmehr ist die Eindeutigkeit der fiktionalisierten Körperbilder nur eine vermeintliche.«⁹² Dass der Verunklarung der Grenzen zwischen diesen Instanzen auch noch zugearbeitet wird, indem beispielsweise das herze im Dialog mit dem lîbe auf seinen (eigenen) lîp verweist oder indem das ich vom herzen als lîp angesprochen wird oder dieser aufgefordert wird zu handeln, Als ain redlich hertz sol wie im
90 Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus, Bd. I ›Texte‹. Tübingen 1952, 2. Aufl. 1978. 91 Linden: Körperkonzepte jenseits der Rationalität, S. 264. 92 Linden: Körperkonzepte jenseits der Rationalität, S. 266f.
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Falle des Dialogs zwischen herze und lîp aus dem Liederbuch der Clara Hätzlerin, scheint mir weder Zufall, noch Zeichen von Achtlosigkeit zu sein. Denn solcherlei Ungenauigkeiten sind auch bei Autoren wie Hartmann von Aue anzutreffen, dessen Texte gemeinhin mit den feinsinnigsten Interpretationen belastet werden. Und selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Widersprüche in der Konzeption des Verhältnisses zwischen herze, lîp und der Instanz ›Ich‹ sich darauf zurückführen ließen, dass die Autoren kein Interesse an einer sorgfältigen und genauen Auseinandersetzung mit den Kategorien herze, lîp und ich hatten, so drängte sich doch die Frage auf, warum sie überhaupt ins Spiel gebracht werden, wenn ihnen dann so wenig Differenzierungsinteresse gilt. Die konzeptionelle Offenheit der Kategorien lîp, herze und ich, ihre Beweglichkeit und Unfestigkeit, scheint kalkuliert zu sein. Zumindest eröffnet sie sprachliche und erzählerische Spielräume. Das muss nicht, könnte aber ihre Ursache sein. Denn gerade sie erlaubt eine Diskursivierung der Pluralität von Instanzen des ›Inneren‹, die sich zu keinem Kern, keinem Zentrum verdichtet, sondern immer neue Konstellationen ausbildet und durchspielt. Offenbar soll die Spannung, die so entsteht, nicht zu einem kohärenten und konsensuellen Modell des ›inneren Menschen‹ verfestigt, sondern in stetiger Dynamik gehalten werden. In der Formel von herze und lîp artikuliert sich deshalb nicht das Verhältnis, in dem das herze zum lîp steht, vielmehr thematisiert sie ein Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Spaltung, Zusammengehörigkeit und Entfremdung, Identität und Identitätsverlust. Im Rahmen des minne-Diskurses wird diese in aller Regel in der Formel von herze und lîp verhandelt, doch es stehen, vor allem dort, wo es nicht primär um minne geht, auch andere Modelle dazu zur Verfügung. Die vestimentäre Metaphorik von Körper und Kleid ist eines davon.
4 Die Gestalt des Ungegenständlichen im Tropus 4.1 Die vestimentäre Metaphorik von ›Körper‹ und ›Kleid‹ Mit der Metaphorisierung von Innen und Außen zu Körper und Kleid kommen wir zurück auf jene augustinische Position zu Körper und Seele, die im Einführungskapitel skizziert worden ist und die dort als eine dualistische charakterisiert wurde: Die Seele ist in den Körper hineingesetzt, um sich seiner zu bedienen, solange sie in ihm eingeschlossen ist. Der Körper bleibt der Seele äußerlich – sie ist das Leben, er hingegen der Tod, sie ist ein Abbild Gottes, er hinfällige Materie. Körper und Seele durchdringen sich aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit nicht zu einem hylemorphistisch verstandenen, ei nen Menschen, sondern bilden selbständige Substanzen. Das Verhältnis zwischen ihnen veranschaulicht Augustin in der Metapher von Körper und Kleid: Wie eine äußere Hülle, wie ein Gewand, umschließt der Körper die Seele, und so wie der von einem Mantel Umschlossene mit diesem keine Einheit bildet, sondern die Verbindung beider nur solange anhält, bis der Mantel wieder abgelegt wird, so benutzt die Seele den Körper während der Zeit ihres Erdendaseins. Die Kleider-Metapher wird auch im Mittelalter zur Darstellung der Beziehung von Körper und Seele herangezogen, ist aber nicht auf sie festgelegt. Die Metapher eignet sich zur Illustration eines jeden Verhältnisses von Innen und Außen und findet auch in der volkssprachigen höfischen Literatur Verwendung. Das muss zunächst irritieren, denn die ›höfische Anthropologie‹ hat mit dem augustinischen Dualismus und seiner latenten Leibverachtung kaum irgend eine Gemeinsamkeit. Tatsächlich ist aber gerade dieser Sachverhalt wohl ursächlich dafür, dass sie sich vordergründig des Dualismus von Innen und Außen bedient. Sie tut es – das ist die These, die ich im Rahmen dieses Kapitels entwickeln werde – um ihn zu dekonstruieren, indem sie die Trennung von Körper und Seele zwar nicht in eine Einheit überführt, aber durch eine subtile Pluralisierung spielerisch erweitert. Die Gewandmetapher ist wesentlich komplexer und von der Bildsprache her anspruchsvoller als die bloße Gegenüberstellung von Innen und Außen. Doch obgleich ihr Aufbau komplizierter ist als diese, bleibt das Verhältnis von Innen und Außen auch hier weitgehend unbestimmt, insofern durch den Kontext festgelegt wird, wie die offenen Positionen ›Kleid‹ und ›Körper‹ jeweils zu besetzen sind: Das Kleid kann Metapher sein beispielsweise für die Tugendhaftigkeit einer Figur, aber auch die ganze Figur in ihrer Gesamtheit meinen oder auch nur ihren Leib. Die gängigste Analogie ist die von Leib und Gewand wie hier, in der dritten Strophe von Walthers von der Vogelweide Lied ›Ob ich mich selben rüemen sol‹:
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Vrowe, ir hânt ein werdez tach an iuch gesloufet, den reinen lîp, wan ich nie bezzer cleit gesach. ir sint ein wol becleidet wîp: Sin und sælde sint gesteppet wol dar in. getragene wât ich nie genan: dise næme ich als gerne ich lebe. der keiser wurde ir spileman umbe alse wunneclîche gebe. dâ, keiser, spil! nein, hêrre keiser, anderswâ! (L 62,36–63,7)
Zunächst wird eine Diskrepanz eingeführt zwischen dem, was als die Dame, also als ›vrowe‹ angesprochen wird und dem, was von ›ihr‹ unterschieden wird, nämlich ihrem ›reinen lîp‹. Diese beiden, lîp und Dame, sind folglich nicht identisch, sondern narrativ gegeneinander abgegrenzt und begrifflich voneinander unterschieden – die Dame ›hat‹, sie ›besitzt‹ einen Körper, der sie kleidet, ziert, umschließt und umhüllt. Was ›sie‹ ist, wenn sie, wie es offenkundig der Fall ist, als selbständig gegenüber ihrem eigenen Leib gedacht wird, bleibt die ganze Strophe über unklar – mit keinem Wort wird hier die Seele genannt oder auch nur angedeutet, obwohl die Abgrenzung vom Leib unmittelbar die Vorstellung der Seele nahe legt, denn was sonst sollte es sein, was hier dem Körper gegenübergestellt wird und was durch den Körper umhüllt, geschützt und ›eingekleidet‹ wird, wenn nicht sie? Eine der Pointen der Strophe besteht jedoch darin, dass das Ich genau diese Hülle, diese ›Äußerlichkeit‹ der Dame, ihren ›gebrauchten‹ Körper, zum Ziel seiner Werbung macht. Er ist das, was selbst den Kaiser zum Spielmann machen könnte und das Ich zum Lohnheischenden, der erstmals und ausnahmsweise getragene Kleidung erbittet. Indem Walther den Körper einerseits als das Äußere eines ›Eigentlichen‹ (nämlich der Dame selbst) imaginiert, diese Hülle aber in der Imagination zum Ort von sin und sælde macht, tritt die Grundvoraussetzung der Liedaussage, mit der er seine Strophe eröffnet, nämlich die einer Tren nu ng zwischen Körper und Identität, sukzessive in den Hintergrund. Walther gelingt es innerhalb einer einzigen Strophe, an dem, was auf der einen Seite als getragene wât herabgesetzt wird, das hervorzuheben, was so kostbar erscheint, dass es jede Erniedrigung wert ist. Die anfänglichen Konnotationen des Körpers als Äußerlichkeit und überdies getragen und ›abgetragen‹ werden also nicht zurückgenommen. Der Körper bleibt bis zum Ende der Strophe cleit, mithin äußerlich, und getragen, also minderwertig. Doch als ih r Körper, als der Körper der Dame, wird er von der getragene[n] wât (und a ls getragene wât) zur wunneclîche[n] gebe. Die Verwendung der Kleider-Metapher ist hier jedoch allein aus dem Gattungsbezug heraus zu verstehen. Denn Walther verknüpft zwei verschiedene
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Konzepte von lôn, die zwei Textsorten entstammen, nämlich dem Minnesang auf der einen und der Spruchdichtung auf der anderen Seite. Sie werden anhand des je erbetenen Lohnes differenziert, nämlich dem profanen materiellen Lohn des Sängers (nämlich getragene Kleidung) im Falle des Spruchdichters¹ und dem minne-lôn, um den der Werbende im Minnesang bittet, hier verdichtet im Bild des Körpers, den die Dame dem Ich schenken soll. Dabei ist die Hierarchie unverkennbar, die zwischen beiden besteht, denn die Bitte um wât wird in der Literatur als etwas dargestellt, das den Heischenden herabsetzt, weil sie im Minnesang ausgespielt wird gegen die Bitte um immateriellen Lohn, nämlich die minne – wie hier in zwei Strophen, die Gedrut, beziehungsweise Geltar zugeschrieben werden: Man singet minnewîse dâ ze hove und inme schalle: so ist mir sô nôt nâch alder wât deich niht von frouwen singe. mir wærn viere kappen lieber danne ein krenzelîn. mir gæbe ein herre lîhter sînen meidem ûz dem stalle dann obe ich alse ein wæher Flæminc für die frouwen dringe. ich wil bî dem wirte und bî dem ingesinde sîn. ich fliuse des wirtes hulde niht, bit ich in sîner kleider: sô wære im umbe ein überigez hübschen michel leider. gît mir ein herre sîn gewant, diu êre ist unser beider. slahen ûf die minnesenger die man rûnen siht. (Gedrut – Geltar II, 1–10)²
Die Polemik der beiden Strophen ist unübersehbar. Das Ich grenzt sich gegen die Süßholz raspelnden und selbstgefälligen Minnesänger explizit ab und wünscht ihnen Prügel an den Hals. Der polemische und ironische Effekt resultiert hier aus der Gegenüberstellung von nôt nach alder wât und dem singen von frouwen: Frauendienst kann sich nur leisten, wer nicht friert und hungert. Doch wer die Unbill der rauhen irdischen Existenz erfahren muss, sehnt sich nach einem Mantel, nicht nach einem Kranz. Durch die Konfrontation mit Hunger, Kälte und Not werden so die Topoi des Minnesangs der Lächerlichkeit preisgegeben, denn aus der Perspektive dessen, dem das Nötigste fehlt, stellt sich das feinsinnige Spiel um Werbung und Zurückweisung der Minnesänger als ein überigez hübschen dar, der Sänger selbst als ein wæher Flæminc, der sich auf anzügliche und frivole Weise bei den Damen
1 Vgl. hierzu auch: Berenike Krause: Die milte-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Frankfurt a.M. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 9). 2 In: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts.
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einschmeichelt und so viel eher den Zorn des Hausherrn erregen muss als der, der ehrlich um seine abgelegte Kleidung bittet. Doch die eigentliche Pointe der Polemik resultiert nicht aus der Konfrontation von krenzelîn und kappe oder minne und wât (und damit den Rollen von Minnesänger und Spruchdichter), sondern aus der Übertragung der klassischen Minnesangmotive (singen, krenzelîn, hulde) aus der Sphäre der schwerelosen Rollen- und Variationskunst Minnesang in den Kontext einer von irdischer Entbehrung und Not gekennzeichneten Welt (die als solche freilich nicht weniger typisiert und stereotyp ist als die des Minnesangs selbst). Nicht um die Denunziation des Minnesangs als weltfremdes und selbstbezügliches Ideal durch den Verweis auf die Härten des irdischen Lebens geht es hier, sondern um den komischen Effekt, der daraus resultiert, dass poetisches Sprechen nicht als solches verstanden, sondern literal gedeutet wird. Die Werbung um die Dame wird nur durch einen Rezipienten, der sie nicht als literarisches Spiel, sondern als Schmeichelei ver- und damit missversteht, zum überige[n] hübschen und zum dringe[n] für die frouwen, das die Eifersucht des Ehemannes erregen kann. Der Dumme ist hier nicht der verblasene Minnesänger, sondern das törichte Ich des Liedes selbst, das den Geltungsanspruch des Minnesangs auf komische Weise verkennt.³ Es sind also zwei konkurrierende, aber gleichermaßen literarische Milieus, aus denen die Motive der Werbung um minne und der um wât in Walthers Lied stammen. Wât und minne sind beide überwölbt von der literarischen Stilisierung, auf die Walther bereits damit anspielt, dass er beide in einem Atemzug nennt und nebeneinander stellt: Nicht nur die Bitte um Gewährung des minne-Lohnes, sondern auch die Kleidung, mit der der Spruchsänger belohnt wird, sind literarische Topoi, die nur verschiedenen Rollen zugeordnet sind. Das Publikum entlohnt den Sänger durch Kleidung, die Dame soll durch ihre minne lohnen. Wenn Walther über das Motiv der wât innerhalb einer einzigen Strophe den Lohn des Sängers mit dem des Werbers verknüpft, so deutet er an, dass beide Rollen bereits in der (Selbst-)Reflexion des Minnesanges vermittelt und dieser Reflexion auch verfügbar sind.⁴
3 Ein ganz vergleichbarer literarischer Effekt liegt in der Epik dort vor, wo zwei Figuren (beispielsweise der Erzähler und die Personifikation der minne im Falle des ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, v. 2971ff.) über den herz-Tausch in Streit geraten und darüber diskutieren, wie wörtlich der Tausch der herzen zu verstehen ist. Vgl. hierzu das Kapitel ›herz-Tausch‹. 4 Zumal natürlich auch der Minnesänger, mag er singen, wovon er will, entlohnt werden will, so dass sich auch bei ihm die Bitte um profanen lôn und minne überlagern. Vgl. zum minne-Konzept in der Spruchdichtung: Margreth Egidi: Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung.
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Diese kunstvolle Überblendung von liedexterner und liedinterner Lohnbitte, von Bitte um profane und ideelle Erhörung, wird von Walther zugunsten der minne aufgelöst: »getragene wât ich nie genan: / dise næme ich als gerne ich lebe,« denn der Lohn, der hier erbeten wird, setzt nicht herab und würde sogar den Dienst des Kaisers rechtfertigen. Dass jedoch dieser imaginierte kaiserliche Dienst, nachdem zu ihm ermuntert, ja sogar aufgefordert worden ist (»dâ, keiser, spil!«) zurückgewiesen wird (»nein, hêrre keiser, anderswâ!«), verleiht der Strophe eine ganz neue Wendung, die aus den Heische-Logiken ausbricht. Den kaiserlichen Dienst kann nichts übertreffen. Bittet das Ich darum, dass der Kaiser sich an anderer Stelle engagieren möge, so zeigt es an, dass es diesen Lohn selbst gegenüber dem Kaiser noch für sich beansprucht, ohne diesen Anspruch aber durch Dienst oder Rang begründen zu können. Es ist folglich ein begründungsloser Anspruch, der sich allein auf die minne bezieht und sich allein durch sie rechtfertigen kann – eine minne allerdings, die auch (oder gerade) in der Reflexion ihrer Bedingungen immer literarische minne bleibt. Das Beispiel dieser Strophe macht bereits deutlich, wie sehr die Gegenüberstellung und Verknüpfung von Körper und Kleid sich für eine Diskursivierung des Verhältnisses von Innen und Außen anbietet. Sie kann einerseits gattungsspezifisch eingesetzt werden wie bei Walther, der sie dazu nutzt, das Verhältnis von außerliterarischer und innerliterarischer Sängerrolle zu thematisieren. In ihrem Kern, also in ihrer Formelhaftigkeit, ist das literarische Muster der Gegenüberstellung von Körper und Kleid jedoch gattungsübergreifend. Von allen mittelalterlichen Autoren der Erzählliteratur bedient sich Gottfried von Straßburg wohl am ausgiebigsten und differenziertesten dieses Musters: Im ›Tristan‹ wird nicht allein der Körper der Figur zum Gewand, sondern die ganze Figur. Als Tristan beispielsweise in der Gandin-Episode die entführte Königin durch eine List erfolgreich zurückgewonnen hat, verspottet er den betrogenen Spielmann, indem er seine ›Beute‹ Isolde als den ihm von Gandin für seinen Dienst in Aussicht gestellten Lohn, nämlich Kleidung, adressiert: ›ir truget, nu sit ouch ir betrogen; Tristan der hat iu nach gezogen, biz daz er iuch beswichen hat. vriunt, ir gebt riliche wat. ich han daz beste gewant, daz ich in dem gezelte vant!‹ (v. 13417–13422)
Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob. Heidelberg 2002. (Germanisch-romanische Monatsschrift / Beiheft 17)
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Diese Gewand-Metaphorik begegnet an vielen Stellen im Text und erlangt stellenweise die Funktion eines regelrechten Leitmotivs. Auch Brangäne metaphorisiert vor den Jägern, die Isolde gedungen hat, um sie töten zu lassen, Isoldes Körper und ihren eigenen (oder: sich selbst und Isolde), den sie ihrer Herrin nur zögerlich für deren Betrugsmanöver an Marke überlassen hatte, als Kleidung, nämlich als unbenutztes, reines Hemd. Indem sie solchermaßen übertragen darüber spekuliert, was Isoldes Zorn ihr gegenüber heraufbeschworen haben könnte, spricht sie den Betrug, den Tristan, Isolde und sie in der Hochzeitsnacht an Marke verübt haben, aus, ohne dabei jedoch die Wahrheit preiszugeben. Während Brangäne ihr unbenutztes Hemd (also ihren jungfräulichen, unberührten und reinen Körper, sich selbst) geschont und aufgespart habe, habe Isolde das ihre (ihren Körper, sich selbst) auf der Fahrt von Irland ins Land König Markes vorzeitig benutzt und so abgetragen: ›do wir do kamen uf den se her wider lant uf unser vart, so heiz ir von der sunnen wart, daz si vil selten in den tagen an ir iht kunde vertragen niwan ir hemede al eine, daz wize, daz reine: sus liebet ir daz hemede an. do siz üeben began, biz daz siz über üebete, sine wize gar betrüebete, do hæte aber ich daz mine heinliche in minem schrine in reinen wizen valten verborgen unde behalten.‹ (v. 12812–12826)
Mit dieser Metapher wird auf geistliche Konzeptualisierungen angespielt, die den Körper des Menschen als von Gott verliehenes Kleid darstellen. Gerade in dieser Vorstellung manifestiert sich der Leib-Seele-Dualismus ganz besonders plastisch. Wo der Mensch als Seele dargestellt wird, die von einem stofflichen Gewand umgeben ist, wird seine substantielle Zweiteilung unterstrichen: Der Mensch selbst ist etwas Unkörperliches, das erst nachträglich und sekundär mit dem Leib versehen wird. Was den Menschen ausmacht, steht in dieser dualistischen Konzeption zweifelsfrei fest: Es ist nicht die Ein heit von Körper und Seele, die untrennbare Verbindung von beidem, sondern allein der unkörperliche Teil davon, also die Seele. Ihr gegenüber bleibt der Leib stets das Sekundäre und Unwesentliche.
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Die Bildersprache, in der der Körper zum Gewand wird, entstammt der Exegese der Genesis, der – wie Andreas Kraß formuliert – »Urszene der christlichen Anthropologie:«⁵ Die christliche Anthropologie weist dem Menschen eine Doppelbürgerschaft zu: Als homo terrestris ist er der gefallene, im Sündenstand befindliche Mensch, der die Mühen des irdischen Exils erleidet, als homo celestis der von Christus erlöste, in den Gnadenstand berufene Mensch, der die Freuden der himmlischen Heimat erwartet. Entsprechend verfügt der Mensch über zwei Gewänder. Das irdische ist jenes, das er als Zeichen des Sündenfalls trägt, das himmlische jenes, das er im Sündenfall Adams und Evas verlor, in der Taufe sakramental zurückerhält und nach seiner Auferstehung auf ewig tragen wird.⁶
In der Genesis ist von zwei verschiedenen Zuständen des Menschen die Rede, nämlich seiner prälapsalen sündenlosen Nacktheit und der Kleidung, die den Sündenstand markiert und in Feigenblätter und Fellschurze zu unterscheiden ist: »Die irdischen Gewänder [verweisen] auf den irdischen Sündenstand, der sich durch zwei Merkmale auszeichnet: Die Feigenblätter verweisen auf die Sexualität des Menschen, die Fellschurze auf seine Sterblichkeit.«⁷ Neben diesen Kleidern, die die Sündhaftigkeit des Menschen bezeichnen, kennt die Bibelexegese aber auch solche, die vor dem Sündenfall seine Unschuld anzeigten: »Die theologischen Genesiskommentare der Spätantike und des Mittelalters fügen den irdischen Gewändern noch ein himmlisches hinzu, nämlich das Kleid der Herrlichkeit und Gnade, das die ersten Menschen bis zum Sündenfall trugen.«⁸ Augustin vertritt in seinem Genesis-Kommentar ›De Genesi ad litteram‹ die Auffassung, dass der Auferstehungsleib sich von demjenigen, den der Mensch im Paradies besessen habe, darin unterscheide, dass dieser zwar unsterblich, aber materiell gewesen sei, während der Auferstehungsleib unsterblich und von geistiger Substanz sei. Zur Entwicklung und Veranschaulichung dieser Position bedient Augustin sich »einer elaborierten Kleidermetaphorik.«⁹ Die unterschiedlichen Gewänder bezeichnen den jeweiligen Gnaden- oder Sündenstand. Diese Verknüpfung, die bei Paulus bereits angelegt ist, begründet eine breite Deutungstradition, die auch im Mittelalter noch anhält.
5 Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 38. 6 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 38, Hervorhebungen im Original. 7 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 39. 8 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 39. 9 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 42.
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Es kann sich beim Körper, der als Gewand der Seele bezeichnet wird, also sowohl um den irdischen Leib als auch um den verklärten Auferstehungsleib handeln, der meist als stola immortalitatis beziehungsweise als vestis gratiæ bezeichnet wird. Bei Johannes Scotus Eriugena beispielsweise ist »allein der geistige Leib des Menschen […] der wahre und natürliche, der materielle nur die schlechte Hülle, ein Kleid des eigentlichen Leibes.«¹⁰ Und »ganz in der Linie des Ambrosius spricht Honorius von Autun von dem Leibe als dem Kleide der Seele.«¹¹ Hier bindet die Kleidermetaphorik also nicht nur den Gnaden- oder Sündenstand des Menschen, sondern auch seine gottgeschaffene Seele mit ein. Das Kleid ist nun nicht nur Veranschaulichung der heilsgeschichtlichen conditio humana, sondern lässt das Verhältnis zwischen Seele (nämlich dem Inneren) und Körper (dem Äußeren, das Innere Umschließenden) deutlich werden. Es stehen also drei Quellen zur Verfügung, aus denen die Autoren der höfischen Literatur das Motiv des Körpers als Gewand übernehmen konnten: Zunächst die Bibel selbst, dann das christliche Schrifttum, beispielsweise das patristische, und drittens die volkssprachige geistliche Literatur, die auch hier wieder als Vermittlerin augustinischer Spiritualität fungiert. So findet sich beispielsweise in der ›Wiener Genesis‹ ein Kommentar zur zweiten Hälfte von Gen. 49,11, die Freytag wie folgt zitiert: »Lavabit in vino stolam suam Et in sanguine uvae pallium suum.«¹² Heinrich von Neustadt übernimmt in seiner Bearbeitung des ›Anticlaudianus‹ des Alanus ab Insulis, die den Titel ›Gottes Zukunft‹ trägt und um 1300 entstanden ist, aus seiner Vorlage die Gestaltung der Inkarnation als Prozess der Bekleidung: Christus erhält von der Weberin Maria kostbare Kleider, die seine Gottheit bedecken: […] du hieze sniden Dir ein kospers kleit, Do mit die klar gotheit Behdet und bedekt wart. Ez wap ein wberinne zart, Maria. von ir ksche glantz Ez wart geworht an allen schrantz. (v. 2030–2036)
10 Schwarz: Leib und Seele, S. 301. Schwarz zitiert aus Johannes Scotus Eriugena: De divis. nat. 4, 13 ohne Angabe einer Ausgabe. 11 Schwarz: Leib und Seele, S. 301. 12 Hartmut Freytag: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. Bern, München 1982 (Bibliotheca Germanica 24), S. 68. Freytag bedient sich der Ausgabe: (Wiener Genesis) Die althochdeutsche Genesis. Nach der Wiener Handschrift, hrsg. von Viktor Dollmayr. Halle (Salle) 1932 (ATB 31), 49,11.
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Sie darf niemer sich geschamen Der richen kospern wat Die Got in ir gewirkt hat. Daz kleit zoch Got uber sich: Er wart ein mensche sicherlich. (v. 2050–2054)
Diese Vorstellung kann er direkt aus seiner Vorlage, dem ›Anticlaudianus‹, übernehmen, der Gott unter anderem als ›Formenspender‹ preist, der den Menschen mit einem Körper versieht, ja, gleichsam einkleidet: Qui rerum species et mundi sensilis umbram Ducis ab exemplo mundi mentalis, eumdem Exterius pingens terrestris ymagine forme, Qui veterem massam de vultus sorde querentem Investis meliore toga, formeque sigillo Signans, excludis nexu mediante tumultum.¹³
Ulrich Krewitt weist darauf hin, dass vor allem Frauenlob und Muskatblüt in ihrer religiösen Dichtung das Motiv des ›in Fleisch Einkleidens‹ (z.B. Fleischwerdung Christi als Einkleidung und auch das verschroten der in der Inkarnation angenommenen Kleider¹⁴ bei der Kreuzigung Christi im Marienleich 14, 1.4. bei Frauenlob) ausgiebig verwenden.¹⁵ Frauenlob nutzt dieses Motiv beispielsweise in ›Unser Frouwen leich‹, wo er Maria über die Inkarnation reflektieren lässt. Um die Fleischwerdung Gottes zu veranschaulichen, verwendet er die metaphorische Rede vom gewant, mit dem hier Mariens eigener Körper gemeint ist, aus dem Jesu Körper entsteht. Mariens Körper wird von Gott als besonderer, nämlich frei von Erbschuld, geschaffen. Aus diesem besonderen, gleichwohl aber menschlichen Leib wird dann Jesu Leib hervorgehen. Beide Körper werden als Gewänder bezeichnet:
13 Alain de Lille: Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables. Publié par Robert Bossuat. Paris 1955, Liber Quintus, vv. 288–293. 14 Vgl. dazu auch das Kapitel ›Maria als Weberin: Die Verkündigungsgeschichte‹ und ›Die Kleider Christi: Die Passionsgeschichte‹ bei Kraß: Geschriebene Kleider, S. 67–73. 15 Ulrich Krewitt: Natura, artes, virtutes und Inkarnation. Zum ›Anticlaudianus‹ Alans von Lille in mittelhochdeutschen Texten. In: Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse. Hrsg. von Gert Rickheit und Sigurd Wichter. Tübingen 1990, S. 25–42, hier S. 29ff. Vgl. besonders auch Krewitts Hinweis auf die Verwendung des Motivs bei Heinrich von Neustadt: »Nicht nur Frauenlob und Mügeln sind Alan in seiner Vorliebe für die Kleid-Inkarnationsmetapher gefolgt, auch der AlanNachfolger Heinrich von Neustadt hat in seiner ›Gottes Zukunft‹ darauf zurückgegriffen und sie breit ausgeführt.« S. 39.
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Ein snider sneit mir min gewant, sin sin den spehen list ervant: do mich gebriset het sin hant, er sach mich an und kos min cleider, als ein meister kiesen sol. do stunden mir min cleider uz der mazen wol, daz sie gevielen […] in sinen mut. er tet ein spehe, die was nützlich unde gut. die wile und ich min cleider truc, er was so cluc, daz er uz minen cleidern sneit im cleider an, die waren baz dann mine cleider vil getan, und doch min cleider bliben ganz an allen bruch, an allen wanc, an allen schranz. (Marienleich I, 14,1–12)
Auch der Mönch von Salzburg greift in ›Von anegeng der sunne klar‹ auf die Metapher vom menschlichen Körper als Kleidungsstück zurück, um die Inkarnation Christi zu beschreiben: Ein füerer aller werlde prait legt an sich des knechtes klait, er nam an sich menschliche wat, das icht verdurb sein hantgetat. (II, 5–8). ¹⁶
Das Motiv nimmt also bei Paulus seinen Ursprung, erfährt seine Ausformulierung bei Augustin, wird im patristischen Schrifttum weiter tradiert und von der lateinischen geistlichen Literatur, beispielsweise dem ›Anticlaudianus‹, an die volkssprachige geistliche Literatur weitergegeben. Von ihr konnte die höfische Literatur das Motiv am einfachsten übernehmen. Viel schwieriger als die Quellenfrage ist jedoch zu beantworten, welchen Grund die höfischen Autoren dafür haben konnten, etwa im Zusammenhang mit dem Themenkomplex minne, auf ein Motiv zurückzugreifen, das eindeutig dualistisch besetzt ist. Zunächst scheint mir die Frage, warum diese Übernahme stattfindet, vor allem unter Bezugnahme auf das Problem des Leib-Seele-Dualismus selbst zu beantworten zu sein, mit dem sich die höfische Literatur auseinanderzusetzen hat. Denn gerade im geistlichen Motiv von Gott als Weber eines Gewandes, in das er den Menschen einkleidet, manifestiert sich, wie bereits herausgestellt, der Grundgedanke des augustinischen Dualismus: Dem Menschen ist sein Leib
16 Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin, New York 1972. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 51 = 175)
Die vestimentäre Metaphorik von ›Körper‹ und ›Kleid‹
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äußerlich und unwesentlich wie ein Kleid. Er schlüpft hinein, er trägt es, er ›benutzt‹ es, um es irgendwann wieder abzulegen, aber er bildet keine Einheit mit ihm. Eine Antwort auf die Frage danach, wie sich die höfische Literatur auf die Konnotationen bezieht, die die Metapher mittransportiert, ist nur aus den Verfahren selbst zu gewinnen, die sie in ihrer Verwendung der Metapher erkennen lässt. Ein Beispiel für diese Verfahren haben wir bereits im Walther-Beispiel kennengelernt, nämlich eine subtile Überwindung des Dualismus, der die Metapher im geistlich-theologischen Kontext charakterisiert. Wo dort die Rede vom Körper als Kleid des Menschen den Menschen unter der Hand als reine Seele definiert, nimmt die höfische Literatur eine Umbesetzung der Positionen von Körper, Seele und Kleidung vor, die den Körper sowohl der Kleidung als auch der Seele gegenüber aufwertet. Sie bedient sich zwar der Metapher, die den Menschen in zwei verschiedene Anteile differenziert, entwickelt aber in ihrer Auseinandersetzung mit ihr eine der konventionellen Verwendung im geistlichen Bereich genau entgegengesetzte Position. Sie tut das, indem sie mit der Kategorie des Kleides, das sowohl der Körper selbst sein als auch den Körper umhüllen kann, eine dritte Größe neben Körper und Seele einführt und den Leib-Seele-Dualismus so überwindet. Das geschieht nicht allein dadurch, dass das Kleid die Grenzen zwischen Körper und Seele verunklart, sondern auch durch eine geringfügige Doppeldeutigkeit in der Formel vom Körper als Kleid: Wenn nämlich der Körper selbst als Gewand imaginiert wird, muss das Innere jenes Kleides (also des Körpers), wiederum ein Kör p e r sein – denn schließlich ist es stets ein Körper, der von einem Kleidungsstück umhüllt wird. Wird die Metapher also im Rahmen der höfischen Literatur konkretisiert, dann verschwindet konsequenterweise in ihr der Raum für die Seele, beziehungsweise diese wird zum Körper vergegenständlicht. Im Rahmen dieser Konkretisierung kann die geistliche Aussage (›die Seele steckt in ihrem Körper so wie ein Körper in seinem Gewand‹) in ihr genaues Gegenteil verkehrt werden. Wo Augustin durch die Verwendung der Metapher die Aussage getroffen hatte, dass der Mensch nicht Körper, sondern Seele sei und das sie umhüllende Fleisch als reine Äußerlichkeit deutete, trifft die höfische Literatur, die sich der gleichen Metapher bedient, die Aussage, dass die Seele im Grunde nichts anderes sei als das, was von einem Gewand umhüllt werde, nämlich ein Körper; genauer: ei n Kör per i m Kör per. Diese Ausführungen mögen zunächst noch sehr abstrakt klingen, sie lassen sich aber an den höfischen Texten selbst belegen und veranschaulichen, am deutlichsten am ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Der Erzähler geht, wie an den bisherigen Textbeispielen gezeigt, von der konventionellen und populären Formel des Körpers als Kleid aus, so wie sie
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dort gebraucht wird, wo Brangäne davon erzählt, dass sie gezögert habe, Isolde ihre unbenutzte Wäsche, also ihren jungfräulichen Leib, zur Verfügung zu stellen. Doch diese konventionelle Analogisierung von Körper und Kleid wird an anderen Stellen des ›Tristan‹ auf geradezu spektakuläre Weise zum Kollabieren gebracht: Der Erzähler unterscheidet beispielsweise, als er Tristans Schwertleite beschreibt, eine Kleidung, die Tristan und seinen Gesellen gemeinsam ist, von einer anderen, die nur Tristan allein auszeichnet. Er kommentiert diese Unterscheidung, wenn er sagt, Tristan sei seinen Kameraden gleichgestellt in Bezug auf die wæte: ich meine aber an der wæte, die mannes hant da næte, niht an der an gebornen wat, diu von des herzen kamere gat, die si da heizent edelen muot, diu den man wolgemuoten tuot und werdet lip unde leben. (v. 4991–4997)
Zunächst scheint nahezuliegen, dass mit der wæte, die mannes hant da næte die Bekleidung des Menschen gemeint ist, also eine buchstäbliche stoffliche Kleidung zum Schutz vor Regen, Kälte und Wind. Entsprechend wäre die andere, von ihr abgegrenzte, die ›angeborene Kleidung‹, also der Körper des Menschen. Tristan wäre in dieser Lesart äußerlich, in Bezug auf sein Gewand, seinen Kameraden gleichgestellt, während er sich durch seinen Körper von ihnen unterschiede. Doch bereits im anschließenden Vers wird diese Deutung in Frage gestellt, denn die an geborne wat soll im herzen entstehen und hat den Namen der höchsten höfischen Tugend, nämlich edeler muot. Es kann sich also ganz offensichtlich nicht um den menschlichen Körper handeln. Doch wenn die an geborne wat nicht der Körper ist, dann ist womöglich auch die wæte, die mannes hant da næte nicht die Kleidung. Beide Besetzungen sind also neu zu überdenken: Die Differenzierung des Erzählers, die zum Ziel hat, Tristan auf der einen Ebene mit anderen jungen Adligen gleichzustellen, um ihn auf subtile Weise ihnen gegenüber auszuzeichnen, findet auf einer höheren Ebene statt als der von Kleidung und dem, was sich darin verbirgt. Nur scheinbar geht es um »einen Vergleich zwischen den äußeren Gewändern, in denen Tristan seinen Gefährten gleicht, und den inneren Gewändern des Herzens, in denen er sie übertrifft.«¹⁷
17 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 370.
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Das ›Alleinstellungsmerkmal‹, durch das sich Tristan von allen anderen unterscheidet, ist der edele muot, der von des herzen kamere gat. Was aber ist das Äußere einer solchen verfeinerten Geistesverfassung? Doch wohl der Körper, der ihr einen (äußeren) Rahmen verschafft. Ihn aber teilt Tristan den Aussagen des Erzählers zufolge mit seinen Gesellen, die ähnlich schön sind wie er, aber an seinen singulären edelen muot nicht heranreichen. sus si Tristan geleitet ze hove und ouch ze ringe, mit allem sinem dinge sinen gesellen ebengelich, ebenziere und ebenrich: ich meine aber an der wæte, die mannes hand da næte. (v. 4986–4992)
Tristan wird hier gerade nicht über die Singularität seiner Erscheinung charakterisiert (obwohl er selbstverständlich schön ist, wie Isolde feststellt, die ihn betrachtet, während er badet), sondern über seine unkörperlichen Vorzüge. Sie zeichnen ihn vor allen anderen aus, während seine körperliche Schönheit zwar groß ist, aber nicht das, was ihn alle anderen übertreffen lässt. Stützen könnte sich eine solche Lesart zusätzlich auf die Äußerungen jenes Jagdgehilfen Markes, der Tristan in der Minnegrotte an der Seite Isoldes schlafen sieht und beide seinem Herrn gegenüber beschreibt. Für ihn sind die beiden »›ein man und ein gotinne‹.« (v. 17470) Während er darüber rätselt, ob Isolde ein Mensch oder von überirdischer Herkunft sei, ist er sich in Bezug auf Tristan sicher, der, anders als sie, ein Mensch ist wie jeder andere: ›der man ist alse ein ander man; min zwivel ist aber dar an, sin geslafe da bi daz der ein mensche si: der ist schœner danne ein feine; von vleische noch von beine enkunde niht gewerden so schœnes uf der erden.‹ (v. 17473–17480)
Ganz offensichtlich soll Tristan, anders als Isolde, nicht über eine außerordentliche Schönheit charakterisiert werden, und das deutet der Erzähler bereits in der Episode der Schwertleite an. Nun liegt eine ganz andere Deutung nahe, nämlich die, dass mit der von Menschen gefertigten Kleidung der menschliche Körper gemeint ist, der ja tatsächlich von Menschen geschaffen, nämlich durch Vater und Mutter im Zeugungs-
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akt hervorgebracht wurde. Gottfried grenzt sich hier von den Implikationen und Konnotationen ab, die das geistliche Motiv des Körpers als Kleid mit sich führt. Der Körper ist ein von Gott gewobenes Kleid. Bei Gottfried ist der Körper von Menschen gefertigt und wird einem anderen Kleid gegenübergestellt, nämlich dem der Tugenden, die allerdings ebenfalls nicht auf Gott bezogen werden, denn sie sind angeboren und im herzen, also im Körper, lokalisiert. An dieser Umbesetzung ist zu erkennen, was Kraß als »zutiefst ironisch«¹⁸ bezeichnet hat. Diese Ironie besteht jedoch nicht allein darin, dass Gottfried im Literaturexkurs seine eigene Dichterkrönung vorbereitet: Wenn Gottfried seinen Kollegen voranschreitet wie Tristan seinen Kameraden, so vollzieht er abermals einen Ebenenwechsel zwischen Autor und Protagonist, doch nun in umgekehrter Richtung: Gottfried hängt den Tristanmantel der Vortrefflichkeit schließlich sich selbst um, investiert sich selbst mit dem lorzwi (v. 4637) des Dichterfürsten.¹⁹
Darüber hinaus greift Gottfried eine fest gefügte und konventionelle vestimentäre Metaphorik auf, um sie durch seine (Um-)Besetzung neu zu akzentuieren. Auch an anderen Stellen innerhalb des Textes hebt der Erzähler die Differenzierung zwischen stofflich und unstofflich, innerlich und äußerlich, gerade unter Bezugnahme auf die Tugenden, die er als stofflich begreift, auf. Bezeichnenderweise greift er eben dazu wieder auf die geistliche Formel vom Körper als Kleid zurück: Tugend ist hier nicht ein inneres Vermögen oder eine innere Beschaffenheit, sondern immer auch physische Disposition, also eine Qualität, die sinnlich vermittelt wird und auch sinnlich in Erscheinung tritt – so bei Tristans Schwertleite: vierhande richeit (v. 4564) kleidet Tristan in der Beschreibung durch den Erzähler. Doch was Tristan kleidet, sind nicht Kleidungsstücke, sondern hoher muot, vollez guot, bescheidenheit und höfscher sin. Tristans Bekleidung bei der Schwertleite ist, wollen wir an der Metaphorik der vierhande richeit festhalten, keine stofflich-dingliche Bedeckung, sondern höfisches Wissen und geistiges Vermögen, Tugend und Erziehung. Einige Verse später wird dieser Gedanke nochmals aufgegriffen: ja weizgot der muotriche, der eregire Tristan truoc sunderlichiu cleider an von gebare und von gelaze gezieret uz der maze. (v. 5000–5004)
18 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 373. 19 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 373, Hervorhebung im Original.
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Doch wozu dient die Metaphorisierung von Tugenden zu Kleidern? Sie muss im Zusammenhang mit der Übernahme des Motivs vom Körper als Kleid betrachtet werden, denn auf sie ist die Metapher bezogen. Rekapitulieren wir die Rhetorik dieser Textstelle: Gottfried metaphorisiert höfische Tugenden wie hohen muot zu Kleidung und vergegenständlicht sie dadurch. Gleichzeitig macht er aber auch den Körper, den der Mensch nicht von Gott, sondern durch die Eltern verliehen bekam, zu Kleidung. Damit vollzieht er eine Auflösung des Leib-Seele-Dualismus, indem er das Ungegenständliche, nämlich die Tugenden, mit dem Gegenständlichen, nämlich dem menschlichen Körper, zusammenführt, und zwar ausgerechnet in jenem Begriff, der in der Patristik und der geistlichen Literatur dazu verwendet wurde, den Dualismus zu manifestieren: der Kleidung. Die Gegenüberstellung von Körper und Seele wird von Gottfried erweitert durch eine schier unentwirrbare Verstrickung von Innen und Außen. Denn wenn der Erzähler von »der an gebornen wat, / diu von des herzen kamere gat, / die si da heizent edelen muot« spricht, führt er nicht nur das Gegenständliche (nämlich den Körper) und das Ungegenständliche (die Tugend) in einer Metapher (nämlich der Kleidung) zusammen, sondern definiert auch noch den Ort, an dem die ungegenständliche Kleidung, also die Tugend, ihren Ursprung hat: das herze. Das ist überaus programmatisch, denn das Konglomerat aus Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, das er aus der Vermischung von Körper und Tugend geschaffen hat, entspricht vollkommen dem Status des herzen in der höfischen Literatur. Auch dieses changiert auf unbestimmbare Weise zwischen Innen und Außen (denn es befindet sich i m Körper, kann aber auch zum Aufenthaltsort der Geliebten werden oder den Körper – etwa im Falle des herz-Tausches – verlassen) und zwischen Metapher und Literalität. Es ist deutlich, worauf Gottfried mit diesem Verfahren abzielt: Es geht um die Verwischung jeder klaren Unterscheidung zwischen Außen und Innen, und zwar nicht nur in diesem kurzen Textabschnitt. Um die Denkfigur, die dahinter steht, noch deutlicher zu illustrieren, soll ein zweiter Textabschnitt herangezogen werden, in dem Gottfried die gleiche Dekonstruktion von Oppositionen durchführt. Das Motiv der bedingungslosen und verzweifelten Tristan-minne erlaubt es ihm, die Verschmelzung des Paares exemplarisch bis zu jenem Punkt zu entwickeln, an dem die Identität der Figuren amorph wird und sich schließlich völlig auflöst. Und genau darin besteht die Ideologie der Tristan-minne: minne bringt die Konturen der Figuren zum Erodieren und stellt aus der Zweiheit eine Einheit her: »si wurden ein und einvalt, / die zwei und zwivalt waren e.« (v. 11716f.) Die völlige Verschmelzung des Paares führt der Erzähler ausgerechnet in der Trennungsszene vor. Isolde fordert Tristan auf:
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›nu gat her und küsset mich: Tristan und Isot, ir und ich, wir zwei sin iemer beide ein dinc ane underscheide.‹ (v. 18351–18354)
Isolde kehrt in ihrem langen Abschiedsmonolog den Topos des herz-Tausches um: Sie spricht ihren Geliebten Tristan nicht (wie im Rahmen der literarischen Formel des herz-Tausches üblich) als ihr herze, sondern als ihren lîp an. Doch auch mit dieser Umkehrung, mit dem Bild, dass der geliebte Andere zum eigenen lîbe wird, gibt sich der Erzähler noch nicht zufrieden. Nicht nur die Grenzen zwischen den Figuren ›Tristan‹ und ›Isolde‹ werden aufgehoben, sondern auch die zwischen den poetischen Kategorien herze und lîp. Das herze (in Isoldes Begriffen: sie selbst) wird in der Trennung zu seinem lîbe (also zu Tristan), sein lîp wird zum herzen. Die noch bestehenden Oppositionen von lîp und herze lässt Isolde dadurch erodieren, dass sie auch das Verhältnis, das zwischen ihnen besteht, verkehrt. Das herze befindet sich im Körper – Isolde aber sagt, dass nichts außer Tristan (ihrem lîbe) in ihrem herzen sei: »›son sol doch in dem herzen min / niht lebenes noch niht lebendes sin / wan Tristan, min lip und min leben.‹« (v. 18295– 18297) In ihrer anschließenden Abschiedsrede wiederholt sie die Vorstellung von Tristan als ihrem lîbe sogar ganze fünf Mal: ›doch wil ich einer bete gern: swelch enden landes ir gevart, daz ir iuch, minen lip, bewart; wan swenne ich des verweiset bin, so bin ich, iuwer lip, da hin: mir, iuwerm libe, dem wil ich durch iuwern willen, niht durch mich, vliz unde schoene huote geben; wan iuwer lip und iuwer leben, daz weiz ich wol, daz lit an mir: ein lip, (und) ein leben daz sin wir. nu bedenket ie genote mich, iuwern lip, Isote.‹ (v. 18334–18346)
Am Ende dieser Rede ist für den Leser (oder Hörer) gänzlich ununterscheidbar geworden, wer wer und was was ist: Ist Isolde ihr herze, das bei Tristan ist, oder ist sie sein Leib, weil ihr herze in ihm weilt? Der Zustand, der beschrieben und durch Isoldes Worte sprachlich erzeugt wird, ist der, mit dem sie ihren Monolog abschließt – Einheit jenseits aller Differenzierung: ein lip, (und) ein leben daz sin wir. Diese Poetik einer rhetorischen Verstrickung von Figuren ineinander, von Herzen und Leibern, findet sich auch bei Ulrich von Liechtenstein, der sich
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damit ganz offensichtlich auf Gottfrieds ›Tristan‹ bezieht. In Lied XLII seines ›Frauendienstes‹ schildert er seiner vrowe seine minne und greift dazu auf eben jene Bildersprache zurück, die uns dort bereits begegnet ist: Libiu vrowe, liebest aller wibe, din lip ist mir in dem herzen min: so ist din reines herze in sinem libe welhem sol ez denne neher sin? des chan ich vor liebe niht bescheiden. ez ist uns so rehte nahen beiden, daz sin unser twederz nie vergaz. (Lied 42, Str. III)
Diese Harmonie, diese Einheit, diese Aufhebung von Differenz ist jedoch durchaus nicht an die Beschreibung von minne gebunden. Harmonie und Differenzlosigkeit herrschen nicht nur zwischen Minnenden, sondern charakterisieren auch die vollendete höfische Gestalt selbst. Viele Textpassagen illustrieren das. Eine der eindrucksvollsten stammt wiederum aus dem ›Tristan‹ und erzählt von der Erscheinung Isoldes auf dem Gerichtstag. Im eigentlichen Sinne ist es jedoch gar nicht Isolde, die beschrieben wird, sondern ihre Kleidung: man sach ez inne(n) und uzen und innerthalben luzen daz bilde, daz diu Minne an libe und an dem sinne so schone hæte gedræt: diu zwei, gedræt unde genæt, diun vollebrahten nie baz ein lebende bilde danne daz. (v. 10949–10956)
Der Anblick, der sich dem Betrachter bietet, ist der eines unübertrefflich zusammenstimmenden Ganzen, eines ›lebenden Bildes‹, wie der Erzähler sich ausdrückt. Wenn hier dennoch zwischen einem Innen und einem Außen unterschieden wird, so ist die Grenze zwischen beiden jedenfalls nicht die zwischen Körper und Seele. Wiederum wird deutlich, wie die Oppositionen zwischen dinglich und undinglich aufgehoben werden: Zunächst ist es weder Gott noch der Mensch, der diese Erscheinung geschaffen hat, sondern die minne. Damit ist verunklart, wovon überhaupt die Rede ist: Von Isolde? Von ihrer Schönheit? Von ihrem Glanz? Oder ihrer Kleidung? Darüber hinaus manifestiert sich das, was die minne geschaffen hat, wiederum in einem Zwischenbereich zwischen Körper und Nicht-Körper, nämlich ›an libe und an dem sinne.‹ Der Erzähler verdunkelt, wovon er eigentlich erzählt, denn er will es offenbar eindeutigen Differenzierungen und Zuordnungen in Kleid, Körper, Person und Tugenden entziehen.
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Vielmehr soll sich all’ dies zu einem formvollendeten Bild verdichten, das seine eigene Literarizität ausstellt. Isolde ist ein Kunstwerk Gottes, ein Kunstwerk der minne und sie ist ein Kunstwerk Gottfrieds. Isolde erscheint in der zitierten Textpassage (auch) deshalb als ein untrennbares Ganzes, weil sie nicht Seele, Körper und Kleid ›hat‹, sondern, wie zwischen den Zeilen suggeriert wird, aus einem einzigen Stoff geschaffen ist – nämlich Sprache. Der Erzähler in Wirnts von Grafenberc ›Wigalois‹ macht genau diesen Aspekt von Literarizität – womöglich sogar von Fiktionalität – für die Kleiderpracht Flories geltend: swer daz nu wolde nîden daz si sô schône was gekleit, daz wær ein michel tôrheit, wan ez ist âne ir aller schaden swaz ich ûf si mac geladen von sîden und von borten und von gezierde, mit worten. (v. 856–862)
Wenn im ›Wigalois‹ von den sîden und von borten und von gezierde die Rede ist, die allein aus Worten bestehen, so ist damit vielleicht nicht ganz zufällig an die Äußerungen angespielt, die der Erzähler im Literaturexkurs von Gottfrieds ›Tristan‹ über Bligger von Steinach macht. Dessen Worte nämlich worhten vrouwen an der ram von golde und ouch von siden, man möhtes undersniden mit criecheschen borten. (v. 4694–4697)
Sollte die Formulierung aus dem ›Wigalois‹ als Anspielung auf diese Stelle zu deuten sein, dann wäre damit eine textuelle Zirkularität angedeutet zwischen poetischer Sprache und Gewebe: Die Worte Bliggers sind bei Gottfried aus Gold und Seide gesponnen, sie sind eben nicht Schall und Rauch, sondern kunstvolle Borten, kostbares Gewirk. Bei Wirnt ist das Verhältnis zwischen Gewebe und Worten umgekehrt; nicht die Worte sind hier textil, sondern die Textilien der Figuren sind Worte. Aus dieser Perspektive ist Wodke, der ausgerechnet Gottfried unterstellt, durch seine Verwendung der Begriffe ›Innen‹ und ›Außen‹ den geistlichen Dualismus zu perpetuieren, der Vorwurf nicht zu ersparen, dass ihm die Subtilität von Gottfrieds Umgang mit ihnen und die Aufhebung der Unterschiede zwischen ihnen entgangen sein muss, wenn er schreibt:
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Von allen höfischen Dichtern seiner Zeit verlegt GOTTFRIED am bewußtesten alle seelischen Vorgänge in das Innere des Menschen. Das beweist sein Gebrauch des aus der augustinischen Philosophie und Theologie stammenden anthropologischen Gegensatzes von innen und außen, der uns in der vorhöfischen geistlichen Literatur schon häufig begegnet. Klar stellt er dem Äußeren des Menschen das entgegen, was ›innerhalp der brust‹, ›innerhalp des herzen‹ geschieht.²⁰
Gottfried ist damit richtungsweisend geworden, vor allem in Bezug auf Schönheitsbeschreibungen. Nicht nur bei der Beschreibung weiblicher Schönheit wird die Aufhebung jeglicher Differenzierung in Innen und Außen vollzogen, sondern auch bei der Beschreibung von männlicher. So nimmt Konrad von Würzburg, der sich stark von Gottfried hat beeinflussen lassen, offenbar Motive aus der Beschreibung der Schwertleite in Gottfrieds ›Tristan‹ in seinem ›Trojanischen Krieg‹ auf, um den jungen Paris zu schildern: diu cleider und der werde gast diu stuonden wol ein ander an: daz cleit daz êrte wol den man und êrte wol der man daz cleit. si wâren beide als ûf geleit, daz si z’ein ander hôrten wol. daz cleit daz was gezierde vol, sô was der man schœn unde clâr. (v. 3006–3013)
Gottfried scheint mit seiner Umbesetzung der vestimentären Metaphorik auch andere spätere Zeitgenossen wie beispielsweise Reinmar von Zweter angeregt zu haben. Die Funktion von Reinmars Kleidermetaphorik besteht, ähnlich der in der Episode von Tristans Schwertleite, darin, Tugendhaftigkeit zu visualisieren: Waz cleider vrouwen wol an stê, des wil ich iuch bescheiden: ein hemede wîz alsam ein snê, daz ist daz si Got minne unt habe in liep, dêst wol ein rîchez cleit. Dar obe sol sîn ein roc gesniten, sô daz si liep unt leit sol tragen mit vil kiuschen siten; ir gürtel sî diu minne, ir vürspan daz si tugende sî bereit; Diu êre ir mantel, daz der an ir decke, ob iht des sî, daz wandel an ir blecke; ir rîse daz sol sîn diu triuwe, dar ob ein schapel von der art, daz si vor valsche sî bewart: si sælic wîp, der lop ist immer niuwe! (Fraun-Ehren-Ton 41,1–12)
20 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 149, Hervorhebung im Original.
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Diese Visualisierung von Tugenden durch die Kleider-Metaphorik ist insbesondere im Spätmittelalter nicht nur in der höfischen Dichtung verbreitet, sondern auch in der didaktischen wie hier in einem Spruch von Suchensinn: loplîche wât wil ich dir, frauwe, ansnîden; lop ist die allerbeste wât, wan sie frau Êr gespunnen hât. lop reinen frauwen basz an stât dann samît oder sîden. (II, v. 9–13).²¹
Diese späteren Texte zeigen aber nicht allein Gottfrieds Einfluss, sondern auch Differenziertheit und Niveau seiner Auseinandersetzung mit der Kleider-Metaphorik. Denn er begnügt sich nicht damit, die Tugenden zu Kleidern zu vergegenständlichen. In letzter Konsequenz erzielt er durch sie gar keine inhaltliche Aussage, so wie Reinmar oder Suchensinn es tun, sondern nutzt die konventionellen Gegenüberstellungen von Körper und Kleid, Innen und Außen oder Körper und Seele dazu, die schlichte Dichotomie, die sie jeweils aufweisen, in Komplexität aufzulösen. Dabei scheint es ihm jedoch vor allem um diese Komplexität selbst zu gehen und nicht um eine spezifische Konzeption des höfischen Körpers, etwa als von Tugenden eingekleidet oder als Einheit aus Körper und Gewand.
4.1.1 Die Kleider der Wahrheit: Die Relation von Innen und Außen als poetologisches Paradigma Die vestimentäre Metaphorik wird in der mittelalterlichen Literatur nicht nur zur Figurenprofilierung und Akzentuierung der jeweiligen literarischen Aussage genutzt, sondern auch zur Diskursivierung der Poetik, die den volkssprachigen höfischen Erzähltexten zugrunde liegt. Hier verdichtet sich die Bildersprache von Körper und Kleid, von Verhülltem und Verhüllung in der Denkfigur des integumentum. Dieser Begriff wird eigentlich dazu herangezogen, um »der antiken Literaturtradition einen eigenen Wahrheitswert neben der christlichen zuzuweisen. In Frage steht die antike Dichtung wie die Philosophie, voran der Timaeus Platons.«²² In der Forschung ist deshalb auch ausführlich darüber gestritten
21 Suchensinn und seine Dichtungen. Hrsg. von Emil Pflug. Hildesheim, New York 21977. (Germanistische Abhandlungen 32) 22 Christoph Huber: Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere. ZfdA 115 (1986), S. 79–100, hier S. 90. Vgl. hierfür vor allem: Edouard Jeauneau: L’usage
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worden, ob der (philosophische) Begriff auf die volkssprachige weltliche Literatur überhaupt angewendet werden könne, ist der Terminus integumentum²³ doch ursprünglich eingebettet in die Diskussion der Frage, ob die antike heidnische Literatur sich auf die gleiche Wahrheit beziehe wie die christliche Literatur beziehungsweise die Heilige Schrift²⁴ und welcher Stellenwert dabei der antiken Philosophie zukomme. Verhandelt wird mit dem Terminus integumentum also zunächst »die Wahrheit eines philosophischen Sensus«²⁵ und gerade nicht die Fiktionalität einer weltlichen volkssprachigen Literatur, die von minne, êre und âventiure erzählt:²⁶ Versuche, die Hermeneutik des integumentum als Hintergrund oder gar als Vorbild für einzelne theoretische Äußerungen (oder auch ganze Werke) im Bereich der Volkssprache zu begreifen, haben sich bei genauerem Hinblick als simplizistisch, zu assoziativ oder gar als Fehllektüren erwiesen. Kaum erörtert wurde dabei, ob […] die gesamte Fragestellung selbst (zumindest im deutschen Bereich) nicht auf einem Mißverständnis basiert, das sich aus übergroßem Vertrauen in die Systemhaftigkeit (und damit auch Vergleichbarkeit) einzelner literaturtheoretischer Konzepte und Positionen ergibt und mit einem allzu simplen Verständnis von Rezeption verbindet.²⁷
de la notion d’integumentum à travers les gloses de Guillaume de Conches. Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age (AHDLMA) 24 (1957), S. 35–100. 23 »The terms cortex, integumentum, involucrum, and pallium are roughly synonymous. Allegoria implies the presence of a cortex and nucleus […]. The allegory of Scripture is based on the nature of things, on the inner structure of creation as revealed by the Holy Spirit, whereas the allegory of pagan poetry is merely a matter of usage.« D. W. Robertson: Some medieval literary terminology, with special reference to Chrétien de Troyes. Studies in Philology 48 (1951), S. 669– 692, hier S. 676f. Vgl. auch: Andreas Kraß: Die Seele des Textes. Ein poetologischer Versuch. In: anima und sêle, S. 195–217. 24 »Wirklicher Terminus sind involucrum und integumentum erst im 12. Jahrhundert geworden, als es wichtig wurde, den Wahrheitswert der Antike von einem christlichen Standort aus zu begründen, wie es bei Abaelard und in der Schule von Chartres geschah.« Hennig Brinkmann: Verhüllung (Integumentum) als literarische Darstellungsform im Mittelalter. Miscellanea mediaevalia 8 (1971), S. 314–339, hier S. 320. 25 Huber: Höfischer Roman als Integumentum?, S. 90. 26 Huber: Höfischer Roman als Integumentum?, S. 96, drückt sich zurückhaltender aus und bezeichnet die Anwendung des Integumenten-Modells auf die höfischen Romane als ein ›Wagnis‹. Die in der Forschung vieldiskutierte Frage, ob Thomasin von Zerclære dieses Wagnis unternimmt oder nicht, ist für meine Diskussion nebensächlich. 27 Frank Bezner: Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts. Leiden, Boston 2005 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85), S. 87f.
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Für die hier verfolgte Frage nach der spezifischen Verwendung der Kleider-Metaphorik in der höfischen Literatur ist es jedoch von geringem Belang, ob der Begriff integumentum auf die höfische Literatur angewendet werden kann oder nicht. Entscheidend ist in meinem Zusammenhang allein der Wortgebrauch, den die Literatur selbst vornimmt, wenn sie das Verhältnis von Wahrheit und Lüge in der Bildersprache von Kleidung und Verhüllung der âventiuren thematisiert. Diese sind – einer bekannten Textpassage des ›Wälschen Gasts‹ zufolge – in Lügen eingekleidet, die sie zieren: die âventiure sint gekleit dicke mit lüge harte schône: diu lüge ist ir gezierde krône. ich schilt die âventiure niht, swie uns ze liegen geschiht von der âventiure rât, wan si bezeichenunge hât der zuht unde der wâhrheit: daz wâr man mit lüge kleit. (›Der Wälsche Gast‹, v. 1118–1126)
Damit wird die Relation von Innen und Außen beziehungsweise von Verhüllung und Verhüllendem auf die âventiuren selbst angewendet. Zunächst wird unterschieden in âventiure und lüge. Ersteres ist auf nicht näher gekennzeichnete Weise ›innen‹, Zweiteres ›außen‹, denn die lüge bekleidet die âventiure: ›daz wâr man mit lüge kleit.‹ Es wird also eine Zuordnung von âventiure mit Wahrheit und von ihrer Einkleidung mit lüge vorgenommen. Aus dieser Zuordnung heraus stellt sich die wahre âventiure als Körper dar, der von den schönen Lügen als seinem Gewand umhüllt ist. Dieses Verhältnis zwischen einer i n neren Wa h rheit, die außen, an ihrer Oberfläche, von Unwahrheit bedeckt oder umschlossen ist, entspricht damit der Differenzierung in die beiden narratologischen Ebenen von histoire und discours:²⁸ Die Lügen, die die âventiure schmücken, sind zu deuten als die
28 Genette differenziert die narratologischen Ebenen in die narration (»in einem dritten Sinn, der wahrscheinlich der älteste ist, bezeichnet Erzählung noch ein anderes Ereignis: diesmal nicht mehr das, von dem erzählt wird, sondern das, das darin besteht, daß jemand etwas erzählt: den Akt der Narration selber.« Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998, S. 15, Hervorhebungen im Original) und grenzt sie vom discours (»In einem ersten Sinn […] bezeichnet Erzählung die narrative Aussage, den mündlichen oder schriftlichen Diskurs [discours], der von einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen berichtet,« S. 15) und von der histoire (»in einem zweiten […] Sinn, […] bezeichnet Erzählung die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen, und ihre unterschiedliche Beziehung zueinander,« S. 15)
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Erzählgegenstände, also die histoire, die die Ebene der für sich betrachteten einzelnen Handlungen, Figuren und Situationen ist. Sie sind es, auf die der Vorwurf der Lüge zielt. Ihnen gegenüber wird jedoch auf das ›tiefer Liegende‹ verwiesen, das wahr ist, nämlich die Erzählung selbst, die âventiure, den discours, der sich zu seinem Vollzug zwar der histoire bedient, aber nicht in ihr aufgeht: E rzä h lt die âventiure auch von Lügen, so ist sie selbst doch keine. Bei dieser Differenzierung von âventiure und lüge bleiben die Ausführungen Thomasins nicht stehen. Je weiter er seine Überlegungen fortsetzt, desto mehr verunklart sich allerdings, was zunächst so einfach zu sein schien – ich führe die entsprechende Textstelle ein weiteres Mal an: ich schilt die âventiure niht, swie uns ze liegene geschiht von der âventiure rât, wan si bezeichenunge hât der zuht unde der wâhrheit. (v. 1121–1125)
Nun ist es auf einmal doch die âventiure selbst, auf die der Begriff der Lüge (wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar) bezogen wird: uns geschiht ze liegene von der â vent iure rât! Sie – und nicht die lüge! – hat bezeichenunge. Das Unvermögen, die âventiure von ihrer gezierde krône zu trennen, lässt sich darauf zurückführen, dass der Begriff der âventiure mehrdeutig ist: Er meint nicht allein das unvorhersehbare Ereignis, das einer Figur auf der Ebene der histoire zustößt und dem sie sich aussetzt, sondern auch die Erzählung (discours) selbst, in der die einzelnen Handlungen und Ereignisse aufgehoben und zu der sie verdichtet sind. Hartmut Bleumer kommt in seiner Studie zum ›Feld der âventiure‹ zu dem Ergebnis: Im Erzähltext erzeugt der Ausdruck eine Ellipse, in der er auf ein Geschehen verweist, das über eine Erzählung präsentiert wird und dabei die Ebene der Geschichte überspringt, und ebenso ist zwischen der Bedeutung des Ausdrucks und seinem jeweiligen Sinn das begriffliche Konzept gleichsam durchgestrichen: âventiure ist vielmehr dezidiert unbegrifflich. Sie entzieht sich der Definition und macht so die dynamische Offenheit der Interpretationsbewegung spürbar. Insofern könnte man vielleicht sagen: Im Wort âventiure kommt das Verständnis für die Unabgeschlossenheit des literarischen Feldes exemplarisch zur Sprache.²⁹
ab. Zur Differenzierung zwischen discours und histoire vgl. auch: Émile Benveniste: Problems in General Linguistics. University of Miamy Press 1971. 29 Hartmut Bleumer: Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann
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Diese Ambivalenz des Begriffs macht es schwer zu präzisieren, wo die Grenze zwischen einem ›wahren‹ Innen und einem ›unwahren‹ Außen in Bezug auf die âventiure liegt: Ist es die Erzählung, die trotz ihrer unwahren Erzählgegenstände wahr ist, oder ist die phantastische Erzählung unwahr, obwohl das, wovon sie erzählt, eigentlich wahr ist, insofern es innerhalb der erzählten Welt Geltung beansprucht? Nicht nur diese Frage bleibt offen, sondern auch die nach der Metaphorizität der poetologischen vestimentären Bildsprache. Denn anders als in unseren früheren Beispielen ist hier, wo der poetologische Status der literarischen Rede zur Diskussion steht, nicht mehr sicher, ob die vestimentäre Bildsprache überhaupt (noch) ein Tropus ist oder nicht. Denn die Richtung der Bildentlehnung ist nicht mehr bestimmbar: Wird das Verhältnis von histoire und discours in der Metapher von Kleid und Körper, von Verhüllung und zu Verhüllendem konkretisiert? Oder ist bereits dieses Verhältnis selbst, also das der beiden narrativen Ebenen zueinander, metaphorisch? Die Verunsicherung, die sich hier aufdrängt, scheint jedoch das eigentliche Ziel der Auseinandersetzung mit den Schichten von Verhüllung und Verzierung, von Wahrheit und Lüge zu sein. Nicht um eine begriffliche Differenzierung und Präzisierung geht es hier, sondern um Komplexitätserzeugung. Kraß weist darauf hin, dass mit der Einkleidungsszene im ›Tristan‹ und dem Dichterexkurs die Einkleidung des Protagonisten und die poetologische Einkleidung aufeinander bezogen werden: Indem er [Gottfried] diesen Ort [die Schwertleite] wählt, etabliert er, wie vor ihm Chrétien, eine Analogie zwischen der Einkleidung der Dichtung und der Einkleidung des Helden. Während der Dichter im Vorgang der poetischen Investitur eine aktive Rolle einnimmt (er kleidet ein), verhält sich der Protagonist im Ritual der ritterlichen Investitur passiv (er wird eingekleidet).³⁰
Mir scheint diese Stelle jedoch eine andere Bedeutung zu besitzen. Nicht um das Verhältnis von Autor und Protagonist im Paradigma der Gegensätzlichkeit von Aktivität und Passivität geht es hier, sondern um das von âventiure und Protagonist. Beide werden (passiv) eingekleidet, und zwar beide (wenn auch auf den unterschiedlichen Ebenen von histoire und discours) durch den Erzähler.
und Burkhard Hasebrink. Berlin, New York 2007 (Trends in medieval philology 10), S. 347–367, hier S. 366f. 30 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 367, Hervorhebungen im Original.
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Jaegers ›prägnante Formel‹, die Kraß zitiert: »Dichter machen Ritter,«³¹ wäre also zu ergänzen zu: ›Dichter (oder besser: Erzähler) machen Geschichten und Ritter,‹ sie ›machen‹ sowohl die Erzählgegenstände (wie die Einkleidung des Helden, also histoire) als auch die Erzählung selbst (Kraß nennt es ›die Einkleidung der Dichtung‹, also den discours). Beides ist gleichermaßen Einkleidung, jedoch auch auf zwei verschiedenen Ebenen. Zwar ist die Körper-Kleid-Metaphorik, wie eingangs festgestellt, eine Diskursivierung von Innen-Außen Bezügen. Doch so kunstvoll sie diese auch variiert, so deutlich macht sie dabei doch, dass der Effekt der Überlagerung durch das metaphorische Kleid keine Verinnerlichung ist, sondern eine Vervielfachung von Schichten, die einander überlagern. Zwar wird damit ein Gegenmodell zur theologischen Verwendung der Metapher ›Körper – Kleid‹ entworfen, ein Dualismus zwischen Körper und Seele also gerade nicht übernommen. Doch sie führt in der Art, wie die höfische Literatur sie nutzt, nicht zur Profilierung eines Inneren in Abgrenzung zu einem Äußeren, sondern vielmehr zu einer Verwischung der Grenzverläufe zwischen beidem. Damit sind Ähnlichkeiten wie auch die Differenzen der Kleider-Metapher zur literarischen Form der Allegorie, die im nächsten Kapitel behandelt werden soll, bereits angedeutet: Im Rahmen des Schichtenmodells der Kleider-Metapher ist ein ungegenständliches Inneres in letzter Konsequenz ausgeschlossen. Denn wo der Körper zum Kleid wird, muss die Rolle des Körpers vom Inneren (sei es als Seele konzipiert oder nicht), von dem also, was durch das Kleid bedeckt wird, eingenommen werden – wenn der Körper Kleid ist, wird das Innere zum Körper. Der Effekt davon ist die Überlagerung einer Außenhülle durch eine andere. Der Kleider-Metapher liegt eher eine Logik der Veräußerlichung als eine der Verinnerlichung zugrunde. An diesem Punkt schließt die Allegorie an die Kleider-Metapher an, denn sie scheint ebenfalls auf einen ersten Blick ein inneres Geschehen zu veranschaulichen, doch auch sie vermag das Innere allein als ein veräußerlichtes und verselbständigtes zu vergegenständlichen. Oder anders formuliert: Auch in der Vergegenständlichung durch die Allegorie gerät das Innere (unversehens?) zum Äußeren.
31 Stephen C. Jaeger: Höfisches Fest und Hofästhetik in Gottfrieds Tristan. Die Dichterschau als Zelebration. In: Bildhafte Rede. Hrsg. von Wolfgang Harms. Tübingen 1992, S. 197–216, hier S. 205.
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4.2 permixta allegoria In Bezug auf die Allegorie sind zwei verschiedene Formen zu unterscheiden: Die permixta allegoria und die tota allegoria. Während Letztere ihren allegorischen Charakter nicht explizit macht und so eine Lektüre des buchstäblichen Sinnes ohne eine Übertragung möglich macht, weist sich die permixta allegoria als Allegorie aus und lässt keine andere Deutung als die Allegorese zu. Ein Beispiel für die permixta allegoria ist die Frau Welt, die in ›Der Welt Lohn‹ Konrads von Würzburg auftritt. Der Text lädt nicht nur dazu ein, diese Gestalt allegorisch zu deuten, sondern macht diese Deutung zur Grundlage seines Verständnisses. Anders gesagt: Wer die weibliche Gestalt in ›Der Welt Lohn‹ nicht als Allegorie der Welt auffassen würde, hätte den Text nicht verstanden. Anders verhält es sich in Bezug auf einen Text wie den ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Die Minnegrotte, die sich dort als ein Raum im Wald darstellt, den Tristan und Isolde zeitweilig bewohnen, kann, sie muss aber nicht als eine Allegorie der minne verstanden werden. Entscheidend ist, dass die Form der Allegorie den Charakter des Textes, der sie enthält, verändert: Im Unterschied zur permixta allegoria gibt es in der tota allegoria keine explizite Angabe des allegorischen sensus. Das Gesagte kann ausschließlich auf der wörtlichen Ebene (dem sensus litteralis) verstanden werden, d.h. auf der Ebene der Bedeutung, die ohne weiteres verstanden wird. Es ergibt sich ein kohärenter und sinnvoller Zusammenhang, ohne daß man an einen allegorischen Sinn denken müßte. […] Der allegorische sensus ist Resultat einer systematischen Reinterpretation dieses Zusammenhangs, indem er mit Hilfe einer strukturellen Entsprechung, eines Prozesses analogischer und identifikatorischer Reflexion aller diskursiver Elemente, d.h. aller relevanten, erschlossen wird.³²
Ich werde auf den Vergleich von permixta und tota allegoria zurückkommen, nachdem ich beide Formen ausführlicher dargestellt habe. Manche Merkmale der einen oder anderen Form werden sich bereits im Zuge der Analyse erschließen. Ich beginne mit der ›Psychomachie‹ als einem ersten Beipiel für die permixta allegoria.
32 Gerhard Kurz: Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 3), S. 12–24, hier S. 16, Hervorhebungen im Original.
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4.2.1 ›Psychomachia‹ Paradigma allegorischen Schreibens im Mittelalter ist die ›Psychomachie‹ des Prudentius (ca. 348 bis nach 405), die vom Frühmittelalter an ein weit verbreitetes und populäres Lehrbuch im Schulunterricht war. Es ist oft zu lesen, dass die ›Psychomachie‹ den Kampf zwischen Tugenden und Lastern in der menschlichen Seele zum Gegenstand habe.³³ Doch diese Darstellung ist nicht ganz präzise. Da in diesem Kapitel der Frage nachgegangen werden soll, in welcher Weise die Allegorie als Kunst- und Darstellungsform ein inneres Geschehen sprachlich und literarisch zu veranschaulichen vermag, ist es naheliegend im Vorfeld zu klären, was den Gegenstand der ›Psychomachie‹ als Prototyp und Vorbild mittelalterlicher literarischer Allegorie bildet. Ihre (nicht allegorische) Vorrede begründet die Notwendigkeit des Kampfes der Tugenden gegen die Laster typologisch³⁴ mit dem Verweis auf die biblische Figur Abraham. Dieser habe beispielhaft vorgelebt, dass gottgefälliges Leben den Kampf gegen das Böse notwendig voraussetze. Gott dienen könne der Gläubige nur, »quam strage multa bellicosus spritus / portenta cordis seruien-
33 Gerhard Bauer diskutiert (in kritischer Distanz zu Christian Gnilka: Die Psychomachie des Prudentius. Wiesbaden 1963) die Frage nach der »genauen Bestimmung des Schauplatzes, auf dem die blutige Auseinandersetzung zwischen Tugenden und Lastern, wie der Dichter sie schildert, erfolgt.« Gerhard Bauer: Claustrum Animæ. Untersuchungen zur Geschichte der Metapher vom Herzen als Kloster. München 1973, Exkurs I ›Zur des Prudentius‹, S. 336–349, hier S. 336. Während Gnilka meint, man müsse »das bellum intestinum als Kampf der tugendhaften Seele gegen die im Leibe regierenden Laster verstehen, der sich nicht in der Seele, sondern vielmehr im Körper des Menschen abspielt und dabei gelegentlich auch auf die Seele übergreift,« (S. 336) besteht Bauer darauf, dass »Prudentius seine als Schilderung des sich in der Seele abspielenden bellum intestinum verstanden haben muss.« (S. 346): »Tugenden und Laster sind die spiritus varii, die als Vertreter der Reiche des Lichtes und der Finsternis in dem einen Herzen gegeneinander kämpfen. Die doppelte Substanz, die – nach Gen. 2,7 – unser Wesen ausmacht, hat notwendig zur Folge, dass unsere Seele von den verschiedensten Kräften (distantes vires) beeinflusst wird. So nur entsteht das bellum intestinum, das erst ein Ende findet, wenn Gott selbst hilfreich eingreift.« (S. 348) 34 Hans Robert Jauss: Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia (von Prudentius zum ersten Romanz de la Rose). In: Medium Aevum Vivum. FS für Walther Bulst. Hrsg. von Hans-Robert Jauss und Dieter Schaller. Heidelberg 1960, S. 179–206, hier S. 188: »Die Personifikationen der Psychomachia beruhen keineswegs auf dem, was Auerbach ›abstrakte Allegorie‹ nennt. Sie setzen für Prudentius vielmehr gerade die typologische Bibelexegese voraus und sind nach der Intention des Dichters als eine epische Transformation derselben zu erklären. Das zeigt sich schon in der Praefatio, wo Prudentius seine Darstellung vom Kampf der Tugenden und Laster typologisch begründet.« Hervorhebung im Original.
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tis uicerit« (13f.),³⁵ wenn also »ein streitbarer Geist die zahlreichen Ungeheuer besiegt hat, denen das Herz dient.« Die Vorrede deutet damit an, dass der Kampf, den der Hauptteil schildern wird, nicht in der Seele des Menschen stattfindet, sondern in seinem herzen. Der allegorische Hauptteil der ›Psychomachie‹ wird eingeleitet von einer zweiten Vorrede, in welcher der Erzähler Christus mit den Worten anspricht: »Christe, graues hominum semper miserate labores, / qui patria uirtute cluis propriaque sed una […]«.³⁶ (1f.) Der Rahmen, der mit der Vorrede aufgespannt ist, wird geschlossen durch die Lobpreisungen und Bitten, mit denen sich der Erzähler im Epilog erneut an Christus wendet. Der Gegenstand des den Hauptteil einleitenden und abschließenden Gebets ist die Bitte um Erkenntnis von Gut und Böse und Unterstützung bei der Bekämpfung der Sünde. Darüber hinaus gibt der Rahmen auch eine Erklärung für die Unvollkommenheit des Menschen ab, die ihn zwingt, den Kampf gegen das Böse immer wieder aufs Neue auszutragen. Die Ursache für seine Erkenntnis- und Handlungsschwäche sei die Konstitution des Menschen, eine ›duplex substantia‹, also seine doppelte Beschaffenheit aus Geist und Leib: […] Feruent bella horrida, feruent ossibus inclusa, fremit et discordibus armis non simplex natura hominis; nam uiscera limo effigiata premunt animum, contra ille, sereno editus adflatu, nigrantis carcere cordis aestuat, et sordes arta inter uincla recusat. spiritibus pugnant uariis lux atque tenebrae, distantesque animat duplex substantia uires, donec praesidio Christus deus adsit […]. (902–910)³⁷
Die Notwendigkeit des Kampfes, der zuvor geschildert worden ist, entspringt also dem Dualismus, der zwischen erdgeschaffenem Leib und geistgeschaffener Seele besteht. Dieser Sachverhalt ist entscheidend für die Frage nach dem eigent-
35 Die Psychomachie des Prudentius. Lateinisch-Deutsch. Eingeführt und übersetzt von Ursmar Engelmann. Freiburg i. Br. 1959. 36 »Christus, immer hast du dich der schweren Drangsal der Menschen erbarmt, der du um des Vaters wie der eigenen Allmacht willen – die doch nur eine einzige ist… .« 37 »Schreckliche Kämpfe wüten, sie wüten im Innern unseres Herzens, und die zwieschichtige Natur des Menschen erzittert im ungleichen Kampf. Denn der Leib, aus Erde gebildet, erdrückt den Geist; dieser aber, durch reinen Hauch erschaffen, erglüht im dunklen Kerker des Herzens und wehrt sich, stark gefesselt, gegen die Sünde. Licht und Finsternis kämpfen mit verschiedenen Geistern, entgegengesetzte Kräfte leben in unserem zwiespältigen Wesen, bis Christus, unser Gott, zu Hilfe kommt… .«
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lichen Gegenstand der ›Psychomachie‹: Wenn das den Rahmen bildende Gebet Christus um den endgültigen Sieg in einem Kampf bittet, der aus dem Dualismus des menschlichen Wesens entspringt, dann bittet es in letzter Konsequenz um Heilung jener anthropologischen Spaltung, die den Kampf zwischen Tugenden und Lastern immer wieder heraufbeschwört. Weil die Sünde aus diesem Zwiespalt innerhalb des Menschen, also der conditio humana, entspringt, ist der Kampf auch nicht einfach im einen oder anderen Teil des Menschen, also in seiner Seele, seinem Herzen oder seinem Körper angesiedelt, sondern an einem Ort, der im ganzen Text unterschiedlich bezeichnet wird. Die Vorrede spricht davon, dass die Ungeheuer, denen das Herz (cor) diene, überwunden werden müssten. Der Epilog spricht dagegen, wenn er den Ort der Sünde und der Gefahr, ihr anheim zu fallen, meint, gleich von drei verschiedenen Instanzen: dem Herzen, der Seele und dem Leib: Reddimus aeternas, indulgentissime doctor, grates, Christe, tibi meritosque sacramus honores ore pio – nam cor uitiorum stercore sordet –: tu nos corporei latebrosa pericula operti luctantisque animae uoluisti agnoscere casus. (888–892)³⁸
Auch andere Stellen innerhalb des allegorischen Textes lassen den Leser darüber im Unklaren, ob der Kampf in der Seele, im Herzen oder an einem dritten, nicht näher bezeichneten Ort jenseits von Zeit und Raum stattfindet. Der Tempel beispielsweise, den die Tugenden nach der Überwindung der Laster erbauen, soll der geschmückte Tempel des menschlichen Leibes sein: nam quid terrigenas ferro pepulisse falangas culparum prodest, hominis si filius, arce aetheris inlapsus, purgati corporis urbem intret inornatam, templi splendentis egenus? (816–819)³⁹
38 »Ewigen Dank sagen wir dir, Christus, gütigster Lehrer, und weihen dir die schuldigen Lobpreisungen mit frommem Mund, denn das Herz ist befleckt vom Schmutz der Laster: du wollest uns die Gefahren, die im Leib und in der kämpfenden Seele verborgen liegen, erkennen lassen.« Hervorhebungen von mir. 39 »Was nützt es denn, die irdischen Schlachtreihen der Laster mit dem Schwert vertrieben zu haben, wenn der Menschensohn von seiner himmlischen Burg herabkommt, in die ungeschmückte Stadt eines reinen menschlichen Leibes einzieht und der schimmernde Tempel fehlt?«
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Offenbar ist eine Präzisierung des Ortes dieses Tempels nicht notwendig oder er soll bewusst unbestimmt gehalten werden – weil Gott sowohl Herz als auch Seele und Leib geschaffen hat. Alle drei Instanzen sucht er auf, wenn sich vollzieht, was die ›Psychomachie‹ erzählend herbeisehnt: Die Ankunft Gottes in seinem Geschöpf, seiner Seele, seinem Herzen und seinem Leib. Der ›Psychomachie‹ bereitet es keine Schwierigkeiten, diese Instanzen in einem Atemzug zu nennen und so aufeinander zu beziehen: mox ipse Christus […] cibum beatis offerens uictoribus, paruam pudici cordis intrabit casam, monstrans honorem trinitatis hospitae; animam deinde spiritus conplexibus pie maritam, prolis expertem diu, faciet perenni fertilem de semine. (Praefatio 59–66)⁴⁰
Das begriffliche Schwanken zwischen Herz, Körper und Seele scheint absichtsvoll zu sein, zumal es im ganzen Text nachzuweisen ist. Wenn die Notwendigkeit des unaufhörlichen inneren Kampfes aus der Spaltung des Menschen resultiert, kann dieser nicht auf einen einzigen Wesenszug des Menschen begrenzt sein, sondern muss sein ganzes gespaltenes Wesen umfassen, um eben diese Spaltung aufzuheben. Schließlich spricht der Text genau diesen Wunsch und dieses Ziel explizit aus – dass Gott die Kluft zwischen Körper und Seele gnadenhaft schließen möge: utque homini atque deo medius interuenit Hisus, qui sociat mortale patri, ne carnea distent spiritui aeterno, sitque ut deus unus utrumque, sic, quidquid gerimus mentisque et corporis actu, spiritus unimodis texat conpagibus unus. (764–768) ⁴¹
Weil der eigentliche Gegenstand der ›Psychomachie‹ nicht allein der Seelenkampf zwischen Gut und Böse ist, sondern auch im Gebet um Einheit besteht, kann auch der Kampf, der den Hauptteil bildet, nicht allein in der Seele stattfinden, sondern ist – wie zu zeigen sein wird – in einem utopischen Raum der
40 »Gleich wird auch Christus […] das Mahl den glücklichen Siegern darreichen und eintreten in das kleine Haus des züchtigen Herzens, Ehre erweisen mit dem Besuch der Dreifaltigkeit. Dann wird die Seele im Umfangen des Geistes fromme Gattin; lange ohne Kinder, wird sie nun fruchtbar aus ewigem Samen.« Hervorhebungen von mir. 41 »Wie zwischen Mensch und Gott Jesus als Mittler dazwischentritt, der das Sterbliche dem Vater vereint, damit das Fleisch nicht mehr getrennt sei vom ewigen Geist und ein Gott aus beiden sei, so soll ein Geist gleichförmig verbinden, was Seele und Leib tun.«
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bereits vollzogenen Aufhebung der Spaltung zwischen Körper und Seele angesiedelt. Gerade auch die Tatsache, dass durchaus nicht ausschließlich vom Kampf der Tugenden gegen die Laster die Rede ist, sondern auch Wiesen, Zelte, die Wasser des Jordans, die Gestalt Hiob oder Heere von Armen Teile des Geschehens bilden, verdeutlicht, dass es nicht allein um ein inneres Geschehen geht. Die ›Psychomachie‹ umfasst weit mehr als die menschliche Seele, nämlich den gesamten Menschen als Akteur und als Ziel der Heilsgeschichte. Sowohl Schlachtfeld als auch Schlacht sind ›jederzeitlich‹ und ›überortlich‹, sie sind Bedingung der Existenz des Menschen als Geschöpf Gottes und fallen mit dem einzelnen Menschen so wenig zusammen wie Gott mit seinen Geschöpfen. Weil es in der ›Psychomachie‹ um die gnadenhafte Rehabilitation des sündigen Menschen geht, ist es unmöglich, den Schauplatz des Geschehens näher zu bestimmen, zumal die Allegorien als Träger der Handlung nicht die Tugenden und Laster ei nes Menschen sind, sondern die Tugenden und Laster des Menschen. Der literarische Raum der ›Psychomachie‹ ist deshalb nicht anthropologisch konzipiert, er ist kein Seeleninnenraum, nicht einmal Innenraum, ja, nicht einmal erzählter Raum im herkömmlichen Sinne, sondern er entspringt den Allegorien, ist Ausdehnung ihres tropischen Potentials. Insofern der Raum eine E xtension der A l legor ien ist, ist er ein doppelt übertragener: Die Allegorien sind Veranschaulichungen abstrakter Sachverhalte wie z.B. Geiz: Die avaritia läuft mit großen Beuteln über das Schlachtfeld und sammelt mit offenem Munde und ehernen Krallen ein, was sie ergreifen kann. Als die Barmherzigkeit sie schlägt und die angehäuften Reichtümer verschenkt, gebiert sie gleichsam aus sich heraus die Scharen der Armen, die auf sie zuströmen und durch die das Geld seiner gerechten Bestimmung zukommen kann. Wenn eine der Tugenden ihr bluttriefendes Schwert waschen will, entspringt ein Fluss an ihrer Seite, der jedoch nicht in seiner instrumentellen Funktion aufgeht, also nicht nur das blutige Schwert reinigt, sondern auch eine heilsgeschichtliche Anbindung des Geschehens herstellt, denn der Fluss ist nicht einfach ein Fluss, sondern der Jordan. Der Raum ist hier also nicht allein der Schauplatz, auf dem die Figuren agieren, ist nicht abgegrenzt von den Handlungsträgern und ihnen gegenüber verselbständigt, sondern ebenso mit ihnen verknüpft wie diese mit der Heilsgeschichte. ›Allegorischer Raum‹ ist Raum, der den Allegorien und ihrem Handeln entspringt, also Ausdehnung der Allegorie selbst. Der Raum ›hängt‹ an den Allegorien und schon allein deshalb lässt sich nur insoweit davon sprechen, dass die Schlacht in der Seele des Menschen stattfinde, als diese, die als Ort der ›Psychomachie‹ angegeben wird, rhetorischer Effekt und Resultat der allegorischen Darstellungspraxis ist. Das Schlachtfeld der ›Psychomachie‹ ist ein Ort, der erst
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in der Überschneidung verschiedener Ebenen entsteht. Doch nicht der Mensch ist der Horizont, der diese Ebenen umwölbt und in sich birgt, sondern Gott. Der Mensch ist Teil des Prozesses, der beschrieben wird, aber nicht das, was die Handlung umgreift. Denn auch die allegorisierten Tugenden sind nicht menschliche Tugenden. Anders als die Laster, die nur insofern auf Gott verweisen, als sie auf die menschliche Spaltung in Leib und Seele zurückgehen, entspringen sie unmittelbar der göttlichen Hilfe: ipse salutiferas obsesso in corpore turmas depugnare iubes, ipse excellentibus armas artibus ingenium, quibus ad ludibria cordis obpugnanda potens tibi dimicet et tibi uincat. (14–17)⁴²
Im Kampf der Tugenden gegen die Laster kämpft also Gott im Menschen durch die von ihm verliehenen Tugenden gegen die Laster, die aus der defekten Konstitution seiner Geschöpfe entspringen. Da diese, wie gesagt, nicht die Tugenden und Laster eines Menschen sind, sondern die des Menschen, kann auch der ›Raum‹, den sie schaffen, nicht die Seele eines einzelnen Menschen sein, sondern – wenn überhaupt von einem ›inneren‹ Raum die Rede sein kann – nur die Seele aller Menschen, ein anonymes, überpersönliches und überzeitliches Inneres, keine Individualseele. Gemeint ist hier jedoch auch keine averroistische ›Kollektivseele‹, sondern ein exemplarisches Geschehen, das von der Einordnung in Raum und Zeit abstrahiert und in seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung veranschaulicht wird. Erzählt wird nicht ›vom Menschen‹ und seinem innersten Ringen, sondern von der Rolle ›des Menschen‹ innerhalb des göttlichen Heilsplans. Unter anderem aus diesem Grunde kann das Bildfeld par excellence der neuen christlichen Anthropologie, die Psychomachia, […] in seiner für das moderne Verständnis höchst befremdlichen Unanschaubarkeit – der Kampf in der Seele wird als Kampf um die Seele vorgestellt – vorzüglich erläutern, inwiefern die christliche Entdeckung der Innerlichkeit eben doch nur ein erster Anfang des Individuums war.⁴³
Der Ort der ›Psychomachie‹ kann also aus verschiedenen Gründen nicht die individuelle menschliche Seele sein: Zunächst geht es um den ganzen Men-
42 »Du selbst läßt im belagerten Leib Scharen von heilbringenden Helfern kämpfen, du selbst bewaffnest den Geist mit ausgezeichneten Mitteln, damit er in deiner Kraft mit den höhnenden Feinden des Herzens kämpfe und in dir siege.« 43 Hans Robert Jauss: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums. In: Individualität, S. 237–269, hier S. 244, Hervorhebungen im Original.
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schen und die Aufhebung seiner Zweiteilung in Körper und Seele. Kampf und Sieg stellen diese Einheit mit Gottes Hilfe her. Das Himmlische Jerusalem, das schließlich (im Leib, aber ebenso auch in der Seele) errichtet wird, ist Siegessitz Gottes und Aufenthaltsort des Menschen im Jenseits. Die ›Psychomachie‹ erzählt nicht allein von der Vereinigung von Körper und Seele, sondern auch von der Vereinigung des Menschen mit Gott – einer Vereinigung, die im Erzählgeschehen zwar in der Gegenwart stattfindet, aber, weil der Kampf immer schon stattgefunden hat und immer aufs Neue ausgefochten werden muss, zeitlos ist – jedoch nur, solange eine weltliche Perspektive auf das Geschehen eingenommen wird. Sofern die ›Psychomachie‹ von der Vereinigung des Menschen mit Gott erzählt, wird die menschliche Zeit sukzessive in eine heilsgeschichtliche überführt. Nicht nur Körper und Seele werden durch den Kampf miteinander versöhnt, nicht nur Mensch und Gott, sondern auch Mensch und Mensch, denn der Kampf ist nicht der Kampf eines Einzelnen, sondern ein exemplarisches Geschehen. Es treten nicht der eigene Hochmut gegen die eigene Demut an, sondern der menschliche Hochmut gegen die menschliche Demut. Zwar ereignet sich dieser Kampf in jedem einzelnen Menschen, doch gerade weil dies ein exemplarisch-allgemeines Geschehen ist, wird die Bedeutung der ›Psychomachie‹ dort verkannt, wo sie als ›Seelendrama‹ gedeutet wird. So kann auch der Ort des Geschehens kein individualisierter sein, sondern nur ein in der Heilsgeschichte aufgehobener. Wenn der Ort des Kampfes zwischen Tugenden und Lastern aber nicht die Seele ist, lässt sich dann überhaupt von einem ›inneren Geschehen‹ sprechen? Hat das, was geschildert wird, überhaupt etwas mit der individuellen Seele zu tun? Aus der Perspektive dieser Fragen rückt die auffällig drastische Körperlichkeit der Allegorien in ein neues Licht. Denn das Kampfgeschehen der ›Psychomachie‹ ist ein ausgesprochen blutrünstiges und grausames. Die Körper der Laster werden geschunden, gequetscht und zerstückelt, in besonderer Weise im Kampf zwischen sobrietas und luxuria. sobrietas trifft luxuria mit einem Stein und zerschlägt damit ihr Gesicht: casus agit saxum, medii spiramen ut oris frangeret et recauo misceret labra palato. dentibus introrsum resolutis lingua resectam dilaniata gulam frustis cum sanguinis inplet. insolitis dapidus crudescit guttur et ossa conliquefacta uorans reuomit, quas hauserat offas. (421–424)⁴⁴
44 »Das Schicksal lenkt den Stein so, daß er den atmenden Mund zerschmettert und die Lippen mit dem Innern des Gaumens mischt. Innen sind die Zähne zerschlagen, die zerfleischte Zun-
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Natürlich ist diese enorme Sinnlichkeit und Drastik des Geschilderten auch literarhistorisch, also auf dem Hintergrund der Literaturgeschichte des 4. Jahrhunderts, dessen literarischem Stil und seiner spezifisch christlichen Literarästhetik, zu deuten: Auch bei den heidnischen Autoren schlich sich […] die Ausmalung der Wirklichkeit in den hohen Stil ein, und in einer weit reineren […] Form drang die Stilmischung aus der jüdischchristlichen Überlieferung in das Schrifttum der Kirchenväter. Der eigentliche Mittelpunkt der christlichen Lehre, Inkarnation und Passion, war, […] mit dem Stiltrennungsprinzip ganz unvereinbar. […] Dass der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespieen, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde – diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewusstsein der Menschen beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen; sie erzeugt einen neuen hohen Stil […] oder, wenn man es umgekehrt ausdrücken will, es entsteht ein neuer ›sermo humilis‹, […] wie er nur für Komödie und Satire anwendbar wäre, der aber nun weit über seinen ursprünglichen Bereich ins Tiefste und Höchste, ins Erhabene und Ewige übergreift.⁴⁵
Diese Einordnung und Erklärung für die extreme Körperlichkeit und sinnliche Drastik der Darstellung soll durchaus nicht in Frage gestellt, allerdings um einen zusätzlichen Aspekt ergänzt und erweitert werden: Wenn die ›Psychomachie‹ von der Aufhebung der Kluft zwischen Körper und Seele erzählt, dann ist es wohl kein Zufall, dass sie sich dazu des Mittels der Allegorie bedient, denn diese stellt bereits in ihrer Form die Verschmelzung des Ungegenständlichen mit dem Gegenständlichen her. Die Allegorie ist damit die Anschaulichkeit des an sich Unanschaulichen, der Effekt einer Übertragung, der in sich Ursprung und Ziel der Übertragung erkennbar machen muss. Wenn also die Üppigkeit nicht nur personifiziert wird, sondern darüber hinaus eine anthropomorphe Gestalt erhält und sogar Mund, Haare, Zähne und Blut, dann sind damit nicht allein die Möglichkeiten der Allegorie bis an ihre Grenzen ausgereizt. In der ›Psychomachie‹ geht es nicht nur um die Freude an der drastischen Ausgestaltung, der Überreizung der Bildsprache, sondern auch – und das machen Vorrede, Prolog und Epilog explizit – um die Aufhebung von Gegensätzen, insbesondere denen von Körper und Seele, zwischen Zentrum (Allegorie) und Peripherie (Raum), zwischen Geschichte und Gegenwart in der Heilsgeschichte.
ge füllt den zerrissenen Schlund mit blutigen Fleischstücken. Gegen dieses ungewohnte Mahl wehrt sich der Gaumen, er verschluckt die zermalmten Knochen und würgt die verschluckten Bissen wieder heraus.« 45 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen und Basel 91994, Kap. II ›Die Verhaftung des Petrus Valvomeres‹, S. 53–77, hier S. 73f.
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Die Allegorie ist als ›verstetigte Metapher‹ (bereits Quintilian versteht die Allegorie als metaphora continua) diejenige poetische Form, die diese Aufhebung leisten kann, weil sie im Gestus der Übertragung nicht nur eine Verknüpfung und Verbindung zweier getrennter Sinnbereiche herstellt, sondern auch eine Verstetigung. Auch in der ›Psychomachie‹ stellt die Allegorie eine solche Verstetigung der Verknüpfung zweier Sinnbereiche her und sie tut dies auf verschiedenen Ebenen: Im Zuge des Kampfes, der diese Aufhebung ins Werk setzen soll, ist das Körperlose körperhaft und der Körper körperlos. Der Körper, in dem der Tempel Gottes gebaut wird, wird zur Seele, die körperlosen Allegorien können zerschlagene Lippen und Zähne haben. Diese Darstellung ist mehr als das Symptom eines literarischen Stils. Sie ist eine Überblendung: Während der Körper, innerhalb dessen der Kampf ausgetragen wird, kein einziges Mal auch nur angedeutet oder erwähnt wird, gerät die Körperlichkeit des Unkörperlichen immer plastischer in den Blick. Die zerschlagenen Zähne der Üppigkeit, ihre blutigen Lippen, an denen sie zu würgen hat, sind paradigmatisch für einen Darstellungsduktus, der die ›Psychomachie‹ als ganze charakterisiert. Er nimmt von der Bitte um Aufhebung der defekten conditio humana seinen Ausgang und führt dazu, dass das Einzelne nicht einzeln bleibt, sondern in die Heilsgeschichte einbegriffen wird, dazu, dass das Einmalige nicht singulär bleibt, sondern exemplarisch und überzeitlich wird, dazu, dass das Himmlische Jerusalem ein Ort Gottes im Menschen und ein Ort des Menschen bei Gott wird. Im Zuge dieser großen, vom Heilsgeschehen überwölbten Verschmelzung werden die Kategorien eines Innen und Außen nicht profiliert, sondern entgrenzt – und zwar nicht allein aufgrund der heilsgeschichtlichen Vision, die die ›Psychomachie‹ entwickelt, sondern auch aufgrund der Form, die sie nutzt, um von ihr erzählen zu können, nämlich der Allegorie. Sie ist der Mikrokosmos, in dem die Vision der ›Psychomachie‹ angelegt ist, in ihr spiegelt sich der Makrokosmos der Verheißung, die sie ausspricht: Der Einzug Gottes in den Tempel, den die Tugenden im Menschen bereiten. Nicht, weil die Allegorie eine genuin christliche Darstellungsform wäre (das Gegenteil ist schließlich der Fall), sondern weil die Allegorie als Körper des Unkörperlichen, als Form des Formlosen und als Bild des Unbildlichen die Kategorien von Innen und Außen in sich aufhebt. Diese Aufhebung hat allerdings ihren Preis, bedeutet sie doch eine (notwendige) Ausblendung der Seele selbst. Dass die ›Psychomachie‹ nicht die einzelne menschliche Seele darstellen und von ihrem Ringen zwischen Tugend und Sünde erzählen kann, hängt nämlich wiederum mit ihrer literarischen Form, also der Allegorie, zusammen. Sie ist die Vergegenständlichung, Veräußerlichung und Verselbständigung dessen, was im Erleben ungegenständlich ist wie die Regung der Scham, die gebunden ist an das, was sie auslöst, oder der
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Zorn, der nicht abstrakt, sondern ganz konkret erlebt und nicht losgelöst werden kann von dem Gegenstand, der ihn erregt. Als Abstraktion stellt die Allegorie die innere Regung ganz aus ihrem Zusammenhang gelöst dar, als Prinzip, nicht als – beispielsweise – die Großzügigkeit, die der eine einem anderen gegenüber erweist, sondern a ls d ie Großzügigkeit selbst. Wie jede Abstraktion setzt aber auch die Allegorie das Absehen vom Einzelnen voraus, sie trennt und entfernt das Allgemeine vom Einzelnen, um es mit einem Körper zu versehen und ihm so Gültigkeit zu verleihen. So vermag die ›Psychomachie‹ aufgrund ihrer allegorischen Erzählweise die Kämpfe zwischen Tugenden und Lastern in einen heilsgeschichtlichen Horizont einzurücken und die Kluft zwischen Körperlichem und Geistigem zu schließen. Doch der Preis dafür ist, dass sie, indem sie vom abstrakten Kampf erzählt, vom konkreten nicht erzählen kann, dass sie, indem sie die heilsgeschichtliche Rolle der Menschheit thematisiert, den einzelnen Menschen selbst ausblenden muss. Das ist jedoch keine thematische oder inhaltliche Entscheidung, sondern eine, die durch die Wahl des Darstellungsmittels begründet ist. Denn es »kann die allegorische Intention ihren Gegenstand nur ergreifen, indem sie das Persönliche entpersönlicht,« ⁴⁶ weil das im Akt des Glaubens gefundene Subjekt der christlichen Seele […] noch kein Individuum ist, sondern als Einzelwesen immer zugleich Allegorie des Allgemeinen, insofern mit dem Kampf in der Seele zugleich ein Kampf um die Seele, mit dem Leib des Menschen zugleich der ganze Kosmos und mit der Situation des einzelnen Menschen zugleich die Heilsgeschichte der Menschheit bedeutet sein kann. Darum ist die neu entdeckte Innerlichkeit des christlichen Glaubens auch noch kein Fluchtraum der Selbstgewißheit, sondern die Szene eines ›bellum intestinum‹, in dem die Seele, um die Tugenden und Laster, die Mächte des Himmels und der Hölle kämpfen, zunächst noch gar nicht auf den Plan tritt.⁴⁷
4.2.2 ›Rosenroman‹ Der Einfluss der ›Psychomachie‹ auf die allegorische Literatur des Mittelalters ist vor allem darin zu sehen, dass die ›allegorische Aufhebung‹, die sie paradigmatisch vorführt, von anderen späteren Texten aufgegriffen wird – vielleicht nirgends so differenziert und selbstreflexiv wie im altfranzösischen ›Rosenroman‹. Er wurde um 1230 von Guillaume de Lorris begonnen und circa vierzig
46 Jauss: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 246. 47 Jauss: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 245, Hervorhebungen im Original.
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Jahre später von Jean de Meun vollendet. Er ist eine Traumallegorie⁴⁸ und kann damit von vornherein von nichts Anderem als von einem inneren Geschehen erzählen,⁴⁹ denn alles, was sich ereignet, ereignet sich allein im und als Traum der Figur, die träumt, nämlich dem Ich-Erzähler. Im Anschluss an den kurzen Prolog eröffnet dieser den Bericht über den Inhalt seines Traumes mit den Worten: Ou vintieme an de mon aage, Ou point qu’Amors prent le paage Des juenes genz, couchiez m’estoie Une nuit, si con je soloie, E me dormoie mout forment: Si vi un songe en mon dormant Qui mout fu biaus e mout me plot. (v. 21–27)⁵⁰
Der Protagonist, ein junger Mann, bildet als Hauptfigur die Verknüpfung zwischen der extradiegetischen und der intradiegetischen Erzählung und ist dadurch doppelt in die Handlung eingebunden: Er ist nicht nur der träumende Ich-Erzähler, sondern auch der in seinem eigenen Traum Agierende, denn er träumt nicht von einem Geschehen, das sich unabhängig von ihm ereignet, sondern von sich selbst, also seinem ›Ich‹.⁵¹ In der Figur des (folgerichtig, weil der Erzähler von sich selbst träumt) namenlosen jungen Mannes sind also Realität und Traum einerseits explizit unterschieden, denn der Erzähler führt das Geschehen als ›nur‹ geträumt und somit irreal ein, als eines, das auf das Traumerleben selbst beschränkt ist: »Or vueil cel songe rimeier […].« (v. 31)⁵²
48 vgl. dazu demnächst auch: Katharina Philipowski: Der allegorische Traum als Ich-Erzählung oder die Ich-Erzählung als Traum-Allegorie: Minnelehre und Rosenroman. In: Körper-Ästhetiken. Der (allegorische) Körper als ästhetisches Prinzip. (Gender-) theoretische Perspektiven. Hrsg. von Miriam Oesterreich und Julia Rüthemann, im Druck. 49 Und bereits dieser gravierende Unterschied macht deutlich, warum der ›Rosenroman‹ keine »neue Psychomachia« (Jauss: Form und Auffassung der Allegorie, S. 195) sein kann. 50 Guillaume de Lorris und Jean de Meun: Der Rosenroman. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott, 3 Bde. München 1978–79 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 15). »Im zwanzigsten Jahr meines Lebens, an dem Punkt, an dem AMOR den Wegzoll von den jungen Leuten nimmt, hatte ich mich eines Nachts zur Ruhe gelegt, wie ich zu tun pflegte, und schlief sehr fest; da sah ich in meinem Schlaf einen Traum, der sehr schön war und mir gut gefiel.« 51 Jean de Meun wird in seiner Fortsetzung die Differenz zwischen dem textinternen Erzähler und dem textinternen Autor deutlich differenzieren, indem er den Ich-Erzähler (der den ›Rosenroman‹ als sein Traumgeschehen ausgibt) in ein Gespräch mit Amor eintreten lässt, in dessen Rahmen von Jean de Meun erzählt wird, der jedoch erst noch geboren werden muss. Darauf wird weiter unten näher einzugehen sein. 52 »Nun will ich diesen Traum in Reime fassen… .«
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Andererseits sind Realität und Traum gerade du rch die Figur des Träumenden ineinander verschränkt: Schlafender und Handelnder sind ein und dieselbe Figur, getrennt nur dadurch, dass ihre Aktionsradien auf unterschiedlichen Stufen (narrativer) Realität angesiedelt sind. Doch bereits hier, an der ersten Schwelle erzähltechnischer ›Verinnerlichung‹, wird die Grenze zwischen erzählter Realität und erzählter Traumhandlung auch mit gleichem Gestus, mit dem sie geschaffen wird, wieder überspielt, als Spiel des Erzählens ausgestellt und so ironisiert. Denn innerhalb des Erzählten ist die Differenz zwischen Traum und Wachen ja nur eine scheinbare. Die Erlebnisse des wachenden Protagonisten sind schließlich nicht weniger fiktional als die des träumenden. Die Rahmenhandlung und das Traumgeschehen, welches sie umschließt, sind ja ihrerseits umwölbt und einbegriffen in die fiktionale Erzählung, die alle Grade der Abstufung zwischen Intradiegese und Extradiegese in sich aufhebt. Der ›Rosenroman‹ beginnt also mit einem Spiel der Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen: Er zieht mit dem Traum eine Schwelle ein, die innerhalb des Erzählgefüges jedoch keinerlei Geltung erhebt oder besitzt und deshalb spielerisch, vielleicht sogar ironisch bleibt. Im Traum wandelt der Träumer durch eine idyllische Landschaft, bis er an einen Garten gelangt, der von einer Mauer umschlossen ist. Diese ist von außen mit Bildern und Inschriften verziert. Zu sehen sind die Abbildungen von Lastern wie Hass, Habsucht, Neid, Traurigkeit und Geiz, aber auch von Alter, Zeit, Armut und Tod. Die Mauer, die den Garten umschließt, besteht also aus visualisierten negativen Eigenschaften und Affekten einerseits und den Grundbedingungen irdischen Lebens wie Tod und Alter andererseits. Während das Unhöfische und Widerwärtige auf die Mauern und so nach außen projiziert, also von der Heiterkeit innerhalb des Gartens ausgeschlossen wird, findet der junge Mann im Inneren des Gartens, in den er eingelassen wird, das reine Vergnügen vor: Hier tummeln sich Jugend, Freude und Fröhlichkeit. Der imaginäre Raum, der mit dem Garten geschaffen wird, setzt die Oppositionen von höfisch/unhöfisch in räumliche Kategorien von Innen und Außen um. Dem Äußeren sind die hässlichen und abstoßenden Aspekte zugeordnet, das Innere des Gartens konstituiert sich durch diese Ausschließung als idealisierte Märchenwelt, in der allein das Angenehme und Wohlgefällige statthat. Nachdem der Protagonist die Grenze des Gartens überschritten hat, wird sich die weitere Handlung nur noch innerhalb dieses Gartens abspielen. Wir sind also in ein gleich zweifach differenziertes Innen eingetaucht: Zunächst in ein rein subjektives Geschehen, das sich in der Imagination einer imaginierten Figur (nämlich im Traum des Erzählers) abspielt, darüber hinaus aber auch in einen Innenraum, der im Traum betreten wird. Doch diese scheinbar sukzessiv sich entfaltende Innerlichkeit findet auf der Ebene der Darstellung keine Entsprechung, im Gegenteil: Zwar scheint das sub-
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jektive Erleben bereits durch die Traumallegorie vorgegeben zu sein, doch die Haupthandlung des ›Rosenromans‹ kommt ganz und gar ohne ein Innen aus. Nirgends entsteht der Eindruck, dass Gefühle a ls Gefühle beschrieben würden, dass der Roman also vom Erleben der beiden, die am Ende zusammenfinden werden, erzählt. Dieser Eindruck von Flächigkeit oder ›Flachheit‹ ist auf die Form der Allegorie selbst zurückzuführen: Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Gestalten, die dem jungen Mann begegnen und im ›Rosenroman‹ auftreten, Personifikationen und Allegorien. Die erste Figur, die eingeführt wird, ist eine dem Leser vertraute und in ihrem narrativen Status zunächst unproblematische, nämlich der Erzähler selbst, der hier ein Ich-Erzähler ist und sich in der Gestalt eines jungen Mannes präsentiert. Doch so, wie der Autor nicht einfach in der Gestalt des Erzählers in seiner Geschichte erscheint, so ist auch der junge Mann, der die Hauptfigur des ›Rosenromans‹ bildet, nicht im eigentlichen Sinne der Erzähler, sondern nur Trau mbild des Erzählers, der von sich selbst träumt. Ihm kommt im Rahmen des Textes eine singuläre Position zu, unterscheidet er sich doch sowohl von den Allegorien, mit denen er interagiert, als auch von der Rose, die er umwirbt. Denn während diese in der Art, wie sie sich auf den sie Umwerbenden ablehnend, schamhaft oder einladend bezieht, in eine Vielzahl von Allegorien zerfällt, bleibt die Figur des jungen Mannes, aus dessen Perspektive heraus erzählt wird, als Figur kohärent und in sich abgeschlossen. Er ist der blinde Fleck der Erzählung, denn während er von allen anderen erzählt, erzählt niemand von ihm, sodass seine Empfindungen nur soweit greifbar werden, als er selbst sie reflektiert, und – entweder einer Allegorie oder sich selbst gegenüber – versprachlicht. Und das kommt im Laufe der Handlung immer seltener vor. Beklagt der junge Mann zu Beginn noch seinen Liebeskummer, folgen später auf seine knappen Fragen oder Bemerkungen Monologe von Allegorien wie der Vernunft, Venus oder Natur von mehreren hundert Versen. Als blinder Fleck der Erzählung ist der Erzähler und Protagonist jedoch auch archimedischer Punkt, von dem aus alles seinen Ursprung nimmt und auf den sich jedes Geschehen bezieht, weshalb sich die Gestalt des jungen Mannes auch sowohl von der Rose als auch von den vielgestaltigen Personifikationen grundlegend unterscheidet. Er kann nämlich durchaus enttäuscht, zornig oder verletzt sein, aber dies bleibt eine Empfindung der Figur und diese wird nicht personifiziert. Er ist umgeben von einer Unzahl von Allegorien dessen, was ihm im Laufe seiner Werbung begegnet: Die ablehnende oder einladende Haltung der Rose, die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen, der Reichtum, dessen er ermangelt und der Empfang, der ihm zuteil wird. In diesen Allegorien sind Innen und Außen verschränkt, weil die Empfindungen der Rose (wie Scham oder Angst) mit äußeren Bedingungen der Werbung
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(wie Reichtum oder Glück) auf einer gemeinsamen Ebene (inter-)agieren. Erzähltechnisch wird also kein Unterschied gemacht zwischen dem, was eigentlich im Inneren der Rose vorgeht und dem, was sich in der ›äußeren‹ Welt des Rosengartens ereignet. Der Raum des Rosengartens ist gleichsam das Innere des Protagonisten, was aber eine zweifache Lesart erlaubt: Die einer Verinnerlichung – alles, was sich zuträgt, trägt sich im Inneren zu, eine weitere Differenzierung in ein Inneres im Inneren findet deshalb nicht mehr statt. Andererseits lässt sich der Befund jedoch auch als Veräußerlichung deuten: Der junge Mann hat kein Inneres, weil die gesamte Welt, in der er sich bewegt, ein totales Inneres ist, das alles, was sich darin abspielt, zur Fläche egalisiert. Weil es keine Welt des ›Rosenromans‹ gibt, in der der junge Mann handeln könnte, sondern diese Welt seine Imagination ist, begegnet ihm als äußere Bedingung, was sich eigentlich in seinem eigenen Inneren ereignet.⁵³ Die Handlung entwickelt erzählerisch die Ebenen, die bereits in der Figur des Ich-Erzählers angelegt sind, nämlich die narrative Überlagerung von Innen und Außen. Auf ihn hin sind alle Personifikationen und die Art und Weise ihres Auftretens angeordnet: Wird er empfangen, tritt ihm die Personifikation des schönen Empfangs entgegen. Findet er seine Taschen leer, steht plötzlich die Armut vor ihm. Wird er abgewiesen, muss er sich mit dem garstigen Widerstand auseinandersetzen. Jauss hat darin eine der großen Neuerungen des ›Rosenromans‹ gesehen, nämlich »daß Guillaume das traumhafte Erscheinen und Wiederverschwinden der allegorischen Figuren in anderer Weise als seine Vorgänger auf das mittelalterliche Ich und seine nie in persona sichtbare Dame zugeordnet hat.«⁵⁴ Dieses Verschwinden der allegorischen Figuren geht aber nicht auf die Unerreichbarkeit der Dame im Minnesang zurück, sondern darauf, dass die Traumallegorie alle Erscheinungen, auch die Dame, auf das Subjekt des Traumes, also den Urheber der Erscheinungen, bezieht. Sie sind Allegorien sei nes Erlebens und sei nes Traums.
53 Deswegen kann auch nicht zutreffen, was Dorothea Klein über die vielfältigen Personifikationen des ›Rosenromans‹ schreibt: »Die handelnden Figuren […], denen der Liebende im imaginären Paradiesgarten Amors begegnet, sind allesamt Personifikationen abstrakter Eigenschaften und Befindlichkeiten; sie alle verkörpern für den Amant wechselnde ›Aspekte der vielfältig figurierten Dame‹.« Dorothea Klein: Allegorische Burgen. Variationen eines Bildthemas. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von Ricarda Bauschke. Frankfurt a.M. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 113–137, hier S. 123f. Vielmehr handelt es sich bei den ›Figuren‹ ja oft auch um Personifikationen wie Jugend und Freude, die nicht ausschließlich der Dame zugeordnet sind. 54 Jauss: Form und Auffassung der Allegorie, S. 195f.
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Der ›Rosenroman‹ erzählt nicht von einer höfischen Idealwelt, sondern von einem Traum, der die eigene Wahrnehmung, den eigenen Gesichtskreis zum Gegenstand hat. Deshalb können sich auch nur die Affekte und Reaktionen ›Anderer‹,⁵⁵ nicht aber die eigenen Affekte des Erzählers zu Personifikationen verdichten. Würden sich nämlich auch seine eigenen Empfindungen und Absichten zu Allegorien verselbständigen, so stünden sich gleichsam zwei Spiegel gegenüber, die sich gegenseitig abbilden würden (so ist Amor auch nicht sei ne Liebe, sondern d ie Liebe). Der Ich-Erzähler fungiert innerhalb des Romans als der Punkt, von dem aus die Allegorien erfahr- und beschreibbar werden. Dass es sich im Falle des Erzählers im ›Rosenroman‹, wie im Falle der meisten allegorischen Texte, um einen Ich-Erzähler handelt, hängt mit der allegorischen Form zusammen. Zwar können allegorische Texte – wie in der ›Psychomachie‹ – auch einen heterodiegetischen Erzähler aufweisen. Doch diese Erzählhaltung, die bezeichnenderweise nur selten gewählt wird, bringt spezifische Probleme mit sich. Allegorien sind anschaulich, aber nicht als aktive Figuren konzipiert. Eine literarische Figur wie Erec oder Parzival ist dazu disponiert, Handlung zu erzeugen oder sich in Handlung einzulassen; sie ist ›handlungsoffen‹. Der Erzähler kann ihr also gleichsam bei ihren Kämpfen, Entscheidungen, Konflikten und Entwicklungen ›zusehen‹. Eine Allegorie wie die Armut oder der Geiz besteht allein in und aus dem, was sie darstellt. Handlung kann so nur schwer in Gang kommen. Es bedarf im Falle einer allegorischen Handlung zumeist eines Impulses, der von außerhalb der allegorischen Diegese kommt: Eine nicht-allegorische Figur, die in die allegorische Diegese und in Interaktion mit den Allegorien eintritt. Genau diese nicht-allegorische Figur ist der homodiegetische Ich-Erzähler. Er stößt die Handlung innerhalb des allegorischen Textes an, indem er die Allegorien befragt oder um Hilfe und Rat anfleht. Die ›Psychomachie‹, die auf einen Ich-Erzähler zugunsten eines heterodiegetischen Erzählers verzichtet, zeigt damit auch die Vorzüge der homodiegetischen Erzählhaltung auf, denn der heterodiegetische Erzähler kann die Allegorien nur aus großer Distanz beschreiben. Diese große Distanz, aus der heraus er sie bei ihrem wortlosen Treiben beobachtet, erzeugt eine ermüdende Leblosigkeit des Geschehens. Diese wird im Falle des Ich-Erzählers, der Handlung in die Welt der Allegorien hineintragen kann, vermieden. Im ›Rosenroman‹ folgen der Figur des Erzählers verschiedene Formen von Allegorien: Allegorien von Sachverhalten wie Reichtum oder Jugend und Allego-
55 Die es freilich im ›Rosenroman‹, der ja den Traum des Erzählers zum Gegenstand hat, eigentlich nicht gibt.
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rien von Affekten, Eigenschaften und Emotionen wie Neid, Scham oder Geduld. Die andere Art von Allegorien, die im ›Rosenroman‹ auftreten, und zwar verstärkt in der zweiten Hälfte des Textes, sind nicht der Rose oder dem jungen Mann selbst zugeordnet, sondern dienen der Beschreibung von Welt. Es sind nicht ausschließlich Allegorisierungen eines emotionalen Zustandes, sondern eines objektiven Sachverhaltes, der in der Welt vorliegt oder vorliegen kann wie Reichtum, Natur, Alter, Betrug oder Tod. Diese abstrakten Größen agieren jedoch auf einer gemeinsamen Ebene mit den Allegorien, die das Innere der Rose, um die der junge Mann wirbt, konstituieren wie der Zorn, die Scham oder die Geduld. So vermischt der ›Rosenroman‹ Allegorien von inneren, subjektiven Zuständen mit solchen von objektiven Sachverhalten wie dem Reichtum und überspielt auf diese Weise die Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt, Subjektivität und Objektivität, Empfindung (Zorn, Angst, Zweifel) und Sachverhalt (Betrug oder Armut).⁵⁶ So unterschiedlich jedoch sein mag, was allegorisiert wird, also jeweils den Gegenstand der Allegorisierung bilden mag, so ist ihre narrative Form doch jeweils die gleiche: »The form [Personifikationsallegorie] is a very elastic one. Personifications of states of mind and of categories of objective reality, moral types, specific individuals – the reader must accept them all as characters and try to relate them to the theme which the writer is developing.«⁵⁷ Das Gemeinsame dieser verschiedenen ›characters‹ wie Reichtum, Scham, Tod und schöner Empfang ist, dass ihre Bedeutung sich gleichsam i n ihrem Namen erschöpft:⁵⁸ »In personification-allegory […] the reader must take at most one translation to understand the allegory. He does not have to find a second meaning for the personification in the allegory, for they have none. Their names – Thought, Wit, Nature – express their one and only meaning.«⁵⁹
56 Die Frage, welcher Form von allegorischer Dichtung der ›Rosenroman‹ zuzurechnen ist, gehört nicht hierher. Mir scheint der Begriff der ›Allegorischen Personifikationsdichtung‹ am passendsten: Die agierenden Figuren sind in manchen Fällen Personifikationen, in anderen Allegorien, der Text selbst ist ein allegorischer. Vgl. hierzu: Walter Blank: Die Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform. Stuttgart 1970, S. 73ff. 57 Robert Worth Frank: The Art of Reading Medieval Personification-Allegory. English Literary History 20 (1953), S. 237–250, hier S. 247. 58 Und aufgrund dieser nüchternen Erschöpfbarkeit ist sie auch von Hegel für ›frostig und kahl‹ gehalten worden. Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke 13). Frankfurt a.M. 1970, S. 512. »Man sagt es daher mit Recht der Allegorie nach, daß sie frostig und kahl […] sei.« 59 Worth Frank: The Art, S. 244f. Worth Frank meint hier jedoch wohl die Form von Allegorie, die Quintilian permixta allegoria genannt und von der tota allegoria unterschieden hat – ich zitiere ein weiteres Mal seine Bestimmung des Unterschieds zwischen beiden Formen: »Im Unter-
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Während die Allegorie ›Geiz‹ nur der Geiz und nichts anderes ist, ist das Symbol dadurch charakterisiert, dass es sich in seinem Bildgehalt und seinem Namen eben nicht erschöpft. So ist die Rose, die das einzige Symbol des ›Rosenromans‹ ist, eben nicht nur eine Blume.⁶⁰ Den Gestalten von Reichtum, Geiz oder Jugend ist jeweils die Eigenschaft vorgegeben, die sie darstellen sollen. Die Erscheinung der Rose speist sich jedoch nicht aus den Eigenschaften, die sie repräsentiert. Auch tritt sie kaum je als Rose auf und spricht auch nicht (wie es alle Allegorien tun), sondern zerfällt in ihren Begegnungen mit dem jungen Mann vollständig in Einzelaspekte ihres Wesens (wie Einfachheit, Scham) oder ihres Verhaltens (wie schöner Empfang), die nirgends zu einem Ganzen synthetisiert werden und sich auch nie zu einer kohärenten (Handlungs-)Figur verdichten. Im Grunde gibt es also gar keine Rose, sondern nur zahllose Äußerungsformen, aus denen sie sich auf der Erzählebene als gleichsam ›abstrakte‹ Figur konstituiert. Lewis hat die Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol als einer der Ersten in die Forschung zum ›Rosenroman‹ eingebracht: On the one hand you can start with an immaterial fact, such as the passions which you actually experience, and can then invent visibilia to express them. […] This is allegory, and it is with this alone that we have to deal. But there is another way of using the equivalence, which is almost the opposite of allegory, and which I would call sacramentalism or symbolism. If our passions, being immaterial, can be copied by material inventions, then it is possible that our material world in its turn is the copy of an invisible world. […] The attempt to read that something else through its sensible imitations, to see the archetype in the copy, is what I mean by symbolism or sacramentalism.⁶¹
Dies bedeutet jedoch, dass die Darstellungsform der Allegorie den Symbolismus voraussetzt und dieser die Allegorie als seine natürliche Äußerungsform nach sich zieht. Denn wenn es möglich ist, dass das Ungegenständliche (wie minne) sich durch eine spezifische Erscheinung (wie Amor) im Gegenständlichen mani-
schied zur permixta allegoria gibt es in der tota allegoria keine explizite Angabe des allegorischen sensus. Das Gesagte kann ausschließlich auf der wörtlichen Ebene (dem sensus litteralis) verstanden werden, d.h. auf der Ebene der Bedeutung, die ohne weiteres verstanden wird.« Kurz: Hermeneutik der literarischen Allegorie, S. 16. 60 Im ›Rosenroman‹ ist die Rose die einzige Form, in der vom Gegenständlichen ausgegangen wird, während (abgesehen vom Erzähler) in allen anderen Formen, die die Rose umlagern, vom Ungegenständlichen ausgegangen wird. Sie, die Ziel allen Werbens, Strebens und Handelns des jungen Mannes ist, ist nicht nur die einzige Bewegung vom Gegenständlichen hin zum Ungegenständlichen, sondern löst, insofern sie ja der eigentliche Kern des Geschehens ist, die Allegorien aus, die sukzessive die Bühne des ›Rosenromans‹ bevölkern. 61 C.S. Lewis: The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition. Oxford 1936, S. 45.
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festiert, dann setzt diese Möglichkeit voraus, dass sich in jedem Gegenständlichen bereits das Ungegenständliche verbirgt, als dessen Repräsentation es verstanden werden kann, dass also auch eine Rose nicht einfach nur eine Rose ist. In letzter Konsequenz wäre in einer solchen zeichenhaften Welt alles gleichermaßen Allegorie wie Symbol und beides unterschiede sich allein in der Bewegung der Signifikation. Während nämlich die Allegorie ihren Ursprung, wie Lewis sagt, vom Ungegenständlichen nimmt, um im Gegenständlichen zu erscheinen, entspringt das Symbol im Gegenständlichen und zielt auf das Ungegenständliche. Die Allegorie vollzieht auf der Achse der Konkretion eine Abwärtsbewegung und verdichtet ein Abstraktum zu einem Bild (Amor bringt die abstrakte minne zur Anschauung), während das Symbol eine Aufwärtsbewegung vollzieht und den Abstraktionsprozess bereits voraussetzt: Nur weil die begehrte Dame ins Bild der Rose transformiert ist, das Symbol also bereits der Effekt eines Symbolisierungsprozesses ist, kann der Leser in der Rose die Dame (wieder)erkennen. ⁶² Symbol und Allegorie sind Chiffren eines Weltbildes, in dem es zwar unterschiedliche Seins- und Erkenntnisstufen gibt, aber nur eine kohärente, intelligible und vernünftige Schöpfung, deren Fluchtpunkt der göttliche logos ist: Dieses Weltbild erfaßt das Seiende als Stufenordnung des diesseitig Raumzeitlichen vom niedersten Materiellen über das Vegetative, Animalische, Vernünftige bis zum raum- und zeitlosen, absolut vernunfthaften Geistigen, dessen Gipfel Gott selber ist. Eine entsprechende Stufenordnung gilt für die Vorgänge des Erkennens zunächst auf der sinnlichen und psychischen Ebene, dann auch der des menschlichen und göttlichen Intellekts. Die Stufenordnung des Seins und Erkennens bildet ein System von Auf- und Abstiegspositionen, deren jede auf die jeweils höheren und tieferen verweist. Dieser Verweisungszusammenhang läßt sich auch als Zeichensystem verstehen. […] Die ontologischen Zeichen sind substantielle vestigia des einen Seins im jeweils Seienden und zeigen einen aktuellen Zusammenhang an.⁶³
Das Symbol ist also von der Allegorie nicht dadurch unterschieden, dass es eine Denkform ist, die Allegorie aber eine Darstellungsform (wie Lewis nahelegt,
62 Lewis wendet sich allerdings lebhaft dagegen, in der Rose ein Symbol für die Dame zu erkennen und deutet sie demgegenüber als deren Liebe: »In the first place it [die Kristall-Episode im Rosengarten] ought to remove for ever the very disastrous confusion which would identify the Rose with the Lady. The Rose, in Guillaume, is clearly the Lady’s love: in Jean de Meun it has a different signification; but nowhere does it mean the Lady herself.« Lewis: The Allegory of Love, S. 129. Lewis Deutung erklärt allerdings nicht, wie der Liebe der Dame Ablehnung, Scheu, Ermutigung oder Bewachung zugewiesen werden können. Und sie erklärt nicht, wie der junge Mann am Ende die Rose penetrieren kann, wenn sie denn tatsächlich nicht die Dame, sondern nur deren Liebe ist. 63 Ernst Hellgardt: Erkenntistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlichen Sprechens in Rhetorik und Allegorese. In: Formen und Funktionen der Allegorie, S. 25–37, hier S. 35.
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wenn er formuliert, »symbolism is a mode of thought, but allegory is a mode of expression«⁶⁴). Vielmehr sind beide unterschiedliche Gestaltungen innerhalb eines Kosmos, in dem eine Erscheinung im Auf- oder Abstieg zwischen den Polen des Gegenständlichen, das die Idee verkörpert und der Idee, die in der Erscheinung Gestalt annimmt, stetig konvertiert wird. Bis auf den Erzähler und die Rose sind alle Figuren, die im ›Rosenroman‹ begegnen, Allegorien. Sie sind Veranschaulichungen von Sachverhalten wie Jugend oder Reichtum, aber auch von Emotionen wie Scham, Zweifel oder Neid. Dabei ist allerdings nicht eindeutig, wessen Zweifel, Neid und Scham die Allegorien veranschaulichen sollen. Zunächst sind sie einfach d ie Scham und der Neid, also keiner Figur klar zugeordnet. Zumindest einige sind jedoch unzweifelhaft auf die Handlungen, Haltungen und Reaktionen der Rose bezogen, so der Freundliche Empfang, der Argwohn und der Widerstand. Sie sind Personifikationen einzelner und isolierter Aspekte eines (imaginierten) Verhaltens der (ihrerseits imaginierten) Dame.⁶⁵ In diesen Fällen werden nicht d ie Scham und der freundliche Empfang personifiziert, sondern Scham oder freundlicher Empfang der Rose. Andererseits ist das erzählte Geschehen ein exemplarisches, denn erzählt wird ja von einer höfisch standardisierten, stereotypen Werbung, der stereotypen Haltung der Dame und einem stereotypen Verlauf der Werbung. So gesehen sind auch der freundliche Empfang durch die Dame oder ihr Argwohn nicht i h r Empfang und i h r Argwohn, sondern ei n schöner Empfang und der Argwohn. Andererseits aber ist das erzählte Geschehen ja ein Traum, aus dem – wie wir bereits von Anfang an wissen – der Erzähler am Ende erwachen wird. Argwohn, Scham und Zweifel der Dame sind also nur i n nerha lb des Traumes, also intradiegetisch, der Dame zugeordnet, vom Erzählrahmen her betrachtet jedoch jene Attribute, die der träumende Erzähler auf die erträumte Dame projiziert. Nicht nur auf der Ebene des discours, auf der stets alle Erzählungen Erzählungen des Erzählers sind, sondern auch auf der Ebene der histoire entspringen sie der Imagination des jungen Mannes, der sie träumend hervorbringt. Dass die Protagonisten des ›Rosenromans‹ keine literarischen Figuren (wie der Erzähler), sondern Allegorien sind, ist signifikant, denn die Darstellung stellt sich dadurch als gleich dreifach gebrochen dar: Zunächst präsentiert sich
64 Lewis: The Allegory of Love, S. 48. 65 Sofern ihnen keine äußerlichen Attribute zukommen, sondern sie nur als Personen angesprochen werden, sind sie von Allegorien zu unterscheiden, denen die Übertragung aus dem Ursprungs-Sinnbereich bestimmte Attribute zuordnet.
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der Text als fiktionaler Roman,⁶⁶ er erzählt eine Geschichte, deren Fiktionalität er selbst thematisiert.⁶⁷ Zweitens bildet das fiktionale Geschehen die Rahmenhandlung eines Traumes. Die Traumhandlung ist so in nerha lb der Fiktion eigens als (auf Figurenebene) unwirkliches Geschehen markiert. Innerhalb der ›Traumfiktion‹ treten dann aber keine gewöhnlichen Figuren auf, sondern Allegorien. Diese Brechungen oder Fiktionsschwellen teilen sich innerhalb des Erzählgeschehens, also auf der Ebene der histoire, als formale Stufen mit, die sukzessive in das übergeordnete Thema des ›Rosenromans‹ einführen – das Begehren des jungen Mannes, welches sich auf ein Objekt richtet, das im Text durch die Rose symbolisiert wird (und ebenso gut auch ein anderes Symbol wie ein Falke oder ein Edelstein sein könnte). Die formale Sukzession, durch die der Leser tiefer und tiefer in das Innere des begehrenden Ich-Erzählers eingeführt zu werden scheint, stellt jedoch durchaus nicht – wie es sich auf den ersten Blick darstellt – einen Prozess von ›Verinnerlichung‹ dar. Die erzählten Stufungen, die vermeintlich ins Innere der umworbenen Dame oder ins Innere des jungen Mannes führen, machen nicht das Gefühlsleben des träumenden Liebenden sichtbar, sondern führen vor allem die Wirkmächtigkeit der Sprache vor – ihr Vermögen, Sachverhalte nicht nur zu beschreiben, sondern herbeizuführen. Mit der Allegorisierung von Zuständen und Affekten wie Zorn, Mut, Neid oder Scham sind diese nämlich bereits aus dem inneren Erleben isoliert und in die Anschaulichkeit veräußerlicht. Durch das Verfahren der Allegorisierung wird also gleichsam das, was in der Figur angesiedelt ist und in ihr stattfindet (wie Trauer, Scham oder Zweifel) verselbständigt und vergegenständlicht. Scham und Zorn gehören so nicht länger zu einer Figur, noch sind sie ›in‹ ihr. Die Figur ist gleichsam ›ausgeschlachtet‹, frei von jeglicher Eigenschaft, jeglicher Regung und jeglicher Emotion, weil diese sich bereits in – beispielsweise – Jugend, Süßem Blick und Angst ihr gegenüber verselbständigt haben:
66 Jauss spricht gar von der »vollendeten Fiktionalität [der] Fabel,« vgl. Jauss: Form und Auffassung der Allegorie, S. 195. 67 Am deutlichsten vielleicht durch kleine, verstreute Ironie- und Fiktionssignale wie diesem: »Mais bien vous di que tant l’amai / Que je ne le poi onques creire, / Neïs se ce fust chose veire… .« (v. 21662–64) »Doch sage ich Euch wohl, ich liebte ihn [den Durchgang, den die Rose am Ende von seinem Pilgerstab durchstoßen lässt] so sehr, daß ich es niemals glauben konnte, selbst wenn es wahr gewesen wäre.«
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Das heißt nun aber gerade nicht, daß in ihrem [der Rose] Widerstreit rein individuelle Eigenschaften der Dame personifiziert würden. Ihre persönliche Regung des Zauderns wird vielmehr durch die Form der Allegorie gleichsam entpersönlicht, ihre subjektive Entscheidung auf das objektive Verhältnis der beiden antagonalen, überpersönlichen Mächte zurückbezogen und ihr besonderes Schicksal durch die Überordnung des Allgemeinen ins Exemplarische gewendet.⁶⁸
Solchermaßen in kleinste Facetten ihrer Erscheinung und ihres Verhaltens zersplittert, kann eine Figur nur noch als Hülle auftreten und genau das geschieht, als die Rose sich dem jungen Mann am Ende schließlich doch hingibt. Der Erzähler vermag ausführlich und detailliert die beschwerliche Defloration zu beschreiben, ohne die Rose selbst dabei auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Die Metaphern, auf die zur Benennung der Geschlechtsorgane und der sexuellen Vorgänge zurückgegriffen wird, erlauben es, vom Vollzug zu erzählen und die Rose dabei vollkommen auszublenden: Par la sentele que j’ai dite, Qui tant iert estreite e petite, Par ou le passage quis ai, Le paliz au bourdon brisai: Sui mei dedenz l’archiere mis; Mais je n’i entrai pas demis. (v. 21637–21642)⁶⁹
Die Allegorisierung von Angst und Zweifel, Zaudern und Mitleid der Dame vermögen das, was in ihrem Inneren vor sich geht, zwar plastischer zu machen als jede Form der Erzählung. Doch diese Plastizität hat ihren Preis: Durch die Allegorisierung wird der Blick i n die Figur zum Blick au f sie, denn das Innere, das in der Allegorisierung vergegenständlicht wird, hört genau in dem Augenblick auf, Inneres zu sein, in dem es vergegenständlicht wird. Gerade in der Beschreibung der Gewährung der minne ist die Rose ganz dem Blick des Lesers entzogen. Ganz wörtlich findet hier eine Defloration statt. Unter dem tatkräftigen Zugriff des Erzählers auf die Rose zerfällt diese in völlige Unkenntlichkeit und Körperlosigkeit: Quant j’iere ileuc si empressiez, Tant fui dou rosier apressiez, Qu’a mon vouleir poi les mains tendre
68 Jauss: Form und Auffassung der Allegorie, S. 200. 69 »Auf dem Weg, den ich genannt habe, der so eng und klein war und auf dem ich den Durchgang gesucht habe, zerbrach ich den Zaun mit meinem Pilgerstab: In die Schießscharte bin ich eingedrungen; doch nicht zur Hälfte drang ich dort ein.«
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Aus rainseaus pour le bouton prendre. Bel Acueil pour Deu me priait Que nul outrage fait n’i ait. (v. 21695–21700)⁷⁰
Dieser Effekt ist nicht auf die Szene der Defloration beschränkt, vielmehr kommt hier zur Entfaltung, was im ›Rosenroman‹ von Anfang an durch die Allegorisierung innerer Zustände (und nicht erst in der Fortsetzung von Jean de Meun) angelegt ist. Durch sie entsteht der eigentümliche Effekt, dass eine Handlung, die ein inneres Geschehen zum Gegenstand hat, vollkommen äußerlich, ja geradezu steril wirkt. Der ›Rosenroman‹ ist eine Ich-Erzählung ohne Ich und ohne Du: In the first place he [Guillaume de Lorris] abolishes the hero, as one of his dramatis personae, by reducing him to the colourless teller of the tale. The whole poem is in the first person and we look through the lover’s eyes, not at him. In the second place he removes the heroine entirely. Her character is distributed among personifications. This seems, at first, a startling device, but Guillaume knows what he is about. You cannot really have the lady, and, say, the lady’s Pride, walking about on the same stage as if they were entities on the same plane.⁷¹
Weil der ›Rosenroman‹ ein Roman ohne Ich und Du ist, kann auch der Effekt einer erzählten Introspektion nirgends entstehen. Denn die Figuren haben ihr Inneres an die Allegorien abgegeben, diesen jedoch ist es zur Erscheinung und Gestalt geworden. Was zuvor innen gewesen ist (die Angst der Rose oder ihr Zweifel), hat sich nun zum Körper verdichtet und verallgemeinert. Als Allegorie des Zweifels ist der Zweifel jedoch nicht mehr der Zweifel der Rose, sondern nur noch Zweifel, damit aber nicht allein von der Figur, sondern gleichzeitig auch von der Handlung abstrahiert. Die einzige Art, dennoch an ihr teilzuhaben ist die Figurenrede. Nur indem sie spricht, partizipiert die Allegorie an der Handlung, deren Mittelpunkt die einzige literarische Figur im eigentlichen Sinne bildet, nämlich die des jungen Mannes. Gerade weil die Handlung (scheinbar) im Inneren angesiedelt ist, kommt der Text ganz ohne Figuren aus. Das Innen wird so als Distanzkategorie erkennbar: Ein Inneres kann es nur aus der Außenperspektive geben. Wo die Erzählperspektive bereits ins Innere hineingetaucht ist, erscheint alles flächig wie die Welt des ›Rosenroman‹. Der
70 »Als ich dort so geschäftig war, habe ich mich dem Rosenbusch so weit genähert, daß ich meine Hände ganz nach meinem Willen nach den Zweigen ausstrecken konnte, um die Knospe zu nehmen. Da bat mich der SCHÖNE EMPFANG bei Gott darum, daß dabei keine Gewalt angewendet werde.« 71 Lewis: The Allegory of Love, S. 118.
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junge Mann ist flächig, weil er immer stärker zur Funktionsfigur wird, deren Aufgabe darin besteht, den Allegorien durch Fragen oder Bemerkungen Sprechanlässe zu bieten. Die Rose ist flächig, weil sie (in der Projektion des Erzählers) nur dort in den Gesichtskreis des jungen Mannes eintritt, wo sie auf seine Werbung auf die eine oder andere Weise reagiert. Außerhalb des Gesichtskreises des jungen Mannes hat sie keine Existenz. So ergibt sich der erzählerische Effekt, dass die Rose aus Ablehnung, Verweigerung, Zugeständnissen und Erhörung zusammengesetzt wird, ohne sich jedoch je zu einer Einheit zu verdichten. Sie tritt kein einziges Mal handelnd oder sprechend in Erscheinung, selbst dort nicht, wo sie schlussendlich ›gepflückt‹ wird, und das, obwohl sie unterschwellig durch die Werbung des Protagonisten um sie den gesamten Text beherrscht. Wenig nachvollziehbar ist deshalb Jauss’ Position, der im Figurenprofil der Rose ein ›Sosein‹ angelegt sieht: Wenn […] das träumende Ich des Amant auf seinem Stationenweg das stets unsichtbare Du der erwählten Dame allein aus dem Wandel ihrer Figurationen, dem Wann, Wo und Wie ihres Erscheinens und Wiederverschwindens, erkennen muß, gewinnt die Geliebte mehr und mehr eine geheimnisvolle Gestalt, die in ihren personifizierten Eigenschaften nicht mehr aufgeht und zumal dort, wo eine Personifikation aus der vorgegebenen Rolle fällt, etwas von ihrem einmaligen Sosein verrät.⁷²
Während ihre Erscheinung ausführlich beschrieben und begehrt werden kann, zerfällt alles, was an ihrem Wesen nicht körperlich ist (wie ihre Gefühle oder ihre Reaktionen auf die Werbung) – wiederum nur in Körper, nämlich die von Argwohn, Mitleid oder Amor. Der ›Rosenroman‹ kennt nur das Außen, weil er im Innen spielt, in der Phantasie eines Träumenden. Die Allegorien des ›Rosenromans‹ bringen die Aporie des Sprechens vom Innen auf den Punkt: Nur als veräußerlicht lässt sich das Innere darstellen. Unseren Begriffen nach befindet sich beispielsweise das Herz im Inneren des Körpers. Aus der Perspektive des Herzens ist der Körper das Außen. Sobald das Herz zum Aufenthaltsort des oder der Geliebten wird, wird es zum Raum, zur Außenhülle, zum Äußeren, das die Geliebte umschließt. Das Innere an sich gibt es nicht: Außen und Innen sind keine festen Größen, sondern narrative Zuschreibungen und erzähltechnische Blickrichtungen. Und von der Erzählperspektive und Darstellungsform hängt es entscheidend ab, ob ein Innenraum in den Blick kommen kann oder nicht. Durch das Darstellungsmittel der Allegorie kann das jedenfalls nicht geschehen.
72 Jauss: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 246.
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Jean de Meun scheint diesen Sachverhalt nicht nur durchschaut zu haben, sondern er thematisiert ihn und macht ihn für seine Erzählung produktiv. Sein ›Rosenroman‹ erzählt keine innere Handlung, er kann es nicht, denn: »die allegorische Intention kann ihren Gegenstand nur ergreifen, indem sie das Persönliche entpersönlicht. Darin liegt ihre Wahrheit […].«⁷³ Aber er will es auch gar nicht. Das wird nicht nur deutlich an der Wahl der Allegorien⁷⁴ als Träger der Handlung, sondern auch daran, dass die Handlung den vermeintlichen Blick in das Innere durch die Rahmenhandlung, die das Folgende als Wiedergabe eines Traumes einführt, zurück nach außen und über den Träumenden auf den Autor wirft. Hatte Guillaume den ›Rosenroman‹ noch als einen Roman angelegt, der ein inneres Erleben des Erzählers wiedergibt, so macht Jean ihn zu einem Roman, in dem die Protagonisten ihren Autor erfinden. Jean lässt die Allegorien über Jean, der das Fragment des Guillaume fortsetzen wird, als einen noch Ungeborenen sprechen und verlegt die Handlung damit in seine eigene Vergangenheit, genauer: In eine Zeit vor seiner Zeit. Der ›Rosenroman‹ ist also ein Text, in dem es keinen ›Jean‹, mithin keinen Autor und keinen Erzähler, aber auch keinen Liebenden gibt. Amor sagt, als er sein Gefolge um sich schart, um den Angriff auf Argwohn vorzubereiten, über ihn: ›Ci se reposera Guillaumes, Li cui tombleaus seit pleins de baumes, D’encens, de mirre e d’aloé, Tant m’a servi, tant m’a loé! Puis vendra Johans Chopinel Au cueur joli, au cors inel, Qui naistra seur Leire a Meün […]‹. (v. 10561–10567)⁷⁵
Diese Konstellation ist freilich absurd: Wir befinden uns bereits in jener Fortsetzung, von der Amor behauptet, der Autor, der sie schreiben werde, sei noch nicht einmal geboren: Se cist conseil metre i peüssent, Tantost conseillié m’en eüssent; Mais par cetui ne peut or estre,
73 Jauss: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 205. 74 Die Jean allerdings nicht getroffen, sondern nur entwickelt hat. 75 »›Hier [an dieser Stelle im Text] wird Guillaume aufhören, dessen Grab voller Balsam sein möge, voll Weihrauch, Myrrhe und Aloe, so gut hat er mir gedient, so sehr hat er mich gelobt! Und dann wird Jean Chopinel kommen, mit heiterem Herzen, wendigem Leib, der an der Loire in Meun geboren werden wird…‹.«
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Ne par celui qui est a naistre, Car il n’est mie ci presenz. (v. 10605–1069)⁷⁶
Die Allegorie Amor, die Jean in der Fortsetzung des Fragments von Guillaume sprechen lässt, bittet die Göttin des Gebärens um eine gesunde Geburt für ihren eigenen Autor – und das alles in Gegenwart des Erzählers, nämlich des jungen Mannes. Dessen Verhältnis zu demjenigen, der als ›Jean‹ im Text als Autor angesprochen wird, bleibt während der ganzen Episode ungeklärt. Implizit entkoppelt sie jedoch den Erzähler von ›Jean‹ ebenso wie ›Jean de Meun‹ vom Autor. Denn wenn der Ich-Erzähler einer Szene beiwohnt, in der über einen in der Zukunft heranwachsenden Jean gesprochen wird, der die Fortsetzung des ›Rosenromans‹ schreiben wird, muss jedem Rezipienten klar sein, dass der junge Mann, der uns in der Rahmenhandlung zu verstehen gibt, dass der ›Rosenroman‹ einen Traum zum Gegenstand hat, den er einst träumte, keinesfalls Jean sein kann. Zumindest arrangiert der Autor Jean de Meun die Rede Amors so, dass derjenige, der von den Allegorien als Autor angesprochen wird und derjenige, der den Traum träumt und erzählt, zwei verschiedene Figuren sind. Selbst intradiegetisch sind also Erzähler und Autor unmissverständlich voneinander unterschieden. Und Amor geht an dieser Stelle sogar noch weiter: Seine Autorität erstreckt sich nicht allein auf den Autor, den er ankündigt und dessen Geburt jetzt (was immer das an dieser Stelle heißen mag) noch aussteht, sondern auch auf das Ende der Geschichte, das er vorwegnimmt. In seiner Rede greift er vom Beginn von Jeans Fortsetzung des fragmentarischen ›Rosenromans‹ bis zu dessen Schluss aus: Jusqu’a tant qu’il avra coillie Seur la branche vert e foillie La trés bele rose vermeille, E qu’il seit jourz e qu’il s’esveille. (v. 10599–10602)⁷⁷
Amor nimmt nicht allein das Ende der Handlung, deren Teil er selbst ist, vorweg. Er blickt sogar über das Ende der Traumhandlung hinaus und kündigt an, dass der Erzähler, der ihn träumt, erwachen wird. Und sogar über dieses Erwachen des Erzählers blickt Amor hinweg, wenn er vorhersagt, was der Erzähler, nachdem er die Schwelle des Traumes überschritten haben wird und erwacht ist,
76 »›Wenn die beiden [Guillaume und Jean] hier helfen könnten, so hätten sie mir bald geraten; doch durch diesen kann es jetzt nicht geschehen, noch durch jenen, der erst noch geboren werden muß, denn er kann ja hier nicht anwesend sein‹.« 77 »‹[B]is dahin, wo er von dem grünen und blätterreichen Ast die sehr schöne rote Rose geplückt haben wird, und es Tag wird und er aufwacht‹.«
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tun wird, nämlich die Geschichte seines Traumes erzählen. Damit sprengt Amor die Schwelle zur Rahmenhandlung, die für alle heterodiegetischen literarischen Figuren immer eine unüberwindliche Grenze ist: Die Differenzierung in histoire und discours gründet darin, dass die Figuren die Welt der Erzählung nicht verlassen können.⁷⁸ In der Vorausdeutung Amors kollabieren also nicht nur die Zeitachsen der Handlung, nicht nur ihre Sukzessionen, sondern auch die Kategorien von Erzählen und Erzählung sowie von Autorschaft. Amor richtet den Blick, den der Erzähler auf sein Geschöpf, also in die Erzählung hinein richtet, auf seinen Erzähler. Er überblickt von seinem Punkt innerhalb der histoire aus den Anfang und das Ende und blickt über dieses hinweg auf das, was geschehen wird, wenn der Traum, dessen Geschöpf er selbst ist, endet und die Geschichte, deren Teil er ist, abgeschlossen sein wird. Damit holt er auch noch den Deutungshorizont der Haupthandlung in seine Rede hinein: »Puis voudra si la chose espondre / Que riens ne s’i pourra repondre.« (v. 10603f.)⁷⁹ Ganz und gar treffend ist es daher, wenn Amor den Text, aus dem heraus und über den er spricht, als einen Spiegel bezeichnet: ›Car tant en lira proprement Que trestuit cil qui ont a vivre Devraient apeler ce livre Le Mirouer aus Amoureus […].‹ (v. 10648–10651)⁸⁰
78 Der homodiegetische und der Ich-Erzähler bilden eine Ausnahme, die Käte Hamburger dazu veranlasst hat, der Ich-Erzählung Fiktionalität abzusprechen. Käte Hamburger: Das epische Präteritum. DVjs 27 (1953), S. 329–357 und dies.: Die Logik der Dichtung. München 21987 und dies.: Die Zeitlosigkeit der Dichtung. DVjs 29 (1955), S. 413–426. Hamburger insistiert auf der Fiktionalisierung der Zeit in der Erzählung, und zwar deshalb, weil diese die (fiktive) Zeit der (fiktiven) Figuren ist. Der Ich-Erzähler aber ist – anders als der auktoriale Erzähler – Teil der fiktionalen Welt, die deshalb von Hamburger nicht als fiktionale verstanden wird. Den Aussagen ›Ich war‹ und ›er war‹ liegen im Roman unterschiedliche Zeiten zugrunde: Das Tempus der Ich-Erzählung ist folglich ein ›reales‹, weil es die biographische Vergangenheit des fiktionalen Erzählers bezeichnet, während das Tempus der Er-Erzählung die Gegenwart der fiktionalen Figuren bezeichnet und mithin eine fiktionale Gegenwart: »Wir können die fiktive Gegenwart der Romanpersonen nicht mit dem Erlebnis des Nicht-Vergangenseins gleichsetzen, d.h. ein durch die Bezeichnung ›fiktive Gegenwart‹ angegebenes Zeitmoment nicht in das Erlebnis von einer Romanhandlung einführen, die überhaupt nicht auf ein Zeiterlebnis des Lesers (und Autors) Bezug hat.« Hamburger 1987, S. 87. vgl. in diesem Zusammenhang: Katharina Philipowski: Negative Präsenz. Die gespaltene Zeit der Erzählung in Paul Ricœrs ›Zeit und Erzählung‹. Journal of Literary Theory 2 (2008), S. 71–98. 79 »›Und dann wird er [Jean] die Sache so erklären wollen, daß nichts davon verborgen bleiben kann‹.« 80 »›denn er [Jean] wird auf rechte Weise so viel darüber [über die Liebe] lehren, daß alle, die am Leben sind, dieses Buch bezeichnen müßten als den Spiegel der Liebenden‹ […].«
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Der Begriff ist an dieser Stelle doppeldeutig, sofern er nicht allein das Lehrhafte der Ausführungen Jeans über die Liebe bezeichnet, sondern einen Spiegel im wortwörtlichen Sinne, also einen Gegenstand, in den hinein geblickt wird, dessen Funktion es aber ist, zu reflektieren, was in ihn hineingeworfen wird, so wie in der Figur Amor der Blick des Erzählers in den Text hinein- und wieder aus ihm herausgeworfen wird. Und so wie der Spiegel beide Blickrichtungen simultan in sich selbst vereinigt, ist die Figur Amor Brennpunkt beider Blickrichtungen. Der sich als Autor beziehungsweise als Fortsetzer des ›Rosenromans‹ gerierende Ich-Erzähler Jean spricht aus der und durch die Figur Amor und in dessen Rede gerät der Autor in den Blick des Lesers. Darüber hinaus bezieht sich diese Stelle, in der Amor die Erzählung, aus der heraus er spricht, als Spiegel bezeichnet, auf die Verwendung der Spiegelsymbolik im ersten Teil des Romans, der noch auf Guillaume zurückgeht. Der junge Mann schreitet dort den Garten ab und trifft auf den Quell, in dem Narziss sein Spiegelbild erblickt hat. Zunächst zaudert er, blickt dann aber doch in die Quelle, aus der unentwegt frisches Wasser strömt und auf deren Grund zwei Kristalle stehen, die wie zwei Spiegel reflektieren, was sich im Garten befindet und zuträgt. Hatte Narziss sich in ihnen selbst gesehen, erblickt der junge Mann nun die Rose. Ohne auf die Forschungskontroverse eingehen zu wollen, die diese Episode zum Gegenstand hat, möchte ich nur darauf hinweisen, dass sie sich auch als eine Allegorie des Lesens verstehen ließe: Der Erzähler berichtet von einem Traum, den er gehabt habe. Die Erzählung ist also eine gerahmte Rückblende. Die Handlung hat eine höfische Werbung zum Gegenstand, die alle Register zieht, sich aber nicht zwischen einem Werbenden und einer Dame abspielt, sondern auf einen Werber und eine Rose projiziert wird. Von höfischer minne wird also nicht unmittelbar, sondern allein aus einer gewissen erzähltechnischen Distanz heraus erzählt. Das Geschehen ist kein höfisches, sondern zit ier t es nur. Der ›Rosenroman‹ ist so gesehen also nicht höfische Literatur, sondern Literatur über höfische Literatur. Und als solche bildet das Beobachten, das Erzählen und das Reflektieren ihren Subtext. Dass das Initiationsmoment der Handlung durch einen Spiegel zustande kommt, lässt sich in diesen Deutungshorizont einbeziehen. Nicht um die physikalischen Vorgänge der Erkenntnis geht es hier, sondern um die Vorgänge von Fiktion und Fiktionalisierung, der sprachlichen Hervorbringung dessen, was allein in der Sprache Geltung und Existenz besitzt. Die Kristalle lassen erkennen, was aus der eigenen Perspektive nicht wahrgenommen werden kann. Sie überbrücken Distanz und stellen das Ungegenwärtige direkt vor Augen. Sie verdichten die Welt, die sie umgibt, machen sie anschaulich und erzeugen so eine neue kleine Welt.
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Der Rosengarten, dem sich der junge Mann zuwendet, nachdem er ihn in den Kristallen erkannt hat, ist denn auch nicht mehr derselbe wie der, in dem er die Kristalle entdeckt hat. So wie der Erzähler die gesamte Handlung eigentlich nur im Traum durchlebt, so erkennt der junge Mann die Rose nicht unmittelbar, sondern als Reflexion der Kristalle, die sie ihm als Imagination vor Augen stellen wie zwei geöffnete Buchseiten. Jean de Meun hat das Potential und die Form der Allegorie nicht nur verstanden, sondern vollständig in die ästhetische Gestaltung des ›Rosenromans‹ einbezogen. Lewis zufolge beherrscht Jean seine Inhalte vollkommen – bis auf die Allegorien: The tradition of literary history has given us for our guiding thread the principle that Jean was a satirist. As if he were not a dozen things beside; as if he had not at least equal claims to be classified as a controversialist, a philosopher, a scientist, a poet of nature, a perfectly serious religious poet, a poet of the school of Chartres. The one thing that he is not is an allegorist; he is as helpless with the dainty equivalences of Guillaume de Lorris as Dr. Johnson would have been among Pope’s sylphs and gnomes.⁸¹
Diese Einschätzung wird, wie ich meine, Jeans Umgang mit der Allegorie ebenso wenig gerecht wie Jauss’ Bemerkung, Jean habe die allegorische Form nicht mehr ernst genommen.⁸² Lewis wirft Jean vor, er verlasse die allegorische Ebene immer wieder, um – freilich unwillentlich und gleichsam aus einem poetischen Versagen heraus – literal zu erzählen: He describes how the Vekke smuggles the lover into Bialacoil’s presence through a window. This is quite meaningless if we take it allegorically. Jean has forgotten that the castle and the Bialacoil’s prison within it are purely figurative: he has stumbled into the literal narration of a real intrigue, in which the duenna is admitting the gallant, by a real window, into the house or castle where his mistress lives.⁸³
Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn Jean von einer allegorischen Ebene aus literal erzählt, so nicht, weil er die Figurativität der Burg ›vergessen‹ hätte, sondern weil er während seiner gesamten Fortsetzung zeigt, dass innerhalb einer allegorischen Erzählung eine Unterscheidung zwischen Allegorie und Nicht-Allegorie nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich das sogar an einem scheinbar unproblematischen Fall wie der Erzäh-
81 Lewis: The Allegory of Love, S. 137. 82 Vgl. Jauss: Form und Auffassung der Allegorie, S. 182. 83 Lewis: The Allegory of Love, S. 140.
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lung ›Der Welt Lohn‹ Konrads von Würzburg: Wenn die Allegorie der Frau Welt den Raum betritt, ist nicht mehr eindeutig zuzuordnen, was Allegorie ist und was nicht. Gehört beispielsweise das Buch von minne und âventiure, das Wirnt gerade liest, zu ›seiner‹ Welt literarischer Figuren oder zu ›ihrer‹ allegorischen? Wenn sie die Allegorie der Welt ist, in die er sich heillos verstrickt hat, kann es dann überhaupt etwas geben, was nicht Welt ist? Und wenn die Welt sich Wirnt allegorisch präsentiert, muss dann das Geschehen, das ihrer Ankunft vorausgeht, nicht ebenfalls allegorisch, zumindest einer Allegorese zugänglich sein? Wenn die Allegorie ein Modus ist, etwas ›anders‹ zu sagen, wie soll dann zu bestimmen sein, wo die Grenze zwischen ›so‹ und ›anders‹ verläuft? Eine Grenze zwischen Allegorie und Literalität, zwischen ›anders‹ und ›nicht-anders‹ kann immer nur willkürlich sein. Wenn die Welt Wirnts Zimmer betritt, sind die Grenzen zwischen ihr und ihm nicht zu bestimmen, ist die Allegorie nicht mehr abzugrenzen von der Erzählung, denn diese w ird durch den Eintritt der Allegorie i n Gä nze zur allegorischen: Wenn es wirklich die Welt ist, die Wirnt besucht, dann ist sie auch der Raum, in dem sich Wirnt aufhält und der Raum ist auch Teil dessen, was sie zur Anschauung bringt. Für die allegorische Darstellung ist die Doppelung, die dadurch entsteht, dass die Allegorie etwas ›anders sagt‹ und dadurch zur Anschauung bringen kann, was sich gleichsam ›neben‹ ihr befindet, unproblematisch, beansprucht sie doch nicht, zu sein, sondern nur, auf andere Weise zu zeigen. So kann die Welt in Wirnts Zimmer ihren hässlichen Rücken entblößen, ohne dass sein Buch, der Raum, in dem er sich befindet, seine Kleidung oder er selbst davon, dass ihre Allegorisierung erscheint, berührt würden. So kann auch der junge Mann im ›Rosenroman‹ arm sein und der Armut begegnen. Doch wenn die Abstraktion auch verselbständigt ist, also die Erscheinungen nicht notwendig in die Allegorisierung mit einbezieht, so ist sie doch nicht von ihnen isoliert. Die Armut, die dem jungen Mann begegnet, ist natürlich auch seine Armut, doch er kann den Mangel an Geld in seinen Taschen wahrnehmen und gleichzeitig mit der Allegorie der Armut sprechen. Allegorie und Literalität sind also aufeinander bezogen, gehen aber nicht ineinander auf. So ist auch die Frage, ob das Fenster der Burg, in der der Schöne Empfang gefangen gehalten wird, allegorisch ist oder nicht, kaum eindeutig zu beantworten. Es ist allegorisch, insofern es das Fenster einer allegorischen Burg ist, doch es ist literal, insofern ihm keine allegorische Bedeutung oder Funktion zukommt, sondern es nur dazu dient, von der Befreiung des Schönen Empfangs erzählen zu können. Bereits die Tatsache aber, dass innerhalb eines allegorischen Textes kaum zu beantworten ist, was allegorisch ist und was nicht, macht das Verhältnis zwischen Erzählung und Allegorie deutlich. Gerade die Verdrängung der Handlung durch das Sprechen der Allegorien, die Verdrängung des Ich-Erzählers durch
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die Figurenrede, gerade auch das anzügliche Ende, das die unbeirrbare, entsagungsvolle höfische Werbung in eine Beschreibung der Ejakulation münden lässt, zeigt, dass Allegorie und Erzählung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Denn der ›Rosenroman‹ ist zum größten Teil nicht Erzählung, sondern Figurenrede, also direkte Rede, er ist nicht Handlung, sondern Monolog. Er ist nicht Liebesroman, sondern diskursiv, Abhandlung und Enzyklopädie. Vor allem ist er keine Darstellung eines inneren Vorgangs, ist nicht die poetische Gestaltung von Empfindung und Wahrnehmung, sondern der Blick auf ein Geschehen, das sich immer stärker veräußerlicht, zunächst in Figurenrede über Gott und die Welt, schließlich in den langen Bericht des Geschlechtsverkehrs, der die höfische Werbung nicht abschließt, sondern beendet. Mit ihm kommt das Erzählen zu einem nicht nur folgerichtigen, sondern auch notwendigen Ende. Denn Werbung und Erfüllung schließen sich auf ähnliche Weise aus wie Erzählung und Allegorie. Nur die Erzählung kann (man verzeihe die Tautologie) von einem Innen erzählen, und zwar durch einen auktorialen Erzähler, der das Innere anderer Figuren darstellt.⁸⁴ Die Allegorie hingegen kann es nicht, weil ihr Wesen darin besteht, das Innere zu ihrer Erscheinung, also zu ihrem Äußeren zu machen. Eine Allegorie kann deshalb das Innere wohl zur Anschauung bringen oder über ein Inneres sprechen (Amor tut das über viele hundert Verse hinweg), nicht aber vom Inneren erzä h len.
4.3 Architekturallegoresen: tota allegoria Im Kapitel zur permixta allegoria wurde ausgelotet, inwiefern diese dazu herangezogen werden kann, einen literarischen Innenraum zu konstituieren. Das Ergebnis war, dass die explizite Allegorie, die ihre Allegorik selbst ausstellt, dem Erzählen keinen Raum lässt, weil die Allegorie als reine Anschauung keine Handlung herbeizuführen vermag. Denn was sollte die Allegorie des Reichtums anderes tun als die Eigenschaften des Reichtums zu zeigen? Doch das Verhältnis von Allegorie und Narration ist anders gelagert im Falle der tota allegoria. Im Falle der permixta allegoria agiert die Allegorie ausschließlich im Radius ihres Bedeutungsfeldes: Die Allegorie des Zorns ist laut, heftig gestikulierend, unbeherrscht und hässlich. In dem Maße, in dem er sich aus seinem eng umris-
84 Vgl. hierzu: Katharina Philipowski: Zeit und Erzählung im Tagelied oder: Vom Unvermögen des Präsens, Präsenz herzustellen. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius. Berlin, New York 2011 (Trends in medieval philology 16), S. 181–213.
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senen Bedeutungsfeld entfernen würde und beispielsweise neidisch, geduldig oder großzügig würde, hörte er auf, der Zorn zu sein. Die Allegorien der permixta allegoria verfügen also nicht über den Spielraum, sich jenseits ihrer eigenen Bedeutung in die Handlung einzubringen: Bei der explikativen Allegorie entfaltet das ›dies ist das‹, mit dem Aristoteles die Identifikationskraft der Metapher bezeichnet, keine (oder kaum eine) metaphorische Qualität. Es liegt ein explizites Substitutionsverhältnis vor, das die jeweiligen Elemente aufeinander bezieht, indem es sie auseinanderhält.⁸⁵
Demgegenüber verfügt die tota allegoria nicht allein über eine allegorische Bedeutung, sondern über eine zweite, nicht allegorische. Ihre Allegorien sind nicht nur Tropen, sondern auch Figuren: »Man kann also formulieren, dass die (tota) Allegorie aus zwei Geschichten besteht, von denen die eine direkt gesagt wird und die andere – die zweite – mittels der ersten/in der ersten zu verstehen gegeben wird.«⁸⁶ Indem sie stets zwei Geschichten gleichzeitig erzählt, schafft die tota allegoria einen Spielraum, in dem die Reflexion des Verhältnisses dieser beiden Geschichten zueinander stattfinden kann. Ist das Innere der blinde Fleck der permixta allegoria, weil sie selbst immer nur ein Außen sein kann und ersetzt sie die erzählerische Darstellung eines Inneren deshalb durch monologische Figurenrede, so ist über die tota allegoria zu sagen, dass sie die Erzählung durch die Reflexion verdrängt, wie es paradigmatisch im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg geschieht: »In der Poetik des Tristanromans wird die Erzählung durch die Reflexion substituiert und diejenige eines zeitlich gerichteten Geschehens durch die allegorische Architektur, Zeit durch Raum.«⁸⁷ Ich möchte im Folgenden zwei solcher Allegorien vorstellen, die alle beide Architekturallegorien sind. Keine entspricht der Definition der tota allegoria vollkommen, sofern ihre allegorische Bedeutung explizit hervorgehoben, sie also irgendwann im Laufe der Handlung vom Erzähler zu einer permixta allegoria gemacht wird, jedoch erst, nachdem sie bereits in die Handlung eingeführt worden ist. Während sich die Jugend im ›Rosenroman‹ bereits als die Allegorie der Jugend vorstellt, damit ihre eigene Allegorese vollzieht, betreten Tristan und Isolde eine Grotte im Wald, die zunächst durch nichts darauf hindeutet, dass sie
85 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 21988 (Kleine Reihe 4032), S. 41. 86 Kurz: Hermeneutik der literarischen Allegorie, S. 16, Hervorhebung im Original. 87 Jan-Dirk Müller: Zeit im ›Tristan‹. In: Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostella, 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber und Victor Millet. Tübingen 2002, S. 379–397, hier S. 396.
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noch irgend etwas anderes sein könnte als eine Grotte. Würde der Erzähler sie nicht einer expliziten Allegorese unterziehen, würde wohl niemand je auf die Idee kommen, ihr eine zusätzliche Bedeutung beizumessen. Als Beispiele für allegoria tota dienen mir die Textbelege also nicht deshalb, weil sie es durchgängig sind, sondern weil sie zunächst als allegoria tota eingeführt werden und erst im weiteren Verlauf der Handlung zur permixta allegoria werden. Gerade dadurch tritt aber der Unterschied zwischen beiden deutlich vor Augen. An dieser Stelle ist jedoch noch eine weitere Differenzierung allegorischer Formen zu erwähnen, die in der Forschung diskutiert wird, nämlich die zwischen Allegoresen, die auf konkrete Gegenstände angewendet werden und synthetischen Allegorien. Thomas Cramer führt als Beispiel für erstere, die allegoria facti, mittelalterliche Schachallegoresen an. Das Schachspiel wird, obwohl nicht als Allegorie konzipiert, einer Allegorese unterzogen. Hiervon zu unterscheiden sind Cramer zufolge synthetische Allegorien, deren Substanz in der künstlichen Verbildlichung bzw. Personifikation einer abstrakten Idee besteht. Zu ihnen zählen vor allem die Minneallegorien, aber auch etwa in Romane eingestreute Aventiure-Allegorien. Gottfrieds Minnegrotte ist in der deutschen Dichtung das erste Beispiel eines solchen synthetischen Bildes, das, in Kombination beider Verfahren, dann seinerseits wieder der Allegorese unterliegt.⁸⁸
Diese Unterscheidung scheint mir allerdings weniger hilfreich zu sein als die zwischen tota und permixta allegoria, denn sie setzt eine grundlegende Differenz zwischen der Allegorese eines (vermeintlich) ›vorfindlichen‹ Gegenstandes und einem konstruierten Gegenstand voraus. Für die Analyse literarischer Allegorien ist diese Differenzierung höchst problematisch, da jeder literarische Gegenstand sprachlich geformt, mithin artifiziell und konstruiert ist. Was sollte ein ›Gegenstand der Natur oder Kultur‹ im Rahmen einer fiktionalen Erzählung sein? Umgekehrt ist mittelalterlich-allegorischem Denken auch ein außerliterarischer Gegenstand wie das Schachbrett, der Löwe, der Pelikan oder eine Burganlage durchaus nicht ›vorfindlich‹ oder ›natürlich‹, sondern Teil eines Kosmos, der als gottgeschaffener immer schon Bedeutungen in sich trägt, die allegorisch gedeutet werden können und sollen. Die Differenz zwischen Schachbrett und Minnegrotte ist deswegen so tiefgreifend nicht wie von Cramer suggeriert. Beides könnte gleichermaßen als vor-
88 Thomas Cramer: Allegorie und Zeitgeschichte. Thesen zur Begründung des Interesses an der Allegorie im Spätmittelalter. In: Formen und Funktionen der Allegorie, S. 265–276, hier S. 266.
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findlich verstanden werden, aber ebenso gut auch in seiner Konzeption bereits als Allegorie angelegt, zu Zwecken der Allegorese allegorisiert. So sind die Rollen und Funktionen der Schachfiguren natürlich nicht kontingent und die Eigenschaften der Grotte sind darauf hin kalkuliert, später als Eigenschaften der minne gedeutet werden zu können – was jedoch nicht bedeutet, dass sie zwingend auch als solche erkannt werden müssten. Das Modell für die Verräumlichung des Inneren einer Figur zu Grotte, Burg oder Garten, also zum Raum, zum Ort oder zum Gebäude, ist ein biblisches und weist bereits im Mittelalter eine lange Tradition auf: Die verschiedenen Anwendungen aus diesem Spektrum, zum Beispiel das Herz als Haus/ Tempel/Palast Christi, bedeuten also auch für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters nichts weiter als den Beleg für die Kontinuität kirchlicher Denkvorstellungen. Konkreter wirken alttestamentliche Beschreibungen, die seit den Kirchenvätern immer wieder allegorisiert werden und wegen der genauen Angaben darin eine breite Streuung im geistlichen Schrifttum haben. Erwähnt sei der Tempel Salomos, das Haus mit sieben Säulen, das sich die Weisheit erbaut (Prov. 9,1), die Exegese der Stiftshütte und vor allem die Beschreibung des himmlischen Jerusalem aus der Apokalypse.⁸⁹
Ranke hat darauf hingewiesen, dass »schon zu Beginn des 4. Jahrhunderts […] der christliche Kirchenbau in bestimmten Vergleich gebracht [wird] mit dem nachsalomonischen Tempelbau und zugleich mit dem geistigen, noch viel vortrefflicheren Bau der Kirche und mit dem Gnadenbau jeder einzelnen christlichen Seele.«⁹⁰ Die Allegorie des Tempels entsteht nicht voraussetzungslos, sondern geht auf eine Textstelle im Neuen Testament zurück, in der Jesus sich selbst als Tempel bezeichnet. Die Allegorie kann die Verknüpfung von Tempel und Mensch folglich aus der Heiligen Schrift selbst ableiten: Der erhebliche Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament im Bereich der Tempel-Terminologie aber ist in der metaphorischen Verwendung solcher Ausdrücke durch die Verfasser der Evangelienberichte und Briefe zu sehen, die in der Septuaginta einzig im eigentlichen, konkreten, nicht übertragenen Sinne gebraucht werden konnten. Jesus selbst hat den Anstoß dazu gegeben, als er aus Anlaß der Reinigung des Tempels von sich selbst als dem neuen Tempel sprach: ille autem dicebat de templo corporis sui (Ioan. 2,21). Die von Christus angewandte Metapher wird von Paulus begierig aufgenommen; wir begegnen ihr in der Folgezeit immer wieder; die Vorstellung wird bald zu einem der beliebtesten Bilder christlicher Symbolik.⁹¹
89 Blank: Die Minneallegorie, S. 157. 90 Friedrich Ranke: Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. Leipzig 1925, S. 29f. 91 Bauer: Claustrum Animæ, S. 37.
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Die Rezeption und literarische Verarbeitung dieser Metapher (die eigentlich eine verstetigte, visualisierte Metapher und insofern eine Allegorie ist) wird von den späteren christlichen Autoren modifiziert: Sah Paulus Gott im Menschen Wohnung nehmen, dessen Leib dadurch zum templum wurde, so verlegen die Väter die sedes des Herrn ins Herz. Doch selbst es wird nicht länger als organische Realität verstanden, sondern im Vollzuge einer totalen Spiritualität alles Gegenständlichen zur bildhaft-sprachlichen Ausdrucksform für diejenigen geistigen Gehalte umgewertet, die als wahre Entitäten den eigentlichen Seinshorizont des Kosmos bilden.⁹²
Im Bild des ›Tempel Christus‹ ist damit die Vieldeutigkeit der Allegorie bereits angelegt: Der Tempel ist Christus, so wie später die ecclesia Christus sein kann, weil die Ecclesia Abbild des Tempels ist. Christus selbst ist der Tempel, den er zerstört und innerhalb dreier Tage wieder aufbauen will, und der Tempel ist der mystische Leib Christi. Christi wahre Wohnstätte ist jedoch der Gläubige selbst, ist sein Herz. Diese allegorische Vieldeutigkeit hatte ja bereits die ›Psychomachie‹ aufgewiesen. Dort ist der Tempel einmal im Körper des Menschen lokalisiert: nam quid terrigenas ferro pepulisse falangas culparum prodest, hominis si filius, arce aetheris inlapsus, purgati corporis urbem intret inornatam, templi splendentis egenus? (v. 816–819)⁹³
Doch in der näheren Präzisierung dessen, wozu der Tempel dienen soll, wer ihn betritt und wie sich die Begegnung von Mensch und Gott vollzieht, werden Körper und Seele des Menschen überblendet: portarum summis inscripta in postibus auro nomina apostolici fulgent bis sena senatus. spiritus his titulis arcana recondita mentis ambit, et electos uocat in praecordia sensus, quaque hominis natura uiget, quam corpore toto quadrua uis animat, trinis ingressibus aram cordis adit, castique colit sacraria uotis […]. (v. 838–844)⁹⁴
92 Bauer: Claustrum Animæ, S. 97f. 93 »Was nützt es denn, die irdischen Schlachtreihen der Laster mit dem Schwert vertrieben zu haben, wenn der Menschensohn von seiner himmlischen Burg herabkommt, in die ungeschmückte Stadt eines reinen menschlichen Leibes einzieht und der schimmernde Tempel fehlt?« 94 »Mit diesen Namen umwirbt der Geist die verborgenen Tiefen des Herzens und weckt im Innern große Gefühle. Welche Natur auch im Menschen lebt, im ganzen Leib von einer vierfachen
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Hier werden, ohne dass eine klare Verknüpfung von spiritus und mens, corpus, cor und sensus erkennbar würde, diese Begriffe weitgehend austauschbar. Der Tempel ist im Körper, aber auch in der Seele errichtet. Er ist der Ort, an dem Gott Einzug halten soll, der aber auch einer spirituellen Selbstbesinnung dient. Der Tempel wird im eigenen Inneren erbaut, geschmückt und vorbereitet, bestimmt und vorgesehen ist er aber für Gott. Umgekehrt sind die Kirche und ihre Ausstattung auch als Innenräume des Menschen lesbar. Jeder Gläubige ist eine ecclesia: »Dementsprechend wird die ›innere‹ kunstvolle Ausstattung des Kirchengebäudes einerseits mit der Seele als dem Sitz Gottes und andererseits mit der verborgenen Schönheit der die Kirche symbolisierenden schwarzen Jungfrau aus dem Hohen Lied identifiziert (Hld 1,5).«⁹⁵ Diese Verschiebung der Bildstruktur von Christus selbst als Tempel zum Tempel, der spirituell f ü r Christus im eigenen Herzen erbaut wird, ist der Ursprung der Allegorisierung des Herzens (oder eines unspezifizierten Inneren) zum Tempel: Den Stellen aus den apostolischen Briefen, die, metaphorisch, den Gläubigen als templum bezeichnen, ist gemeinsam, daß dem Substantiv templum der Terminus [entspricht], der im Sprachgebrauch des Neuen Testaments wie schon im Alten Testament auf die Bezeichnung des eigentlichen Heiligtumes festgelegt ist. Von daher wird die Metapher sinnträchtig. […] Im Gläubigen also ›ist‹ Gott, ›wohnt‹ Gott⁹⁶
– eine Deutung, die zusätzliche Plausibilität durch stoisches Gedankengut erhielt, dem der deus internus oder die Einwohnung des Göttlichen in der Seele des Menschen eine verbreitete und geläufige Vorstellung ist.⁹⁷ Die Allegorie vom Tempel, der das Innere des Menschen verkörpert, gewinnt im Laufe des christlichen Mittelalters immer mehr an Verbreitung und Popularität: Nachdem die Metapher, von Christus selbst aufgegriffen, vom historischen Leib des Herrn auf seinen mystischen, die Kirche, übertragen war, lag es nahe, sie mit weiteren Begriffen
Kraft beseelt, der Geist kommt durch den dreifachen Eingang bis zum Altar des Herzens und schmückt das Heiligtum mit keuschen Gebeten.« Hervorhebungen von mir. 95 Kirstin Faupel-Drevs: Bildraum als Kultraum? Symbolische und liturgische Raumgestaltung im ›Rationale divinorum officiorum‹ des Durandus von Mende. In: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Hrsg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. Berlin, New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 25), S. 665–684, hier S. 676. 96 Bauer: Claustrum Animæ, S. 39f. 97 Vgl. zu stoischen Seelenlehren Alexander Brungs: Stoische Motive in Seelenlehren des Mittelalters. Pneuma und Weltseele. In: anima und sêle, S. 21–35.
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aus dem Wortfeld des Bauens oder Wohnens in metaphorischer Verwendung zu verbinden. Paulus hat dies in reichem Maße getan.⁹⁸
Die Frage, aus welchem Grund in der Literatur des Mittelalters der Gebrauch von Allegorie und Metaphorik derart populär ist, kann und muss hier nicht behandelt werden. Doch eine Antwort wäre vermutlich in der Logik der christlichen Heilsgeschichte selbst zu finden, die die Schöpfung als vernünftiges Abbild, beziehungsweise als Verweis auf ihren Schöpfer versteht. Weil die Welt (und zwar sowohl die materielle als auch die immaterielle) nach Maß und Zahl geordnet und einer einzigen und gemeinsamen Wahrheit unterstellt ist, verweist in dieser Welt stets das Eine auf das Andere, spiegelt sich das Eine im Anderen und bringt ein jedes Ding die immer gleiche und ewige Wahrheit zum Ausdruck, weil es nur eine einzige und gemeinsame Wahrheit gibt. Die Allegorie überträgt und veranschaulicht, was an anderer Stelle der Bücher Gottes geschrieben steht und verhält sich zu dem, was sie in übertragener Weise zum Ausdruck bringt, wie der Mikro- zum Makrokosmos. Das gilt in besonderer Weise für die Architekturallegorie: Als Kunst, die Räume zugleich erschafft, öffnet und schließt, eignet der Architektur ein vom Ursprung her göttliches Potential – der Schöpfer als Weltarchitekt mit Weltentwurf und Zirkel ist ein fester Typus der mittelalterlichen Schöpfungsikonographie. Die Welt in der Urgestalt ist wild, leer, formlos, erst die Sukzession der sechs Schöpfungstage schafft Strukturen zunächst im Makrokosmos, dann in der belebten und unbelebten Natur, schließlich im Mikrokosmos des Menschen.⁹⁹
Gerade die Architektur ist deshalb zur Allegorie, zur vergegenständlichenden und veranschaulichenden Übertragung, prädestiniert: So wie der Aufbau der Welt das höhere Prinzip und die höhere Wahrheit der Schöpfung dokumentiert, so wird in der Ordnung des jeweiligen Bauwerks eine höhere Wahrheit, die auch auf den Menschen selbst zu übertragen ist, sinnfällig. Für Bauwerk und Mensch gilt letztlich die gleiche Wahrheit, denn das Bauwerk ist Schöpfung eines planvollen Baumeisters, so wie Mensch und Natur Geschöpfe eines gestaltenden Gottes, eines deus artifex sind, »der bald als Weber, bald als Stricker, bald als Töpfer und bald als Schmied erscheint.«¹⁰⁰
98 Bauer: Claustrum Animæ, S. 38. 99 Mathias Herweg: Der Kosmos als Innenraum. Ein persischer Thronsaal und seine Rezeption im Mittelalter. DVjs 80 (2006), S. 3–54, hier S. 4. 100 Hans-Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Tübingen, Basel 1993 (1. Aufl. 1948), S. 528.
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Weil der Schöpfungsakt, in dem Gott die Welt formte, nicht grundsätzlich unterschieden ist von dem, durch den er den Menschen erschuf, kann die Architekturallegorie nicht nur den Aufbau der Welt veranschaulichen, sondern insbesondere auch die Konstitution des Menschen. Der Graltempel im ›Jüngeren Titurel‹ ist ein prominentes Beispiel für Räume, die nicht (oder nicht nur) Bauwerke darstellen, die menschlichem Kunstverstand entsprungen sind, sondern auch das kunstvoll aufgebaute menschliche Innere, welches seinerseits der schöpferischen Kraft Gottes zu verdanken ist. So wie jedes Bauwerk den Gestaltungswillen seines Schöpfers nicht nur sichtbar ausweist, sondern von diesem Gestaltungswillen seine Gestalt empfängt, so soll der Mensch in der Betrachtung seiner selbst das Wirken Gottes nicht nur erkennen, sondern auch für andere erkennbar machen, denn es liegt beispielsweise der Minneallegorie das säkularisierte theologische Prinzip der Allegorie als Wahrheitserkenntnis zugrunde, nicht nur eine rhetorische ›translatio‹. Als Medium der Erkenntnis- und Wahrheitsvermittlung erhebt die Allegorie den Anspruch, daß sie auch als weltliche Dichtung nicht nur, wie es die theologische Spekulation will, rein vordergründiges Wort ist, sondern, daß sie jenes vertieft und von den erkannten Strukturen her wieder aufnimmt.¹⁰¹
Denn Gott hat nicht nur die Welt erschaffen und eingerichtet, sondern den Menschen auch nach seinem eigenen Abbild geformt – was allerdings allein in der Seele zum Ausdruck kommt, in der die Gottebenbildlichkeit des Menschen sich manifestiert: Durch Gott wurden Himmel und Erde et omnis ornatus eorum geschaffen (Gen. 2,1). Den Menschen schuf er ad imaginem suam (Gen. 1,27). Alles hat er mensura et numero et pondere angeordnet (Sap. 11, 21). Aus seinen Werken kann er als artifex erkannt werden (Sap. 13, 1). […] Neu und für die Folgezeit bedeutsam war die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in der augustinischen Psychologie zur Auffassung der Seele als eines Abbildes des trinitarischen Gottes geführt hat.¹⁰²
Während der Mensch also nach Gottes Abbild geschaffen ist, ist die Welt nach Gottes Willen gestaltet. Schlägt sich in ihr auch nicht sein Abbild nieder, so doch die Rationalität und Sinnerfülltheit, die sich allein schon darin begründet, dass sie gottgeschaffen und seinem Urteil zufolge ›sehr gut‹ ist. Ist also der Mensch das Abbild Gottes, so steht die Natur in einem symbolischen Verhältnis zu ihm – sie trägt gleichsam seine Handschrift:
101 Blank: Die Minneallegorie, S. 241. 102 Curtius: Europäische Literatur, S. 527, Hervorhebungen im Original.
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Nicht gangbar wäre dieser Weg geworden ohne den Nachdruck des theologischen Satzes, Bild und Gleichnis Gottes sei der Mensch und nur dieser. Das erzwang für die übrige Welt ein andersartiges Darstellungsverhältnis der göttlichen Selbstmitteilung, wenn nicht die Sonderstellung des Menschen nivelliert werden sollte. Das Buch der Natur wäre zwangsläufig ein Bilderbuch geworden, mit der Ausschließlichkeit morphologischer Verfahren für alle seine Gegenstände, wenn es nicht gelungen wäre, die Metaphysik der Nachbildlichkeit der Erscheinungen und der Begriffe abzubrechen und solchen Relationen Vorrang für das Verständnis der Natur und ihres Ursprungs zu geben, die wir als ›symbolische‹ bezeichnen würden.¹⁰³
Die symbolische Relation, die die Struktur der Welt charakterisiert, verbürgt nicht nur ihre Erkennbarkeit (insofern sie »nicht durch Anschauung, sondern durch Denken verstanden« wird¹⁰⁴), sondern auch die grundsätzliche Übertragbarkeit, die zwischen den einzelnen Erscheinungen der Welt besteht. So ist es möglich, die Welt als Buch oder das Herz als Tempel zu betrachten. Weil die Welt immer mehr ist als nur die Welt, ist es möglich, ihre Erscheinungen differenzierter zu verstehen, wenn sie durch Vergleiche, Entsprechungen und Übertragungen gedeutet werden: Die von Gott gekommene Analogie alles Seienden entspricht den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, der als vernunftbegabtes Wesen an die irdische Substanz gebunden ist, und erlaubt es […] die geschaffene Welt zeichenhaft, wie ein Buch, zu nehmen und zur Erklärung des Unsichtbaren und so die Offenbarung der Bibel zu ergänzen durch die der Natur.¹⁰⁵
Auch dort, wo keine explizit theologisch-geistliche Aussage getroffen wird (also z.B. in der Adaption durch die weltliche Literatur) bleibt stets die ursprünglich geistliche Struktur der Allegorie erhalten, weil sie sich selbst als poetisches Verfahren noch aus der ›Lesbarkeit der Welt‹ ableitet: Im sorgfältigen Hinterfragen der erzählten Welt auf ihre ›Innenseite‹ hin übt sich der Rezipient ein in die Wahrnehmung der Welt als sinntragende göttliche Schöpfung. Einmal mehr erscheint hier die Einsicht in allegorische Bildstrukturen als Vorform der Gotteserkenntnis, verweisen die Doppelstrukturen der erzählten Welt auf die göttliche Wirklichkeit in weltlichen Erscheinungen.¹⁰⁶
103 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 31993, S. 47f. 104 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 48. 105 Freytag: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung, S. 40. 106 Anja Sommer: Die Minneburg. Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Frankfurt a.M. 1999 (Mikrokosmos 52), S. 187.
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Nur weil die göttliche Schöpfung der Welt ihre Kohärenz garantiert, nur weil alle weltlichen Erscheinungen in ihr aufgefangen sind, kann eine Übertragung überhaupt stattfinden und nachvollzogen werden. Jede Allegorie bezeugt und bekräftigt so die Sinnerfülltheit und die Intelligibilität des göttlichen Schöpfungsplanes. Wie nahe musste es also für die höfischen Autoren liegen, das universelle Verfahren der Allegorisierung auch für ihre Auseinandersetzung mit dem Inneren produktiv zu machen. Um die ganze Bandbreite der Rezeption und Adaption dieser spezifischen Form der Allegorie zu veranschaulichen, bediene ich mich zweier unterschiedlicher Textsorten. Ich beginne mit dem früheren Text aus meiner Beispielreihe, dem ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. An ihn schließt sich der spätere ›Jüngere Titurel‹ Albrechts von Scharfenberg an.
4.3.1 Minnegrotte Die Minnegrotte, wahrlich nicht arm an Deutungsversuchen,¹⁰⁷ eignet sich allerdings nur bedingt als Beispiel für Architekturallegorien, die das Innere einer Figur versinnbildlichen. Denn was die Grotte im ›Tristan‹ vergegenständlicht, ist genau genommen nicht das Innere eines Menschen oder einer Figur, wie Gert Hübner meint, der in Bezug auf die Grotte von einem »Seelenraum«¹⁰⁸ spricht:
107 So spricht Ranke davon, dass »die Liebesgrotte dem Tempel Gottes gleichgestellt« sei (Ranke: Die Allegorie der Minnegrotte, S. 15). Und da »im Gotteshaus ein Bild der menschlichen Seele als des mystischen Tempels Gottes oder der Gnade« zu erblicken sei (S. 13), bilde dieses Bild der menschlichen Seele ein Verbindungsglied zwischen Grotte und Kirche. Auch Mertens hat auf Analogien zwischen (Kloster-)Kirche und Minnegrotte hingewiesen: »Wir hatten dort [bei Suger] eine Theologie der Ästhetik gefunden, die im ästhetischen Erlebnis den Weg vom Materiellen zur mystischen Erfahrung der Transzendenz frei macht. Einen vergleichbaren Prozeß beschreibt Gottfried für den, der die Minnegrotte betritt.« Volker Mertens: Klosterkirche und Minnegrotte. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, S. 1–16, hier S. 10. Allerdings sind auch entscheidende Differenzen zu bedenken, z.B., dass die Grotte als Rundbau im Gegensatz zur Kirche kein Zeitenraum sei: »In den gängigen Auslegungen der drei geometrischen Dimensionen des Kirchengebäudes bedeutet die Länge die Zeit, die Breite den Ort, die Höhe Wert und Würde. Die Minnegrotte hat weder Länge noch Breite, sondern nur die Höhe: Die Liebe ist zeitlos, ortlos – von unveränderlichem Wert.« (S. 11). 108 So wie es übrigens auch Huber – zumindest mittelbar – tut, wenn er im Kapitel über die Minnegrotte den Wolkenpalast erwähnt, den Tristan in den Episodengedichten ›Folies Tristan‹ einen ›Seelenraum‹ nennt. Vgl. Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. Berlin 2001 (Klassiker-Lektüren 3), S. 103.
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Unbeschadet der fortwährenden Präsenz der analytischen Erzählerstimme wird die Darstellungsweise nun offen fokal, die Grotte ausdrücklich im Erleben der Liebenden vorgeführt. […] Die Erzählung signalisiert mit großer Deutlichkeit, dass man es mit der Allegorie eines Seelenraums zu tun hat, Tristan und Isolde ziehen sich nach der Verbannung in das Paradies der Innenwelt zurück.¹⁰⁹
Denn die Grotte ist nicht die Innenwelt Tristans und Isoldes, sondern eine Allegorie der minne selbst. Die Grotte ist, wie der Erzähler es formuliert, »der Minnen hus.« (v. 17029)¹¹⁰ Zwar nimmt die minne nur im jeweiligen Erleben einer Figur konkrete Gestalt an. Doch das ändert nichts daran, dass die Grotte selbst nicht das Erleben von minne durch Tristan oder Isolde veranschaulicht, sondern das Wesen vollkommener minne an sich.¹¹¹ Dass die Minnegrotte hier dennoch als Beispiel für Innenraum-Allegorien angeführt wird, liegt vor allem daran, dass an ihr exemplarisch gezeigt werden
109 Hübner: Fokalisierung, S. 361. 110 Ein wenig bemüht wirkt denn auch der Versuch von Ruth Finckh, die Minnegrotte als ›Herzraum‹ zu deuten. (Ruth Finckh: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999 [Palaestra 306], S. 297ff.). Auch das Argument, das sie dafür angibt, ist nicht stichhaltig: Finckh verweist auf Gottfrieds Formulierung im huote-Exkurs, wo er über den Mann einer vollkommenen Frau sagt, er sei »geborn unde erkorn / ze lebenden sælden alle wis, / der hat daz lebende paradis / in sinem herzen begraben; / dern darf dekeine sorge haben… .« (v. 18064–18068). Vgl: »Dieser allgemeine Minneentwurf wird, wie man sieht, sogleich auf Tristan und Isolde zurückbezogen, so daß sie als Vorbildfiguren erscheinen, als paradigmatische Besitzer eines Inneren Paradieses.« Finckh: Minor Mundus Homo, S. 300. Finckh schließt daraus: »Die Grotte läßt sich also im Sinne dieser allegorischen Interpretation als das Innere von Tristan und Isolde auffassen, als ein Herz-Raum, in dem die Werte und Kräfte ihrer vollkommenen Liebe Platz finden.« (ebd., S. 302). Dass das Herz eines glücklich Liebenden in einem paradiesischen Zustand ist oder – bildlich gesprochen – der Liebende ein Paradies in seinem Herzen trägt, bedeutet aber nicht, dass die Minnegrotte, die der Erzähler als Vergegenständlichung vollkommener minne entwirft, deshalb Sinnbild eines Herzens sei. Und dass minne als ›inneres Paradies‹ beschrieben werden kann, heißt nicht, dass ihr in jedem Falle nur im Erleben der Liebenden Existenz und Realität zukommen kann. Die Gleichsetzung von minne und herze (oder sêle) findet sich zwar häufig in der mittelhochdeutschen Literatur, sollte aber nicht dort unterstellt werden, wo es keinen stichhaltigen Hinweis dafür gibt. 111 »Der Raum, den die Wildnis umschließt, ist nicht wilde, sondern Überbietung und kontrafaktische Vollendung edler Lebensform; alle konkreten Überlebensprobleme […] sind vorab gelöst (›Speisewunder‹); für Ersatz der höfischen massenie sorgt der virtuelle Hofstaat der Vögel (›Gesellschaftswunder‹); die Architektur überbietet an Kostbarkeit wie tiefem Sinn alle Zauberschlösser der höfischen Epik, und man gibt sich nur den edelsten möglicher höfischer Beschäftigungen hin, der Literatur, der Musik und der Jagd, die letztere ohne jeden Zwang der Nahrungsbeschaffung, von dem die älteren Dichter erzählt hatten. Vor allem aber, Tristan und Isolde müssen sich nicht im vergeblichen reien abmühen.« Müller: Zeit im ›Tristan‹, S. 393.
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kann, wie Raumdarstellungen in der Literatur zu Raumbildern für ein ungegenständliches inneres Geschehen oder einen inneren Zustand – in diesem Fall die minne – genutzt werden können. An ihr lassen sich die narrativen Strategien von Allegorisierung und Allegorese mustergültig veranschaulichen. Die Grotte wird von Gottfried zunächst als ein halb-natürlicher Raum beschrieben, den in vergangenen Zeiten Riesen als Refugium genutzt haben und von dessen Existenz Tristan bereits vor der Vertreibung vom Markehof weiß. Dass dieser Raum jedoch (auch) eine Vergegenständlichung der minne ist, wird erst im Laufe der eingehenderen Beschreibung der Grotte deutlich. Der Erzähler selbst spricht die Metaphorik der Grotte explizit und unumwunden aus: Nun sol iuch niht verdriezen, irn lat iu daz entsliezen, durch welher slahte meine diu fossiure in dem steine betihtet wære, als si was. (v. 16923–16927)
Die Grotte ist also kein Raum, sondern eine Allegorie. Ihre Form veranschaulicht die Eigenschaften der minne: Einfachheit, Kraft und Vollkommenheit. Die Grotte ist imaginär und die Episode, die von ihr berichtet, beschreibt nicht nur, wo sich das Paar während seiner Abwesenheit vom Markehof aufhält, sondern auch welcher A r t das Verhältnis der Liebenden zueinander ist. Bei aller Idealität des Paares ist ihre minne doch exemplarisch und sogar der Erzähler nimmt für sich selbst in Anspruch, bereits in der Minnegrotte gewesen zu sein: diu sunnebernde vensterlin, diu habent mir in daz herze min ir gleste dicke gesant: ich han die fossiure erkant sit minen eilif jaren ie und enkam ze Curnewale nie. (v. 17133–17138)
Sein Publikum wird zu einer Identifikation mit der Erfahrung von minne (und damit zur Identifikation mit dem Paar, an dem sie sich manifestiert) eingeladen. Damit ist angedeutet, dass dieses Minnen hus, das sich überall, auch jenseits von Cornwall, finden lasse, nicht (nur) als Raum verstanden werden soll, aber eben auch nicht nur ein Zustand der subjektiven Befindlichkeit, ein persönlicher Seelenraum der Protagonisten oder des Erzählers ist. Die Grotte ist sowohl ein Raum als auch eine Erfahrung – das macht sie zur allegoria tota. Sie ist nicht allein Grotte und Allegorie, sondern gleichermaßen eine Einzelerfahrung, die zwar am Beispiel von Tristan und Isolde beschrieben wird, aber nur, um auf die Gemeinschaft der edelen herzen bezogen werden zu können. Sie findet sowohl nach der
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Vertreibung des Paares vom Markehof statt als auch zu jeder anderen Zeit, sie ist »jederzeitlich,«¹¹² sowohl im Wald lokalisiert als auch an jedem anderen denkbaren Ort. Und diese Jederzeitlichkeit und ›Überortlichkeit‹ dürfte gerade mit der Tatsache, dass die Minnegrotte nicht eine permixta, sondern eine tota allegoria ist, zusammenhängen: Die Unwichtigkeit des Zeitablaufs kommt in dem – in seinen ästhetischen Konsequenzen noch beileibe nicht hinreichend gewürdigten – Faktum zum Ausdruck, daß Wesen und Eigenart des Grottenlebens in der Form einer Raum-Allegorie dargeboten wird. Im allegorisch ausgelegten Raum ist Zeit stillgestellt.¹¹³
Mit dieser Beobachtung kontrastiert jedoch, dass man, Müller zufolge, ein »Unbehagen am Tagesablauf nicht loswird. Anlaß ist die abweichende Behandlung von Zeit im Unterschied zum übrigen Roman. Der genau geschilderte Tagesablauf läßt sich auch als ein angestrengtes Vergnügungsprogramm lesen, als ein Pensum, das zu absolvieren ist.«¹¹⁴ Unabhängig davon, ob man sich dieser Deutung anschließen möchte oder nicht, ist unabweisbar, dass die Zeit in der Grotte einerseits stillsteht, andererseits aber klar eingeteilt ist. Damit fügt sich die Dimension der Zeit jedoch nur in die ambivalente poetische Struktur der Grotte als ganzer: Sie ist sowohl Raum als auch minne. Sie ist exklusiv und exemplarisch. Sie ist »Begriff gewordener Hof«¹¹⁵ und gehört dennoch einer Zeit vor der Zeit an.¹¹⁶ Sie liegt mitten in der wilde, ist aber dennoch Ort »beherrschter Sexualität.«¹¹⁷ Und in dieser Verdichtung der tota allegoria, die immer ein einerseits einem andererseits gegenüber-
112 So Müller in: Zeit im ›Tristan‹, S. 387. Müller bezieht sich mit diesem Begriff seinerseits auf Herbert Herzmann: Warum verlassen Tristan und Isolde die Minnehöhle? Zu Gottfrieds ›Tristan‹. Euphorion 69 (1975), S. 219–228, hier S. 226. 113 Müller: Zeit im ›Tristan‹, S. 385. 114 Müller: Zeit im ›Tristan‹, S. 394. 115 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 323. 116 Müller schließt aus diesen Bemerkungen zur Entstehungszeit der Grotte und zur Zeit, zu der Tristan sie findet, auf die mythische Zeitkonzeption, die in ihr herrscht: »Der Ursprung der Grotte liegt demnach vor Cornwalls Eintritt in die Geschichte. Sie entstand vor Ankunft der Trojaner in Britannien, von der die Artussage und die Geschichte des britischen Königtums – aber das heißt auch: der höfische Roman – ihren Ausgang nehmen. Sie liegt damit jenseits der ritterlichhöfischen Welt, in der sich Tristan bis dahin bewegte, Tristan, der ja nach einigen Versionen der Sage ein Artusritter ist.« Müller: Zeit im ›Tristan‹, S. 386. 117 Müller: Zeit im ›Tristan‹, S. 395. Beherrscht allerdings ist diese minne nicht als unterworfene, sondern als höfische: »Solch vollendete minne-Liturgie, die ganz und gar kein ›Fest der Liebe‹ ist […] besteht folglich nicht aus dem, was nach unserer Vorstellung zwei unglücklich Liebende, endlich allein, zu tun haben, sondern ausschließlich aus den Elementen eines höfischen
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stellt und das Eine mit dem Anderen verknüpft, herrscht auch nicht nur eine Zeit, sondern zwei. Die Forschung zur Grotten-Episode hat sich von jeher daran gestoßen, dass dieser Wechsel von der allegoria tota zur allegoria permixta, von der impliziten zur expliziten Allegorie, unvermittelt und abrupt erfolgt – Ranke nennt sie »umständlich.«¹¹⁸ Der Erzähler scheint sich selbst darüber im Klaren zu sein, wie abrupt seine Enthüllung des allegorischen Charakters der Minnegrotte ist, wie unvermittelt die explizite Allegorese und die eingeschobene Didaxe den Erzählfluss unterbrechen und sein Publikum überraschen und irritieren würde. Deshalb bittet er seine Zuhörer um Nachsicht und Billigung dafür, indem er sie mit den Worten: Nun sol iuch niht verdriezen… auf seine Allegorese vorbereitet. Mit dieser captatio benevolentiæ greift er auf die Tradition der Allegorese in der geistlichen Dichtung zurück. Dort gibt es stereotype Wendungen, die die Beziehung zwischen den beiden Zusammenhängen, die durch die Übertragung aufeinander bezogen werden (wie im Falle der Grotte der Raum und die minne), festlegen und bezeichnen: Diese exegetische Verknüpfung der geschaffenen und natürlichen Dingwelt […] mit dem geistigen Kosmos […] vollzieht sich – häufig unter Beobachtung formaler Regeln – nach einem bestimmten gedanklichen Schema. […] Entsprechend ist es üblich, den Übergang von der historischen Exegese zur allegorischen ausdrücklich zu benennen […].¹¹⁹
In Gottfrieds ›Tristan‹ ist es der Terminus meine, den Gottfried wählt, um das Verhältnis zwischen den architektonischen Bauelementen und den Eigenschaften der minne, die sie darstellen sollen, zu veranschaulichen und den Leser auf seine anschließende Allegorese einzustimmen. meine ist eine präzise Übersetzung lateinischer Termini, die den allegorischen Charakter eines Textes bezeichnen. Es kehren bei der allegorischen Schriftexegese bestimmte Verba wieder, die zur Verknüpfung des buchstäblichen mit dem spirituellen Sinn gebraucht werden und also im Mittellateinischen eine Sonderbedeutung besitzen, die mit verschiedenen theoretischen […] Implikationen der allegorischen Schriftexegese korreliert. Solche Verba sind besonders significare, das semantisch die signum-Theorie einbezieht, und comparare, das die Analogiestruktur
Festes, der kurzewile (17242).« Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 330f. Hervorhebungen im Original. 118 Ranke: Die Allegorie der Minnegrotte, S. 6. 119 Freytag: Theorie der allegorischen Schriftdeutung, S. 38f.
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der Allegorie enthält, esse, das die gottgewollte teilweise Identität von Bedeutendem und Bedeutetem stärker ausdrückt.¹²⁰
Mit dem narrativen Verfahren, das der Erzähler hier anwendet und für das er um Nachsicht wirbt, erzeugt er einen doppelten Effekt: Einerseits unterwandert er seine eigene Erzählung, indem er die unausgesprochene Vereinbarung¹²¹ verletzt, die der Rezipient mit ihm eingeht und die darin besteht, dass eine Geschichte erzählt wird, von der beide Parteien wissen, dass sie faktisch so niemals stattgefunden hat, von der aber so getan wird, als würde sie für wahr gehalten werden, damit Fiktionalität überhaupt gelingen kann. Der Ezähler unterwandert diese Vereinbarung nicht nur in der Minnegrotten-Episode, sondern auch an verschiedenen anderen Stellen, beispielsweise dort, wo er vom sogenannten Speisewunder erzählt und selbst darauf hinweist, dass es eigentlich nicht sein könne, dass Menschen ohne Nahrung überlebten: Genuoge nimet hier under virwitze unde wunder und habent mit vrage groze not, wie sich Tristan unde Isot, die zwene geverten in dirre wüeste ernerten. des wil ich si berihten, ir virwitze beslihten: si sahen beide ein ander an, da generten si sich van. (v. 16807–16816)
Indem der Erzähler auf die Unglaubwürdigkeit dessen hinweist, was er berichtet, macht er darauf aufmerksam, dass die Wahrheit seiner Erzählung nicht auf der Faktenebene beruht. Indem er die erzählte Handlung als unwahr ausweist, gesteht er für einen kurzen und prekären Moment ein, dass es weder eine Grotte gibt, noch einen Aufenthalt darin, kein Liebespaar, das die Minnegrotte bewohnt, keine Riesen, die die Grotte erbaut haben und keinen Marke, der das Paar von seinem Hof vertrieben hat.
120 Freytag: Theorie der allegorischen Schriftdeutung, S. 39. 121 Die ›Fiktionalitätsvereinbarung‹ ist »das mehr oder weniger stillschweigende Einverständnis eines Publikums […], welches, nach der unverwüstlichen Formel von Coleridge, freiwillig auf sein Einspruchsrecht verzichtet. Diese Konvention erlaubt dem Autor, seine fiktionalen Objekte, ohne sich ausdrücklich an den Empfänger zu wenden, in im Searlschen Sinne ›deklarativer‹ Form zu setzen, wobei die als gegeben erachtete Vorbedingung einfach darin besteht, dass er das Recht dazu hat.« Gérard Genette: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 51.
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Um diesen Augenblick der narrativen Destruktion wörtlicher Bedeutung gemeinsam mit seinen Hörern und Lesern sicher überbrücken zu können, bedarf der Erzähler ihres Wohlwollens und deshalb wirbt er es ein, bevor er die Illusion von der Grotte, die gar nicht existiert und des Speisewunders, das gar nicht möglich ist, zerstört. Warum tut er das? Warum thematisiert er offen, dass das, was er erzählt, weder möglich noch wahrscheinlich ist? Er unternimmt es des zweiten Effektes wegen, den er damit erzielt und um dessentwillen er den ersten in Kauf nehmen muss: Um sich direkt und unmittelbar an den Rezipienten wenden zu können. Der Erzähler muss, um dies zu tun, eine Distanz zum erzählten Geschehen erzeugen, er muss gleichsam der Geschichte, die er erzählt, den Rücken zuwenden, die Handlung abrupt unterbrechen, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Handlung weg und au f die meine umzulenken. Was er mit dieser drastischen Enthüllung bewirkt, ist ein Verfremdungseffekt, dessen Funktion es ist, Spannung und Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erhöhen und ihn durch eine Irritation der gewohnten Rezeptionshaltung zur Reflexion aufzufordern. Der Erzähler verstärkt die Wirkung dieses Wechsels von der fiktionalen zur didaktischen Aussage, indem er die Grotte, die er vor unseren Augen durch seine Beschreibung aufgebaut hat, nicht allegorisiert, sondern umgekehrt eine Allegorese betreibt: Er baut nicht die Grotte als Allegorie der minne auf, nimmt also nicht von der minne den Ausgang, sondern er dekonstruiert die Grotte, indem er jedes ihrer Teile als eine Eigenschaft vollkommener minne deutet: Nicht die minne ist wie die Grotte, sondern die Grotte wie die minne. Deshalb wird der allegorische Status nicht dort deutlich, wo das Aussehen der Grotte beschrieben (v. 16703–16766), sondern da, wo es auf die minne bezogen wird (v. 16923–17090). Die Metaphern, die für einzelne ihrer Aspekte gewählt werden, verdichten sich in der Beschreibung der Grotte, die sich aus den einzelnen Attributen der minne konstituiert. Allerdings kann diese Übertragung von der minne auf den Raum nur deshalb stattfinden, weil das literarische Ideal ›minne‹ seinerseits Effekt einer Übertragung ist: Nur weil minne und ir gelegenheit niht uf die straze sint geleit noch an dekein gevilde: si loschet in der wilde, zir cluse ist daz geverte arbeitsam unde herte (v. 17075–17080),
ist es möglich, diese Eigenschaften der minne als Eigenschaften eines Raumes darzustellen. Was der Erzähler in der Minnegrotten-Episode tut, ist also nur eine Entwicklung jenes Bildprogrammes, das in der minne, die rein, lauter, wechsel-
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seitig, heiter, beständig und unverbrüchlich sein soll, bereits angelegt ist.¹²² Seine poetische Leistung besteht darin, die Metaphorik, die die höfische minne konstituiert, zur Allegorie auszubauen und zu verstetigen: Die Grotte ist w ie die minne, weil diese so ist w ie die Gestalt der Grotte. Der Erzähler benennt diesen Zusammenhang explizit, wenn er davon spricht, dass die Eigenschaften der Grotte die minne nicht allein bedeuten, sondern dass sie die minne seien: Obene in die fossiure da waren niwan driu vensterlin schone unde tougenlichen in gehouwen durch den ganzen stein, da diu sunne hin in schein: der einez ist diu güete, daz ander diemüete, daz dritte zuht […]. (v. 17058–17065)
Doch obwohl er davon spricht, dass das Fenster die Bescheidenheit nicht bedeutet, sondern die Bescheidenheit sei, darf die Ebene der Übertragung zwischen minne und Raum, zwischen Fenster und Bescheidenheit, nicht übersprungen werden. Denn nur solange beides aufrecht erhalten wird – der Raum auf der einen Seite und die minne auf der anderen – können beide wechselseitig aufeinander verweisen, kann die Übertragung vom einen aufs andere stattfinden. In der Grotte fallen also durchaus nicht Raum und minne in eins, vielmehr bleibt beides nebeneinander bestehen. Und weil beide Konnotationen selbständig bestehen bleiben müssen, macht der Erzähler die Zäsur, die zwischen der Bedeutung von Raum und der von minne besteht, auch so deutlich. Sie muss empfunden, sie soll erkannt werden: Der Erzähler wendet sich hier, jenseits der erzählten Welt, direkt an den Leser oder Zuhörer und verständigt sich mit ihm über den ontologischen Status des Erzählten: Es braucht nicht ›wahr‹ zu sein im Sinne eines direkten Realitätsbezuges. Statt dessen dient die eigene Gefühlserfahrung des Erzählers dazu, einen um so höheren Anspruch des Gesagten zu untermauern: den Anspruch auf emotionale Authentizität.¹²³
So plötzlich der Erzähler die Fiktionalität der Handlung entblößt hat, um sein Publikum direkt anzusprechen und über die minne zu belehren, so unvermittelt
122 Und offenbar ist es dieser Sachverhalt, aufgrund dessen Cramer die Minneallegorie als ›synthetische Allegorie‹ bezeichnet und von – vermeintlich – ›vorfindlichen‹ Allegorien unterscheidet (vgl. Cramer: Allegorie und Zeitgeschichte, S. 266). 123 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 284.
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bedeckt er sie auch wieder und nimmt den Erzählfaden genau an jener Stelle auf, wo er ihn zuvor durch die Allegorese durchtrennt hatte: Diu getriuwe massenie, Tristan und sin amie si hæten in der wilde ze walde und ze gevilde ir muoze und ir unmuoze besetzet harte suoze. (v. 17139–17144)
Der Erzähler versteht es, in der Minnegrotten-Episode die Grotte zunächst als Raum einzuführen, diesen dann unvermittelt in Bedeutung aufzulösen¹²⁴ und durch die Irritation, die diese Auflösung erzeugt, die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf das zu lenken, was er aus dem Handlungszusammenhang isolieren und thematisieren will: Die vollkommene höfische minne. Nachdem er diese seinem Publikum vor Augen geführt hat, kehrt er ebenso virtuos wie brüsk auf die buchstäbliche Erzählebene zurück, auf der die Grotte jener Raum ist, in dem Tristan und Isolde für die Zeit ihres Exils vom Hof Zuflucht finden. Das tut er jedoch nicht aus Unachtsamkeit oder Unvermögen – der Eindruck, der nach der Allegorese der Minnegrotte und der Rückkehr des Erzählers zu den Ereignissen in der Minnegrotte beim Rezipienten entsteht, ist nicht der, dass hier zwei Erzählformen, die allegorische und die literale, unvermittelt nebeneinander stünden. Vielmehr suggeriert die Umstandslosigkeit, mit der Gottfried von der literalen Ebene auf die allegorische und von dort wieder zurück auf die literale wechseln kann, dass diese beiden Ebenen nur zwei Seiten ei ner Medaille sind, dass keine Kluft sie trennt, sondern dass sie auf zwei unterschiedlich akzentuierte Arten die gleiche Geschichte von minne erzählen. Die Allegorese der Grotte gibt Antwort auf die Frage, was makellose minne charakterisiert und welche Metaphern in der Literatur herangezogen werden, um ihre Eigenschaften und Attribute zu verbildlichen. Sie gibt nur über diesen Umweg eine Antwort auf die Frage, was und wie Tristan und Isolde empfinden. Ist aber nicht die minne, die der Grotte ihren Namen verliehen hat und der das kristallene Bett im Zentrum geweiht ist, genau das, was Tristan und Isolde
124 Weil die Minnegrotte in ihrer Deutung als permixta allegoria, als Allegorie der minne, aufhört Raum zu sein, können ihr Episoden eingeschrieben werden, die zu ihr als Raum keine unmittelbaren Beziehungen haben, in ihrer erweiterten allegorischen Lesart aber direkt mit ihr zusammenhängen wie die Hirschjagd-Szene, die Armin Schulz einer neuen Deutung unterzogen hat. Vgl.: Armin Schulz: in dem wilden wald. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried. DVjs 77 (2003), S. 515–547.
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empfinden? Ist es, anders gewendet, wirklich sinnvoll, zwischen der Grotte als »innerstem Seelenbezirk«¹²⁵ und der Grotte als Gestalt der minne zu unterscheiden? Diese Differenzierung ist sinnvoll, weil erst sie zu erkennen erlaubt, dass das Innerste von Tristan und Isolde, in das die Grotten-Episode uns einen vermeintlichen Einblick gestattet, ein Ort vollkommener höfischer Repräsentation ist: Das Reich des neuen, vollkommenen Herrscherpaares aber liegt in der Wildnis, sein Hof ist die minneGrotte. Nachdem sich der zu Tintajol als so gemeiner Hof wie sein Herr als minderer Adliger erwiesen hat, gründen die beiden Höfischen schlechthin, die Exponenten der minne-Kultur, eine edlere Herrschaft, deren idealer Hof nur noch aus ihnen beiden besteht und dennoch vollständig ist; es bedarf dazu keines ›Gesellschaftswunders‹.¹²⁶
Letztlich also ist die Frage, ob in der Grotte ein ›Seeleninnenraum‹ zur Anschauung gelangt oder die minne, hinfällig, dies jedoch nicht, weil die minne eben dasjenige ist, was die Liebenden empfinden, sondern weil die Herrscherin minne das Paar zu Mustern höfischer Idealität formt. Es ist die minne selbst, welche wieder den Anschluss an die gesellschaftliche Öffentlichkeit herstellt, weil sie keine Privatangelegenheit ist, sondern »aller edelen herzen brot.« (v. 233) Wenn minne nicht ausschließt, sondern die Vergesellschaftung aller edelen herzen herbeiführt, dann kann auch der Tempel dieser minne, die Grotte, kein Ort der Intimität und Subjektivität sein, sondern ist (und zwar sowohl als Minnegrotte wie auch als ›Seeleninnenraum‹) Raum der Repräsentation. Nicht ohne Grund ist die minne »cristallin« (v. 16983), also kristallen, lauter, durchsichtig und transparent, »durchsihtic und durchluter.« (v. 16984) minne ist Herrscherhandeln, ist offen, gewaltlos, Gemeinsamkeit nicht ausschließend, sondern stiftend. Sie ist die wechselseitige Hervorbringung der edelen herzen: Die Anlage des Tales zeigt, abstrakt betrachtet, zwei Pole. Drei Linden über dem Grotteneingang entsprechen drei Linden über der Quelle. Die Grotte saugt ein, die Quelle sprudelt hervor. Sie bilden die Brennpunkte einer Ellipse, zwischen denen sich ein dynamischer Wechsel der Bewegungen nach innen und nach außen entspinnt. Die Idylle ist so nicht statisch starr, sondern Schauplatz wechselnder Existenzformen, die sich an verschiedenen Punkten ihres Raumes ereignen und auch über dessen Grenzen hinausdrängen.¹²⁷
125 Huber: Gottfried von Straßburg, S. 107. 126 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 323, Hervorhebungen im Original. 127 Huber: Gottfried von Straßburg, S. 100.
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Und nicht ohne Grund ist es ausgerechnet Marke, für den »die mythisch begründete Liebe […] nicht bestimmt ist«¹²⁸ und der die Fenster der Grotte später mit Moos zustopfen wird. Die Grotte ist also mit vollem Recht zu den narrativen Seeleninnenräumen zu zählen, allerdings nur, wenn sie nicht als abgeschlossener und selbstbezüglicher Sonderraum, sondern als Ort der exklusiven und repräsentativen Vergemeinschaftung beziehungsweise Vergesellschaftung verstanden wird. Die verzögerte und nachträgliche Allegorese stellt genau dies heraus: dass die Grotte einerseits Aufenthaltsort des vertriebenen Paares ist, aber gleichermaßen auch der einer exemplarischen Erfahrung, die alle teilen, die zur Gemeinschaft der edelen herzen gehören.
4.3.2 Gralstempel Die Minnegrotte ist ein Raum, der nicht allein den Empfindungsraum einer Figur allegorisiert, sondern auch die Metaphoriken verdichtet, die der minne selbst zugeordnet werden können, wie z.B. Lauterkeit, Klarheit, Unvergänglichkeit. Die ekphrastische Präsentation des Gralstempels in Albrechts von Scharfenberg ›Jüngerem Titurel‹, der für Haiko Wandhoff der »wohl spektakulärste Bild-Eingang in der höfischen Literatur überhaupt«¹²⁹ ist und den Hans Fromm als die »bedeutendste Architekturbeschreibung des deutschen Mittelalters«¹³⁰ bezeichnet, bezieht demgegenüber explizit den aufwendig beschriebenen Tempel, den der Gralskönig für den ihm anvertrauten Gral erbaut hat, auf die menschliche Seele selbst. Die Beschreibung besticht vor allem durch ihre Anschaulichkeit und Ausführlichkeit. Gold, Edelsteine und Aloeholz sind seine Bausteine, alles glänzt und schimmert in hieratischem Strahlen. Der Wunsch, etwas nie Dagewesenes zu schildern, spricht offenkundig aus den Überbietungsformeln, mit denen der Erzähler ›Albrecht‹ den Tempel beschreibt – etwas Schöneres und Erhabeneres, etwas Prächtigeres und Großartigeres als den Gralstempel soll sich niemand auch nur im Entferntesten vorstellen können.
128 Schulz: Außerhöfische Sonderräume, S. 541. 129 Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2003 (Trends in medieval philology 3), S. 260. 130 Hans Fromm: Der ›Jüngere Titurel‹. Das Werk und sein Dichter. In: Wolfram-Studien 7 (1984), S. 11–33, hier S. 30.
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Die Allegorisierung von Tugenden zu Gebäuden ist ein vor allem in der geistlichen Dichtung verbreitetes Stilmittel. Als Veranschaulichung sei der ›Heilige Georg‹ des Reinbot von Durne herangezogen. Dort wird der vorbildliche Markgraf als ein Gebäude beschrieben, das durch verschiedene Tugenden, unter anderen Sælde, Êre, Triuwe, Milte und Zuht erbaut ist: Ein wunderburc, der Tugent pflac: dar inne manic kamer lac hêrliche gezieret und wol geflorieret mit rîchem gemælde. die kamer mâlt diu Sælde mit ir selbes henden. (v. 5751–5757)¹³¹ […] nâch der Tugent lêre wurdn die kamer volbrâht als si nâch wunsche hêt erdâht. Diu êrste diu hiez Stæte. mit guotem geræte was si sô starke erbouwen… . (v. 5762–5768)
Der Tempel im ›Jüngeren Titurel‹ erfüllt demgegenüber jedoch mehrere narrative Funktionen: Auf einer erzähltheoretischen Ebene schließt er die Welt der Figuren, von denen der ›Titurel‹ Wolframs von Eschenbach erzählt, für den Rezipienten auf, denn der Tempel ist Lebens- Wohn- und Kontemplationsraum der Gralshüter. Indem er beschrieben wird, nimmt auch deren Welt Kontur an: So ist auch die Beschreibung des Gralstempels kein bloß ornamentales Schaustück eines gebildeten Dichters; vielmehr erlaubt sie uns Einblick zu nehmen in die Lebensweise und vor allem die Memorialpraxis der Gralsleute, deren kulturell-religiöses Gruppengedächtnis die Ekphrasis in Form eines Glaubensgebäudes offen legt.¹³²
Auf einer inhaltlichen Ebene hat der Gralstempel jedoch vor allem zwei Funktionen: Zum einen soll er ein Modell der Schöpfung sein und es damit den Gläubigen ermöglichen, diese zu erfassen und zu verstehen: »Die Strukturparallelen zwischen Graltempel und natürlicher Weltordnung sind kaum zu übersehen…«.¹³³ Und: »Der Tempel stellt demnach eine Art Codeschlüssel für dieses ›Buch der Welt‹ dar, eine Hilfe zum Dechiffrieren der göttlichen Botschaft in der Natur.«¹³⁴
131 Der Heilige Georg Reinbots von Durne. Hrsg. von Carl von Kraus. Heidelberg 1907. 132 Wandhoff: Ekphrasis, S. 263. 133 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 356. 134 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 361.
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Der Tempel ist ein Mikrokosmos der Welt und wer ihn vor Augen hat, erschaut die Welt als wohlgeordnete, harmonische Schöpfung: Der Weltentwurf des Graltempels stellt so etwas wie die handliche Form eines solchen Schlüssels dar: ein durchschaubares, wohlgeordnetes und -etikettiertes Demonstrationsmodell der Welt, das Albrechts Publikum wie der Gralsgesellschaft ein Verständnis des Makrokosmos und in Verbindung damit auch des Mikrokosmos der eigenen Seele ermöglichen soll.¹³⁵
Die zweite und neben der Funktion der Veranschaulichung wichtigere Funktion des Tempels ist die des didaktischen Exempels. Der Leser soll in der Architektur und der Ausstattung des Tempels nicht nur die Formvollendung des Kosmos bewundern, sondern auch ein Ziel für die Ordnung der eigenen Seele erkennen. Analog zur Pracht und zum Aufbau des Tempels soll jeder seine eigene Seele zum Wohnsitz Gottes umgestalten, wie der Gralskönig Titurel in seiner Thronrede hervorhebt: Dem Tempel gar geliche sol sich der mensche reinen. er bedarf wol zierde riche, sint daz sich got dar inne wil gemeinen des menschen sele zu werdem hus genoze. nein, edel menschen herze, nu ler den lip di edel tugende groze! (Str. 528)¹³⁶ Und: e dann ir got behuset, so sult ir disem tempel iu genozen. (Str. 561,4)
Das Bauwerk, das beschrieben wird, ist Auf- und Vorgabe für den gesamten Menschen. Zunächst wird nicht präzisiert, was genau sich dem Tempel anzugleichen habe, sondern es wird mit ›der mensche‹ ganz pauschal formuliert und weithin offengelassen. Gedacht ist aber an den Menschen insgesamt, so wie es bei Paulus zu lesen ist: »Vor allem aus den Paulusbriefen stammt der Gedanke, daß der Mensch selbst ein templum Dei sei (I Cor 3,16; vgl. I Cor 6,19; II Cor 6,16 und I Pt 2,5). Titurel zitiert dies fast wörtlich in Str. 573.«¹³⁷ Hier ist der Tempel also nicht Abbild oder Darstellung, sondern Vision und Zielvorgabe. Der Gläubige soll selbst ein Tempel Gottes werden und den Gralstempel gleichsam als Vorbild für seine Gottesverehrung vor Augen haben: »swer danne got selb enpfahet, der ist ein tempel got vil hoch gepriset.« (Str. 514,4)
135 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 362. 136 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Bd. I (Strophe 1 1957). Nach den ältesten und besten Handschriften kritisch hrsg. von Werner Wolf. Berlin 1955 (DTM 45). 137 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 354, Klammer im Zitat als Fußnote.
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Bemerkenswert ist, dass der Text zwischen beiden narrativen Funktionen des Tempels keinen erkennbaren Unterschied macht. Der Tempel bildet die Welt ab. Und er stellt dem Gläubigen vor Augen, wie er selbst beschaffen sein muss, damit er würdig wird, Gott zu empfangen. Er ist Mikrokosmos und Vorbild gleichermaßen. Beide Lesarten werden im Text verschmolzen, als gäbe es keinen Unterschied zwischen der Welt, so wie sie beschaffen ist und dem Zustand, den der Mensch durch Anstrengung und Frömmigkeit zu erreichen versuchen soll. Das lässt sich in zweierlei Richtungen deuten: Entweder hat die Schöpfung (in ihrer Darstellung durch den ›Jüngeren Titurel‹) bereits jenen idealen Zustand erreicht, den der Mensch als sündiges Wesen erst über die sieben Tugenden wiederherstellen muss. Oder die Schöpfung, die durch den Tempel abgebildet wird, ist kein tatsächlicher ›Ist-Zustand‹, sondern die Vorwegnahme einer idealen Welt- und Heilsordnung, einer paradiesischen Ordnung, so wie sie bestanden hat, bevor der Mensch in Sünde fiel und die ihn umgebende Schöpfung mit in Vergänglichkeit und Korruption gerissen hat. Nur in der Perspektive auf den ursprünglichen intakten Zustand jenseits von Korruption und Sünde lässt sich die Kluft schließen, die (unserem Verständnis nach) zwischen Abbild und Ziel besteht. In Albrechts ›Jüngerem Titurel‹ sind sie eins, weil sie aus heilsgeschichtlicher Perspektive beschrieben werden. Und aus dieser heraus sind Mensch und Natur makellos und vollkommen geschaffen. Im gegenwärtigen sündigen Zustand sind sowohl Natur als auch Mensch zwar weit davon entfernt, es noch zu sein. Aber ihre Bestimmung besteht darin, es wieder zu werden. So gesehen ist es folgerichtig, dass der ›Jüngere Titurel‹ als Mischform aus höfischer und geistlicher Literatur Wesen und Bestimmung von Natur und Mensch als Einheit darstellt. Und deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass die Allegorie des Gralstempels gleichermaßen Darstellung der Welt als auch Modell des vollkommenen Menschen, dem der Christ nacheifern soll, sein kann. Utopie und Ist-Zustand sind hier bereits überlagert. Trendelenburg weist darüber hinaus darauf hin, dass die Mahnungen zur Tugendhaftigkeit, die im ›Jüngeren Titurel‹ an verschiedenen Stellen ausgesprochen werden, eine poetische Kreisstruktur erzeugen, denn die Tugenden, die gefordert werden, spendet ja der Gral selbst. Er fordert aber von denen, die ihm dienen, Tugendhaftigkeit und setzt so das Gnadengeschenk der Tugendhaftigkeit bei ihnen bereits voraus. Diese ist im ›Jüngeren Titurel‹ also sowohl Voraussetzung als auch Resultat des Dienstes am Gral: »Der Mensch soll Tugenden erwerben, um Gott und dem Gral in sich eine Wohnstätte zu bereiten. Hier sind Ausgangspunkt und Ziel vereint, denn die Tugenden gehen ja selbst vom Grale aus!«¹³⁸
138 Gundula Trendelenburg: Studien zum Gralraum im ›Jüngeren Titurel‹. Göppingen 1972 (GAG 78), S. 83.
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Doch was genau ist der Tempel, der den Gral schützend und repräsentierend umschließt? Der Tempel wird auf einem Berg errichtet, der zuvor von wildem Gras und Gestrüpp bewachsen war. Dieses muss zunächst entfernt werden: Der berch uber al so michel ein velse was von grunde, nicht anders wan onichel. verwachsen doch mit krut, mit gras dar unde. mit vlize wart dar uf daz werk gebowen, des lobes riche koste nimmer mer mit prven wirt vol howen. (Str. 337) Dar uf ein legder ligende was hher dann ein lahter. mit ahte der kunic was wigende daz tempel werch. wie er tæt, gedahter. krut, gras, legders wart der berc do ane. er hiez in vegn und slifen eben, daz er gleiz alsam der mane. (Str. 338)
Mit diesem Kampf um die ebene und gereinigte Grundfläche, auf der der Tempel errichtet werden soll, erinnert der ›Jüngere Titurel‹ an die ›Psychomachie‹, die den Tempelbau an den Kampf anschließt, durch den die Laster ausgemerzt werden. Den Kampf des Guten gegen das Böse zitiert vor allem die Außenseite des Gebäudes, das auf dem gereinigten Berg errichtet wird. Hier sind nämlich die Kämpfe der Gralsritter abgebildet: Uzen was von vreise ergraben und ergozzen, wie die tempeleise tægelich in wafen unverdrozzen striten ritterlich in grozer herte, zu dienst dem heiligen grale, da mit man in vor valscher diet ernerte. (Str. 421)
Wandhoff kommentiert diesen Sachverhalt folgendermaßen: Das Gralsgeschlecht steht somit nicht mehr neben der Welt, sondern seine Taten sind als ›äußere Leitbilder‹ für alle Menschen auf ihrem Weg zu Gott gedacht. Über die Außenansicht des Tempels kommend, im Angesicht der Bilder vom Kampf der Gralsleute konfrontiert mit deren tugent als zentralem Wert auch für das Heil der übrigen Menschen, gelangen sie nach innen, wo ihren Augen der Weg zum Höchsten gewiesen wird.¹³⁹
Diese Kämpfe sind Bestandteil des Tempels, ja seine Voraussetzung. Aber sie sind an die Außenwand gedrängt, innerhalb des Tempels nehmen weltliche Kämpfe keinen Raum ein.
139 Wandhoff: Ekphrasis, S. 269.
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An die ausgreifende und detaillierte Beschreibung des Tempelbaus schließt sich (zumindest in der Gruppe II der Handschriften¹⁴⁰) ein 42 Strophen umfassendes ›Marienlob‹ an, das eine Deutung und Allegorese des Tempels vollzieht, die durch den Exkurs aus der Handlung ausgeklammert wird. Im Rahmen des exegetischen Exkurses, also außerhalb der eigentlichen ›Titurel‹-Handlung, wird die Bedeutung von Tempel und Tempelbau enthüllt. Der Tempel ist nicht stofflich, nicht aus Steinen errichtet, sondern ungegenständlich, insofern er allein aus Worten aufgebaut ist: Niht wan mit dem munde der palas wart gemachet, di gruntveste uf von grunde, porten, louben, kostelich bedachet. uzen noch innen wart da niht vergezzen an dem palas tiure, und wart sin doch nie stein alda gemezzen. (Str. 2, ›Marienlob‹)
Damit wird eine buchstäbliche Deutung der Eigenschaften des Tempels deutlich zurückgewiesen und eine allegorische nahegelegt. Noch ist aber unklar, wie das (sprachliche) Bauwerk zu deuten ist. Albrecht führt den Leser Schritt für Schritt weiter und klärt ihn über die Exempelfunktion der Tempel-Allegorie auf: Ze glicher wis dirr tempel sol hie al menschen kunne mit gedanken geben exempel zu engelschar und himelischer wunne, di mensch und engel hat von gotes antlutze. und si darnach mit sinnen werbent, so wirt in der tempel nutze. (Str. 4, ›Marienlob‹)
Hiermit ist bereits der teleologische Charakter der Allegorie angedeutet. Er ist nicht nur ein Abbild der Welt, sondern auch das Ziel eines Prozesses: ›und si darnach mit sinnen werbent.‹ Albrecht führt diese Idee weiter aus, wenn er den Wunsch äußert, der Heiligen Jungfrau in seinem muote einen Tempel zu errichten: Wær ich so rich an gte, ein tempel wurd gemachet noch bezzer in minem mte ze lob der magt Marien ungeswachet. (Str. 7, v. 1–2 ›Marienlob‹)
Dass der Tempel, von dem er spricht, ganz unräumlich ist und nur aus Tugend und Reinheit besteht, macht Albrecht einige Strophen später deutlich. Er gibt dort dem Tempel des Glaubens, also dem geistigen Tempel, den Vorzug vor allen noch so prächtigen und reich ausgestatteten gegenständlichen Bauwerken der Welt:
140 Eine detaillierte Aufstellung der Handschriften, in denen das ›Marienlob‹ überliefert ist, findet sich bei Trendelenburg: Studien zum Gralraum, S. 71, Fn. 3.
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Ich sprichz, ob ichz mit gelte und mit libe moht erziugen. man mst uber al die welte ungelouben miden und urliugen. daz wær noch bezzer vil und lobelicher der maget und ir kinde dann dirre tempel tusent, alle richer. (Str. 24, ›Marienlob‹)
Der Tempel, der mit dirre adressiert wird, ist nun jedoch wieder ein Gebäude – Maria und ihrem Sohn werde besser gedient mit Sündlosigkeit und Friedfertigkeit als durch den Bau von tausend prächtigen Gebäuden. Das, womit Gott verherrlicht werde, sei kein G ebäude, sondern ein Zusta nd, den zu erreichen das Ziel eines jeden gläubigen Christen sein müsse: »ir rihtær, sit so lebende, / daz ir den tempel riche mit bowen tägeliche ›sit got‹ gebende!« (Str. 25, v. 2–3 ›Marienlob‹) Dieser Zustand der Frömmigkeit und des Glaubens ist es, worin Maria und ihr Sohn Aufnahme finden, nicht ein konkreter, dinglicher Raum. Der Tempel ist kein Raum, aber auch nicht der Mensch selbst, sondern der Glaube und die Gottesfurcht, durch die der Gläubige Gott dient. Es sind Tugenden, die den Tempel konstituieren, doch nicht sie alleine. Wem es nicht gelinge, die sieben Tugenden zu verwirklichen, solle nicht verzweifeln, sondern auf Gottes Gnade hoffen und habe damit, also mit der Hoffnung auf Gnade und mit dem Glauben, den Tempel ebenso erbaut wie der, der tugendhaft sei: »er sol in riwe bze got getrowen / und allen zwivel lazen! da mit hat er den tempel ouch erbowen.« (Str. 37, v. 3–4 ›Marienlob‹) Den Tempel zu bauen heißt also, Gottes Gebote zu befolgen und Laster zu meiden: Ein ieglich mensch getoufet al tag den richen tempel got und der meide koufet. t niht wan nem an sich der tugent exempel, der man ze wirdikeit da siben schribet, da man gewalticlichen diu siben houbetlaster mit vertribet. (Str. 27, ›Marienlob‹)
Und wer versuche, sich in den sieben Haupttugenden zu üben und sich in ihnen zu vervollkommnen, der werde von Gott so belohnt, als habe er Turm und Dach des Tempels, der nun wieder der stoffliche Gralstempel ist, erbaut: Swer dise tugend minnet mit triun unz an sin ende, von got er lon gewinnet, sam ob er an des richen tempels wende turn und dach erbowen het und kre. da von so minnet tugende und sit ouch tempels bowes underhre! (Str. 35, ›Marienlob‹)
Im Rahmen des ›Marienlobs‹ durchläuft der Tempel also eine Vielzahl verschiedenster Ausdeutungen: Albrecht betont zunächst, dass er aus Worten aufgebaut sei und erklärt ihn damit zu einem sprachlich-literarischen Kunstwerk. Danach weist er auf seine didaktische Funktion hin, um ihn gleich darauf in seinen
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eigenen muot zu verlegen, wo der Marienpreis entsteht. Der Tempel im muot wird im Anschluss jedoch gleich wieder zum Tempel des Glaubens und der Tugendhaftigkeit, der durch unentwegte Arbeit und Bemühung um die sieben Haupttugenden Diemütikeit, Milte, Kiusche, Got Dienen, Maze, Gedultikeit und Minne erbaut werde. Diese Lesart wird auch durch den Hinweis gestützt, dass der Tempel, nachdem seine Grundmauern aufgebaut sind, sich gleichsam selbst weiterbaut und aus sich selbst heraus nährt. Der Gral, der Kern und Zentrum des Tempels ist, erschafft das Baumaterial für den Tempel, der ihn wiederum nach Abschluss der Bauarbeiten in sich aufnehmen und repräsentieren wird: Nu was daz werk so tiure, daz iz nicht wer vol endet. durch daz wart im ze stiure von dem grale mit der schrift gesendet, swes man ie daz bedurfen solde, daz vant man vor dem grale, darnach als iz der meister haben wolde. (Str. 370)
Dies könnte allerdings auch als Indiz dafür gewertet werden, dass der Tempel als Sitz Gottes den menschlichen Leib veranschaulicht, der durch die Seele (den Gral) mit Leben erfüllt werde. Diese Lesart wird auch von Trendelenburg nahegelegt: Wie das Licht auf das Dach fällt, die Kuppelwölbung erfüllt […], durch die Fenster hereinscheint, sich an der Fülle der Farben brechend, so durchziehen, erhellen die verschiedensten Gedanken die Wölbung des menschlichen Hauptes, so dringen die Wahrnehmungen durch die Fenster der Sinne. Wie in den Graltempelchören ringsum das belebende Grün sich von Arkade zu Arkade rankt und herabhängende und emporwachsende Bewegungen sich begegnen, so pulsieren Herzschlag und Atem des Lebens in der Mittelsphäre des Menschen, Ein-und Ausatmung lösen sich ab […].¹⁴¹
Am Ende des ›Marienlobes‹ wird jedoch noch eine ganz andere Deutung vorgeschlagen. Der Tempel ist nun – etwas unvermittelt – die sel, beziehungsweise umgekehrt ist die sel Tempel und Wohnstatt Mariens: »und unser sel dir werd ein tempel schone.« (Str. 38, v. 3 ›Marienlob‹) Der Tempel lädt durch seine vielschichtige Komposition und die sich überkreuzenden Erzählerkommentare ganz bewusst zu unterschiedlichen und teils sogar widersprüchlichen Deutungen ein. Womöglich liegt genau darin die Aussage begründet, die Albrecht mit der Tempel-Allegorie treffen will: Es gibt nicht den einen, klar bestimm- und benennbaren Ort, an dem der Glaube und die Einwirkung der Gottesmutter auf den Menschen zu lokalisieren wären.
141 Trendelenburg: Studien zum Gralraum, S. 85.
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Der Tempel ›Gott‹ ist ortlos. Er kann in der sêle ebensogut wie im muot erbaut werden, er besteht in der unermüdlichen Arbeit an den sieben Tugenden gleichermaßen wie in der Hoffnung auf die Gnade Gottes. Glaube, Liebe und Hoffnung kennen keine Hierarchie und keine Systematik und sie lassen sich derart auch nicht darstellen. Der Tempel selbst ist zwar nach Maß und Zahl aufgebaut, akribisch durchstrukturiert und aufs Kostbarste ausgeschmückt. Doch gerade dort, wo nicht seine Erscheinung, sondern seine Bedeutung entfaltet wird, verliert die Form, die umfassend und ausführlich beschrieben worden ist, ihren Sinn. So steht die Systematik seines Aufbaus der Vieldeutigkeit seiner Bedeutung gegenüber.¹⁴² Wenn der Gralstempel also »die Strukturen der menschlichen Seele [spiegelt],«¹⁴³ dann kann diese nicht selbständig gedacht werden, sondern ist untrennbar verknüpft und verwoben mit Gott, mit dem Körper, mit der Tugendhaftigkeit. In der Architekturallegorie des ›Jüngeren Titurel‹ lässt der menschliche Körper in seiner Schönheit und Würde den göttlichen Heilsplan erkennbar werden, die Tugenden schmücken den Menschen wie die Edelsteine, mit denen der Tempel verziert ist und der solchermaßen geschmückte Raum ist der Herrschaftssitz der Gottesmutter. Die Seele des Menschen ist hier nicht zu trennen von dem Kontext, in dem sie geschaffen wird und ihre Tätigkeit entfaltet. Der Text entwickelt die Vision eines atemberaubend komplexen, verwobenen, vernetzten, dichten, schillernden Ganzen, das sich aus unzähligen Bezügen, Übertragungen und Entsprechungen konstituiert und gerade in dieser Komplexität der sich überlagernden Deutungs- und Beziehungsmuster der Verselbständigung der unsterblichen Seele gegenüber dem sterblichen Körper in Komplexität und Bedeutungsüberschuss entgegensteht.
142 Gerade diese Vieldeutigkeit ist jedoch für Architekturallegoresen paradigmatisch. So entwickelt beispielsweise eine Rede Hugos von Montfort eine Architekturallegorese, die die Burg, auf die der Ich-Erzähler bei einem Spaziergang trifft, einmal als Gralsburg deutet: »hie inn so ist der werde gral« (Lied 28, Str. LII, v. 207), dann das Haus, das sich in der Burg befindet, als Verweis auf die Mutter Gottes: »das haus ist ain figur unßer frawen« (Lied 28, Str. CXLV, v. 577) und die Burg selbst schließlich als Verweis auf das Himmelreich: »die vest ist ain figur des himmelreich.« (Lied 28, Str. CLIV, v. 613) Hugo von Montfort: Das poetische Werk, hrsg. von Wernfried Hofmeister. Berlin, New York 2005. All diese Bezüge sind jedoch nicht miteinander vermittelt (so gibt es keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Gral und der Mutter Gottes), und Hugo bemüht sich auch nicht, einen solchen herzustellen. Ob hier eine absichtsvolle Offenheit vorliegt, mag dahingestellt sein. Zumindest ist die Tatsache, dass der Tempel im ›Jüngeren Titurel‹ verschiedene Auslegungen erfährt, keine singuläre Erscheinung. 143 Finckh: Minor Mundus Homo, S. 345.
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Hier zeichnet sich eine ganz ähnliche Konstellation ab wie im Fall der ›Psychomachie‹ und der Minnegrotte: So wie diese nicht den Seeleninnenraum der Protagonisten veranschaulicht, also nicht als personales ›Inneres‹ konzipiert ist, sondern die vollkommene minne visualisiert, die sich an ihnen exemplifiziert, stellt der Tempel nicht (nur) die Seele des einzelnen Gläubigen dar, sondern dessen Glauben, seine Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit. Aus ihnen ist der Tempel erbaut: »er sol in riwe bze got getrowen / und allen zwifel lazen! da mit hat er den tempel ouch erbowen.« (Str. 37, Marienlob) Letztlich sind aber im Rahmen der Spiritualität des ›Jüngeren Titurel‹ Glaube und Tugendhaftigkeit ebenso wenig von der Seele zu trennen wie die minne. Die Vorstellung vom Seeleninnenraum muss also modifiziert werden: Die Seele, die durch den Glauben, der in ihr herrscht oder die minne, die sie erfüllt, beschrieben wird, ist Residenz exemplarischer Vollkommenheit, nicht Kristallisationspunkt von Identität oder Personalität. Ich möchte ein erstes Resümee zur narrativen Strategie der Architekturallegorien ziehen: Ihre Funktion besteht nicht darin, das Innere einer Figur in aller Differenziertheit sichtbar werden zu lassen und Bilder zu entwickeln, die dieses spezifische Innere vergegenständlichen könnten. Die Architekturallegorie ist, wie sich vor allem am ›Jüngeren Titurel‹ zeigen lässt, nicht auf das Innere einer einzelnen Figur bezogen, sondern ein allgemeines und exemplarisches Modell von Innenraum, dessen literarischer Reiz nicht darin besteht, psychologische und seelentheoretische Erkenntnisse und Theorien in Bilder umzusetzen, sondern darin, komplexe allegorische Entsprechungen zwischen Architektur, Raumordnung und Raumaufbau herzustellen. Architekturallegorien sind eher rhetorisch-poetisches Spiel als Anlass zu anthropologischer Reflexion und Unterweisung. Wichtiger als eine Figurenpsychologie ist für die Gestaltung der Architekturallegorie die meine der jeweiligen Handlung. Ihr wird durch die Allegorie Kontur verliehen, nicht dem Inneren einer Figur. Das ist selbst dort so, wo dieses Innere im Zentrum der Handlung zu stehen scheint wie im ›Rosenroman‹. Doch gerade dort, wo scheinbar der Blick auf das Innerste einer Figur frei wird, wo wir in Innenräume blicken und Wünsche, Ängste und Absichten einer Figur vor unseren Augen konkrete Gestalt annehmen, gerade dort entzieht sich dieses Innere, indem es zur reinen Exemplarität gerinnt und sich in dieser Exemplarität gegenüber der Figur verselbständigt und veräußerlicht. Das bedeutet durchaus nicht, dass die Allegorien von Innenräumen nicht Bestandteil einer höfischen Anthropologie wären. Doch im Zentrum ihrer Darstellung steht nicht das Innere einer Figur, sondern die Frage, wie sich vom Inneren einer Figur erzählen lässt. Das Erzählen – gleichgültig, ob es sich um höfisch-weltliche oder geistliche Texte handelt – beobachtet und problematisiert
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sich dort, wo innere Prozesse allegorisch dargestellt werden, selbst. Die Architekturallegorien der höfischen Epik sind folglich als literarische Schauräume zu beschreiben, in denen die Produktion von Komplexität und Selbtthematisierung beobachtbar wird, aber nicht als Modelle eines Inneren.
5 Brüche und Übereinstimmungen zwischen Innen und Außen Wo in der mittelalterlichen Literatur ein inneres Geschehen oder ein innerer Zustand beschrieben wird, greift der Autor oft auf eine einfache Formel zurück, durch die ein unspezifiziertes ›Inneres‹ einem ›Äußeren‹ gegenübergestellt wird – nämlich ›Innen und Außen‹. Mit dieser Gegenüberstellung wird, und das ist Gegenstand dieses Kapitels, jedoch keine in ha lt liche Besetzung eines Innenraumes vollzogen. Denn die Gegenüberstellung von Innen und Außen bewirkt zunächst einmal nichts anderes als eine – rein formale – Spaltung. Jede Spaltung aber ist Differenzierung, und diese führt zu einer Erhöhung von Komplexität. Das Konzept eines Inneren, also eines Innenraumes, eines sich vom sichtbaren Äußeren Abgrenzenden, ist keine Erfindung der hochmittelalterlichen Literatur, sondern hat im Mittelalter bereits eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Die Bibel fällt als Quelle dieses Konzeptes jedoch weitgehend aus, denn »CHRISTUS hat […] seinerseits niemals darüber hinaus gelehrt, daß Gott im Innern des Menschen wohnen und herrschen könne, so daß man sich mit ihm durch eine ›Wendung nach innen‹ vereinigen könne.«¹ Dies ist vor allem im späten Mittelalter durch die Übersetzung Luthers in Vergessenheit geraten: Dennoch hat aber gerade die spätere christliche Mystik sich auf zwei Herrenworte berufen können, die bis heute dazu beigetragen haben, das Christentum in einem ganz schiefen Sinne als Religion der ›Innerlichkeit‹ erscheinen zu lassen. Einmal die […] Übersetzung LUTHERS von Lukas 12,21: ›Das Reich Gottes ist inwendig in euch‹ (in der Vulgata: Ecce enim regnum Dei intra vos est). […] Nicht seiner Absicht, wohl aber seiner Wirkung nach ist dieses Herrenwort das Zeichen gewesen, in dem die christliche Botschaft als Lehre der Innerlichkeit aufgefaßt werden konnte. ²
Für das Hochmittelalter ist die Hauptquelle einer Konzeption von Inwendigkeit also nicht die Bibel, sondern die spätantike Philosophie und die patristische Theologie. Auf der einen Seite haben diese Traditionen zwar wenig mit der neu-
1 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 21. Und noch eine andere Stelle aus dem Neuen Testament ist hier einschlägig: »Für die Vereinigung der neuplatonischen Lichtmetaphysik mit christlichen Anschauungen ähnlicher Art sind die Aussprüche JESU über das innere Licht (Matth. 6, 22–23; Luk. 11,33–35) von größter Bedeutung. Sie schließen sich an alttestamentliche Vorstellungen vom Geist des Menschen als Licht, das vom Lichte Gottes abstammt (Sprüche Salomonis 20,7), an.« (Ebd.). Alle Hervorhebungen im Original. 2 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 21.
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zeitlichen oder modernen Konnotation von Innerlichkeit zu tun, andererseits aber haben sie diese vorbereitet und stehen deshalb in engem Zusammenhang mit ihr: Der Begriff der Innerlichkeit ist außerordentlich vieldeutig und hat seine für uns heute gültige Prägung im wesentlichen durch HEGEL und KIERKEGAARD erfahren, so daß wir im allgemeinen darunter die Subjektivität des absoluten Ichs bezw, die Leidenschaft seiner Individualität verstehen. Diesen Begriff der Innerlichkeit hat es jedoch in dem im folgenden zu untersuchenden Zeitraum von NOTKER bis zu MEISTER ECKEHART nicht gegeben; er ist aber andererseits nicht zu denken ohne das, was ›Innerlichkeit‹ in einem völlig anderen Sinne im ganzen Mittelalter seit AUGUSTINUS bedeutet, der die Terminologie der Innerlichkeit, die für ihn eine unmittelbar erfahrene objektive Struktur des Daseins ist, in der allein die Selbstgewißheit des Ich und die Begegnung von Gott und Mensch möglich wird, als solche erst eigentlich ausgebildet hat.³
Augustins Einfluss auf die Vorstellungswelt des Mittelalters weist Wodtke exemplarisch bei Notker von St. Gallen nach, beispielsweise in seiner Psalmenübersetzung: In dieser von AUGUSTIN stammenden Gleichsetzung von Tiefe und Herz, der Entdeckung der Tiefe der Innerlichkeit des Menschen als einer Dimension, die dialektisch bezogen erscheint auf die ebenfalls in der Innerlichkeit zu suchenden Dimension der Höhe Gottes, dürfte wohl der Ursprung der später in der Sprache des vorhöfischen geistlichen Epos zum ersten Mal auftauchenden und dann in der Mystik so beliebt werdenden Metapher vom herzen grunt zu suchen sein,⁴
wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass »die ›Innerlichkeit‹ der frühmittelhochdeutschen Literatur keineswegs gleichbedeutend mit ›Subjektivität‹, sondern Ausdruck objektiv anthropologisch-theologischer Seinstrukturen ist.«⁵ In welcher Weise macht aber die höfische Literatur vom Begriff ›innerlich‹ Gebrauch? Zunächst profaniert sie die Rede vom Inneren und besetzt sie neu, indem sie sie von ihrem Bezug auf spirituelle Inhalte löst und auf diesseitige Zusammenhänge bezieht: Wo in der geistlichen Literatur inneclich zu Gott gebetet wurde, wird in der höfischen die Dame inneclich um ihre Gunst gebeten. So »zeigt der erste Beleg für inneclich bitten, daß diese Formel bereits am Anfang des 12. Jahrhunderts nicht mehr nur das Beten, sondern schon die rein inner-
3 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 6. 4 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 68. 5 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 76.
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weltliche Bitte gegenüber Menschen bezeichnen konnte.«⁶ Ganz allgemein lässt sich der Bedeutungswandel folgendermaßen beschreiben: An diesen Beispielen zeigt sich bereits die Bedeutungsverschiebung, die inneclich in der Sprache der höfischen Epik durchmacht. Aus inneclich = von Herzen fromm, andächtig wird inneclich = von Herzen liebevoll, wofür ebensogut – wie das in manchen Handschriftenvarianten auch der Fall ist – minnecliche eintreten kann. Daß sich beide Formeln schon sehr früh begegnen, haben wir an der Wiener Genesis gesehen, wo der Mensch ›inneclich‹ zu Gott spricht (923–30), während sich Gott ›minneclichen‹ ihm zuwendet (1879–80).⁷
Eine ähnliche Bedeutungsaufweichung findet sich dort, wo ›inneclich‹ als reine Bekräftigungsformel verwandt wird: »Hier gerät inneclich in bedenkliche Nähe zu groß und wird mehr zu einem Intensivum.«⁸ So erfährt der Begriff ›innerlich‹ im Gebrauch, den die höfische Literatur von ihm macht, nicht nur eine Profanierung, sondern auch eine Entdifferenzierung. ›inneclich‹ verweist nicht notwendigerweise auf einen heimlichen, abgeschiedenen und verborgenen Ort im Inneren einer Figur, sondern kann als eine schlichte Verstärkungsformel die Nachdrücklichkeit etwa eines beschriebenen Affekts unterstreichen. Wenn beispielsweise Herzeloyde ankündigt, sie werde Gachmurets Tod betrauern »offenlîch und tougen« (›Parzival‹, v. 111,12), so liegt damit gerade nicht eine (moderne) Opposition von öffentlich und privat vor, sondern eine Allgemeinheitsformel wie ›nicht zu lang und nicht zu kurz‹, ›nicht zu alt und nicht zu jung‹. ›offenlîch und tougen‹ oder ›innen und außen‹ sind hier bloße Formeln, die auf eine Totalität abzielen, die alles umfasst und nichts ausschließt. Dass Herzeloydes Welt in zwei Bereiche zerfällt, in eine eigene und eine der Gesellschaft, lässt sich denn auch nirgendwo im Text belegen. Was aber ist mit der begrifflichen Differenzierung in innen und außen für die Analyse des Figuren-Innenraumes gewonnen und wie belastbar ist sie für die Interpretation? Die Formel ›innen und außen‹ ist in Bezug auf Figuren der höfischen Literatur für die germanistische Mediävistik nicht unproblematisch, weil bereits schon diese reine begriffliche Abgrenzung einen Widerspruch darstellt zu dem, was in der Forschung seit Jahren als die ›Sichtbarkeit‹ oder ›Lesbarkeit‹ höfischer Körper diskutiert wird. Gegenüber […] neuzeitlicher Skepsis hat das Mittelalter ein unerschütterliches Vertrauen in die Wahrheit der Dinge, die Repräsentanz des Seins in Natur und Geschichte. Als von Gott geschaffen sind beide auf ihn hin durchsichtig und somit vestigium des auf der Suche nach
6 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 95. 7 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 107. 8 Wodtke: Wortschatz der Innerlichkeit, S. 170.
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dem Sinn vordringenden menschlichen Erkennens. Was den Menschen angeht, so sieht das Mittelalter auch ihn von seiner äußeren Hülle, den natürlichen und sozialen Attributen seiner Erscheinung, weniger verdeckt als offenbart, nicht ›in Uneigentliches eingewickelt‹, sondern eigentlich dargestellt.⁹
›Sichtbarkeit‹ und ›Lesbarkeit‹ werden jedoch auf ganz unterschiedlichen Ebenen diskutiert – zunächst auf einer kulturhistorischen: In der vorliterarischen Gesellschaft war Kultur sichtbar und hörbar. Selbst der engere Bereich des literarischen Lebens muß von den körperlichen Vermittlungs- und Darstellungsformen her verstanden werden: Höfische Lyrik wurde gesungen und getanzt; höfische Epik ist in der Laiengesellschaft zuallermeist hörend, beim Vortrag, aufgenommen worden. Man konnte Literatur auch sichtbar machen: in den Miniaturen und Federzeichnungen der Bilderhandschriften, in der figürlichen Verzierung von Gebrauchsgegenständen und vor allem in den Wandbemalungen […].¹⁰
Hier, in Bezug auf die mittelalterliche Hofgesellschaft, ist jedoch eine Lesbarkeit der Körper gemeint: »›Lesbar‹ ist die orale Laienkultur, indem man andere als sprachliche Zeichen entziffert. Eine mediävistische Kulturwissenschaft kann sich deshalb nicht mit der Entschlüsselung und Deutung schriftlicher Überlieferung zufriedengeben.«¹¹ Damit ist, zumindest unterschwellig, bereits ein wichtiger Hinweis auf Reichweite und Validität der Rede vom ›lesbaren Körper‹ gegeben. Denn ›lesbar‹ kann nur sein, was gerade nicht sprachlich vermittelt wird. Das Lesbare muss sich dem Auge mitteilen: Die Adelsgesellschaft des Mittelalters ist auf die öffentliche Wahrnehmung des Status durch Hören und Sehen (Augen und Ohren) sehr viel stärker angewiesen als die bürokratisch organisierte Gesellschaft der Neuzeit. Die Zeichenhaftigkeit der Körper und ihrer Konfigurationen wird am Hofe dementsprechend zu einer besonders hohen Komplexität entwickelt. Herrschaftsverhältnisse sind nicht definitiv in einem stabilen Gesetzestext kodifiziert, das ›Gesetz‹ des Hofes wird vielmehr in die adligen Körper ›eingeschrieben‹ und von ihnen ausgearbeitet.¹²
Beschrieben werden hier die Verkehrsformen der adligen Hofgesellschaft, die sich jedoch nicht allein auf die soziale Interaktion beschränken. Die Lesbarkeit von Körperzeichen wie Gesten und Formen der Statusrepräsentation über
9 Ingrid Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts. PBB 99 (1977), S. 395–444, hier S. 395. 10 Bumke: Höfische Körper, S. 96. 11 Müller: Visualität, Geste, Schrift, S. 118. 12 Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 339.
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Kleidung wird dabei auf Grundbedingungen der mittelalterlichen Feudalgesellschaftlichkeit zurückgeführt: »Statusdifferenzen müssen augenfällig werden, müssen hörbar und sichtbar repräsentiert werden, solange der Ort des einzelnen nicht institutionell gesichert ist.«¹³ Wenn jedoch mit ›lesbar‹ im eigentlichen Sinne ›sichtbar‹ gemeint ist, dann drängt sich die Frage auf, was die Kategorie ›Lesbarkeit‹ in Bezug auf literaturwissenschaftliche Gegenstände bedeutet, denn schließlich hat die Literaturwissenschaft es allein mit Sprache zu tun, folglich auch nur mit einer Lesbarkeit sprachlicher Gegenstände, also mit erzählten Körpern und erzählten Zeichen. Die Forschung hat – wie in der Einleitung bereits erwähnt – bislang allerdings kaum einen Unterschied gemacht zwischen beispielsweise der Lesbarkeit von Bewegungen einerseits und der Lesbarkeit von sprachlich vermittelten, also erzählten oder beschriebenen Bewegungen andererseits. Für die Kommunikation zwischen Adligen des 12. und 13. Jahrhunderts wird so, mehr oder weniger implizit, Gleiches geltend gemacht wie für die Ebene der literarischen Darstellung, in der die mittelalterliche aristokratische Gesellschaft sich idealisiert und imaginiert. Wo thematisiert wird, dass die Lesbarkeit von Körpern auf der einen Seite und das Erzählen von der Lesbarkeit von Körpern auf der anderen nicht dasselbe sind, wird stellenweise ein verbreitetes, aber wenig stichhaltiges Argument herangezogen, um zu erklären, warum soziale Praxis und literarische Darstellung als weitgehend übereinstimmend betrachtet werden können: Eine Gesellschaft, für die Sinneseindrücke und -wahrnehmungen eine wichtige Rolle spielen, wird ihnen auch in der Literatur, die sie produziert und rezipiert, entsprechend Rechnung tragen: Der semiotische Blick auf die semi-orale Gesellschaft des Mittelalters entdeckte die körpergebundene performance als einen substantiellen Teil von Dichtung. Dieser Ansatz trug reiche Früchte in den Literaturwissenschaften, die in den Texten nach Inszenierungsspuren oder aber nach Strukturen suchten, die einer multisensorischen Rezeption geschuldet sind. Gleichzeitig entdeckten die Historiker die körperliche Inzenierung als markanten Baustein der mittelalterlichen Politik: Gebärden und komplexe szenische Auftritte sichern gemeinsam mit den sprachlichen Zeichen die politische Repräsentation.¹⁴
Doch während in der Politik die Körper historischer Akteure handeln, agieren in der Literatur weder Körper, noch Akteure, sondern Figuren, die – je nach
13 Horst Wenzel: Hören und Sehen. Zur Lesbarkeit von Körperzeichen in der höfischen Literatur. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, S. 191–218, hier S. 193. 14 Kellermann: Einleitung in ›Der Körper‹, S. 4.
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literaturwissenschaftlicher Einschätzung – vom Autor oder vom Erzähler¹⁵ hervorgebracht werden. Anders gesagt: ›Körper‹ haben literarische Figuren nur auf einer der beiden konstitutiven Ebenen, die gemeinsam Literatur hervorbringen, nämlich histoire und discours, und zwar auf der Figurenebene, der histoire. Von jener Ebene aus betrachtet, auf die wir als Rezipienten beschränkt sind, von der Perspektive des discours aus gesehen, bestehen die Körper der Figuren nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Sprache: »Das Geschehen läuft nie einfach ab, sondern man ›sieht‹ es ablaufen. Was sich ereignet, spiegelt sich in der Wahrnehmung von Zuschauern und Zuhörern.«¹⁶ Deshalb ist zu bezweifeln, dass die Sichtbarkeit, die aus einer höfischen »Kommunikation im Raum wechselseitiger Wahrnehmung«¹⁷ a m Hofe entspringt, wirklich diejenige ist, von der in den Texten die Rede ist, wenn sie die Lesbarkeit des Körpers beschreiben wie in Thomasins von Zerclære ›Wälschem Gast‹: ob in einem vaz vil wazzers ist, ez rinnet ûz zetlîcher vrist. swer an sînem muote siecher lît, sîn lîp wirts inn vor langer zît. swer ouch da inne wær gesunt, sîn lîp ouch des vil wol enphunt. her ûz kumt ze deheiner vrist niwan daz innerthalben ist, ez sî übel od ez sî guot.
15 ›Erzählung‹ ist hier verstanden in jenem Sinne, den Genette mit dem Begriff der ›narration‹ (Akt der Narration) bezeichnet: Wir erfahren von den Ereignissen und Sachverhalten auf der Ebene der ›histoire‹ (also dem Komplex von Handlungen und Situationen, die den Gegenstand einer Geschichte bilden) nur durch den Akt des Erzählens, dadurch, dass ein Erzähler erzählt (vgl. Genette: Erzählung, S. 15f.). Die narration ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie immer und notwendig ›wahr‹ ist: »Wir können generell behaupten: Was der Erzähler über die konkrete Welt des Romans (einer fiktiven Geschichte überhaupt) sagt, ist immer und ohne Einschränkung wahr. Die singuläre Welt eines jeden Romans ist notwendig genau so – und nicht mehr oder weniger – wie der Erzähler sie beschreibt,« weil »wir sonst mit dem Text der literarischen Erzählung nichts anfangen können. […] Wir nehmen solche Sätze des Erzählers als unbedingt wahre Sätze, weil wir uns einer Grundregel des Spiels, das wir spielen wollen, konsequent fügen. Daß die erzählenden und beschreibenden Sätze des Erzählers uneingeschränkt wahr sind, daß die erdichtete Welt notwendig genau so ist, wie der Erzähler es sagt, das ist eine konstitutive Norm des literarischen Lesens. In Kantischer Sprache gesagt: eine Bedingung der Möglichkeit poetisch-erzählerischer Erfahrung.« Felix Martinez-Bonati: Die logische Struktur der Dichtung. DVjs 47 (1973), S. 185–200, hier S. 186 und 189. 16 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 251. 17 Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 128.
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Der lîp wandelt sich nâch dem muot. des lîbes gebærde uns dicke bescheit, hât ein man lieb ode leit. dâ von mac ein ieglîch man, der die gebærde bescheiden kan, bî der gebærde, ob er wil, verstên dinges harte vil. ein ieglîch tuc hât sîn gebærd, swer hât den rât daz erz ekennt und ouch den sin. (v. 903–921)
Wie sieht nun dieses genuin literarische Ideal des Körpers einer literarischen Figur aus? Nicht nur in der didaktischen, auch in der Erzählliteratur wird dieses Ideal eines solchermaßen täuschungsfreien Körpers entwickelt. In ›Karl der Große‹ des Stricker behauptet der Erzähler:¹⁸ Ich hân gemerket einen list: swaz in des mannes herzen ist, daz wir dâ heizen der muot, er sî übel oder guot, den tuot er zetelîcher stunt mit solhen dingen kunt, daz man wol hœret oder siht, waz lobes im sîn herze giht. dâ bî bekenne ich dicke wol, wie ich den man haben sol. (v. 1–10)
Doch lesbar oder undurchschaubar sind Figuren immer nur füreinander, nur sie selbst können einander richtig oder falsch einschätzen, sich erkennen oder verkennen. Wir als Beobachter der sich gegenseitig beobachtenden Figuren haben diese Möglichkeit nicht, weil wir (anders als die Figuren innerhalb der histoire) die Körper der Figuren nicht ›sehen‹ können. Die Figuren begegnen uns immer nur durch die Stimme und mithin die Vermittlung des Erzählers und nicht als
18 Dass diese Perspektive nur die Realisierung einer literarischen Spielart ist, dürfte sich verstehen. In ›Karl der Große‹ nimmt der Erzähler eine entgegengesetzte Position ein und zeigt anhand der Figur Genelun, dass Täuschung durchaus möglich und nie ganz auszuschließen ist. In diesen Aussagenzusammhängen sind also keine Positionierungen des Autors zu sehen, sondern Haltungen, die der Erzähler – je nach Erzählzusammenhang – frei ist, einzunehmen. Deshalb ist die Werkchronologie (unabhängig davon, dass sie im Falle des Strickers alles andere als verlässlich zu bestimmen ist) für die Beurteilung der Haltung zu Lesbarkeit oder Nicht-Lesbarkeit gegenstandslos. Vgl. den entsprechenden Artikel zum Stricker im 2VL Bd. IX, Kapitel ›Chronologie, Raum, Publikum‹ (Sp. 433).
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etwas, auf das wir uns unmittelbar beziehen könnten wie auf einen Sinneseindruck.¹⁹ Es kann also sinnvollerweise nur danach gefragt werden, wie Lesbarkeit auf der Beschreibungsebene konzipiert wird. Wir können nicht beurteilen, wann und ob Figuren sich selbst ›inszenieren‹, weil diese Beurteilung das Vermögen voraussetzen würde, intentionales Handeln von unabsichtlichem zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist aber in Bezug auf literarische Figuren abwegig, weil deren Handlungen zwar als absichtliche oder unabsichtliche dargestellt werden, nie aber ›absichtlich‹ oder ›unabsichtlich‹ sein können. Zwar bereitet uns die Diskrepanz zwischen Innen und Außen (etwa in Form von Verstellung, List, Intrige oder Täuschung) keine Probleme, sobald sie entweder von den Figuren selbst oder dem Erzähler explizit als eine solche benannt wird, wie im Falle des Stratordienstes im ›Nibelungenlied‹ oder dem Gottesurteil im ›Tristan‹. Doch sobald der Erzähler das Verhalten einer Figur unkommentiert lässt (wie im Falle von Laudines Klage um Ascalon, deren ›Aufrichtigkeit‹ in der Forschung stellenweise in Zweifel gezogen wird), ist jeder Versuch der Zuordnung zu ›echt‹ oder ›unecht‹, ›affektiv‹ oder ›inszeniert‹ gegenstandslos: Wird Laudines ›echte‹ Trauer sichtbar oder verbirgt die Königin ihre ›wahren‹ Empfindungen hinter einem ›nur‹ ritualisierten Verhalten? Wir können es nicht wissen, weil es keine Laudine ›gibt‹, die uns Auskunft darüber geben könnte, sondern nur den Erzähler. So ist die Frage, ob Dietrich wirklich trauert, wenn er in der ›Rabenschlacht‹ extreme Trauerhandlungen wie Selbstverstümmelungen ausführt oder ob sein Verhalten eine Pose ist, die gesellschaftliche Konventionen bedient, grundsätzlich nicht zu beantworten, die Frage, wie andere Figuren sein Verhalten interpretieren oder was sein Verhalten bewirkt, aber sehr wohl. Wir können also die Frage nach der Lesbarkeit oder Inszenierung nicht beantworten, aber durchaus beobachten, wie sich die Interaktion der Figuren untereinander gestaltet, denn auf der Ebene der histoire, also der Erzählgegenstände, lassen sich höfische Körper und ihr Vermögen, die Zustände anderer Figuren an ihren Körpern abzulesen, sehr wohl beschreiben: Im ›Tristan‹ Gottfrieds etwa sieht der Erzähler im Verhalten von Tristan und Isolde nach dem Genuss des Trankes bestätigt, dass die minne sich niemals damit begnüge, im Inneren zu wirken, sondern ihre Macht stets auch an den Körpern sichtbar werden lasse:
19 Der komplizierte Fall der direkten Figurenrede sei hier ausgeklammert, weil er einen Diskurs eröffnen würde, der vom eigentlichen Thema wegführt. Ich verweise auf: Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004 (Narratologia 3) und Genette: Die Erzählung.
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Minne die verwærinne dien duhtes niht da mite genuoc, daz mans in edelen herzen truoc verholne unde tougen, sin wolte under ougen ouch offenbæren ir gewalt. (v. 11908–11913)
Es ist, ausgehend von der Beobachtung dieser scheinbar ungebrochenen Identität von Innen und Außen, von Affekt und Erscheinung, behauptet worden, diese Körper seien »volle Körper«, die »von den ersten Anflügen einer sie mediatisierenden Abstraktion noch kaum gestreift«²⁰ seien. Denn diesen Körpern sei »das Äußere noch das Ganze und damit kein Äußeres.«²¹ Unter der Maßgabe einer solchen ›Logik der Sichtbarkeit‹ kann es eine Differenzierung in ein Innen einerseits und ein Außen andererseits nicht geben. Der vollständig lesbare höfische Körper besteht in einem reinen Außen, das aber, weil ihm ein Innen fehlt, von dem es sich abheben könnte, nicht als ein Außen erscheint, sondern als bloße Fläche. Jan-Dirk Müller hat am Beispiel der Figuren des ›Nibelungenliedes‹ denn auch von der ›Personalität als Oberfläche‹ gesprochen: »Die Figuren des ›Nibelungenliedes‹ haben keine ›Tiefe‹, etwas, das ›hinter‹ ihrer Erscheinung steht, selbst ihre Körperlichkeit ist flach, auf die sichtbare Oberfläche reduziert. Das, was unter allen Oberflächen dasselbe bleibt, ist ein Allgemeines, die exorbitante Stärke des Heros.«²² Und doch muss die Vorstellung von einer reinen Flächigkeit korrigiert, beziehungsweise muss berücksichtigt werden, dass die Literatur selbst ihr stellenweise widerspricht. Denn es gibt in der mittelalterlichen Literatur auch das Verborgene, Unsichtbare und Heimliche, es gibt das, was von ›den Anderen‹ nicht oder nicht richtig erkannt oder gedeutet wird, und damit immer schon die Gefahr, betrogen zu werden, beziehungsweise die Freiheit, zu betrügen: »Die gleichzeitige Geltung zweier widersprüchlicher Sätze – ›das Äußere ist Abbild des Inneren‹ und ›das Äußere ist Gegenbild des Inneren‹ hält die Diskussion über die Verläßlichkeit der Zeichen in Bewegung«²³ – und zwar nicht erst in der Literaturwissenschaft, sondern bereits in der mittelalterlichen Literatur selbst. Neben der Behauptung, dass die Körper der Figuren einander lesbar seien, lässt sich nämlich stets auch die Klage darüber finden, dass Trug und Missverständnis nie ganz auszuschließen seien:
20 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 58. 21 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 59. 22 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 244. 23 Wenzel: Hören und Sehen, S. 193.
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Die bildreiche Fälschungsmetaphorik vom Rolandslied (der falsche Goldglanz, der morsche Baum, die hohle oder wurmstichige Nuß) über den Parzival (der buntgefiederte Köder am Angelhaken; der giftgefüllte Zahn) bis zum Welschen Gast (übergoldetes Kupfer, Galle im Honig, der verborgene Stachel etc.) ist ein Indikator dafür, mit welcher Intensität die Diskrepanz von Schein und Sein, von Innerem und Äußerem, Versprechen und Erfüllung, in der Literatur des Mittelalters diskutiert wird. Die Idealvorstellung einer verläßlichen Korrespondenz von innerer Qualität und äußerer Erscheinungsform ist Voraussetzung und Ziel der höfischen Erziehung, aber die Möglichkeit und die Gefahr der Täuschung bleibt ein zentrales Problem der erzählenden Dichtung ebenso wie der eher explizierenden, didaktischen Literatur.²⁴
Und das gilt in gleichem Maße für die Heldenepik wie für den höfischen Roman:²⁵ Sigune erkennt Parzival ebenso intuitiv wie Hagen Siegfried erkennt. Karl ist im ›Rolandslied‹ jedem unmittelbar erkennbar. Demgegenüber haben Biterolf und Dietleib ebenso große Schwierigkeiten, einander zu erkennen, wie Gawan und Wigalois. Die Gattungszugehörigkeit scheint hier nicht die entscheidende Rolle zu spielen: Im ›Willehalm‹ verrät die Stimme ihres Herzens Gyburc, dass Rennewart ihr Bruder ist. Dessen Herz aber spricht offenkundig weniger deutlich als das ihre. Die komplizierten Prozesse um Erkennen und Verkennen, um das Verhindern oder Hinauszögern des Erkennens, sind allein im Bezug auf die Erzählabsicht des jeweiligen Einzeltextes präzise zu erfassen, nicht als Darstellungsformen, die einer Gattung zuzurechnen wären. Grundsätzlich ist folglich zu bezweifeln, dass es so etwas wie eine »höfische Anthropologie, wie sie in der volkssprachigen Epik entworfen wird«²⁶ oder eine »Ideologie des adligen Körpers«²⁷ in dieser Pauschalität überhaupt gibt. Auszugehen ist eher von zahlreichen literarischen Optionen und Spielarten davon, wie die Begegnung von lesbaren oder nicht-lesbaren Körpern literarisch gestaltet werden kann. Jeder einzelne Text entwickelt sie innerhalb des Bezugsrahmens, den er selbst absteckt, und die einzelnen Modelle von Erkennen oder Verkennen sind kaum je über einen ganzen Text hinweg stabil oder kohärent. So wird Willehalm in einer Szene von seiner Frau nicht erkannt, in einer anderen aber schon. Das lässt sich erklären und begründen, aber nur textintern. Wer den Widersprüchen und Brüchen Rechnung tragen will, derer sich die mittelalterliche Literatur in ihrer Gestaltung des Verhältnisses zwischen Innen und Außen bedient, muss gröberen Klassifikationsversuchen misstrauen. Im
24 Wenzel: Zur Lesbarkeit von Körperzeichen, S. 214, Hervorhebungen im Original. 25 Anders urteilt Armin Schulz in ›Schwieriges Erkennen‹. Vgl. dazu das Einleitungskapitel, S. 25. 26 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 29. 27 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 500.
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Folgenden werde ich deshalb zwischen den Polen ›Übereinstimmung‹ und ›Diskrepanz‹ von Innen und Außen ein breites Spektrum entwerfen, innerhalb dessen allein narrative Muster herausgearbeitet werden und keine Gattungstypologien, nicht einmal (vermeintliche) Positionen von Einzeltexten zur Frage von Lesbarkeit der Körper jener Figuren, von denen sie erzählen. Dass nämlich sogar innerhalb eines einzelnen Textes keine konsistenten Positionen bestehen müssen, zeigt in besonders deutlicher Weise etwa der Prolog von Strickers ›Pfaffe Amis‹, der behauptet, dass es Amis gewesen sei, der Lug und Trug in die Welt gebracht und diese dadurch korrumpiert habe: Nu saget uns der Stricker, wer der erste man wer, der liegen triegen aneviench, und wie sin wille fur giench, daz er niht widersazzes vant. (v. 39–43)²⁸
Doch diese Behauptung des Erzählers wird sogleich von der Handlung, die dem Prolog folgt, konterkariert: Amis trifft zwar auf zahlreiche einfältige, dem Augenschein vertrauende Leute, aber auch auf solche, die bereits sehr wohl in der Lage sind, sich dieses Augenscheins eigennützig zu bedienen und ihn zu manipulieren. Anders gesagt: List und Intrige haben die Welt längst schon heimgesucht, als Amis zu seinen Reisen aufbricht. Warum der Prolog dennoch behauptet, dass es einst eine heile Welt der Kongruenz von Innen und Außen gegeben habe, bevor sie von Amis zerstört worden sei, um später dann davon zu erzählen, dass diese Kongruenz immer schon manipulierbar war, könnte nur eine sorgfältige Interpretation des Werkes klären. Hier mag das Beispiel daran erinnern, dass auch innerhalb eines einzigen Textes Innen und Außen in vielfältigen komplexen Bezügen zueinander stehen und dass genau dieser Sachverhalt – nicht nur also das Verhältnis von Innen und Außen selbst – zum Gegenstand literarischer (Selbst-)Reflexion werden kann. Aus diesem Grund dürfte jede teleologische oder historische Deutung, die von der Existenz einer »solcher Welt der Körper und Dinge, deren Herrschaft von den ersten Anflügen einer sie mediatisierenden Abstraktion noch kaum gestreift ist,« ²⁹ zu pauschal sein, weil es in jeder, selbst in einer solchen ›Welt‹ »dennoch die Vorstellung zu geben [scheint], am Heroen könnten Sichtbares und Wesen
28 Der Stricker: Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341. Hrsg., übers. und komment. von Michael Schilling. Stuttgart 1994. (RUB 658) 29 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 58.
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auseinanderfallen, er vermöchte anderes vorzustellen, als er ist.«³⁰ Dass eine sukzessive Verselbständigung von Innen und Außen Resultat einer historischen Entwicklung oder der Degeneration von Offensichtlichkeit³¹ ist, wird zwar von zahlreichen Zeitklagen der Literatur wie der im ›Amis‹-Prolog nahe gelegt, doch diese erweisen sich eben durchaus nicht als Ausdruck einer verloren gegangenen ursprünglichen Sichtbarkeit innerer Zustände, sondern als literarische Topoi: Die Vorzeit, in der eine »Herrschaft des Offenbaren«³² die Menschen vor Täuschung bewahrt hätte, gibt es (zumindest in der Literaturgeschichte) nicht. Das ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad inszeniert, obgleich wesentlich älter als der ›Pfaffe Amis‹, in seiner Beurteilung des Verräters Genelun nicht den Einbruch des Zweideutigen in einen geschlossenen Wahrnehmungsraum, sondern gerade die Ursprünglichkeit von Scheinhaftigkeit: er [Genelun] ervolte daz altsprochene wort jâ ist gescriben dort: ›under scœnem schade liuzet, ez en ist nicht allez golt, daz dâ glîzet.‹ (v. 1956–19559)³³
Armin Schulz nimmt Passagen wie diese zum Anlass dafür, von ›konkurrierenden Wahrnehmungs- und Erkenntnismodellen‹ zu sprechen: Auch in diesem Sinne vereint das ›Rolandslied‹ konkurrierende Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle. Hintergrund ist das unvermittelte Nebeneinander einer immer auch prekären sozialen Epistemik, die von dem äußeren Anschein auf das wahre Sein schließen möchte, und eines strukturell archaischen, mythomorphen Präsenzglaubens, demzufolge sich Wesen und Qualitäten des herausragenden Gegenübers allein über dessen visuell erfahrbare Präsenz unhintergehbar und eindeutig von selbst mitteilen. ³⁴
Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass in der vorliegenden Arbeit Texte weder auf Wahrnehmungs-, noch auf Erkenntnismodelle hin befragt werden, sondern allein auf Darstellungsmodelle. Als solche verstanden legen Erzählerkommentare wie der oben zitierte vor allem die Frage nahe, was durch ›das
30 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 58. 31 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 183. 32 »Solch entzweite Wahrnehmung bildet – als Kultur des Geheimen – auf dem langen Wege von der Herrschaft des Offenbaren und ganzer sozial-natürlicher Körper zu der universal und real gewordenen Allgemeinheit eine Zwischenstufe aus, die Prototypen staatsförmiger Organisation Raum bietet.« Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 181f. 33 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komment. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1996. (RUB 2745) 34 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 62.
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unvermittelte Nebeneinander einer immer auch prekären sozialen Epistemik, die von dem äußeren Anschein auf das wahre Sein schließen möchte, und eines strukturell archaischen, mythomorphen Präsenzglaubens‹ erzählerisch erreicht werden kann und soll. Wer sich auf diese Frage einlässt vermag festzustellen, dass die Relationierung von Innen und Außen in der mittelalterlichen Literatur überraschend selten dazu herangezogen wird, eine spezifische höfische Anthropologie von Lesbarkeit oder Unlesbarkeit zu entwerfen, denn kaum je werden innerhalb eines Textes konsistente, für eine Anthropologie belastbare Aussagen dazu getroffen, ob oder unter welchen Bedingungen eine Figur ›lesbar‹ ist oder nicht. So vermag Sigune Parzival zu erkennen, während Ither ihn nicht erkennt. Parzival erkennt bis zum Ende des Textes seine eigenen Verwandten nicht und ist selbst im 15. Buch noch nicht in der Lage, seinen eigenen Bruder zu erkennen, was ihn jedoch nicht daran hindert, Gralskönig zu werden. Offenbar lässt sich aus den Aussagen, die zum Verhältnis von Innen und Außen und deren Übereinstimmung oder Diskrepanz getroffen werden, kein widerspruchsfreies Wahrnehmungs- oder Erkenntnismodell herauslesen: Es kämpfen Brüder gegeneinander, weil sie sich nicht erkennen, Freund kämpft gegen Freund, der Vater gegen den Sohn. Die Ehefrau erkennt den Gatten, den sie doch sehnlich erwartet, nicht, als er vor der Türe steht, der Artushof nicht den Ritter, den er sucht, die Verlobte erkennt ihren Bräutigam nicht mehr – oder das genaue Gegenteil davon ist der Fall: Liebende sehen sich ähnlich wie Geschwister und finden so nach langer Trennung wieder zueinander, weil sie von anderen erkannt werden, Adlige sind an ihrer Schönheit unzweifelhaft als solche zu erkennen, Intriganten sind verwachsen und hässlich, Verwandtschaft teilt sich durch die Stimme des Blutes mit. So lässt sich nur sagen, dass »Welt und Gott, äußerer Status und innere Seelenverfassung […] im Idealfall miteinander harmonisiert sind […], aber grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis stehen, das für geistliche und weltliche Texte gleichermaßen konstitutiv erscheint«³⁵ – und wen wundert das? Auch Rüdiger Schnell bekräftigt diesen Befund: Die mittelalterliche Literatur stützt tatsächlich beide Auffassungen: die von einer Übereinstimmung wie einer Diskrepanz von Innen und Außen. Sinnvoll erscheint mir allein die Frage nach den diskursiven Bedingungen, die in den einen Texten eine Harmonie von Innen und Außen generieren, in anderen Texten eine Diskrepanz zwischen beiden Bereichen demonstrieren.³⁶
35 Wenzel: Zur Lesbarkeit von Körperzeichen, S. 210. 36 Rüdiger Schnell: Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischen und laikalen Erziehungsschriften. In: Anima und sêle, S. 83–112, hier S. 90.
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Doch diese ›diskursiven Bedingungen‹ lassen keine Regelhaftigkeit erkennen, weder eine literarhistorische, noch eine gattungstypologische. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der mittelalterlichen Erzählliteratur eine breite Palette von Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hat, (Wieder-)Begegnungen, Interaktionen, jede Form des gesellschaftlichen, familiären, freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Umgangs narrativ zu gestalten. Dabei kommt es vor, dass das Äußere ›das Ganze‹ ist. Allerdings begegnet ähnlich häufig auch das Gegenteil davon: Figuren verkennen sich, erkennen sich nicht wieder, werden nicht erkannt, missverstehen sich, sind einander nicht lesbar oder vermögen es nicht, den anderen zu durchschauen oder zu verstehen. So erkennt im ›Guoten Gêrhart‹ die Verlobte des Königs von England ihren Verlobten, der unerwartet im Pilgergewand zu ihrer Hochzeit mit dem Sohn Gerharts erschienen ist, nicht mehr. Als Gerhart ihr den verloren geglaubten Verlobten vorstellt, wähnt sie sich verspottet: mîn vrowe blûclîchen sprach, dô sî in bî ir sitzen sach: ›nû sag mir, liebez väterlîn, wer dirre ritter müge sîn.‹ ›vrowe, ist er iu unbekant? ez ist der künic von Engellant, iuwer herzenlieber man,‹ diu vrowe weinen dô began. ›Ach süezer vater mîn, durch got, wâ gediente ich disen spot?‹ (v. 4567–4576)
Solches Verkennen von Figuren ist ein verbreitetes Erzählmotiv, und zwar sowohl in der höfischen wie in der heroischen Epik. So wird auch Willehalm von seiner Frau Gyburc nicht an seiner Stimme erkannt: der marcrave ninder vloch, e daz er von im selben zoch harnasch daz er e hete an: ein bezzerz daz der tote man gein im ze strite brahte, balde er des gedahte, mit zimierde leit erz an den lip. des bekant in niht sin selbes wip sit do es im wart vil not, swie kuntliche rede er ir bot. (v. 81,23–82,2)
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Erst als Gyburc Willehalm bittet, seinen Helm abzunehmen und sie die Narbe sehen kann, die er einst im Kampf gegen die Römer empfangen hatte, kann ihr Mann sie von seiner Identität überzeugen.³⁷ Allerdings beweisen diese Beispiele von misslungener Identifikation noch nicht, dass höfische Körper nicht lesbar wären. Die interessante Frage ist nämlich, wa s eigentlich ›gelesen‹, was erkannt und was identifiziert wird, wenn Figuren aufeinander mit Erkennen oder Verkennen reagieren. Dabei geht es offenbar nicht um das bloße Erscheinungsbild des ›physischen‹ Körpers. Naheliegend ist, dass beim Motiv des Erkennens und Verkennens Fragen von intakter oder beschädigter Identität verhandelt werden. Auch die Szene des Verkennens im ›Willehalm‹ ist in eine übergreifende Konzeption des Werkes eingebunden. Bei seiner Rückkehr vom Königshof wird Willehalm ein zweites Mal nicht auf Anhieb erkannt, doch dieses Mal gelingt es seiner Frau im Gegensatz (und mit deutlichem Bezug) zur ersten Verkennungsszene schließlich, ihn an seiner Stimme zu identifizieren: »von siner stimme wart in kunt / daz der rehte wirt was komen.« (v. 228,22f.) Der Kontext der beiden Szenen macht deutlich, was hier in Kürze nicht darzustellen ist, dass nämlich die wiederholten Szenen von misslungener oder erfolgreicher Identifizierung auch vom Verhältnis zwischen Gyburc und Willehalm und von der beschädigten oder sukzessive sich rehabilitierenden sozialen und kriegerischen Identität des Protagonisten berichten. Dass das Vermögen, zu erkennen oder erkannt zu werden, von der Anerkennung der sozialen Identität abhängt, lässt sich auch an Texten anderer Gattungen belegen: Deshalb kann z.B. der Artus-Held Wigamur behaupten, nicht zu wissen, wer er sei, obwohl ihn eben noch jemand beim Namen genannt hat: der heizet Weygamur mit dem arn (3883). Das ist keineswegs, wie man liest, ein Schnitzer des Autors, oder, wenn doch, dann mindestens ein verzeihlicher, weil es auf den Eigennamen allein eben nicht ankommt, so wenig auch wie auf das Zeichen des Adlers, das sich der Ritter zugelegt hat: Erst, nachdem er seinen Vater und sein Geschlecht gefunden hat, damit seine Bestimmung zur Herrschaft kennt, kann Wigamur von sich sagen, er wisse, wer er ist.³⁸
Ähnliches ließe sich an der ›Kudrun‹ zeigen, die davon erzählt, wie die Heldin nach Jahren der Demütigung und Erniedrigung zwar von ihrem Verlobten, nicht
37 Vgl. dazu Schulz: Schwieriges Erkennen, Kap. II.3.6. 38 Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ›Willehalm‹, dem ›Nibelungenlied‹, dem ›Wormser Rosengarten A‹ und dem ›Eckenlied‹. In: Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. FS für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Gertrud Blaschitz u. a. Graz 1992, S. 87–111, hier S. 94.
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aber von ihrem eigenen Bruder erkannt wird. Um es ein weiteres Mal zu wiederholen: Hier sind literarische Darstellungsformen und Erzählstrukturen ursächlich für Erkennen und Verkennen der Figuren und nicht ›mittelalterliche Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle‹ (was auch immer das sein mag). Auf einen ersten Blick scheint es nun so, als ließe sich der Einwand, dass höfische Körper nicht notwendig lesba re Körper sein müssen, mit dem Hinweis darauf entkräften, dass Gegenstand der Lesbarkeit schließlich nicht der physische Körper ist, der sich seiner gesellschaftlichen Anerkennung gegenüber verselbständigt hat, sondern einer, der gerade diese zur Anschauung bringt. Dass der König von England nicht von seiner Verlobten, Kudrun nicht von ihrem Bruder und Willehalm nicht von seiner Frau erkannt wird, würde also die soziale Lesbarkeit nicht in Frage stellen, sondern sie umgekehrt bestätigen. Im Falle des durch höhere Gewalt von seiner Verlobten getrennten Königs von England und in dem von Willehalm, der von der Übermacht der Heiden buchstäblich zu Boden gedrückt wird, ist unschwer festzustellen, dass »ein Hochadliger nicht seinem Rang gemäß behandelt wird und auch – ›objektiv‹ – gar nicht danach behandelt werden kann, weil er für alle sichtbar nicht vollständig ist, in seiner Identität beschädigt:«³⁹ »Falsche Kleidung und falscher Ort sind eindeutige Indizien einer ›objektiven‹ Schädigung adliger Existenz, keine je für sich korrigierbaren Äußerlichkeiten. Sie bleiben, solange eine ständische Identität nicht die richtige, und d.h. meist, keine vollständige ist, verschwinden, wenn alles seinen Platz gefunden hat.«⁴⁰ Standes- und Rangverlust sind Minderungen der sozialen Identität und sofern die ›Äußerlichkeit‹ einer Figur solche anzeigt, sind soziale und physische Erscheinung, Innen und Außen, wieder in Übereinstimmung gebracht: Der König von England wird nur deshalb nicht erkannt, weil er nicht als König, sondern als Pilger, also gleichsam in einer anderen und minderen Rolle, zur Hochzeit seiner Verlobten erscheint. Dass sie ihn in dieser Rolle zunächst nicht erkennen ka n n, bekräftigt seine Rolle als König ebenso wie ihre als Königin und zeigt gerade n icht das Auseinanderfallen von Erscheinung und Wesen, von Innen und Außen, an, sondern deren Übereinstimmung. Es ließe sich das Verhältnis von beschädigter Identität und deren Verkennen sogar umkehren, so dass vom Sachverhalt des Verkennens auf eine beschädigte Identität geschlossen werden kann. Der Umstand, dass beispielsweise Gregorius’ Mutter ihren Sohn nicht erkennt, obwohl er in jenen Stoff gekleidet ist, den sie selbst ihm seinerzeit in die Barke gelegt hatte, könnte so auf ihre Sündenlast
39 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 59, Hervorhebungen im Original. 40 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 58.
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zurückgeführt werden: In diesem Falle würde nicht das Motiv des Verkennens aus ihrer beschädigten Identität, sondern die beschädigte, weil sündenbehaftete Identität der Mutter aus der Tatsache erschlossen, dass sie ihren eigenen Sohn verkennt.⁴¹ Doch so plausibel die Analogisierung von misslungenem Erkennen und beschädigter oder in Frage gestellter Identität zunächst scheinen mag, so wenig vermag sie der Komplexität der mittelalterlichen Erzählliteratur gerecht zu werden. Denn nicht jeder Fall von Verkennen lässt sich auf eine Beschädigung der höfischen Identität zurückführen. Dass das Motiv des Verkennens nicht nur in der höfischen Epik vollständig wertfrei eingesetzt werden kann, zeigt das Beispiel ›Biterolf und Dietleib‹, wo Vater und Sohn am Etzelhof aufeinandertreffen. Obwohl der junge Dietleib seine Mutter verlassen hatte, um seinen Vater zu finden und sich bereits seit geraumer Zeit in Gesellschaft Biterolfs bei Etzel aufhält, findet zwischen beiden kein gegenseitiges Erkennen, ja nicht einmal der Versuch, die Identität des anderen zu enthüllen, statt. Wo sonst die ›Stimme des Blutes‹ dem Vater den Sohn verrät und dem Sohn den Vater, da sorgt das Blut hier dadurch, dass es Biterolf in die Augen rinnt, allein dafür, dass er und sein Sohn sich auf dem Schlachtfeld, wo beide für Etzel kämpfen und versehentlich aufeinandertreffen, nicht erkennen: Vor im [Biterolf] lac vil der siechen. er kôs für einen Kriechen den vil kindischen man [Dietleib]: dô kôs für einen Pôlân der junge den alten. er hete vil nâch gehalten dar an im selben den tôt. irte in niht daz bluot rôt, sô hæte er vil wol erkant des heldes wâfen an der hant. dô sluoc der degen junge den guoten Welsunge sô starke ûf den vater sîn daz der fiuwerrôte schîn lougete ûz den ringen. (v. 3647–3661)
41 Im ›Gregorius‹ wird diese Relation sogar noch ein weiteres Mal gespiegelt, denn dieses Verkennen resultiert nicht nur aus ihrer beschädigten Identität, sondern beschädigt sie noch weiter, insofern sie dem ersten Inzest noch einen zweiten hinzufügt. Das Verkennen kann hier also sowohl als Wirkung der ersten Sünde wie als Ursache einer zweiten betrachtet werden.
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Zwar empfinden beide eine diffuse Zuneigung füreinander: als was ouch, sô man uns des giht, bî Etzeln unde Helchen sint der schœnen Dietlinde kint, daz sich Bitrolf und sîn suon nie mohten kunt getuon, ez enhæte ir herze daz geseit den küenen recken vil gemeit dazs einander solden wesen holt. swie siz niht hæten versolt, si wehselten doch dicke vil güetlîche blicke. (v. 4074–4084)
Doch Dietleib kommt nicht auf die Idee, dass er in Biterolf seinen Vater gefunden haben könnte. Es bedarf der behutsamen und überaus umständlichen Intervention Rüdigers, um die beiden dazu zu bewegen, Namen und Identität zu enthüllen, was noch dadurch erschwert wird, dass Biterolf Rüdiger gegenüber abstreitet, Biterolf zu sein. Zwar ließe sich auch hier das Unvermögen, den jeweils anderen zu erkennen, darauf zurückführen, dass die Identität von Vater und Sohn schon alleine dadurch beschädigt ist, dass der Vater seinen Sohn zurückgelassen hat und dieser ohne Vater aufgewachsen ist. Doch diese Erklärung wäre zirkulär, weil sie behaupten würde, dass das Symptom seine eigene Ursache sei: Aus dem Sachverhalt des Verkennens würde dann auf die beschädigte Identität geschlossen werden, die sich ihrerseits wieder im Verkennen manifestieren und bestätigen würde. Nicht die Defizienz einer oder beider Figuren ist hier denn auch ursächlich dafür, dass sich Vater und Sohn nicht erkennen, und die Tatsache, dass ihre heroischen Körper füreinander nicht lesbar sind, wird auch nicht dazu genutzt, das Verhältnis von Innen und Außen zu problematisieren. Die Feststellung »Wo die soziale Identität der Helden gestört ist, schwindet ihre Wahrnehmbarkeit«⁴² dürfte ebenso wie die, dass »insgesamt […] die Kenntlichkeit einer Figur immer etwas über den Grad ihrer sozialen Einbindung«⁴³ besagt, noch weiter zu differenzieren sein. Denn im Textbeispiel aus dem ›Biterolf‹ geht es offenbar um etwas ganz Anderes, darum nämlich, ein heroisches Ideal von Ehre darzustellen, das sich in der Freiheit erweist, die eigene Identität, den eigenen Namen, bedeckt und
42 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 502. 43 Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 502.
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verborgen halten zu können. Das Inkognito Biterolfs am Hof Etzels ist kein Hinweis auf seine ›Unlesbarkeit‹ oder das Unvermögen Dietleibs, ihn zu erkennen, sondern auf die Souveränität seiner Herrscherwürde, darauf also, dass er auch am Hofe Etzels als unbezwungener König selbst darüber entscheidet, wem gegenüber er seine Identität enthüllt und wem gegenüber nicht. Im ›Parzival‹ wird explizit gemacht, dass die Nennung des Namens, also die Enthüllung der eigenen Identität, eine Ehrminderung darstellt, die es unter allen Bedingungen zu vermeiden gilt. Feirefiz nennt diese Ehrminderung ›laster‹ (v. 745,27) und ehrt seinen unbekannten Gegner Parzival dadurch, dass er dieses auf sich selbst nimmt, indem er als erster seinen Namen nennt, nachdem Parzival es abgelehnt hatte, den seinen zu offenbaren: ›nu ruoche, helt, mir beidiu sagen, dînen namen unt dînen art: so ist wol bewendet her mîn vart.‹ dô sprach Herzeloyden suon ›sol ich daz durch vorhte tuon, sone darf es niemen an mich gern, sol ichs betwungenlîche wern.‹ der heiden von Thasmê sprach ›ich wil mich nennen ê, und lâ daz laster wesen mîn […].‹ (v. 745,18–27)
Diese Form der Ehrhaftigkeit dürfte auch im ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg vorliegen, der die unverbrüchliche Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich zum Gegenstand hat. Erst als Dietrich nach dem Tod seines Vaters die Herrschaft in Brabant antreten soll, offenbart er sich seinem Freund Engelhard. Nun erst erfährt dieser, dass er es während der gesamten Zeit seiner Freundschaft zu Dietrich mit einem Hochadligen zu tun hatte, was ihm zutiefst unangenehm ist: ez wart an mir vil volle schîn daz ich vil tumber sinne wielt, sît ich dich verre baz niht hielt dan alle mîne gesellen ie. ich solte sîn gewesen hie dîn kneht vil kûme, wizze Krist. swaz aber dir enboten ist unzühte von mir, sælic man, dâ bin ich gar unschuldec an: wand ich dich niht erkante daz dû von Brâbante wær eines hôhen fürsten kint. doch was mîn sin dar an ze blint daz ich dir êre niht enbar.
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ich möhte ân allen zwîvel gar an dîner tugent hân gespurt daz dû wære von geburt edel gar und ûz erkorn. (v. 1466–1483)
Dass Engelhard an Dietrichs tugent hätte wahrnehmen müssen, dass dieser von geburt edel gar und ûz erkorn ist, erzählt der Text aber gerade nicht. Die Freundschaft beider ist bis zu diesem Zeitpunkt ganz und gar makellos, und ihre Makellosigkeit offenbart sich gleichermaßen darin, dass Dietrich seinen Adel dem ständisch niedriger stehenden Engelhard gegenüber nicht ausgesprochen hat wie darin, dass Engelhard sich selbst bezichtigt, seinem Freund die gebührende Ehrbezeigung vorenthalten zu haben.⁴⁴ Hier ist es also gerade das Verkennen, das die Gleichrangigkeit beider über die Standesgrenzen hinweg offenbart und damit die Freundschaft, die zwischen ihnen herrscht, unterstreicht. Ein letztes Beispiel soll belegen, dass das Unvermögen, zu erkennen, beziehungsweise das Unvermögen, erkannt zu werden, ebenso wenig einen Betrug, ein Kalkül oder eine List voraussetzen, wie sie stets notwendig auf die beschädigte Identität einer Figur verweisen müssen. Im unikal in einer Papierhandschrift (Mitte 15. Jh.) des Kollegiatstiftes Zeitz überlieferten mittelhochdeutschen ›Karl und Ellegast‹ reitet König Karl nachts auf den Befehl Gottes hin aus und wünscht sich im Wald Beistand und Gesellschaft des von ihm verstoßenen Fürsten Ellegast, der, seit er Ludwig mit einem Schachbrett erschlagen hatte, als Verbannter im Wald vom Raub lebt. Unverzüg-
44 Schulz kommentiert diese Tatsache folgendermaßen: »Es stellt sich später heraus, daß Dietrich der Sohn des Herzogs von Brabant ist, also einen weit höheren Adelsrang besitzt als Engelhard. Dieser Rang wäre hier ausschließlich an äußeren Statuszeichen (Pferd und Kleidung) ablesbar, nicht aber schon an der körperlichen Erscheinung selbst. Körperlich sichtbare Tugend und vestimentär sichtbarer Status treten beim Protagonisten auseinander. Die Handlung gleicht dieses Mißverhältnis aus: Engelhard wird letztlich den Rang einnehmen, der ihm von seiner Erscheinung her angemessen ist und zusteht.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 394. Gerade aber weil »körperlich sichtbare Tugend und vestimentär sichtbarer Status […] beim Protagonisten auseinandertreten« – und zwar einerseits dadurch, dass Engelhard ebenso tugendhaft ist wie Dietrich, aber einen geringeren Rang besitzt als dieser und andererseits dadurch, dass Dietrichs höherer Adel von seinem Freund nicht erkannt wird, ist fraglich, ob tatsächlich »›Wahrheit‹ […] einzig zwischen Engelhard, Engeltrud und Dietrich zählt; sonst aber können ›Wahrheit‹ und evidente ›Realität‹ letztlich ungestraft manipuliert werden.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 408. Denn auch für die Freunde selbst ist die Identität des jeweils anderen gerade nicht evident. Das aber stellt ihre Freundschaft nicht in Frage, sondern unterstreicht sie gerade. Denn ihre Freundschaft überschreitet jede gesellschaftliche Differenzierung und jeden gesellschaftlichen Rang. Das zeigt sich dort, wo Engelhard überrascht ist vom königlichen Geblüt seines Freundes und dort, wo er den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen liebe- und respektvoll pflegt.
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lich erscheint Ellegast im Wald. Während der König ihn erkennt, ist diesem nicht klar, gegen wen er kämpft, als beide eine Tjost gegeneinander beginnen: Do Ellegast in demm walde rante, der keyser ön schyere kante, daz syt von my bericht. Ellegast kante des keysers nicht. Do mochte man schöwen gten lust. Dy zwene hylden einen tzust. (v. 297–302)⁴⁵
Schließlich stellen sie den Kampf ein und Ellegast gibt sich auf die Frage seines Gegners hin freimütig als der Dieb Ellegast zu erkennen. Karl verschweigt seine Identität und gibt sich als Dieb mit Namen Olbrecht aus. Das unterschiedliche Erkenntnisvermögen, beziehungsweise die Tatsache, dass Ellegast, anders als Karl, sein Gegenüber nicht erkennt, zeigt jedoch durchaus keine Defizienz der Figur an. Die Täuschung, der Ellegast erliegt, unterstreicht vielmehr die Zusammengehörigkeit zwischen ihm und Karl. Ellegasts Unvermögen, in Olbrecht seinen König zu erkennen, ist unabdingbar für die Prüfung, der Karl Ellegast unterzieht, indem er hässlich über König Karl herzieht und ihm den Tod wünscht, um die Loyalität seines Gegenübers zu prüfen. Ellegast reagiert empört und erweist sich als dem König treu ergeben. Doch nur als von Ellegast nicht Erkannter kann der König mit eigenen Ohren vernehmen, wie beharrlich dieser seine Loyalität ihm gegenüber aufrecht erhält. Erkennen und Verkennen deuten hier nicht den spezifischen Zustand an, in dem Figuren sich befinden, sondern stellen ein Erzählmuster dar, dessen Funktion es ist, die folgenden Handlungsverläufe anzubahnen und zu ermöglichen. In ›Karl und Ellegast‹ baut die gesamte Handlung auf der Tatsache auf, dass Ellegast seinen nächtlichen Raubkumpan nicht erkennt. Nur weil er nicht weiß, dass es sich bei Olbrecht um Karl handelt, vertraut er ihm, nur auf der Grundlage von Ellegasts Verkennen ist die Treue gegenüber seinem König, die er im Gespräch mit Olbrecht zu erkennen gibt, überhaupt glaubwürdig.⁴⁶
45 Karel ende Elegast und Karl und Ellegast. Hrsg. und übersetzt von Bernd Bastert, Bart Besamusca und Carla Dauven-van Knippenberg. Münster 2005. (Bibliothek mittelniederländischer Literatur 1) 46 Deshalb ist es entscheidend, dass die Handlung keine Ursache für das Verkennen angibt. Weder die mittelniederländische, noch die mittelhochdeutsche Fassung erzählen von einer bewussten Verkleidung des Königs. ›Karel ende Elegast‹ spricht von den Kleidern des Königs: »Mit deser talen ghinc hem gereyden / die coninc Karel ende cleyden / mit sinen dieren gewaden, / als die te stelen was beraden.« (v. 130–133) »Mit diesen Worten machte der König Karl sich fertig und kleidete sich mit seinen teuren Gewändern wie jemand, der sich zum Stehlen aufmacht.« Die
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Dass Erkennen und Verkennen auch nicht darauf zurückgeführt werden können, dass der eine ein Dieb, der andere aber ein König ist, macht der Schluss des Textes deutlich. Das Leben des Königs wird nur dadurch gerettet, dass Ellegast während des nächtlichen Raubes zufällig von einer Intrige erfährt, die gegen den König im Schwange ist, davon Olbrecht erzählt und so unwissentlich den König selbst warnt. Olbrecht sichert dem beunruhigten und sich um seinen König sorgenden Ellegast zu, die Sache in die Hand zu nehmen. Ellegast hält sich mit seinen Männern in der Nähe des Hoftages auf, der für den kommenden Tag anberaumt ist. Am nächsten Morgen wird die Verschwörung gegen Karl aufgedeckt, die Verschwörer werden gerichtet und Ellegast rehabilitiert. Allerdings gibt Karl sich auch hier nicht als Olbrecht zu erkennen, vielmehr begründet er sein Wissen um die Ränke Ellegast gegenüber damit, dass der Dieb Olbrecht ihn gewarnt habe. Bis zuletzt also vermag Ellegast seine falsche Wahrnehmung nicht zu korrigieren, obwohl er am Ende geradezu als Lichtgestalt erscheint: Mit freyden on wederstryt wart do geschaffen eine hochzyt, herzoge Ellegast z eren. Do begunde sich sine freyde meren. One alle schande fr man weder z sinem eygen land. Herde werdeclichen
Herausgeber kommentieren diese Stelle wie folgt: »Dass Karl sich kostbar kleidet, um zum Stehlen auszureiten, erscheint befremdlich. Verdeutlicht werden soll so aber wohl Karls Status, der dem eines Herrschers und nicht dem eines Diebes entspricht.« S. 8f. Deshalb ist es unverständlich, warum Edith Feistner, die diesen Text als Beispiel eines moralischen Verkleidungstypus heranzieht (»Die Rollenassimilation führt zur Identitätserweiterung, genauer gesagt: zur Ergänzung eines vorherigen Identitätsdefizits,« Edith Feistner: Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur. GRM 46 [1996], S. 257–269, hier S. 262), ihre ganze Argumentation auf der Funktion eines ›Verkleidungsmotives‹ aufbaut, das nicht vorliegt: »Karl und Elegast, sowohl selbständig als auch im Kontext der Karlmeinet-Kompilation überliefert, berichtet davon, daß Karl der Große in Ingelheim am Rhein nachts von einem Engel aufgeweckt wird und den Befehl erhält, sich als Dieb zu verkleiden und den Hof zu verlassen. […] Karl bemerkt bald, wie treu ihm sein früherer Diener, der ihn wegen der Verkleidung nicht erkennt, nach wie vor ergeben ist,« S. 259f., Hervorhebung im Original. Auf diese Inkongruenz hat bereits Kraß aufmerksam gemacht: »Nun ist aber weiter fraglich, mit welchem Recht der von Feistner als Musterfall der heldenepischen Maskerade vorgestellte ›Karl und Elegast‹ unter dem Index der Verkleidungsgeschichte geführt werden kann. Denn in den überlieferten Fassungen ist es nicht die Kleidung, sondern die Lebensführung, die den Kaiser zum Dieb macht. In der Version, die als Episode der ›Karlmeinet‹-Kompilation erhalten ist, heißt es ausdrücklich, daß Karl seine eigenen Kleider und seine eigene Rüstung anlegt.« Kraß: Geschriebene Kleider, S. 239f., Hervorhebung im Original.
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besas he sin herzogtm riche mit der reinen, hochgemte, des keysers Karles swester, der gt – on alle missewende. (v. 1816–1826)
Manche Texte erzählen auch davon, dass Lesbarkeit und Unlesbarkeit keine Gegensätze sein müssen, sondern nur zwei verschiedene Perspektiven auf eine Sache darstellen. So berichtet der Erzähler in Gottfrieds ›Tristan‹ vom ›Wettrüsten‹ zwischen Marke und Isolde in Sachen List und Findigkeit. Isolde wird von Brangäne darin instruiert, wie sie Marke zu überlisten vermag: »ir vrouwen lerte si do, / waz antwürte ir gebære / ze disen listen wære.« (v. 13746–13748) Und obwohl er uns vom gegenseitigen Betrug berichtet, behauptet der Erzähler dennoch, dass man Isolde Unrecht täte, wenn man ihr unterstellte, dass sie ihren Mann betrüge. Schließlich könne jeder mit eigenen Augen sehen, welches Verhältnis zwischen ihr und seinem Neffen wirklich besteht: wan zware er missetæte, der ez Isote seite ze keiner trügeheite: weder sin trouc in noch Tristan; er sach ez doch mit ougen an und wistes ungesehen genuoc, dazs ime dekeine liebe truoc. (v. 17756–117562)
Lesbarkeit und Verstellung schließen sich offenbar nicht notwendigerweise aus. Dass das Paar kalkuliert täuscht und dennoch vom Urteil des Betruges freigesprochen wird, liegt nicht daran, dass »Heimlichkeit und Intrige zum ›legitimen‹ Instrumentarium eines avancierten Territorialfürsten gehören,«⁴⁷ sondern daran, dass der Betrug, den Tristan und Isolde an Marke begehen, sich einer eindeutigen Bewertung ebenso nachdrücklich entzieht wie die Antwort auf die Frage, ob höfische Körper lesbar und ihre Affekte sichtbar sind oder nicht. Was die Beispiele bisher deutlich gemacht haben sollten, ist, dass die Lesbarkeit eines höfischen Körpers nicht von vornherein gegeben oder vorauszusetzen ist, sondern stets im Erzählzusammenhang jeweils problematisiert, bestritten oder hergestellt wird. Weder können sich die Figuren darauf verlassen, die Identität, die Absicht oder den Zustand eines anderen unmittelbar erkennen zu können, noch kann der Rezipient voraussetzen, dass jedes Verkennen oder
47 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 181, Fn. 103.
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Nicht-Erkennen stets die signifikante Abweichung von einer Norm darstellt. Vielmehr ist die Frage, ob und wie Figuren sich gegenseitig erkennen und zu ›lesen‹ vermögen, vor dem Hintergrund der jeweiligen Handlung zu beurteilen. Das Motiv wird nicht nur dazu genutzt, die Identität der Erkennenden oder dessen, der erkannt werden soll, zu problematisieren und zu perspektivieren, sondern auch dazu, die ›plots‹ zu platzieren, zu verzögern oder zu verknüpfen, ohne dass dabei das Innere der Figur irgendeine Rolle spielen müsste. Vielleicht sollte das Verhältnis von Innen und Außen deshalb aus einem anderen Interesse heraus als dem, welche mutmaßlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle von den Texten entwickelt werden, befragt werden. Den höfischen Körper gibt es nicht – es gibt ihn weder für Epochen, noch für Gattungen und es gibt ihn nicht einmal für einzelne Texte. Es gibt Körper, die in einzelnen Szenen und Episoden für andere lesbar sind, stellenweise aber unlesbar, sichtbar oder unsichtbar, trügerisch und listenreich oder einfältig und unfähig zur Verstellung. Auch der ›Wälsche Gast‹ spricht von der Übereinstimmung zwischen Innen und Außen und behauptet in diesem Zusammenhang, dass sich am Körper erkennen lasse, ob ›ein man hât lieb ode leit‹: Der lîp wandelt sich nâch dem muot. des lîbes gebærde uns dicke bescheit, hât ein man lieb ode leit. dâ von mac ein ieglîch man, der die gebærde bescheiden kan, bî der gebærde, ob er wil, verstên dinges harte vil. (v. 912–918)
Nur wenige Verse später wird dann jedoch behauptet, dass dem Augenschein nicht getraut werden dürfe: Am sehen triuget man sich dicke: jâ sint niht tag all liehte blicke; allez daz man wîzez siht, daz ist snê zallen zîten niht. (v. 939–942)
Deshalb ist dem Resümee von Ingrid Hahn zur Personerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts der Vorwurf der Generalisierung und Pauschalisierung zu machen, wenn sie schreibt: Wollte man trotz aller Verschiedenheit der Bedingungen nach einem gemeinsamen Nenner für das Erkennen in höfischer Dichtung suchen, so läge er am ehesten in jener allgemeinen Relation, die den Seins- und Erfahrungsstand der Erkennenden zu dem des Erkannten oder Verkannten in Beziehung setzt. Nach Art kommunizierender Röhren ist Erkennen möglich
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zwischen Menschen, deren innere Erfahrung auf dem gleichen Stand ist, als Liebende oder Leidende, Reifende und sich selbst Erfahrende.⁴⁸
Denn einen solchen ›gemeinsamen Nenner für das Erkennen in höfischer Dichtung‹ gibt es nicht. Ganz entschieden ist Müller zu folgen, wenn er schreibt: »Die Frage, wie Inneres thematisiert wird und wie Innen und Außen zueinander in Beziehung gesetzt werden, ist an jeden Text neu zu stellen, wobei man sich von makrohistorischen Extrapolationen zurückhalten sollte.« ⁴⁹ Dass ihr Pauschalurteil von vielen Texten widerlegt wird, ist Hahn letztlich selbst klar: »Doch gibt es auch hier keine Sicherheit. Den durch Askese entstellten geliebten Sohn Alexius erkennt der Vater trotz größten Verlangens nicht.«⁵⁰ Die entscheidende Frage kann folglich nicht sein, ob höfische Körper eher lesbar sind oder nicht. Entscheidend ist, wozu die jeweilige Konzeption innerhalb eines Erzählzusammenhanges genutzt und wie sie narrativ im Gesamtaufbau des Textes konkretisiert wird, beziehungsweise welche narrative Funktion der Formel von Innen und Außen im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und deren Trübung zukommt. Um hier zu genaueren Einsichten zu gelangen, soll im folgenden Kapitel das Motiv der Täuschung untersucht werden.
5.1 Die Diskrepanz zwischen Innen und Außen: Täuschung, List und Betrug⁵¹ Bereits vor der Entfaltung der volkssprachigen Erzählliteratur ist in der lateinischen Dichtung des Mittelalters das Motiv der listigen Täuschung verbreitet. Schon mit den äsop’schen Fabeln besaß sie das literarische Muster der Verstellung und des Betrugs sowie der fatalen Folgen, die aus Naivität und Einfalt erwachsen können. Auch die frühe Satire wie etwa die lateinische ›Ecbasis Captivi‹ aus der Mitte des 11. Jahrhunderts und die Dichtungen um Reineke Fuchs, beginnend mit dem ›Ysengrimus‹ aus der Mitte des 12. Jahrhunderts (später bearbeitet als ›Roman de Renart‹ von 1176 und ›Reineke Fuchs‹ von 1192) erzählen dann ausgiebig von Trug, Hinterlist und Täuschung, ebenso wie die so
48 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 443. 49 Müller: Höfische Kompromisse, S. 317, Anm. 1. 50 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 443. 51 In diesem Abschnitt stütze ich mich stellenweise auf einen Aufsatz, in dem ich mich mit dem Thema Täuschung in der Literatur des Mittelalters ausführlicher auseinander gesetzt habe. Es ist dies: »die welt dye ist gar seczam czu erkennen.« Von der Unlesbarkeit der Welt in der Dichtung des späten Mittelalters. GSR XXVI (2003), S. 81–104.
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genannten Spielmannsepen ›König Rother‹, ›Salman und Morolf‹ und ›Orendel‹, die die Verstellungen zum Gegenstand haben, die bei der Werbung um eine adlige Braut notwendig sind. Der ›Wolfdietrich B‹ zählt zwar nicht zu den klassischen Brautwerbungsepen, doch beinhaltet auch er eine komplizierte Brautwerbung. Weil der König von Salnecke, Walgunt, seine schöne Tochter Hiltburc für sich behalten will und in einem Turm vor der Welt verbirgt, nimmt Hugdietrich, der König von Konstantinopel, die Gestalt einer jungen Frau an. Er lernt Sticken und gibt sich in Salnecke als die vertriebene Schwester Hugdietrichs aus. So wird er zur Spielkameradin Hiltburcs, darf ihr Gesellschaft leisten, gewinnt schließlich ihre Liebe und zeugt mit ihr Wolfdietrich. Als der Betrug auffliegt, rechtfertigt Hugdietrich sein trügerisches Vorgehen mit den besonderen Umständen und gibt sogar dem König Walgunt die Schuld für seinen Betrug: »›ir wolt si nieman geben, die edelen künigîn: / dô muost ich mit listen werben umb die frouwen mîn.‹« (Str. 236)⁵² List und Betrug sind im Spielmanns- und im Heldenepos gerechtfertigt, wenn sie unumgänglich sind – so auch in der ›Kudrun‹. Dieser Text ist zwar nur im Ambraser Heldenbuch aus dem frühen 16. Jahrhundert bezeugt, seine Entstehung wird aber auf das frühe 13. Jahrhundert datiert.⁵³ Das Brautwerbungsschema,⁵⁴ das auch der ›Kudrun‹ zugrunde liegt, setzt List und Tücke immer schon voraus: »Entführungen [sind] im Rahmen von Brautwerbungsunternehmungen […] grundsätzlich ethisch nicht verwerflich: kann man sie doch in gewisser Weise als Maßnahmen zur Sicherung für den weiteren Fortbestand eines Reiches betrachten.«⁵⁵ Die List, die bei der Brautwerbung angewandt wird, ist allein Mittel zum Zweck. So werden auch der Betrug, durch den der Brautwerber sich in den Besitz der Braut bringt und die Täuschung, die notwendig ist, um sie zu rauben, im Erzählzusammenhang nicht problematisiert: »Der Text [König Rother] zeigt vielmehr, daß das Täuschungsmanöver eben keinen Betrug darstellt, sondern ein rein taktisches Manöver, um die von Status und Rang her ohnehin für einander Bestimmten trotz der sittenwidrigen Hindernisse (Festsetzung bzw. Tötung der Werbungsboten) zusammenzuführen.«⁵⁶
52 Ortnit und die Wolfdietriche nach Müllenhoffs Vorarbeiten. Hrsg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke. Berlin 1871. 53 Vgl.: Artikel ›Kudrun‹ im 2VL, Bd. V. 54 Vgl. besonders: Michael Curschmann: Spielmannsepik. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907–1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967. Stuttgart 1967. 55 Hartmut Semmler: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 122), S. 102. 56 Wandhoff: Der epische Blick, S. 228.
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Die Einzigartigkeit der Braut, ihre Schönheit und ihr Adel, motivieren die Eifersucht des Brautvaters, der sie behütet. Gleichzeitig motivieren sie auch den Werber, die von ihm gesetzten Hindernisse zu überwinden, und zwar – wenn keine andere Möglichkeit gegeben ist – auch durch List und Betrug. Mit der hier vorliegenden List ist keine Aussage über die undurchschaubare Welt getroffen, sondern die Singularität der Braut unterstrichen, die jeden Preis und jede Mühe rechtfertigt. Dass die Ausschmückung einer Werbungserzählung mit Durchtriebenheit und Raffinesse darüber hinaus auch großen Unterhaltungswert besitzt, versteht sich von selbst. Wandhoff ist zwar darin zuzustimmen, dass die Täuschung in den frühen Brautwerbungsepen eine kategorial andere ist als die, von der beispielsweise der ›Parzival‹ erzählt, weil eine Figur wie Rother »noch in der Verkleidung letztlich immer [sie] selbst ist und [ihr] Unternehmen daher am Ende durchaus programmatisch in offener Konfrontation und jenseits von List und Täuschung vollendet wird, die inszenierte Realität also nie Eigengesetzlichkeit entwickelt, die auch unabhängig von der Identität ihres Anwenders Bestand hätte.«⁵⁷ Zwar folgt dem Betrug stets die ›offene Konfrontation‹ und aus der Perspektive des Protagonisten ist die Welt, die er sich durch seine List gefügig macht, berechenbar und geschlossen. Zu bedenken aber ist, dass bereits die Rolle der geschädigten Nebenfiguren eine Perspektive auf das Geschehen eröffnet, die allein durch die Täuschungsmöglichkeit – mag sie auch schlussendlich in eine offene Konfrontation überführt werden – die Geschlossenheit des »Raumes wechselseitiger Wahrnehmung«⁵⁸ in Frage stellt. Zwar macht es einen Unterschied, ob die Täuschung vom Helden eines Textes verübt wird, um seine Interessen durchzusetzen wie im Falle der Brautwerbungsepen oder ob eine Figur zum Opfer einer List wird wie Artus im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue. Darüber hinaus ist von Belang, ob eine List wie im Falle der Brautwerbung funktional gerechtfertigt und so befriedigend und plausibel motiviert ist. Ganz anders verhält es sich dort, wo die List sich als Erzählgegenstand verselbständigt wie eben im ›Iwein‹.⁵⁹ Dort erfüllt die Entführungsepisode, in der der Artushof einem Herausforderer zum Opfer fällt, keine andere Funktion als die, das Problem zu verhandeln, das daraus resultiert, dass die Artusgesellschaft ihrem Augenschein nicht mehr trauen kann. Bei allem Facettenreichtum der einzelnen List-, Betrugs- oder Täuschungsepisoden ist jedoch das Prinzip, aus dem die jeweilige Katastrophe des Verkennens bösartiger Absichten erwächst, in den
57 Wandhoff: Der epische Blick, S. 239, Hervorhebung im Original. 58 Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 10. 59 Vgl. dazu auch das Kapitel 5.
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Brautwerbungsepen das gleiche wie im Schwank, im Märe wie im Epos: Es ist das Unvermögen, die verborgenen, die heimlichen Absichten des Gegenübers zu erkennen. Und sie können nicht erkannt werden, weil – und das allein ist schlimmer als der Betrug oder die Schädigung an sich – Innen und Außen nicht übereinstimmen. Während List und Betrug in den Brautwerbungshandlungen instrumentell eingesetzt und dadurch gerechtfertigt werden, ist es im ›Iwein‹ genau umgekehrt: Hier stützt nicht das Listmotiv die Handlung, vielmehr arbeitet die Handlung umständlich⁶⁰ dem Listmotiv zu, auf das unvermittelt die Aufmerksamkeit des Rezipienten gelenkt wird. Täuschung, Verstellung und Verkennen sind komplexe und vielschichtige Erzählmotive, denen in verschiedenen literarischen Gattungen jeweils unterschiedliche Funktionen zukommen, die aber auch innerhalb dieser Gattungen durchaus nicht kohärent eingesetzt werden. Angesichts der Vielzahl von Ausgestaltungsmöglichkeiten des Motivs ist weder von einer deutlichen Gattungsspezifik noch auch von einer literarhistorischen Entwicklung zu sprechen. So lassen sich zahlreiche Belege anführen gegen die Behauptung, dass in Bezug auf Erkennen und Verkennen ein höfisches Erzählen heroische Muster ablöse: Solch eine Dramaturgie [gemeint ist der ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach], in der unterschiedliche Möglichkeiten der Identifikation ineinandergreifen – das Sehen der Person, das Erkennen des Zeichens, die Information über einen Fremden, schließlich die genrebedingte, doch durch soziale Konventionen gestützte Erwartung – zeigt eine neue Konzeption, ›höfischen‹ Erzählens an, die die heroischen Muster, mit denen Wolfram spielt, weit hinter sich läßt.⁶¹
Nicht nur innerhalb einer Textgattung und nicht nur innerhalb eines einzigen Textes werden Lesbarkeit und Nicht-Lesbarkeit ambivalent konnotiert, eine einzige Szene kann die Kongruenz und die Diskrepanz zwischen Innen und Außen geschickt überblenden. Eine solche Szene findet sich im ›Tristan‹, wo dessen Ziehvater Rual auf seiner jahrelangen Suche nach dem verlorenen Tristan verwahrlost, ohne dass jedoch die Anzeichen seiner höfescheit je an ihm
60 So fällt auf, dass die Entführungsepisode sich nur schwer in den Erzählfluss einfügen lässt. Hartmann nimmt für seine Ausgestaltung der Episode einen langen, erzähltechnisch komplizierten Figurenmonolog in Kauf. Dieser ist eigentlich eine Antwort auf Iweins Frage »wie habt ir daz verlân / irn suochet helfe unde rât / dâ er iu ze suochen stât, / in des künec Artûses lande?« (v. 4510–4513). Gerade dadurch, dass der Monolog eine Antwort auf eine einfache Frage ist, wird der Eindruck der Desintegration und Sperrigkeit der Episode unterstrichen. 61 Müller: Woran erkennt man einander, S. 93.
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ausgelöscht werden könnten. Als er Tristan endlich wiederfindet, erkennt dieser ihn sofort. Bemerkenswert ist der Kommentar des Erzählers: nu wizzet doch daz, daz Rual, swie unhovebære gewandeshalp er wære, er was iedoch zeware an libe und an gebare vollekomen unde rich. er was des libes edelich, an geliden und an geliune gewahsen alse ein hiune: sin arme und siniu bein wol lanc, schœne unde herlich was sin ganc, sin lip was aller wol gestalt. (v. 4028–4039)
Offenbar ist es nicht selbstverständlich, dass Tristan Rual umstandslos erkennt. Der Erzählerkommentar arbeitet einer Plausibilisierung des Wiedererkennens zu und liefert eine (zusätzliche) Erklärung: Tristan erkennt Rual nicht allein aufgrund seiner besonderen Beziehung zu ihm, sondern auch, weil dieser es einem jeden durch seine strahlende, einnehmende Erscheinung leicht macht, ihn zu erkennen. Zwar sind an Rual die kontingenten Zeichen gesellschaftlicher Integriertheit erloschen, doch Würde und Schönheit seines Körpers sind nach wie vor wahrnehmbar. Das macht Hahns Klassifikation der Rual-Episode als ›Nigra-Formosa-Typ‹ zweifelhaft. Mit diesem Begriff möchte sie deutlich machen, dass »der vorgeführte Typ innerhalb der möglichen, die Imponderabilien des Personganzen systematisierenden Innen-Außen-Bezüge (ich möchte ihn den Nigra-Formosa-Typ nennen) vom Sinn her in sein Gegenteil verkehrt wird durch die bewußte Verdeckung des Seins zum Zwecke der Täuschung.«⁶²
62 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 407. Gleich zwei Aspekte machen diesen Begriff problematisch. Denn anders als für die ›schöne Schwarze‹ aus dem Hohelied ist der Zustand der Diskrepanz zwischen Innen und Außen für die Figuren, die Hahn unter diesen Typus subsumiert wie Rual, Koralus oder Parzival ein vorübergehender. Außerdem führt kein Weg von diesen vorübergehenden Zuständen der Desintegriertheit zu den Negativfiguren der Erzählliteratur wie Genelun oder dem Ginover-Entführer im ›Iwein‹, wie Hahn meint: »Es ist dann nur noch ein Schritt zur völligen Veränderung der Vorzeichen von innen und außen, wie sie im Typ des Heuchlers und falschen Freundes vorliegt. Verdeckte im Nigra-Formosa-Typ das schlechte Kleid einen edlen Träger, ohne ihn doch ganz unsichtbar machen zu können, verbirgt jetzt die schöne Hülle einen häßlichen, unedlen, ja bösen Kern.« Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 407. Denn während die ›Nigra-Formosa-Typen‹ die Übereinstimmung von Innen und Außen ambivalent besetzen und nur mit der Möglichkeit des Verkennens spielen, zeigen die Verräter
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Denn von einer ›Verdeckung des Seins‹ kann hier gerade nicht die Rede sein. Vielmehr wird deutlich gemacht, dass Tugend und Adel eines Körpers diesem durch keine Macht der Welt ausgetrieben werden können. Die Verankerung der Identität im Körper wird damit auf ähnliche Weise unterstrichen wie im ›Erec‹, wo Erec Koralus gegenüber seine Entscheidung für dessen bettelarme Tochter begründet: ›er hæte harte missesehen, swer ein wîp erkande niuwan bî dem gewande. man sol einem wîbe kiesen bî dem lîbe ob si ze lobe stât unde niht bî der wât.‹ (v. 643–649)
Zwar bestätigt die reiche Kleidung, die Enite am Artushof erhalten wird, die Schönheit ihres Leibes und auch Rual wird neu und reich eingekleidet, um seine durch die entbehrungsvolle Suche verminderte Schönheit wieder herzustellen: Beide werden im Rahmen einer hochinszenierten Einkleidung von ihrer ärmlichen wât befreit. Doch die neu verliehenen kostbaren Kleider unterstreichen den Adel des Körpers nur, heben ihn hervor und lassen ihn deutlicher erstrahlen.⁶³ Anteil haben sie an ihm nicht:⁶⁴ »Kann prächtige Kleidung Tugendhaftigkeit nicht begründen, so vermag sie diese doch immerhin zum Vorschein zu bringen.«⁶⁵ Das Verhältnis von Kleidung und körperlicher Schönheit ist also im Fall von Rual so unproblematisch wie im Fall von Enite oder Parzival. Die Identität der Figur wird durch die geringe Ausstattung nicht herabgesetzt oder angegriffen, folglich kann auch die Ausstattung mit kostbarer Kleidung und Schmuck sie nicht wiederherstellen, sondern nur hervorheben. Viel prekärer als Ruals ärmliche Kleidung ist ein Phänomen, das sich auf einer anderen als der Handlungsebene vollzieht, nämlich der umständliche Kommentar des Erzählers. Nicht in den verfilzten Haaren oder den zerlump-
mit ihrem makellosen Aussehen eine Welt, die bereits nicht mehr lesbar und verfügbar ist. Dafür, dass das eine Motiv aus dem anderen abgeleitet werden könnte, gibt es keinen Hinweis. 63 Vgl. hierzu die Formulierungen Konrads von Würzburg im ›Trojanerkrieg‹ über Paris: »diu cleider und der werde gast / diu stuonden wol ein ander an: / daz cleit daz êrte wol den man / und êrte wol der man daz cleit. / si wâren beide als ûf geleit, / daz si z’ein ander hôrten wol.« (v. 3006–3011) Doch auch hier vermag die ärmliche Kleidung (wie im Falle von Koralus und Rual) seine Schönheit nur zu unterstreichen: »swie man in kranker wæte / den jungelinc dâ sæhe, / doch was vîn unde wæhe / sîn lîp und aller sîn gebâr.« (v. 1672–1675) 64 Vgl. hierzu das Kapitel 4.1. zu ›Körper und Kleid‹. 65 Kraß: Geschriebene Kleider, S. 171.
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ten Kleidern Ruals wird die Lesbarkeit seines höfischen Körpers problematisiert, sondern in der Begründung, die der Erzähler für seine Identifizierbarkeit gibt. Wenn er sich in einem kurzen Exkurs von der Handlung abwendet, um zu erk lä ren, dass Rual immer noch über eine würdevolle Haltung verfügt, so legt er durch diese Versicherung nahe, dass die unveränderte und unveränderliche Würde von Ruals Erscheinung unwahrscheinlich, zumindest nicht selbstverständlich ist. Es ist ein Erkennen gegen jede Plausibilität. So gesehen macht der Erzähler nicht darauf aufmerksam, dass Tristan Rual mühelos erkennt, obwoh l er »niht hovebære« (v. 3980) ist, sondern davon, dass Tristan Rual erkennt, weil er »an libe und an gebare / vollekomen unde rich« (v. 4032f.) ist – ein kleiner, aber gewichtiger Unterschied, der die ganze Komplexität der Frage von gelingendem oder scheiterndem Erkennen andeutet, macht er doch deutlich, dass die Identifikation einer Erklärung bedarf und dass sie hätte fehlschlagen können. Der Bericht von den unvorstellbaren Mühen, die Rual auf seiner Suche nach Tristan auf sich genommen hat und die Einleitung des Erzählerkommentars (nu wizzet doch daz, daz Rual, / swie unhovebære / gewandeshalp er wære, / er was iedoch zeware…) rückt diesen Sachverhalt in die Nähe des Wunderbaren. Die jeweiligen Positionen (also die Aussage, dass Täuschung unmöglich sei, weil das innerste ›Wesen‹ stets im Verhalten manifest werde oder die, dass niemand seinen Mitmenschen durchschauen könne und so jeder jedem notwendig ein Rätsel bleiben müsse) unterliegen keinen literarhistorischen Entwicklungen, sondern stellen literarische Spielarten dar, die nicht nur allen literarhistorischen Epochen, sondern auch allen Gattungen und Textsorten zur Verfügung stehen. Deshalb ist Wandhoffs Behauptung zu widersprechen, dass es in der mittelalterlichen Literatur ein ›bislang‹ der Identität von Interaktion und Gesellschaft gäbe oder eine ›einst‹ absolut gesetzte Augenwahrnehmung: Es ist schlicht das Auseinanderbrechen der bislang vorausgesetzten und in der Artusepik noch einmal eindrucksvoll behaupteten Identität von Interaktion und Gesellschaft. Im ›Nibelungenlied‹ löst sich zum erstenmal und in spektakulärer Weise die Täuschung von den Täuschenden ab. […] Die einst absolut gesetzte Bedeutung der Augenwahrnehmung für das soziale Band der höfischen Kommunikationsgemeinschaft wird destruiert.⁶⁶
Wenn in der Epik die Opposition von Innen und Außen thematisiert wird wie beispielsweise im ›Willehalm‹, wo der Erzähler darüber belehrt, dass »swer die schalen vor hin dan schelt, / der siht alreste den kernen« (›Willehalm‹, v. 322,14f.), so liegt hier also nicht eine neue Denk- oder auch nur Darstellungsform vor, die
66 Wandhoff: Der epische Blick, S. 239f. Wandhoff verweist hier auf Horst Wenzel: Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im Nibelungenlied. ZfdPh 111 (1992), S. 321–343.
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eine bisher vorherrschende Lesbarkeit höfischer Körper ablöste, sondern die literarische Akzentuierung eines alten Erzählmusters.⁶⁷ Die Figuren der mittelalterlichen Erzähldichtung sind also nicht nur lesbar und ihre Affekte stets sichtbar, sondern sie verstehen sehr wohl, virtuos zu lügen, sich zu verstellen und damit am Hof den größten Schaden anzurichten – und zwar durchaus nicht nur in der höfischen Epik, sondern auch in Heldenepik und chanson de geste. Gerade die chanson de geste erzählt von Verrat, von Hinterlist, bösartiger Tücke und den verheerenden Folgen, die dies für den Herrscher und die Krieger hat, denen er vorsteht. Ein prominentes Beispiel für Verstellung und Hinterlist in der deutschen chanson de geste-Literatur ist der Verräter Genelun im ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad. Hier wird die Intrige zum Anlass genommen, über das Verhältnis von Innen und Außen zu reflektieren. Dieses ist dem ›Rolandslied‹ zufolge immer schon (nämlich von Alters her) ein prekäres gewesen. Genelun ist der »man, / der ûzen wole redet / unde valsches in deme herzen phleget« (v. 1969–1971): er ervolte daz altsprochen wort. jâ ist gescriben dort: ›under scœnem schade liuzet, ez en ist nicht allez golt, daz dâ glîzet.‹ […] michels boumes schœne machet dicke hœne. er dunket ûzen grüene, sô ist er innen dürre. sô man in nider meizet, sô ist er wurmbeizec. (v. 1956–1967)
Dennoch bleibt die Undurchschaubarkeit Geneluns, aus der die Katastrophe resultiert, die dem Heer Karls widerfährt, auch in der Einordnung in das immer schon Gewesene letztlich unverständlich⁶⁸ – so sehr, dass sie gleich dreifach
67 Vgl. hierzu auch: Wolfgang Jupé: Die ›List‹ im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Intellektualität und Liebe oder die Suche nach dem Wesen der individuellen Existenz. Heidelberg 1976 (Germanische Bibliothek Reihe 3); Ingrid Kasten: Vorstellungen und Verstellungen. Zum Problem der Subjektivität im höfischen Roman. In: Sô wold ich in fröiden singen. FS Antonius H. Touber. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg. Amsterdam 1995, S. 273–284. 68 Schulz versteht das Verhältnis zwischen der Übereinstimmung von Innen und Außen im Falle Karls und Rolands einerseits und der Diskrepanz zwischen Innen und Außen im Falle von Genelun als eine Auszeichnung der Außergewöhnlichkeit der beiden christlichen Helden: »In ihrer unverstellten Authentizität und Präsenz ist die Roland-Figur dem höfischen Blick ebenso entzogen wie diejenige des Kaisers. Auf das Deuten von sichtbaren Zeichen kommt es hier nicht an, denn die beiden teilen durch ihre pure Präsenz mit, wer und was sie sind, ohne daß es dazu
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begründet werden muss: Zunächst folgt Genelun mit seiner Tücke seinem ureigensten Wesen: »Genelûn was michel unde lussam, / er muose sîne natûre begân.« (v. 1960f.) Andererseits ist die Einflüsterung des Teufels ursächlich für seinen Verrat: »Genelûn saz mitten under in, / der tiuvel gab ime den sin.« (v. 1978f.) Und drittens sind die Vorteile,⁶⁹ die Genelun sich zu verschaffen trachtet, ursächlich für seinen Verrat: »durch nît unde durch gebe / er gevestente sîne rede.« (v. 1980f.) Diese Erzählstrategie der mehrfachen Begründung für etwas, das in seiner Unverständlichkeit nicht aufgelöst werden kann, ist durchaus nicht singulär. So gibt der ›Gregorius‹ Hartmanns von Aue gleich eine ganze Fülle von Ursachen dafür an, dass Bruder und Schwester dem Inzest verfallen: Der Teufel erträgt die Eintracht zwischen den Kindern nicht und drängt den Bruder zur Sünde (v. 303– 309; v. 339).⁷⁰ Zweitens werden aber außer »des tiuvels hœne« (v. 326) noch »diu minne,« (v. 323) »sîner [des Bruders] swester schœne« (v. 325) und »sîn kintheit« (v. 327) als Gründe für den Inzest genannt. Als wäre dieser auch damit noch nicht hinreichend motiviert, schließt sich an die Beschreibung der Geschwisterliebe noch ein Erzählerkommentar an, der eine weitere Erklärung anbietet, nämlich die übergroße Nähe zwischen den Geschwistern: In geschach diu geswîche von grôzer heimlîche: heten si der entwichen, sô wæren si unbeswichen. (v. 411–414)
der prinzipiell manipulierbaren Logik eines rationalen Codes bedürfte. Alle anderen Figuren hingegen unterliegen den gewöhnlichen Bedingungen höfischer Epistemik, die nicht beiseitegewischt werden kann, die jedoch zutiefst skeptisch gesehen wird. Denn auch der Verräter Genelun ist schön […].« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 55f. 69 Die Motivation des Verrates durch Habgier und Rachsucht wird vom ›Rolandslied‹ dadurch zusätzlich unterstrichen, dass Genelun in Karls Traum als Bär erscheint. »In der christlichen Ikonographie ist der Bär als Verräter und hinterlistiger Ratgeber bekannt. Mit dem Bären als Allegorie für Genelun sind über den bevorstehenden Verrat hinaus gleich auch die Motive seines Handelns und die Mittel seines Vorgehens assoziiert, gilt doch der Bär im Mittelalter als Sinnbild von ungezügelter Rachsucht, Betrug und Mißgunst.« Brigitte Hanz: Genelun: ›den armen Iudas er gebildot‹. Verrat und Verräter im deutschsprachigen Rolandslied. In: Verführer, Schurken, Magier. Hrsg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 2001 (Mittelalter-Mythen 3), S. 317–329, hier S. 321. 70 Gregorius von Hartmann von Aue. Hrsg. von Hermann Paul. 13., neu bearbeitete Auflage besorgt von Burghart Wachinger. Tübingen 1984. (ATB 2)
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Offenbar reagiert die Begründungsvielfalt auf das Entsetzen, das der Einbruch der Sünde in die vermeintlich heile Adelswelt der Geschwister hervorruft und das sich stellenweise sogar zu einer Anklage gegen Gott verdichten kann: war umbe verhenget im [dem Teufel] des got daz er sô manigen grôzen spot vrumet über sîn hantgetât die er nâch im gebildet hât? (v. 335–338)
Doch indem der Text gleich mehrere Antworten auf die Frage gibt, wie das Übel in der Welt zu erklären und zu rechtfertigen sei, macht er implizit deutlich, von wie vielen unterschiedlichen Seiten aus diese Welt gefährdet ist, denn die Begründungen liegen auf ganz verschiedenen Ebenen: Der Teufel fungiert als religiöse Begründung, Schönheit, Einfalt und minne sind allgemeine Begründungen, der Hinweis auf die konkrete Lebenssituation des Geschwisterpaares eine spezifische. Von allen Seiten seiner irdischen Existenz ist der Mensch von der Sünde bedroht und jeder Erklärungsversuch deckt immer auch auf, wie vielfältig und vielgestaltig die Gefahr ist. Dieser Hintergrund besteht auch im ›Rolandslied‹ mit seiner dreifachen Begründung des Verrates durch den Teufel, Geneluns Wesen und die materiellen Vorteile, die er mit sich bringt. Was der Text jedoch nicht begründet und nicht kommentiert, ist, dass Genelun nicht nur zum Verräter wird, sondern dass die anderen Figuren ihn nicht als einen solchen erkennen können. Der eigentliche Abgrund der Intrige besteht nicht im Verrat, sondern darin, dass der Verräter »michel unde lussam« (v. 1960) ist. Zwar ist dem Kaiser bewusst, dass Geneluns Rat, Roland als Nachhut zurückzulassen, intrigant ist: ›jâ dû vâlantes man, warumbe hâst du sô getân? waz wîzestu mir? ain übel gaist ist mit dir […].‹ (v. 3101–3104)
Doch diese Einsicht kommt zu spät, denn die Verschwörung ist zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr aufzuhalten. Und unabhängig vom Ausgang der Handlung, unabhängig auch von der Reaktion der anderen Figuren, stellt bereits die Tatsache, dass der Verräter, dem wurmzerfressenen Baum vergleichbar, außen prächtig, innen aber marode ist, die Vorstellung von einer intelligiblen, nach Maß, Zahl und Gewicht sinnvoll geordneten Welt empfindlich in Frage. Hier, im Falle von Geneluns Schönheit, der eine innere Verworfenheit entspricht, liegt eine andere Struktur vor als in Bezug auf die Frau Welt mit ihren zwei Schauseiten. Geneluns natûre ist (zumindest für Karl) erschließbar, aber
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nicht sichtbar. Sie ist auf sein hinterhältiges inneres Wesen beschränkt und manifestiert sich nicht an seinem Körper. Hier trifft bereits zu, was Peter Frei für den Prosaroman des 16. Jahrhunderts reklamiert, dass nämlich »die Lüge […] wohl als der greifbarste Stoff gelten [darf], aus welchem die Grenze zwischen Innen und Außen bzw. die allein dem Subjekt zugängliche Innenwelt besteht.«⁷¹ Entsteht also das höfische Ideal von Sichtbarkeit sekundär abgeleitet und gleichsam als Utopie, als Antwort und Reaktion auf die Unlesbarkeit? Entwickelt sich demnach die Lesbarkeit höfischer Körper in Abgrenzung zur gestörten Lesbarkeit? Auch eine solche literarhistorische Entwicklung lässt sich nicht nachweisen – weder von den ganzen Körpern hin zu jenen, an denen »erste Belege eines Verinnerlichungsprozesses«⁷² gewonnen werden könnten, noch in umgekehrter Richtung, von der Unverfügbarkeit des fremden Inneren zu einer Lesbarkeit des sozial unterworfenen und sukzessive am Hof eingebundenen Körpers. Denn nicht nur die frühe, sondern auch die späte Heldenepik diskutiert nach wie vor das Problem der Unkenntlichkeit des Bösen. So findet sich in der ›Wiener Virginal‹⁷³ (die zum Stoffkreis der aventiurehaften Dietrichepik gehört⁷⁴) die Beschreibung der außergewöhnlich kostbaren und erlesenen Rüstung des brutalen, bösartigen und grausamen Heidenkönigs Orkise. Ihm ist ein neunzehn Strophen langes Wappenlied gewidmet (Str. 84–103), das den Bösewicht als unübertrefflich schön beschreibt: »kein schöner helt ward nie geporn.« (Str. 84,5) Seine Rüstung hat den Wert eines ganzen Königreiches. Das Unerhörte an einer Figur wie Orkise ist, ähnlich der Gestalt Genelun im ›Rolandslied‹, dass nichts in seinem äußeren Erscheinungsbild auf seine Bösartigkeit schließen lässt: ›sein antlitz das ist licht und clar, nach manhait wol gepildet, dar under sein vil lichte kel, sein har ist raid und dar zu gel, sam wer es ubergüldet. er ist an massen groß und lank, geprüstet in die weiten, er hat eins wilden leben gank, und schmal in seinen seiten.‹ (Str. 105,2–10)
71 Frei: Zur Konstituierung von Innenwelt, S. 40. 72 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 187. 73 Zitiert nach Friedrich Stark: Dietrichs erste Ausfahrt. Stuttgart 1860. 74 Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin, New York 1999 und Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978. (MTU 62)
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Gerade in der Heldenepik ist es alles andere als selbstverständlich, dass sich einer Figur erschließt, was sich im Inneren einer anderen vollzieht oder welche Absichten sie wirklich hat.⁷⁵ Dass hier der Augenschein auf so eklatante Weise trügt, dass Verrat und Hinterlist allgegenwärtige Gefahren darstellen, lässt sich nicht mit einer langsam sich etablierenden und sich gegen eine alte, archaische Logik sukzessive durchsetzende gesellschaftliche Synthesis erklären: Die territorialhöfische Fähigkeit, mehrdeutig und vermittelt, in Formen von Verstellung und Verkleidung, von List und Intrige denken zu können, läßt ›Wirklichkeit‹ in zwei Schichten zerfallen, in eine der Situation und – ihr gleichgeltend nebengeordnet – eine der Reflexion; sie ist das erste historische Aufblitzen einer gesellschaftlichen Synthesis, die jene grundherrliche Welt unmittelbarer, eindeutiger Körper und Dinge, in der Sozialität noch eine Frage offensichtlichen Handelns war, auflöst und aus ihr Elemente von Abstraktion, von Formalität und Symbolisierung entwickelt.⁷⁶
Die Texte legen ein etwas komplizierteres Ergebnis nahe: Lesbarkeit und Sichtbarkeit sind (ebenso wie Unlesbarkeit und Unsichtbarkeit) Kategorien, die einzelnen literaturhistorischen Entwicklungen nicht zugeordnet werden können. Es gibt keine historische Phase, keine literarhistorische Situation, die sich einer späteren Epoche der Reflexion gegenüberstellen ließe. Auf jeder literaturgeschichtlichen Entwicklungsstufe lassen sich Beispiele für beides finden: Die Lesbarkeit des Körpers, die sich darin offenbart, dass Verwandte sich erkennen, dass Adlige den Adel des je anderen erkennen und anerkennen, indem sie in minne zueinander entbrennen, dass Trauer, Zorn und Hass konkrete Gestalt annehmen, sich dadurch jedem unmissverständlich mitteilen und so zu objektiven Sachverhalten werden. Gleichermaßen (und gleichzeit ig) unterliegen diese Verkehrsformen der Sichtbarkeit und Objektivität immer schon der Bedrohung und der Gewalt der Verstellung, der Täuschung und der List. Kein Verhältnis von ›ursprünglich‹ und ›abgeleitet‹, von ›archaisch‹ und ›avanciert‹, von ›lesbar‹ und ›unlesbar‹ herrscht zwischen frühen und späten Texten, sondern ein lebhaftes Nebeneinander all dieser Formen, das nicht Differenzierungen in ›früher‹ und ›später‹, in ›zunächst‹ und ›dann‹ unterliegt, und auch nicht einzelnen Textsorten zu- oder abgesprochen werden kann. Je genauer die Texte untersucht werden,
75 Schulz macht diese Ambivalenz deutlich: »Die prekäre Exorbitanz des Heros offenbart sich [in der Heldenepik] stets ambivalent: entweder in seinem gefährlichen Listenreichtum oder in seiner bedrohlich authentischen Aggressivität, die alle im diplomatischen Kompromiß gefundenen Konfliktlösungen beiseiteschiebt und durch weitgehend reflexionslose Aktion zunichte macht. Mitunter vereint ein Heros auch beide Verhaltensinventare, wie etwa Sivrit.« Schulz: Schwieriges Erkennen, S. 49. 76 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 181.
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desto problematischer muss es deshalb erscheinen, an einer Abgrenzung – z.B. zwischen einer heldenepischen und einer höfischen Gestaltung von Innenraum oder einer der frühen und der späten Heldenepik – festzuhalten. Weil also sowohl literarhistorische als auch gattungsspezifische Zuordnungen in Bezug auf den Gebrauch der Formel von ›Innen und Außen‹ wenig hilfreich sind, werden im Folgenden nicht Entwicklungsstufen und auch nicht Gattungsdifferenzen vorgestellt, sondern exemplarische und gattungsübergreifende narrative Kristallisationspunkte der Gestaltung des Verhältnisses von Innen und Außen.
5.1.1 Heimlichkeit: Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹ Sît got ein rehter rihter heizet an den buochen, der solt ûz sîner milte des geruochen, daz er die gar getriuwen ûz den valschen hieze suochen. Joch meine ich hie, sie werdent dort vil gar gesundert; doch sæhe ich an ir etteslîchem gerne ein schanden mâl. (Walther von der Vogelweide L. 30,19–23)
In Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹ wird anschaulich gemacht, was passiert, wenn Innen und Außen sich gegeneinander verselbständigen und eine Diskrepanz zwischen der Schauseite des Körpers und dem, was sich im Inneren der Figur vollzieht, entsteht. Wo sich ein Innenraum von einer äußeren, den anderen zugekehrten Außenseite zurückzieht, wird eine Figur zum Rätsel und potentiell zur Bedrohung. Tristan ist gerade im Begriff, die Ehe mit Isolde Weißhand zu vollziehen. In diesem Moment fällt sein Blick auf den Ring, den ihm die blonde Isolde einst bei ihrem letzten Beisammensein geschenkt hatte. Die minne führt daraufhin seine ehemalige Geliebte auf ihren früheren Herrschersitz zurück: ir beider vrouwe die Minne, die vreche stürmerinne, die quam dort her sturmrûschende, mit ir vlammen lûschende und mit ir herzen viure und vuorte die gehiure Îsôt, die blunden ûz Îrlant, durch der kemnâten ganze want und legete sie gar snelle recht in die innern zelle, die in Tristandes herzen was: dâ nam sie Tristan, als ich las,
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und legete sie lieplîch hin în in sînes herzen inren schrîn, aldâ sîn geist sîns lebens pflac: dâ lac sîns herzen ôstertac, Îsôt die blunde bêle; und Îsôt von Arundêle die lac im an dem arme hie. (v. 789–807) ⁷⁷
Zur Beschreibung des Innenraumes innerhalb der Figur Tristan wird auch hier nicht der Begriff ›sêle‹ herangezogen, sondern Umschreibungen wie ›Kemenate‹, ›inner zelle‹ und ›inrer schrîn‹, die in seinem herzen angesiedelt werden. Bezeichnenderweise nimmt Isolde denn auch nicht unmittelbar im herze Platz, sondern in einer zelle. Doch zelle kann nicht nur »wongemach, kammer, zelle«⁷⁸ heißen, sondern auch »im mutterleibe«, so etwa in der ›Martina‹.⁷⁹ Die zweite Metapher, mit der das ›innerste Innere‹ Tristans umschrieben wird, ist sînes herzen inre[r] schrîn, also eine Truhe, ein Kasten, ein Gefäß. Dieser Gegenstand ist jedoch gleichermaßen auch der Sitz von Tristans Leben: aldâ sîn geist sîns lebens pflac. Die in das Zentrum dieses Lebenssitzes eingedrungene Isolde ist also aufs Engste mit Tristan verbunden, ist eins mit ihm und sogar der Mittelpunkt seines Lebens. Wie in einer rasanten Kamerafahrt wird von außen durch Tristans Brust hindurchgefahren (durch der kemnâten ganze want) bis ins herze (recht in die innern zelle, die in Tristandes herzen was), von wo aus der Blick des Rezipienten noch einen weiteren Schritt tiefer in sein Inneres eindringt, dorthin nämlich, wo sein eigenes Lebenszentrum sich befindet (in sînes herzen inren schrîn, aldâ sîn geist sîns lebens pflac). Doch dieser Prozess ist eben nicht einfach einer, der den Leser immer tiefer in Tristans Inneres hineinführte. Die Räumlichkeit und Gegenständlichkeit dieses Raumes wird vom Erzähler nämlich in Frage gestellt, denn der Ort, an dem das Paar zusammengeführt wird, ist weder gegenständlich, wie die Bezeichnung sînes herzen inre[r] schrîn nahelegt, und auch nicht Raum, wie die Formulierung recht in die innern zelle vermuten lässt, sondern ein ungegenständlicher Ort – einer nämlich, in dem sîn geist sîns lebens pflac. Die durch ihre konkrete Benennung auffallend präzisen Angaben des Erzählers scheinen also keine andere Funktion zu besitzen als die, die Vorstellung von Räumen der Verinnerlichung (der Schrein in der Zelle) nur zu evozieren, um sie aufzulösen und damit zu überführen in eine ungegenständliche Beschrei-
77 Heinrichs von Freiberg Tristan. Hrsg. von Karl Bartsch. Amsterdam 1966. 78 Nach dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch online. 79 Hugo von Langenstein: Martina. Hrsg. von A. von Keller. Hildesheim 21978 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 38), 119,81.
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bung. Denn wo Tristans geist sîns lebens pflac, kann der Rezipient eben nicht in gleicher Weise imaginieren wie zelle, schrîn oder kemnâte. Auch hier scheint es nicht darum zu gehen, eine ›innere Landkarte‹ Tristans oder eine Architektur seiner Seele zu entwerfen, sondern die Kategorien von Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit zu diffundieren. Am Ende dieser Beschreibung haben wir nämlich gerade keine klare Vorstellung davon, wohin die blonde Isolde in Tristans Innerem geführt wird und wo die Wiedervereinigung zwischen ihr und ihrem Geliebten stattfindet. Das Verhältnis von Innen und Außen wird hier als das von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit codiert, dabei aber in seiner Konnotation verkehrt: Dem Unsichtbaren, dem, was in Tristans Innerem vor sich geht, kommt hier eine größere Geltung zu als dem Sichtbaren, nämlich der körperlichen Nähe seiner Ehefrau. Gegenüber der blonden Isolde scheint die weißhändige, die ihm im Arm liegt, meilenweit von ihm entfernt, weil sie im Gegensatz zur blonden Isolde außerhalb seines Körpers ist. Während die Nähe zu seiner Ehefrau körperlich und scheinbar objektiv ist, vollzieht sich der dramatische Vorgang von Isoldes Einzug in Tristans Lebenszentrum lautlos und geht für Außenstehende unmerklich und sogar heimlich vor sich. Die körperliche Nähe zwischen Tristan und seiner Ehefrau wird hier als Äußerlichkeit dargestellt, die unkörperliche Nähe zwischen ihm und der körperlich abwesenden blonden Isolde ist stärker. Gerade dadurch, dass der Sieg der blonden Isolde in seinem Inneren ein unsichtbarer und unkörperlicher Vorgang ist, ist er jedoch als ein Ereignis gekennzeichnet, dem höchste Dramatik und Intensität zukommt: Er hindert Tristan daran, der neu eingegangenen Bindung Verbindlichkeit zu verleihen und er macht es der weißhändigen Isolde unmöglich, den Zustand, den dieser innere Vorgang in Tristan herbeiführt, zu erkennen. Anders als der Rezipient, der weiß, was in Tristans Innerem vor sich geht, hat sie keine Möglichkeit, die Wahrheit über seinen Zustand in Erfahrung zu bringen. Tristan ist für sie undeutbar und undurchschaubar, ein Rätsel, ein Fremder, über dessen Fühlen und Wollen sie nur spekulieren kann. Wo das Innere sich demjenigen, der von ihm ausgeschlossen ist, als undurchdringlicher und heimlicher Raum darstellt, tut sich eine Kluft auf, die nicht nur nicht überbrückt werden kann, sondern unweigerlich zu Leid und sogar in den Tod führt: »Was sich nach außen abschirmt, ist keine neue ›Innen‹Dimension, sondern etwas, das das Licht scheut«⁸⁰ – und zwar zu Recht, birgt sie doch meist ein nicht geringes Bedrohungs- und Destabilisierungspotential. Auch im ›Tristan‹ beginnt die eine Figur der anderen zum Fremden und zum
80 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 215.
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Rätsel zu werden. Die aus der Okkupation von Tristans ›heimlicher Kammer‹ entspringende Verwirrung lässt sich nicht mehr eindämmen, sondern verbreitet Missverständnis, Misstrauen und Zwietracht nicht nur zwischen den Eheleuten, sondern auch zwischen Freunden, vormals Vertrauten und schließlich am ganzen Hof. Diese Zwietracht ist der Preis dafür, dass die Figur nun über etwas Eigenes, Abgeschlossenes verfügt, von dem sie selbst entscheiden kann, wem sie es preisgibt und vor wem sie es verbirgt. Zwar erhält die Figur dadurch eine größere Freiheit, eine Tiefe und einen ganz neuen Handlungsspielraum. Doch was sie sich aneignet, muss sie zunächst demjenigen abtrotzen, der ein Recht darauf beansprucht – der höfischen Öffentlichkeit nämlich, den jeweils anderen, im Falle Tristans dessen Frau Isolde. Das Geheimnis, das am Ort des Inneren gehütet wird, ist buchstäblich privatus: »Das Geheimnis ist dem (literarischen) Subjekt Bestätigung dafür, daß es Innenräume erschaffen kann, zu denen der andere keinen Zutritt hat. Gerade dadurch, daß Innenwelt dem anderen nicht übereignet wird, eignet das Subjekt sie sich an.«⁸¹ Die Aussage, dass »eine Ebene [fehlt], auf der ein Impuls der Außenwelt gemäß persönlichen Dispositionen einer Figur verarbeitet wird und sich dann als Affekt dieser Figur äußert. Die affektische Reaktion ist unmittelbar von der Situation abhängig, so daß es keiner charakterlichen Disposition bedarf,«⁸² hat hier keine Gültigkeit. Denn die Situation, in der Tristan sich anschickt, die Ehe mit seiner Frau zu vollziehen, würde der Logik der Situationsgebundenheit und Unmittelbarkeit zufolge nahelegen, dass die abwesende blonde Isolde durch die Präsenz der körperlich gegenwärtigen, schönen Isolde in seinem Bett verdrängt werden würde. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Das Abwesende ist hier wirkmächtig, das körperlich Anwesende verliert diesem gegenüber seine Macht. Hier setzt sich Absenz gegen Präsenz durch.⁸³ Dieses Beispiel legt es nahe, im herzen eine Instanz zu sehen, die sich tatsächlich von Sichtbarkeit und Öffentlichkeit zurückziehen, die sich verschließen und entziehen kann. Wenn nach einem Ort des ›Privaten‹ gesucht wird, so scheint er hier, im herzen, zu liegen. Im ›Tristan‹ schleicht sich die vormalige Geliebte heimlich dort ein und kann, zumindest vorerst, von außen dort nicht aufgespürt werden. minne ist hier nicht unmittelbar sichtbar, sie teilt sich der
81 Peter Frei: Zur Konstituierung von Innenwelt in Jörg Wickrams ›Goldtfaden‹. In: Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. FS für Karl-Ernst Geith. Hrsg. von André Schnyder u. a. Göppingen 1998 (GAG 636), S. 31–47, hier S. 37. 82 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 204. 83 Wobei Isolde ja in dieser Episode nicht wirklich abwesend ist; sie ist durch und in ihrem Ring präsent.
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Umwelt nicht unmittelbar körperlich mit. Und es ist auch nicht der Körper, der hier den Augen der Gesellschaft die unverbrüchliche Bindung zwischen Tristan und der blonden Isolde offenbart, sondern es ist die Sprache, nämlich eine beiläufige Bemerkung seiner Gattin. Erst sie entdeckt ihrem Bruder gegenüber, dass ihre Ehe mit Tristan noch nicht vollzogen worden ist. Isoldes Gegenwart in Tristans Innerem bleibt den Augen der höfischen Öffentlichkeit (die in dieser Situation durch die weißhändige Isolde mit ihrem Rechtsanspruch auf die physische Nähe Tristans verkörpert wird) vollständig verborgen. Das Innere kann also tatsächlich genau in dieser Bedeutung wahrgenommen werden: Als eine unberechenbare, bedrohliche Kraft, die den Hof und die höfische Gesellschaft unterwandert und seinen Zusammenhalt bedroht. Denn das Vermögen, sich vor den Augen der anderen zu verbergen, wird nicht nur als eine Errungenschaft, als ein Zuwachs an Souveränität der einzelnen literarischen Figur gewertet, sondern vielmehr als etwas überaus Suspektes und sogar Diabolisches. In der ›Tugendlehre‹ in Hadamars von Laber ›Jagd‹ erteilt der Erzähler den Rat: Swaz finster hecken sliufet und mîdet liechte genge, und sich ân nôt vertiufet in dornig hâg, näch dem nicht henge. Swaz an daz liecht unschämlich tar getreten, bî dem belîbe und folge mir, obe du wilt, ich rât dir ungebeten. (Str. 41)
Das gilt beispielsweise in Bezug auf die Figur Kriemhilt im ›Nibelungenlied‹. Das leit, das sie unmerklich nährt, entfaltet sich im Geheimen und Privaten und ist gerade deshalb unkontrollierbar und bedrohlich: Der herzen jâmer verlegt Ursprung wie Äußerung des Schmerzes ins (weiterhin körperlich gedachte) Innere der Person. Insofern erscheint er – wie die Kriemhiltgestalt insgesamt – als ein Fremdkörper in der nibelungischen Welt. Was Kriemhilt von anderen Figuren unterscheidet, scheint neuzeitlichen Erwartungen näher zu stehen, doch ist Vorsicht geboten, wenn man darin die ›eigentliche‹, ›tiefere‹ Schicht des Werkes zu entdecken glaubt.⁸⁴
Müller geht sogar noch einen Schritt weiter und weist auf die diabolische Konnotation hin, die der Ort des Geheimnisses, das Innere, genauer: das herze einer Figur, haben kann:
84 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 217, Hervorhebung im Original.
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Das herze ist der Ort sorgfältig geheimgehaltener Pläne […]. In der Bearbeitung *C, die das mit herze angezeigte Innere häufiger ins Spiel bringt, steht herze einmal genau an der Stelle, an der die Vulgatfassung von Einflüsterungen des vâlant spricht […]. Das herze, die innere Instanz, die sich gegenüber den vielen äußeren Abhängigkeiten durchsetzt, ersetzt an dieser Stelle die dunkle, ich-ferne Determination durch den Satan.⁸⁵
Genau diese Konnotation vom herzen als Ort von Vereinzelung und Absonderung schlägt sich auch in folgendem Zitat aus dem ›Alexander‹ Ulrichs von Eschenbach nieder: »Alexander, ich wiste gerne / von welhem tiuvel dîn herze lerne / untriwe, die du gegen mir begâst.« (v. 7043–7045) Das Eigene kann also dort, wo es sich nicht in Ergänzung, sondern in Abgrenzung zum Öffentlichen artikuliert, die Gestalt von Entfremdung und Bedrohung annehmen: Es ging darum, den Ort im Subjekt ausfindig zu machen, den Innenwelt zur Bedingung ihrer Möglichkeit hat. Diesem Ort entspricht die vom Text wachgerufene Vorstellung eines Innenraumes, an welchen die kommunikativen Prozesse von Verinnerlichung, Lüge/Verstellung, Selbstbeherrschung und Verbergung der eigenen Identität gebunden sind.⁸⁶
5.1.2 Der Verlust der Königin In der arthurischen und der âventiure-Literatur wird das Motiv der Undurchschaubarkeit einer Figur und der katastrophalen Folgen, die diese für den Hof hat, vor allem in zwei literarischen Mustern erzählerisch produktiv gemacht: In der Entführung der Königin und in den Tugendproben. Beide weisen auf ein Unvermögen des Hofes und seiner Repräsentanten hin. Denn der Verlust der Königin geht immer auf das Versagen des Königs in einer entscheidenden Situation zurück, in der er und sein Hof durch einen Herausforderer überlistet werden. Diese List hätte der König vorhersehen und durchschauen müssen. Das Versagen des Königs besteht stets darin, dass es ihm nicht oder in nicht ausreichendem Maße gelingt, die bösartigen Absichten des Herausforderers zu erkennen. Er schätzt ihn falsch ein, und zwar deshalb, weil der Körper des Herausforderers aufweist, was der Hof und sein König offenbar nicht in ihre Einschätzung seiner Person einkalkulieren: Eine Diskrepanz zwischen Innen und Außen. Während die Entführungen der Königin⁸⁷ vom Unvermögen des Königs erzählen, die wahren Absichten des Entführers und sein feindseliges Wesen zu
85 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 219, Hervorhebung im Original. 86 Frei: Zur Konstituierung von Innenwelt, S. 46. 87 Vgl. dazu auch: Frank Shaw: Die Ginoverentführung in Hartmanns ›Iwein‹. ZfdA 104 (1975), S. 32–40; Walter Haug: ›Das Land, von welchem niemand wiederkehrt‹. Mythos, Fiktion und
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erkennen, enthüllen die Tugendproben gleich dreifach, dass der tatsächliche Zustand des Artushofes seiner Reputation in keiner Weise entspricht. Zunächst stellt allein schon die Tatsache, dass die Makellosigkeit der Institution in Frage gestellt wird und durch einen Zaubergegenstand wie Mantel, Handschuh oder Becher – und nicht durch ritterliche Kampfkraft – überprüft werden soll, eine implizite Kritik am Hof dar. Zweitens enthüllt die Probe, dass der schöne Schein des Hofes tatsächlich trügerisch ist, denn sie enthüllt, dass es eine Wahrheit gibt, die unter der Oberfläche höfischer Makellosigkeit verborgen liegt und mit bloßen Augen nicht wahrgenommen werden kann – und stellt damit die in der höfischen Literatur oft affirmierte Sichtbarkeit höfischer Kommunikation implizit in Frage. Konkrete Kritik artikuliert das literarische Muster der Tugendprobe drittens dadurch, dass überraschender- und erschreckenderweise meist nur ein einziger Angehöriger des Hofes sie besteht, während der Rest des Hofes einer mehr oder weniger großen Schande preisgegeben wird – das kann sogar dem König und seiner Königin selbst geschehen. Wenden wir uns zunächst der Entführung der Königin zu, die u.a. in drei Romanen begegnet: Im ›Lancelot‹ Chrétiens de Troyes, im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue und im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Forschungsprobleme eingehen, die die Entführungsepisode für die Interpretation der Gesamtkonzeption der jeweiligen Texte aufwirft, denn die Entführungsepisoden sind Gegenstand einer ganz eigenen Forschungskontroverse, in der vor allem die Fragen diskutiert werden, welche Rolle der König bei den Entführungen spielt, ob von einer Kritik seiner Person oder des ganzen
Wahrheit in Chrétiens ›Chevalier de la Charette‹, im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven und im ›Lancelot‹-Prosaroman. Tübingen 1978 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), S. 5–16; Wolfgang Brandt: Die Entführungsepisode in Hartmanns ›Iwein‹. ZfdPh 99 (1980), S. 321–354; Siegfried Christoph: Guenevre’s Abduction and Arthur’s Fame in Hartmann’s ›Iwein‹. ZfdA 118 (1989), S. 17–33; Hartmut Kugler: Fenster zum Hof. Zur Binnenerzählung von der Entführung der Königin in Hartmanns ›Iwein‹. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburger. München 1996, S. 115–124; Klaus Grubmüller: Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 1–20; Gerd Dicke: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ›Rotte und Harfe‹ im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. ZfdA 127 (1998), S. 121–148; Armin Schulz: Der Schoß der Königin. Metonymische Verhandlungen über Macht und Herrschaft im Artusroman. In: Artushof und Artusliteratur. Hrsg. von Matthias Däumer, Cora Dietl und Friedrich Wolfzettel. Berlin, New York 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 119–135, dort auch zusätzliche Literaturhinweise.
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Hofes die Rede sein kann und welche Funktion die Entführung für die Profilierung der jeweiligen Protagonisten der Texte hat. Darüber hinaus sind die Entführungsepisoden in den drei Texten je unterschiedlich akzentuiert. Worauf ich im Folgenden meinen Vergleich fokussieren möchte, ist ein Motiv, das zwei der drei Entführungsepisoden gemeinsam ist, nämlich das der Fehleinschätzung des Königs, beziehungsweise des Artushofes bezüglich der Kongruenz von Erscheinung und Absicht des Herausforderers: Marke und der Artushof erliegen den Ränken des Entführers, weil dessen äußere Gestalt keinen Hinweis darauf gibt, dass er hinterhältige Absichten hegen könnte. Die Entführung der Königin geht sowohl im ›Tristan‹ als auch im ›Iwein‹ letztlich darauf zurück, dass der äußere Anschein täuscht und sich als trügerisch erweist. Die am Artushof spielende Entführungsszene im ›Iwein‹ hat Hartmann weitgehend selbständig gestaltet. Chrétien lässt den Burgherrn, bei dem Iwein zu Gast ist, zwar von einer Entführung am Artushof berichten, doch sein Bericht umfasst nur wenige Verse und gibt den genauen Hergang nicht wieder. Hartmann macht aus den wenigen Andeutungen, die er bei Chrétien findet, eine ganze Episode, die ca. 200 Verse umfasst und auch in Bezug auf die Beurteilung des Königs an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Artus »treit […] die schande,« (v. 4526), auf ihn fällt die Entführung zurück und sein Ruf wird durch sie beschädigt. Hartmann erzählt die Handlung wie folgt: Ein Ritter kommt an den Artushof, um des Königs berühmte milte auf die Probe zu stellen. Er bittet um »›ein gâbe der ich von iu ger: / nâch der bin ich komen her‹.« (v. 4541f.) Der zunächst besonnen agierende König schränkt in seiner Antwort an den Unbekannten seine Großzügigkeit insofern ein, als er diesem alles geben will, worum er »›betelîchen gert‹.« (v. 4546) Bereits diese kleine Einschränkung ruft aber am Hof einen Skandal hervor. Der Fremde will sie nicht akzeptieren und wirft Artus vor, nicht so freigebig zu sein, wie es von ihm behauptet werde. Daraufhin setzen Artus’ Vertraute, die einen Ehrverlust für den Hof (und damit für sich selbst) befürchten, den König so unter Druck, dass Artus sich genötigt sieht, die Einschränkung zurückzunehmen und sich auf den Augenschein zu verlassen. Alle halten den Fremden für vertrauenswürdig, denn der Bittende »›gelîchet sich wol einem man / der betelîchen biten kan‹.« (v. 4573f.) Dies aber wird sich als folgenschwere Fehleinschätzung erweisen. Der Fremde wird fordern, dass man ihm die Königin überlässt und Artus muss ihm, an sein Wort gebunden, willfahren. Scheinhaftigkeit, Betrug und Undurchschaubarkeit werden hier gleich doppelt ins Spiel gebracht, denn der Fordernde ist nicht nur anders, als er scheint, er setzt seine Forderung gerade damit durch, dass er von Artus behauptet, dass dieser anders sei, als er erscheine:
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er sprach ›ez ist vil manec man an disem künige betrogen: diu werlt hât vil von im gelogen. man saget von sîner miltekheit, ezn wurde rîter nie verseit swes er in ie gebæte. sîn êre sîn unstæte, dem er wol gevalle.‹ (v. 4558–4565)
Besonders brisant ist, dass die Behauptung, derjenige, der Artus’ Großzügigkeit gepriesen habe, habe gelogen, nicht nur unwahr ist, sondern gerade dadurch, dass sie sich auch in der Entführungsepisode als unwahr erweist, die Erosion des Hofes herbeiführt. Denn indem Artus den Vorwurf der Scheinhaftigkeit widerlegt, wird die Scheinhaftigkeit des Herausforderers offenbar – allerdings um den Preis der Königin, die den Hof repräsentiert. Die âventiure-Welt des Artushofes erfährt durch die Anschuldigung des Fremden einen Haarriss, der durch jeden Heilungs- beziehungsweise Widerlegungsversuch nur noch tiefer werden muss. Allein schon die Unterstellung, der Ruhm des Königs sei ungerechtfertigt und unverdient, führt die Artuswelt in eine tiefe Krise, denn diese Behauptung kann und darf nicht aufrechterhalten werden. Doch gerade der Versuch, sie zu widerlegen und nicht die boshafte Unterstellung der Scheinhaftigkeit, die der Fremde vorbringt, lässt den Artushof zerbrechen. Einen Weg, die Kongruenz von Innen und Außen zumindest wiederherzustellen, gibt es nicht.⁸⁸ Selbst die Rückeroberung Ginovers kann nicht
88 Die Ausweglosigkeit der Konstellation resultiert auch daraus, dass mit dem rash-boon-Motiv die Problematik von Gabe und Tausch berührt ist, die ich an anderer Stelle ausführlicher behandelt habe. Diese Problematik hängt damit zusammen, dass die Forderung einer Gabe durch den Fremden am Artushof die Gabe bereits im Vornhinein zerstört, denn eine geforderte Gabe ist keine frei gewährte. Der, an den die Forderung gerichtet wird, der König, hat in der Folge der Forderung keine Freiheit mehr, zu geben oder zu verweigern, er muss geben. Die Verpflichtung, der die (vermeintliche) Gabe entspringt, wird kaum je so deutlich wie hier. Denn tatsächlich handelt es sich nicht um eine Gabe im strengen Sinne, sondern um einen Tausch: Dafür, dass der König sich als bedingungslos großzügig zeigt, verbreitet der Beschenkte den Ruhm des Königs. Umgekehrt droht dem König, der die Einschränkungslosigkeit verweigert, die Strafe der üblen Nachrede, die der Artushof im ›Iwein‹ so sehr fürchtet, dass er Artus dazu nötigt, seine besonnene Einschränkung zurückzunehmen. Die Forderung also zerstört mit der Freiheit die Möglichkeit der Gabe, und sie erlegt dadurch, dass sie sich stets auf den Ruhm des Königs als milte bezieht diesem einen Tausch auf, aus dem er sich nicht zurückzuziehen vermag. Die Zwanghaftigkeit, ja der Terror dieses Tausches manifestiert sich gerade darin, dass das rash boon-Motiv unvermeidlich in die Krise des gesamten Hofes hineinsteuert, ohne ein eindeutiges Fehlverhalten des Königs vorauszusetzen. Dieses Dilemma benennt auch Schulz: Der Schoß der Königin: »Dieser Artus häuft symbolisches Kapital an, indem er reales Kapital ausgibt: indem er mit vollen Händen verschenkt, was er hat,
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ungeschehen machen, dass der Artshof sich in dieser Episode als prinzipiell verletzlich und schutzlos erwiesen hatte, weil seine Mitglieder nicht in der Lage sind, der Diskrepanz zwischen Innen und Außen Rechnung zu tragen – was sich nicht allein darin offenbart, dass niemand den Entführer aufzuhalten vermag, sondern auf subtilere Weise bereits darin, dass niemand die Bedrohung erkennt, die von dem Fremden ausgeht. Der Hof geht von einer Logik des Augenscheins aus und handelt deshalb – Hartmut Kugler zufolge – vorschnell: »Voreiliges Verhalten scheint mir das Thema zu sein, mit dem sich die Entführungsepisode in ein tragendes, über den ganzen Roman reichendes Netz von Korrespondenzen und Responsionen einbindet. Ze gâh, zu rasch – das Adjektiv gâh ist nahezu leitmotivisch über den Romantext verstreut.«⁸⁹ Vorschnell kann die Reaktion des Artushofes aber eben nur deshalb sein, weil sich Wahrheit hier nicht augenfällig und unzweifelhaft mitteilt, sondern hinter einer undurchsichtigen Scheinhaftigkeit verbirgt. Erst dadurch, dass Betrug und Täuschung überhaupt denkbar sind und in Rechnung gestellt werden müssen, kann ein Urteilen nach dem Augenschein⁹⁰ vorschnell sein. Die Frage,
wofür ihm im Gegenzug die Anerkennung und die Loyalität aller zuteil wird. […] Das Ganze funktioniert für den König nur, wenn seine Großzügigkeit allenfalls maßvoll, in Maßen, eingefordert wird. Allerdings darf er seine Freigebigkeit gerade nicht an die Bedingung knüpfen, dass dies auch so sein soll, er darf sie nicht vorab einschränken, denn sonst käme ihm nicht die Ehre zu, der großartigste und ruhmvollste aller Könige zu sein. Ebenso darf dasjenige, was man von Artus fordert, nicht bloß eine Gegenleistung für einen Dienst sein, den man ihm oder einem seiner Sippen- oder Hofangehörigen geleistet hat.« S. 120, Hervorhebungen im Original. Und: »Der Hof verstrickt sich dabei in seinen eigenen Mechanismen: Die milte des Königs ist einerseits die größte Stütze seiner Herrschaft, weil die Loyalität seiner Ritter vor allem auf der êre gründet, die sich Artus mit seiner schrankenlosen milte erwirbt; andererseits besteht gerade hierin die größte Gefahr für die Herrschaft.« S. 124. Vgl. zur dilemmatischen Struktur der milte allgemein auch Philipowski: ›diu gâb mir tugende gît.‹ Das gabentheoretische Dilemma von milte und lôn im hohen Minnesang, im Frauendienst und im Tagelied. DVjs 85/4 (2011), S. 455–488. 89 Kugler: Fenster zum Hof, S. 121. Hervorhebungen im Original. 90 Das ja ansonsten erfolgreich und richtig ist – man denke an Iwein, der mit einem Blick den Adel Laudines erkennt oder die Dame, die Iwein im Wald erkennt oder an Erec, der Enites Adel wahrnimmt. All diese Wahrnehmungsvorgänge und die Entscheidungen, die sie nach sich ziehen, bedürfen keinerlei Reflexion, keinerlei Abwägung, weil Kommunikation hier unmittelbar ist und ohne den Umweg der Reflexion auskommt. Entscheidend ist also nicht, wie schnell oder auf welche Weise eine Entscheidung zustande kommt – wer würde auch Erec vorwerfen wollen, dass seine Entscheidung für die mittellose Enite vorschnell sei – sondern, ob die Wahrnehmung des Artushofes mit ihrer Realität übereinstimmt und dieser adäquat ist oder nicht. Im ›Iwein‹ verstehen die Artusritter die Welt nicht mehr und können deshalb auch nicht (mehr) adäquat auf sie reagieren. Das Problem liegt im prekären Verhältnis zwischen der arthurischen Welt und der Welt außerhalb des Hofes begründet und nicht in der fehlenden Besonnenheit des Königs.
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weshalb die Vertrauten Artus’ – und nicht dieser selbst! – vorschnell reagieren, verschiebt sich damit auf die, weshalb Besonnenheit und Einschätzungsvermögen überhaupt nötig sind. Der Fremde scheidet, nachdem er die Königin erbeutet hat, aus der Handlung aus. Die Erzählabsicht ist mit der Desavouierung des Artushofes und insbesondere des Königs erreicht, zielt sie doch unmittelbar auf die Frage nach der Lesbarkeit der Körper, von denen hier erzählt wird: Hatte der König überhaupt die Möglichkeit, die wahren Absichten des Fremden zu erkennen? Der Text gibt nur eine Antwort darauf, nämlich die, dass der Entführer (zumindest dem Artushof) unverdächtig zu sein schien. Das aber würde bedeuten, dass der König keine Chance hatte und dennoch der Schande zum Opfer fällt: There is nothing on the face of it to indicate that the knight harbors ulterior motives. […] In the absence of evidence to the contrary, then, Arthur cannot assume that the stranger who requests a ›gâbe‹ is not entitled to it. Nor can he be sure, however, that the stranger’s request will be appropriate. What is lacking in this situation is an indication of how the stranger understands the relationship between himself and the king […].⁹¹
Was die Katastrophe herbeiführt, ist nicht, dass der Fremde Böses im Schilde führt, sondern vielmehr, dass der Hof diese Absichten nicht nur nicht erkennt, sondern verkennt. Die Episode, die Hartmann seiner Vorlage gegenüber erst ›erfindet‹, erzählt nicht davon, warum dem Burgherrn am Artushof nicht geholfen werden konnte, sondern von der Unmöglichkeit, die Eindeutigkeit der Welt wiederherzustellen, wenn sie einmal in Frage gestellt worden ist. Dieses Infragestellen findet nicht in der Entführungsepisode statt, sondern bildet bereits ihre Voraussetzung; als fatal erweist sich nämlich nicht die falsche Entscheidung des Hofes, sondern die Tatsache, dass der Fordernde das Unvermögen des Hofes dazu nutzen kann, die Autorität des Königs in Frage zu stellen. Im Falle des Artushofes besteht die Konsequenz darin, dass dieser seine Schutzfunktion nicht mehr erfüllen kann. In der Folge sind die Artusritter derartig damit beschäftigt, die Königin zurückzugewinnen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich Frieden und Gerechtigkeit im Artusreich herzustellen oder zu verteidigen, nicht mehr nachkommen können. Iwein, der selbst nicht versteht, warum der Hof nicht mehr funktioniert und den Ritter, der ihn um Hilfe bittet, fragt: ›wie habt ir daz verlân irn suochtet helfe unde rât
91 Christoph: Guenevre’s Abduction, S. 22, Hervorhebung im Original.
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dâ er iu ze suochen stât, in des künec Artûses lande […]?‹ (v. 4510–4513),
muss (oder kann) nun für den ohnmächtigen Artushof einspringen. Das literarische Muster der Königinnen-Entführung findet sich auch im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Dort ist es König Marke, der an seinem Hof den Spielmann Gandin empfängt und sich von dessen Spiel so faszinieren lässt, dass er ihm, ohne dass Gandin auch nur darum bitten müsste, also unaufgefordert, jeden Wunsch erfüllen will, wenn er nur weiterspielt. Gandin fordert, wie der Fremde im ›Iwein‹, die Königin und der König muss sie ihm überlassen. So wie die Entführung, die Hartmann schildert, Iwein die Gelegenheit gibt, die Aufgaben des Artushofes zu erfüllen, wird Tristan durch das Versagen des Königs zum Retter Isoldes. Dabei bedient er sich eben jener Fähigkeiten, die Marke fehlen: Voraussicht, Wagemut und Raffinesse. Es sind also keine dezidiert ritterlichen Tugenden, mit denen Tristan dem Auseinanderfallen von äußerer Erscheinung und hinterhältiger Absicht begegnet. Vielmehr schlägt er Gandin mit dessen eigenen Waffen. Erklärungsbedürftig ist jedoch, warum ausgerechnet die Entführung der Königin veranschaulicht, welch’ schwerwiegende Folgen es für den Hof hat, wenn die Relation von Innen und Außen falsch eingeschätzt oder die Möglichkeit ihres Auseinanderklaffens unterschätzt wird. Die Entführung der Königin bezieht ihre Brisanz aus ihrer Unersetzbarkeit für den Hof: »Der Leib oder vielmehr der Schoß der Königin steht metonymisch für das Land, über das Artus herrscht.«⁹² Nur auf diesem Hintergrund lässt sich die Dramatik der Abwesenheit oder gar des Verlustes der Königin ermessen. Mit ihm wird dem Hof nicht nur seine höchste Repräsentantin genommen, sondern auch seine stärkste ›Kraftquelle‹: Die Rolle der Königin ist dadurch besonders pointiert, daß […] es ihre Entführung ist, durch die die höfische Geschlechterbalance aufgebrochen wird. Bekanntlich wird auch damit ein mythisches Schema angespielt: der Wechsel zwischen Präsenz und Absenz der heilbringenden weiblichen Figur am Herrscherhof als Dichotomie zwischen Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, zwischen Leben und Tod.⁹³
92 Schulz: Der Schoß der Königin, hier S. 121. 93 Walter Haug: Die Rollen des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 247–267, hier S. 257.
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5.1.3 Die Tugendprobe: Visualisierung der Abgründe des Hofes Das zweite literarische Motiv, das die Diskrepanz von Innen und Außen narrativ gestaltet, ist die Tugendprobe.⁹⁴ Sie ist eine in der Regel von außen an den Artushof herangetragene Visualisierung der Tugendhaftigkeit oder Keuschheit einzelner Mitglieder des Hofes, stellenweise auch des Königspaares selbst. Die Tugendprobe problematisiert die Relation von Innen und Außen, indem sie das Innere einer Figur für alle anderen und für den Rezipienten auf spektakuläre Weise offenbart. Von der Becherprobe in der ›Crône‹ heißt es: Er [der Becher] tuot manigem leide, Da er valschez hertz ougent, Daz auzen valsches lougent, Wan in dehein swach man Mach ze vollem dienest han. (v. 1131–1135)⁹⁵
Sie macht also das, was im Inneren einer Figur verborgen ist, ihre Tugenhaftigkeit oder heimliche Lasterhaftigkeit, im ›Lanzelet‹ sogar ihre verborgenen Gedanken, sichtbar. Genauer gesagt macht sie sichtbar, dass es in einer Figur überhaupt etwas Verborgenes gibt: »Höfische Werte des Inneren – der Disposition und Erziehung – werden veräußerlicht, indem sie am Körper als Zeichenträger sichtbar gemacht werden.«⁹⁶ Die Tugendprobe transformiert, so ließe sich formulieren, das Innere zum Äußeren. Im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven wird sie mit Hilfe eines Mantels⁹⁷ durchgeführt, der durch den Boten einer Meerfrau an den Artushof gelangt. Der
94 Im Folgenden ist nur eine bestimmte Form der Tugendprobe gemeint, nämlich die, die von außen an den Artushof herangetragen wird, um die dort versammelten Ritter auf ihre Tugendhaftigkeit hin zu prüfen, also Tugendproben für den Hof, nicht solche für den Titelhelden. Proben, die ein einzelner Ritter bestehen muss wie Zaubersteine, auf die sich nur der beste Ritter setzen kann oder Schwerter, die nur vom besten Ritter aus der Scheide gezogen werden können, haben eine andere Struktur, weil ihre Bedeutung darin liegt, den Helden der Geschichte zu profilieren und nicht, die Defizienz der Artusgemeinschaft heraus- und bloßzustellen. Vgl. zum Folgenden auch Müller: Höfische Kompromisse, S. 323–333 (›Magie der Tugendprobe‹): »Tugendproben spiegeln ein grundsätzliches Problem der auf Sichtbarkeit angelegten höfischen Kultur: das Interesse an Wahrnehmbarkeit des ›Innern‹.« S. 323. 95 Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1–12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz. Hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Tübingen 2000. (ATB 112) 96 Karina Kellermann: Entblößungen. Die poetologische Funktion des Körpers in den Tugendproben der Artusepik, in: Der Körper, S. 110. 97 Zur Motiv-und Überlieferungsgeschichte des ›Zaubermantels‹ vgl. auch: F. A. Wulff: Le conte
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Bote stellt die Verbindung zwischen der Probe und der Ehre des Hofes explizit her: »ûf ein gedinge tuot si daz, / daz du, künig hêre, / wol bewarst dîn êre… .« (v. 5774–5776) Der Mantel passt allein der Dame, die vollkommen frei von jeglichem Makel ist: »Passen […] muß immer an der Oberfläche sichtbar werden. […] Der Mantel kehrt damit das gewöhnliche Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit um. Das Ethos bestimmt die Oberfläche, und deshalb ist an der Oberfläche das Ethos unmittelbar ablesbar.«⁹⁸ Das skandalöse Fazit der Mantelprobe ist jedoch, dass keine einzige der versammelten Damen vollkommen ehrenhaft ist außer Iblis, der Freundin Lanzelets:⁹⁹ Diu vrouwe dô niht beite, siu leit in vor in allen an. dô sprach wîp und man, ez wære mit der wârheit daz baz stênde kleit, daz ie dehein vrouwe getruoc. (v. 6130–6135)
Auch Ginover wird der Probe unterzogen. Der Mantel reicht ihr allerdings nur bis zu den Knöcheln. Die Botin, die den Mantel an den Artushof gebracht hatte, kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: Diu maget sprach: ›daz ist wâr, Genover ist hübsch und guot, an den werken hât siu sich behuot, daz siu niewan wol getete. doch durch wîbes zwîfels bete ist siu an den gedenken missevarn […].‹ (v. 5868–5673)
Der Mantel, der nur einer einzigen Dame passt, stellt das Ideal der völligen Entsprechung zwischen Körper und Kleidung und damit die von Innen und Außen, ja eigentlich ihre gegenseitige Durchdringung und Verschmelzung, dar:
du Mantel. Texte français des dernières annés du XIIe siècle, édité d’après tous les mss. Romania 14 (1885), S. 343–380. 98 Müller: Höfische Kompromisse, S. 326f.. 99 Vgl. hierzu auch: Ann G. Martin: Shame and Disgrace at King Arthur’s Court. A Study in the Meaning of Ignonomy in German Arthurian Literature to 1300. Göppingen 1984; Daniel Rocher: Das Spiel mit den ritterlichen Werten im späten Artusroman. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge zur Triester Tagung 1988. Hrsg. von Paola Schulze-Belli und Michael Dallapiazza. Göppingen 1990 (GAG 532), S. 83–92.
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Die Proben, und das macht sie zu spezifischen Instrumenten einer höfischen Ordnung, offenbaren einen ethischen Status als ästhetischen, und zwar im doppelten Sinn der Wahrnehmbarkeit und der Schönheit: Tugend zeigt sich als gut sitzendes Gewand (›Lanzelet‹: Mantelprobe), als fehlerfreie Umgangsform (›Crône‹: Becherprobe), als Verschwinden des Körpers (›Crône‹: Handschuhprobe).¹⁰⁰
Die Tugendprobe ist eine Paradoxierung des lesbaren Körpers, denn sie beglaubigt ihn einerseits, indem sie Tugend in Form von Schönheit und Eleganz sichtbar macht. Andererseits macht sie ihn durch die Übernatürlichkeit, derer der Beweis bedarf, zu einer Ausnahmeerscheinung. Zwar werden alle Mitglieder des Artushofes durch die Tugendprobe füreinander lesbar, doch sie werden es nur mittels eines Zaubergegenstandes, der nicht zum oder dem Artushof selbst gehört, sondern diesem von einer äußeren Instanz zugespielt wird. Die Kongruenz zwischen Innen und Außen wird so zum Zauber-Kunststück, zur Farce, aber auch zur Utopie, deren Realisierung nicht (mehr) in der Macht der Artusgemeinschaft liegt. Deshalb bleibt gerade nicht »die höfische Ordnungsinstanz […] intakt,«¹⁰¹ obwohl sie – wie Müller formuliert – die »Deutungskompetenz [besitzt] auch für das, was sich ihrer Aufsicht gewöhnlich entzieht.«¹⁰² Denn das, worauf sich die Deutung des Artushofes bezieht, verdankt seine Sichtbarkeit, beziehungsweise seine Sichtbarmachung, allein dem magischen Requisit. Zwar werden unter dem magischen Einfluss der Zaubergegenstände die Körper zu vollen, ganzen Körpern, in denen das Innen gleichsam nach außen gekehrt wird und sich für alle sichtbar mitteilt. Gerade dieser Akt der Sichtbarmachung enthüllt aber auch, dass es der Magie bedarf, um sichtbar und erfahrbar zu machen, was im Inneren des Anderen vor sich geht – und schlimmer noch: Ob der Betreffende wirklich zum Kreise der Tugendhaften gehört. Die faktische Zugehörigkeit zum Artushof beglaubigt Tugendhaftigkeit nämlich offenkundig nicht verlässlich. Der Hof, »der sonst Ausgangs- und Endpunkt von Aventiuren ist, wird nun selbst auf die Probe gestellt. Er hat seine Funktion als normsetzende Instanz verloren.«¹⁰³ Dabei ist es signifikant, welche Gegenstände die Übereinstimmung oder Diskrepanz zwischen Innen und Außen vergegenständlichen.¹⁰⁴ Ich möchte
100 Müller: Höfische Kompromisse, S. 326. 101 Müller: Höfische Kompromisse, S. 330. 102 Müller: Höfische Kompromisse, S. 330. 103 Kellermann: Entblößungen, S. 115. Müller schreibt an anderer Stelle (in Bezug auf die zweite Handschuhprobe in der ›Crône‹): »An ihm [dem wehrlosen Artushof] zeigt sich, wie gefährlich das Zauberrequisit ist. Es stellt letztlich Visualität als Maßstab gesellschaftlicher Ordnung in Frage.« Müller: Höfische Kompromisse, S. 332. 104 Dass es sich bei ihnen (auch) um »Objekte [handelt], die bei Rechtsritualen zum Einsatz kommen oder sonst eine rechtliche Funktion haben oder als Herrschafts- oder Statusobjekte zu
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mich hier auf drei Tugendproben-Gegenstände konzentrieren, auf den Mantel im ›Lanzelet‹ und den Becher und die Handschuhe in der ›Crône‹. Der Mantel passt nur der fehlerfreien Dame, bei jeder anderen tritt eine Abweichung von der Idealform auf. Der Mantel ist dann zu kurz oder zu lang, er verrutscht oder zeigt sogar ein Loch. Damit lässt er signifikanterweise die Grenze zwischen Innen und Außen jedoch gerade verschwinden, denn er verhüllt – im Falle der makellosen Dame – den Körper einerseits, verleiht ihm aber gerade dadurch die perfekte Passform und bringt so seine Schönheit zur Geltung. Der Körper, der nichts zu verbergen hat (und im ›Lanzelet‹ ist das ausschließlich der Körper von Iblis), ist ein Körper ohne ein Innen, das sich den Blicken der anderen entzieht. Doch erst in der Umhüllung durch den Mantel wird Iblis’ Körper als ein makelloser für alle anderen sichtbar. Der Mantel wird für Iblis von der Tugendprobe zum höfischen Kleid und damit zur »Verklärung höfischer Identität.«¹⁰⁵ Diese Verklärung nimmt aber in der Tugendprobe gerade nicht dadurch Gestalt an, dass der Mantel den Körper prägt »wie eine lebendige Wachstafel,«¹⁰⁶ sondern indem er jede Differenzierung in Körper und Gewand, in Innen und Außen, gänzlich aufhebt. Diese Aufhebung wird in größter Prägnanz und Anschaulichkeit durchgespielt in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Dort begegnet die Tugendprobe zunächst als eine Becher-,¹⁰⁷ dann als eine Handschuhprobe:¹⁰⁸ Ein Fremder
deuten sind« (Kellermann: Entblößungen, S. 110), soll nicht bestritten werden, scheint mir aber für ihre Instrumentalisierung im narrativen Kontext nicht entscheidend zu sein. Denn hier geht es nicht um Rechtsprechung, sondern um die Entblößung von Erzähl- und Ordnungsformen (wie der Lesbarkeit des höfischen Körpers). 105 Vgl.: Kraß: Geschriebene Kleider, S. 149. 106 Peter von Moos: Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Köln, Weimar, Wien 2004 (Norm und Struktur 32), S. 123–146, hier S. 138. Von Moos spricht hier nicht über einen bestimmten Text, sondern über »die Beziehung zwischen Kleid und persönlicher Identität in den Gattungen der Volksüberlieferung.« 107 Zum literaturwissenschaftlichen Problem der Redundanz beziehungsweise der Doppelung des Probenmotivs (und seiner Unterschiedlichkeit als Becher- und Mantelprobe) in der ›Crône‹ vgl. Lucy Allen Paton: Studies in the Fair Mythology of arthurian Romance. Boston 1903, besonders Kapitel VIII ›Morgain in the Horn and Mantle Tests‹, S. 104–123; Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin. Frankfurt a.M. 2000 (Mikrokosmos 55), vor allem S. 195ff. Speziell zur Tradition und Überlieferung des Becher- oder Trinkhornmotivs: Roger Sherman Loomis: Celtic Myth and arthurian Romance. Norwood 1927, besonders das Kapitel ›The Grail and the Testing Horn‹, S. 227–236; Edmund Kurt Heller: The Story of the magic horn: A Study in the Development of a medieval folk tale. Speculum IX (1934), S. 38–50. 108 Vgl.: Otto Warnatsch: Der Mantel. Bruchstücke eines Lanzeletromans des Heinrich von dem Türlin, nebst einer Abhandlung über die Sage vom Trinkhorn und Mantel und die Quelle
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bringt einen Zauberhandschuh an den Artushof, der die Makellosigkeit eines jeden Mitglieds des Hofes sichtbar machen soll, indem der Fehlerfreie durch den Handschuh unsichtbar wird. Bei all denen, die nicht frei von Verfehlungen sind, bleiben jene Teile des Körpers, die für die Verfehlung verantwortlich sind (etwa Mund, Ohren, Augen oder die Scham) sichtbar. Sichtbarkeit ist hier als Abweichung, unrechtmäßige Abweichung von der Gemeinschaft und ihren Werten, konnotiert. Makellosigkeit teilt sich als Unsichtbarkeit mit. Erst dort, wo der Körper vollständig verschwindet, wird er als vollkommen höfischer bestätigt. Deshalb ist die Unsichtbarkeit des Körpers in der Handschuhprobe denn auch eher als Diaphanie, als Durchsichtigkeit, zu beschreiben – oder genauer: als Du rchschauba rkeit. Es geht dabei nicht darum, den Körper zum Verschwinden zu bringen, sondern ein Inneres, das sich den Blicken der Hofgemeinschaft entziehen könnte, auf die Oberfläche zu projizieren: Vollkommene Sichtbarkeit tritt als Unsichtbarkeit ins Bild: »Ethische Vollkommenheit zeigt sich am Verschwinden des Körpers als dem Sitz sündigen Begehrens. Sie wird ihrerseits anschaubar, wenn nichts mehr zu sehen ist; sichtbar sind nur Verstöße. In dieser Figur deutet sich die Disparität von Ethik und Ästhetik an, die das Arrangement der Probe zu dementieren scheint.«¹⁰⁹ Wird die Makellosigkeit Iblis’ als Schönheit veranschaulicht, so wird hier ein Inneres zur Oberfläche, das den Blicken der Anderen nichts entgegensetzt, sich ihnen einschränkungslos preisgibt und unter ihren Blicken durchscheinend wird. Die Begriffe, die Karina Kellermann für diesen Vorgang findet, wie »Entblößung«¹¹⁰ oder »Inquisition,«¹¹¹ treffen die Sache im Kern. Kellermann ist auch darin zuzustimmen, dass »Tugend hier in jedem Fall am Körper erprobt wird,«¹¹² gleichzeitig wird der sichtbare Körper aber durch seine Durchsichtigkeit und auf diese hin überschritten.
der Krone. Hildesheim 21977. Vgl. auch Christiane Zachs Exkurs zur Handschuhprobe in ihrer Arbeit über ›Die Erzählmotive der Crône Heinrichs von dem Türlin und ihre altfranzösischen Quellen.‹ Passau 1990, S. 345–348, wo sie sich auch zu Quellenfragen äußert, für die Originalität des Handschuhmotivs bei Heinrich plädiert (S. 347) und auf weitere Literatur zu Tugendproben in der arthurischen Literatur verweist wie Mantel et Cor. Deux lais du XIIe siècle. Hrsg. von Philip Nennett. Exeter 1975 (Coll. Textes littéraires 16); Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattung weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. DVjs 54 (1980), S. 581–635 und Christine Kasper: Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums. Göppingen 1995. 109 Müller: Höfische Kompromisse, S. 332. 110 So im Titel des Aufsatzes. Kellermann: Entblößungen. 111 Kellermann: Entblößungen, S. 107. 112 Kellermann: Entblößungen, S. 103.
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Eine besonders raffinierte Pointe besteht in der ›Crône‹ darin, dass nach der Darstellung des idealen höfischen Körpers auch gleich seine Problematisierung vollzogen wird, denn seine Diaphanie kollabiert im Selbstwiderspruch: Ein auf einem Bock reitender Ritter kommt an den Hof und bringt Artus den versprochenen zweiten Handschuh, der dem gehören soll, der die Tugendprobe mit dem ersten bestanden hat, also zur Hälfte durchsichtig geworden ist. Die tatsächliche Aufgabe des Boten besteht jedoch nicht darin, den zweiten Handschuh an den Hof zu bringen, sondern diesen zu berauben und dadurch bloß zu stellen. Die Herrin des Boten, Gyramphiel, ist die Schwester der Saelde. So wie diese das Glück des Hofes mehrt, versucht Gyramphiel es durch List zunichte zu machen. Der Bote, der Böses im Schilde führt, beruft sich auf die Öffentlichkeit, um seine List durchzuführen. Er fordert Artus auf, ihm öffentlich ein Blankoversprechen zu geben: ›Herre, ist das uwer will, So enmag die rede still Niht noch heimlichen geschehen. Man msz es öffenlichen sehen. Die rede anders nihts enfromt.‹ (v. 24924–24928)¹¹³
Artus gibt bereitwillig sein Versprechen. Der Bote will, dass ihm der Ring der Frau Saelde und der erste Handschuh ausgehändigt werden und dass die Anwesenden an ihrem Platz verharren. Der versammelte Artushof schart sich erwartungsvoll und neugierig um den Boten, während dieser sich beide Handschuhe überstreift, unsichtbar wird, den Ring an sich nimmt und – verschwindet. Damit wird die gesamte vorangegangene Tugendprobe als fingiert entlarvt: Der betrügerische und hinterhältige Bote kann nämlich nur unter der Maßgabe unsichtbar werden, dass die Entsprechung ›Tugendhaftigkeit-Durchsichtigkeit‹ keine zwingende, sondern offenbar eine korrupte ist. Wenn die Probe aber manipulierbar ist, dann hat eine tatsächliche Tugendprobe am Hofe gar nicht stattgefunden, vielmehr wäre der Hof durch die vermeintliche Probe nur ein weiteres Mal genarrt worden. Wie auch immer diese Episode zu deuten sein mag, klar dürfte sein, dass sie durchaus nicht nur das Problem der am Artushof nicht als selbstverständlich vorauszusetzenden Tugendhaftigkeit berührt, sondern in viel stärkerem Maße die Frage der Lesbarkeit der adligen und schönen Körper und die Ambivalenz
113 Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 12282–30042). Nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach den Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal. Hrsg. von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl. Tübingen 2005. (ATB 118)
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der Instrumente, die sie herbeiführen. Das wird gerade darin manifest, dass in der ›Crône‹ die Tugendprobe mit dem Entführungsmotiv und dem Blankoversprechen Artus’ verknüpft ist. Was hier auf komplexe Weise entfaltet wird, ist eine Dekonstruktion des Prinzips der Sichtbarkeit. Zunächst werden die Mitglieder des Hofes als Figuren entlarvt, die allesamt verschiedenste Defizienzen verbergen: Die eine betrügt ihren Gatten, der nächste ist heimlich eifersüchtig, egoistisch oder neidisch. Die Tugendprobe gibt vor, diese inneren Defekte aufzudecken und sichtbar zu machen. Doch das Ideal der Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Gut und Böse wird durch den Boten, der die Vervollständigung der Tugendprobe in Aussicht stellt, als trügerisch, zumindest als ambivalent, entlarvt. Gerade jenes Instrument also, das beansprucht, Eindeutigkeit zu garantieren und dem sich der gesamte Hof samt Königspaar unterwirft, wird zum Hilfsmittel eines Taschenspielertricks. Der Hof ist so gleich doppelt gedemütigt. Einmal, indem seine Mitglieder sich im Rahmen der Probe als lasterhaft erweisen, dann, indem sich diese Entlarvung selbst als trügerisch erweist, spricht sie doch einem Dieb die vollkommene Tugendhaftigkeit zu. Doch der zweite Betrug, der die Manipulierbarkeit der Tugendprobe dokumentiert, macht die Demütigungen durch die Tugendprobe nicht dadurch ungeschehen, dass diese sich als korrupt erweist, er rehabilitiert also keineswegs diejenigen, die dort entlarvt worden sind. Am Ende steht nur eine doppelte Schande, die gerade durch ihre Folgenlosigkeit beklemmend wirkt. Der hinterlistige Bote bringt mit dem zweiten Handschuh nicht die in Aussicht gestellte Vervollständigung der Kongruenz von Innen und Außen, sondern er schädigt den Hof perfiderweise gerade im Modus jener Unsichtbarkeit, die die Tugendhaftigkeit hier nur scheinbar garantiert, tatsächlich jedoch im Dienste der Scheinhaftigkeit steht. Während die Vergehen, derer die Mitglieder des Artushofes durch die Tugendprobe überführt worden waren, eher harmlos sind oder zumindest das Fundament des Hofes nicht bedrohten, setzt der Bote mit dem zweiten Handschuh den Raub der sælde ins Werk. Weil es in den Tugendproben viel eher darum geht, die Voraussetzungen und Konsequenzen vollständiger Lesbarkeit, also einer vollkommenen Übereinstimmung von Innen und Außen, literarisch durchzuspielen und weniger darum, die Tugend- oder Lasterhaftigkeit der Artusritter zu problematisieren, kann es auch nicht verwundern, dass die Tugendprobe auffallend häufig im näheren Umfeld von Blankoversprechen oder Entführungsepisoden steht, die ihrerseits das prekäre Verhältnis von Innen und Außen veranschaulichen. In der ›Crône‹ werden sogar sowohl die Becher-, als auch die Handschuhprobe mit Blankoversprechen durch König Artus verknüpft. In der Formulierung der Bitte zu Beginn der Becherprobe sind die Anspielungen an die Gewährungsbitte im ›Iwein‹ deutlich herauszuhören:
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›[…] E muoz ab meinr bete schal Mir bringen stætez ende. Dez ist war, der missewende Kan ich an bet wol enbern, Daz ich ihtes welle gern, Dem schad won oder schande bei, Da vons vmbeteleich sei. Er schol von schulden sein gewert, Der so betlich gert. Da sich die von schaident, Die die bet laident. Daz ist schad vnd schande, Der ivch des willen wande; Der schadet iwerm lande.‹ (v. 1026–1039)
Diese Äußerung liest sich wie ein impliziter Kommentar zu den Geschehnissen im ›Iwein‹. Und diese Form der Intertextualität unterstreicht ein weiteres Mal, dass die Tugendproben nicht allein von Tugend oder Lasterhaftigkeit der Geprüften erzählen, sondern vom spannungs- und widerspruchsvollen Verhältnis zwischen Innen und Außen in der höfischen Literatur allgemein.
5.2 Die Lesbarkeit höfischer Körper In den Zusammenhang dieses spannungs- und widerspruchsvollen Verhältnisses zwischen Innen und Außen gehört insbesondere die Behauptung von Sichtbarkeit, von Objektivität und Lesbarkeit adliger Körper, die nichts verschweigen, nichts sublimieren, nichts verinnerlichen und über nichts hinwegtäuschen können. Denn den Beschreibungen und Problematisierungen einer Diskrepanz von Innen und Außen steht immer wieder die Darstellung einer solchen Übereinstimmung gegenüber. So räsoniert der Erzähler in Konrads von Würzburg ›Partonopier und Meliur‹ darüber, dass verholniu mære sich letztlich immer sichtbar an den Körpern offenbaren müsse: daz viur enmac niht lange sîn bedecket, wan sîn heizer schîn ez machet offenbære; sam tuont verholniu mære, diu meldent sich zu jungest ie. dâ von diu keiserinne hie verbergen mohte langer niht ir senelichen ungeschiht, die si von herzen liebe truoc. (v. 16199–16207)
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Damit schließt er sich dem Erzähler in Gottfrieds ›Tristan‹ an, der im Rahmen jener Episode, in der Tristan und Isolde sich gegenseitig ihre minne (ein-)gestehen, von dieser minne behauptet, sie müsse sich stets unweigerlich an den Körpern der Minnenden abzeichnen: Minne die verwærinne dien duhtes niht da mite genuoc, daz mans in edelen herzen truoc verholne unde tougen, sin wolte under ougen ouch offenbæren ir gewalt; der was an in zwein manicvalt: unlange in ein ir varwe schein. ir varwe schein unlange in ein: si wehselten genote bleich wider rote. (v. 11908–11918)
Doch nicht nur minne offenbart sich an den Körpern, auch Herkunft, Adel und Erziehung teilen sich in der höfischen Literatur augenfällig und unverkennbar mit. So fällt Tristan Isolde durch seine Schönheit auf, die in Isoldes Augen für einen Kaufmann, als der er sich ihr gegenüber ausgegeben hatte, ungewöhnlich ist und auf seinen verheimlichten Adel hinweist: nu nam Isot sin dicke war und marctin uzer maze an libe und an gelaze; si blicte im dicke tougen an die hende und under dougen; si besach sin arme und siniu bein, an den ez offenliche schein, daz er so tougenliche hal. (v. 9992–9999)
So auch im Falle Rennewarts, Gyburcs Bruder, der als Kind aus ihrer Sippe entführt wurde und am Hof des französischen Königs aufgrund seiner Weigerung, die Taufe anzunehmen, als Knecht leben muss. Gyburc ahnt die Verwandtschaft, die zwischen ihnen besteht: an in si stæteclichen sach: ir herze spehte rehte daz er uz ir geslehte endeliche wære erborn. (v. 291,26–29)
Doch diese Verbindung ist keine private Angelegenheit zwischen ihnen, sondern wird durch die Ähnlichkeit beider auch für andere sichtbar:
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sin und ir, ir beder schin sich kunde alsus vermæren, als ob si bede wæren uf ein insigel gedrucket und gahes her abe gezucket: daz underschiet niht wan sin gran. mir wære noch liep, wære diu her dan: man ersæhe den man wol vür daz wip. (v. 274,18–25)
Rennewarts Identität, die Tatsache, dass er der Bruder Gyburcs ist, ist ein Sachverhalt, der nicht sprachlich erschlossen werden muss, sondern sich – ähnlich wie im ›Parzival‹ – unmittelbar der Wahrnehmung mitteilt:¹¹⁴ In sehr ähnlichen Formulierungen erzählt Wolfram immer wieder, wie Parzival von Verwandten an seiner unvergleichlichen Körperlichkeit gleichsam ›instinktiv‹ erkannt und ehrerbietig behandelt wird, obwohl auch die nicht nur nichts von ihm wissen, sondern gleich dem Hof zu Laon überdies durch einen Schein – die Narrenkleidung etwa – beirrt werden müßten. Hier und dort bleiben soziale Qualitäten in einer Welt der Körper und Dinge, in einer konkreten Gemeinschaft, immer unmittelbar sichtbar.¹¹⁵
Diese Identifikation von Adel durch körperliche Schönheit findet auch im ›Erec‹ statt, wo der Graf Oringles auf Enite trifft, deren Schönheit von ihm zutreffend als Indikator ihres Adels gedeutet wird: »›sie ist benamen ein edel wîp: / daz erziuget ir wünneclîcher lîp.‹« (v. 6192f.) Im ›Erec‹ Chrétiens sagt der Graf: ¹¹⁶ »Seignor, fet il, isnelemant voel ceste dame recevoir; nos poons bien aparcevoir, a ce qu’ele est et bele et sage, qu’ele est de molt gentil lignage.« Erec et Enide115 (v. 4714–4718)
›Ihr Herren‹, sprach er, ›ich möchte diese Dame schnell zur Frau nehmen. Daran, daß sie schön und klug ist, können wir deutlich erkennen, daß sie aus sehr adligem Geschlecht stammt.‹
114 Bezeichnend ist jedoch, dass diese Ähnlichkeit gerade nicht dazu führt, dass sich die Verwandtschaft zwischen beiden aufklärt. Gyburcs Herz erkennt den Bruder, doch im entscheidenden Gespräch mit ihm, das ihre letzten Zweifel ausräumt, beendet sie das tragische Missverständnis, dem er erliegt und das ihn später des Brudermordes (»Canliun tet da wol schin / daz er sinen vater sach / ungern in sölhem ungemach. / an den kom do Rennwart. / des was der bruoder ungespart: / von dem wart Canliun erslagen. / sine kunden niht ein ander sagen / von deheiner künde e.« v. 442,16–23) schuldig werden lässt, nicht auf. Es liegt nahe, dass sie das tut, um Rennewarts Kampfbereitschaft für die Seite der Christen aufrecht zu erhalten, fragt sie ihn im Augenblick, in dem die Enthüllung der Wahrheit unmittelbar bevorzustehen scheint, doch nach seiner Loyalität Willehalm gegenüber: »Gyburc in vragete durh sinen pris, / ob von Provenze der markys / sine helfe solte han vür war.« (v. 293, 13–15) 115 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 60. 116 Chrétien de Troyes: Erec et Enide/Erec und Enite. Übersetzt und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987. (RUB 8360)
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Die Körper der literarischen Figuren sprechen in Beispielen wie diesen eine Sprache, die zweifelsfrei und wortlos verstanden werden kann – zumindest zwischen denen, die einander ebenbürtig sind. Nicht einmal Gesten wie der Steigbügeldienst vermögen gegen diese wortlose Verständigung anzukommen. Im ›Nibelungenlied‹ kann die kalkulierte Handlung Siegfrieds, mit der er sich als Gunthers Vasall auszuweisen versucht, Brünhild nicht davon abhalten, ihre Aufmerksamkeit (und ihr Begehren) auf ihn zu richten. Während Handlungen inszeniert werden können, scheinen der Anblick und die Erscheinung der Körper jene Instanzen zu sein, die Wahrheit verbürgen und zweifelsfrei aufscheinen lassen, und das gilt selbst noch für tote Körper: Siegfrieds Wunden beginnen erneut zu bluten, als Hagen an die Leiche tritt und identifizieren ihn so nicht nur als den Schuldigen, sondern zeigen auch seine Schuld für alle Umstehenden erkennbar und unbestreitbar an. Auch Ascalons Wunden machen seinen Untertanen und seiner Witwe gegenüber augenfällig, dass sich derjenige, der seinen Tod verursacht hat, noch in ihrer unmittelbaren Nähe aufhält. Adlige Körper sind hier lesbar wie ein Buch – und das sollen sie aus theologischer Sicht auch sein: weil Leib und Seele eine Einheit bilden, besteht nach Auffassung mittelalterlicher Theologen und Literaten die Möglichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen, aus dem Gesicht (facies) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und die Haltung des Körpers (gestus corporis) als Zeichen innerer Gesinnung (signum mentis) zu betrachten.¹¹⁷
Doch wenn sich höfische Körper in der Literatur des Mittelalters durch Sichtbarkeit und Lesbarkeit auszeichnen, wenn zu erkennen ist, welchen Rang sie bekleiden, in welchem Zustand sie sich befinden oder wie intakt oder geschwächt die Herrschaft ist, die sie ausüben, dann kann es eine Differenz von Innen und Außen nur als rein begriffliche Kategorie geben. Als solche würde sie jedoch keine Verräumlichung der Figur auf einen Innenraum hin bezeichnen, sondern allein die Überlagerung von Schichten – so wie in der Beschreibung der ambivalenten Gefühle, die die Freundin Cadocs hat, als sie ihren Geliebten zwar von Erec gerettet, aber schwer verletzt erblickt:
117 Klaus Schreiner: »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (Osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung. In: Höfische Repräsentation, S. 89–133, hier S. 89, Hervorhebungen im Original, vgl. auch Bumke: Höfische Körper.
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hie verkêrte sich dem wîbe ir herzen trüebe als ein glas, derz wol schüebe, daz von swarzer varwe bestrichen wære begarwe: sô diu varwe abe kæme, sô würdez genæme und lieht daz ê vinster was. sus wart ir herze ein lûter glas, der erren sorgen beschaben unde wol ze liehte erhaben mit unvalscher wünne, sam si nie leit gewünne. (v. 5615–5627)
Zwar überlagern sich die Oberflächen von Glas und Farbe, doch wäre es falsch, daraus zu schließen, dass das Glas ›innen‹, die schwarze Farbe aber ›außen‹ sei. Nicht zufällig ist das Motiv des Glases gewählt, an dem es keine Ausdifferenzierung von Innen und Außen gibt. Selbst mit Farbe bestrichen bildet es zwar ein farbiges Außen aus, doch das Innere dieses farbigen Glases ist kein räumliches, sondern wieder nur eine Oberfläche. So spielt sich auch der Wechsel von Kummer zu Freude in Bezug auf die Dame nicht in einem ›Inneren‹ ab, sondern an der Oberfläche der Figur, in ihrer Erscheinung, in den Symptomen von herzen trüebe oder wünne. Von ihrem Kummer bleibt denn auch, nachdem Erec ihren Freund gerettet hat, nichts zurück und ihre Freude strahlt so hell, als wäre sie nie getrübt worden. Wo zwei Flächen sich überlagern, entsteht kein Innenraum. Zwar wird auch in solchen Fällen von einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹ gesprochen, aber eine Unterscheidung zwischen beidem besteht allein in der Formel selbst. Das ist beispielsweise im ›Tristan‹ in der Vorgeschichte zur eigentlichen Haupthandlung der Fall. Hier wird von einem Innenraum erzählt: Blanscheflurs herze ist das Königreich, das ihr Geliebter Riwalin regiert: er was ir in ir herze komen; er truoc gewaltecliche in ir herzen künicriche den cepter und die crone. (v. 726–729)
Blanscheflur wiederum ist Herrscherin über Riwalins herze, so dass: [sine sinne] sa wider vuoren und namen Blanschefluoren und vuorten si mit in zehant in Riwalines herzen lant
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und cronden si dar inne im zeiner küniginne. ja Blanscheflur und Riwalin, der künec diu süeze künigin, die teilten wol geliche ir herzen künicriche. (v. 807–816)
Doch dieser Raum, der vom Geliebten eingenommen werden kann, ist kein von außen abgegrenzter, abgeschiedener. In Bezug auf Blanscheflur gibt es keinen ›inneren‹ Menschen, der sich vom ›äußeren‹ zurückgezogen hätte, wenn auch an manchen Stellen genau dieser Eindruck hervorgerufen wird – so, wenn es Blanscheflur gelingt, ihre minne zu Riwalin vor den anderen zu verbergen: er truoc gewaltecliche in ir herzen künicriche den cepter und die crone: daz si doch also schone und also tougenlichen hal, daz siz in allen vor verstal. (v. 727–732)
Diese ›Heimlichkeit‹ ist jedoch nicht gegen die höfische Gemeinschaft gerichtet, ganz im Gegenteil: Dadurch, dass Blanscheflur eine heimliche minne pflegt, entfernt und entfremdet sie sich nicht von der höfischen Öffentlichkeit. Die Heimlichkeit der minne zwischen diesen beiden, die füreinander geschaffen sind, ist keine Ausschließung der höfischen Gemeinschaft und keine Abschließung von ihr. Sie affirmiert vielmehr die Regelkonformität eines Affektes, der so stark ist, dass er zunächst, ohne dass es einen nachvollziehbaren, plausiblen Grund dafür gäbe, geheim gehalten werden muss – und zwar nicht deshalb, weil er ein tatsächliches Vergehen gegen die Gesetze des Hofes darstellen würde, sondern weil die Geheimhaltung, also die Notwendigkeit, die minne in Ausschließlichkeit über alles andere, auch die Hoföffentlichkeit selbst, zu stellen, zu den Charakteristika regelkonformen minnens gehört. Dass Riwalins gesellschaftlicher Status durch seine heimliche minne mit Blanscheflur nicht nur nicht herabgesetzt, sondern sogar noch erhöht wird, macht Kurvenal ganz unmissverständlich deutlich, wenn er Riwalin rät: ›iuwer ere wehset alle wis, iuwer werdekeit und iuwer pris, iuwer vröude und iuwer wunne diu stiget als diu sunne. irn möhtet uf der erden von wibe niemer werden so hohes namen als von ir […].‹ (v. 1613–1619)
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Die anfängliche Heimlichkeit ist folglich gerade nicht gegen die Hofgesellschaft gerichtet, ist keine, die die Figur in tatsächlicher Abgrenzung gegen eine Gemeinschaft konstituieren würde, sondern ein narratives Muster, das die Konventionen gesellschaftlich sanktionierter minne zwischen zwei Adligen beglaubigt. Heimlichkeit ist hier »nicht Negation, nicht anti-gesellschaftlich, sondern sie treibt den Adel von Tristans Eltern auf die Spitze (auch der Hof im Walde, die minne-Grotte stellt nichts anderes vor als solch auf die Spitze getriebene adlige Exklusivität).«¹¹⁸ Innen und Außen verselbständigen sich in dieser nur formal heimlichen minne nicht, sondern ergänzen einander. Entsprechend ist auch der ›Kummer‹, den Tristan »tougenlichen« (v. 5289) wegen des Unrechtes erduldet, das Morgan ihm zugefügt hat, kein ›verinnerlichter‹ oder ›privater‹ Kummer, sondern ein geradezu politischer, durch den Tristan Herrschaftsfähigkeit dokumentiert. Tristan bekundet seine triuwe eben dadurch, dass er diesen Kummer empfindet. Dass er tougenlichen ist, heißt in diesem Falle denn auch nicht, dass er heimlich etwas empfände, was er vor den anderen geheim halten müsste, sondern ist eine rhetorische Beglaubigung dieses Affektes. Man lasse sich also auch von einer Formulierung nicht täuschen, die Gebärde und Gesinnung sprachlich gegeneinander auszuspielen scheint: dar zuo swie wol gebære gebærdehalp er wære, so was doch innerthalp der muot so reine gartet und so guot, daz edeler muot und reiner art under helme nie bedecket wart. (v. 6715–6720)
Denn auch hier ist mit innerthalp nicht etwas Eigengesetzliches oder den Blicken anderer Abgewandtes gemeint, etwas, das von der Gemeinschaft abgekehrt wäre, sondern im Gegenteil gerade jene triuwe, die es Tristans Untergebenen erlaubt, sich mit ihm zu identifizieren und ihn als ihren Herrscher zu akzeptieren. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie stark die vermeintliche Verinnerlichung, die durch den Begriff ›innecliche‹ bezeichnet zu werden scheint, auf die Werte der adligen Gesellschaft selbst bezogen sein kann, ist der ›Tristan‹. Dort, wo das Paar sich zurückzieht, um sich seiner Ehebruchs-minne hinzugeben, da, wo es Betrug an Marke und dem Hof verübt, da, wo es sich versteckt und verstellt, um den Hof über seine tatsächlichen Absichten zu täuschen, gerade dort herrscht (literarische) höfische Öffentlichkeit, denn genau darauf ist die Auf-
118 Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 283, Hervorhebung im Original.
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merksamkeit von Gottfrieds Publikum und damit der Gemeinschaft der edelen herzen fokussiert. Wenn Gottfried von Brangäne erzählt, dass vil schiere wart, daz si began den ernest an in beiden sehen und uzen an ir libe spehen den inneren smerzen ir muotes unde ir herzen (v. 12058–12062),
dann scheint es sich dabei zwar auf den ersten Blick um Heimlichkeit zu handeln – doch die minne, die Tristan und Isolde den inneren smerzen verursacht, ist eben keine intime Privatangelegenheit zwischen zwei Liebenden, sondern das Brot, von dem der Prolog behauptet, dass sein Verzehr die Rezipienten zur Gemeinschaft der edelen herzen zusammenschließen werde. Es stimmt zwar, dass das Paar sich vom Marke-Hof abwendet und in der Minnegrotte eine ideale und exklusive Zweisamkeit pflegt, doch gerade diese ist in höchstem Maße höfisch, gerade in ihr verwirklicht sich das höfische Ideal einer bedingungslosen minne, so dass gerade in der Abkehr vom Hof und seinen Geltungsansprüchen höfische minne verwirklicht ist. Denn nur weil sie bereit sind, für die Realisierung ihrer minne den Verlust höfischer Anerkennung in Kauf zu nehmen,¹¹⁹ können Tristan und Isolde zu Repräsentanten der Gemeinschaft edeler herzen werden, wie der Prolog mit den berühmten Worten suggeriert: Deist aller edelen herzen brot. hie mite so lebet ir beider tot. wir lesen ir leben, wir lesen ir tot und ist uns daz süeze alse brot. (v. 233–236)
So wie also Heimlichkeit nicht davon zeugen muss, dass die Bühne öffentlichen, repräsentativen Handelns verlassen wird, so ist auch der Verweis auf eine vermeintliche ›Innerlichkeit‹ kein eindeutiger Beleg für ›emotionale Authentizität‹. minne liegt an und in den Körpern, ja, bringt die Körper hervor. Das betont Gott-
119 Und gerade dieser Verlust stellt eine bemerkenswerte Analogie zum Minnesang her, der weiter unten differenzierter thematisiert werden wird. Im Minnesang ist das Verhältnis der Ablehnung zwar umgekehrt. Während Tristan und Isolde sich durch ihre heimliche minne vom Marke-Hof abwenden, ist es im Minnesang ein unspezifiziertes si, das das Sänger-Ich verspottet und herabsetzt. So verschieden auch die näheren Umstände des Verhältnisses je sein mögen, so ist doch zu erkennen, dass eine Entfremdung von der Gesellschaft und von der Gemeinschaft der ›anderen‹ die Existentialität einer minne, die jeden Preis rechtfertigt und von niemandem verstanden oder geteilt werden kann, in beiden Fällen affirmiert und bestätigt.
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fried immer aufs Neue: Isolde beispielsweise ist »daz ware insigel der minne,« (v. 7812) ist »daz bilde, daz diu Minne / an libe und an dem sinne / so schone hæte gedræt« (v. 10951–10953): suoze gebildet über al, lanc, uf gewollen unde smal, gestellet in der wæte, als si diu Minne dræte ir selber zeinem vederspil, dem wunsche zeinem endezil, da vür er niemer komen kan. (v. 10893–10899)
Der Einzelne gewinnt nicht dort an Profil, wo er sich von der höfischen Gesellschaft in sich selbst zurückzieht und dieses für andere unzugängliche Innere sich gegen sie verselbständigt, sondern dort, wo er im Glanze des AngesehenWerdens auftritt wie Isolde und ihre Mutter am Gerichtstag. Dort wendet sich die Figur nicht der Öffentlichkeit des Hofes zu, nachdem sie ihre Interessen abseits der Öffentlichkeit verfolgt und realisiert hat. Vielmehr ist es der Blick des Hofes, der der Figur jene Identität verleiht, die sie dann auch im ›Geheimen‹ agieren lässt. Oft legt also die formelhafte Wendung innen und ûzen eine Diskrepanz zwischen dem einen und dem anderen nur nahe, ohne sie wirklich einzulösen. Sie ist dann nicht mehr als eine sprachliche Chiffre, die die Figur in ihrer Ganzheit adressiert: arme unde riche si hæten an ir beide eine sælige ougenweide, der oren unde des herzen lust: uzen und innerhalp der brust da was ir lust gemeine. (Tristan, v. 8048–8053)
Oder in der Minnegrotten-Episode: Als aber diu lihte sunne uf begunde stigen, diu hitze nider sigen, so giengen si zer linden nach den linden winden, diu bar in aber danne lust uzen und innerthalp der brust. (v. 17166–17172)
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Wenn beispielsweise im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach zu lesen ist, dass »swer die schalen vor hin dan schelt, / der siht alreste den kernen« (v. 322,14f.), so wird zunächst der Eindruck vermittelt, dass hier explizit zwischen einem Äußeren, das als schale bezeichnet wird, und einem Inneren, dem kernen, unterschieden wird. Erst ein Blick auf den Kontext des Zitats korrigiert diesen Eindruck, denn es ist Teil einer Rede des Markgrafen, die er an seine Kampfgenossen richtet, um sie auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Mit der Formel von Kern und Schale verbildlicht er, dass sich bald erweisen werde, wer von ihnen das Himmelreich erwerben werde: »›noch hiute sulen wir lernen / wie diu gotes zeswe uns lones giht‹.« (v. 322,16f.) Es geht also gerade darum, dass die Ritter während der bevorstehenden Schlacht einlösen sollen, was ihre ritterliche Erscheinung erwarten lässt, beziehungsweise darum, die Kongruenz von Innen und Außen zu bezeugen. Der Hintergrund der Rede Willehalms ist die Aussage, dass »›die belibene sint zer sælde erwelt‹.« (v. 322,13) Als der Vater Willehalms, der alte König Heimrich, als Gast Gyburcs und Willehalms mit seinen Verwandten zusammenkommt, beklagt und beweint Gyburc die Kampfhandlungen zwischen ihrer ehemaligen und ihrer jetzigen Familie, den Krieg zwischen Heiden und Christen, und wird daraufhin von ihrem Schwiegervater dazu aufgefordert, ihre Tränen zurückzuhalten:¹²⁰ hin ze ir alsus mit zühten bater daz si ir weinen lieze sin verholen: da solten kurzwile dolen der wirt und sine geste ane jamers überleste. (v. 268,8–12)
Gyburc ist zwar bereit, sich zu beherrschen, deutet aber an, dass auch ihre Beherrschung nichts daran ändern könne, dass sie ›innerlich‹, nämlich in ihrem herzen, weiter trauern werde: sie sprach ›swenne ir gebietet, min munt sich lachens nietet; wirt aber hie schimpf von mir getan, so muoz doch daz herze jamer han.‹ (v. 268,13–16)
Doch meint Gyburc hier tatsächlich eine Verselbständigung des Mundes gegenüber dem Herzen? Wird hier von einer Verstellung erzählt, durch die eine sich selbst disziplinierende Gyburc die Tischgemeinschaft über ihren wahren
120 Darauf wird im Kapitel 6 ›Emotionen‹ zurückzukommen sein.
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Zustand hinwegtäuschen könnte? Das wohl kaum. Denn munt und herze sind Handlungsinstanzen ei ner Figur, die auch in dieser Szene als eine agiert. Gegenstand der Episode ist nicht die Tatsache, dass Gyburc sich zu verstellen vermag, dass sie in der Lage ist, ihren Körper zu manipulieren und so zu verbergen, was sie ihre Gäste nicht wissen lassen will und zu zeigen, was sie sie glauben machen möchte. Vorgeführt wird die höfescheit von Willehalms Frau – Gyburc wäre weder eine gute Christin, noch eine gute Markgräfin, gelänge es ihr tatsächlich, die Tränen zurückzuhalten, mit denen sie den Krieg beklagt – sie beweist ihre hohe Stellung gleichsam dadurch, dass sie durch die vergossenen Tränen gegen die höfische Etikette verstößt und dadurch bezeugt, wie stark der Schmerz um den Verlust der ausgezeichneten Krieger ist, die in der Schlacht gefallen sind: »Durch ihre Trauerperformanz hat Gyburc ihrerseits die Loyalität mit der Familie Willehalms eindrücklich unter Beweis gestellt.«¹²¹ Gyburcs ›inneres Weinen‹ bei äußerlicher Fröhlichkeit ist kein heimliches, sondern ein Weinen, das die Integrität der Figur unterstreicht. Dass ihr herze anders empfindet als ihr munt es vermuten lässt, deutet keine Verselbständigung des einen gegenüber dem anderen an, sondern bestätigt beide durch einander: Von einer Markgräfin ist zu erwarten, dass sie in ihren Gästen hôhen muot hervorruft und sie nicht betrübt. Gleichermaßen ist aber zu erwarten, dass sie aufrichtigen Schmerz um die Verluste empfindet, die der Krieg mit sich bringt und insbesondere die Notwendigkeit des Krieges gegen die eigenen Verwandten beklagt. Gyburc befindet sich dabei jedoch nicht in einem Widerspruch zwischen privaten Sorgen und repräsentativen Pflichten. Vielmehr bestätigen sich die verschiedenen Rollen der Figur gegenseitig: Sie löst den Herrschaftsanspruch ihrer Position als Markgräfin durch ihr edles herze, daz jamer hat, ein. Und nur auf dem Hintergrund, dass ihr munt sich lachens nietet, wird das Gewicht des jamers, den ihr edles herze hat, plastisch: »Gefühl und Ausdruck werden dissoziiert. Diese Trennung konstituiert jedoch weniger eine ›Innerlichkeit‹ von Gyburcs Gefühlen, sondern eröffnet eine Möglichkeit, um konfligierende normative Anforderungen miteinander zu vermitteln.«¹²² Es ist also gerade die vermeintliche Diskrepanz zwischen Innen und Außen, die eine tiefere Übereinstimmung zwischen beidem bestätigt. Innen und Außen werden als vermeintliche Widersprüche inszeniert, damit die Aufmerksamkeit so auf das Verhältnis zwischen beidem gelenkt werden kann. Im Falle von
121 Elke Koch: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2006 (Trends in medieval philology 8), S. 154, Hervorhebungen im Original. 122 Koch: Trauer und Identität, S. 156.
Exkurs: Die Diskrepanz von Innen und Außen in der Minneklage
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Gyburc, die sich zu einer fröhlichen Miene zwingt, obwohl ihr herze jamer hat, wird zwischen Innen und Außen auf der Ebene der Tugendhaftigkeit, die Gyburc gerade dadurch unter Beweis stellt, dass sie die Anforderungen der höfischen Öffentlichkeit respektiert, ihre übergroße Trauer aber dennoch nicht ablegen kann, vermittelt: »Gyburcs Trauer ist vor dem Hintergrund des Verwandtschaftsdiskurses im Willehalm unabdingbar, wenn diese Figur nicht dem Verdacht einer fundamentalen untriuwe ausgesetzt werden soll.«¹²³ Nur scheinbar werden dort, wo die Formel ›Innen und Außen‹ begegnet, primär innere Prozesse thematisiert. Natürlich geht es – wie im Beispiel von Gyburcs Trauer – auch darum. Doch die Funktion beispielsweise der Diskrepanz zwischen Innen und Außen im vorherigen Beispiel ist nicht die, dem Rezipienten einen Blick in das innerste Innen, in die ›Seele‹ Gyburcs zu eröffnen, vielmehr steht in der Szene die dilemmatische Situation der Figur als ganzer im Vordergrund, die in der Spannung zwischen Innen und Außen erzählerisch veranschaulicht wird. Dass die Funktion eines scheinbaren Widerspruches, der sich in Wirklichkeit als eine doppelte Bestätigung erweist, gattungsübergreifend ist, soll durch einen knappen Exkurs zum Minnesang veranschaulicht werden.
Exkurs: Die Diskrepanz von Innen und Außen in der Minneklage In der Minneklage¹²⁴ gehört das Problem, dass die Gesellschaft den Kummer des Sängers nicht erkennen kann und ihm deshalb vorwirft, seine Klagen seien ›inszeniert‹, zu den typischen Leid-Erfahrungen, die die minne mit sich bringt. In einem Lied Johannes Hadlaubs berichtet das Lied-Ich, dass seine Umwelt ihm Unaufrichtigkeit unterstelle, weil sein Aussehen das minne-Leid, das es beklagt, nicht zu bestätigen scheint, so dass es seinen aufrichtigen Kummer allen anderen gegenüber verteidigen muss:
123 Koch: Trauer und Identität, S. 153, Hervorhebung im Original. 124 Schweikle nennt folgende Charakteristika der Minneklage: »Monologische Darlegung von Werbebemühungen (Werbelied) und deren Vergeblichkeit, Kundgaben von Gefühlszuständen, Wunschvorstellungen, eine Art emotionaler ›Lagebericht‹ im Munde eines männlichen lyrischen Ichs, in die gelegentlich Bezüge zum Publikum eingestreut sein können […]. Im bemerkenswerten Gegensatz zu den üblichen Minnesangdarstellungen sind Werbelieder oder Minneklagen meist ohne ausdrückliche, direkte Adressierung, sind nur selten an eine Umworbene unmittelbar gerichtet […].« Günther Schweikle: Minnesang. Stuttgart 1989, S. 119. Es handelt sich also um Lieder nicht an, sondern ü b er die Dame, die mehr die Werbung als die Umworbene selbst zum Gegenstand haben und damit auch die widrigen Umstände und Wirkungen der Werbung thematisieren.
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Man gicht, mir sî nicht als ernstlîch wê nâch ir, als sîs von mir vernomen hânt: ich sî gesunt, ich wær vil siech und siechlîch var, tæt mir sô gar wê minne bant. das mans nicht an mir sicht, doch lîde ich nôt, das füegt guot geding, der hilfet mir aldâ her; und liesse mich der, sô wære ich tôt. (Lied V,4 1–7)
Und in einem Lied Reinmars beklagt sich der Sprecher über sein Publikum: Die hôchgemuoten zîhent mich, ich minne niht sô sêre, als ich gebâre, ein wîp. sie liegent und unêrent sich: si was mir ie gelîcher mâze sô der lîp. (MF 165,19–22)
In einem Lied Walthers von der Vogelweide präsentiert sich das Ich als Sänger, der fröide fingiert: Bî den liuten nieman hât hovelîchern trôst denne ich. sô mich sende nôt bestât, sô schîne ich geil und trœste selben mich. Alsô hân ich dicke [] mich betrogen unde durch die werlt menige fröide erlogen; daz liegen was aber lobelich. (L 116,33–39)
Bei aller Verschiedenheit zwischen den Strophen von Hadlaub, Reinmar und Walther gibt es doch ein Motiv, das sie alle drei miteinander verbindet: Die Scheinhaftigkeit oder Unglaubwürdigkeit des Gebarens, beziehungsweise der Vorwurf, das Gebaren des Lied-Ich sei unglaubwürdig. In Hadlaubs Lied wird dem Ich vorgeworfen, dass sein Kummer übertrieben sei und dass seine vitale Erscheinung seine Klagen Lüge strafe. Ähnlich bei Reinmar: Ohne dass ein Indiz genannt würde, werden Zweifel an der Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit der Klage des Lied-Ich laut. Bei Walther thematisiert das Ich selbst die Scheinhaftigkeit der an den Tag gelegten Fröhlichkeit und nennt sie Trug und Lüge. Die Beispiele belegen also zwei verschiedene, einander sogar entgegengesetzte Formen, in denen das Motiv der Scheinhaftigkeit im Minnesang literarisch umgesetzt wird: In den ersten beiden Strophen wird das aufrichtige Leid bekräftigt, welches ›die anderen‹ bestreiten. Es wird also auf eine Glaubwürdigkeit und Authentizität gepocht, die von außen in Frage gestellt wird. Im letzten Beispiel ist es das leidende Ich, das seine Verstellung der Welt zuliebe als Trug brandmarkt, diesen aber im gleichen Atemzug rehabilitiert: daz liegen was aber lobelich.
Exkurs: Die Diskrepanz von Innen und Außen in der Minneklage
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Die letzten Verse greifen das Motiv der Lüge, der Verstellung und der (Selbst-) Täuschung auf. Dabei ist allerdings nicht klar, ob es sich wirklich um Verstellung handelt. Das Ich betrügt sich selbst und fingiert der Welt zuliebe Freude. Das ist eine Verkehrung der Konstellation, die das Ich bei Hadlaub thematisiert: Dort wird dem Sänger unterstellt, froh zu sein, obwohl es das Gegenteil behauptet. In Walthers Lied behauptet das Ich demgegenüber froh zu sein, obwohl es betrübt ist. Dennoch ist diese Lüge lobelich, und zwar deshalb, weil sie die Form des Liedes annimmt. Und als sang ist die fingierte Freude nicht unwahr, sondern Minnesang, also keine Lüge, sondern performativ: Der sang von minnen, der Minnesang, unterliegt keiner Wahrheitsbedingung, vielmehr erschafft er die Wahrheit, von der er spricht – also die Ablehnung, unter der der Sänger leidet oder die Hoffnung, die seine Dame ihm schenkt, i ndem er von ihr spricht. In Bezug auf die ersten beiden Strophen liegen die Dinge etwas anders, doch auch hier fallen die Erscheinung des Sängers und sein ›inneres Empfinden‹, sein verborgener Kummer, nur scheinbar auseinander. Denn gerade die Tatsache, dass der Kummer des Sängers für sein Publikum nicht oder nicht zur Gänze sichtbar ist, dass seine Zuhörer ihn und sein Leid nicht verstehen, das Ausmaß seines Kummers nicht ermessen können und ihm dadurch Unrecht tun, gerade der Sachverhalt also, dass die minne durch das Leid, das sie bereitet, auch noch zur Isolation von den anderen führt, bekräftigt ihre Stärke und Unbedingtheit: Während die huote im frühen Minnesang und auch im Tagelied die Autonomie der MannFrau-Beziehung und die Souveränität des Mannes grundsätzlich gefährdet, bilden ›die anderen‹ eher einen Hintergrund, vor dem sich das Ich als eigenständiges, fremden Ansprüchen gerade nicht unterworfenes Individuum erweist¹²⁵
– wobei mit ›Individuum‹ die souveräne Rolle des ›Lied-Ich‹ gemeint ist, das sich immer nur in seiner Beziehung zu den und auf die anderen beschreiben kann: »Ebenso, wie Singender-Minnender-Rolle und historischer Sänger/Autor nicht zur Deckung zu bringen sind, lassen sich auch die ›anderen‹ nicht mit dem realen Publikum identifizieren. Vielmehr ist in den ›anderen‹ ein Teil der sozialen Funktion von Minnesang vertextet.«¹²⁶ Die Klage des Sängers um den Verlust an Integration in die Gesellschaft, darum, dass seine lautere minne für sie nicht erkennbar ist, ist eine Überbietungs-Floskel, ein Superlativ des Minnesangs, der die poetische Aussage jedoch nicht über die Konventionen der Gattung hinaushebt, sondern eben sie bestätigt.
125 Albrecht Hausmann: Reinmar als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 145. 126 Hausmann: Reinmar als Autor, S. 145.
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Brüche und Übereinstimmungen zwischen Innen und Außen
Denn die minne, die der Sänger ganz alleine tragen muss, weil sein Publikum sie nicht erkennen und nachvollziehen kann,¹²⁷ ist gerade das, was die Gattung Minnesang konstituiert. Minnesang ist jedoch Aufführungskunst und damit etwas, das (in aller Regel) für ein Publikum konzipiert ist – auch (und gerade) dort, wo das Lied-Ich sich von eben diesem Publikum abzuwenden und sich in sein Inneres zu wenden scheint. Diesen Sachverhalt hat Kablitz als einen »doppelten Prozeß kultureller Differenzierung« und als »Hybridisierung« bezeichnet,¹²⁸ die darin besteht, dass zwei Kommunikationssituationen (nämlich die an die Dame gerichtete Werbung und die Klage vor dem Publikum) überblendet werden: So verwandelt der Minnesang die Situation der Werbung in eine Form öffentlicher Kommunikation, in der die Werbung selbst pragmatisch sinnlos wird. Denn an die Stelle der Dame tritt das Publikum als der Adressat der Rede. Die dadurch strukturell bedingte pragmatische Wirkungslosigkeit der Werbung aber schafft zugleich den Freiraum für die Entstehung einer Sprache des Eros, die sich gerade im Horizont ihrer intendierten Erfolglosigkeit entwickeln kann.¹²⁹
Wenn der Sänger in seinem an das Publikum gerichteten Lied beklagt, dass für eben dieses Publikum sein Inneres verschlossen sei, affirmiert er damit also letztlich nur die Gattungsbedingungen des Minnesangs, nämlich die Überblendung der Rolle der Dame mit der Rolle der Öffentlichkeit: So wie die Dame seine Werbung nicht zur Kenntnis nimmt, kann der Sänger auch die Distanz zu seinem Publikum nicht überwinden, die daraus erwächst, dass es seinen Klagen und seinem Schmerz verständnislos oder ungläubig gegenüber steht. Mit der Formel ›Innen und Außen‹ und ihrer Gegenüberstellung kann im Minnesang also eine Entfremdung zwischen dem leidenden Sänger und seinem verständnislosen Publikum ausgedrückt werden: Es ist das Publikum, das dem Sänger vorwirft, unaufrichtig zu sein und einen Anschein zu erwecken, der mit seinem inneren Zustand nicht übereinstimmt. Dieser Vorwurf ist, wie der Sänger beteuert, gänzlich unbegründet und vermehrt seinen Kummer noch zusätzlich. Da der Rezipient als Leser wie als Hörer nur die Stimme des Lied-Ich zu vernehmen vermag, gibt es weder einen Grund, noch eine Möglichkeit, dessen Äuße-
127 Dieses Verhältnis zwischen Sänger und Publikum wird in einigen Liedern Walthers, beispielsweise im sumerlaten-Lied (L 72,31), neu akzentuiert. Hier werden sie zu Verbündeten, die gemeinsam darauf hinwirken, die Dame des Sängers gnädig zu stimmen, damit er seinen Sang fortsetzt und nicht einstellt. 128 Andreas Kablitz: Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit. In: Mittelalterliche Menschenbilder. Hrsg. von Martina Neumeyer. Regensburg 2000 (Eichstätter Kolloquium 8), S. 79– 118, hier S. 82. 129 Kablitz: Die Minnedame, S. 83.
Exkurs: Die Diskrepanz von Innen und Außen in der Minneklage
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rungen sowohl über sich selbst, als auch über ›die anderen‹ in Frage zu stellen. Aus unserer Perspektive hat notwendigerweise er Recht, ›sie‹ irren sich. Diese ›anderen‹ sind nicht das textexterne Publikum, an das das Lied sich wendet, während es über ›die anderen‹ als notwendig Abwesende spricht. ›Sie‹ sind das texti nter ne Publikum, welches durch das sich im Lied inszenierende SängerIch angesprochen wird. Auch hier dient die Thematisierung einer (vermeintlichen) Diskrepanz zwischen Innen und Außen der Komplexitätserzeugung, indem sie nicht nur verschiedene Perspektiven auf den Sänger, nämlich die trügerische Außenperspektive, der die tatsächliche Innenperspektive gegenübergestellt wird, durchspielt, sondern auch noch das komplizierte Verhältnis zwischen dem Kummer, der aus dieser Diskrepanz resultiert und dessen ästhetischen Gestaltung zum Minnesang. Dieser erst eröffnet die Möglichkeit, das eine wie das andere zu kommunizieren. Komplexität wird aber auch dadurch gesteigert, dass das Verhältnis von Innen und Außen gespiegelt wird im Verhältnis von textinternem und textexternem Publikum: So wie die Differenzierung von Innen und Außen die Möglichkeit eröffnet, den Sänger, seine Behauptungen und seine Erscheinung aus verschiedenen Perspektiven zu problematisieren, so lädt auch die Klage über das Publikum, das in seinem vorschnellen Urteil über den Sänger zu dessen leid-Erfahrung beiträgt, das textexterne Publikum dazu ein, seine eigene Rolle dem Vortragenden gegenüber zu reflektieren. Um dieses konfliktträchtige Verhältnis zwischen Sänger und texti nter nem Publikum zu thematisieren, wird auf die Formel ›Innen und Außen‹ zurückgegriffen. Auch hier geht es nicht um das ›Innere‹ des Sängers, sondern um die Erfahrung von Leid, die aus einer tatsächlichen oder auch nur von ›den anderen‹ vermuteten Diskrepanz zwischen der Erscheinung und der wahren Verfassung des Sängers resultiert. Denn es ist das wê, das den Sang gleich auf mehreren Ebenen motiviert: Der Sänger singt au fg r u nd seines Leides und er singt von Leid. Es ist sein auf Linderung durch die Dame zielender Schmerz, der den anderen vröide beschert (»Tûsent herzen wurden vrô / von ir gnâden,« Walther 73,09f.). Die Minneklage basiert auf der Erfahrung eines Kummers, der sich dort vervielfacht, wo er von denen, die Adressaten des Liedes sind (si, ›die anderen‹), missdeutet wird. Die Bedingungen des Singens thematisieren sich damit selbst. Minnesang hat nicht (nur) das Innere des Sängers zum Gegenstand, sondern die Erfahrung der Zurückweisung, die aus einer Diskrepanz von Innen und Außen resultiert. So eröffnen sich drei verschiedene Ebenen, auf denen die Aussagen des Sängers angesiedelt sind: Zunächst spricht er über die Dame, die ihm durch ihre Ablehnung Schmerz zufügt. Der Bericht über diese Ablehnung und die Darstellung des Kummers, der aus ihr resultiert, wird auf einer zweiten Ebene vom
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Brüche und Übereinstimmungen zwischen Innen und Außen
textinternen Publikum kommentiert, etwa, indem es diesen Kummer bezweifelt und in Frage stellt. Die dritte Ebene ist die der Rezeption, in der das textexterne Publikum Position gegenüber den Aussagen des Lied-Ich über sich selbst, das textinterne Publikum und sein Verhältnis zu diesem beziehen kann und soll. Margreth Egidi hat am Beispiel der Sangspruchdichtung dafür argumentiert, die Entscheidungsmöglichkeit des textexternen Publikums darüber, »ob eine Äußerung einen ›tatsächlich‹ vollzogenen oder einen vorgeführten, inszenierten Sprechakt darstellt,«¹³⁰ stärker für die Interpretation der Texte zu berücksichtigen. Ich sehe keinen Grund dafür, diesen wichtigen Hinweis nur auf die Spruchdichtung zu beschränken, vielmehr dürfte sie für den Minnesang in gleicher Weise gelten. Denn auch hier agiert nicht nur der Sänger. Ohne Zweifel ist zwar eine Rollendifferenzierung (›Sänger/ Publikum‹), die allerdings je neu aktualisiert werden muss, in irgendeiner Form vorauszusetzen. Doch wenn – als ein Moment der Instabilität und Okkasionalität der Situation – die Rolle des Sängers noch keineswegs fest institutionalisiert ist, dann ist es auch nicht wahrscheinlich, dass die Rolle der Zuschauer auf das bloße passive Aufnehmen von Dargebotenem begrenzt ist.¹³¹
Gerade diese Tatsache, dass die Identifikation der vorgetragenen Aussagen mit demjenigen, der sie vorträgt, eine Option darstellt, die vom Publikum realisiert werden kann, aber nicht muss, erweitert die Deutungsmöglichkeiten der vorgetragenen Texte und die Spielräume der Interpretation ganz erheblich.
Zwischenresümee Ein Resümee der Relation zwischen Innen und Außen in der höfischen Literatur kann nur ambivalent ausfallen. Ingrid Hahn ist nachdrücklich darin zuzustimmen, dass es aussichtslos erscheint, »die Voraussetzungen des Erkennens innerhalb der weltlichen Dichtung der höfischen und späthöfischen Zeit auf eine Formel zu bringen […]. Zu vielfältig sind die Situationen des Erkennens, zu verschieden die Bedingungen, unter denen erkannt wird.«¹³² Eine kohä-
130 Margreth Egidi: Der performative Prozess. Versuch einer Modellbildung am Beispiel der Sangspruchdichtung. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema. Frankfurt a.M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), S. 13–24, hier S. 21. 131 Egidi: Der performative Prozess, S. 21f. 132 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 440.
Zwischenresümee
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rente Konzeptualisierung ist den Texten nicht zu entnehmen. Zurückzuweisen ist deshalb auch der Versuch, einen literaturgeschichtlichen Wandel von einer Eindeutigkeit oder Lesbarkeit höfischer Figuren zu einer ›Unleserlichkeit‹, einer Täuschungsanfälligkeit oder Undurchschaubarkeit nachweisen zu wollen. Es trifft zwar zu, dass in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur, also im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, Täuschung und Intrige einen größeren Raum einnehmen als zuvor und dass beidem daher eine größere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Doch das heißt in keiner Weise, dass zuvor eine Kongruenz zwischen Innen und Außen in der Literatur vorgelegen hätte. Zwei Aussagen stehen sich in der höfischen Literatur unvermittelt gegenüber: Einerseits wird die Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Zustand beziehungsweise Absicht unterstellt; Wendungen wie ›des lîbes gebærde uns dicke bescheit, / hât ein man lieb ode leit‹¹³³ scheint das »unerschütterliche Vertrauen in die Wahrheit der Dinge, die Repräsentanz des Seins in Natur und Geschichte«¹³⁴ zu dokumentieren. Doch vernehmbar wird – oft innerhalb eines einzigen Textes – eben auch die diametral entgegengesetzte Einschätzung: ›Am sehen triuget man sich dicke.‹¹³⁵ So stehen den Figuren, die keine Diskrepanz zwischen Innen und Außen aufzuweisen scheinen, andere gegenüber, in deren Inneres die Blicke der anderen nicht einzudringen vermögen und deren Körper keinerlei Aufschluss darüber gibt, ob sie Freund oder Feind sind. Es scheint zu keiner literarhistorischen Epoche und innerhalb keiner Gattung Konsens über die »Wahrheit der Dinge, die Repräsentanz des Seins in Natur und Geschichte«¹³⁶ zu geben. Das ist letztlich ein Befund, der nur den zu überraschen vermag, der glaubt, mittelalterlicher Literatur stünde ein geringeres Spektrum an Denk- oder Darstellungsmöglichkeiten zur Verfügung als anderen Literaturen. Das aber ist an den untersuchten Texten nicht nachzuweisen. Anders als Stock suggeriert, der schreibt: Die dahinterstehende ›Anthropologie‹ [gemeint ist die »narrative Kreation und Kundgabe von Enites seelischem Innenraum« im ›Erec‹ Hartmanns von Aue], nämlich dass Menschen einen verbal veräußerbaren Innenraum haben, der in Konflikt zur Außenwelt stehen kann – die allgemein dem höfischen Roman zugesprochene Neuerung – ist hier aber nicht
133 Der Wälsche Gast, v. 913f. 134 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 395. 135 Der Wälsche Gast, v. 939. 136 Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 395.
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unhinterfragte homogene Grundlage des Entwurfs, sondern findet ihren unmittelbaren Kontrast im akzentuiert und thematisiert schematischen Entwurf Erecs,¹³⁷
ist es in meinen Augen durchaus keine Neuerung des höfischen Romans, dass Figuren über einen Innenraum verfügen, der in Konflikt zur Außenwelt stehen kann. Dass innerhalb eines Textes die eine Figur in dieser Weise beschrieben wird und eine andere anders, ist auch kein Hinweis auf eine »inhomogene ›Anthropologie‹,«¹³⁸ sondern ein Merkmal des literarischen Vermögens eines Autors. Muss man sich wirklich darüber wundern, dass die Autoren mittelalterlicher Romane und Epen über dieses Vermögen verfügt haben? Selbst der Begriff der ›Anthropologie‹ scheint mir zur Bezeichnung dessen, was sich in den Darstellungen von Innen-Außen-Bezügen abzeichnet, zu ungenau zu sein. Denn offenbar ziehen die Autoren weder sie, noch Begriffe wie die ›sêle‹ oder das ›herze‹ oder allegorische Darstellungen dazu heran, eine solche Anthropologie zu entwickeln. Die im Rahmen dieses Kapitels untersuchten Texte sehen offenbar ihre »gesellschaftliche Funktion weniger in der didaktischen Vermittlung […] als vielmehr in den Möglichkeiten spielerischer Entdeckung, die [sie] bereitstellte.«¹³⁹ Zu diesem ›spielerischen‹ Gestaltungsfreiraum gehört das Erzählen von Lesbarkeit ebenso wie das von Täuschung – und auch dem vermittlungslosen Nebeneinander des einen mit dem anderen. Entscheidend ist, dass sowohl das Innere einer Figur, das mit dem Äußeren verschmolzen an ihrem Körper aufscheint wie der Körper Iblis’, als auch das Innere des Verräters, das von den anderen Figuren nicht erkannt werden kann wie das des schönen Genelun, stets zum Äußeren werden muss, damit es Gegenstand der Darstellung werden kann. Dante formuliert das in seinem ›Convivio‹ an einer Stelle, an der er über das Verfahren der Sinnerschließung bei der Deutung des anagogischen Schriftsinnes reflektiert, folgendermaßen: È [das Fortschreiten zum allegorischen Sinn, ohne zuvor den buchstäblichen Sinn durchmessen zu haben] impossibile, però che in ciascuna cosa che ha dentro e di fuori è impossibile venire al dentro, se prima non si viene al di fuori: onde, con ciò sia cosa che ne le scritture
137 Markus Stock: Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland u. a. Berlin, New York 2010 (Trends in medieval philology 19), S. 188–203, hier S. 202f. 138 Stock: Person, S. 203. 139 Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik VIII), S. 553–589, hier S. 587.
Zwischenresümee
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[la litterale sentenza] sia sempre lo di fuori, impossibile è venire a l’altre, massimamente a l’allegorica, sanza prima venire a la litterale.¹⁴⁰
Für literarische Figuren, die aus nichts anderem als aus Sprache bestehen, gilt das in noch weit höherem Maße. Denn ihre Trauer muss, um an eine wahrnehmbare Außenseite zu gelangen, nicht nur Körper, sondern auch Sprache werden. Sie erst macht das (verborgene) Innere zum Inneren, nur indem es sich in ihr veräußerlicht, wird es plastisch und räumlich. Dass die Ausdehnung dieses literarischen Innenraumes, indem die Sprache es ihrer Sukzessivität unterwirft, notwendig flächig und in die Linearität gezwungen wird, ist das eine. Das andere ist, dass jede Art von literarischer Tiefe, von Verinnerlichung, von Ausdehnung, stets nur durch diese Flächigkeit und Linearität überhaupt erzeugt wird.
140 Dante Alighieri: Convivio/Gastmahl. Zweites Buch, übersetzt und kommentiert von Thomas Ricklin. Hamburg 1996, II,i,9. »Dies ist unmöglich, weil bei jedem Ding, das ein Innen und ein Aussen hat, es unmöglich ist, zum Innen zu kommen, wenn man nicht zuerst zum Aussen kommt: da in den Schriften (die buchstäbliche Aussage) immer das Aussen ist, ist es unmöglich, zu den anderen, besonders zur allegorischen [Aussage] zu kommen, ohne zuerst zur buchstäblichen zu kommen.«
6 Erzählte Emotionen, fingierte Innerlichkeit: Die ›Innerlichkeit‹ von Emotionen in fiktionalen Erzähltexten Die vorangegangenen Kapitel haben bereits das grundsätzliche Problem der Darstellung innerer Prozesse deutlich werden lassen: Es gibt nichts, was die Erzählung nicht zu ihrem Gegenstand machen könnte – sie kann von buchstäblich allem erzählen und selbstverständlich auch von dem, was sich im Inneren einer Figur vollzieht. Um das tun zu können, muss jedoch das Innere zum Äußeren, muss es erzählerisch ›veräußerlicht‹ werden. In besonders plastischer und anschaulicher Weise lässt sich dieser – an sich ja triviale – Sachverhalt am Beispiel der Emotion illustrieren. Denn sie kann sich stets nur in der Repräsentation mitteilen – entweder, indem sie sich körperlich manifestiert oder indem sie ausgesprochen wird. Emotion gibt es, so ließe sich zugespitzt formulieren, immer nur a ls Repräsentation. Ob das nur für die Emotionen gilt, die wir um uns herum wahrnehmen oder auch für unsere Wahrnehmung unserer eigenen Emotionen, ist in der Forschung umstritten.¹ Die Auseinandersetzung mit Emotionen in der Literatur ist im Zusammenhang der literarischen Konzeptionen des Ungegenständlichen gleich in mehrfacher Hinsicht relevant: Zunächst ist die Emotionsdarstellung eine der vielen Optionen, die dem Autor zur Verfügung steht, um dem Rezipienten Einblick ins Innere einer Figur zu verschaffen. Er kann dieses, wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, als Raum gestalten, durch den er die Blicke seiner Zuhörer oder Leser lenkt. Er kann das Innere als einen konkreten Gegenstand wie das herze oder das Äußere als Kleid visualisieren. Damit öf f net er seine Figur gleichsam den Blicken des Rezipienten, damit dieser ihr Inneres ›sehen‹ kann, so wie es Heinrich von Morungen mit seinem herzen tut, in dessen Inneres er sein textinternes Publikum blicken lässt: West ich, ob ez verswîget möhte sîn, ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen. der enzwei braeche mir daz herze mîn, der möhte sî schône drinne schouwen. (MF 127,1–6)
1 Weiterführende Hinweise auf die jeweiligen Positionen innerhalb der Emotionsforschung finden sich bei Schnell: Historische Emotionsforschung.
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Erzählte Emotionen, fingierte Innerlichkeit
Das Innere wird hier dadurch sichtbar, dass es eine gegenständliche Gestalt erhält und so bildhaft vor das Auge des Betrachters treten kann. Doch ein Autor kann, um das Innere einer Figur literarisch zu gestalten, auch zeigen, wie sich dieses nicht i m, sondern a m Körper der Figur sichtbar manifestiert. Der Körper wird dann gleichsam zum Zeichen des Inneren, das sich an ihm durch Tränen, durch Erröten oder Erblassen manifestiert. In diesem Fall wird die Beschreibung des Körpers und des Verhaltens der Figuren dazu genutzt, sowohl den anderen Figuren gegenüber als auch dem Rezipienten vor Augen zu führen, in welchem Zustand eine Figur sich befindet. Dieses Verhalten kann im Zerreißen von Kleidern bestehen, im Erbleichen, im Weinen, im Wechsel der Gesichtsfarbe, in Ohnmachtsanfällen oder im Lachen. Durch die Darstellung von Verhalten oder Erscheinungsbild einer Figur wird dem Rezipienten Aufschluss über das gegeben, was sich innerhalb einer Figur abspielt. Von dieser Möglichkeit macht die mittelalterliche Literatur vor allem in der Epik Gebrauch. An ihr beweist sich das verstärkte Interesse von Dichtern, verstanden als Sprach-Experimentatoren oder auch nur kunstvoll mit dem Zeichensystem der Sprache Arbeitende, an bestimmten Wirklichkeitsbereichen; im vorliegenden Fall dem Bereich der Emotionalität. Dieses verstärkte Interesse einzelner Autoren geht vermutlich jeweils zusammen mit dem eines gewissen Publikumskreises.²
Dabei ist jedoch der Ort des inneren Geschehens nicht leicht zu bestimmen: Kann wirklich, wenn davon erzählt wird, dass Enite schamrot wird, davon die Rede sein, dass sowohl für die sie umgebenden Figuren als auch für den Rezipienten des Textes anschaulich wird, was sich i n Enites Innerem vollzieht? Zwar wird der Zustand der Figur einerseits als psychische Regung beschrieben und natürlich verstünden wir, wenn uns in Hartmanns ›Erec‹ erzählt wird, dass Enite vor der versammelten Schar der Artusritter errötet, dass sie sich schämt, auch ohne dass der Erzähler explizit von Scham sprechen muss. Andererseits aber kann sich Enites Scham ausschließlich dadurch mitteilen (und zwar sowohl dem Rezipienten des Textes als auch ihren Beobachtern im Text, also hier: den Artusrittern), dass sie am Körper der Figur manifest wird.³ Deshalb ist die Vorstellung, die Darstellung der Emotion einer Figur ›verweise‹ auf die entsprechende Emotion der Figur, missverständlich und ungenau:
2 Joachim Knape: ›Empfindsamkeit‹ in Mittelalter und früher Neuzeit als Forschungsproblem. Eine Bestandsaufnahme. In: Liebe in der Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft u. a. Tübingen 1987, S. 221–242, hier S. 226. 3 Zwar kann ein Erzähler die Regungen einer Figur benennen, ohne ihre körperlichen Symptome dabei zu beschreiben. Doch dann teilt sich ihr innerer Zustand eben auch nur durch Bennenung und nicht durch Beschreibung mit.
Was repräsentiert eine erzählte Emotion?
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Es ist unrichtig, über die Darstellung in mittelalterlichen Texten zu sagen, die Affekte ›äußerten‹ sich auf diese Weise. Körperhafte Vorgänge erscheinen dort nicht als ›Ausdruck‹ oder ›Symptom‹ von Seelischem, sondern innere und äußere Bewegungen verlaufen parallel, die einen können für die anderen eintreten. […] Der Körper ›spricht‹ nicht und ›drückt‹ nichts ›aus‹, sondern die Reaktionen des Körpers ›begleiten‹, was selbst nicht (nur) körperhaft ist.⁴
Deshalb sind die Inszenierungen innerer Zustände wie zorn, haz oder scham weder einem Außen noch einem Innen eindeutig zuzuordnen. Sie sind zwar ›innen‹, sofern die Regung, die sich am Körper durch Zittern, Erblassen oder Weinen manifestiert, eine innere ist. Andererseits ist die Manifestation einer inneren Regung stets notwendig an ein Außen gebunden, denn nur dadurch, dass sie sich au ßen der Wahrnehmung von Beobachtern (anderen Figuren oder dem Rezipienten) mitteilt, nimmt die in nere Regung konkrete Gestalt an.⁵ Zu diesem generellen Problem, wie auf ein Inneres zu schließen ist, dessen Indikatoren und Symptome sich ausschließlich auf einer körperlichen Ebene artikulieren, kommt noch ein anderes, speziell literaturwissenschaftliches hinzu: Was adressiert in Bezug auf eine literarische Figur die Rede von einem Innen, wenn diese doch immer nur aus Erzählerrede, also aus Sprache besteht? Wenn ein Mensch errötet und dieses Erröten das Einzige ist, was wir (sinnlich) von seiner Emotion zu erfassen vermögen, so wird unser Zugang zu dem, was die Körpersignale repräsentieren, noch zusätzlich problematisiert, wo wir es nicht mit Menschen, sondern allein mit Besch reibu ngen oder Model len von Menschen und mit Beschreibungen oder Modellen von Emotionen zu tun haben wie im Falle der Literatur. Denn dort teilt sich die körperliche Manifestation ja nicht u n m it telba r, sondern immer nur mittelbar, nämlich über die Sprache, über den Erzähler und über narrative Inszenierungen mit. Ist also beispielsweise das Erröten stets eine Repräsentation der Scham, so ist die Erzählung davon die Repräsentation einer Repräsentation. Die Sache ist also verwickelt.
6.1 Was repräsentiert eine erzählte Emotion? Vor allem Teile der amerikanischen Kulturwissenschaft sehen kein Problem im Verhältnis zwischen dem, was die Literatur repräsentiert und der literarischen
4 Müller: Höfische Kompromisse, S. 340. 5 Zu Gegenstand und Problemen literarischer Emotionsdarstellungen vgl. auch: Katharina Philipowski: Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. PBB 128 (2006), S. 251–274. Einzelne Überlegungen, die Gegenstand dieses Kapitels sind, habe ich dort bereits zur Diskussion gestellt.
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Erzählte Emotionen, fingierte Innerlichkeit
Repräsentation selbst. Deshalb wird von ihnen die Empfehlung ausgesprochen, »to stop worrying so much about theoretical take.«⁶ Zurückgewiesen werden damit Skrupel, die Darstellungen von Emotionen aus verschiedenen Kontexten wie Literatur, bildender Kunst und faktualen Texten aufeinander zu beziehen. Denn weil Emotionen immer schon und immer nur als Repräsentationen, also vermittelt, auftreten könnten und nie als unmittelbares, unverfälschtes Gefühl, sei es nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht nötig, zwischen Emotionen und den Repräsentationen von Emotionen zu differenzieren. Auch dort, wo sie unmittelbar und echt zu sein scheinen, seien Emotionen kulturell geformt, codiert, konventionalisiert zu Repräsentationen gleichsam ihrer selbst.⁷ Lee Patterson zufolgt verfüge gerade die Literaturwissenschaft aufgrund ihrer Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition über die besten Voraussetzungen dafür, auch die Repräsentationen menschlicher Emotionen verstehen und beschreiben zu können: I do not mean to suggest that only literature provides a deep understanding of human psychology. But it is, or has been, a primary means by which literate persons negotiate their experience. And the cultural tradition in which literary critics are trained provides them with a privileged access to the representation of human psychology.⁸
Dieselben Prämissen liegen auch dem Band ›Representations of Emotional Excess‹ zugrunde. Dort wird beklagt, dass der Großteil der vorliegenden Forschungsliteratur zu Emotionen in der Literatur »can be taken as contributions to the history of ideas rather than to the cultural anthropology of emotions,«⁹ dass literarische Emotionsdarstellungen also nicht als Gegenstand einer historischen Anthropologie¹⁰ reflektiert worden seien. In diesem Sinne, also als Beitrag zur
6 Barbara H. Rosenwein: Writing without fear about early medieval emotions. The American Historical Review 107/3 (2002), S. 229–234, hier S. 231. Zum Problem der sozialen Konstruiertheit von Emotionen vgl. auch: Angers Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages. Hrsg. von Barbara Rosenwein. Ithaca, London 1998. 7 Vgl. zur Diskussion um die kulturelle Vermitteltheit von Emotionen: Anne-Charlott Trepp: Gefühl oder kulturelle Konstruktion. Überlegungen zu einer Geschichte der Emotionen. In: Kulturen der Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Gesa Stedmann und Margarete Zimmermann. Stuttgart 2002 (Querelles 7), S. 86–103, besonders S. 89ff. 8 Lee Patterson: Chaucer’s Pardoner on the Couch: Psyche and Clio in Medieval Literary Studies. Speculum 76 (2002), S. 638–680, hier S. 678, Hervorhebung im Original. 9 Representations of Emotional Excess. Yearbook of Research in English and American Literature 16 (2000), hrsg. von Jürgen Schlaeger, S. 1. 10 Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung, in: Wahrnehmen und Handeln, S. 337–366, hier S. 339. Vgl. hierzu auch Kienings sechs Thesen zur methodologischen und hermeneutischen Verortung anthropologischer Perspektiven in der Mediävistik, von denen
Was repräsentiert eine erzählte Emotion?
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historischen Anthropologie, richtet sich das Erkenntnisinteresse auf »representations of emotions as strategies to set up efficient paradigm scenarios with which cultures channel and regulate their collective emotional needs.«¹¹ Das Problem liegt auf der Hand: Wenn eine literarische Emotionsdarstellung die Repräsentation einer Repräsentation ist, sich also verschiedene Formen der Codierung oder Vermittlung in ihr überlagern, dann drängt sich die Frage auf, welche Terminologien, Modelle und Theorien zu ihrer Untersuchung herangezogen werden sollten, oder anders formuliert, ob die Emotionsdarstellung Gegenstand der Psychologie beziehungsweise Emotionstheorie, der Historischen Anthropologie, der Semantik, oder der Literaturwissenschaft ist. Selbst unter der Maßgabe, dass menschliche Emotionen nur als vermittelte und bereits codierte empfunden werden können (und die zahlreichen Gründe, dies nicht zu tun, möchte ich hier nicht diskutieren), wäre an einer Differenzierung zwischen verschiedenen Formen der Repräsentation (etwa der menta len oder kör perlichen Repräsentation von Emotionen einerseits und der spezifisch l itera r ischen Repräsentation von Emotionen in der Literatur andererseits) festzuhalten, weil Repräsentation durchaus nicht gleich Repräsentation ist. Die Repräsentation, die eine Emotion in meinem Wahrnehmungsapparat durchläuft, bevor sie mir zu Bewusstsein kommt, ist nicht dieselbe wie die literarische Gestaltung, die sie im Zuge einer Narrativierung erfährt. Aus diesem Grund ist es auch problematisch, im Moment der Verschlüsselung ein missing link zwischen Psyche und literarischem Entwurf zu sehen: Die Psychoanalyse erforscht in erster Linie die Emotion realer Menschen. Die Bedingungen eines Transfers ihrer Kategorien auf literarische Texte bereiten ihr jedoch insofern keine Probleme, als sie Texte ebenso wie Träume oder sprachliche Fehlleistungen als Material behandelt, dessen Verschlüsselungen unbewussten Regeln folgen.¹²
Selbst wenn man damit einverstanden wäre, dass literarischen Texten Verschlüsselungen zugrunde liegen, die (wessen? welchen?) unbewussten Regeln folgen, wären diese allein durchaus noch keine stabile heuristische Basis für eine Analogisierung von Menschen und Figuren. Denn die Struktur von
die erste lautet: »Anthropologische Perspektiven beziehen sich wissenschaftssystematisch auf Ansätze einer interpretativen Kultur- und Sozialanthropologie.« Christian Kiening: Gewalt und Heiligkeit. Mittelalterliche Literatur in anthropologischer Perspektive. In: Wahrnehmen und Handeln, S. 19–39, hier S. S. 22. 11 Representations of Emotional Excess, S. 3. 12 Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts. Berlin, New York 2006. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39), S. 48.
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Träumen, sprachlichen Fehlleistungen und literarischen Texten kann nur auf der Grundlage eines Strukturbegriffes als analog bezeichnet werden, der so großzügig gehandhabt wird, dass er beginnt, nichtssagend zu werden. Rüdiger Schnell zufolge haben wir es in der Debatte um das Verhältnis von Emotionen und Repräsentationen von Emotionen mit einem »generellen Problem der (literar-) historischen Emotionsforschung zu tun: mit der ungeklärten Relation zweier Arten von Codierung bzw. mit einer doppelten Codierung.«¹³ Denn nicht nur die alltagsweltlichen nonverbalen (gestisch-visuellen) Ausdrucksformen von Emotionen (erste ›Codierung‹) erfahren eine Veränderung dadurch, daß sie in Texten bzw. Bildern sprachlich, bzw. ikonographisch vermittelt werden (zweite ›Coderung‹), sondern auch die konventionellen verbalen Ausdrucksformen von Emotionen (erste ›Codierung‹) werden aufgrund der rhetorisch-literarischen Stilisierung (zweite ›Codierung‹) transformiert.¹⁴
Schnell bündelt seine Überlegungen zu einem Dreiphasenmodell von Repräsentationen, die im Falle literarischer Emotionsdarstellungen durchlaufen werden und unterscheidet zwischen der Repräsentation 1. des Gefühls einer Person in der Alltagswelt (das uns freilich kaum direkt zugänglich ist); 2. des alltagsweltlichen Ausdrucks dieses Gefühls in Form von körpersprachlichen Zeichen (Tränen, Schreien, Zittern, Erröten u.a.), von verbalen Äußerungen oder von Handlungen […]. 3. der (textuellen oder bildlichen) Darstellung des Gefühls (›representations‹).¹⁵
Schnells Differenzierung ist hilfreich, um besser erkennen und adressieren zu können, welche unterschiedlichen Formen von Repräsentationen sich in der literarischen Emotionsdarstellung überlagern, berühren und durchqueren. Allerdings würde ich gegenüber Schnell, der nur zwei verschiedene Formen der Codierungen konstatiert (nämlich die der Emotion zum körperlichen Emotionsausdruck und die vom körperlichen Emotionsausdruck zur textuellen oder bildlichen Darstellung der Emotion) eine zusätzliche Unterscheidung einführen, nämlich die einer Versprach lichu ng der Emotion (im Falle der eigenen¹⁶)
13 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 177. 14 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 177. Sperrungen im Original. 15 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 179. 16 Denn in der Versprachlichung der eigenen Emotion bedarf die Adressierung nicht eines Umwegs über den Ausdruck: Ich kann, ohne Symptome meines Zorns körperlich zu zeigen, diesen sprachlich mitteilen. Wenn ich jedoch über den Zorn eines anderen spreche, habe ich keinen unmittelbaren Zugang zu dessen Emotionen, sondern kann immer nur durch seine körperlichen
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beziehungsweise des körperlichen Emotionsausdrucks (im Falle eines anderen) und einer na r rat iven Einbindu ng dieser Versprachlichung oder physischen Manifestation einer Emotion. So sind beispielsweise Tränen in aller Regel Zeichen für Trauer. Das Weinen einer Person legt die Schlussfolgerung nahe, dass sie traurig ist (›sie ist traurig‹). Der Sachverhalt des Traurig-Seins kann sich allerdings nicht allein durch Körperzeichen, sondern auch sprachlich mitteilen, nämlich, wenn die traurige Person ihn nicht durch Weinen, sondern durch eine Äußerung mitteilt: (›sie sagte, sie sei traurig‹). In der narrativen Einbindung, also der literarischen Repäsentation, wird das Körperzeichen, z.B. Weinen, in den umfassenderen Kontext der Emotionsdarstellung und schließlich der Figurenkonzeption eingebunden (z.B. Kriemhilts blutige Tränen, das tränennasse Gewand, in dem sie Rüdiger empfängt, Hagens Zorn, Rüdigers Verzweiflung etc.). Mit dieser Differenzierung würde sich folgendes Modell der Repräsentationen von Emotionen ergeben.¹⁷
6.1.1 Körperliche Repräsentation Diese Ebene ist eine, die allein Gültigkeit für Menschen besitzt, denn sie setzt zumindest einen Körper voraus und – je nach Ansicht¹⁸ – auch eine Psyche, die
Symptome oder durch sprachliche Mitteilung, also durch körperliche oder sprachliche Repräsentationen, davon Kenntnis haben. 17 Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis darauf, dass es in der Emotionspsychologie eine Vielzahl unterschiedlicher Systematisierungen verschiedener Arten von Emotionen und verschiedener Stufen der Repräsentation von Emotionen gibt. Es geht mir hier jedoch nicht darum, diese darzustellen oder zu diskutieren, sondern allein darum, jene Repräsentationsformen vorzustellen, die für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionsdarstellungen von Belang sind. Was ich im Folgenden vorstelle, ist also keine emotionspsychologische Systematisierung (weshalb ich auch keinen Überblick über die emotionspsychologische Forschung gebe. Man vergleiche hierzu Schnell: Historische Emotionsforschung; Eming: Emotion und Expression, S. 32–75 und Koch: Trauer und Identität, S. 18–78), sondern ein literaturwissenschaftliches Arbeitsmodell von aufeinander aufbauenden Stufen von Repräsentationen, die innerhalb der literarischen Emotionsdarstellungen unterschieden werden können und – wie ich meine – unterschieden werden sollten. 18 »Die behavioristische Richtung insgesamt kennzeichnet Emotionen durch die je unterschiedlichen Anlässe und Folgen im Verhalten von Personen: Emotionen werden als Verhaltensweisen begriffen. Aber auch in den Geschichtswissenschaften werden Gefühle vor allem als Handlung vorgestellt. […] Nach dieser Auffassung existieren Emotionen nur als ein äußerlich sichtbares Phänomen. Folgerichtig würden dann aber Emotionen und die Ausdrucksformen von Emotionen in eins zusammenfallen. Damit wäre der Formel ›Codierung von Emotion‹, sofern darunter
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sich am Körper manifestiert. Während manche Teile der Forschung davon ausgehen, dass eine Emotion in der Psyche entsteht und ihre Symptome sich a m Körper zeigen können, aber nicht müssen, würde eine andere Fraktion behaupten, dass es, beispielsweise, keinen Zorn jenseits seiner körperlichen Zeichen gibt (die dann freilich keine Zeichen mehr wären), dass die Emotion also allein i n ihren somatischen Manifestationen besteht, also in dem, was sich sichtbar mitteilt. Diese Position ist jedoch wenig überzeugend, weil sie nicht erklären kann, warum wir unsere eigenen Emotionen wahrzunehmen vermögen, auch wenn sie sich am Körper nicht manifestieren: So kann ich traurig sein (und meine Traurigkeit sprachlich mitteilen), ohne dass es sichtbare Symptome dieser Trauer geben müsste. Die körperliche Repräsentation ist diejenige, durch die eine Emotion aus dem subjektiven Erleben eines Menschen heraustritt, für andere wahrnehmbar wird und gleichsam an der Oberfläche des Körpers als Zeichen der Emotion erscheint.
6.1.2 Sprachliche Repräsentation Die zweite für die Untersuchung von literarischen Emotionsdarstellungen relevante Form der Repräsentation von Emotionen besteht in der Sprache. Menschen können Emotionen nicht nur haben, körperlich äußern und umgekehrt Emotionen an anderen wahrnehmen, sondern auch benennen, über Emotionen sprechen und sich über sie austauschen. Damit ist eine zusätzliche Ebene der Repräsentation von Emotionen gegeben, zumindest, wenn zugestanden werden soll, dass Emotionen eine Existenz jenseits des körperlichen Ausdrucks und jenseits der Sprache zukommt: Gibt es überhaupt ein ›Fühlen‹ jenseits von Sprache? Die Überlegungen der Sprachphilosophie (z.B. eines Wittgenstein), die Diskussion um den ›linguistic turn‹ und die Position des Konstruktivismus legen es nahe, diese Frage mit Nein zu beantworten. Doch sollte man […] die Möglichkeit einer der Sprache vorgängigen bzw. unzugänglichen Gefühlswelt zumindest offenhalten.¹⁹
Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich meine eigenen Emotionen sprachlich repräsentiere, indem ich sage: ›Ich bin traurig‹ oder ob ich die Emotion eines
das zeichenhafte Verweisen von Sichtbarem auf Unsichtbares verstanden wird, die Grundlage entzogen.« Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 184. 19 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 186.
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Zweiten oder Dritten repräsentiere, indem ich sage: ›Du bist traurig‹ oder ›Er ist traurig.‹²⁰ Wichtiger als die Frage, wessen Emotionen das Objekt der Versprachlichung bilden, ist der Aspekt der Vermittlung selbst, denn die benannte, versprachlichte, mitgeteilte Emotion ist der Emotion gegenüber einer zusätzlichen (eben einer sprachlichen) Vermittlung unterworfen. Das, womit wir es hier zu tun haben, ist nicht die Emotion selbst und auch nicht deren sichtbare Manifestation, sondern die sprachliche Verständigung über sie. Körperliche und sprachliche Repräsentation sind hier als Alternativen verstanden, insofern die sprachliche Verständigung die körperliche Repräsentation durchaus nicht voraussetzt. So kann ich beispielsweise über den Zorn einer Person dadurch unterrichtet sein, dass ich beobachte, wie sich dessen Zeichen am Körper des Betreffenden zeigen oder dadurch, dass dieser mich über seinen Zorn unterrichtet. Ich muss die körperlichen Zeichen des Zorns durchaus nicht gesehen haben, um um den Zorn zu wissen. Gerade literarische Emotionsdarstellungen setzen ja das Vermögen voraus, sinnliche Erfahrung durch Sprache zu ersetzen.
6.1.3 Narrative Repräsentation Menschen können Sprache nicht allein dazu nutzen, sich über einen Gegenstand auszutauschen oder etwas mitzuteilen, sondern auch, um zu erzählen und im Akt des Erzählens Sachverhalte hervorzurufen. Wie jeder andere Gegenstand kann auch eine Emotion durch Sprache erschaffen werden. Gemeint ist damit nicht, dass Emotionen bei einem Hörer, einem Publikum oder beim Rezipienten durch eine Erzählung hervorgerufen werden, sondern dass der erzählten Emotion selbst (wie allem anderen, was zur Ebene der histoire gehört) erst und allein dadurch, dass sie erzählt wird, Existenz verliehen wird. Die narrative Repräsentation unterscheidet sich von der sprachlichen dadurch, dass sie auf einer Ebene der Meta-Kommunikation angesiedelt ist. Die Fiktion bezieht sich nicht auf Dinge, sondern auf Sprache: Die Erzählung bildet nicht das Sichtbare ab, sondern macht sichtbar. So gesehen ist auch nicht klar, welches Verhältnis zwischen der narrativ erschaffenen Emotionsbeschreibung und einer Emotion besteht. Während diese nämlich immer von irgendjemandem empfunden wird, ist nicht leicht zu
20 Dass Menschen Emotionen fingieren können und andere ihre fingierten Emotionen für echte halten oder aber als fingierte durchschauen können, lasse ich der Einfachheit halber außer Betracht.
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bestimmen, wessen Emotion die literarische Emotionsdarstellung ist. Ist sie die Emotion einer Figur? Oder die au f eine Figur projizierte Emotion des Erzählers? Oder die des Autors? Oder entsteht sie erst im Akt der Rezeption auf Seiten des Rezipienten? Oder ist sie einfach gar keine Emotion, so wie ein beschriebener Baum kein Baum ist? Diese Fragen sollen hier nicht weiter verfolgt, sondern an späterer Stelle aufgegriffen werden. Ich möchte nur, bevor ich darstelle, wie und was die Forschung zu Emotionen in der Literatur diskutiert hat, darauf hinweisen, dass die drei Ebenen der Repräsentation mehrfach aufeinander bezogen sind. Jede weitere Ebene setzt die vorhergehende voraus. So setzt das Vermögen zu erzählen und Emotionen in eine Erzählstruktur einzubinden zunächst voraus, dass Emotionen sprachlich adressiert werden können. Und es kann wiederum nur dasjenige sprachlich bezeichnet werden, was einen Namen besitzt und konsensuell als Emotion verstanden wird. Doch damit nicht genug – alle drei Formen der Repräsentation sind überdies auch historischen, sozialen und kulturellen Einflüssen und Veränderungen unterworfen. Wie ich meinen eigenen Zorn wahrnehme, wie ich ihn und den Zorn anderer bezeichne und bewerte und wie ich von Zorn erzähle, ist historisch, sozial und kulturell variabel. Daraus lassen sich mehrere grundlegende methodologische Probleme ableiten.
a.) Terminologie Zunächst (und am einfachsten darzustellen) ist die Problematik der Ter m ino log ie: Wie soll das, was in mittelalterlichen Erzähltexten thematisiert wird, begrifflich gefasst werden? Sind zorn, nît, haz, scham und minne Gefühle, Emotionen oder Affekte? In den Texten selbst wird stets nur von trûren, zorn, scham etc. gesprochen, kein abstrakter, verallgemeinernder Begriff wird auf die Erscheinungen angewandt. Sie entziehen sich jener Abstraktion, die der moderne Rezipient begrifflich vornehmen muss. Das trifft auch auf lateinische Termini zu, etwa auf ›affectio‹: Das mittelalterliche Latein scheint kein Wort zu kennen, das dem neueren Terminus ›Emotion‹ entspricht.²¹ Bei dem Terminus affectio stoßen wir auf ähnliche Schwierigkeit wie bei den heutigen Bezeichnungen Emotion, Gefühl oder Affekt. Denn affectio kann einerseits als Oberbegriff die Gesamtheit der Affektivität bezeichnen, andererseits einzelne Affekte/Emotionen benennen […].²²
21 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 207. 22 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 209f.
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Deshalb stellt sich in der Forschung zu Emotionen in mittelalterlichen Erzähltexten die Frage, »ob die Volkssprache überhaupt solche abstrahierenden Begriffe kennt (vgl. mhd. muot). Nicht einmal in diesem Bereich ist es sicher, ob ein Wechsel der Begriffe auch einen Wechsel an Konzepten anzeigt.«²³ Die Forschung bezeichnet das, was der Körper der Figur zeigt, in aller Regel entweder als Emotion oder Affekt und ist in Streit darüber geraten, welchem Begriff der Vorzug zu geben ist. Der Begriff ›Emotion‹ wird auf der einen Seite für besonders geeignet gehalten: Der Terminus ›Emotion‹ wird hier wegen seiner relativen Neuralität gegenüber anderen, bedeutungsverwandten Wörtern wie Gefühl, Empfindung, Affekt, Trieb als Leitbegriff bevorzugt. […] Die semantische Differenz von Emotion und Gefühl im Deutschen zeigt sich bereits an der Redeweise, nach der Gefühle ›verletzt‹ werden können, während sich von Emotionen Gleiches nicht sagen lässt.²⁴
Und: Strittig ist, ob ›Fühlen‹ physisch oder psychisch gedacht wird, hinzu kommt die Frage, welche Wertungen und Bedeutungen mit dem Ausdruck ›Gefühl‹ (›tief‹ und ›echt‹) im Unterschied zum ›Affekt‹ (›oberflächlich‹ und ›artifiziell‹) verbunden werden. Demgegenüber erscheint der Terminus ›Emotionalität‹, obwohl er tendenziell mit behavioristischen Modellvorstellungen der Emotionspsychologie besetzt ist, vergleichsweise neutral, zumal wenn man, wie es hier geschieht, von der Grundbedeutung ›Bewegung‹ (lat. motio) ausgeht. ›Emotionalität‹ dient in diesem Sinne als Arbeitsbegriff, der verschiedene Felder und Ebenen (affektive Reaktionen, psychische Prozesse, Gefühlszustände) umfaßt, ohne daß die Analysen einer vorschnellen Wertung oder einer unangemessenen Systematisierung unterworfen werden.²⁵
Genau gegen diese Einschätzung sind jedoch von anderer Seite Einwände erhoben worden: Zunächst ist festzuhalten, daß das terminologische Feld ›Gefühl, Emotion, Emotionalität‹ an neuzeitliche Kategorien geknüpft ist, die nicht ohne weiteres auf mittelalterliche Verhältnisse zurückprojiziert werden können. Die Diskurse der Empfindsamkeit, der Roman-
23 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 234. 24 Ingrid Kasten: Einleitung. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten. Berlin, New York 2003 (Trends in medieval philology 1), S. XIII– XXVIII, hier S. XIII. 25 Claudia Benthin, Anne Fleig, Ingrid Kasten: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von dens. Köln 2000, S. 9. Der neue von Ingrid Kasten herausgegebene Sammelband zur Emotionsforschung (Machtvolle Gefühle. Berlin, New York 2010 [Trends in medieval philology 24]) konnte für die vorliegende Arbeit nicht mehr ausgewertet werden.
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tik, der Psychoanalyse, die sich in diese Begrifflichkeit eingeschrieben haben, verstellen den Blick auf die Gegebenheiten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte. Denn wie es zutrifft, daß ›Gefühle‹ historisch veränderlich sind, so haben auch die Diskurse über das ›Gefühl‹ sowie die einschlägigen Terminologien und Systematiken ihre Geschichte. Daher sind bei der Lektüre und Analyse vormoderner Texte die jeweils gültigen zeitgenössischen Diskurse, Termini, Systematiken dessen, was wir heute als ›Gefühl‹ apostrophieren, in vollem Maße zu respektieren. Es scheint daher methodisch fraglich, gerade den Begriff der ›Emotionalität‹ als ›Arbeitsbegriff‹ für die historische Analyse zu empfehlen; […] denn auf diese Weise entgeht man der Gefahr, »daß die Analysen einer vorschnellen Wertung oder einer unangemessenen Systematisierung unterworfen werden« eben nicht.²⁶
Czerwinski spricht sich gegen eine Anwendung von psychologischen Begriffen und Modellen (zu denen er auch den Terminus ›Emotion‹ rechnet) auf die Figuren der mittelalterlichen Erzählliteratur aus: Daß Sinnlichkeit und Abstraktion, Konkretes und Allgemeines, Handeln und Denken eine Identität darin ausmachen, daß sie als ihre Aggregatzustände parataktisch nebeneinander erscheinen, unterscheidet diese Identitätsform grundsätzlich von einer Psychostruktur, unter der die Pole ›Situation‹ und ›Reflexion‹ sich bereits in die syntaktische Systematik einer abstrakt-formalen, durchgreifenden Bezogenheit aufgelöst haben. Zwischen solcher aggregativen und einer systematischen Topik der psychischen Organisation bestehen entscheidende historische Unterschiede.²⁷
Aus diesen Erwägungen leitet er die »Verschiedenheit des Heroen vom bürgerlichen Individuum«²⁸ ab. Rasch wird deutlich, dass es sich bei diesem Unterschied um einen historisch-anthropologischen handelt. Die Heroen (die Protagonisten der mittelalterlichen Erzählliteratur), von denen er spricht, sind ihm
26 Kraß: Neidische Narren, S. 103f. Auch diese ›terminologische Abstinenz‹ ist ihrerseits der Kritik unterzogen worden: »Mit dem Hinweis auf die Alterität vormoderner Affektmodelle ist in jüngster Zeit die programmatische Forderung verbunden worden, die Begriffe Emotion, Emotionalität und Gefühl im Umgang mit historischen Texten ganz zu vermeiden, da diese Termini durch ihre psychologischen Implikationen den Blick auf die Besonderheit vormoderner Verhältnisse verstellten. Dieser Einwand ist jedoch methodisch nicht zwingend. Zwar sind mit der Anwendung moderner Emotionstheorien bestimmte semantische Aspekte des mittelhochdeutschen Emotionsvokabulars nicht zu erfassen […]. Weil aber andererseits mittelalterliche Konzeptualisierungen der Affekte nicht geeignet sind, um zentrale Bedeutungsdimensionen zu erfassen, die diesen Emotionen in Erzähltexten zukommen […] müssen Begriffe gewählt werden, die auch für diese Aspekte offen sind.« Koch: Trauer und Identität, S. 8f. 27 Peter Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes – Kleine Psycho-Topologie des Mittelalters. In: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Hrsg. von Gerd Jüttemann. Weinheim 1986, S. 239–272, hier S. 242. 28 Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes, S. 243.
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»wenn auch fiktive, so darin doch nicht weniger historische Gestalten«²⁹ und in letzter Konsequenz sind sie »feudale Adlige«.³⁰ Ungeachtet dessen, dass auf die Fiktionalität der Heroen explizit Bezug genommen wird, spielt sie für die Diskussion der Anwendbarkeit der Psychoanalyse letztlich doch keine entscheidende Rolle. Die literarische Figur ist Repräsentant des »Hofmannes«: »Was die Mienen bedeuten, hat der Hofmann herauszufinden, nicht warum sie es tun; das macht den entscheidenden Unterschied zwischen Intrige und Psychoanalyse […].«³¹ Czerwinski schlägt aufgrund der Differenzen zwischen Hofmann/feudalem Adligen/Heroen einerseits und Bürger andererseits vor, nur in Bezug auf Letzteren von Gefühlen, in Bezug auf Ersteren jedoch von Affekten zu sprechen. Das Epos handle »grundsätzlich nicht von zum ›Charakter‹ entleerten, sentimentalen, subjektiven Individuen, sondern nach wie vor allein von objektiven, ständischen Körpern; nicht um Gefühle geht es ihm, sondern um Affekte.«³² Der Begriff des Affekts, den Czerwinski vorschlägt, um den Unterschied zwischen vorbürgerlicher und bürgerlicher Denkform zu annoncieren, hat in der Auseinandersetzung um die Beschreibung und Analyse von Figurenverhalten in mittelalterlichen Erzähltexten bis in die Gegenwart hinein breite Zustimmung gefunden, und zwar vor allem deshalb, weil er seinen Befürwortern zufolge erstens weniger stark als der Begriff der Emotion zur Projektion moderner Kategorien auf mittelalterliche Texte einlade und so die historische Distanz zu wahren und zu reflektieren erlaube. Zweitens sei der Begriff des Affekts historisch genauer und entspreche stärker den mittelalterlichen Termini und Modellen. Aus der Distanz, die dieser Begriff schafft, lässt sich beispielsweise der nît einer literarischen Figur wie Keie als »eine Disposition, ein habituelles Merkmal seiner Person«³³ beschreiben. Allerdings ist auch der Begriff des Affektes keine befriedigende Lösung, denn die Bedeutungsbreite der lateinischen Begriffe affectus, affectio, passio wie des mittelhochdeutschen muot […] ist enorm. Bei den mittellateinischen Termini kommt es sogar zu semantischen Überschneidungen. Als ganz grobe Leitlinie kann man allerdings festhalten, daß die mittelalterlichen Termini für ›Emotionen‹ (affectio, affectus, passio, perturbatio) meist spontan auftretende, heftige, vorübergehende psychische Zustände meinen, die
29 Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes, S. 243. 30 Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes, S. 255. 31 Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes, S. 247. 32 Czerwinski: Heroen haben kein Unbewußtes, S. 247, Hervorhebungen im Original. 33 Kraß: Neidische Narren, S. 94. Damit soll nicht angedeutet werden, dass sich Kraß in seinen Überlegungen auf Czerwinski bezieht – es geht hier ausschließlich um den Begriff des ›Affekts‹.
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dann einer Kontrolle bedürfen, also in etwa das meinen, was heute zuweilen als Affekt im Gegensatz zu einer Stimmung bezeichnet wird.³⁴
Wovon die mittelalterliche Literatur erzählt, ist jedoch nur teilweise Affekt. Die minne zwischen Tristan und Isolde, die Trauer Kriemhilts oder ihr Hass auf Hagen entsprechen eher dem, was wir als Emotionen bezeichnen würden. Zwar erleiden die Figuren ihre jeweiligen Zustände, doch diese selbst sind für den Handlungsverlauf konstitutiv. Sowohl der eine als auch der andere Begriffsgebrauch ist mit Vor- und Nachteilen verbunden. Gerade in einem Metadiskurs ist es aber hinderlich, sich stets auf zwei Ebenen gleichzeitig bewegen zu müssen. Es scheint deshalb eine pragmatische Lösung zu sein, hier von Emotionen zu reden – was der überwiegende Teil der Forschung im Übrigen auch tut.
b.) Alterität mittelalterlicher Emotionsdarstellungen Der Streit der altgermanistischen Forschung um die adäquate Bezeichnung von zorn, nît, haz, scham und minne ist kein Selbstzweck und keine Haarspalterei. In ihm artikuliert sich die grundsätzliche Frage, ob zur Interpretation von literarischen Emotionsdarstellungen Theorien und Konzepte der Psychoanalyse herangezogen werden können und sollten. Vor allem aufgrund der historischen Distanz, die der moderne Rezipient den Texten gegenüber einnimmt, ist früh eine fundamentale Kritik gegenüber der Anwendung psychoanalytischer Begriffe und Theorien geäußert worden:³⁵ Ein anderer Grundzug mittelalterlicher Dichtweise ist nur aus der geltenden Wirklichkeitsauffassung heraus zu verstehen. Panzer und viele vor und nach ihm betonen den Mangel an psychologischer Motivierung. […] Worauf es ankommt, ist, daß psychologische Begründung niemals vom Dichter als solche beabsichtigt und vom Hörertume verlangt ist. Sie kann auch entbehrt werden. Denn psychologische Motivierung bedeutet immer einen Versuch, vom Menschen her und für den Menschen zu erklären, setzt eine Weltanschauung voraus,
34 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 208. 35 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Befürworter der psychoanalytischen Literaturtheorie, etwa Helmut Birkhan: Neidhart von Reuental und Sigmund Freud. Allgemeines und Spezielles zur psychoanalytischen Interpretation mittelalterlicher Texte. In: Neidhart von Reuental. Aspekte einer Neubewertung. Hrsg. von dems. Wien 1983, S. 34–73; Wolfgang Beutin: Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance. Würzburg 1990; kritischer: Rüdiger Schnell: Die ›höfische Liebe‹ als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Poetica 23 (1991), S. 374–425; Lothar Müller: Literaturgeschichte und Historische Psychologie. In: Individuum und Geschichte. Beiträge zur Diskussion um eine ›Historische Psychologie‹. Hrsg. von Michael Sonntag und Gerd Jüttemann. Heidelberg 1993, S. 125–138.
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die das Subjekt als konstituierend für die Gültigkeit einer Sache ansieht. Das Mittelalter stellt Geschehen unabhängig vom Menschen dar; die Vorgänge werden objektiv gegeben.³⁶
Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung sind unterschiedliche Argumente ins Feld geführt worden,³⁷ die in der Regel auf dem Vorwurf aufbauen, dass die Anwendung psychoanalytischer Methoden unhistorisch verfahre, weil sie vernachlässige, dass Emotionen einem historischen Wandel unterliegen, die Psychoanalyse aber psychische Universalien unterstelle. Tatsächlich ist »die menschliche Triebstruktur […] in Freuds Sicht, resistent gegenüber geschichtlichen Prozessen.«³⁸ Doch der Vorwurf der Ahistorizität psychoanalytischer Theorie geht an der eigentlichen Problematik vorbei. Das Problem der Anwendung psychoanalytischer Methoden auf die Literatur besteht nämlich nicht darin, dass diese zur Beschreibung bürgerlicher Individuen³⁹ bestimmt ist, die Psychen der Protagonisten mittelalterlicher Literatur aber nicht bürgerlich sind, sondern darin, dass diese Protagonisten keine Menschen sind. Wer psychoanalytische Methoden auf
36 Hennig Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Tübingen 21979, S. 85. 37 Zu einer Darstellung dieser Kritik vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 169–172 (Kapitel ›Die Tiefenpsychologie der Figur‹). Vgl. auch: Wolfgang Maaz: Psychologie und Mediävistik. In: Klio und Psyche. Hrsg. von Thomas Kornbichler. Pfaffenweiler 1990 (Geschichte und Psychologie 1), S. 49–72; Wolfgang Beutin: Ältere deutsche Literatur und Psychoanalyse. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistenverbandes 1984. Hrsg. von Georg Stötzel, Bd. II: Ältere Deutsche Literatur/Neuere Deutsche Literatur. Berlin, New York 1985, S. 199–222; Friedrich Wolfzettel: Mediävistik und Psychoanalyse: Eine Bestandsaufnahme. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe und Rudolf Behrens. München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 14), S. 210–239. 38 Jutta Eming: Mediävistik und Psychoanalyse, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, S. 31–44, hier S. 39, Hervorhebung im Original. Obwohl ich ein weit weniger guter Kenner der Psychoanalyse bin als Eming, scheint mir die Psychoanalyse nicht so unhistorisch zu sein wie ihr. Vielmehr lässt sich gerade aus ihrer Perspektive ein (historisches) Fortschreiten der Verdrängung erkennen: »Das geht jede Wissenschaft, die mit Geschichte wesentlich zu tun hat, unmittelbar an. Denn gleichsam im Vorbeigehen wird da [in Freuds Hamlet-Interpretation] das Strukturgesetz eines objektiven historischen Prozesses skizziert, wird in nuce eine Geschichtstheorie auf psychoanalytischer Basis entworfen. Es handelt sich um jene Konzeption der KulturEntstehung und der Kultur-Entwicklung, die in den späteren Schriften Totem und Tabu, Das Unbehagen in der Kultur, Die Zukunft einer Illusion zu den Thesen geführt hat, die für das Problem der Freiheit des einzelnen in der Gesellschaft gerade heute von größter Bedeutung sind.« Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Stuttgart 2001 (RUB 17626), S. 29, Hervorhebungen im Original. 39 Vgl.: Eming: Mediävistik und Psychoanalyse, S. 32.
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literarische Texte anwendet, muss deutlich machen, worauf, beziehungsweise auf wen genau er sich damit bezieht: Auf den Autor als ihren Urheber? Auf den Erzähler, der uns von der Figur erzählt? Oder auf eine allgemeine Mentalität oder Denkform, die sich auf nicht weiter spezifizierbare Weise im Text manifestiert? Diese Fragen beantwortet auch Meyer nicht, der zeigen will, »wie eine Anwendung der narratologischen Kategorie des literarischen Charakters unter möglicher Einbeziehung psychologischer Kriterien der skizzierten Ansätze der Selbstpsychologie in der Literaturwissenschaft aussehen könnte.«⁴⁰ Dazu untersucht er u. a. Ereignisse, die »sich im psychischen Binnenraum des Protagonisten abspielen.«⁴¹ Aus der Analyse der »Innendimension«⁴² der Figuren will Meyer »eine historisch begründete Psychologie« ableiten, die »moderne Erkenntnisse anwendbar auf und vermittelbar mit mittelalterlichen Texten macht.«⁴³ Dabei stellt er selbst fest, dass seine Lektüre mittelalterlicher Erzähltexte »nicht aus den Texten herausführt, sondern den Menschen nur in Texten, nicht aber Menschen außerhalb der Texte identifizieren kann.«⁴⁴ Das liegt jedoch gerade nicht »an der Begrenztheit einer literaturwissenschaftlichen Methode,« ⁴⁵ sondern an den Grenzen der Literat u r. Sie sind ursächlich dafür, dass ›die Menschen in den Texten‹, von denen Meyer spricht, eben keine Menschen sind, sondern Figuren, an denen und durch die zwar womöglich »vermittelbares Wissen über Vorstellungen von ›realen‹ Individuen«⁴⁶ dargestellt wird, die aber dennoch keine realen Individuen sind. Genau diese feine, aber entscheidende Differenz macht es aber problematisch, auf die ›Menschen in den Texten‹ Theorien anzuwenden, die an und für ›Menschen außerhalb der Texte‹ entwickelt worden sind wie die Psychologie.⁴⁷
40 Matthias Meyer: Der Weg des Individuums. Der epische Held und (s)ein Ich. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFG-Symposion 2000. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 23), S. 529–545, hier S. 538. 41 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 543. 42 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 43 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 44 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 45 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 46 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 47 Auch aktuelle Anwendungen der Psychoanalyse auf die Literatur reflektieren diesen Unterschied nicht. Als exemplarische Illustration ein Zitat von Peter von Matt: »Ich bin der Meinung, daß mit Freuds Eingeständnis, es sei unmöglich, alle Faktoren im Entstehungs- und Wirkungsprozeß eines Kunstwerks psychoanalytisch aufzulösen, die Haupteinwände gegen die Psychoanalyse, die von der Literaturwissenschaft erhoben werden können, bereits widerlegt sind. Es ist deshalb auffällig, daß dieser Absolutheitsanspruch, den Freud ausdrücklich nicht stellt, der Psychoanalyse immer wieder vorgeworfen wird. Solche Gereiztheit hat ihren guten Grund. Er
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c.) Emotionsdarstellungen im Spannungsfeld von Ficta und Facta: Wessen Emotion ist eine erzählte Emotion? Ein weiteres Problem, das im Folgenden zu diskutieren sein wird, ist sehr viel grundsätzlicher als das erste und anders als dieses keines, das mit der Spezifik mittelalterlicher Literatur zusammenhängt, sondern ein ganz allgemein literaturwissenschaftliches. Es besteht darin, dass literarische Emotionsdarstellungen – so wie beschriebene Tiere keine Tiere und beschriebene Räume keine Räume sind – im eigentlichen Sinne keine Emotionen, sondern literarische Darstellungen und narrative Gestaltungen von Emotionen sind. Dieser Punkt ist in seiner Konsequenz weitreichender, als es auf einen ersten Blick scheinen mag. Dass stellenweise sogar die Ontologie zu seiner Diskussion herangezogen werden muss, liegt daran, dass für die Frage, wie literarische Emotionsdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur dazu genutzt werden können, den narrativen Innenraum einer Figur auszugestalten und zu konturieren, zunächst geklärt werden muss, was literarische Emotionsdarstellungen überhaupt sind. Denn die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Emotionen der Figuren nicht einfach die ›Emotionen einer Figur‹ sind, sondern immer nur Emotionsda rstel lu ngen u nd -besch reibu ngen (also Sprache), hat Auswirkungen auf die Frage danach, welchen Beitrag sie dazu leisten (können), vor den Augen des Rezipienten einen narrativen Innenraum entstehen zu lassen. Literatur bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern transformiert die Elemente, die sie zu ihren Gegenständen macht. Jede Auseinandersetzung »mit dem Thema ›Emotionalität‹ muss sich [….] der Tatsache stellen, daß sie es immer mit Repräsentationen von Gefühlen zu tun hat«⁴⁸ – oder, um näher am Modell der drei Stufen von Repräsentationen zu bleiben – mit Repräsentationen von (sprachlichen und körperlichen) Repräsentationen von Emotionen. Darauf weist nachdrücklich Rüdiger Schnell hin: »Daß […] einige Forscher(innen) austauschbar von Gefühlen u nd von Diskursen über Gefühle als ihrem Untersuchungsgegenstand reden, sorgt für Verwirrung.« ⁴⁹ Diese Verwirrung resultiert daraus, dass unter dem Stichwort der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung letztlich die Frage nach der Referenz
besteht darin, daß man in der Literaturbetrachtung wohl oder übel Psychologie irgendwelcher Art betreiben muß. Denn ich spreche ja ebensosehr von den Dichtern wie von der Dichtung, und innerhalb der Dichtung habe ich noch und noch von Menschen zu reden, seien diese nun erfunden oder abgebildet.« Von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 56. 48 Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, S. 9. 49 Schnell: Historische Emotionsforschung, S. 175.
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von Literatur verhandelt wird.⁵⁰ Das legt auch Schnell nahe, der sich über die Formulierung ›Codierung von Emotionen‹⁵¹ folgendermaßen äußert. Seiner Auffassung nach glaube derjenige, der von ›Codierungen‹ spricht, einer literarischen Emotionsdarstellung liege das Wissen um eine bestimmte psychische Disposition zugrunde, die nun in einer Dichtung ›vermittelt‹ werde und von den Rezipienten anhand bestimmter Merkmale (›Codierung‹) wiedererkannt bzw. identifiziert werden könne. Bezeichnend für diese Forschungsrichtung ist die Überzeugung, mit Hilfe neuerer emotionstheoretischer bzw. psychoanalytischer Modelle, die ja von lebensweltlichen affektiven Zuständen ausgehen, auch literarisch präsentierte Emotionen besser zu verstehen. Damit wird, trotz aller Beteuerungen der besonderen medialen Bedingungen literarischer Emotionsdarstellungen, eine gewisse Korrespondenz ›lebensweltlicher‹ und ›literarischer‹ Emotionen unterstellt.⁵²
Schnell spricht das zugrunde liegende Problem explizit an: »Der Seinsstatus ›literarischer‹ Emotionen [ist] bis heute ungeklärt.«⁵³ Grundsätzlich gilt das jedoch in kaum geringerem Maße auch für andere Gegenstände der Literatur, etwa ›literarische‹ Menschen⁵⁴ oder ›literarische‹ Gegenstände, insbesondere dann, wenn es solche sind, die außerhalb der Imagination beziehungsweise der Fiktion, keine Existenz besitzen.⁵⁵ Solange die Frage danach, was literarische Emotionsdarstellungen sind, simplifiziert wird, wird weiterhin offenbleiben müssen, welchen Erkenntniswert die Verwendung psychoanalytischer, kognitionswissenschaftlicher oder neurologischer Begriffe und Modelle für die Analyse literarischer Emotionsdarstellun-
50 Diese Vermutung wird bereits nahegelegt durch den Titel eines Aufsatzes von Armin Schulz zum Thema, nämlich: Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur Emotionalitätsdebatte. PBB 128 (2006), S. 472–495. 51 Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle; Codierungen von Emotionen; Eming: Emotion und Expression; Jutta Eming: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. JLT 1,2 (2007), S. 251–273, bes. 256–260. 52 Rüdiger Schnell: Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter, oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung. IASL 33/2.1 (2008), S. 1–51, hier S. 9. 53 Schnell: Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter, S. 14. 54 Vgl. dazu vor allem: Jannidis: Figur und Person; Peter von Inwagen: Fiktionale Geschöpfe. In: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit, S. 73–93. Jüngst erschienen ist und nicht mehr ausgewertet werden konnte der Sammelband: Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Hrsg. von Jens Eder, Fotis Jannidis und Ralf Schneider. Berlin/New York 2010. (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 3) 55 Vgl. dazu vor allem: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Hrsg. von Maria Reicher. Paderborn 2007 (KunstPhilosophie 8) und Göran Rossholm: To Be And Not To Be. On Interpretation, Iconicity And Fiction. Bern 2004.
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gen hat⁵⁶ und wie sehr die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung historisch arbeiten kann und muss. So kommt es immer wieder zu Zirkularitäten der Argumentation – z.B., wenn einerseits eingestanden wird, dass literaturwissenschaftliche Emotionsforschung keine ›realen‹ Emotionen zum Gegenstand habe, aber dessen ungeachtet zu ihrer Erforschung anthropologische Methoden und Modelle herangezogen werden, die genau dafür konzipiert sind, dazu nämlich, reale Emotionen zu beschreiben und zu analysieren.⁵⁷ Auf diesem Hintergrund mag plausibel werden, warum im Folgenden weitreichende literaturtheoretische Fragestellungen aufgegriffen werden.
6.2 Menschen und Figuren – Facta und Ficta Worin der Unterschied zwischen einer Person und einer literarischen Figur besteht, ist gar nicht so umstandslos zu bestimmen: Wir dürfen nicht verwechseln, was von einem Gegenstand in einem fiktionalen Kontext gesagt wird und was sich über das Fictum des im Erzählkontext auftretenden Gegenstandes sagen läßt. Hamlet ist sicher in diesem Sinne real, als er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, wie man sagt, während das für den Geist des Vaters nicht behauptet werden kann. Und doch existieren beide nicht. […] Wenn wir nicht ›wirklich‹ und ›existierend‹ promiscue gebrauchen, dann können auch nicht-existierende Gegenstände wirkliche oder reale Eigenschaften haben.⁵⁸
56 Vgl. Eming: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft, S. 264. 57 »Einige allgemeiner formulierte Titel von interdisziplinär angelegten Sammelbänden wie Geschichte der Gefühle und Codierungen von Emotionen haben offensichtlich der Vorstellung Vorschub geleistet, dass die literaturwissenschaftliche Mediävistik mit den Methoden der neueren Emotionsforschung reale Emotionen erforschen möchte. Mitunter konnte so der Eindruck entstehen, als würde versucht, eine Phänomenologie historischer Emotionen zu ermitteln. Darum geht es, wie literaturwissenschaftliche Fragestellungen zu erkennen geben, jedoch nicht.« Eming: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft, S. 253, Hervorhebungen im Original. »Rosenwein hat dieser Vorstellung [dem Modell der Affektentladung] ein sozialkonstruktivistisches Emotionskonzept entgegengehalten, dem zufolge Emotionen auf neurophysiologischer Basis, in Reaktion auf soziale Situationen und zugleich in deren Bewertung konstituiert und in kulturell geregelten Modi zum Ausdruck gebracht werden. Diese Annahme kultureller – und ineins damit historischer – Konventionen und Stile des Emotionsausdrucks ist für die mediävistische Emotionsforschung in den Geschichts- und Literaturwissenschaften von entscheidender Bedeutung.« Ebd., S. 255. Die Argumentationsfigur läuft also darauf hinaus, dass literarische Emotionsdarstellungen zwar keinesfalls für ›reale‹ Emotionen gehalten werden dürfen, aber letztlich mit den gleichen Mitteln wie diese erforscht werden können. 58 Rudolf Haller: Wirkliche und fiktive Gegenstände. In: Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundlagenfragen. Hrsg. von Dems. Stuttgart 1986 (RUB 8299), S. 57–93, hier S. 86. Ab-
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Die Frage nach dem ontologischen Status eines Artefakts ist gerade deshalb nachdrücklich zu stellen, weil die Ebenen von Rezipient und Handlung in vielen Arbeiten zur Emotionsdarstellung in der Literatur vertauscht oder verwechselt werden. Zunächst ist eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer Position innerhalb und außerhalb der Erzählwelt einzuführen. Eine ähnliche Unterscheidung fordert bereits Meyer, der darauf hinweist, dass die Lektüre »nicht aus den Texten herausführt, sondern den Menschen nur in Texten, nicht aber Menschen außerhalb des Textes identifizieren kann.«⁵⁹ Meyer spricht hier zwar über die Analyse von Formen der Selbstpsychologie, die er im Rahmen seines Aufsatzes durchführt, doch das Problem, das er mit der Differenzierung in ›Menschen innerhalb der Texte‹ und ›Menschen außerhalb der Texte‹ anspricht, ist ein grundlegendes (das meiner Meinung nach allerdings – wie oben bereits angesprochen – nicht ›der Begrenztheit einer literaturwissenschaftlichen Methode‹ entspringt, sondern auf die Grundbestimmung von fiktionalen Texten als sprachlichen Gebilden zurückgeht). Meyer bezieht diese wichtige Differenzierung denn auch nicht in seine eigene Analyse ein. Meine Überlegungen setzen so gesehen an jenem Punkt an, wo Meyer mit seinen Überlegungen aufhört: Beim Unterschied zwischen Menschen in Texten und Menschen außerhalb von Texten. Bemerkenswerterweise spielt die Figur in der Literaturtheorie »als literaturoder erzähltheoretisches Problem keine Rolle.«⁶⁰ Zwar »gibt es immerhin einige Untersuchungen zu spezifischen Figurentraditionen, z.B. zur Faustfigur, oder zu Figurengruppen, z.B. dem Sonderling, aber kaum theoretische Überlegungen zur Figur.«⁶¹ Allerdings sieht »in den angelsächsischen Philologien […] die Forschungssituation ganz anders aus.«⁶² Eine wichtige Ausnahme, was die deutschsprachige Forschung zum Thema ›Figur‹ anlangt, bildet die Monographie von Jannidis. Er entwickelt ein »Figurenmodell, das einen Beitrag zum neuen Forschungsfeld einer historischen Erzähl-
weichend in Bezug auf die Existenz von Ficta: Jean André Cadieux: The ontological Status of fictional Entities. Michigan 1976, S. 30ff. 59 Meyer: Der Weg des Individuums, S. 545. 60 Jannidis: Figur und Person, S. 2. So äußert sich auch Stock: »Die literarische Figur als solche spielt in allgemeinen narratologischen Modellen im Vergleich etwa zur Behandlung von Zeit und Perspektive, nicht die Hauptrolle: in der inzwischen für den deutschsprachigen Raum kanonischen Einführung in die Erzähltheorie von Michael Scheffel und Matias Martinez etwa gibt es keine eigene Behandlung der Figur, und im Appendix dieser Einführung keinen Eintrag zur Figur.« Stock: Figur, S. 189. Stock bezieht sich auf: Martinez, Scheffel: Erzähltheorie. 61 Jannidis: Figur und Person, S. 3. 62 Jannidis: Figur und Person, S. 3.
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theorie leistet und ein theoretisches Angebot an die historisch interpretierende Literaturwissenschaft darstellt, indem es ihr ermöglicht, Befunde kontrollierter zu erheben und zu beschreiben.«⁶³ Jannidis’ Erkenntnisinteresse richtet sich also eher darauf, wie die Figur im Text zustande kommt und vom Leser verstanden wird, weniger auf die literaturtheoretisch-ontologische Frage danach, was eine literarische Figur überhaupt ist. Er definiert sie als mentales Modell einer Entität in einer fiktionalen Welt, das von einem Modell-Leser inkrementell aufgrund der Vergabe von Figureninformationen und Charakterisierung im Laufe seiner Lektüre gebildet wird. Dieses Modell folgt in seiner Binnenstruktur dem Basistypus⁶⁴ und erlaubt die Organisation von Figureninformationen.⁶⁵
Jannidis’ Modell der literarischen Figur ist allerdings aufgrund der pragmatischen Orientierung am Modell-Leser⁶⁶ und einem so genannten ›Basistypus‹ einer Figur für den hier verfolgten Zusammenhang nur von eingeschränkter Bedeutung. Denn gerade sie verschiebt die heikle Definition der Figur auf den ›Basistypus‹, der seinerseits wieder unter Bezugnahme auf »folk psychology,«⁶⁷ dem allgemeinen Weltwissen⁶⁸ oder sogenannten ›besten Exemplaren‹ literarischer Figuren (also ›typisch menschlichen Zuständen‹ konforme Gestalten)⁶⁹
63 Jannidis: Figur und Person, S. 10. 64 »Basistypus: Minimale Struktur einer Figur mit den Merkmalen ›Handlungsfähigkeit‹, ›Kommunikationsfähigkeit‹, ›transitorische und stabilere Figureninformationen und Figureneigenschaften‹, ›Differenz von Innen und Außen‹.« Jannidis: Figur und Person, Glossar, Stichwort ›Basistypus‹, S. 251. 65 Jannidis: Figur und Person, Glossar, Stichwort ›Figur‹, S. 252. 66 »Erst das Konzept eines textbasierten mentalen Modells des Modell-Lesers kann sowohl den Beitrag lebensweltlichen Wissens zur Konstitution des Modells als auch die prinzipielle Differenz der Figur zur Person angemessen erfassen, die vor allem in der begrenzten Informationsmenge der Figur und ihrer Abhängigkeit von den oben erwähnten Momenten der narrativen Kommunikation besteht.« (Jannidis: Figur und Person, S. 243) 67 »Das mentale Modell der Figur auf der Grundlage des Basistypus ermöglicht es, Figuren von Objekten zu unterscheiden und sie anders als diese in der Motivierung von Handlungen einzusetzen. Die Basis dafür ist das nach dem jetzigen Kenntnisstand universelle Erklärungsmodell der Alltagspsychologie (folk psychology).« (Jannidis: Figur und Person, S. 241) 68 »Das Verhältnis der narrativen Welt, die vom Text erzeugt wird, zur aktualen Welt wird durch Gattungsvorgaben und das Prinzip der minimal departure bestimmt, d.h. solange die Gattungskonvention nichts anderes vorschreibt und solange der Text nicht explizit eine Abweichung markiert, wird der Leser aufgefordert, sein Weltwissen zum Verständnis des Textes heranzuziehen.« (Jannidis: Figur und Person, S. 238) 69 Die Kategorie der Figur ist prototypisch organisiert, »d.h., wie prototypisch eine Figur ist, läßt sich durch den Bezug auf die Merkmalskombination in einem besten Exemplar bestimmen.« (Jannidis: Figur und Person, S. 239).
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entwickelt wird. Das Problem, dass viele mit der literarischen Figur zusammenhängende Grundsatzfragen entweder als stillschweigende Voraussetzungen übergangen oder auf fragwürdige Kategorien wie den ›Basistypus‹ verschoben werden,⁷⁰ ist Jannidis selbst bewusst: »Gerade für diese im weiteren Sinne hermeneutisch arbeitenden Literaturwissenschaftler werden manche der Ergebnisse aber nicht völlig überraschend sein. Wie sollten sie auch bei der durchaus gewollten Nähe zur historisch-interpretierenden, hermeneutischen Praxis?«⁷¹ Jannidis’ Monographie löst also nicht das Problem, das der Literaturtheorie durch die Figur aufgegeben ist, sondern systematisiert das Weltwissen, das jeder Leser im Umgang mit literarischen Figuren erwirbt. Was die Auseinandersetzung mit der Kategorie der Figur so kompliziert macht ist die Tatsache, dass Figuren keine Menschen sind, aber dennoch als solche verstanden werden sollen. Im weiteren Sinne manifestiert sich in der Kategorie ›Figur‹ also ein ganz grundsätzliches literaturwissenschaftliches Problem, nämlich das der Referenz: Wie ist das Verhältnis zwischen erzählter Welt und Welt beschaffen? (Wie) können wir auf die Welt des Erzählten zugreifen? Welche Form der Existenz haben die Dinge, die im Text beziehungsweise vom Erzähler nicht (aus-)erzählt, sondern nur ›impliziert‹, also vorausgesetzt werden? Diese Fragen sind zentral insbesondere für jede literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Emotionsdarstellungen oder Darstellungen der psychischen Verfassungen der Figuren, da diese zumeist nur angedeutet, suggeriert oder nahegelegt, also im weitesten Sinne ›impliziert‹, nicht aber ausführlich beschrieben werden. Welchen Status aber haben solcherlei Implikationen: Wenn der Erzähler von einer Figur berichtet, dass sie erröte, impliziert dieses Erröten dann bereits die Emotion ›Scham‹? Pollard diskutiert diesen Problemzusammenhang am Beispiel der Frage, welche Augenfarbe eine literarische Figur (Henchard) hat (oder ob sie überhaupt Augen hat), wenn der Erzähler sich darüber ausschweigt:
70 Ähnlich äußert sich Stock: »Dies [die Orientierung der Analyse der Figur an einem ›Basistypus‹] ist nun sehr grundsätzlich und eher systematisch als historisch angelegt: Bei jedem Versuch der Historisierung dieses Konzepts wird man schnell darauf stoßen, dass die dafür entscheidende Operation die Identifizierung jener offen gelassenen ›jeweiligen kulturellen Konzepte‹ ist […].« Stock: Figur, S. 192. Stock bezieht sich auf folgende Formulierung Jannidis’: »Dieses beste Exemplar [das dem Basistypus zugrunde gelegt wird] für die Kategorie der Figur ist wohl eine im Äußeren menschenförmige und im Inneren den jeweiligen kulturellen Konzepten von typisch menschlichen mentalen Zuständen konforme Gestalt.« Jannidis: Figur und Person, S. 239. 71 Jannidis: Figur und Person, S. 10.
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questions like Q.I can be answered if, and only if, there is in the text some statement which implies that Henchard has eyes or a particular eye colour. In the absence of explicit textual statements about eyes what seems to be required is some logical relation which will link certain textual statements to some other (non-textual) statements which can constitute an answer to the original question. What is at issue is whether implication is a suitable candidate for his purpose.⁷²
Die Frage, welchen Status das ›nur Implizierte‹ des literarischen Textes hat, lässt sich allein auf dem Hintergrund einer Theorie der fiktionalen Welt diskutieren, deren Bestandteil Figuren sind. Was zur Disposition steht, ist die Frage danach, ob literarische Figuren vollständig oder unvollständig sind. ›Vollständigkeit‹ bedeutet, dass jede erdenkliche Eigenschaft auf ein existierendes Individuum auf spezifische Weise entweder zutrifft oder nicht:⁷³ »Ficta sind immer unvollständige Gegenstände, Facta immer vollständige Gegenstände. Was also sind vollständige Gegenstände und was unvollständige Gegenstände? Ein Gegenstand ist vollständig, wenn es hinsichtlich aller Eigenschaften feststeht, ob sie ihm zukommen oder nicht zukommen.«⁷⁴ Genau dies ist in Bezug auf literarische Ficta anders, denn sie besitzen allein jene Eigenschaften, die ihnen der Erzähler zuweist: Possible non-actual INDs [Individuen] are entiae rationis: abstract objects, freely devised or constructed by an actual human mind in acts of hypothesizing, supposing, or imagining. They are called into existence and intersubjectivity manifested by means of entity-invoking expressions […] such as proper names and definite descriptions, that is, through the referring and describing mechanisms of natural language. […] Possible INDs are constructs. They are stipulated by story texts, not discovered, and are therefore determined by the descriptive conditions associated with them. They are introduced and sustained exclusively by means of a set of semiotic procedures or operations. As a result, all the information that can be had about them is ›in‹. They posses exactly those properties which can be constructed out of the propositions that are true according to the given story.⁷⁵
72 D. E. B. Pollard: On Talk ›about‹ Characters. British Journal of Aesthetics 16 (1976), S. 367– 369, hier S. 367. 73 So kann in Bezug auf den gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gefragt werden, welche Konfession er hat, ob seine Mutter zum jetzigen Zeitpunkt noch lebt oder nicht, ob er Geschwister hat, eine Narbe an seinem Körper oder welche Schulabschlüsse er erworben hat. Können wir dies alles auch womöglich weder wissen, noch in Erfahrung bringen, so bestehen diese Sachverhalte doch unabhängig von unserem oder irgend jemandes Wissen. 74 Haller: Wirkliche und fiktive Gegenstände, S. 75. 75 Uri Margolin: Individuals in Narrative Worlds: An Ontological Perspective. Poetics Today 11 (1990), S. 843–871, hier S. 847. »Such INDs are hence ontologically ›thin‹ and not maximal, having only a limited number of properties and relations. Unlike actual INDs, they are schematic,
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Unvollständigkeit gilt in der Diskussion um Ficta als eines jener Merkmale, die fiktionale von faktualen Gegenständen unterscheiden. Denn weil Ficta allein aus den Eigenschaften bestehen, die ihnen zugeordnet werden, lassen sich Fragen, die über diese hinausgehen, nicht beantworten.⁷⁶ Unvollständigkeit ist eine Eigenschaft, die allen fiktionalen (im Sinne von ›erfundenen‹, ›erdachten‹) Gegenständen notwendig zukommt. Sie ist kein literaturwissenschaftliches, sondern ein philosophisches,⁷⁷ genauer: ein logisches Problem.⁷⁸ Mit Vollständigkeit ist also nicht gemeint, dass alle Eigenschaften eines zu bestimmenden Dinges bekannt sein müssen, sondern, dass sie bezüglich seines Seins feststehen – und zwar unabhängig von unserem Wissen um sie.⁷⁹
radically incomplete, and only partially determinate so that, for most properties, we cannot say whether they have them or not.« Margolin: Individuals in Narrative Worlds, S. 847. 76 »There are, however, many normal properties for which the possession of neither the property nor its complement is indicated. A text can describe a character just so far; inevitably there are many features on which it is silent. This is so even if a work is extremely detailed, for no fiction could possibly address all the logical appropriate properties for any fictional item. It follows that for an unaddressed property the character neither has it or lacks it; hence the character is incomplete with respect to such a feature.« Charles Crittenden: Unreality. The Metaphysics of Fictional Objects. Ithaca, London 1991, S. 138f. 77 In der Ontologie wird diskutiert, unter welchen Bedingungen Ficta weitere Eigenschaften zugeordnet werden können und insbesondere, wer das kann. Könnte also beispielsweise auch ich selbst Artus eine Augenfarbe verleihen, indem ich einen Artusroman verfassen würde, der Artus als braunäugig darstellt? Für die Figur ›Artus‹ ist diese Frage besonders schwer zu entscheiden, weil sie nicht einen, sondern viele Autoren als ›Urheber‹ hat. In der Ontologie wird die Frage der literarischen Ficta gerne am Beispiel der Figur Sherlock Holmes diskutiert – in Bezug auf dieses Beispiel wäre es möglich, die Position einzunehmen, dass nur derjenige, der die Figur ›Sherlock Holmes‹ geschaffen hat, ihr auch ihre Attribute zuweisen, dass also ausschließlich Doyle über Holmes’ Augenfarbe entscheiden kann. Im Fall der Artusgestalt ist die Zentrierung auf einen ›Urheber-Autor‹ entschieden komplizierter. 78 Zur Diskussion um die Unvollständigkeit fiktionaler Entitäten in der Literaturwissenschaft vgl. auch: Jannidis: Figur und Person, der mit Lubomír Doležel Unvollständigkeit für eines von sechs Merkmalen fiktionaler Welten hält und sie folgendermaßen bestimmt: »Nur einer bestimmten Anzahl von Aussagen über Figuren in fiktionalen Welten kann ein Wahrheitswert zugeordnet werden, viele andere Aussagen sind unentscheidbar. Doležel schließt sich hier einem Standpunkt an, der besagt: Wir werden niemals wissen, wie viele Kinder Lady Macbeth in der Welt des Dramas Macbeth hat. Nicht, weil dies zu wissen, ein Wissen verlangen würde jenseits aller menschlichen Möglichkeiten, sondern weil es nichts dergleichen gibt, das man wissen könnte. Wenn man fiktionalen Entitäten ihre Unvollständigkeit abspricht, dann kommt das ihrer Behandlung als reale Entitäten gleich.« S. 68. Zum philosophischen Problem der Unvollständigkeit vgl. auch Jannidis: Figur und Person, S. 210ff. 79 Deshalb trifft auch der Einwand nicht, dass jeder Gegenstand, nicht nur der fiktive, im Sprachgebrauch unvollständig sei: »Wenn uns ein Freund einen Vorfall aus seinem Urlaub erzählt und mit dem Satz ›An einem Tisch saß ein älterer Mann‹ beginnt, wissen wir so wenig
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Das Problem der Unvollständigkeit wird in der Literaturtheorie kaum wahrgenommen, obwohl bereits Ingarden, freilich unter Verwendung anderer Begrifflichkeiten, darauf hingewiesen hatte. Der fiktionale (in seinen Begriffen ›intentionale‹) Gegenstand wird durch das intentionale Meinen ›entworfen‹, ›geschaffen‹; aber dieses Schaffen ist, dem eigenen Wesen des intentionalen Meinungsaktes nach, kein echtes Schaffen, Hervorbringen, kein solches Hervorbringen nämlich, bei welchem das ›Geschaffene‹ die ihm durch den Akt zugewiesenen Bestimmtheiten in sich immanent enthielte. Sie sind ihm lediglich zugewiesen, und dieses Zuweisen ist nicht in dem Sinne schöpferisch, daß es die dem Gegenstande […] zugewiesenen Bestimmtheiten in ihm zu ›verkörpern‹ vermöchte. Bei dem nur intentionalen ›Zugewiesen-Haben‹ von Bestimmtheiten enthält der rein intentionale Gegenstand in seinem Gehalte nichts, was ihm ein eigenes Seinsfundament geben könnte.⁸⁰
Damit ist eine Spezifik von sprachlichen Ficta angesprochen: Sie bestehen allein aus ›Zuweisungen‹ und lassen sich insofern als ›Diskurs-Entitäten‹ verstehen: No LCs [literary characters] are available to us through direct acquaintance or ostention. Rather, all access to them and all knowledge and information about them are engendered and conveyed by symbolic expression, of which natural language literary texts as connected discourses are the primary and central instance. We initially encounter LCs in their role as discourse entities (textual entities, discourse referents, grammatical objects, objects of discourse) introduced through singular terms or referring expressions.⁸¹
Der ontologische Status dieser sprachlichen Diskurs-Entitäten ist umstritten und folglich auch die Art und Weise, wie wir uns auf sie beziehen und bezie-
wie bei einer Novelle, ob der Tisch ›aus Holz oder aus Eisen, vierbeinig oder dreibeinig usw. ist‹; […] Es ist zweifellos richtig, daß der wirkliche Gegenstand als ontisch durchbestimmt, der ausgedachte als weitgehend unbestimmt gilt; doch da in Sätzen Begriffe, keineswegs hingegen Gegenstände selbst auftauchen […] sind sie in diesem Punkt allesamt gleichermaßen bestimmt und unbestimmt, egal ob es sich um Real- oder Fiktionalaussagen handelt.« Jürgen H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. Berlin 1996, S. 29. Doch der Tisch, von dem erzählt wird, ist im Gegensatz zu erfundenen Gegenständen auch dann in Bezug auf seine Eigenschaften vollständig, wenn diese sich unserem Wissen entziehen. 80 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 31965, S. 127. Vgl. auch S. 265: »Also weder ist der dargestellte Gegenstand seinem Gehalte nach allseitig eindeutig bestimmt, noch ist die Zahl der ihm po sitiv zugewiesenen, und auch der nur mitdargestellten, eindeutig bestimmten Bestimmtheiten unendlich: nur ein formales Schema von unendlich vielen Bestimmtheitsstellen wird entworfen, aber sie bleiben fast alle unausgefüllt.« 81 Uri Margolin: Characters in Literary narrative: Representation and Signification. Semiotica 106, 3–4 (1995), S. 373–392, hier S. 373f.
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hen können.⁸² Denn obwohl literarische Figuren sich allein aus Zuschreibungen konstituieren und »our ultimate source of information about fictional characters […] linguistic«⁸³ ist, wir also nur über und in der Sprache ›Zugriff‹ auf Figuren haben, ist das Ziel und die Absicht dieser Zuschreibungen, sie als Menschen erscheinen zu lassen. Wir verstehen Figuren nur, insofern wir sie als Menschen begreifen: Fictive entities are thus clearly the product of the discourse which posits or projects them and are essentially dependent on their textual constitutive conditions: logico-semantic, epistemic, and text-grammatical. […] At the same time […] literary narratives are structured in such a way as to create an illusion that they are reports about individuals and domains of reference which are not themselves linguistic and which have been in existence prior to these texts, separately from them, and independently of them.⁸⁴
Margolin zieht aus dieser Überlegung die Schlussfolgerung, dass Figuren letztlich doch keine sprachlichen Entitäten seien: »LCs are not linguistic entities, nor can they be reduced to them, even though they are text based and require texts in order to come into being.«⁸⁵ Crittenden unterbreitet einen bemerkenswerten Vorschlag zur Lösung dieses Problems: A further feature of the language of fiction is that we can make references to fictions taking different contextual backgrounds. From the standpoint of being inside the fiction – from the standpoint a character in the story would have – one can speak of the personal qualities of a character, describe his situation, thoughts, activities, and the like.⁸⁶
Diese Unterscheidung in einen Standpunkt innerhalb der erzählten Welt und einen außerhalb ihrer, die in der Narratologie als jene zwischen histoire und discours eingeführt ist, ist für die Bestimmung von Vollständigkeit oder Unvoll-
82 »Granted that fictional works contain statements, it remains true that they do not advertise their fictional nature. What we appear to have in such contexts are statements which purport to refer to people, places and events, and yet we would be reluctant to accord any serious ontological status to the things they purportedly describe. We want to be able to say things about Henchard or Hamlet for which we have reasonable grounds, but the ›aboutness‹ is not the same as that of our statements about Harold Wilson or Mount Everest.« Pollard: On Talk ›about‹ Characters, S. 368. 83 Pollard: On Talk ›about‹ Characters, S. 369. 84 Margolin: Character in Literary narrative, S. 383. 85 Margolin: Character in Literary narrative, S. 385. 86 Charles Crittenden: Fictional Characters and logical Completeness. Poetics 11 (1982), S. 331– 344, hier S. 333.
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ständigkeit ihrer Eigenschaften und Attribute fundamental,⁸⁷ und zwar deshalb, weil sie über den ontologischen Status von Figuren entscheidet: Nur von der Ebene des discours aus betrachtet ist die Figur eine Figur. Auf der Ebene der histoire existieren keine Figuren, sondern allein Menschen, dort gibt es keine Unvollständigkeit, weil die Welt der Menschen, die die Erzählung beschreibt, für diese vollständig ist. Diesen Sachverhalt scheint Crittenden auch im Blick zu haben, wenn er behauptet, dass sich Figuren nicht logisch, wohl aber ontologisch von Menschen unterschieden: There is no logical difference between fiction and reality, even as regards logical completeness. But if this is right it does not follow that they must be ontologically alike – a point, incidentally, which should have a bearing on issues in realism generally. And certainly there is a very great difference indeed – the difference between what is merely talked about, and what is actually present in the world.⁸⁸
Ist das Problem dadurch aber bereits gelöst? Natürlich ist es so einfach nicht. Denn diese Welt der Vermittlungslosigkeit ist nur durch die Vermittlung des Erzählers und folglich durch die Vermittlung der Ebene des discours zugänglich. Die Figuren selbst besitzen für uns keinerlei Unmittelbarkeit. Deshalb ist die Schlussfolgerung, die Crittenden aus seiner Überlegung zieht, auch zu kurz gegriffen. Er versetzt sich, beziehungsweise den Blickwinkel dessen, der die literarische Figur beurteilt, auf die Ebene der histoire, also auf die Ebene der Figuren. Auf dieser ist die Figur keine Figur, sondern ein Mensch, der nicht Teil der histoire ist, sondern Teil einer Welt, die sich in nichts von der Welt außerhalb des Textes unterscheidet: The general consequence of the foregoing considerations is that a character C is to be regarded, from the standpoint of being inside the story, as a real person living in a certain situation. Putting ourselves in this standpoint, that of a character in the story, we think of C has having a history and of being subject to the physical and causal regularities holding for real people. Indeed in the story he is a real person. […] As such C has the full complement of properties constitutive of real things.⁸⁹
87 »Assertions such as ›Holmes was created by Arthur Conan Doyle‹ and ›Sherlock Holmes is my favorite detective‹ are not written from a standpoint inside the story; these statements would mean something quite different if prefixed with ›in the story‹ if they then have any sense at all. Whether they are true depends not on the contents of the story but on the real world. As illustrated by the instances above there is every appearance that the same thing, the very same fictional entity, can be referred to from both inside and outside standpoints.« Crittenden: Fictional Characters and logical Completeness, S. 334. 88 Crittenden: Fictional Characters and logical Completeness, S. 344. 89 Crittenden: Fictional Characters and logical Completeness, S. 336.
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Richtig ist, dass die Figur auf der Ebene der histoire vollständig ist. Für jede andere Figur ist die Frage, ob die Mutter von Holmes zu einem Zeitpunkt, der innerhalb der Erzählung als ›jetzt‹ bestimmt werden kann, noch lebt, die Frage, welcher Konfession er angehört oder welche Augenfarbe er hat, prinzipiell zu klären, weil sich jede Figur auf ihn als auf einen Menschen bezieht. Dass Figuren auf der Ebene der histoire Menschen und keine Figuren sind, bedeutet nun aber nicht, dass die Vollständigkeit, die dort vorliegt, für uns verfügbar oder auch nur vorhanden ist. Denn – und darauf, dass dieser Sachverhalt gerne unberücksichtigt bleibt, hatte bereits Ingarden hingewiesen: Man hört oft die Behauptung, daß das literarische Kunstwerk eine ›Darstellung‹ des Lebens oder der Wirklichkeit sei oder gar sein solle. Wie steht es damit in Wirklichkeit? Vor allem ist es klar, daß diese Rede sich nicht auf das ganze literarische Werk, sondern lediglich auf seine gegenständliche Schicht bezieht.⁹⁰
Mag also Holmes für Watson auch ein Mensch mit vollständigen Eigenschaften sein, so verhilft uns, die wir keine Figuren sind, sondern den Text als ein Produkt aus histoire und discours rezipieren und zu Ersterer keinen anderen Zugang als den durch Letzteren haben, das doch in keinem Punkt dazu, die Frage zu beantworten, wie Holmes Eltern heißen, wenn der Erzähler ihre Namen nicht erwähnt. Außerdem greift das Argument, Figuren seien auf der Figurenebene und für andere Figuren vollständig, also müssten auch wir, die Leser, sie als vollständige Wesen betrachten, noch in anderer Hinsicht zu kurz. Denn die Ebenen von histoire und discours lassen sich nicht als voneinander isolierte Bereiche betrachten. Es gibt nicht ›die Welt der Figuren‹, über der die Sphäre angesiedelt wäre, die dem Erzähler vorbehalten wäre. Denn die sogenannte ›Welt der Figuren‹ geht ja aus der Erzählerrede hervor, sie ist Erzählerrede, auch wenn ihre Funktion darin besteht, den Leser in die Diegese hineinzuführen und die Tatsache vergessen zu lassen, dass er den Worten des Erzählers, nicht denen von Figuren lauscht. Auch in Bezug auf die Entstehung der literarischen Figur sind beide Ebenen nicht zu trennen. Jannidis weist⁹¹ auf das Problem hin, dass eine Figur nicht allein durch direkte Beschreibung charakterisiert (und dadurch konstituiert) wird, sondern auch mittelbar, etwa durch die Räume, die sie bewohnt, die Handlungen, die sie ausführt, durch die Freunde, die sie hat. Wie aber sollen diese Merkmale in eine Theorie der Figur einbezogen werden?
90 Ingarden: Das literarische Kunstwerk, S. 257. 91 Jannidis setzt sich in seiner Darlegung auseinander mit Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca, London 1978.
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Chatmans Vorschlag, die Figur als Paradigma allein der psychologischen Merkmale aufzufassen, hat nun die kontraintuitive Folge, daß Angaben zur Figur, die sich nicht als äußerer Ausdruck eines psychischen Merkmals verstehen lassen, nicht der Figur zugeschrieben werden. Es stellt sich die Frage: Wohin sonst damit? […] Noch komplizierter wird dies, wenn eine Information immer wieder im Zusammenhang mit einer Figur genannt wird, z.B. der ›Musikkoffer‹, den der Gepäckträger Joseph dem amerikanischen Soldaten Odysseus in Tauben im Gras nachträgt und der in nahezu jeder Passage genannt ist, in der auch Joseph erwähnt wird.⁹²
Die Differenzierung in histoire und discours ist also notwendig, um zu verstehen, inwiefern Figuren Menschen sind – nämlich im Rahmen der Interaktion von Figuren auf der Ebene der histoire – und inwiefern nicht. Andererseits aber ist diese notwendige Unterscheidung eine rein theoretische. Denn ähnlich wie sich Form und Materie gedanklich trennen lassen, de facto aber stets gemeinsam auftreten, sind auch histoire und discours untrennbar verbunden, insofern sie nur zusammen Erzählung hervorbringen: Die histoire entsteht nur durch und im discours, dieser erzählt stets von etwas, nämlich der histoire. So ergibt sich zwischen diesen beiden Aspekten von Erzählung, die begrifflich und theoretisch getrennt werden müssen, obwohl sie innerhalb der Erzählung stets unlösbar miteinander verbunden sind, ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Innen und Außen: Obwohl beide einander begrifflich als Gegensätze zugeordnet sind, bedürfen sie einander, um sich wechselseitig hervorbringen zu können, denn erst das Innere macht das Äußere zum Außen und umgekehrt. An diesem Punkt soll die Frage, warum und inwiefern literarische Figuren keine Menschen sind, obwohl sie sich selbst doch als solche verstehen und von ihren Rezipienten als solche verstanden werden sollen, wieder aufgegriffen werden. Die umfassende Auseinandersetzung mit der Ontologie der literarischen Figur hat dazu verholfen, die Frage nach ihrer Emotionalität genauer beurteilen zu können: Auf der Figurenebene ist die Figur keine Figur, sondern ein Mensch mit allen daraus resultierenden Implikationen, etwa der der Vollständigkeit – innerhalb der histoire gibt es keine Unvollständigkeit. Doch diese vollständige, nicht-fiktionale Welt der Figuren ist uns allein durch die Vermittlung des discours zugänglich und im Rahmen dieser Vermittlung teilt sie sich uns immer schon als fiktional, unvollständig und vermittelt dar.
92 Jannidis: Person und Figur, S. 165, Hervorhebung im Original.
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6.3 Konsequenzen für die Interpretation Wie aber ist diese Einsicht fruchtbar zu machen für die Auseinandersetzung mit literarischen Figuren? Wie ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass literarische Emotionsdarstellungen, obwohl sie Beschreibungen der Emotionen von Figuren sind, nicht wie Emotionen behandelt werden können und mithin nicht so, wie es die anthropologische, die psychologische und psychoanalytische Literaturtheorie tut? Die wichtigste Folgerung scheint mir zu sein, die Ebene des discours stärker zu reflektieren und zu berücksichtigen, denn von ihr aus betrachtet relativiert sich die (scheinbare) Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wird, dass Figuren Menschen seien. Figuren aus der Perspektive des discours zu beurteilen bedeutet, ihre einerseits sprachliche, andererseits aber auch narrative Konstruiertheit und ihre Verwobenheit in das Gesamtgefüge des Textes zu berücksichtigen und damit die Emotionen einer Figur als Emotionsda rstel lu ngen zu verstehen. Daraus folgt, dass sie nicht isoliert, sondern stets nur im Erzählzusammenhang zu interpretieren sind. Gerade die Tatsache, dass erzählte Emotionen nicht als Emotionen einer Figur, sondern nur als Zuschreibungen durch den Erzähler zu verstehen sind, gerät in Studien zu Emotionsdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur immer wieder aus dem Blick. So ist zwar die Betonung ihres Zeichencharakters verbreitet: An Texten können keine Emotionen, sondern nur sprachliche und schriftliche Zeichen für Emotionen analysiert werden. Das ist selbstverständlich, auf Grund verschiedentlich geäußerter Unklarheiten über den Erkenntniswert, den die literarische Emotionsforschung für sich in Anspruch nimmt, jedoch wichtig zu betonen.⁹³
Doch diese Betonung hat meist keine methodologische Konsequenz, denn letztlich bilden doch die Emotionen selbst und nicht ihr Zeichencharakter das Erkenntnisinteresse: »Der Gegenstand der Analyse, E mot ionen, ist insbesondere in historischer Perspektive erklärungsbedürftig«⁹⁴ und: »Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Analyse von E mot ionen, ihrer Funktion und Ausdrucksmodi die motivationalen Strukturen und Handlungsmuster auch weiterer mittelalterlicher Texte erschließen können.«⁹⁵
93 Eming: Emotion und Expression, S. 65. 94 Eming: Emotion und Expression, S. 30, Hervorhebung von mir. 95 Eming: Emotion und Expression, S. 332, Hervorhebung von mir.
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Was aber bedeutet es für eine Textinterpretation, die Emotionen literarischer Figuren nicht als Emotionen, sondern als narrative Strategien zu verstehen, sie nicht aus dem Erzählzusammenhang zu isolieren, sondern ihre Bezogenheit auf ihn herauszuarbeiten? Das soll an einer exemplarischen Analyse der Emotionsdarstellungen in ›Valentin und Namelos‹ gezeigt werden. Der Text ist eine »mittelniederdeutsche Bearbeitung eines nur in Resten erhaltenen mittelniederländischen (flämischen) Versromans aus dem 14. Jahrhundert«⁹⁶ (der wiederum wohl eine Übersetzung oder Überarbeitung einer altfranzösischen Vorlage gewesen ist). Er liegt in verschiedenen Bearbeitungen vor. Ich beziehe mich im Folgenden auf die mitteldeutsche Prosabearbeitung, unikal überliefert in einer Handschrift von 1465. Die Handlung ist in Kürze folgende: Als die Königin mit zwei Söhnen niederkommt, nimmt ihr ihre intrigante Schwiegermutter die Kinder weg und befiehlt ihrer Kammerfrau, sie zu töten. Diese setzt entgegen dem Befehl den einen Prinzen im Wald aus und legt den anderen in ein Kästchen, das sie auf den See setzt. Während der eine Zwilling von der Nichte des Königs aus dem See gefischt und Valentin genannt wird, wird der im Wald Ausgesetzte von einer Wölfin großgezogen. Dreizehn Jahre später hat sich Valentin (der seine Abstammung nicht kennt) am Königshof etabliert und macht sich im Dienste des Königs auf, ein Untier, »groß vnd grawsam« (S. 86,11)⁹⁷ zu erschlagen, das im Wald lauert und bereits vierundzwanzig Männer getötet hat. Er überwindet es nach schwerem Kampf und bringt es an den Hof. Doch die Bestie ist kein Tier, sondern »…das tyr was seyn bruder vnd was aws deme kinde wurdin, das dy kemmerynne vndir den bawm hatte gelegit vor den wald.« (S. 86,17–19) Fortan führt Valentin das stumme und auf allen Vieren sich fortbewegende tyr, von dem er erst ganz am Ende erfährt, dass es sein eigener Bruder ist, mit sich umher wie einen Hund. Man könnte nun meinen, diese spektakuläre Geschichte lege es geradezu darauf an, die Emotionen der in dieses Verwirrspiel verstrickten Figuren zu thematisieren und die Handlung sei nur ein Vorwand, um diese zu provozieren. Doch das Gegenteil ist der Fall: Emotionen bestätigen und beglaubigen hier allein das, was die Handlung vorgibt. Sie zu entwickeln oder zu reflektieren ist deshalb nicht notwendig. Als Namelos im Wald eine Jungfrau aus den Händen eines Riesen befreit, beschläft er sie umstandslos. Der Text gibt diese Episode in bemerkenswerter Nüchternheit wieder, ohne auf die Brisanz einzugehen, die für
96 Vgl. 2VL X, Art. ›Valentin und Namelos‹, Sp. 156–161. 97 Valentin und Namelos. Die niederdeutsche Dichtung. Die hochdeutsche Prosa. Die Bruchstücke der mittelniederländischen Dichtung. Hrsg. von W. Seelmann. Norden, Leipzig 1884. (Niederdeutsche Denkmäler 4)
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alle Beteiligten daraus entstehen muss, dass Namelos für ein Tier gehalten wird. Stattdessen wird mit geradezu gezierter Beiläufigkeit erwähnt, dass Valentin auf Namelos wartet, während dieser mit der Geretteten der mynne spil spielt: »also sy nw schyre durch den wald qwomen, do nam Namelos dy iuncfrawe vnd furte sy beseyte vnd spilte mit ir der mynne spil. her Valentyn beitet ir.« (S. 93,31–34) Auch die Jungfrau muss davon ausgehen, von einem auf zwei Beinen gehenden Tier beschlafen worden zu sein, aber anstatt Unmutsäußerungen zu machen oder Fragen zu stellen, gibt sie ihm einen Ring mit Wunderkräften. Weil ihr ein Erretter aus der Not als Ehemann verheißen worden war, nimmt sie das tyr als ihren Geliebten an. Wie es zu einer Königstochter passt, ein tyr zu minnen, darüber wird kein Wort verloren. Handlung wird hier nicht durch Emotionen motiviert, sondern umgekehrt fügen sich die Emotionen der Figuren, soweit sie beschrieben werden, funktional der Handlung, die beispielsweise vorgibt, dass Valentin Auskunft über sein Herkommen nur erhält, wenn er bereit ist, die Jungfrau, die im Besitz dieses genealogischen Wissens ist, zu heiraten – andernfalls werde sie nichts sagen: »…›sunder ich sage seyn euch nicht, is sey denne, das ir mich vorheyssit, das ir mich nemet zcu eynem elichem weyne.‹« (S. 98,13–15) In diesem Moment, just, als die Handlung ihm die Erkenntnis seiner Abstammung zusammen mit der standesgemäßen Ehefrau zuspielt, reagiert die Figur Valentin mit der einzig adäquaten Regung, nämlich mit minne: »her Valentyn sach sy an vnd sy gevyl em awsdermose wol vnd wart zcu handis gefangin yn irer lybe […].« (S. 98,15f.) An dieser Stelle wird ganz besonders deutlich, was für die Emotionsdarstellungen des Textes insgesamt gilt: Sie haben nicht die Funktion, das Handeln der Figuren zu motivieren oder zu plausibilisieren, vielmehr beglaubigen sie die Sachverhalte, die behauptet werden und verleihen ihnen Gültigkeit: Valentin heiratet die namenlose Jungfrau nicht, weil er sie minnt, sondern er minnt sie, weil die Handlung vorgibt, dass er sie heiratet. Die Funktionalität der Emotionen, die den Figuren zugeschrieben werden, ist besonders deutlich in der Szene, in der die wahre Identität Namelos’ aufgedeckt wird. Valentin vernimmt die Umstände seiner Geburt von der Jungfrau und erfährt dabei auch, dass Namelos nicht nur ein Mensch, sondern sogar sein Bruder ist. Valentin »was awsdirmosin fro vnd vil Namelos vmb den hals und Namelos ym wedir, vnd kusseten sich also dy bruder […].« (S. 98,24f.) Dem vermeintlichen Tier wird schnell die Zunge ›gelöst‹, damit es sprechen kann, dann wird über die ganze Angelegenheit kein weiteres Wort mehr verloren. Offenbar gibt es keinen Anlass, seine plötzliche Metamorphose vom Tier zum Menschen eingehender zu thematisieren. Die Handlung geht über diese Entdeckung schnell hinweg. Das Innenleben des einen oder anderen Bruders zur Sprache zur bringen, liegt offenbar nicht in der Absicht des Autors, den der Weg vom
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Verstoßenen zum Reintegrierten deutlich mehr interessiert als die Entwicklung vom Tier zum Menschen. Das muss erstaunen, da gerade in dieser Szene die Spannung, die den Text durchzieht und die daraus resultiert, dass das Bruderpaar nicht nur seine Herkunft nicht kennt, sondern nicht einmal weiß, dass das tyr ein Mensch und sogar der Bruder Valentins (und damit ein Königssohn) ist, hier zum Höhepunkt kommt. Wie wird aber nun eine solch aberwitzige Situation aufgelöst? Eine Auflösung findet gar nicht statt, weil die Geschichte offenbar keiner bedarf. Als nächstes steht an, die Mutter zu befreien, alles Weitere wird demgegenüber zurückgestellt. Nachdem auch der König die Brüder als seine Söhne anerkannt hat, ziehen die beiden weiter, um die Mutter an den Hof zu holen. Nun wird Namelos’ Aufstieg zum Menschen sichtbar und konkret (»vnd her Namelos reyt ouch vnd lyß den kolben hinder em« [S. 100,2f.]), doch noch immer nicht diskursiviert. Der Text ist zwar mit den außerordentlichsten sozialen Konflikten und psychischen Ausnahmezuständen regelrecht überfrachtet und scheint damit zu versprechen, Unerhörtes zu berichten. Zwar löst er dieses Versprechen ein, doch Emotionen bilden nicht im Geringsten den Fokus des Erzählens. Nirgendwo wird die Frage aufgeworfen, welche Art von Existenz ein ›Wolfsjunge‹ führt, wie er die Gesellschaft wahrnimmt und diese ihn. Niemand fragt, was es bedeutet, in einem wilden und gefährlichen Tier den eigenen Bruder wiederzufinden, und offenbar interessiert es auch niemanden, was die Jungfrau, die von dem tyr gerettet worden ist, davon hält, diesem zum minne-Spiel zur Verfügung stehen zu müssen. Valentin und sein Bruder sind offenbar keine Modelle fühlender, wertender, leidender Menschen, die gerettet und erlöst werden, dankbar sind und Angst haben. Der Text führt nicht vor Augen, dass Emotionen historisch codiert sind, denn ihre Bedeutung in ›Valentin und Namelos‹ ist nicht a nders als in modernen Texten, sondern in diesem Text sind Emotionen schlichtweg kein Thema. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Figuren keine hätten. Emotionen kommen beiläufig zur Sprache, sind aber kein Gegenstand eingehenderer Beschreibung. Wenn Namelos verlangt, dass ihm die Jungfrau, die er gerettet hat, für das minne-Spiel überlassen werde, setzt dieses Verlangen natürlich ein erotisches Begehren voraus. Doch dieses wird weder benannt, noch beschrieben, sondern erschöpft sich im Wunsch Namelos’, den Beischlaf zu vollziehen. Viel wichtiger als das, was in der Figur Namelos vor sich geht, ist offenbar der Sachverhalt, dass das tyr mit diesem Verlangen und dem Vermögen, minne zu vollziehen, eine spezifisch kulturelle Handlung ausführt und damit aus dem Bereich des Animalischen bereits ansatzweise heraustritt. Emotionen sind für die Beschreibung dieses Prozesses weder auf Seiten Namelos’, noch auf Seiten der Dame von
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Belang. Für ihn erfüllt sich genau wie für sie mit dem Beischlaf eine Bestimmung. Dass ihre Bestimmung die Dame an ein vermeintliches Tier bindet, ist dabei nebensächlich. Die Figuren agieren hier als Träger eines Geschehens, das kein emotionales, sondern ein rein faktisches ist: Zwei Königssöhne sind durch intrigante Machenschaften um ihr Erbe gebracht worden und versuchen deshalb, sich die legitime Herrschaft zu erstreiten. Nichts kann einen Adligen so weit vom Hof, vom Ort seiner genealogischen Abstammung und Bestimmung entfernen (auch das Aufwachsen im Wald nicht), dass er nicht doch noch zu diesem Ort zurückfinden könnte. Das ist die Geschichte, die in ›Valentin und Namelos‹ erzählt wird: Eine Geschichte von Geblüt, Herrschaft und Ehre im Umkreis König Karls, nicht eine über das menschliche Geschick zweier Brüder, die, ihrer Mutter entrissen, unter schwierigsten und ganz unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen. Nicht von mensch lichen Geschicken ist hier die Rede, sondern von feuda len. Und nicht die jeweiligen Umstände der Sozialisation der Brüder wird thematisiert, sondern, dass diese in letzter Konsequenz gleichgültig sind. Selbst ein von Tieren im Wald aufgezogener, der menschlichen Sprache nicht mächtiger Wilder kann aufgrund seines Geblüts und seiner Abstammung noch zum Herrscher werden, denn nichts vermag sich dauerhaft zwischen die Angehörigen eines Adelsgeschlechts zu drängen, weder Intriganten, noch die falsche Sozialisation. Valentin und Namelos sind in ersten Linie Adlige, dann erst ›Menschen‹. Die Darstellung ihrer Emotionen macht sie nicht ›menschlicher‹ oder ihr Handeln nachvollziehbarer, sie verhilft uns auch nicht dazu, zeitgenössische Bewertungen von Emotionen besser zu verstehen, sondern ist allein auf die Geschichte selbst bezogen, die erzählt werden soll. Dass es sich bei mittelalterlichen literarischen Emotionsdarstellungen in aller Regel nicht um jene Gefühle handelt, die die moderne Rezeption gerne in ihnen erkennen möchte, wird von vielen Texten immer wieder selbst deutlich hervorgehoben. Die Artifizialität beispielsweise der literarischen Trauerdarstellung lässt sich exemplarisch an Kriemhilts blutigen Tränen (oder den blutigen Tränen, mit denen Friedrich von Schwaben seine Frau Angelburg beweint⁹⁸) erkennen:
98 Friedrich von Schwaben. Hrsg. und kommentiert von Sandra Linden. Konstanz, Eggingen 2005 (Bibliotheca Suevica 14), v. 7235.
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Dô brâhte man die vrouwen, dâ si in ligen vant. si huop sîn schœne houbet mit ir vil wîzen hant; dô kustes’ alsô tôten den edeln ritter guot. diu ir vil liehten ougen vor leide weineten bluot. (Str. 1069)⁹⁹
Die blutigen Tränen Kriemhilts sollen offenbar nicht mittelalterliche Formen der Trauer zitieren, sondern vielmehr die Distanz zu ihnen unterstreichen. Kriemhilts Trauer soll nicht mit außerliterarischer Trauer verwechselt werden und ist mit keiner menschlichen Trauer zu vergleichen. Natürlich muss das ›Nibelungenlied‹, um von der übermenschlichen Trauer Kriemhilts erzählen zu können, die Formensprache menschlicher Gefühlsäußerungen beibehalten, um verstanden werden zu können: Literarischen Texten sind, wie Texten auch sonst, mehr oder minder explizit anthropologische Modelle eingeschrieben. […] Der einem Text eingeschriebene anthropologische Entwurf darf nicht als unmittelbarer ›Ausdruck‹ einer historischen Mentalität verstanden werden, sondern als ein Entwurf, der durch situationsabhängige, pragmatische, sprachliche, stilistische, gattungsspezifische Bedingungen mitkonstituiert ist, die sich mehr oder minder weit von denen des Alltags entfernen können.¹⁰⁰
Dass auch eine superlativische, heroische ›nibelungische Trauer‹ sich in ihren Grundzügen auf die Erscheinungsform von Trauer notwendig beziehen muss, heißt jedoch gerade nicht, dass Kriemhilts Trauer deshalb einfach ›Trauer‹ ist – sie ist das ebenso sehr oder ebenso wenig, wie Hagen ein mittelalterlicher Vasall und der Nibelungenhort ein mittelalterlicher Schatz ist. Das Blut ihrer Tränen zeigt nicht (nur) die Intensität ihrer Trauer an, sondern markiert sie als eine, die alles aus der Erfahrungswelt Bekannte weit überschreitet. Ihre Klage ist eine heroische – nicht nur, weil sie über Menschenmaß hinausragt, sondern auch, weil sie als literarisches Motiv mit anderen literarischen Motiven verknüpft ist – mit dem Drachenblut, das Siegfried unverwundbar, aber nicht unsterblich gemacht hatte, mit Siegfrieds Blut und mit dem Blut der Burgunden und Hunnen, das Kriemhilt viele Jahrzehnte später fließen lassen wird. Die Darstellung von »Unmittelbarkeit und Affektüberwältigung [ist] in spezifische narrative Funktionszusammenhänge eingebunden.«¹⁰¹
99 Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. Wiesbaden 151959. (Deutsche Klassiker des Mittelalters) 100 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 202. 101 Koch: Trauer und Identität, S. 285.
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Dass die Darstellung von Emotionen in der Literatur bewusst verfremdet ist und Emotionen nicht einfach abbildet, lässt sich auch an einem Beispiel aus dem ›Wolfdietrich‹ in der Fassung D erkennen. Dort kommt Wolfdietrich, der den Tod Ortnits rächen will, nachts zur Burg seiner Witwe, die die Angewohnheit hat, von der Zinne aus laut um ihren toten Gatten zu klagen: ›Otnît, lieber herre, got gnâde der sêle dîn. ich klagt dich gerne am bette, sô lânt mich diu frouwelîn mînes herzen swære nâch willen niht gehân: des muoz ich zuo dem wahter an die zinnen gân.‹ (VIII, 8)
Wolfdietrich, der in der Dunkelheit vor der Burg steht, hört sie und wird von ihrem Schmerz schließlich zu einer Reaktion bewegt, die zu verstehen zunächst nicht ganz einfach ist. Er wirft einen großen Stein auf die Burg, dem Sidrat und der Wächter nur mit knapper Not entkommen: Dô mohte Wolfdietrich die klage niht mê vertragen, er nam einen füederigen stein an dem burcgraben, er warf in an die mûre daz ez vil lûte erhal und sich diu burc erschutte. diu frowe viel hinder sich zetal. (VIII, 21)
Zwei Dinge fallen hier ins Auge: Zunächst, dass die Beschreibung der Handlung, die durch die Emotion ausgelöst wird, die Darstellung der Emotion selbst überblendet. Mit keinem Wort wird beschrieben, was Wolfdietrich empfindet und was genau ihn dazu veranlasst, die klagende Witwe Ortnits mit einem schweren Stein zu bewerfen. Die Information springt gleichsam vermittlungslos vom Munde Sidrats in Wolfdietrichs Körper, ohne über eine eindeutige, benennbare und vor allem für den Rezipienten nachvollziehbare Emotion vermittelt zu werden. Es geht dem Erzähler offenbar nicht darum, das Handeln der Figuren in allen Punkten verständlich darzustellen, sondern als außergewöhnlich und spektakulär zu markieren. Diese Deutung von Wolfdietrichs Verhalten wird in der hier behandelten Episode sogar explizit gemacht, als Sidrat in die Dunkelheit hinein fragt: »›vil lieber herre, waz hân wir iu getân, / daz ir mich in der bürge woltent erworfen hân?‹« (VIII, 30) und zur Antwort bekommt: »›dô hôrte ich iuch, frouwe, klagen einen biderman: / dô wolt ich iuch lân schouwen, ob ich eins mannes kraft möht hân.‹« (VIII, 30) Um die Darstellung von Wolfdietrichs kraft geht es dem Erzähler, nicht um den Blick in sein Inneres. Allerdings lässt sich das eine vom anderen kaum trennen, denn um Wolfdietrichs heroische Kraft ins Bild treten zu lassen, greift der Erzähler auf die Darstellung eines Verhaltens zurück, das von Emotionen motiviert ist, von Emotionen aber, die keine ›Gefühle‹ sind.
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Diese narrative Funktionalisierung von Emotionsdarstellungen ist jedoch durchaus nicht gattungsspezifisch – das hat eine Studie von Elke Koch belegt. Sie hat am Beispiel von Trauerinszenierungen gezeigt, dass diese in der höfischen Epik wie in der chanson de geste für die Konstruktion von Identität herangezogen werden: Im untersuchten Korpus bildet Trauer eine literarische Konfiguration, mit der Identität konstruiert und reflektiert wird. Die Emotion wird insbesondere in solchen Situationen poetisch entfaltet, die durch Identitätsbedrohung oder Identitätsverlust gekennzeichnet sind. […] Doch fungiert in den untersuchten Texten Trauer als Reflexionsfigur für Identität auch dort, wo die reflexive Dimension der Emotion auf der Ebene der Darstellung nicht im Vordergrund steht. Der Stellenwert der Trauer für literarische Identitätskonstitution ist nicht allein durch die Selbstthematisierung des Subjekts im Klagemonolog begründet. Maßgeblich ist vielmehr, dass auf der Ebene der Inszenierung von Körpern, Reaktionen und Interaktionen der Figuren differenzierte Strategien zu konstatieren sind, mittels derer komplexe Identitäten entworfen werden.¹⁰²
Vereinfacht bedeutet diese Überlegung, dass die Inszenierung von Trauer nicht allein die Funktion hat, Trauer zu diskursivieren, sondern darüber hinaus und allgemeiner die, literarische Identität zu begründen, und zwar bemerkenswerter Weise weitgehend unabhängig von der Gattungszugehörigkeit. Gerade in Bezug auf die Einbindung von Emotionsdarstellungen in den Erzählzusammenhang sind die Differenzen zwischen höfischer und heroischer Epik überraschend gering. Zwar wird dem Rezipienten der Heldenepik in der Regel weniger Einblick in das innere Geschehen einer Figur gewährt und die Beschreibung ihrer Emotion ist formelhafter und knapper als in der höfischen Epik. Darüber hinaus sind die Differenzen zwischen den Inszenierungen von Emotionen in höfischer und heroischer Epik geschlechtsspezifisch codiert: Es »wird Trauer in der Heldenepik männlichen Figuren, im höfischen Roman dagegen vor allem Frauenfiguren zugeschrieben.«¹⁰³ Doch diese Differenzen sollten nicht überbewertet und vor allem nicht zur Klassifizierung von Emotionsdarstellungen in höfischer und heroischer Epik herangezogen werden. Denn bereits die Tatsache, dass Heldenepik und chanson de geste die gleichen Terminologien zur Bezeichnung einer Emotion nutzen wie die höfische Epik und die gleichen Formeln zu ihrer Beschreibung herangezogen werden (Erröten, Haareraufen, Kleiderzerreißen), zeigt, dass die Unterschiede
102 Koch: Trauer und Identität, S. 284f. 103 Koch: Trauer und Identität, S. 159. Diese Beobachtung ist wenig überraschend. Der Sachverhalt dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass Frauen insgesamt in heldenepischen Texten wenig Prominenz besitzen und selten die Aufmerksamkeit des Erzählers genießen.
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vor allem auf der quantitativen, nicht aber auf der qualitativen Ebene liegen.¹⁰⁴ Das vermag eine Episode aus dem anonymen stichischen Epos ›Biterolf und Dietleib‹¹⁰⁵ zu illustrieren: Als Biterolf und sein Sohn Dietleib am Hunnenhof einander nach jahrelanger Trennung wiederfinden, wird dieses Ereignis nicht etwa dazu genutzt, die Emotionen der beteiligten Figuren zu thematisieren. Die gesamte Wiedererkennungsszene ist im Gegenteil auffallend nüchtern und unemotional gestaltet. Dietleib verlässt seine Heimat, um nach seinem Vater zu suchen genau wie Wigalois, der auf der Suche nach Gawein das anderweltliche Reich seiner Mutter verlässt und an den Artushof gelangt. Biterolf und Dietleib sind einander zwar sehr zugetan, unternehmen aber keinerlei Anstrengungen, die Identität des jeweils anderen in Erfahrung zu bringen. Rüdiger durchschaut die Situation, vermittelt zwischen den unbeholfenen Verwandten und führt die Enthüllung ihres wahren Verhältnisses herbei. Als sie erkennen, dass sie Vater und Sohn sind, sagt Dietleib zu seinem Vater: ›sît ir Biterolf genant, sô hân ich in der Hiunen lant durch iuwer liebe her geriten.‹ mit rehte friuntlîchen siten einander si enphiengen […]. (›Biterolf und Dietleib‹, v. 4293–4297)
Im Vergleich mit dem höfischen Roman ist die Entdeckung außerordentlich schlicht, wenig expressiv und wortkarg gestaltet. Dort heißt es:
104 Es kann in diesem Zusammenhang als signifikant gelten, dass eine Monographie zur Inszenierung von Trauer in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur Beispiele aus der höfischen Literatur und der chanson de geste mischt, und zwar mit gutem Grund – dem nämlich, dass Trauerdarstellungen im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach durchaus sinnvoll zu vergleichen sind mit solchen aus dem ›Erec‹ Hartmanns von Aue und dem ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Zwar problematisieren sie »gattungsbedingt jeweils zentrale Aspekte sozialer Organisation und Identitätsbildung« (Koch: Trauer und Identität, S. 15), doch dieser Gattungsbedingtheit widerspricht es nicht, dass sich »die Komplexität und die Spezifik der Inszenierungen von Trauer im Funktionszusammenhang des jeweiligen Textes« (S. 15) gegenseitig zu erhellen vermögen, weil sie bei aller Differenz doch zahlreiche Strukturanalogien aufweisen. 105 Vgl. auch die Interpretation des beiderseitigen Unvermögens von Biterolf und Dietleib, einander zu erkennen im Kapitel zu ›Innen und Außen‹. Zu Verwandtschaft in ›Biterolf und Dietleip‹ vgl. auch: Gunda S. Lange: Nibelungische Intertextualität. Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters. Berlin, New York 2009 (Trends in medieval philology 17), S. 148–160.
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her Gâwein in [Wigalois] umbe vie; vor vreuden er die zäher lie ûf sîne wât vallen. mit triuwen âne gallen sie sich underkusten; des mohte si wol lusten: si wârn zu sehen einander vrô. (›Wigalois‹, v. 9602–968)
Während hier Freude, Tränen und Kuss hervorgehoben werden, also nicht nur das Verhalten der Figuren geschildert, sondern auch explizit unterstrichen wird, wie groß die Freude beider ist, ist die Begegnung von Biterolf und Dietleib deutlich verhaltener. Viel größere Aufmerksamkeit als darauf, wie Vater und Sohn damit umgehen, dass Biterolf in Dietleib seinen Sohn und dieser in Biterolf seinen Vater gefunden hat, wird auf die kommunikative Dynamik gelenkt, die diese Sensation am Hunnenhof, also abseits der beiden Betroffenen, entfaltet: Rüdiger, der beide zusammengebracht hat, darf die Neuigkeit weder Männern noch Frauen weitersagen, weil Biterolf es ihm untersagt. Deshalb erzählt er einer der Jungfrauen der Königin die Neuigkeit. Zu Biterolfs großem Verdruss verbreitet sie sich nun in Windeseile am Hof. Die Komik von Rüdigers findiger Umgehung seines Versprechens lenkt die Aufmerksamkeit diskret von Biterolf und Dietleib ab auf Rüdiger und die burleske Art, wie der Hof Kenntnis von der Sensation erlangt. Vater und Sohn sowie deren Emotionen und Verhalten treten unterdes in den Hintergrund. Fast scheint es, als habe die schalkhafte Episode um Rüdigers Verbreitung der Neuigkeit allein die Funktion, die Aufmerksamkeit, die sich zwangsläufig auf Vater und Sohn gerichtet hat, unmerklich umzulenken auf einen unverfänglichen und heiteren Gegenstand, den Rüdiger, der wie stets und wie kein anderer prekäre Situationen zu meistern vermag, herbeiführt. Die Gelegenheit, Emotionen zu inszenieren und zu thematisieren, wird nicht nur nicht genutzt, sondern sogar umständlich umgangen. Doch obgleich dieses Beispiel für die Art, wie in heldenepischem Erzählen mit der Darstellung von Emotionen verfahren wird, nicht untypisch ist, kennt die Heldenepik auch Passagen, die sich einem ersten, flüchtigen Blick als geradezu sentimental präsentieren können. Gerade im ›Wolfdietrich D‹ begegnen derartige Emotionsdarstellungen häufig. Dort teilen Wolfdietrich und Sidrat, die Witwe Ortnits, das Schlafgemach, nicht jedoch das Bett: Weil beide noch nicht verheiratet sind, will Sidrat, wie sie unumwunden ausspricht, von Wolfdietrich kein kebeskint empfangen, das später keinen Herrschaftsanspruch geltend machen könnte, weil es nicht ehelich gezeugt worden ist. Obwohl hier wieder Rechts- und Herrschaftsverhältnisse in das Geschehen (oder besser das Nicht-Geschehen) hineinragen, gibt es doch auch einen (vermeintlichen) Über-
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schuss an Emotion, nämlich Handlungen, die sich in die Kommunikation von Adel, Herrschaft und Macht nicht integrieren lassen und die vorgefassten Vorstellungen von heldenepischen Emotionsdarstellungen irritieren:¹⁰⁶ Wenn sie auch nicht das Bett mit Wolfdietrich teilen will, so legt sich Sidrat doch so nahe zu ihm, dass sie während des Schlafes seine Hand halten kann: schiere leit sich slâfen diu edel keiserin; sie langt mit ir henden an die sîn, wan sie sie bôt dâ hin. (D, VIII 277, 4)
Doch solche scheinbare Sentimentalität ist sowohl in der höfischen als auch in der heroischen Epik trügerisch, geht es doch selbst dort, wo Emotionen zum Ausdruck zu kommen scheinen, in aller Regel gerade nicht um Gefühle, sondern um objektive Zusammenhänge wie Machtdemonstration, Loyalität oder Herrschaft. Wenn Ortnits Witwe nachts herzzerreißend um ihren toten Gatten klagt, so beklagt sie nicht, wie zunächst zu vermuten wäre, seinen Tod und ihre Einsamkeit, sondern die Reputation, die Rechtssicherheit und die Herrschaft, die sie durch seinen Tod eingebüßt hat:¹⁰⁷ ›Ortnît, lieber herre, die wîle daz du lebtest, dô kâmen her ze hûse der sihe ich leider keinen,
got gnâde der sêle dîn. dô moht ich mit fröiden sîn. grâven frîen dienstman: sît ich dich verlorn hân.
Mir dienten Beiern Swâben Franken Düringe lant, Wormez Spîre Kölne was mir allez wol bekant. mir diente sant Cristînen sê, dô mohte ich vische haben. lant unde liute gêt mir allez abe. Die vor wâren mîn schenken, die sint die herren mîn: die ir truogen zezzen, die went mîn gewaltic sîn. sie stôzent mich vom erbe, sô bin ich friunde lôs, sô hân ich in der welte ze nieman keinen trôst.‹ (D, VIII,12–14).
106 Zu Emotionsdarstellungen im ›Wolfdietrich D‹ vgl. auch Dietmar Peschel: Sonderbare Feinzeichnungen! Kann man diese Frau heiraten? Eine Unheldin in der Wolfdietrich-Version D. In: 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch ›Heldinnen‹. Hrsg. von Johannes Keller und Florian Kragl. Wien 2010 (Philologica Germanica 31), S. 139–163. Peschel konzentriert sich in seiner Analyse jedoch auf eine bestimmte Episode des ›Wolfdietrich D‹, die für meine Untersuchung von Emotionsdarstellungen keine Rolle spielt, weswegen ich mich hier nicht weiter mit Peschels Beobachtungen auseinandersetze. 107 Ähnliches ließe sich auch von Enites Totenklage um Erec zeigen, sofern es auch darin »um nichts anderes geht denn um Rang und Stand (nicht allerdings in der Reduktion auf eine ›Äußerlichkeit‹, zu der wir eine solche Frage herabwürdigen, sondern im Rahmen einer vollen sozialnatürlichen Identität).« Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion, S. 411.
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Die entscheidende Bestimmung zur Darstellung von Emotionen in mittelalterlichen Erzähltexten gilt für Heldenepik, chanson de geste und für die höfische Epik gleichermaßen und ist auch für spätere literarische Formen noch verbindlich: Emotionsdarstellungen fungieren zumeist nicht als Beschreibung menschlichen Fühlens, sondern sind – nicht immer, aber in der Regel – die Inszenierung eines Rechtsstatus oder einer sozialen Selbstpositionierung. Ihre Emotionen bilden nicht das Zentrum der Figur, ihren ›Innenraum‹, sondern sind stets auf Anerkennung oder Missachtung des Ranges bezogen, auf den Hof und seine Repräsentanten, und zwar selbst dort noch, wo beides gar nicht anwesend ist.¹⁰⁸ Gleich zwei Gründe sprechen also dagegen, in mittelalterlichen Emotionsdarstellungen historische Emotionsdiskurse aufzusuchen. Zum einen sind Figuren Artefakte und was sie tun, kann ihnen – zumindest aus der Perspektive des discours – nicht als i h r Verhalten zugerechnet werden, weil Emotionsdarstellungen »nicht als Ausdruck eines vormodernen emotionalen Habitus interpretiert, sondern als narrative Strategien betrachtet [werden müssen], die in je eigene Funktionszusammenhänge eingebettet sind.«¹⁰⁹ Diese narrative Strategie, deren Bestandteil Emotionsdarstellungen sind, ist aber komplexer als die Emotionsdarstellung selbst. Sie umfasst das äußere Erscheinungsbild einer Figur, ihren Status, den Raum, in dem die Figuren agieren, ihre Abstammung, ihr Alter. Die Emotionsdarstellung ist aus dem Ganzen eines literarischen Textes ebenso wenig zu isolieren wie eine einzelne Handlung einer Figur, die ihre Tragweite und ihre Bedeutung erst dann entfaltet, wenn sie im komplexen Gefüge der Erzählstruktur verortet wird. Doch eine Interpretation von Emotionsdarstellungen unter der Maßgabe moderner anthropologischer Theorien wie der Psychoanalyse diskreditiert
108 Es gibt nur wenige Ausnahmen von dieser Regel. Eine solche wäre in der im Kapitel zu ›Innen und Außen‹ beschriebenen Szene aus Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹ zu sehen: Tristan unterhält auch nach der Trennung von ihr eine heimliche minne zur blonden Isolde, von dem der Rezipient nur durch den Erzähler erfährt. Nichts im Verhalten der Figuren zueinander deutet darauf hin. Tristans eigenes Verhalten gibt keinen Aufschluss über seine minne zu Isolde, weshalb seine Frau auch im Unklaren darüber bleibt, weshalb ihr Gatte die geschlossene Ehe nicht vollzieht. Hier wird Emotion ausnahmsweise nicht als Handlung, sondern als innerer Prozess und als Reflexion beschrieben, und zwar als eine, die sich dem anderen, in diesem Falle Tristans Ehefrau, nur mittelbar mitteilt. Sie erkennt weder, dass er durch seinen Ring an die vormalige Geliebte erinnert wird, noch, dass diese Erinnerung ihn davon abhält, die Ehe zu vollziehen. Wohl merkt sie, dass er zögert, doch die Prozesse, die ursächlich dafür sind, bleiben ihr verborgen. Dass die Emotionen einer Figur sich nicht körperlich (etwa als Farbveränderung oder als stumpfes Vor-sich-Hinstarren) oder als Handlung (durch Haareraufen oder Kleiderzerreißen) mitteilen, ist jedoch nicht die Regel, sondern die Ausnahme. 109 Koch: Trauer und Identität, S. 30.
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sich nicht allein dadurch, dass Emotionsdarstellungen keine Emotionen sind. Darüber hinaus macht die mittelalterliche Literatur dort, wo sie die Emotionen ihrer Figuren thematisiert, oft selbst deutlich, dass es hier nicht um das geht, was dem Rezipienten aus eigener Erfahrung vertraut ist. Vielmehr werden die Gefühlsäußerungen kalkuliert verfremdet, formalisiert oder schematisiert. Unter Verfremdung ist bekanntlich zu verstehen »das Ensemble aller Gestaltungsmittel, die der […] Absicht entspringen, durch die von der pragmatischen Sprache abweichenden Formen beim Rezipienten Aufmerksamkeit zu erregen.«¹¹⁰ Sie ist eine Strategie, die durch die »Verkomplizierung der Form […] die Wahrnehmung […] erschwert und ihre Dauer […] verlängert.«¹¹¹ Sie ist eine Irritation, die Aufmerksamkeit erregt und so einen Freiraum schafft, in dem Neues und Ungewohntes sich artikulieren und etablieren kann, ohne unmittelbar an bereits Bekanntes angebunden werden zu können. Eine solche Irritation erzeugen auch die zahlreichen Verfremdungen in den Emotionsdarstellungen wie Kriemhilts blutige Tränen. Sie unterwandern eine unmittelbare Identifikation und provozieren die Reflexion über den Status des Erzählten, die Außergewöhnlichkeit des Dargestellten (nämlich beispielsweise der heroischen Trauer) und des Darstellungsmodus (der nicht auf das Faktische referiert, sondern es überschreitet). Wie ist nun von den Emotionen der Figuren zu sprechen, die offenbar gar keine Emotionen sind? Gibt es einen Weg, sie nicht emotionspsychologisch zu deuten und sie dennoch nicht aus der Interpretation auszuklammern? Trifft es tatsächlich zu, dass man »in der Literaturbetrachtung wohl oder übel Psychologie irgendwelcher Art betreiben muß«¹¹²? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es möglich ist, »Bedeutungsebenen und Funktionen von Emotionen [zu untersuchen], ohne den Figuren eine spezifische Innerlichkeit oder Psyche« unterstellen und »ohne eine kohärente Figurenkonstitution voraussetzen« zu müssen.¹¹³ Emotionsdarstellungen sind dabei zu behandeln wie alle anderen literarischen Beschreibungen auch, beispielsweise die von Kleidern, von Räumen oder von Kämpfen. Denn letztlich macht es erzähltechnisch durchaus keinen Unterschied, ob beispielsweise Albrecht von Scharfenberg in seinem ›Jüngeren
110 Hermann Helmers: Einleitung. In: Verfremdung in der Literatur. Hrsg. von Dems. Darmstadt 1984 (Wege der Forschung 551), S. 1–31, hier S. 1. 111 Viktor Sklovskij: Kunst als Kunstgriff. In: Verfremdung in der Literatur, S. 70–87, hier S. 76. 112 von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 56. 113 Koch: Trauer und Identität, S. 288.
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Titurel‹ den Schmuck des Graltempels beschreibt oder die Erregung, in die das verlorene Brackenseil Sigune versetzt. Im Folgenden sollen exemplarische Analysen von Emotionsdarstellungen vorgenommen werden, um nachzuweisen, welchen Unterschied es macht, ob Emotionsdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur als Emot ionen oder als E rzä h lver fa h ren behandelt werden. Demonstriert werden soll insbesondere, dass Emotionsdarstellungen – wie übrigens Innenräumen und inneren Prozessen insgesamt – keine privilegierte Position innerhalb des Erzählzusammenhanges zukommt. So wie das Innere zum Äußeren werden muss, um anschaulich zu werden, so muss die Emotion der Figur zum Zeichenträger des Geschehens werden, um bedeutsam zu werden. Als Zeichenträger, also als Bestandteil des narrativen Gefüges, das den Erzähltext konstituiert, referiert die Emotionsdarstellung aber nicht mehr auf eine Emotion, sondern erlangt Bedeutung innerhalb aller anderen literarischen Zeichen. Dies soll an einer einzelnen exemplarischen ›literarischen Emotion‹ gezeigt werden: Der Scham.
6.4 Narrative Innenraumerzeugung am Beispiel der Scham Scham ist immer auf die soziale Umgebung der sich schämenden Figur bezogen, also immer schon sozial und kulturell besetzt. Sie kommt im privaten Raum nicht vor – Figuren schämen sich immer vor anderen, so wie Iwein, der sich, nachdem Lunete ihn vor der Öffentlichkeit des Artushofes angeklagt und ihn einen »triuwelôsen man« (v. 3183) genannt hat, wünscht, daz er wære etewâ daz man noch wîp enweste wâ und niemer gehôrte mære war er komen wære. (v. 3217–3220)
In anderen Fällen schämen sich Figuren nicht für ein Fehlverhalten, sondern, wie im Fall von Enite, die unvermittelt den versammelten Rittern der Tafelrunde gegenüber steht, aus Anstand, Mädchenhaftigkeit und höfischer Scheu: sus leit kurzen ungemach diu juncvrouwe Ênîte von schame unlange zîte. dô si zer tür in gie, ir schœnez antlütze gevie der wünneclîchen varwe mê und wart schœner dan ê:
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ei wie wol ez ir gezam dô ir varwe wandel nam! von grôzer schame daz geschach: wan si nie mê gesach sitzen ensamt sô manegen helt von ganzen tugenden ûz erwelt. (v. 1723–1735)
Diese gleichsam ›höfische Scham‹ eignet sich dazu, zu veranschaulichen, welch positive Konnotation Scham in der höfischen Dichtung in aller Regel hat. Denn durch sie zeigt der Protagonist, dass er sich der gesellschaftlichen Spielregeln, denen er unterworfen ist, bewusst ist, sie anerkennt und für verbindlich hält. So empfängt Helche ihre Gäste bekanntermaßen voller milte, also ehrenhaft und großzügig. Das bewahrheitet sich auch an Biterolf. Als er sich ihrem Thron nähert, erhebt sie sich und bereitet ihm einen vollendet höfischen Empfang, der mit einschließt, dass ihr die Röte in die Wangen steigt: der helt [Etzel] liez ungezürnet daz daz si von dem sedele stuont, sô frouwen noch in zühten tuont. Biterolf dô zuo ir gie: sô vlîziclîch si in enphie daz si dâ von wart rôsenvar. si blicte harte dicke dar: ez was ein wol gestalter man. (v. 1300–1307)
Die Röte, die Helches Gesicht zeigt, ist jedoch kein Symptom von Peinlichkeit oder Beklommenheit und deshalb zunächst nicht leicht zuzuordnen. Sie scheint nicht in die beschriebene Situation hinein zu passen. Helches Röte kennzeichnet vor allem die Öffentlichkeit einer bedeutsamen Begegnung und einer sozial brisanten Situation, in der Herrschaft und Macht wechselseitig augenfällig werden. Entsprechend ist auch Enites Erröten vor den Artusrittern eher Teil höfischer Kommunikation: Als Enite an der Schwelle zum Festsaal steht, in dem sich die ruhmreichsten Artusritter versammelt haben, wird sie subjektiv von schame erfasst – zum ersten und einzigen Mal im ganzen Text. Hier sind es nicht die Blicke der anderen und Enites soziale Defekte, die schame auslösen, vielmehr ist sie es, die die Helden anblickt und von der überwältigenden êre beeindruckt ist.¹¹⁴
Enite reagiert zwar mit ihrer Schamhaftigkeit auf die Dignität und Autorität der Tafelrunde, doch ihre Scham ist keine einseitige Bewunderung, sondern Indika-
114 Koch: Trauer und Identität, S. 171.
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tor der Reziprozität zwischen der Tafelrunde und der schönsten aller Frauen als ihrer Repräsentantin. Denn Enites Erröten bestätigt nicht nur die Tafelrunde als Institution höfischer Wertsetzung, sondern zeigt gleichermaßen an, dass Enite nicht nur durch ihre adlige Herkunft, sondern auch durch ihre Anerkennung der Autorität der Tafelrunde Mitglied jener höfischen Gemeinschaft ist, die in der Tafelrunde ihre vollendete Gestalt annimmt. Das Verhältnis zwischen Enite und der Tafelrunde, das in dieser Szene ins Bild gesetzt wird, ist also ein reziprokes und symmetrisches, eines von wechselseitiger Bestätigung. Während Enite die Geltung der Tafelrunde durch ihr Erröten bestätigt, erkennen die Ritter der Tafelrunde Enites Rang durch das Erschrecken vor ihrer Schönheit an: dô diu maget in gie, von ir schœne erschrâken die zer tavelrunde sâzen sô daz sie ir selber vergâzen und kapheten die maget an. (v. 1736–1740)
Beide scheinbar spontanen emotionalen Reaktionen, die Enite und die Tafelrunde zeigen, sind Chiffren ihrer Beglaubigung durch den Erzähler, allerdings auch – darauf wird gleich einzugehen sein – wie im Falle von Kriemhilts blutigen Tränen Vorausdeutungen auf spätere Ereignisse. Nicht zufällig findet Enites Erröten auf der Schwelle zum Saal statt,¹¹⁵ an jenem Punkt also, der zwischen einem Außerhalb und einem Innerhalb der Artusgemeinschaft liegt. Hier geht es offenbar eher um Inklusion und Teilhabe als um Empfindung und Gefühl. Scham wird in der mittelalterlichen Literatur nicht geschlechtsspezifisch gestaltet. Sie befällt männliche Helden nicht seltener und nicht weniger heftig als weibliche. Und sie scheint kaum gattungsspezifische Differenzen aufzuweisen. Das lässt sich beispielsweise am ›Wolfdietrich‹ in der Fassung D zeigen: Wolfdietrich kommt auf seinen Irrfahrten auf eine Burg, in der er seine Tante trifft, die ihm eine gute Behandlung zuteilwerden lassen will und deshalb veranlasst, dass ihre Jungfrauen den Helden baden. Doch der rostverschmierte Drachentöter will sich von ihnen nicht entkleiden lassen, weil, wie er meint, die höfische Sitte es verbiete, dass eine adlige Dame ihn unbekleidet erblicke: Kursît und gesmîde wolt sim hân ab gezogen, sîn spalier guot von sîden, daz ist wâr und niht gelogen. er sprach ›frouwe reine, ez wære ein grôz unzuht, daz mich hie solt ûz ziehen ein minneclîchiu fruht.
115 Vgl. hierzu auch Koch: Trauer und Identität, S. 171.
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Gegen iuwer einer frouwen diuht ez mich gar ze vil daz man mich solte schouwen bî ir sunder zil, daz sie mich solte engerwen und bringen ûz mîner wât, (rostic ist mîn geserwe): des wolte ich haben rât. Ir minniclîchen frouwen, ich wil iuch sêre biten: welnt ir an mir geschouwen diu kleider wol gesniten, sô lânt mich aleine daz ich niht schame spehe, sô daz mich iuwer keine hie alsô blôzen sehe.‹ (VII, 83–85)
Enite und Wolfdietrich werden dadurch, dass sie sich vor anderen Mitgliedern des Hofes schämen, vom Autor als Adlige gekennzeichnet, die der Etikette gemäß handeln und alle anderen an Regelkonformität übertreffen. Auch jugendliche Arglosigkeit und Reinheit wird durch sie dargestellt. Wenn von Enite oder von Wolfdietrich berichtet wird, dass sie sich schämen, hat das folglich nichts mit einem ›Peinlichkeitsgefühl‹ zu tun. Besonders prägnant lässt sich die reziproke Verknüpfung zwischen Scham und gesellschaftlicher Anerkennung in Konrads von Würzburg ›Partonopier‹ zeigen. Scham ist hier nicht allein Reaktion auf eine Verurteilung durch die Hoföffentlichkeit, sondern Ausdruck und Zeichen für das komplexe Verhältnis, das die Protagonisten zu dieser unterhalten. Das Auftreten des Hofes provoziert nicht allein Partonopiers Scham, vielmehr nimmt diese Scham gerade im Auftreten des Hofes konkrete Gestalt an. Partonopier hat sein Versprechen, niemals zu versuchen, Meliur zu betrachten, gebrochen, indem er sie nachts heimlich mit einer Lampe beleuchtet und ihre engelsgleiche Schönheit bewundert. Doch mit der Übertretung des Seh-Verbots tritt die vielfach von Meliur angekündigte Katastrophe ein. Diese ist aufs Engste auf die Scham bezogen, die Partonopier befällt, als er realisiert, dass er Meliurs Gebot gebrochen und damit triuwe und sælde verwirkt hat. Er klagt sich selbst an: ›mîn êre und al mîn sælekeit ist verwürket und vertân. mich selben ich verteilet hân mit valsche, den ich hân getriben. ich bin sô triuwelôs beliben, daz niender lebet mîn gelîch. viur, wazzer noch daz ertrîch mich lîden solte noch der luft. der tievel in der helle kruft mich solte lebendic begraben. (v. 8330–8339)
Partonopiers Scham für sein Vergehen wird gespiegelt in dem, was sich nun ereignet: Das Paar ist wie durch einen Fluch gelähmt und scheint dazu verurteilt,
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im Bett den Sonnenaufgang erwarten und sich damit der Hoföffentlichkeit aussetzen zu müssen. Meliurs Hofstaat schart sich beim Aufgang der Sonne im Palast zusammen und betrachtet neugierig und schadenfroh das hilf- und ratlos im Bett verharrende Paar. Geradezu alptraumartige Züge trägt die Beschreibung der Massen, die zusammenströmen und der hohe Rang derer, die geringschätzig auf Partonopier und Meliur ›herabsehen‹: si muosten werden schamerôt vor dem ingesinde gar, daz dô gegangen offenbar kam in den liehten palas. swaz von in zwein geschehen was, daz weste dô vil manic wîp. juncfrouwen unde schœniu wîp kâmen schiere ân underbint. küneges töhter, fürsten kint drungen ûf den wîten sal: sunder mâze und âne zal gienc ir dar în ein wunder. (v. 8396–8407)
Diese Szene ist erzählerisch ausgesprochen schwach motiviert, denn es gibt keinen zwingenden Grund dafür, dass Meliurs Schlafgemach öffentlich zugänglich sein sollte, dass die Königin Meliur der Indiskretion und dem Spott ihrer Untergebenen ausgeliefert sein sollte und dass das Paar deren Hereinströmen abwarten müsste. Die einzige Motivation dieser bizarren Erzählsequenz ist es, die Scham, die Partonopier befällt, als er sein Fehlverhalten erkennt, herbeizuführen und auszugestalten. Die Adligen, die sich um Meliurs Bett scharen, sind also nicht nur Ursache für Partonopiers Scham, sondern deren bildlicher Ausdruck.¹¹⁶ Zu einer solchen Chiffre der Scham wird auch der Schandkarren in Chrétiens ›Lancelot‹. Er ist das geradezu fetischisierte Objekt jeglichen Scham-Phantasmas, denn in ihm verdichtet sich das Schmachvollste und Ehrenrührigste, das einer höfischen Figur überhaupt nur vorstellbar ist:
116 Doch damit ist das Scham-Arrangement dieser Episode noch nicht ausgeschöpft: Denn auf der Figurenebene ist es ge r ad e die Scham, die Partonopier das Leben rettet. Als die eindringenden Würdenträgerinnen die Schönheit wahrnehmen, die ihm seine Schamröte verleiht, lässt ihr Zorn nämlich nach: »und aber, dô die frouwen sît / ersâhen in ze rehte, / dô wart dem hôhen knehte / niht gefluochet langer, / wan der fröuden anger / und der wunne paradîs / bluoten als ein meien rîs / beid under sînen ougen. / er lac, dêst âne lougen, / von schame in hitze glüegende / und als ein rôse blüegende / diu von dem touwe nazzet.« (v. 8510–8521)
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De ce servoit charrete lores, Don li pilori servent ores, Et an chascune buene vile, Ou an a or plus de trois mile, N’an avoit a cel tans que une, Et cele estoit a ceus comune, Aussi con li pilori sont, Qui träison ou murtre font, Et as ceus qui sont chanp chëu, Et as larrons qui ont ëu Autrui avoir par larrecin Ou tolu par force an chemin. Qui a forfet estoit repris, S’estoit an la charrete mis Et menez par totes les rues, S’avoit puis totes lois perdues, Ne puis n’estoit a cort öiz Ne enorez ne conjöiz. Por ce qu’a cel tans furent teus Les charretes et si crüeus, Fu dit premiers: ›Quant tu verras Charrete et tu l’anconterras, Si te saingne et si te sovaingne De Deu, que maus ne t’an avaingne.‹ (v. 323–346)¹¹⁷
Der Schandkarren, auf den Lancelot steigen muss, um die Spur der entführten Ginover nicht zu verlieren und die Hoffnung, sie von ihrem Entführer zurückerobern zu können, nicht aufgeben zu müssen, ist der eigentliche Knotenpunkt der gesamten Handlung. Denn für den kurzen Augenblick, den Lancelot zögert, den Karren zu besteigen, wird er von Ginover später harsch zurückgewiesen werden und es wird lange dauern, bis das Paar nach der Entfremdung, die diese Zurückweisung nach sich zieht, wieder zueinanderfindet.
117 Chrestien de Troyes: Lancelot. Übersetzt und eingeleitet von Helga Jauss-Meyer. München 1974 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 13). »Zu jener Zeit wurden Karren an Stelle der heutigen Pranger gebraucht. In jeder besseren Stadt, in der es heute über dreitausend dieser Art gibt, hatte man damals nur einen, und dieser war wie heutzutage die Pranger für alle bestimmt, die Betrug oder Mord begehen, die durch Gottesgericht im Zweikampf verurteilt werden und für Diebe, die die Habe des Nächsten durch Diebstahl oder durch Wegelagerei an sich gebracht haben. Wer bei einem Verbrechen ertappt wurde, wurde in den Karren gesetzt und durch alle Straßen geführt. Er hatte dann alle Ehrenrechte verloren, wurde am Hofe nicht angehört und weder geehrt noch willkommen geheißen. Da dies in jenen Zeiten die Bedeutung des Karren war und sie so grausam waren, kam zum ersten Mal der Spruch auf: ›Erblickst du einen Karren und begegnest ihm, dann bekreuzige dich und denke an Gott, damit dir kein Unglück zustößt‹.«
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In Lancelots Zögern, das auf seine Bedenken zurückzuführen ist, die unüberbietbar große Schande auf sich zu nehmen und damit seine ritterliche Ehre aufs Spiel zu setzen, ist die Diskussion um Frauendienst und êre, die der ›Lancelot‹ austrägt, paradigmatisch verdichtet: Endet die Ehrenhaftigkeit des Dienstes da, wo sie den Ritter zu unehrenhaftem Handeln zwingt? Oder beginnt gerade dort die wirklich vollkommen selbstlose, selbstverleugnerische Hingabe an die Dame, wie offenbar Ginover im ›Lancelot‹ glaubt? Sie macht ihn zu ihrer Marionette und beraubt ihn absichtlich seiner Ehre, indem sie von ihm verlangt, sich auf einem Turnier so feige und schlecht zu gebärden, wie es ihm nur möglich ist. In Erfüllung ihres Wunsches flieht er seine Feinde, fällt vom Pferd, lässt sich die Lanze aus der Hand schlagen und sich gefangennehmen. Die Frage, wie weit die Macht und die Verfügungsgewalt der Herrin über ihren Ritter reicht, ob sie an die Regeln eines gesellschaftlich sanktionierten Ehrbegriffes geknüpft ist oder diesen noch übersteigt, nimmt in der Schandkarren-Episode genau in Lancelots Zaudern und in der Empörung Ginovers darüber konkrete Gestalt an. Auch hier ist das Motiv von Scham nicht an das innere Gefühlsleben oder einen seelischen Zustand der Figur gebunden, sondern ein Leitmotiv, in dem übergeordnete narrative Zusammenhänge diskutiert werden. Und wieder zieht die Scham Lancelots eine ganze Kette von Ereignissen nach sich, deren dramatischste wohl die Ablehnung Ginovers ist. Sie hat erfahren, dass Lancelot zwei Schritte lang gezögert hatte, bevor er den Karren bestieg und ist deshalb nicht bereit, ihn zu begrüßen oder sich gar bei ihm zu bedanken, nachdem er sie schließlich unter Einsatz seines Lebens aus den Händen ihres Entführers befreit hat: ›Comant? Don n’ëustes vos honte De la charrete et si dotastes? Mout a grant anviz i montastes Quant vos demorastes deus pas. Por ce, voir, ne vos vos je pas Ne aresnier ne esgarder.‹ (v. 4502–4507)¹¹⁸
So sind auch die Beschreibungen des die Grenzen der Selbstverleugnung überschreitenden Dienstes, den Lancelot Ginover leistet, eng auf die SchandkarrenEpisode bezogen, weil sein Zögern, zutiefst Unehrenhaftes zu tun, jenen Konflikt zwischen gesellschaftlicher Ehre und dem Streben nach der Anerkennung durch die minne-Dame spiegelt.
118 »›Wie‹, antwortet die Königin ihm, ›so schämtet Ihr Euch nicht wegen des Karrens und zaudertet etwa nicht? Sehr widerwillig nur bestiegt Ihr ihn, da Ihr zwei Schritte lang zögertet. Deswegen wollte ich in der Tat weder das Wort an Euch richten noch Euch anschauen‹.«
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Lancelots Scham ist nicht ›seine‹, ist nicht ein Gefühl der Figur, sondern ist eine Handlung, die in der (und durch die) Erzählung produktiv gemacht, verarbeitet und diskutiert wird. Lancelot ist zwar Träger der Scham, aber nicht deshalb, weil er sie ›hat‹, sondern deshalb, weil sie von einer Figur ausagiert werden muss, um ins Geschehen eingeführt zu werden. Und es ist allein die soziale Bewertung der Emotion, die diskutiert wird, nicht ihr Träger – was im ›Lancelot‹ zur Diskussion steht, ist nicht die Person Lancelot, sondern die Frage nach dem Verhältnis zwischen höfischem Frauendienst und den Werten der höfischen Gesellschaft. Es ist also die Emotion von der Erzählabsicht abhängig: Die Emotion, die der jeweilige Protagonist ›hat‹, folgt der Geschichte, die der Erzähler erzählen will. Der Emotion ihrerseits folgt die Figur. Denn ihre Aufgabe ist es, die Geschichte (von Befreiung, Verteidigung, Herausforderung, Eroberung oder Rehabilitation) umzusetzen. In jedem Fall aber ist sie Funktion der Erzählung. So wird auch verständlich, weshalb die Darstellung der Scham oft geradezu groteske Formen annehmen kann, was für den modernen Rezipienten fast ins Komische oder Ironische umschlägt; so etwa, wenn Chrétien im ›Perceval‹ von Artus’ Verzweiflung erzählt, die darin begründet ist, dass Ithers ihm nicht nur seine Loyalität aufgekündigt und mit Krieg gedroht, sondern bei all dem auch noch die Königin mit Wein bespritzt habe: ›Et la roïne devant moi Estoit chi venue seoir Porconforter et por veoir Les chevaliers qui sont blechié. Ne m’eüst gaires correchié Li chevaliers de quanqu’il dist, Mais devant moi ma colpe prist Et si folement l’en leva Que sor la roïne versa Tot le vin dont ele estoit plaine. Chi ot honte laide et vilaine, Que la roïne en est entree, De corroz et d’ire enflammee, En sa chambre, ou ele s’ocist; Ne ne quit pas, se Dex m’aït, Que ele en puist eschaper vive.‹ (v. 952–967)¹¹⁹
119 »Auch hatte sich die Königin hierher mir gegenüber gesetzt, um die verwundeten Ritter zu trösten und nach ihnen zu sehen. Mit seinen Äußerungen hätte mich der Ritter kaum erzürnt, aber er hat meine Trinkschale vor mir (auf dem Tisch) gepackt und so hitzköpfig in die Höhe gehoben, daß er den ganzen Wein, der darin war, über die Königin verschüttete. Das war eine so arge und gemeine Beleidigung, daß die Königin voll Wut und Zorn in ihre Kemenate gestürzt
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Wenn Artus Perceval seine Befürchtung mitteilt, Ginover könne sich tatsächlich zu Tode grämen, weil sie öffentlich beleidigt worden sei, scheint das auf den ersten Blick nichts weiter als eine grobe Übertreibung zu sein und womöglich sogar ein Element von Komik aufzuweisen. Doch es lohnt sich, ernst zu nehmen, was der Text behauptet, nämlich, dass die Figuren befürchten, durch die ihnen angetane Schmach ihr Leben zu verlieren. Textstellen, die die existentielle Bedeutung von Ehrverlust bezeugen, sind nämlich durchaus nicht selten. Wir finden eine solche Parallelstelle zu Chrétiens ›Perceval‹ im ›Erec‹ Hartmanns von Aue.¹²⁰ Die Stelle hat genau den gleichen Tenor wie die Äußerung Artus’ bei Chrétien: Erec ist vor den Augen der Königin und ihrer Jungfrau von einem Zwerg geschlagen worden und kann sich gegen diese Demütigung nicht wehren, weil er unbewaffnet ist. Seine Reaktion auf diese (durch die Anwesenheit der Königin öffentliche) Schande ist maßlose Scham, die fast in Todessehnsucht mündet: als im der geiselslac geschach, mit grôzer schame er wider reit. alsô klagete er sîn leit, schamvar wart er under ougen: ›vrouwe, ich enmac des niht verlougen, wan irz selbe habet gesehen, mir ensî vor iu geschehen eine schande alsô grôz daz ir nie dehein mîn genôz eines hâres mê gewan. daz mich ein sus wênic man sô lasterlîchen hât geslagen und ich im daz muoste vertragen, des schame ich mich sô sêre daz ich iuch nimmer mêre vürbaz getar schouwen und dise juncvrouwen,
ist, wo sie sich nun zu Tode grämt. Ich glaube nicht, so wahr mir Gott helfe, daß sie das lebend übersteht.« Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal/Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch übersetzt und herausgegeben von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1991. (RUB 8649) 120 Erst Hartmann hat der Episode diese Existentialität und die Betonung von Erecs ›schame‹ verliehen. Bei Chrétien ist Erecs Reaktion deutlich nüchterner, er macht sich mehr Gedanken darüber, woher er Waffen zum Kampf bekommen wird als über die Schande, die er vor den Augen der Königin erlitten hat.
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und enweiz zwiu mir daz leben sol, ez ensî daz ich mich des erhol. […]‹ (v. 109–127)¹²¹
Was die bisherigen Textbeispiele gezeigt haben, ist, dass Scham (und was für sie gilt, dürfte auch für andere literarische Emotionen gelten) weniger den inneren Zustand einer Figur anzeigt, nicht ›ihr‹ Gefühl ist, sondern Kristallisationsund Verdichtungspunkt der Identität einer Figur wie der Handlung ist. So wie in Kriemhilts blutigen Tränen das Motiv des Blutes als Vorausdeutungen ihrer künftigen grausamen Taten fungiert, so nimmt das Erschrecken der Artusritter vor Enites Erröten, das ihre Schönheit unterstreicht, Erecs Unvermögen voraus, die überwältigende Schönheit seiner Frau mit seinen Pflichten als Herrscher zu vermitteln. Ohne die Hinweise auf die latente Gewalt von Enites Erscheinung ist kaum zu verstehen, worin das Problem besteht, das Erec daraus erwächst, dass er beständig ihrer unwiderstehlichen Wirkung ausgesetzt ist. Ohne den Hinweis auf ihre überirdische und regelrecht erschreckende Schönheit wäre kaum nachvollziehbar, warum Enite auf der Reise, die Erec mit ihr antritt, um sein verligen mit ihr zu überwinden, nicht mit ihm sprechen, essen und schlafen darf und derartig rüde von ihm behandelt wird. All’ diese Maßnahmen haben zum Ziel, Distanz zu Enite herzustellen. Die Notwendigkeit dazu wird bereits im Erschrecken der Artusritter angedeutet, das ausgelöst wird durch das Farbenspiel auf Enites Gesicht. Ihr Erröten ist also nicht allein Ausdruck ihrer Schamhaftigkeit und Reaktion auf die Anwesenheit der Artusritter, sondern seinerseits wirkmächtig und signifikant. Es dringt nicht aus ihrem Inneren an die Oberfläche ihres Körpers, um dort sichtbar zu werden, sondern es erwächst aus der Handlung und ist auf sie bezogen.
121 Wenn Figuren an der minne sterben können, wenn ihnen das herze im Leibe krachend zerbrechen kann, warum sollte es dann für sie nicht möglich sein, vor Scham zu sterben? Die Handlung des ›Iwein‹ zeigt, dass man an Scham zwar nicht sterben muss, aber durch das, was die Scham auslöst, einen sozialen Tod erleiden kann. Nachdem ihm durch Lunete seine Ehre abgesprochen und entzogen worden ist, zieht er sich aus Scham vor den Artusrittern von allen Gefährten und jeder Form von Zivilisation zurück, um wie ein wildes Tier im Wald zu hausen. Die Figur Iwein wird durch den Verlust von Ehre und Gesellschaft soweit ausgelöscht, dass nur ihr Körper noch von ihrer Existenz zeugt. Dieser ist es auch, der Iwein schließlich dazu verhilft, identifiziert und nach und nach in die Gesellschaft reintegriert zu werden. Diese Re-Integration ist nach dem sozialen Tod denn auch nicht auf erzähltechnisch motivierbarem Wege möglich, sondern nur durch ein Wunder, durch Magie – nämlich durch eine Wundersalbe. Sie bringt Iwein zwar wieder zu Sinnen, kann aber nicht verhindern, dass das Erscheinungsbild des Körpers und die Selbstwahrnehmung Iweins so eklatant auseinanderfallen, dass eine Synthese zunächst nicht möglich ist. Vgl. Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Hartmann von Aue. Hrsg. von Dems. und Christoph Cormeau. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 359), S. 491–510.
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Ein letztes Beispiel soll die Reihe der Textstellen, die die enge Verknüpfung von Emotionsdarstellung und Gesamtkonzeption des narrativen Gefüges belegen, abschließen: Die Figur Dietrich von Bern reagiert scheinbar in höchstem Maße emotional. Drei Emotionen sind es vor allem, die sie charakterisieren: Zorn, Trauer und Zagheit. Doch auch Scham spielt für Dietrich eine bedeutsame Rolle. In der Heidelberger ›Virginal‹ ist beispielsweise seine Scham so groß, dass sie die gesamte sich anschließende Handlung motiviert. Denn ganz zu Beginn geschieht etwas für den jungen Dietrich zutiefst Beschämendes. Er sitzt bei den Damen seines Hofes und wird aufgefordert, ihnen von âventiure zu berichten: er wart gevrâget sêre von zarten vrouwen an der stunt. sî sprâchen ›herre, tuont uns kunt: wizzt ir iht vremder mære? ist iu iht âventiure beschehen, die weln wir hœren gerne. der wâhrheit sülnt ir uns verjehen.‹ (Str. 7,3–9)¹²²
Dietrich aber, das kint, wie er in der ›Virginal‹ genannt wird,¹²³ weiß, obwohl er bereits dreißig Jahre alt ist, nichts von âventiure zu erzählen und flieht zutiefst bestürzt zu seinem Waffenmeister und Erzieher Hildebrant: der edel voit von Berne ûz der mâzen sêre erschrac: er weste umb âventiure niht, swie nâhez sîme herzen lac. Der Berner wart gar schamerôt. er leit an sîme herzen nôt, daz ime kein âventiure bî sînen zîten was bekant. (Str. 7,10–8,4)
Wie sehr Dietrich mit diesem Verhalten die Erwartungen des Hofes enttäuscht, teilt sich sogar dem unerfahrenen Dietrich selbst mit. Zweimal wird er im Laufe der Handlung noch ausführlich von diesem beschämenden, geradezu traumatisierenden Erlebnis berichten:
122 Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten. Hrsg. von Julius Zupitza. Berlin 1870 (Deutsches Heldenbuch V). 123 Hildebrant sagt von ihm: »›mîn herre ist gar ein kint. / swâ wilde herren sturme sint, / der kan er lützel walten‹.« (70,1–3).
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Erzählte Emotionen, fingierte Innerlichkeit
›dô bâten mich die vrouwen vromen umb âventiure: ich kunde ir niht, sî was mir nie ze handen komen. Diu schande mich von êren stiez, dô mich diu vrouwe sagen hiez âventiur durch vröude. der reden ich harte sêre erschrac, wan mir daz dinc sô nâhe lac. ich wart ir aller göude.‹ (Str. 401,11–402,6) ›eins tages ich in vröuden saz, dâ vil schœner vrouwen was. die bâten mich in sagen von âventiure, ich kunde ir niht: ich wart ir aller göude. sô wê mir niemer mê geschiht, als mir dô wart von leide.‹ (Str. 1014,4–10)
Es ist dieses anfängliche kommunikative Versagen, die die âventiure-Fahrt von Hildebrant und Dietrich notwendig macht und auslöst. Die gesamte Handlung der ›Virginal‹ antwortet auf die Schamesröte Dietrichs und auf sein Unvermögen, von âventiure zu berichten. Die Scham, die die Handlung der ›Virginal‹ strukturiert, profiliert ihren Protagonisten nicht als einen menschlichen Helden, sondern ist Motor seiner Initiation, die aus einem anfänglichen Defizit plausibel motiviert wird. Aus dieser Motivation wird der Spannungsbogen des Textes gebildet: Dietrich schlägt alle Drachen, Heiden und Riesen des Waldes tot, weil er vor den Damen seines Hofes versagt und dieses Versagen kompensieren muss. Wie dramatisch das anfängliche Versagen ist, wird in der Scham manifest. Nur aus Versagen und Scham werden die glorreichen Siege, die Dietrich im Wald zuteil werden, motiviert. So ist die Scham Dietrichs zu Beginn mittelbar, nämlich durch die Kämpfe, die sich von nun an aneinanderreihen, auf seine heroische Position am Ende der Bewährungsfahrt bezogen. Auch hier ist die Emotionsdarstellung Strukturmoment des Textes, ein Verdichtungspunkt, in dem literarische Traditionen (wie die zagheit Dietrichs) zitiert werden und aus dem sich neue Handlungsentwürfte (wie die âventiure-Fahrt im Dienste der Zwergenkönigin Virginal) entwickeln. Scham, Schrecken und Trauer sind in die Ordnung des Erzählens und den Aufbau des Textes enger eingebunden als in die Figur ›selbst‹. Nochmals: Sie sind nicht ›deren‹ Emotion, sondern Knotenpunkte der Handlung. Als solche jedoch sind Emotionsdarstellungen Teil des narrativen Gefüges, sie sind nicht mehr oder weniger ›inszeniert‹ als andere Darstellungen und Beschreibungen,
Narrative Innenraumerzeugung am Beispiel der Scham
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die gleichermaßen zum Knotenpunkt der Handlung werden können – etwa das Hündchen Petitcrü oder die Minnegrotte im ›Tristan‹ Gottfrieds. Wenn also Eming darauf hinweist, dass im ›Partonopier‹ »die erzählerische Inszenierung des Geschehens […] nicht nur auf einer Darstellung von Performanz [beruht], sondern […] darüber hinaus alle Kriterien von Theatralität nach der Defintion von Erika Fischer-Lichte [erfüllt]:«¹²⁴ Das Geschehen erscheint als performance, indem die Figuren vor den extradiegetischen Adressaten wie in einer Aufführung agieren, es ist eine Inszenierung, indem es Dinge und Menschen konkret räumlich arrangiert, es beruht auf der Bewegung und Interaktion menschlicher Körper und somit auf Korporalität, und es konstituiert, in seiner ›Lichtregie‹ und der Schilderung von Bewegung im Raum, eine gerichtete Wahrnehmung des Rezipienten,¹²⁵
so ist dem entgegenzuhalten, dass die Merkmale performance, Inszenierung, Korporalität und gerichtete Wahrnehmung des Rezipienten durchaus nicht spezifisch für Emotionsdarstellungen sind. Sie charakterisieren jede Form des narrativen Arrangements beziehungsweise jede Form von Erzählen als solches. Auch eine beliebig herausgegriffene Szene wie z.B. die Jagdszene zu Beginn des ›Partonopier‹ weist sie auf. Auch hier agieren die Figuren wie in einer Aufführung, auch hier werden Dinge (wie der Wald, der Fluss oder das Schiff, das Partonopier zu Meliur bringt) und Menschen (wie Partonopier) räumlich und körperlich geschildert und arrangiert, auch hier wird die Wahrnehmung durch den Erzähler (notwendig) gerichtet: E rz ä h len i st Wa h r neh mu ngslen k u ng.
124 Eming: Emotion und Expression, S. 211, Hervorhebungen im Original. 125 Eming: Emotion und Expression, S. 211f., Hervorhebungen im Original.
Resümee Die Differenz zwischen gegenständlichem und ungegenständlichem Erzählen lässt sich mit den narratologischen Begriffen von Gérard Genette präzisieren: Er unterscheidet zwischen histoire und discours, also zwischen den G egenstä nden des Erzählens und der E rzä h lu ng selbst, die sich durch Erzählverfahren, -techniken und -strategien konstituiert. Wo dem Erzählen anschauliche Bilder fehlen, um die Imagination der Rezipienten zu lenken (wie im Fall von Innenweltdarstellungen) ist es von der Ebene der histoire gleichsam auf die des discours zurückgeworfen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es gewesen, nachzuvollziehen, wie sie dabei verfährt. In einem ersten Schritt wurde festgestellt, dass die Literatur sich dabei – ungeachtet seiner Prominenz in der zeitgenössischen Philosophie und Theologie – nicht des Konzepts einer gottgeschaffenen, unsterblichen und unstofflichen Seele bedient. Es sind demgegenüber vor allem fünf Muster, in denen das Innere literarisch verarbeitet wird, nämlich die Bezeichnung durch die weitgehend unspezifischen Begriffe muot, sin oder geist, das (körperliche!) herze, Allegorie und Metapher sowie die abstrakte Dichotomie von ›Innen‹ und ›Außen‹ und die Emotionsdarstellung. muot, sin oder geist sind weitgehend unübersetzbar und eigentümlich ambivalent. Obgleich nicht synonym, lässt sich in ihrem Fall kein klar konturiertes semantisches Feld nachweisen. Stellenweise sind sie untereinander geradezu austauschbar. So kann der Teil einer Figur, der während des Todes den Körper verlässt, sowohl als sêle, als auch als geist adressiert werden. Und während es in einem Lied Hartmanns von Aue der muot ist, der den Rat der Freunde abwägt, ist es in einem Lied Dietmars von Eist das herze, bei Heinrich von Rugge und Meinloh von Sevelingen wiederum sind es die sinne, ohne dass die Konturen des solchermaßen begrifflich Adressierten erkennbar würden. Die Terminologien muot, sin oder geist sind, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, kontingent, widersprüchlich. Geschlossenheit (wie sie beispielsweise von höfischen Schönheitsbeschreibungen oder den Beschreibungen der Symptome höfischer minne bekannt ist) wird mit ihnen nicht angestrebt und nicht hergestellt. Gerade dieser Befund ist aber symptomatisch auch für die anderen literarischen Muster, die zur Darstellung eines inneres Geschehens herangezogen werden. So bilden ›herze und lîp‹ eine prekäre Einheit. Zwar wird selbst in den Streitgedichten, die das Zerwürfnis zwischen beiden zum Gegenstand haben, ihre unzerstörbare Schicksalsgemeinschaft erkennbar. Doch gleichzeitig dokumentiert die Formel auch, wie stark das herze sich dem lîbe gegenüber verselbständigen und zu seinem Widersacher werden kann. Zwar besteht der Körper aus der Summe von ›herze und lîp‹. Doch wo das herze als Ergänzung des lîbes Erwäh-
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Resümee
nung findet, hat es sich, obgleich es immer Teil des lîbes bleibt, ihm gegenüber bereits verselbständigt. Mit dieser Selbständigkeit stellt sich die Frage nach dem widersprüchlichen Verhältnis zwischen beiden. Sie gewinnt dort an Nachdruck, wo mit dem ich des Erzählers eine dritte Instanz eingeführt wird. Der Erzähler, der von der Trennung, vom Streit oder Dialog zwischen ihnen berichtet, adressiert herze und lîp sowohl im Minnesang als auch in der Erzählliteratur als ihm zugeordnet, also als ›mîn herze‹ und ›mîn lîp‹. Doch in der Regel ist die Identifikation des Erzählers (oder des Lied-Ich im Falle des Minnesangs) mit dem lîp größer die mit dem herzen: Der übliche Beginn eines Dialogs ist die Adressierung des herzen als ›Du‹, und zwar entweder aus der Perspektive eines unbestimmten ich oder aus der des lîbes. Stellenweise wird das ›ich‹, das das herze anspricht, von diesem auch einfach als lîp bezeichnet. Die Abgrenzung zwischen ›ich‹ und ›lîp‹ ist deutlich schwächer als die zwischen ›ich‹ und ›herze‹. Wo liegt das Zentrum innerhalb dieses vielstimmigen Geflechts? Ein solches Zentrum gibt es nicht und genau darin scheint auch der Reiz der Pluralisierung von ›Ich-Rollen‹ zu liegen. Allerdings ist zu beobachten, dass das ›ich‹ zwar gleichermaßen von seinem lîp wie von seinem herzen spricht, aber dieses doch öfter als den oder das Andere adressiert. Nie wird der lîp zum Verräter oder Flüchtling, stets ist es das herze, das den lîp verlässt und mit ihm den Erzähler. Wenn sich ein Ort der Identität andeutet, dann ist es überraschenderweise gerade nicht das herze, sondern der von ihm verratene oder zurückgelassene lîp. Obwohl also das herze einerseits zum Zentrum des Wollens und Empfindens stilisiert wird, wird es andererseits als das ›Andere‹, als der ›Fremde‹ konzipiert, der sich eigenmächtig, stellenweise sogar feindselig, vom lîbe abwendet, ihn verlässt oder verrät. herz-Tausch und Wohnen im herzen perpetuieren und ironisieren diese Rollendynamik und stellen sie auf eine höhere Ebene, von der aus die Formelhaftigkeit des herz-Tausches reflektiert und ironisiert werden kann. Es wird mit ihm nicht allein der Zustand der minne thematisiert, sondern vor allem die Spannung, die zwischen herze und lîp besteht. Sie nimmt dort, wo der Verlust des eigenen herzen oder die Verschmelzung mit dem Liebespartner versprachlicht wird, als Selbstverlust und Verlust von personaler Identität Gestalt an wie in einem Lied von Reinmar von Brennenberg: »Ich bin mit ganzem libe enzwei geteilet wunderliche: / da ich halber bin, dâ wænet man mich ganzen sehen.« (KDL IV 9,2f.) Diese Teilung in herze und lîp ist das Grundmotiv von herz-Tausch und vom Wohnen im herzen. Beschrieben wird nicht (nur) die Nähe der oder des Geliebten, sondern auch die existentielle Verwirrung, die mit dieser Spaltung einhergeht. Zurück bleibt eine bloße Hülle, weit entfernt davon, ein »lebendic man« (Friedrich von Hausen, MF 47,21) zu sein. Es ist ein empfindungsloser Körper ohne Identität, ohne Zentrum und ohne Besinnung, der den Eindruck von Identität nur noch vorgaukelt: »sô trage ich lîbeshalp den schîn / den liuten vor in ganzer
Resümee
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schouwe, mannen unde ouch wîben.« (Reinmar von Brennenberg, IV 9,7f.) Auch hier wird der Zustand aus der Perspektive des vom herzen zurückgelassenen Körpers geschildert. Nur aus seiner Perspektive aber kann das herze ja auch beobachtet und beschrieben werden. Dieses ist durchaus kein ruhender Pol, kein unbeweglicher Mittelpunkt, sondern dynamisch, stets bereit, seinen Platz im Körper zu verlassen. Es zieht die Blicke des oder der Geliebten, aber auch die Anderer auf sich, etwa dort, wo Morungen sein herze dem verschwiegenen Betracher öffnet, um ihn sehen zu lassen, wie die geliebte Dame darin weilt: »West ich, ob ez verswîget möhte sîn, / ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen. / der enzwei bræche mir daz herze mîn, / der möhte sî schône drinne schouwen.« (MF 127,1–4) Das herze ist unruhig, stets auf dem Sprung hinaus aus der Brust, es drückt von innen gegen sie, drängt zur Dame, hinaus in die Welt wie im ›Herzmäre‹, bereit, die längsten Distanzen zu durchqueren. Es sprengt die Grenzen des Körpers und erweitert diesen auf die Geliebte und auf die Welt außerhalb seiner selbst hin und ist deshalb sehr viel mehr (und anderes) als eine Summenformel des Selbst oder ein »équivalent général de la personne.«¹ Es wölbt sich nach außen, wird Teil eines anderen Körpers oder nimmt seinerseits die Welt außerhalb des Körpers in sich auf. So ist es eher eine rastlose, bewegliche Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen dem Selbst und dem begehrten, aber fremden und nicht selten bedrohlichen Anderen, denn unverrückbarer Mittelpunkt, eher der Ausgangspunkt einer unruhigen Suchbewegung als abgeschlossener, gravitätischer Ruhepol der Identität. Das kann sich jedoch nur mitteilen, wo das herze nicht entweder als Körperteil oder als Symbol der Personenmitte aufgefasst wird, sondern seine Körperlichkeit als die Gestalt des Ungegenständlichen (wie Tugenden oder Fähigkeiten) und die Ungegenständlichkeit dessen, was in ihm Gestalt annimmt, buchstäblich und nicht übertragen verstanden werden. Anders als die theologische und philosophische Anthropologie des 12. und 13. Jahrhunderts strebt die höfische Literatur nicht danach, Systematiken von Seelenkräften und kohärente Konzepte von Innerlichkeit zu entwickeln. Nicht um Eindeutigkeit und Modellhaftigkeit geht es ihr, sondern darum, eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten in immer neuen Konstellationen und Akzentuierungen aufeinander zu beziehen und so die narrativen Spielräume auszuloten, die diese Konzepte in ihrer Variation und in ihrem ironischen Selbstbezug erschließen: Die sêle kann so im herzen wohnen, dieses aber auch in der sêle, das herze kann sogar eine eigene sêle besitzen oder über ein eigenes herze verfügen. Mal finden die Überlegun-
1 Guerreau-Jalabert: Le cœur dans la thématique courtoise, S. 348.
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gen einer Figur in ihrem sin, mal in ihrem muot, mal in ihrem herzen statt. Und mal residiert die Geliebte im herzen, mal in den Gedanken, im Herzensschrein oder in einer Kammer, die sich im herzen befindet. Nicht nur werden immer neue Variationen des Innen-Außen-Gefüges vorgenommen, auch das Verhältnis, in dem Innen und Außen zueinander stehen, ist verschieden. Deshalb ist »die Frage, wie Inneres thematisiert und wie Innen und Außen zueinander in Beziehung gesetzt werden, […] an jeden Text neu zu stellen, wobei man sich von makrohistorischen Extrapolationen zurückhalten sollte.«² Auch die Körper-Kleid-Metaphorik hat nicht die Funktion, das Verhältnis zwischen Innen und Außen zu präzisieren. So geschmeidig und beweglich sie sich in immer neuer Besetzung in den jeweiligen Erzählkontext einfügt, so unübersehbar ist, dass aus der Überlagerung durch das metaphorische Kleid – sei es der Körper, sei es die Tugend oder der geliebte Andere, der durch den herz-Tausch zum neuen ›eigenen‹ Körper wird – keine Verinnerlichung entsteht. Im Spiel mit Verhüllung und Einkleidung bilden sich immer neue Variationen und Verschiebungen der Positionen aus, doch gerade diese Verschiebungen und Verschachtelungen verunklaren die Vorstellung eines inneren Kerns und konkretisieren sie nicht. Die Körper-Kleid-Metaphorik hat die Beweglichkeit der Grenze zwischen Innen und Außen zum Gegenstand, nicht die Entstehung eines Innenraumes durch die Abgrenzung von einer Schale, einer Umhüllung oder einer Einkleidung. Die Schichten, die in der vestimentären Metaphorik das Innere eher umspielen als darstellen, verfestigen sich dort, wo sie zur Allegorie erstarren. Zwar ist diese eine Vergegenständlichung des Ungegenständlichen. Doch gerade hierin liegt die Aporie der allegorischen Innendarstellung: Gerade wei l sie das Innere objektiviert und zur Erscheinung bringt, kann sie ein Inneres a ls In neres nicht darstellen. Denn indem sie es zeigt, veräußerlicht sie es. Sie kann das Innere also zwar anschaulich vor Augen stellen, aber immer nur a ls Äu ßeres, als bereits Bild Gewordenes. Aus diesem Sachverhalt resultiert der Effekt allegorischer Literatur, in aller Regel auf Beschreibungen der Allegorie durch einen Erzähler und Figurenrede der Allegorien selbst beschränkt zu sein, denn da das Innere sich gleichsam bereits in die Allegorie vergegenständlicht hat, kann sie als d ie minne, d ie Freude oder d ie Trauer ihren Inhalt nicht mehr ›in‹ sich haben, hat sie ihn doch in d ie beziehungsweise in der Allegorie entäußert. Sie eröffnet also literarische Schauräume, aber eben nur auf ein Inneres hin, das im Akt der Allegorisierung bereits zum Äußeren geworden ist. Zwar kann der allegorische Text die Allegorien durch die Signifikanz der Handlung (wie beispielsweise Kampf, Hoch-
2 Müller: Höfische Kompromisse, S. 317.
Resümee
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zeit oder Geburt) ergänzen. Doch die Narrativierung, die dadurch entsteht, geht dann eben nicht auf die einzelnen Allegorien selbst zurück, sondern auf die Handlung, die sie miteinander in Beziehung setzt. Genau diese Diskrepanz, die in der Allegorie ihr Inneres als Äußerlichkeit sichtbar macht, scheint dort verhandelt zu werden, wo formelhaft ›Innen und Außen‹ voneinander abgegrenzt werden, wo also das unscheinbare ›und‹ einen unbestimmten Raum zwischen beidem voraussetzt. Wer diesem ›und‹ nachgeht, stellt fest, dass sich in der höfischen Literatur zwei entgegengesetzte Aussagen unvermittelt gegenüberstehen: Einerseits wird eine Diskrepanz zwischen Erscheinung und Wesen kategorisch bestritten und eine umfassende Sichtbarkeit oder Lesbarkeit des Körpers behauptet, die sich beispielsweise in Wendungen wie »des lîbes gebærde uns dicke bescheit, / hât ein man lieb ode leit«³ artikuliert. Beispiele für eine solche Lesbarkeit finden sich zu Hauf: das Wechseln der Gesichtsfarbe, das die minne bezeichnet, die Schönheit, die Adel verrät, oder der Kummer, der sich nicht verheimlichen lässt. Doch auch hier besteht kein Konsens. Wird der Raum zwischen Innen und Außen solchermaßen bestritten, kann – nicht selten im gleichen Text – auch sein Vorliegen beklagt werden. Walther von der Vogelweide wünscht sich ein Zeichen, das ihm die valschen bezeichnete: »doch sæhe ich an ir etteslîchem gerne ein schanden mâl« ⁴ und bestreitet damit die Lesbarkeit des Körpers. Wer zu den valschen zu rechnen ist, ist eben nicht sinnfällig, das Böse ist unsichtbar: »Am sehen triuget man sich dicke«⁵ heißt es im ›Wälschen Gast‹. Die Darstellung von Übereinstimmung und Diskrepanz zwischen Innen und Außen widerstrebt jedoch der Einordnung in eine literarhistorische Chronologie. Eine Entwicklung von der Lesbarkeit der Welt hin zur sukzessiven Entstehung von Scheinhaftigkeit, Verstellung und Täuschung gibt es nicht. Bereits das ›Hildebrandslied‹ erzählt vom tragischen Verkennen, vom Versagen der Lesbarkeit von Körpern, die überdies auch noch blutsverwandt sind. Umgekehrt kann die Liebe auch in einem für den mediävistischen Gesichtskreis sehr späten Text wie ›Lucretia und Euryalus‹ noch so wenig verheimlicht werden wie ein Husten. Der Grund für das Vorliegen beider sich für unser Verständnis ausschließenden Auffassungen ist ernüchternd trivial: Es sind keine anthropologischen oder kulturhistorischen Erkenntnisse über die Welt, sondern literarische Topoi wie das Wohnen im herzen, der herz-Tausch oder der minne-Tod, die je nach Erzählabsicht aufgegriffen, zitiert oder umgekehrt werden können.
3 Der Wälsche Gast, v. 913f. 4 Walther von der Vogelweide: L. 30, 23. 5 Der Wälsche Gast, v. 939.
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Resümee
Die Beobachtung, dass das Innere unter dem Zugriff der Sprache gleichsam zerfällt, bestätigt sich in der Auseinandersetzung mit den Emotionsdarstellungen. Zwar ist die Figur ›Person‹ und Mensch, damit ausgestattet mit heimlichen Innenräumen, einer Psyche, einer Seele, einem Bewusstsein und einem Leben. Doch dieses Leben ist auf eine Dimension des Textes beschränkt, nämlich die der histoire. Zu ihr allerdings haben wir Zugang allein durch Vermittlung der Sprache, durch Vermittlung des Erzählers, also durch die Vermittlung des discours. Diese Schwelle lässt sich nicht überspringen. Gelänge dieser Sprung, hörte der Text auf, Text zu sein – und wir wären nicht länger seine Leser. Doch nicht nur diese unüberwindliche Schwelle, die die Welt der Figuren uns gegenüber abschließt, versperrt uns einen unmittelbaren Zugang zu den Emotionen der Figuren. Einen Einblick in ihr Inneres soll darüber hinaus durch Emotionsdarstellungen zumeist gar nicht gegeben werden: Gyburc unterstreicht durch ihre Trauer um die gefallenen Christen weniger ihre Emotionen, als vor allem die Zugehörigkeit zur sippe ihres Mannes, der unbändige Zorn des Grafen Oringles profiliert nicht i h n, sondern vor allem E n ite, die in der Bedrängnis, in die er sie bringt, an ihrem totgeglaubten Gatten festhält, und die Scham, die Meliur in Zorn transformiert, wird zur Ursache von Partonopiers Verstoßung. Die ›Emotionen der Figuren‹ sind also zentrale Elemente der Bedeutungskonstitution, doch die Bedeutung, die sie stiften, bezieht sich nicht allein auf die Figur selbst, sondern auf den gesamten Text, und zwar vor allem deshalb, weil die Figur selbst keine klar umrissene Entität ist, sondern Knotenpunkt von Dynamiken, die das Gewebe des Textes konstituieren. Was sich demjenigen mitteilt, der die untersuchten Texte auf die Konzeption von Innenraum befragt, ist genau das: textus, Gewebe, Gespinst, also Fläche, keine Tiefe. Ich darf an diesem Punkt noch einmal auf die Fragen, die in der Einleitung aufgeworfen worden sind, zurückkommen. Literarische Gegenstände sind, so wurde dort gesagt, nur im Modus der Repräsentation gegeben, und zwar gänzlich unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um Körper oder Emotionen, um Gesten oder Schmuck handelt. Wo dieser ›Modus der Repräsentation‹ ernst genommen wird, kann festgestellt werden, dass sich in seinem Rahmen Repräsentation nicht verdoppelt, dass es also keine ›Repräsentation der Repräsentation‹ gibt, die sich dann zu einer literarischen Präsenz verdichtete. Literatur kennt keine Präsenz – sie ›ist‹ immer schon Präsenz, insofern sie in der sprachlichen und narrativen Vermittlung (und durch sie) die Gegenwart der Handlung herstellt. Und sie kennt kein Innen – sie kann es nur beschreiben, so wie sie auch einen Körper oder ein Zelt beschreibt. Immer aber verharrt sie dabei im ›Modus der Repräsentation‹, im Modus der Vermittlung. Er ist ursächlich dafür, dass Literatur von allem und alles erzählen kann. Das aber kann sie eben nur a ls Erzählung.
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Sekundärliteratur
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Register Namen und Begriffe Auktorialer Erzähler: 111, 202 (Anm. 78), 206 Bernhard von Clairvaux: 50, 55 Boethius: 41, 52, 56, 87 Brautwerbung(sepen): 262–264 Chalcidius: 36, 41, 52 chanson de geste: 27 (Anm. 80), 268, 349, 350 (Anm. 104), 353 Dualismus, dualistisch: 39, 43–49, 58f., 66, 73, 75, 78, 93, 120, 151, 156, 160f., 165, 175, 178f. Erzählerrede: 140, 315, 340 Extra-/Intradiegese: 187f., 201 Figurenrede: 128, 198, 206, 244 (Anm. 19), 372 Fiktionalität: 168, 171, 196 (Anm. 66), 202 (Anm. 78), 220, 222, 325 Frau Saelde: 290 Frau Welt: 71, 176, 205, 270 Geschlecht: 115f. , 140, 142–145, 349, 357 Heimlichkeit/heimlich: 239, 245, 259, 264, 275f., 285, 293, 297–299, 302, 353 (Anm. 108), 373f. Heldenepik: 26f., 246, 271f., 349, 351, 353 hetero-/homodiegetischer Erzähler: 191, 202 (Anm. 78) histoire/discours: 10, 11, 13–16, 115, 172–175, 195f., 202, 243f., 338f., 321, 340–342, 369, 374 Ich-Erzähler: 126f., 187, 189, 190f., 196, 198, 201, 202 (Anm. 78), 203, 233 (Anm. 142), 205 Identität: 41, 106, 115f., 118, 120, 123, 125, 137f., 140f., 143–147, 149, 152, 165, 188,
234, 251–257, 259f., 263, 266, 278, 300, 324, 349f., 352, 364, 370f. Integumentum: 170–172 Leibfeindlichkeit/Leibverachtung: 43f., 46f., 50f., 56, 151 Maria-, Marien(dichtung, -leich, -lob, -preis, -verehrung): 133–135, 137, 158–160, 230–232, 234 Metonymie: 103, 105, 115, 284 Paulus/paulinisch: 46–49, 55, 131, 157, 160f., 209f., 212, 227f. Psychoanalyse: 317, 324–328 (Anm 47), 353 (Minne)Sänger: 153, 154, 155, 299 (Anm. 119), 303–308 Schönheit: 163, 165, 167, 169, 211, 233, 249, 266, 270, 287–289, 293f., 357, 359 (Anm. 116), 364, 373. Schule von Chartres: 35, 67 Sigune: 107–109 Spruchdichtung: 153, 154, 308 Symbol: 4 (Anm. 25), 105, 113 (Anm. 33), 114–115, 193–196, 213f. Thomas von Aquin: 33, 41, 43, 56, 66f. Timaios: 36, 40f., 52, 170 Venus/Frau Venus/Frau Minne: 126–128, 189 Verfremdung/verfremdet: 221, 348, 354 Viktoriner (Hugo von St. Viktor/Richard von St. Viktor): 35, 55–57, 59, 66f. Wilhelm von St. Thierry: 54, 55, 57 Zeichenhaftigkeit: 17, 108, 240 Zisterzienser: 35, 53f., 67
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Register
Autoren und (ihre) Werke Alanus ab Insulis: ›Anticlaudianus‹: 61 (Anm. 92), 158–160 Albrecht von Johansdorf: 72, 83, 98 Albrecht von Neustadt: ›Gottes Zukunft‹: 135, 158f. Albrecht von Scharfenberg: ›Jüngerer Titurel‹: 213, 225–234 ›Arnsteiner Marienlied‹: 134 ›Biterolf und Dietleib‹: 88, 246, 253–255, 350f., 356 Burggraf von Regensburg: 84 Burggraf von Rietenburg: 100 Chrétien de Troyes: ›Erec‹: 294 ›Lancelot‹: 359–362 ›Perceval‹: 362f. Cicero: ›Disputationen in Tusculum‹: 41 Dante Alighieri: ›Convivio‹: 310f. Dietmar von Eist: 84, 88, 100, 102 ›Eckenlied‹: 108f. Frauenlob (Heinrich von Meissen): 85, 159 Friedrich von Hausen: 85, 99f., 123f., 131, 147, 370 Gedrut/Geltar: 153 Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹: 69f., 73, 98, 101, 130, 155f., 161–166, 168, 217, 220–225, 244f., 259, 265–267, 284, 293, 296–300 Minnelieder von Gottfried von Straßburg: 102 Hadamar von Laber: ›Jagd‹: 147, 277 Hadlaub: 86, 130f., 303–305 Hartmann von Aue: ›Erec‹: 18f., 69, 71, 82f., 90, 101, 130, 139f., 266, 296, 314, 355–357, 363f. ›Gregorius‹: 253 (Anm. 41), 269f. ›Iwein‹: 22, 69, 82, 87–90, 98, 101, 103, 140–143, 280–284, 355
›Klage‹: 120, 124f. Minnelieder von Hartmann von Aue: 84, 88, 98, 101 Heinrich von Freiberg: ›Tristan‹: 91, 273–277, 353 (Anm. 108) Heinrich von Morungen: 76, 78–80, 105, 117–119, 135, 313 Heinrich von Rugge: 84, 88, 98, 101, 119, 369 Heinrich von dem Türlin: ›Die Krone‹: 285, 288–292 Heinrich von Veldeke: ›Eneas-Roman‹: 24, 74 Minnelieder von Heinrich von Veldeke: 98, 102, 117 (Anm. 46) Herbort von Fritslar: ›Liet von Troye‹: 91, 116, 145–147 Hugo von Montfort: 233 Johannes Hadlaub: 303f. ›Karl und Ellegast‹: 256–259 Konrad von Würzburg: ›Engelhard‹: 71, 79, 117 (Anm. 48), 255f. ›Goldene Schmiede‹: 134 ›Herzmäre‹: 109–115 ›Partonopier‹: 70f., 77, 80, 82f., 87, 89, 292, 358f., 367 ›Trojanischer Krieg‹: 70, 90f., 169, 266 (Anm. 63) ›Welt Lohn [der]‹: 71, 176, 205 Konrad [Pfaffe]: ›Das Rolandslied‹: 246, 248, 268–271 Kürenberg, der von: 85, 102 Liederbuch der Clara Hätzlerin/›Ain mynn red von hertzen und von leib‹: 126–130 ›Marienleben‹ Wernhers: 134 Meinloh von Sevelingen: 85, 369 Michel Beheim: 135 ›Minneburg‹: 128–130 ›Nibelungenlied‹: 107, 244f., 267, 277, 295, 346f.
Register
Pleier: ›Meleranz‹: 99, 130, 147f. ›Rabenschlacht‹: 144, 244 ›Raoul de Cambrai‹: 105f., 108 Reinbot von Durne: ›Der heilige Georg‹: 226 ›Reinfried von Braunschweig‹: 107 Reinmar der Alte: 77f., 83, 98, 100, 105, 117, 132, 304 Reinmar von Brennenberg: 148, 370f. Reinmar von Zweter: 135, 169 Rudolf von Ems: ›Guote Gêrhart [der]‹: 250 ›Wilhelm von Orlens‹: 136 Rudolf von Fenis: 83, 119 Stricker [der]: ›Daniel von dem blühenden Tal‹: 72, 82f. ›Karl‹: 91, 243 ›Pfaffe Amis‹: 247f. Suchensinn: 170 Thomasin von Zerclære: ›Der Wälsche Gast‹: 24, 60–66, 172f., 242, 260, 309, 373 Ulrich von Eschenbach: ›Alexander‹: 90f., 101, 144, 278 Ulrich von Gutenburg: 88
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Ulrich von Liechtenstein: ›Frauendienst‹: 120–124, 167 Ulrich von Türheim: ›Rennewart‹: 87, 144f. Ulrich von Zatzikhoven: ›Lanzelet‹: 73, 100, 130, 285, 288 ›Valentin und Namelos‹: 343–346 ›Virginal [Heidelberger]‹: 365f. ›Virginal [Wiener]‹: 271 ›Völsungasaga‹: 107 Walther von der Vogelweide: 134, 151–155, 304–307 ›Wiener Genesis‹: 158, 239 ›Wilhelm von Österreich‹: 79, 87f. Wirnt von Grafenberc: ›Wigalois‹: 16, 24, 74, 168, 350f. ›Wolfdietrich‹ (Fassung B und D): 262, 348, 351f., 357f. Wolfram von Eschenbach: 23, 29, 19 ›Parzival‹: 19f., 22–24, 29f., 70, 81–83, 99–105, 117–119, 130, 132, 239 ›Willehalm‹: 11, 15, 70, 250f., 267, 293f. (Anm. 114), 301–303 Minnelieder von Wolfram von Eschenbach: 138
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Register
Forscher Althoff, Gerd: 2 Bleumer, Hartmut: 173 Bumke, Joachim: 19, 22f., 28–30 Coseriu, Eugenio: 9 Czerwinski, Peter: 12, 245, 247f., 252, 271f., 324f. Egidi, Margreth: 308 Eming, Jutta: 317, 327, 331 (Anm. 57), 342, 367 Genette, Gérard: 10f., 13 Gumbrecht, Hans Ulrich: 2–4
Koch, Elke: 324 (Anm. 26), 349f. (Anm. 104) Kraß, Andreas: 157, 164, 174f., 258 (Anm. 46), 323–325 (Anm. 33) Lechtermann, Christina: 6, 11 (Anm. 45) Linden, Sandra: 22, 143, 148 Meyer, Matthias: 328, 332 Müller, Jan-Dirk: 9, 218, 245, 261, 277, 287 Ohly, Friedrich: 131, 135 Palmer, Nigel: 131–133, 138 Quast, Bruno: 115
Hahn, Ingrid: 260f., 265, 308 Hübner, Gert: 17, 28f., 215f. Ingarden, Roman: 337, 340 Jannidis, Fotis: 332–334, 336 (Anm. 78), 340 Jauss, Hans-Robert: 177, 182, 186f. (Anm. 49), 190, 196f., 199, 204 Kellermann, Karina: 287 (Anm. 104), 289
Schnell, Rüdiger: 249, 318, 330 Schulz, Armin: 26f., 223, 246, 248, 254, 256, 268 (Anm. 68), 272, 281 (Anm. 88), 330 (Anm. 50) Stock, Markus: 309f., 332 (Anm. 60), 334 (Anm. 70) Wandhoff, Haiko: 263, 267 Wenzel, Horst: 1, 6, 9