Familiensoziologie [1. Aufl.] 9783839406717

Der Band bietet eine übersichtliche Einführung in zentrale Gegenstandsbereiche der Familiensoziologie. Es werden sowohl

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Inhalt
I. Einleitung
II. Familiensoziologische Theorien
1. Strukturfunktionalismus
1.1 Ansatz
1.2 Familiale Funktionen
1.3 Funktionsverlust
1.4 Familie und Gesellschaft
1.5 Kritik
2. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie
2.1 Ansatz
2.2 Familiale Interaktion
2.3 Kritik
3. Rational-Choice- und Austauschtheorien
3.1 Rational-Choice-Ansatz
3.2 Familie als Gegenstand ökonomischer Theorien
3.3 Fertilität unter der Perspektive ökonomischer Theorien
3.4 Austauschtheoretischer Ansatz und Familie
3.5 Kritik
III. Wandel der Familie und Pluralisierung der Lebensformen
1. Der Wandel familialer und privater Lebensformen
2. Die These der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen
3. Ehescheidung
4. Wandel des generativen Verhaltens
5. Nichteheliche Lebensgemeinschaften
6. Alleinerziehende
7. Alleinlebende
IV. Das soziale Umfeld von Familien
1. Die These der isolierten Kernfamilie
2. Familiale Netzwerke
V. Geschlechterbeziehungen und Familie
1. Eheliche Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse
2. Geschlechterrollen
VI. Familiale Sozialisation
1. Begriff und Verständnis von Sozialisation
2. Schichtspezifische Sozialisation
3. Kritik an und Weiterentwicklung der schichtspezifischen Sozialisationsforschung
VII. Ausblick
Literatur
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Familiensoziologie [1. Aufl.]
 9783839406717

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Uwe Schmidt Marie-Theres Moritz Familiensoziologie

Die Beiträge der Reihe Einsichten werden durch Materialien im Internet ergänzt, die Sie unter www.transcript-verlag.de abrufen können. Das zu den einzelnen Titeln bereitgestellte Leserforum bietet die Möglichkeit, Kommentare und Anregungen zu veröffentlichen. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2009 transcript Verlag, Bielefeld Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Korrektorat: Katrin Dietrich, Freiburg Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: AALEXX GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-89942-671-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

I. Einleitung

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II. Familiensoziologische Theorien

8

1. Strukturfunktionalismus 8 1.1 Ansatz 8 1.2 Familiale Funktionen 11 1.3 Funktionsverlust 13 1.4 Familie und Gesellschaft 15 1.5 Kritik 16 2. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie 19 2.1 Ansatz 19 2.2 Familiale Interaktion 23 2.3 Kritik 25 3. Rational-Choice- und Austauschtheorien 26 3.1 Rational-Choice-Ansatz 26 3.2 Familie als Gegenstand ökonomischer Theorien 30 3.3 Fertilität unter der Perspektive ökonomischer Theorien 31 3.4 Austauschtheoretischer Ansatz und Familie 33 3.5 Kritik 35

III. Wandel der Familie und Pluralisierung der Lebensformen 37 1. Der Wandel familialer und privater Lebensformen 37 2. Die These der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen 42 3. Ehescheidung 48 4. Wandel des generativen Verhaltens 54 5. Nichteheliche Lebensgemeinschaften 59 6. Alleinerziehende 65 7. Alleinlebende 68

IV. Das soziale Umfeld von Familien 72 1. Die These der isolierten Kernfamilie 72 2. Familiale Netzwerke 83

V. Geschlechterbeziehungen und Familie 91 1. Eheliche Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse 91 2. Geschlechterrollen 96

VI. Familiale Sozialisation 104 1. Begriff und Verständnis von Sozialisation 104 2. Schichtspezifische Sozialisation 109 3. Kritik an und Weiterentwicklung der schichtspezifischen Sozialisationsforschung 116

VII. Ausblick

Literatur

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I. Einleitung Die Befassung mit der Familiensoziologie verweist auf ein Thema, dem sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Raum eine hohe Präsenz zu attestieren ist. Damit verbunden ist, dass sich Grenzziehungen in vielfältiger Hinsicht als äußerst schwierig erweisen. Dies betrifft zunächst die disziplinären Grenzen, die nicht in jedem Fall eindeutig zu definieren sind, da sich vielfältige Überschneidungen, bspw. zur Pädagogik in Bezug auf die Sozialisationsforschung oder zur Geschichtswissenschaft im Hinblick auf die historische Familienforschung, ergeben. Darüber hinaus stellt sich in Anbetracht der Vielzahl an populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Familie die Frage, was noch (oder: was schon) als familiensoziologische Literatur gelten kann. Schließlich zeigt sich in den vergangenen Jahren, dass der Begriff der Familiensoziologie – wie im Übrigen zumindest im deutschen Sprachraum auch ihre institutionelle Verankerung – fragil geworden ist und zum Teil konkurriert mit soziologischen Ausrichtungen, die einen umfassenderen Zugang zu den in der Familiensoziologie behandelten sozialen Phänomenen beanspruchen. Zu nennen sind hier insbesondere die Ansätze der »privaten Lebensführung« (Schneider 1994) sowie der »Soziologie der Zweierbeziehung« (Lenz 1998). Diese Konzepte erscheinen für die weitere Entwicklung der hier dargelegten Forschungstradition ertragreich, öffnen sie doch das Feld für neue Fragestellungen und veränderte Perspektiven. Dennoch sind wir der Auffassung, dass das Festhalten am Terminus »Familiensoziologie« angemessen ist, da »Familie« den Referenzrahmen dieses Forschungsbereichs festlegt. Dies bedeutet keinesfalls, dass familiensoziologische Forschung nicht auch solche Themen aufgreifen kann, die bspw. mit der Erforschung der Lebenswelt von Singles geradezu den Gegenentwurf zu Familie in den Blick nehmen, wenn der Bezugspunkt die Familie – in einem idealtypischen Sinne: die Kernfamilie – bleibt. Gleichzeitig lassen sich alleine mit dieser Definition nicht die zuvor angedeuteten Abgrenzungsprobleme zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen und der Thematisierung außerhalb der 5

Wissenschaft lösen. Mithin ist Familiensoziologie auch auf die Herstellung von Konsens in der wissenschaftlichen Community angewiesen, indem Arbeiten bspw. entsprechend ihrer Veröffentlichung in einer soziologischen Fachzeitschrift oder der Reputation der jeweiligen Forscher als Familiensoziologen eingruppiert werden. In diesem Sinne ist Familiensoziologie als wissenschaftlicher Diskurs zu bezeichnen, »dessen Inhalte über Strategien der Konsensfindung entlang des Referenzbegriffes der modernen Kernfamilie, der Definition soziologischer Fragestellungen und wissenschaftlicher Regeln sowie der Reputation von Wissenschaftlern als Familiensoziologen und Veröffentlichungsorten selektiert« (Schmidt 2002: 21) werden. Der Begriff des Diskurses verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich innerhalb der Familiensoziologie Forschungsfelder entwickelt haben, deren Zusammenhang inhärent ist und die nicht zwingend einer spezifischen Logik der Themenbildung folgen. In den folgenden Kapiteln geht es uns zum einen darum, zentrale Themengebiete bzw. Diskurse der Familiensoziologie einführend zu beschreiben. Gleichzeitig möchten wir neben der thematischen Behandlung jeweils auch einen Einblick in die Entwicklung der Diskurse über die vergangenen Jahrzehnte hinweg geben, um die Wege – und vielleicht auch Irrwege – der Familiensoziologie zu skizzieren. Hierbei haben wir uns auf fünf aus unserer Sicht zentrale Diskurse beschränkt. Im ersten Kapitel werden wir einen Überblick zur familiensoziologischen Adaption allgemeinsoziologischer Theorien – des Strukturfunktionalismus, interpretativer und ökonomischer Ansätze – geben. Hieran anschließend soll der Diskurs um den Wandel familialer Formen dargestellt werden, der eine starke Affinität zu den ebenfalls in diesem Kapitel behandelten Themen des generativen Verhaltens und der Ehescheidung aufweist (Kapitel III). Das soziale Umfeld von Familien im Sinne von Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen wird in Kapitel IV thematisiert, um in den nachfolgenden beiden Kapiteln Diskurse zu beschreiben, die sich wesentlich mit Prozessen innerhalb der Familie befassen: der Ausbildung familialer Rollen (Kapitel V) und der Sozialisation (Kapitel VI). 6

Mit dieser Auswahl ist selbstredend verbunden, dass grundsätzlich relevante familiensoziologische Themengebiete hier keine Beachtung finden, was unserer Auffassung nach insofern zu vertreten ist, als der vorliegende Band keine umfassende Einführung in alle Bereiche der Familiensoziologie geben will, sondern – zum Teil exemplarisch – in familiensoziologisches Denken einführen soll.

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II. Familiensoziologische Theorien Die Familiensoziologie knüpft in unterschiedlicher Weise an Paradigmen soziologischer Theorie an. Grob kann im Anschluss an Haller differenziert werden nach solchen, die den Struktur- und Funktionsaspekt in den Vordergrund rücken – hier ist insbesondere der strukturfunktionalistische Ansatz nach Parsons zu nennen –, jenen, die dem interpretativen Paradigma verbunden sind – wie Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie –, und Modellen, die auf die ökonomische Theorietradition rekurrieren (Haller 1999). Zu nennen wäre darüber hinaus die marxistische Theorie, die in der Familiensoziologie jedoch keinen nachhaltigen Einfluss entfaltet hat. Mit dieser Unterscheidung ist allerdings nicht die Einschätzung verbunden, dass theoretische Paradigmen grundsätzlich gegensätzlich zu denken sind. Vielmehr vertreten wir die Auffassung, dass die Paradigmenkonkurrenz in der Soziologie – nicht zuletzt jene, die über lange Jahre zwischen strukturfunktionalistischen und interpretativen Ansätzen zu beobachten war – letztlich Ausdruck unterschiedlicher Perspektiven gesellschaftlicher Analyse ist und vielfältige Schnittflächen und Anknüpfungspunkte aufweist. Damit ist allerdings kein Plädoyer für eine Metatheorie verbunden, in der unterschiedliche theoretische Ansätze aufgehen, sondern die Forderung nach einer stärkeren Integration und gegenseitigen Befruchtung theoretischer Modelle in der Familiensoziologie.

1. Strukturfunktionalismus

1.1 Ansatz Die strukturfunktionalistische Theorie der Familie, die im Wesentlichen in den 1950er Jahren entwickelt wurde, thematisiert die Funktion der Familie als Subsystem in Bezug auf die Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Systems und ihrer dafür notwendigen Struktur. Dabei steht der Zusammenhang gesellschaftlicher und familialer Veränderungen, die sich vor allem 8

zum Zeitpunkt der Industrialisierung und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen, im Mittelpunkt des Interesses. Der Strukturfunktionalismus wurde wesentlich durch Émile Durkheim beeinflusst, der den notwendigen Beitrag, den die weitgehend autonomen, funktional differenzierten Subsysteme für den Aufbau und die Erhaltung der Gesellschaft leisten müssen, durch die Metapher des Körpers und seiner einzelnen, für die Aufrechterhaltung des Ganzen notwendigen Körperorgane verdeutlichte (vgl. van der Loo/van Reijn 1982: 87). Talcott Parsons gilt mit seinen Arbeiten als Begründer und einer der wichtigsten Vertreter der strukturfunktionalistischen Theorie (vgl. Kingsbury/Scanzoni 1993: 200ff.; Staubmann 1999: 148). Ausgangspunkt seiner familiensoziologischen Analysen ist die Kernfamilie und ihre Bedeutung als Teilsystem bzw. ihre Stellung in und ihre Verknüpfung mit der Gesellschaft (Parsons 1964: 110). Parsons beschäftigte sich u.a. mit der Frage nach strukturellen Gemeinsamkeiten von Familien unterschiedlicher Gesellschaftsformen. »Struktur« wird dabei als Anordnung von Rollen verstanden, aus denen ein soziales System zusammengesetzt ist (vgl. Kingsbury/Scanzoni 1993: 196). Als universal gelte das Inzesttabu und die Kernfamilie (Parsons 1964: 109f.). Die Konstanz dieser Strukturen sei, so Parsons, in der »biologischen Funktion und der Zusammensetzung« (ebd.: 113), der Fortpflanzung, dem Generationenunterschied und der Geschlechtsdifferenzierung zu sehen. Die Kernfamilie weist mit dem Generationenunterschied und der Geschlechtsdifferenzierung strukturelle Merkmale auf, die allen Kleingruppen gemeinsam sind. Der Generationenunterschied sorgt dafür, dass sich entlang diesem ein Hierarchiesystem entwickeln kann. Der Geschlechtsunterschied hingegen ist für die Entfaltung einer expressiven Funktion wichtig, aus der Harmonie und Solidarität folgen. Diese beiden familialen Merkmale entsprechen den typischen Eltern- und Kinderrollen (ebd.: 111; Parsons 1955: 22f.). Wenn in Familien Männer und Frauen ihre instrumentalen und expressiven Rollen verinnerlichen und nach ihnen handeln, sind familiale Stabilität, damit aber auch gesellschaftliche Ordnung gewährleistet (Kingsbury/Scanzoni 1993: 197). Diese Differenzierungsmerkmale sind die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Familie ihre für den Erhalt der Gesell9

schaft wichtigen Funktionen erfüllen könne. Parsons sieht diese in erster Linie in der »Aufrechterhaltung eines gewissen emotionalen Gleichgewichts« (Parsons 1964: 113) sowie in der Sozialisation, die in allen einflussreichen Arbeiten Parsons’ als herausragende Funktion angeführt wird. Im Gegensatz zu anderen Kleingruppen weise die Familie weitere wichtige Strukturen auf, um ihre Funktionen erfüllen zu können: So ist bspw. einerseits eine lange Dauer der Beziehungen innerhalb der Kleingruppe notwendig, andererseits aber auch deren Selbstauflösung, die durch die Heirat des erwachsenen Kindes und der damit verbundenen Gründung einer neuen Familie gegeben ist (ebd.: 111ff.). Grundgedanke des Strukturfunktionalismus ist, dass durch den Prozess der Differenzierung Institutionen und Organisationen entstehen, die sich auf bestimmte, für die Erhaltung der Gesellschaft wichtige Funktionen spezialisiert haben. Auch die Familie gilt als ein solches Subsystem (van der Loo/van Reijn 1982: 82). Nach George Peter Murdock sind die funktionalen Erfordernisse der Kernfamilie in der sexuellen Gratifikation und arbeitsteiligen ökonomischen Kooperation des Elternpaares, der Reproduktion und der Sozialisation zu sehen. Ohne die Erbringung der ersten und dritten Funktion würde die Gesellschaft sich nicht weiter reproduzieren und aussterben, ohne die zweite würden die notwendigen Ressourcen zum Überleben fehlen und ohne Sozialisation würde die Kultur erliegen (Murdock 1966: 10). Diese für den Bestand der Gesellschaft unbedingt erforderlichen Funktionen werden als funktionale Requisiten bezeichnet. Die Familie kann unter diesen Voraussetzungen als »Keimzelle« der Gesellschaft bezeichnet werden, da durch sie die Bestandssicherung gewährleistet ist (Hill/Kopp 2006: 73ff.). Bei der Funktionserfüllung können andere Institutionen durchaus behilflich sein, wie bspw. im Hinblick auf die Erziehung; die Eltern hätten aber stets die wichtigste Rolle inne. Murdock hält es für fraglich, ob sich je eine Institution etablieren wird, auf die diese Funktionen übertragen werden könnten, wodurch der Kernfamilie ein beispielloser sozialer Nutzen zugesprochen wird (Murdock 1966: 10).

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1.2 Familiale Funktionen In Anlehnung an Murdock arbeitet William J. Goode fünf zentrale Funktionen der Familie heraus, die in der Regel in allen Gesellschaften zu beobachten seien: Reproduktion, Statuszuweisung oder soziale Platzierung, Sozialisierung und soziale Kontrolle, biologische sowie emotionale und wirtschaftliche Erhaltung des Individuums. Diese Funktionen stellen weitgehend soziale Pflichten dar – es handelt sich bei ihnen um Tätigkeiten, die an moralische Regelungen gebunden sind. Zudem bestehen zwischen den verschiedenen Funktionen Interdependenzen. So sieht Goode die wichtigste Funktion in der sozialen Platzierung des Kindes, die eine Voraussetzung für alle anderen Funktionen darstellt (Goode 1960: 32f.) – ein »Prozeß, durch den eine Person an bestimmte gesellschaftliche Positionen vermittelt wird« (Neidhardt 1975: 65). Das Kind steht im Mittelpunkt einer Reihe sozialer Beziehungen: »Viel mehr als irgendeine andere soziale Erscheinung erfordert die Existenz eines Kindes feste soziale Einrichtungen.« (Goode 1960: 33) Die Verantwortung dafür, dass ein Mensch soziale Kontrolle erlernt, sei das Ziel der Sozialisation – und die wichtigste Instanz der Sozialisation und damit der sozialen Kontrolle ist die Familie. Durch die soziale Statuszuweisung ist die Verantwortung der Sozialisation und damit der sozialen Kontrolle festgelegt. Auch wenn sich in modernen Gesellschaften weitere Instanzen sozialer Kontrolle etablieren, können diese sekundären Sozialisationsinstanzen die primäre Sozialisation, die durch die Familie erfolgt, nicht adäquat ersetzen und ohne sie nicht wirken: Es ist vor allem die Familie, die die Gesellschaft zusammenhält (ebd.: 35f.), da durch ihre Sozialisation »Werte, Normen und Verhaltensstandards eingeübt werden, ohne die eine Gesellschaft keinen Bestand hat« (Hill/Kopp 2006: 75; vgl. Parsons 1955: 17). Die Sozialisation hat neben der kulturellen Perspektive zudem auch eine biologische, da Kinder aufgrund ihrer »mangelnden Instinktausstattung« in besonderem Maße auf die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen sind (Goode 1967: 32). Die Kernfamilie verfügt durch ihre Struktur über alle Eigenschaften, die eine Institution besitzen muss, um die Funktionen, die der Familie zugeschrieben werden, ausüben zu können: Sie 11

besteht aus zwei Erwachsenen mit unterschiedlichem Geschlecht, durch deren sexuelle Beziehung die Reproduktion gewährleistet ist. Ein langer Bestand der Lebensgemeinschaft sorgt für den Schutz und die Fürsorge des hilflosen, heranwachsenden Kindes. Die Kernfamilie übernimmt die Verantwortung für das Kind, auch in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche System. Sie bildet eine Wirtschaftseinheit. Auch die emotionalen Bedürfnisse des Kindes werden innerhalb der Kernfamilie optimal befriedigt. »Wenn wir also von den Eigenschaften ausgehen, die eine soziale Einheit besitzen müsste, um die betreffenden Funktionen auszuüben, so finden wir, dass keine andere Institution als die Familie, insbesondere die Kernfamilie, dazu in der Lage ist. Wenn diese Funktionen nicht erfüllt werden, zerfällt die Gesellschaft; einzig die Familie kann sie aber ausreichend ausüben.« (Ebd.: 40) Nach Goode kann dementsprechend die Kernfamilie, trotz ihrer differenzierten Erscheinungsformen, als universell angesehen werden, da sie immer die gleichen Eigenschaften habe und die gleichen Funktionen ausübe (ebd.; vgl. auch Parsons 1955: 28). Tabelle 1: Funktionen der Familie in einführenden Arbeiten zur Familiensoziologie Pieper/Pieper 1975

Zigann 1977

Reproduktion

Mühlfeld 1976

Neidhardt 1975 [1966]

Organisation Intime d. Geschlechts- Funktion verkehrs (Sexualität)

Reproduktion

Reproduktion

Sozialisation

Sozialisation

Sozialisierung und soziale Kontrolle

Sozialisation

Haushalt

Haushalt

Biologische Erhaltung des Individuums

Haushalt und Freizeit

Regeneration

Spannungsausgleich

soziale Platzierung

Ebel et al. 1978

Sozialisation

(intime Funktion)

Emotionale Familialer und wirtschaft- Spannungsliche Erhaltung ausgleich des Individuums Statuszuweisung

Platzierung

Die starke Orientierung der Familiensoziologie an der Frage der funktionalen gesellschaftlichen Einbindung von Familie spielt 12

bis weit in die 1970er Jahre hinein eine bedeutende Rolle. Betrachtet man entsprechende deutschsprachige Einführungen in die Familiensoziologie, so dient der Funktionsbegriff häufig als strukturierendes Element. Im Wesentlichen lassen sich hierbei fünf Funktionen unterscheiden, die in unterschiedlichen Ausprägungen in diesen Arbeiten Erwähnung finden (vgl. Tab. 1). Neben der Reproduktions-, Sozialisations- und Haushalts- bzw. ökonomischen Funktion sind dies die Regenerationsfunktion sowie jene der sozialen Platzierung.

1.3 Funktionsverlust Kernaussage der strukturfunktionalistischen Theorie ist, wie zuvor ausgeführt, dass sich die Familie den funktionalen Erfordernissen der Gesellschaft anpasst; d.h., die Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft sind für die Ausbildung spezifischer Familienformen und -strukturen leitend (Parsons 1943). Ab Mitte des 20. Jahrhunderts bis zu Anfang der 1980er Jahre beschäftigte dies die Familiensoziologie unter Bezug zum sozialen und familialen Wandel und vor dem Hintergrund der Industrialisierung. Ausgangspunkt ist hierbei das so genannte Kontraktionsgesetz Durkheims, das besagt, dass sich der Personenbestand der Familie mit dem Fortschreiten der Jahrhunderte verringert und auf die Kernfamilie reduziert hat (vgl. König 1955). Die Kernfamilie gilt danach als ein funktionales Erfordernis, als die ideale Familienstruktur unter den Anforderungen, die die Industrialisierung bzw. die moderne Gesellschaft an die Familie stellt (Goode 1967: 197). Die im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften »differenzierte, komplexe und offene Struktur« (Hill/Kopp 2006: 79) moderner Gesellschaften bedarf einer Mitgliedschaft in einer Vielzahl von Subsystemen (Parsons 1955: 12) und ist gekennzeichnet durch Werteuniversalismus und eine Leistungsideologie (Hill/Kopp 2006: 79). Viele der generellen Erfordernisse der modernen gesellschaftlichen Situation wirken auf die Familie zurück, wie bspw. das Erfordernis hoher Mobilität (van der Loo/van Reijn 1982), die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit von Frauen oder auch das neue Menschenbild, das dem 13

Individuum personale Autonomie und Selbstverantwortung abverlangt (Neidhardt 1975: 58; vgl. auch Popenoe 1993; Goode 1960; Parsons 1955). Diese instabile gesamtgesellschaftliche Situation der Moderne zieht Änderungen familialer Lebensformen nach sich: die Herausbildung der Kernfamilie. Auch Phänomene wie Fertilität und Scheidung lassen sich, so Hoffmann-Nowotny et al. (1984: 57), hieraus erklären, da »es gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sind, in denen die Voraussetzungen für bestimmte Formen der Gestaltung von Beziehungen, die Eheschliessungen, die Familienbildung, die Ehescheidung, die Zahl der Geburten usw. zu finden sind. In Bezug auf all diese Sachverhalte ist also davon auszugehen, dass ökonomischer, sozialer und kultureller Wandel bestimmte Möglichkeiten verwehrt oder erschwert und wieder andere nahelegt oder gar verpflichtend macht.« Es komme in der modernen Gesellschaft neben diesen strukturellen auch zu funktionalen Veränderungen in Folge der gesellschaftlichen Differenzierung und Spezialisierung, durch die sich Institutionen und Organisationen herausbilden, die ursprüngliche Familienfunktionen wie Erziehung, Alten- oder Krankenpflege übernehmen und die Großfamilie vormoderner Gesellschaften, die eine Produktions- und Konsumtionseinheit darstellte, überflüssig machen (van der Loo/van Reijn 1982: 82; Parsons 1955: 9). Diese – vermutete – Entwicklung findet in der Familiensoziologie ihren Niederschlag im Diskurs über den Funktionsverlust der Familie. Während viele Autoren von einem Funktionsverlust und dramatischen Niedergang der Familie überzeugt sind (Popenoe 1993: 527), sehen andere in den Veränderungen lediglich einen Funktionswandel bzw. eine funktionale Spezialisierung, welche die Familie aufgrund ihrer sukzessiv entstehenden, exklusiven Funktionen eher bedeutender werden lasse (Parsons 1955: 9; Schulze et al. 1989: 34; Neidhardt 1975: 58; Schumacher/Vollmer 1982: 243). Im Gegenzug zu den Aufgabenbereichen, welche die Familie zum Teil an andere Institutionen verliert, entstehen in dieser Perspektive eine Reihe neuer Funktionen, bspw. im Freizeit- und Konsumbereich. Die funktionale Spezialisierung der Familie bezieht sich v.a. auf die Emotionalität, den »emotionalen Spannungsausgleich«, der in der anonymisierten und rationali14

sierten modernen Gesellschaft zu einer funktionalen Notwendigkeit für das Individuum und zur zentralen Aufgabe der Familie wird (Neidhardt 1975: 69; König 1978: 70; Schumacher/Vollmer 1982).

1.4 Familie und Gesellschaft Die These des Funktionsverlustes korrespondiert eng mit der Frage, inwieweit Familie damit auch als gesellschaftlich desintegriert zu verstehen ist. Als Hauptvertreter der These der desintegrierten Familie gilt René König, der sich auf die Isolationsthese Parsons bezieht, die den Funktionsverlust des Verwandtschaftssystems vor allem in Hinblick auf die ökonomische Versorgungsfunktion sowie die zunehmende Emotionalisierung innerhalb der Kernfamilie zur Grundlage hat (Parsons 1943: 3ff.). König übernimmt diesen Ansatz und entwickelt ihn weiter zu seinem Konzept der Desintegration der Familie (vgl. Kapitel IV/1). Unter Desintegration versteht er die »Ausgliederung [der Familie] aus allen allgemeineren Zusammenhängen« (König 1946: 79). Mit Bezug auf das Kontraktionsgesetz Durkheims geht Familie, so König, »mit der Gesellschaft, d.h. jede Gesellschaft hat die Familie, die unter bestimmten sozialgeschichtlichen Voraussetzungen zu ihr gehört« (ebd.: 67). Der Differenzierungsprozess trage dazu bei, dass sich die Familie erst jetzt auf ihre spezifischen Aufgaben konzentrieren kann, die in dem »Aufbau der sozial-kulturellen Person des Menschen, der Sozialisation des Menschen [und] der emotionalen Spannungsbewältigung« (König 1978: 70) zu sehen seien. Die Desintegration habe aber auch negative Folgen. So kann es zu Anpassungsschwierigkeiten der Familie an die Gesellschaft kommen, die zur Des- oder auch Überorganisation führen. Zur Desorganisation kann es kommen, da die Familie eine unzureichende gesellschaftliche Einbindung erfährt, wenn die soziale Absicherung, die früher durch das Verwandtschafts- und das Nachbarschaftssystem gegeben war, verloren geht (König 1946: 94). Eine Überorganisation kann auftreten, wenn sich der Anpassungsprozess der Familie an die gesellschaftliche Entwicklung 15

verzögert und die Familie zunächst in alten Traditionen und Verhaltensweisen verharrt, die nicht mehr den durch die Gesellschaft gegebenen Voraussetzungen entsprechen (König 1951: 240 sowie 1949: 108ff.). So entsteht eine Anpassungskrise der Familie an die Gesellschaft, die als »cultural lag« (König 1946: 45) bezeichnet wird. Die gesellschaftliche Desintegration der Familie kann allerdings auch, so Neidhardt, positiv gewichtet lediglich als Privatisierung der Familie angesehen werden, durch die dem Individuum ein dringend erforderlicher Intimbereich geschaffen wird (Neidhardt 1975: 69). Ähnlich wie König konstatiert auch Helmut Schelsky, dass sich eine aus dem gesellschaftlichen und verwandtschaftlichen System desintegrierte Kernfamilie herausbildet. Im Unterschied zu König geht er jedoch von einer gegensätzlichen Entwicklung von Familie und Gesellschaft aus und sieht in dieser Abgrenzung zwischen dem Intimbereich Familie und der »Zweckorganisation der Gesellschaft« (Schelsky 1951: 589) eine Notwendigkeit. Nur unter diesen Umständen sei gewährleistet, dass die Familie ihre eigentlichen Funktionen und Fähigkeiten ausüben kann. Deshalb sei auch die Gesellschaft verpflichtet, für die Eigenständigkeit der Familie zu sorgen (Schelsky 1953: 288). Während König also von einer (wenn auch verzögerten) Anpassung der Familie an die gesellschaftliche Entwicklung ausgeht, sieht Schelsky eine selbständige, unabhängige Entwicklung bzw. eine besondere, institutionelle Stabilität der Familie.

1.5 Kritik Auch wenn die strukturfunktionalistische Theorie einen bedeutenden Stellenwert innerhalb der soziologischen Theorien einnimmt, sind seit Ende der 1970er Jahre eine zunehmende Kritik und ein nachlassender Einfluss auf die Familiensoziologie zu beobachten. Die Theorie, so der Einwand, erhebt mit der Familie als Funktionssystem der Gesamtgesellschaft den Anspruch einer Makrotheorie (Schulze et al. 1989: 34). Dabei komme es zur Überbewertung des Zusammenhangs zwischen gesamtgesellschaftlichen Prozessen und familialen Entwicklungen (Hill/Kopp 16

2006: 79ff.). Ausgangspunkt der Theorie sei ein soziales System, »in dem Normen existieren und die Individuen weitgehend durch diese Normen gelenkt werden« (Homans 1972: 50f.). Die Möglichkeit individueller Handlungen findet wenig Beachtung, da menschliches Handeln als reine Funktionserfüllung angesehen wird (Bösel 1980: 21). Vernachlässigt wird hierbei, dass »Hypothesen über das Verhalten von Menschen, nicht über das Verhalten von Gesellschaften« gemacht werden können (Homans 1972: 52). Die komplexe Wirklichkeit werde zu sehr auf abstrakte Systemzusammenhänge reduziert. Der Gegenstand Familie, der sich durch »Alltäglichkeit, Privatheit und Spontaneität seiner Strukturen« (Bösel 1980: 27) charakterisieren lässt, entzieht sich jedoch abstrakten Systemzugriffen. Soziale Phänomene lassen sich nicht durch eine rein funktionale Analyse beschreiben. Die Realität besteht vielmehr aus komplexen Wechselwirkungen gesellschaftlicher Strukturen, welche die Individuen beeinflussen, und aus individuellen Handlungen, die wiederum auf die gesellschaftlichen Strukturen rückwirken (Hill/Kopp 2006: 85f.; Homans 1972: 52). Kritisiert werden darüber hinaus die über die Vergangenheit gemachten Annahmen. Die strukturfunktionalistische Perspektive unterstellt eine historische Familienform, die über eine große Funktionsvielfalt verfügt. Doch bereits zu Ende der 1960er und Beginn der 1970er Jahre konnte gezeigt werden, dass im Hinblick auf die »Entdeckung« der Vielfalt historischer Familienformen dies, wenn überhaupt, lediglich für die Oberschichten galt und insgesamt in der vorindustriellen Zeit der mehrgenerative Familienverband die Ausnahme war (Schwägler 1970: 132ff.; Rosenbaum 1973: 122f.; König 1966: 123). Das Kontraktionsgesetz Durkheims, das als Grundlage herangezogen wird, um den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und der Herausbildung der Kernfamilie zu belegen, ist mithin durch die Nachweisbarkeit heterogener Familienformen in der Vergangenheit bereits deutlich entkräftet. Weiterhin ist fraglich, ob die Funktionen der Familie je in diesem Ausmaß vorhanden gewesen sind (Mühlfeld 1976: 169ff.); ob Familien der vorindustriellen Gesellschaft die Vielzahl an Aufgaben erfüllt haben, die ihnen heute zugeschrieben wird, bzw. ob sie die Funktionen wirklich in der Vergangenheit selbständig lösten (Neidhardt 1975: 58). So ist nach Hettlage 17

weitgehend ungeklärt, »ob die genannten Familienfunktionen insgesamt ersatzlos auf andere Institutionen übertragen worden seien, oder ob sie sich nur in ihren Inhalten gewandelt, also an eine sich verändernde Gesellschaft angepaßt hätten« (Hettlage 1992: 53). So entsprechen nicht alle Funktionen der Familie funktionalen Requisiten und es bleibt fraglich, ob familiale Funktionen, wie die Sozialisation als eine der Hauptaufgaben, nicht auch von anderen Institutionen übernommen werden könnten. In Anbetracht der Institutionalisierung der Erziehung in Kindergärten und Kinderhorten ist zumindest kritisch zu fragen, ob die historische Entwicklung die noch in den 1950er Jahren angenommene Eindeutigkeit aufweist. Nicht zuletzt die Infragestellung des sozialisatorischen Leistungsvermögens im Hinblick auf sich verändernde gesellschaftliche Anforderungen seit Ende der 1960er Jahre zeige, so Brumlik, dass die Zuweisung der Sozialisationsfunktion auf den familiären Bereich keinesfalls einen unumstrittenen gesellschaftlichen Konsens darstellt (Brumlik 1987: 3ff.). Dies gilt umso mehr, wenn in Zusammenhang mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf der Ausbau des Betreuungsangebots außerhalb der Familie eingefordert und zunehmend in Form von erweiterten Betreuungsangeboten für Kleinkinder und Ganztagsschulen realisiert wird. In diesem Sinne folgert Marschalck, dass »in denjenigen Bereichen, in denen die Familie die neu hinzutretenden gesellschaftlichen Anforderungen an die Erziehung und an die Alterssicherung nicht haben erfüllen können oder wollen, […] Institutionen entstanden [sind], denen diese neuen Aufgaben übertragen wurden« (Marschalck 1983: 452). Aber auch die Exklusivität der reproduktiven Funktion sowie jene der Intimität verlieren an Bedeutung, betrachtet man die Zunahme von Lebensformen, die nicht dem kernfamilialen Bild entsprechen. Schließlich bleibt die historische Abgrenzung des funktionalen Verlustes bzw. Wandels vielfach indifferent. Vor allem hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Familie aus dem produktiven Sektor wird die zeitliche Verortung nur vage mit dem Begriff der »Modernisierung« umschrieben. Der Annahme, dass die Entlastung von produktiven Funktionen auf die zunehmende Industrialisierung und die damit einhergehende Trennung von Arbeitsstät18

te und Familie zurückzuführen sei, stehen die Einsicht in die Gleichzeitigkeit verschiedener Differenzierungsverläufe und die weitgehend unterschätzte Wirkung des Urbanisierungsprozesses entgegen: »Die entscheidende Voraussetzung dieser Funktionsentlastung der Familie ist der Prozeß der Urbanisierung. Allgemeiner wird man vielleicht überhaupt von einer Tendenz zur Zentralisierung als bedingender Ursache sprechen dürfen.« (Mitterauer 1979: 96) Zudem zeigt sich, dass Lohnarbeit nicht erst mit der Industrialisierung aufgekommen, sondern weit vor der industriellen Revolution an Bedeutung und Einfluss auf Familienkonstellationen gewonnen hat (vgl. ebd.).

2. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie

2.1 Ansatz Aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie des Strukturfunktionalismus folgt ein allmähliches Umdenken ab den 1970er Jahren. Nicht nur in der Familiensoziologie gewinnen andere theoretische Paradigmen, vor allem der Symbolische Interaktionismus, an Einfluss. Versucht man in einer sehr vereinfachten Form zwischen Strukturfunktionalismus und Theorien in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus zu differenzieren, so zielt letzterer stärker auf die Akteursperspektive und mithin die Mikroebene ab und betont »die notwendigen subjektiven Situationsdefinitionen und Handlungsspielräume der Individuen« (Hill/Kopp 2006: 100f.). Der Ansatzpunkt der Theorie des Symbolischen Interaktionismus, der in den 1920ern entstand, ist das Erforschen des Prozesses, durch den Wirklichkeit geschaffen, erhalten und modifiziert werden kann (Berger/Kellner 1965: 221). Die Grundlage bildet, wie der Name schon sagt, die Verbindung von Symbolen und Interaktionen, welche verbale und nonverbale Handlungen und Kommunikationen einschließen. Als einige bedeutende der zahlreichen Vertreter des Symbolischen Interaktionismus sind zu nennen: Charles Horton Cooley, George Herbert Mead, William 19

Isaac Thomas, Robert E. Park, Ernest W. Burgess und John Dewey, deren Ansätze »große Ähnlichkeit in der allgemeinen Art und Weise, in der sie menschliches Zusammenleben betrachten und erforschen«, aufweisen (Blumer 1981: 80f.). Blumer, der eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Symbolischen Interaktionismus spielt und für die Begriffsgebung verantwortlich zeichnet (vgl. LaRossa/Reitzes 1993: 142), arbeitet drei Prämissen heraus, die als zentral gelten: Erstens handeln Menschen gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutung, die diese Dinge für sie besitzen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung dieser Dinge innerhalb des Interaktionsprozesses mit Mitmenschen gebildet, bestätigt oder auch umgeformt wird. Drittens kann die Bedeutung von Dingen in einem interpretativen Prozess verändert werden (Blumer 1981: 80f.). Diese Bedingungen sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Gesellschaftliche Phänomene werden in der Theorie des Symbolischen Interaktionismus in erster Linie durch das Handeln, das auf der individuellen Wirklichkeitswahrnehmung der Gesellschaftsmitglieder beruht, beschrieben und erklärt. Ausgangspunkt des Symbolischen Interaktionismus ist, dass Menschen ihre eigene symbolische Welt konstruieren und auf diese reagieren (Nock 1987: 24). Im Vergleich zu anderen Theorien stellt der Symbolische Interaktionismus in besonderer Weise darauf ab, dass das Handeln aufgrund der Bedeutung von gedanklichen Vorstellungen beeinflusst ist (Burr et al. 1979: 46f.). Die Bedeutung, die Dinge für Menschen haben, wird entsprechend betont, während in anderen Modellen die Untersuchung menschlichen Verhaltens erst bei sozialen Positionen und Rollen, kulturellen Vorschriften, sozialen Zwängen usw. einsetzt. Im Symbolischen Interaktionismus hingegen wird gerade dieser Aspekt der Bedeutung von Symbolen und deren Entstehung zu einem genuinen Bestandteil der Theorie selbst (Blumer 1981: 81f.). Grundannahme ist, dass die Umwelt in Symbolen, d.h. mentalen Abstraktionen wahrgenommen wird (Burr et al. 1979: 46f.). Der Symbolbegriff impliziert alle Objekte oder Dinge, die der Mensch wahrnehmen kann, schließt damit sowohl physische Gegenstände als auch Bedeutungen (Institutionen, Werte, Normen, Situationen, Rollen) mit ein (Markefka 1989: 69; Blumer 1981: 81). Diese 20

Symbole sind mit einer subjektiven Bedeutung belegt, die durch das Alltagswissen geformt ist. Die Bedeutung von Symbolen wird im Austausch mit anderen, vor allem im Rahmen von Interaktionen, stets neu interpretiert oder erlernt und kann deshalb als soziale Schöpfung angesehen werden. In einer Interaktion werden die Handlungsabsichten des Gegenübers, die sich in Symbolen, etwa der Sprache, aber auch in Gesten und Äußerungen ausdrücken, aufgrund ihrer Bedeutung interpretiert und daraufhin gehandelt (Blumer 1981: 83; Markefka 1989: 64f.; Burr et al. 1979: 46). Aus dem Austausch der subjektiven Interpretationen innerhalb von Interaktionen erfolgt so ein Prozess der Angleichung, dessen Ergebnisse soziale Systeme oder gemeinsame Rollenvorstellungen sind (Blumer 1981; Markefka 1989: 65). Durch den Prozess der fortlaufenden Interaktion hat das Individuum die Chance, seine selbstkonstruierte Weltauffassung immer wieder auf gesellschaftliche Akzeptanz und Realitätsdefinition zu überprüfen. Interaktion kann somit als zentrales Mittel zur Wirklichkeitskonstruktion gelten (Berger/Kellner 1965: 221f.). Darüber hinaus ist der Prozess der Interaktion im Symbolischen Interaktionismus wichtig für den Selbstentwurf bzw. die Selbstdefinition von Individuen. Diese entsteht durch Selbstbeobachtung, die Unterschiede und Übereinstimmungen zu anderen deutlich macht (Burr et al. 1979: 47). Eine gemeinsame Weltauffassung, die sich bspw. durch einen gemeinsamen kulturellen Kontext kennzeichnen lässt, wird dabei vorausgesetzt, um den anderen in seinem Handeln richtig verstehen zu können (Giesen/Schmidt 1976, zitiert nach Markefka 1989: 64; vgl. Blumer 1973: 81, 90; Burr et al. 1979: 46). Wenn sich ein Akteur in einer bestimmten Situation »richtig« verhalten will, setzt dies eine eindeutige Definition der vorliegenden Situation voraus. Grundregeln, Typisierungen und Bezugskriterien, wie bspw. Rollenorientierung, die durch die Sozialisation dem Individuum als das gesellschaftlich erwartete Verhalten internalisiert wurden, damit eine gewisse Ordnung im Alltag vorhanden ist, reichen nicht aus, da diese gesellschaftlichen Vorgaben lediglich Orientierungshilfen (wie bspw. Rollenentwürfe) sind, reale Situationen aber vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsalternativen zulassen, die vor einer Entscheidung durchdacht, erweitert und 21

modifiziert werden müssen (Hill/Kopp 2006: 95ff.; Berger/Kellner 1965: 221). Individuelles Verhalten ist außerdem zweckbestimmt, weshalb Konsequenzen vorab bedacht werden müssen. Das Handeln erfolgt damit aufgrund eines individuellen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums. Individuelle bewertende Unterscheidungen sind zusätzlich notwendig, der Sinn von Dingen oder Personen muss verstanden werden, um eine richtige Entscheidung herbeiführen zu können (Markefka 1989: 63f.). Indem Situationen und Interaktionen von den handelnden Menschen selbst konstruiert sind, können Differenzen aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmung auftreten (ebd.: 63). Um Situationen richtig zu deuten und in der Folge richtig handeln zu können, sind deshalb Interaktionen unverzichtbar, da hierbei, wie oben beschrieben, individuelle Interpretationen auf Übereinstimmung geprüft werden (Burr et al. 1979: 46f.). Ein weiterer interpretativer Ansatz, der dem des Symbolischen Interaktionismus sehr ähnelt, ist die Ethnomethodologie, die in den 1950ern entstand und auf Harold Garfinkel zurückgeht, der sich »mit den praktischen, alltäglichen Aktivitäten beschäftigt, die Menschen in der Gesellschaft entfalten, um sich selbst und anderen ihre alltäglichen Angelegenheiten verständlich und erklärlich zu machen« (Psathas 1981: 270). Im deutschsprachigen Raum häufig als »Soziologie des Alltags« (vgl. Markefka 1989: 66) bezeichnet, sind hier tatsächlich die alltäglichen Aktivitäten Forschungsgegenstand: Die Analyse der Alltagswelt gilt als Grundlage für die Analyse anderer Wirklichkeiten. Durch ihre Untersuchung kann rekonstruiert werden, wie Menschen soziale Wirklichkeit wahrnehmen, erfahren und schließlich schaffen (Psathas 1981: 271ff.). Der Mensch gilt hierbei als Objekt, gleichzeitig aber auch als Schöpfer der eigenen Welt. Zentrale Frage des Ansatzes ist, »wie die Strukturen des Alltagshandelns gewöhnlich und gewohnheitsmäßig hergestellt und aufrechterhalten werden« (Garfinkel 1973: 280, zitiert nach Markefka 1989: 64). Durch die mittels Beobachtung des Alltagslebens gewonnenen Ergebnisse sollen – basierend auf erkenntnistheoretischen und gesellschaftstheoretischen Grundannahmen – die grundlegenden Strukturen herausgearbeitet und verallgemeinert werden, die für soziale Phänomene verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage wird nach 22

weiteren Elementen gesucht, die Einfluss darauf nehmen, welche Bedeutungen bestimmten Handlungen zugeschrieben werden (Markefka 1989: 66f.; vgl. ebd.: 63-79; Psathas 1981: 270-280). Sowohl der Symbolische Interaktionismus als auch die Ethnomethodologie haben soziales Handeln von interagierenden Individuen in alltäglichen Situationen zum Forschungsgegenstand. Dabei akzentuiert der Symbolische Interaktionismus noch stärker individuelle, interpretative Aspekte, weniger Typisierungen und Kategorisierungen, wodurch ein »spontaner sozialer Wandel einkalkuliert wird« (Markefka 1989: 69).

2.2 Familiale Interaktion Mit Bezug zur Familiensoziologie sollen interpretative Ansätze, so Markefka, Interaktionen im familialen Alltag verständlicher machen, familiale Alltagswelten erforschen (Markefka 1989) und somit die »Besonderheiten des Handlungszusammenhangs Familie« (Bösel 1980: 68) erklären. Der Erkenntnisgewinn verschiedener Arbeiten ist bspw. für die Familienberatung und -therapie sowie für die Familienpolitik von Interesse (Markefka 1989: 70). Schon die Definition des Begriffs Familie als eine »Einheit interagierender Persönlichkeiten« (Bösel 1980: 67) verdeutlicht die Ausrichtung des Interaktionismus: Familie wird als etwas betrachtet, das durch Interaktionsprozesse entsteht und erhalten wird: »At any rate the actual unity of family life has its existence nor in any legal conception, nor in any formal contract, but in the interaction of its members.« (Burgess et al. 1963: 267ff.) Familie ist unter dieser Perspektive zu lesen als Interaktionsprozess, der Familiengeschichten und -karrieren hervorbringt (Waller 1938). Als wesentlich für die Stabilität von Familien wird die im Interaktionsprozess stattfindende Aushandlung der Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnisse der Familienmitglieder gewertet, durch die die einzelnen Rollen definiert werden, die man selbst einnimmt und die andere Mitglieder der Familie einnehmen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Bildung einer sozialen Lebenswelt, der Familie und der Familienrealität, einer »Familienwelt als eine sozial konstruierte Wirklichkeit, [die] in den Interpretations23

prozessen der Familienmitglieder geschaffen wird« (Bösel 1980: 71). Es wird deutlich, dass den individuellen Persönlichkeitsstrukturen der verschiedenen Familienmitglieder hierbei eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird. Aufgrund des intensiven Interaktionszusammenhangs und der Entwicklung eines für alle Mitglieder bekannten, eigenen Symbolsystems ist die Chance einer richtigen Situationsinterpretation innerhalb von Familien verhältnismäßig hoch. Die komplexe Lebenswelt Familie grenzt sich durch eine gemeinsame Alltagspraxis, eine eigene Realitätskonstruktion sowie eigene Lebensformen und -orientierungen von anderen Lebenswelten ab (vgl. Berger/ Kellner 1965). Berger und Kellner haben in diesem Zusammenhang die Wirklichkeitskonstruktion innerhalb der Ehe untersucht. Durch eine Ehe bauen sich die Partner eine eigene Welt auf. Erfahrungen, die jeder der Ehepartner in seiner Vergangenheit gemacht hat, werden dabei überdacht und in Bezug auf das aktuelle System einer neuen Interpretation und Definition unterzogen. Ein Konsens wird aus den unterschiedlichen Erfahrungen geschaffen, der dann für die Ehepartner die Eherealität darstellt – Berger und Kellner bezeichnen »Ehe als ein Instrument gesellschaftlicher Erfassung der Wirklichkeit« (ebd.: 226). Gleichzeitig komme es dadurch zu einer Typisierung des anderen und sich selbst: Die Konstruktion einer Eherealität bedeutet für die Ehepartner also die Aufgabe eines Teils ihrer vorherigen Individualität bzw. einen Identitätswandel. D.h., die Wirklichkeits- und Eigendefinition werden innerhalb der Ehe in Bezug auf den Ehepartner modifiziert, weshalb die Ehe ein prinzipiell fragiles Konstrukt darstellt und eine große Abhängigkeit vom Ehepartner entsteht. Dieser Prozess ist den Beteiligten nicht bewusst, er konstruiert sich selbst innerhalb vieler Interaktionen, wobei es auch zu Konflikten kommen kann. Zur Stabilisierung der »gemeinsam objektivierten Realität« (ebd.: 228) und einer Selbstdefinition kommt es durch gemeinsame Gespräche; durch diese entsteht eine Festigkeit und Verlässlichkeit der Welt und des Selbst. In der Folge betrachten Berger und Kellner die Ehe in Anlehnung an Émile Durkheim als ein nomisches Instrument, als ein gesellschaftliches Arrangement, das »dem einzelnen die Ordnung bietet, in der er sein Leben sinnvoll erfahren kann« (ebd.: 220). 24

2.3 Kritik Eine grundlegende Kritik an der interpretativen Methodologie bezieht sich darauf, dass Alltagsbeispiele und die ledigliche Deskription des Alltags noch keine Theorie ausmachen (Markefka 1989: 63, 68f., 77). Zudem verschließen sich interpretative Ansätze, so die Kritik, der empirischen Überprüfung und die verwendete Begrifflichkeit sei nicht konsistent. Darüber hinaus würden gesellschaftliche Rahmenbedingungen nicht hinreichend berücksichtigt (vgl. Waller 1938; Bösel 1980: 69). Grundannahme der interaktionistischen Methodologien sei, »dass sprachliche Kategorien und die ihnen zugrunde liegenden Komponenten bereits einen angemessenen Zugang zum Weltverständnis von Menschen, die in sozialen Bezügen handeln, sichern« (Psathas 1981: 279). Wie gesellschaftliche Dinge in der Interaktion konstruiert werden, bleibe jedoch unklar, ebenso der Aspekt, wie Menschen die geistige Struktur anderer kennenlernen (ebd.). Einzelne Autoren wie Hansen und Hill (1964) versuchen, dieser Kritik zu begegnen, indem sie den strukturfunktionalistischen mit dem interaktionistischen Ansatz verbinden und Familie als Konfliktfeld betrachten, das sowohl innerfamiliale Spannungen als auch gesellschaftliche Schwierigkeiten bewältigen muss (Bösel 1980: 73). Kritisiert wird zudem, dass bislang noch keine systematisch begründete interpretative Familiensoziologie als Synthese verschiedener Ansätze entstanden ist (ebd.: 66; Blumer 1981: 80; LaRossa/Reitzes 1996: 154), sondern eine »Zersplitterung in eine Vielzahl von Richtungen« (Lenzen 1989: 551) zu beobachten sei. Der vielfältige Einfluss interaktionistischer Ansätze auf die familiensoziologische Theorie und Forschung ist jedoch unumstritten (vgl. LaRossa/Reitzes 1996). Sowohl im Hinblick auf Modernisierungstheorien in der Tradition von Giddens und Beck als auch in systemtheoretischen Ansätzen spielt der Symbolische Interaktionismus eine wesentliche Rolle. Die Betonung der Akteursperspektive kommt innerhalb der Familiensoziologie – nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Kritik an der schichtspezifischen Sozialisationsforschung – zum Tragen, die auf die 25

besondere Relevanz der Aneignung von Welt durch Kinder abstellt. Zudem, so Bösel (1980: 66ff.), eröffnet der an Alltagsproblemen und dem internen Familienleben orientierte Forschungsansatz der interpretativen Familiensoziologie einen veränderten Blickwinkel auf und ein verändertes Verständnis von Familie. Im Unterschied zu anderen Theorien, die an theoretischen Konstruktionen sozialer Gruppen interessiert sind, ist hier der Alltag der Individuen zum wissenschaftlichen Forschungsgegenstand erklärt und Familie nicht auf das Beobachtbare reduziert worden (Psathas 1981: 280).

3. Rational-Choice- und Austauschtheorien

3.1 Rational-Choice-Ansatz Neben dem Symbolischen Interaktionismus gewannen in den vergangenen drei Jahrzehnten ökonomische Theorien in unterschiedlichen Ausprägungen zunehmend an Bedeutung. Als wichtige Vertreter sind u.a. James S. Coleman, Siegwart Lindenberg sowie Hartmut Esser zu nennen. Ökonomische Theorien versuchen vor dem Hintergrund moderner Gesellschaften, die sich »durch Ent-Traditionalisierung, Individualisierung und Ökonomisierung des Lebens« (Rosa et al. 2007: 238) charakterisieren lassen, »Motive und Logiken individuellen Handelns zu entschlüsseln« (ebd.), indem sie – ähnlich den Prinzipien der Ökonomie – menschliches Handeln als eine Kosten-Nutzen-Abwägung verschiedener Handlungsalternativen im Hinblick auf individuelle bzw. individuell erwartete Nutzenmaximierung ansehen. Ökonomische Theorien werden unter der »Annahme, daß alles Handeln auf (ökonomischer) Rationalität beruhe« (Esser 1991: 40), auch auf familiales Verhalten übertragen. Bekannt hierfür sind bspw. die Arbeiten von Gary S. Becker, der Familie als einen »Hauptfaktor der Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen in praktisch jeder bekannten Gesellschaft« sieht (Becker 1996: 101). Aus Sicht der – in der ökonomischen Theorietradition stehenden – New Home Econo26

mics, die durch Becker begründet wurde, werden Familien als »Produktionsgemeinschaften gesehen, die über das Zusammenlegen von Ressourcen und eine arbeitsteilige Produktion eine vorteilhafte Alltagsgestaltung zu erreichen versuchen« (Hill/Kopp 2006: 114). So gilt bspw. »eine vollständige intrafamiliale Arbeitsteilung« nach der Annahme der Familienökonomie als »die optimale oder nutzenmaximierende Form der Familienorganisation« (Becker 1981: 14f.) Innerhalb der ökonomischen Theorierichtung haben sich unterschiedliche Erklärungsansätze herauskristallisiert, von denen vor allem der Rational-Choice- sowie der austauschtheoretische Ansatz für die Familiensoziologie relevant sind. Das theoretische Handlungsmodell des Rational Choice geht von einem »subjektiv rational handelnden Akteur […] [aus], der bei gegebenen Präferenzen in sozial vorgegebenen Situationen seinen Nutzen maximiert« (Hill/Kopp 2002: 125). Durch den Ausdruck »subjektiv rational« soll verdeutlicht werden, dass die Handlung aus Sicht des Akteurs zwar rational ist, die Handlungssituation jedoch aufgrund subjektiver Erfahrungen und Meinungen des Akteurs eingeschätzt und interpretiert wird, wodurch die Rationalität zu einer begrenzten, weil subjektiven (»bounded rationality«) wird (Esser 1991: 60). Im RREEMM-Modell fasst Lindenberg (1985) fünf wesentliche Komponenten zusammen, die dem Menschenbild des RationalChoice-Modells zugrunde liegen: Der Akteur ist ein »restricted«, d.h. in seinen Handlungsmöglichkeiten Einschränkungen unterworfener, »resourceful«, also über eigene Handlungsressourcen und Nutzungsmöglichkeiten verfügender, »expecting«, von eigenen Schätzungen ausgehender, »evaluating«, der die Ergebnisse seiner Handlungen und Erfahrungen bewertet, und »maximizing«, d.h. seine Handlungen an dem erwarteten Nutzen orientierender »man« (vgl. ebd.: 52). Er verfügt im Gegensatz zum Homo Oeconomicus nicht über vollständige Informationen für seine Handlungen, was Schätzungen und Bewertungen von Erfahrungen geradezu voraussetzt. Die individuelle Nutzenmaximierung ist zudem durch weitere, zahlreiche Bedingungen eingeschränkt, indem die Umwelt des Akteurs sein vermeintlich individuelles Handeln begrenzt, da dies 27

von sozialen Strukturen und Faktoren, wie Normen- und Wertsystemen, Institutionen, aber auch materiellen oder zeitlichen Bedingungen bestimmt wird (Hill/Kopp 2002: 129; Burkart 1994: 48). Der Rational-Choice-Ansatz nach Esser differenziert daher drei Logiken: die der Situation, d.h. der soziale Handlungsrahmen, der durch das Zusammenwirken mit anderen Akteuren, Normen usw. bestimmt ist; die Logik der Selektion als nomologischer Kern des Rational-Choice-Ansatzes, auf den im Folgenden weiter eingegangen wird, und die Logik der Aggregation, die individuelles Handeln analytisch auf die kollektive Ebene transformiert. Ein Ansatz zur Erklärung der Logik der Selektion ist die Wert-Erwartungs- oder SEU-Theorie (Subjective Expected Utility-Theorie). Zu jeder Handlung gibt es demnach ein Set an Handlungsalternativen, aus dem ein Akteur diejenige Alternative wählt, die ihm (subjektiv) in der gegebenen Situation am wahrscheinlichsten erscheint, um sein Ziel erreichen zu können. Dabei liegen seinem Handeln Erwartungen zugrunde, die bei der Abwägung der verschiedenen Alternativen, die für die Zielerreichung infrage kommen, miteinbezogen werden müssen (Esser 1991: 54f.). »Bei der Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen bevorzugt ein Akteur jene, bei der das Produkt von erzielbarem Wert Nutzen mit der Wahrscheinlichkeit, ihn zu erzielen (Erwartung), maximal ist.« (Nauck 1989: 51) Hierbei wird also nicht nur der Nutzen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, mit der der Nutzen erreicht werden kann, in die Betrachtung mit einbezogen (Burkart 1994: 33). Ein häufiger Einwand gegen die Rational-Choice-Theorie ist, dass das Individuum nicht bei allen Handlungen zunächst eine Kosten-Nutzen-Analyse betreibe, schon gar nicht im Bezug auf die eigene Familie. Esser resümiert den Kritikpunkt, dass »gerade in der Familie aber […] die ›kalkulierende‹ Rationalität nicht nur keine Rolle [spiele], sondern […] geradezu die zentrale Codierung dieses gesellschaftlichen Teilbereichs – den Altruismus der gegenseitigen Liebe etwa« (Esser 2002: 28) verletze. Diese Kritik hat dazu geführt, die Theorie durch den Ansatz der Handlungsschemata und -skripte zu erweitern – auch um familiale Phänomene hinreichend erklären zu können. Schemata und Skripte um28

schreiben das in der Vergangenheit erlangte Wissen, wobei Schemata sich auf »die Deutung von Objekten und Situationen« und Skripte sich auf »den Ablauf von Handlungssequenzen« beziehen (Hill/Kopp 2004: 135; vgl. Esser 1991: 65). Diese Erweiterung des Rational-Choice-Ansatzes schließt unüberlegte, routinehaft ablaufende Handlungen und Emotionen mit ein, was gerade im Hinblick auf familiale Verhaltensweisen von großer Bedeutung ist: Bei einem Großteil alltäglicher Situationen findet keine Nutzenkalkulation im eigentlichen Sinne statt. Aufgrund gewisser Symbole oder sprachlicher Ausdrücke erfolgt meist ein unbewusster Rückgriff auf Handlungsmuster, die auf bereits vorliegendem Wissen und persönlichen Erfahrungen beruhen. Der Aspekt der höchsten Nutzenerwartung ist allerdings immer noch implizit, da die unhinterfragt angewandten Handlungsroutinen sich in ähnlichen Situationen bereits bewährt haben (Esser 1991: 62ff.). Schemata und Skripte werden auf unterschiedlichste Weise vermittelt: von Werten und Normen, die in einer Gesellschaft vorherrschen, über Massenmedien bis zu eigenen Beobachtungen, bspw. im Freundes- und v.a. auch im Familienkreis. Gerade die innerhalb der Familie entstehenden Schemata und Skripte sorgen dafür, dass kleinste Hinweise im Verhalten oder Auftreten der nahestehenden Personen Signale aussenden, die ein bestimmtes Verhalten hervorrufen. Handelt es sich um »Komplexe bzw. Bündel von Handlungen bzw. Handlungssequenzen […], die der Akteur nach Maßgabe bestimmter Situationshinweise insgesamt wählt« (ebd.: 65), so lässt sich von Habits sprechen. Auch hierbei handelt es sich um eine unreflektierte Handlung, bei der keine unmittelbare Kalkulation über Ziel und Mittel erfolgt. Schließlich werden Handlungen durch einen spezifischen Handlungsrahmen (so genannte Frames) definiert, der dem Akteur mit Rückgriff auf Schemata und Skripte die Entscheidung aus zahlreichen denkbaren Alternativen erleichtert. Frames definieren in einer gegebenen Situation Relevanzstrukturen, wodurch das dominante Ziel ermittelt und andere, zweitrangige zunächst ausgeblendet werden. Das Framing bezeichnet damit auch den Entscheidungsvorgang, welches Schema, Skript etc. dem Handeln zugrunde gelegt werden soll (vgl. ebd.: 40-74). 29

3.2 Familie als Gegenstand ökonomischer Theorien Verhalten resultiert – so die Annahme ökonomischer Theorien – in der Regel aus kalkulierten, rationalen Entscheidungen über Kosten und Nutzen. Bei der Übertragung der beschriebenen Theorie auf die Familie steht im Mittelpunkt, dass auch Entscheidungen familialer Handlungen diesen Kalkulationen unterliegen: Es wird davon ausgegangen, »dass Lebens- und Beziehungsformen ebenso wie Elternschaft das Resultat rationaler Entscheidungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Abwägungen sind« (Burkart 1994: 35). Dem häufig formulierten Einwand, die für Familie konstitutive Emotionalität könne durch den Rational-Choice-Ansatz nicht erfasst werden, widersprechen dessen Vertreter: Emotionen könnten dafür sorgen, dass sich Handlungspräferenzen und -strategien ändern. Sie fördern, gerade bei rationalen Akteuren, ein situationsgerechtes Handeln (Hill/Kopp 2002: 142; vgl. Frank 1992). Die dem Rational-Choice-Menschenbild unterstellte individuelle Interessensverfolgung sei zudem nicht mit Egoismus gleichzusetzen. Gerade in Familien sei das Individuum mit Blick auf die eigenen Interessen bestrebt, dass ihm seine Mitakteure positiv gesinnt seien, da sie ihm ansonsten »Anerkennung, Zuneigung und Unterstützung« (Hill/Kopp 2002: 133) entziehen können. Folglich sei kooperierendes Verhalten, vor allem in langfristigen Beziehungen, gewinnmaximierend (vgl. Axelrod 1987; Hill/Kopp 2002: 133). Ökonomische Theorien finden innerhalb der Familiensoziologie u.a. Anwendung im Hinblick auf die Erklärung der Veränderungen von Fertilität und Heiratsalter sowie Scheidungen. So lässt sich bspw. aus der Sicht nutzenmaximierenden Handelns folgern, »daß jemand eine Scheidung dann wünscht, wenn der erwartete Nutzen aus dem Weiterbestand der Ehe geringer ist als der erwartete Nutzen einer Scheidung« (Becker 1996: 110). Scheidung werde dann wahrscheinlich, wenn die Summe der Nutzen beider Partner als geringer veranschlagt werde als der perzipierte Gewinn durch eine Scheidung.

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3.3 Fertilität unter der Perspektive ökonomischer Theorien Im Folgenden soll die familiensoziologische Argumentation des Rational Choice beispielhaft für die Frage der Fertilität betrachtet werden: Die ökonomische Perspektive beobachtet die Entwicklung der Fertilität in erster Linie mit Blick auf die Frage nach dem Nutzen bzw. dem Kosten-Nutzen-Verhältnis von Kindern. Becker beschreibt den Rückgang der Fertilität aus ökonomischer Perspektive folgendermaßen: »Einfach ausgedrückt, wird die Nachfrage nach Kindern im Wege der Nutzenmaximierung einer Familie bestimmt, wobei der Nutzen von der Zahl der Kinder und einer Summe anderer Güter abhängt.« (Ebd.: 104) So führt Nauck drei Nutzenerwartungen an, die Eltern in Bezug auf ihre Kinder verfolgen können: • • •

»ökonomisch-utilitaristischer Nutzen (Kinderarbeit, Altersvorsorge), psychologischer Nutzen (Freude an Kindern; Stärkung innerfamilialer Beziehungen), sozial-normativer Nutzen (Statusgewinn; Kompetenz in der Elternrolle; Weiterführung des Familiennamens)« (Nauck 1989: 53).

Diese Nutzenerwartungen sind einem zeitlichen Wandel unterlegen: Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Kinder als Arbeitskraft für die Familie von großer Bedeutung: »Die Nettokosten von Kindern sinken, wenn es reichlich Gelegenheit für Kinderarbeit gibt. […] Kinder sind in der traditionellen Landwirtschaft wertvoller als in Städten oder in der modernen Landwirtschaft; das erklärt, warum die Fertilität in traditionellen Agrargesellschaften höher war.« (Becker 1996: 103) Vor der Etablierung sozialer Sicherungssysteme benötigten Eltern ihre Kinder zudem, um im Alter versorgt zu werden. Nachdem sich v.a. durch die gewandelten Produktionsverhältnisse und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen die gesellschaftlichen Bedingungen im Laufe des 20. Jahrhunderts drastisch geändert haben, habe sich auch der Nutzen von 31

Kindern gewandelt. Während sich im Zuge dessen der ökonomisch-utilitaristische Nutzen minimiert habe, trete heute der psychologische Nutzen von Kindern in den Vordergrund. Neben den mit Kindern verbundenen Vorteilen seien – aus heutiger Sicht – erhebliche Nachteile hinzugekommen: Gegenwärtig bedeutet die Erziehung von Kindern für Eltern, insbesondere für die Mütter, einen großen Zeitaufwand. Es gibt zwar wesentlich weniger Kinder, denen – aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und einer daraus resultierenden Neubewertung von Kindern (vgl. Schneider 1991) – aber umso mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gerade die Ressource Zeit ist in Anbetracht dessen, dass bspw. die Erwerbstätigkeit der Frau an Bedeutung gewinnt, ein wesentliches Argument. »Infolgedessen senkt eine Erhöhung des Wertes der mütterlichen Zeit die Nachfrage nach Kindern, weil sie die relativen Kosten von Kindern erhöht.« (Becker 1996: 102) Dies erklärt zumindest zum Teil die stark gesunkene Geburtenhäufigkeit in westlichen Ländern (vgl. Kapitel III/4). Untersuchungen zeigten eine positive Korrelation einer hohen Kinderzahl mit Berufen der Mütter, die mit Kinderbetreuung zu vereinbaren sind, wie Mitarbeit zu Hause im Familienunternehmen oder Heimarbeit (Becker 1996: 102ff.). Zudem gilt das Ausbildungsniveau der Frauen als ein entscheidender Faktor für den Rückgang des ökonomischen Nutzens von Kindern zugunsten des psychischen (Burkart 1994: 34), was konform gehe mit den in der Tradition des Rational-Choice-Ansatzes stehenden VOC-Studien (Values of Children) (vgl. hierzu Nauck 2007 sowie Trommsdorff/Nauck 2005), die ebenfalls zu dem Ergebnis gelangen, dass »im historischen Vergleich ein Wandel vom ökonomischen zum psychischen Nutzen festzustellen ist« (ebd.). Insgesamt, so lässt sich schließen, erhöhen sich die Opportunitätskosten, die als bedeutende Determinante im Entscheidungsprozess für oder gegen Kinder angesehen werden können, so dass »insbesondere eine Erhöhung des relativen Preises von Kindern die in einer Familie gewünschte Kinderzahl« verringert (Becker 1996: 103).

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3.4 Austauschtheoretischer Ansatz und Familie Die Austauschtheorie erklärt Sozialverhalten als Austausch verschiedener materieller und immaterieller Ressourcen (Schneider 1991: 60), über die Akteure in unterschiedlichem Maße verfügen. Ein Austausch soll zur höheren Bedürfnisbefriedigung beitragen. Das Modell der Austauschtheorie besagt, dass Handlungen Kosten verursachen, die aber gleichzeitig Nutzen erbringen. Die Differenz beider bildet den positiven oder negativen Gewinn bzw. »outcome«. Auch die Austauschtheorie rekurriert mithin auf ökonomische Prämissen. Das Menschenbild, das zugrunde liegt, ist der bereits zuvor beschriebene subjektiv-rationale Akteur, »der mit beschränkten Ressourcen ausgestattet ist und der durch seine Handlungen eine Maximierung seines Nutzens anstrebt« (Hill/ Kopp 2006: 108). Bei der Übertragung auf familiale Beziehungen sind neben sozio-ökonomischen Ressourcen (etwa eheliche Machtstrukturen, vgl. u.a. Blood/Wolfe 1960) vor allem »affektive und expressive Ressourcen, wie Liebe, emotionale Unterstützung und Solidarität, auch Dienstleistungen in der Ehe sowie sexuelle Gratifikation« (Nauck 1989: 48) bedeutend. Grundbedürfnisse wie physisches Wohlergehen und soziale Wertschätzung sind knappe Güter, die es zu maximieren gilt (Lindenberg 1984: 169ff.). Die Befriedigung dieser oder anderer Bedürfnisse ist jedoch häufig nur durch mit anderen abgestimmtes Handeln möglich, da »andere Akteure die Ressourcen kontrollieren, an denen man Interesse hat« (Hill/Kopp 2004: 125). Die Familie dient, wie auch Freundschaften, Partnerschaften oder Ehen, zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Durch Tauschakte werden demnach soziale Interaktionen zunächst initiiert und bei Erfolg stabilisiert und ausgeweitet, wobei dem subjektiven Empfinden eines zumindest ausgeglichenen, gerechten Tauschverhältnisses eine stabilisierende Wirkung zukommt (vgl. Mikula 1992). Wenn der Akteur jedoch den Eindruck hat, dass ihn die Interaktion nicht weiterbringe, wird weniger investiert, die Interaktion abgebrochen und nach Alternativen gesucht. Ist das Interesse an dem durch den anderen kontrollierten Tatbestand höher als an dem jeweils selbst kontrollierten, erfolge 33

ein für beide Akteure vorteilhafter Tausch. Allerdings wird bei sozialen Tauschakten – im Gegensatz zu ökonomischen – keine sofortige und oft auch keine spezifizierte Gegenleistung erwartet, jedoch Reziprozität. Grundsätzlich gibt es keine Beschränkungen innerhalb von Tauschakten, aber im Alltag sind doch gewisse Regeln zu beobachten, was man üblicherweise tausche und was als untypisch oder sogar verwerflich angesehen werde. Die in den 1970er Jahren von Foa und Foa entwickelte Ressourcentheorie thematisiert die Tauschbarkeit verschiedener Ressourcen qualitativer und quantitativer Art. Innerhalb sozialer Beziehungen lassen sich nicht alle Güter gleich gut miteinander tauschen. Foa und Foa bilden sechs Kategorien an Ressourcen: Liebe, Status, Information, Geld, Güter, Hilfs- und Versorgungsdienste (Foa/Foa 1980; zusammenfassend Nauck 1989: 57). Abbildung 1: Konfiguration der sechs Ressourcenklassen

Liebe

Partikularismus

Status

Dienstleistungen

Güter

Information

Geld

Konkretheit Quelle: Foa/Foa 1980: 80.

Bei der Einordnung dieser Klassifikationen in ein Schema bilden Partikularismus die y- und Konkretheit die x-Achse. Hill und 34

Kopp fassen die Theorie folgendermaßen zusammen: »Die Stellung auf der Partikularismusachse ordnet die Ressourcen nach der Gebundenheit an bestimmte Personen […]. Die Anordnung auf der Konkretheitsdimension betrifft die Gegenständlichkeit der Ressource. [...] Je geringer die Distanz zwischen zwei Ressourcen ist, desto eher werden sie als Leistung und Gegenleistung akzeptiert« (Hill/Kopp 2004: 105) – so etwa beim Tausch von Geld gegen Güter. Erfahren Ressourcen eine stärkere Gewichtung auf der Partikularismus-Achse, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Tausch in der gleichen Ressourcenklasse erfolgt, also bspw. Liebe gegen Liebe. Auch Familienbeziehungen, so die Annahme der Austauschtheorie, entsprechen Tauschsystemen. Man kann daher die theoretischen Überlegungen der Austauschtheorie auf den Bereich Familie übertragen und »intime Beziehungen als zielgerichtete Austauschbeziehungen, aus denen jede Seite Nutzen zieht« (Frank 1992: 157), verstehen. Gerade in der Familie gelten Anerkennung, Aufmerksamkeit, Verständnis, Verpflichtungen, Fürsorge, Liebe, Anrechte oder Hilfe als Güter, die man durch Tausch zu maximieren versucht.

3.5 Kritik Erklärungsmodelle, die auf ökonomische Ansätze rekurrieren, genießen seit einigen Jahren in der Soziologie insgesamt (und damit auch in der Familiensoziologie) eine hohe Attraktivität. Ausschlaggebend hierfür sind unterschiedliche Gründe. Zum einen hat insbesondere der Rational-Choice-Ansatz eine hohe Integrationskraft, da er andere soziologische Theorien insbesondere über die Logik der Situation in Form so genannter Brückenhypothesen zu integrieren weiß. Zum zweiten gelingt dem ökonomischen Ansatz in besonderer Weise die Koppelung zwischen Makro- und Mikroebene und er entspricht mit der vergleichsweise stärkeren Betonung individueller Entscheidungen der bspw. im Rahmen der so genannten Individualisierungsthese konstatierten Abnahme normativer Verhaltensregelungen. Schließlich ist die Bedeutungszunahme in der Familiensoziologie auch damit zu er35

klären, dass im Vergleich zu anderen theoretischen Ansätzen die empirische Operationalisierung und mithin die Bildung von überprüfbaren Hypothesen offensichtlich besser und einfacher gelingt. Kritisch einzuwenden ist andererseits, inwieweit die unterstellte Subsumierung von Emotionen unter rationale Wahlentscheidungen nicht eine gewisse Tautologie impliziert. Wenn letztlich alle Entscheidungen Ergebnis rationaler Wahl sind, entbehrt der Begriff der Rationalität einer notwendigen Trennschärfe.

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III. Wandel der Familie und Pluralisierung der Lebensformen Die Familie in Deutschland unterliegt in den vergangenen Jahrzehnten einem erheblichen Wandel (Schneider 2002a: 511) – seit den 1980er Jahren wird gar von einer »Krise der Familie« gesprochen (vgl. u.a. Schulz 1983: 401). Als bedeutender Aspekt des familialen Wandels ist die Pluralisierung von Lebensformen zu nennen, womit unterstellt wird, dass es in Westdeutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Ausdifferenzierung partnerschaftlicher Lebensformen gekommen ist. Diese These geht nicht nur von einer Zunahme verschiedener Lebensformen und Lebenslaufmuster aus, sondern zudem von deren gleichmäßigeren quantitativen Verteilung (Schneider 2002a: 523). Insgesamt sei eine Abkehr von der so genannten ›Normalfamilie‹ zu beobachten, die in den 1950er und 1960er Jahren – vorübergehend – die dominante Familienform darstellte und die ersetzt wird durch eine höhere »Vielfalt bzw. […] Heterogenität der familialen bzw. partnerschaftlichen Lebensformen« (Brüderl 2004: 3). Im Folgenden wird zunächst der Wandel familialer und privater Lebensformen skizziert, um anschließend die These der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen darzustellen. Hieran anschließend werden die in den vergangenen Jahrzehnten wesentlichen Prozesse und familiensoziologischen Diskurse – wie Veränderungen des generativen Verhaltens, Ehescheidungen und spezifische familiale und nichtfamiliale Lebensformen – behandelt, die Ausdruck dieses Wandels sind.

1. Der Wandel familialer und privater Lebensformen Der Wandel der Familie und familialer Lebensformen lässt sich statistisch u.a. an der Entwicklung der Eheschließungen, des Heiratsalters, der Haushalte, der Scheidungsrate, der Geburtenziffern und der quantitativen Verteilung von Lebensformen ablesen. Betrachtet man zunächst die Entwicklung der Eheschließungen und des Heiratsalters, so zeigt sich eine sukzessive Abnahme der Heiratsneigung bei gleichzeitig steigendem Heiratsalter. Gab 37

es 1950, bezogen auf die westdeutschen Bundesländer, eine Quote von 10,7 Eheschließungen je 1.000 Einwohner, ging dieser Anteil bis Mitte der 1990er Jahre auf 5,7, bis 2006 auf 4,5 Eheschließungen zurück. Während das durchschnittliche Erstheiratsalter sowohl bei Männern als auch bei Frauen noch bis Anfang der 1980er Jahre rückläufig war, ist es seitdem kontinuierlich – mit der Wiedervereinigung auch in den »neuen« Bundesländern – gestiegen und liegt in 2006 bei 29,6 (Frauen) bzw. 32,6 Jahren (Männer) (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 1990, 1997, 2008, 2008a). Eine Studie zu partnerschaftlichen Lebensformen auf Grundlage der Daten des Familiensurveys 2000 des Deutschen Jugendinstitutes gelangt zu dem Ergebnis, dass zwischen insgesamt sieben Lebensformen zu unterscheiden ist, die folgende Eigenschaften bzw. Kombinationen von Eigenschaften aufweisen: 1. ledig, partnerlos vor einer ersten Ehe; 2. nichteheliche Lebensgemeinschaft (NEL) vor einer ersten Ehe; 3. verheiratet in erster Ehe; 4. getrennt, partnerlos nach einer Ehe; 5. verwitwet, partnerlos nach einer Ehe; 6. nacheheliche Lebensgemeinschaft; 7. wiederverheiratet (vgl. Brüderl 2004: 3ff.). Peuckert (1991) wiederum differenziert unter anderem nach ehelich und nichtehelich Zusammenlebenden, nach Alleinlebenden, getrennt Lebenden, die sich in einer festen Beziehung befinden (Living apart together), Einelternfamilien, so genannten binuklearen Familien, d.h. getrennt lebende Eltern, die das gemeinsame Sorgerecht haben und ausüben, sowie Fortsetzungsehen bzw. Wiederverheirateten und Stieffamilien. Versucht man diese Kategorisierungen entlang einzelner Kriterien zu strukturieren, so bietet sich der Ansatz Kaufmanns an, der in Anlehnung an eine Generationen- und Geschlechterdifferenzierung nach verschiedenen Formen der Partnerschaft sowie der Elternschaft unterscheidet (vgl. Schmidt 2002: 280; siehe Tab. 2).

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Tabelle 2: Familiale Lebensformen Partnerschaft

Elternschaft mit eigenen Kindern

mit Kindern dritter Eltern

ohne Kinder

lebenslange Ehe

NormalFamilie(nzyklus)

Familie mit Adoptivkindern

z.B. Ehe mit Doppelkarriere

sukzessive Partnerschaft m. Eheschluss

Geschiedene u. Verwitwete mit Partner u. Kindern

Stiefelternverhältnis

sukzessive Ehe

ohne Eheschluss

illegitime Elternschaft

»Onkelehe«

nichteheliche Lebensgemeinschaft

ohne stabile Partnerschaft

Einelternfamilien

z.B. Kinderheim

»Singles«

homosexuelle Dauerbeziehungen

z.B. zwei Mütter mit Kindern

z.B. Partnerschaft mit Kindern aus vorheriger Beziehung

homosexuelle Partnerschaft

erweitere Formen

z.B. FamilienKinderdörfer gruppe, Mehrgenerationenhaushalt

z.B. Wohngemeinschaften

Quelle: Kaufmann 1988: 396 mit eigenen Ergänzungen.

Diese hier beispielhaft angeführten Ausprägungen entlang der Dimensionen Elternschaft und Partnerschaft ließen sich gewiss weiter differenzieren. Offen bleibt hierbei, inwieweit Berufstätigkeit zu einer determinierenden Variable wird, die sich bspw. verstärkt in Partnerschaftsformen niederschlägt, in denen Partner getrennt leben (Living apart together). Betrachtet man die quantitative Ausprägung der unterschiedlichen Lebensformen, so lebt weiterhin die Mehrzahl der erwachsenen Bevölkerung in ehelichen Lebensformen. Gleiches gilt für ledige Kinder, von denen mehr als drei Viertel in Familien aufwachsen, deren Eltern verheiratet sind. In nichtehelichen Lebensgemeinschaften leben 5,5 % und in Haushalten Alleinerziehender 18,2 % der ledigen Kinder (vgl. Statistisches Bundesamt 2008: 51ff.). Wenn auch diese Daten zunächst für eine nach wie vor hohe Bedeutung von Ehe und familialen Lebensformen sprechen, ist der Trend hin zu einer Singularisierung der Gesellschaft unverkennbar, wie bspw. ein Vergleich der Lebensverläufe der Geburtskohorten 1944-1957, 1958-1967 und 1968-1982 auf Grund39

lage des Familiensurveys zeigt. Zu konstatieren ist u.a. ein Rückgang der reinen Ehetypen von 75 % in der Kohorte 1944-1949 auf 45 % in der Kohorte 1962-1965 bei gleichzeitigem Anstieg nichtehelicher Lebensgemeinschaften von 3 % auf 13 % und ein noch stärkerer Anstieg der Ledigen von 13 % auf 28 %. Während Frauen und Männer der Geburtskohorte 1944-57 im Alter von 30 Jahren nur zu 21 % ohne Partnerin oder Partner lebten, traf dies für die Kohorte 1968-82 bereits auf 38 % der Befragten zu. Die Ehe als dominante Lebensform verliert demnach an Relevanz und die Phasen im Lebenslauf als Ledige nehmen zu. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass der Anteil derjenigen, die in ihrem Lebenslauf mehrere partnerschaftliche Lebensformen – bspw. in Form von nichtehelichen Lebensgemeinschaften vor der Ehe – durchleben, gewachsen ist. Es kommt zudem zur so genannten Polarisierung der Lebensverläufe, da einerseits die Anzahl derjenigen ansteigt, die 4-7 Lebensformwechsel – so genannte »bunte Lebensverläufe« im Alter von 14-35 Jahren – vollzogen haben, andererseits steigt aber auch die Anzahl derjenigen, die bis zum 35. Lebensjahr ledig bleiben. Wenngleich somit die Ehe und die so genannte »Normalfamilie« an Bedeutung verlieren, ist nicht gesagt, dass dies zu einer fortschreitenden Pluralisierung führen muss, da die Herausbildung neuer dominanter Lebensformen durchaus vorstellbar ist (vgl. Brüderl 2004: 3ff.). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie zu »Beziehungsbiographien im sozialen Wandel«, die sich mit der Beziehungsdynamik in Form des Wechsels zwischen verschiedenen Beziehungsverläufen beschäftigt und auf eine 2002 durchgeführte Befragung von insgesamt 776 Männern und Frauen aus Hamburg und Leipzig der Geburtsjahrgänge 1942, 1957 und 1972 rekurriert. Für den Geburtsjahrgang 1972 konnte festgestellt werden, dass im Alter von 30 Jahren in Hamburg nur eine Minderheit von 16 % verheiratet war, wogegen mehr als zwei Drittel (69 %) der Befragten des Geburtsjahrgangs 1942 im Alter von 30 Jahren bereits eine Ehe eingegangen waren. Entsprechend seltener sind zwischen den Geburtenjahrgängen auch feste Beziehungen, in denen Kinder leben, geworden. Ein ähnlicher Wandel wird für Leipzig konstatiert. Betrachtet man zusammenfassend die Beziehungsmuster der Befragten im Alter von 30 Jahren, so 40

ist ein Anstieg eines seriellen Beziehungsmusters bzw. von »Kettenbiographien« zu verzeichnen. Zudem lässt sich feststellen, dass ältere Jahrgänge nach einer langjährigen Beziehung häufig ebenfalls unkonventionelle Partnerschaftsformen, wie jene des Living apart together oder nichtehelicher Lebensgemeinschaften, übernehmen. Als interessantes Ergebnis zeigt sich, dass in der jungen Generation der Befragten der Wunsch nach einer lebenslangen Partnerschaft mit dem derzeitigen Partner mit 83 % stark vertreten ist (vgl. Peuckert 2005: 114f.). Als weiterer Indikator für sich wandelnde Lebensformen wird die Veränderung der Haushaltsgrößen herangezogen. Betrachtet man die Entwicklung im vergangenen Jahrhundert, so lässt sich vor allem eine deutliche Zunahme von Ein- und Zwei-PersonenHaushalten bei gleichzeitigem Rückgang der Haushalte, in denen drei und mehr Personen leben, beobachten. So stieg der Anteil der Ein-Personen-Haushalte von 7 % im Jahre 1900 auf 38 % im Jahre 2006, der Anteil der Zwei-Personen-Haushalte von 15 % auf 34 %. Gleichzeitig ist ein Rückgang der Haushalte mit vier und mehr Personen von 61 % auf 15 % zu beobachten (vgl. Statistisches Bundesamt 1990: 143; 1997: 33; 2008a). Der für Westdeutschland nachgewiesene Singularisierungstrend lässt sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten – allerdings mit Unterschieden. Schon der Vergleich von West- mit Ostdeutschland zeigt Differenzen: In Ostdeutschland ist seit Anfang der 1990er Jahre eine zunehmende Anzahl an Singles zu registrieren sowie ein Rückgang der Ehen, der zum Teil durch den Anstieg nichtehelicher Lebensformen (NEL) kompensiert werden kann. In Westdeutschland zeigen sich ein stärkerer Rückgang der Ehe und ein stärkerer Anstieg der NEL. Lenkt man den Blick über Deutschland hinaus, so lässt sich feststellen, dass die Veränderungen der Lebensformen in allen europäischen Ländern – wenn auch mit zum Teil großer Varianz – zu beobachten ist. Während dieser Prozess in den skandinavischen und westeuropäischen Ländern bereits in den 1960er Jahren einsetzte, ist er für südeuropäische Länder erst in den 1970er und 1980er, für osteuropäische Länder seit Ende der 1980er Jahre auszumachen. In Skandinavien und Frankreich wird der Rückgang der Eheschließungen durch den Anstieg der NEL weitge41

hend kompensiert. Südeuropäische Länder, wie Italien, Spanien und Portugal, weisen dagegen vergleichsweise wenige NEL auf, die den auch hier zu beobachtenden Rückgang der Eheschließungen ausgleichen können (Brüderl 2004).

2. Die These der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen Die Mehrzahl der Erklärungen für den Wandel der Familie in den vergangenen Jahren und die Pluralisierung der Familienformen beruhen auf individualisierungs- und differenzierungstheoretischen Konzepten. Die fortschreitende Modernisierung, der »Strukturwandel, der sich mit dem Übergang von traditionaler zur modernen Gesellschaften vollzieht« (Honneth 1994: 21), korreliert mit einer »abnehmende[n] Orientierung der Individuen an gesellschaftlich vorgegebenen Werten und Normen« (Brüderl 2004: 7f.), einer Entwicklung, die mit dem übergeordneten Begriff der Individualisierung beschrieben werden kann. Die Individualisierungsthese vertritt Ulrich Beck, dessen Publikation »Risikogesellschaft« (1986) seit Mitte der 1980er Jahre für eine weite Rezeption der Individualisierungsthese in der Soziologie geführt hat. Beck beschreibt die Freisetzungs-, Entzauberungs- und Reintegrationsdimension von Individualisierung und stellt den Zusammenhang zwischen Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen her. Die Moderne zeichne sich dadurch aus, dass die Individuen aus traditionellen Bezügen und Bindungen freigesetzt werden. Dieser Vorgang geht einher mit den Prozessen der Industrialisierung, der allgemeinen Demokratisierung, der Gleichberechtigung sowie mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Dieser habe dazu geführt, dass die Risiken der Verarmung und fehlender materieller Versorgung, bspw. durch die Sicherung eines Mindestlebensstandards und der Altersversorgung, deutlich geringer werden. Als weitere Merkmale, die für die Moderne kennzeichnend sind und einen Bezug zur Pluralisierung aufweisen, nennt Beck die soziale und räumliche Mobilität und die Tatsache, dass sich soziale Rollen sowie Stände und Klassen auflösen. Hiermit verbunden ist die stärkere Orientie42

rung an Leistungskriterien. Mit dieser Ent-Traditionalisierung im Rahmen der Modernisierung ist die Möglichkeit zur Individualisierung gegeben, wodurch die Gestaltung des Lebenslaufs stärker in die Eigenverantwortung der Individuen übergeht (vgl. ebd.). Die Veränderung und Reduzierung kultureller Vorgaben sowie der Abbau sozialer Bindungen und Verhaltensnormen führen dazu, dass sich Handlungsmuster herausbilden, mit denen Individuen bestmöglich ihre Interessen und Ziele verfolgen können. Individuelle Identität ist in der Folge »immer weniger aus selbstverständlichen gemeinschaftlichen Gruppenbezügen« (Huinink/ Wagner 1998: 87) abgeleitet – es kommt zu einer »Substitution von Verhalten durch Handeln« (ebd.: 86), zu immer weniger »natürlichen und soziokulturellen Vorgaben« des Handelns, so dass individuelle Handlungsbedingungen »immer mehr als optionale und instrumentalisierbare Vorgaben individueller Interessenverfolgung« (ebd.) zu beschreiben sind. Mit Blick auf die Familie hat die Modernisierung allerdings zunächst zu einer Homogenisierung der Familienformen geführt. Die starke Diversifizierung der Familienformen in der vorindustriellen Zeit erfuhr im Muster der bürgerlichen Familie eine Konzentration, die insbesondere auf der Freisetzung des Familienverbandes aus der Güterproduktion gründet. Für die bürgerliche Familie eröffnete sich somit die Möglichkeit der Ausbildung eines familialen Intimraums. Gerade dieser Prozess aber führe, so Beck, zu einem immanenten Widerspruch der Moderne: Einerseits erlaube er die Ablösung von der materiellen Konstituierung der Familienbildung hin zu einer emotionalen Fundierung von Partnerschaft und Familie; andererseits aber setze dies die Freisetzung der Familie aus Produktionsprozessen und mithin eine zunehmende Rollendifferenzierung zwischen Mann und Frau voraus. Dies aber konkurriert mit dem Gleichheitsideal der Moderne, da nun zwar nicht mehr Klasse und Stand, dafür aber das Geschlecht gesellschaftliche Chancen reguliert (vgl. u.a. Beck/ Beck-Gernsheim 1990: 39). Familienhistorische Untersuchungen belegen für die Vormoderne eine große Vielfalt familialer Lebensformen: »Im 16. Jahrhundert gab es nebeneinander eine bunte Vielfalt von sehr unterschiedlichen Familientypen, in ihrer Verschiedenheit wohl viel 43

differenzierter […] als in der Gegenwart.« (Mitterauer 1989: 179) Dadurch, dass in dieser Zeit Produktion und Haushalt in der Regel zusammen fallen, bestimmen »ökonomische Interessen und Erfordernisse der Haushaltsproduktion […] das Familienleben« (Huinink/Wagner 1998: 93). Das ökonomische Überleben des Familienhaushaltes stand im Mittelpunkt – und Familienbildungsmuster, wie bspw. das Heirats- und Geburtenverhalten, waren hiernach ausgerichtet. Zwar bestimmen traditionelle Institutionen und Vorgaben das Leben, trotzdem ist aufgrund rechtlicher, sozialstruktureller und lebenszyklischer Faktoren sowie ökonomischer Knappheitsverhältnisse eine große Vielfalt an Familienstrukturen und Lebensformen gegeben (ebd.; Schmidt 2002: 284). Entgegen der Hypothese, dass sich in der Moderne zahlreiche neue familiale Lebensformen herausbilden, ist anzunehmen, dass die Mehrzahl der heute bekannten Lebensformen bereits existiert hat. Häufig verbreitet waren darüber hinaus Haushalte, in denen entfernt Verwandte oder Nichtverwandte gemeinsam lebten, wobei deutliche schichtspezifische und regionale Variationen zu finden sind (Huinink/Wagner 1998: 93). »Nicht mehr die vorindustrielle Familie, sondern die ›moderne‹ Familie, welche sich als ein bemerkenswert homogener Typus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat« (Kaufmann 1995: 9), bildet den Bezugspunkt für die Diagnose gegenwärtiger Krisensymptome. Dieser häufig als »Normalfamilie« deklarierte Familientypus erlangte in den 1950er und frühen 1960er Jahren seinen Höhepunkt und führte zur »Blütezeit von Ehe und Familie« in Westdeutschland (Schneider 2002a: 513). Dadurch trat eine Vereinheitlichung bezüglich der Abfolge individueller Lebensläufe und des Familienzyklus ein (Huinink/ Wagner 1998: 94ff.). Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, so wird im Vergleich zum bürgerlichen Familienideal konstatiert, dass die Widersprüche zu den Idealen der Moderne latenter und die »institutionelle Verknüpfung von Liebe, lebenslanger Ehe, Zusammenleben und gemeinsamem Haushalten, exklusiver Monogamie und biologischer Elternschaft« unverbindlicher und fragiler werden (Peuckert 1991: 29). Letztlich sind mit diesem Prozess der Deinstitutionalisierung zuvor selbstverständliche Verweise 44

von Liebe auf Ehe, von Ehe auf gemeinsames Haushalten und Familiengründung verloren gegangen. Dies wiederum führt dazu, dass Familie mehr eine »›Verknotung‹ individueller Lebensläufe« (Strohmeier/Herlth 1989: 9) denn einen durch Institutionalisierung und Tradition gesicherten Sinnzusammenhang darstellt: »Was Familie, Ehe, Elternschaft, Sexualität, Erotik, Liebe ist, meint, sein sollte oder sein könnte, kann nicht mehr vorausgesetzt, abgefragt, verbindlich verkündet werden, sondern variiert mit Inhalten, Ausgrenzungen, Normen, Moral, Möglichkeiten am Ende eventuell von Individuum zu Individuum, Beziehung zu Beziehung, muß in allen Einzelheiten des Wie, Was, Warum, Warum-Nicht enträtselt, verhandelt, abgesprochen, begründet werden, selbst wenn auf diese Weise die Konflikte und Teufel, die in allen Details schlummern und besänftigt werden sollen, aufgeweckt und entfesselt werden.« (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 13) Hiermit verbunden ist eine »Dauerreflexivität hinsichtlich möglicher Identitäten, Lebenspläne und Lebensstile« (Hettlage 1992: 76), die einerseits Wahlmöglichkeiten, andererseits aber auch immer die Notwendigkeit zu wählen mit sich bringt. Das spürbare Dilemma ist somit, dass die Notwendigkeit wählen zu müssen auch immer bedeutet, andere Optionen nicht mehr wählen zu können und sich etwaiger Möglichkeiten zu berauben, die eine Multioptionsgesellschaft nahelegt (vgl. u.a. Wehrspaun 1988: 164). Damit gewinnt das konstruktive Element, das immer wieder neue Aushandeln eines gemeinsamen Verständnisses von Ehe und Familie, an Gewicht. Hierbei gilt es sowohl der familialen als auch der individuellen Identität der einzelnen Familienmitglieder gerecht zu werden, die an unterschiedlichen sozialen Welten mit einer zum Teil geringen gegenseitigen Deckung partizipieren. Dies kann unter der Annahme, dass sich Familie den gesellschaftlichen Anforderungen anpasst, durchaus als funktional erachtet werden, da mit dem »fortgeschrittenen Differenzierungsniveau einer komplexen Industrie- und Wohlfahrtsgesellschaft […] ein Bedarf an flexibler und mobiler familialer und privater Lebensführung« (Meyer 1992: 141) verbunden ist. Allerdings ist hiermit die Notwendigkeit verbunden, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, was zu einer steten Neu- und Redefinition familialer Wirklichkeit führt und »statt konsistenter biographischer Konst45

rukte fallweise mobilisierbare Selbst- und Fremdbilder« (Hahn 1988: 177) provoziert. Die Konsequenzen dieses Prozesses sind, so die Individualisierungsthese, eine Pluralisierung von Lebensformen, der sukzessive Wechsel zwischen Lebensformen und eine gewachsene Instabilität von Beziehungen – oder mit den Worten Kaufmanns (1995: 96ff.): eine »kulturelle Liberalisierung von Ehe und Familie«. Die zuvor skizzierten Thesen der Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen erfahren insgesamt eine weite Verbreitung und werden häufig quasi a priori gesetzt. Gleichzeitig gibt es bereits in den 1990er Jahren kritische Einwürfe, die sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen. Schneider wendet bspw. ein, dass im Hinblick auf den Wandel der Familie mit strukturellen Merkmalen auf der Makroebene argumentiert werde, während die Individualisierungsthese von veränderten individuellen Präferenzen und Motiven ausgeht. »Modernisierungstheoretisch ist Pluralisierung als modern jedoch nur in den Fällen zu interpretieren, wo sie Folge gestiegener Wahl- und Entscheidungsfreiheiten auf individueller Ebene ist. Die Vielfalt von Lebensformen und -verläufen resultiert aber nicht aus einer Optionsvermehrung, sie ist zum Teil Folge neuer entstehender struktureller Erfordernisse und Zwänge […], mithin also unmodern.« (Schneider 1994: 104) Neben dem damit angesprochenen methodischen Problem der erklärenden Verknüpfung von Mikro- und Makroebene ist nach Burkart zu hinterfragen, ob der »Individualisierungsschub« seit den 1960er Jahren tatsächlich die unterstellte Bedeutung entfaltet hat und inwieweit die zu beobachtende Variabilität von Lebensmustern auf der subjektiven Ebene eine Repräsentation findet (vgl. Burkart 1991: 34). Zumindest ist der Schluss von den zu beobachtenden Veränderungen der Lebensformen auf die gewonnen Handlungsalternativen und Individualisierungstendenzen auf Seiten der Akteure zwar plausibel, empirisch aber bis heute nur in Ansätzen untersucht; dies gilt umso mehr, als Vertreter der Individualisierungsthese selbst die Freisetzung aus Traditionen und Wertesystemen beantwortet sehen mit der Bindung an

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neue Systeme, etwa den Arbeitsmarkt und den Wohlfahrtsstaat (vgl. Beck-Gernsheim 1993: 108). In diesem Zusammenhang ist zudem zu erwägen, ob Individualisierungsprozesse im Sinne der Erhöhung von Handlungsoptionen nicht durch die soziale Lage überformt sind. Dies zumindest folgert Strohmeier, der die Individualisierungsthese in erster Linie der Lebenswelt der sozialen Mittelschicht entlehnt sieht (Strohmeier 1993: 22). In gleicher Weise folgert Wagner, dass die »Zunahmen an Handlungsoptionen (besonders für Frauen) nicht für Menschen verschiedener Bildungs- und Berufsgruppen in gleichem Maße und erst recht nicht gleichermaßen in familialen und nicht-familialen Lebensformen gelten« (Wagner 1999: 293). Schwer wiegt unseres Erachtens nach wie vor die Kritik an der Individualisierungs- und Pluralisierungsthese, dass der unterstellte Prozess der Individualisierung und Pluralisierung empirisch unzureichend abgesichert ist und vor allem die historischen Prämissen zu wenig Berücksichtigung finden. Ohne an dieser Stelle auf die zahlreichen Ergebnisse der historischen Familienforschung zu Familienbildungsprozessen eingehen zu können, sei bspw. auf die These von Trothas verwiesen, der einen allmählichen Rückgang der Intimisierung und Privatisierung der Familie beobachtet und eine Renaissance öffentlicher Kontrolle über die Privatheit zu erkennen glaubt. Dies sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass es zu einer »Entfamilisierung« kommt, indem sich Frauen verstärkt über Bildung und Beruf definierten und Kinder mehr und mehr an ihren peers orientieren. Die Pluralisierung der Lebensformen ist in diesem Zusammenhang als Wiederkehr der bereits in der Vormoderne zu findenden Vielfalt von Lebens- und Familienformen zu interpretieren, die lediglich kurzzeitig im Sinne eines Übergangsphänomens unterbrochen worden sind durch eine hohe Standardisierung in den 1950er und 1960er Jahren (vgl. von Trotha 1990: 453ff.). Diese Einschätzung geht konform mit jener von Rosenbaum, die vor einer vereinfachenden Betrachtung historischer Lebensformen und den damit verbundenen Fehleinschätzungen insbesondere für Entwicklungsmodelle der Familie warnt: »Die Prägnanz vieler Aussagen über gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungsprozesse beruht

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oft nur darauf, daß sie auf der Folie stark stilisierter ›Bilder‹ historischer Gesellschaftszustände getroffen werden. […] Daran kranken m.E. die ›Individualisierungsthese‹ ebenso wie die Aussagen über den Wandel der […] Differenziertheit der modernen Sozialstruktur. Damit soll gesellschaftlicher Wandel nun keinesfalls in Abrede gestellt werden, aber vieles von dem, was heute als neu und noch nie dagewesen herausgestellt wird, zeichnete sich bereits seit langem ab, hat eine Vorgeschichte.« (Rosenbaum 1982: 292f.)

3. Ehescheidung Die Scheidungsforschung hat vor allem in den USA eine vergleichsweise lange Tradition und geht in der Breite auf Arbeiten der 1970er Jahre zurück. Im deutschen Sprachraum etablierte sich eine eigene Forschungsrichtung zur Ehescheidung erst sehr langsam. Dies überrascht umso mehr, als sich bereits Mitte der 1970er Jahre das Verhältnis von Ehescheidungen auf geschlossene Ehen im Vergleich zu Beginn der 1960er Jahre mehr als verdreifacht hatte. Sieht man von vorübergehenden (statistischen) Rückgängen der Scheidungsquote Mitte der 1970er Jahre, die auf die Neuregelung des Scheidungsrechts zurückzuführen sind, und im Anschluss an die Wiedervereinigung ab, so zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg der Ehescheidungen bis Ende 1990er Jahre. Zu Beginn des neuen Jahrtausends stagniert die Quote mit geringfügigen Schwankungen (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, 2008a). Trotz dieser Entwicklung war bis in die frühen 1980er Jahre hinein zu beobachten, dass »die wissenschaftliche und sozialpolitische Diskussion um die Ehescheidung und ihre Folgen nur sehr zögernd geführt wird« (Fthenakis et al. 1982: 95). Die Untersuchungen zu Ursachen von Ehescheidung konzentrieren sich auf unterschiedliche statistische Effekte wie Heiratsalter, Ehedauer, Alter zum Zeitpunkt der Ehescheidung und Altersunterschied der Partner, die regionale Verteilung, Konfessionszugehörigkeit, das Vorhandensein und Kindern, schichtspezifische Effekte und Bildungspartizipation. 48

Die Auffassung, dass das Heiratsalter einen Einfluss auf die höhere Wahrscheinlichkeit einer späteren Ehescheidung hat, spiegelt sich bereits in Studien der 1960er Jahre, die zu dem Schluss gelangen, dass so genannte Frühehen, worunter Ehen verstanden wurden, in denen die Partner jünger als 21 Jahre alt sind, ein häufigeres Scheidungsrisiko aufweisen (vgl. Becker/Salewski 1963: 53ff.). Dieser Zusammenhang wird in späteren Untersuchungen durchgehend bestätigt (vgl. Wagner 1993: 381ff.) und vor allem auf die Effekte des Ablösungsprozesses von der Herkunftsfamilie, die berufliche Orientierung und die Anforderungen durch Ausbildung und Berufseinmündung sowie die Prozesse der Definition und Aushandlung familialer Rollen zurückgeführt (vgl. Rottleuthner-Lutter 1989: 611). Der Einfluss der Ehedauer auf das Scheidungsrisiko zeigt eine Verlagerung des Scheidungsrisikos in spätere Ehephasen. Während noch in den 1970er Jahren die Mehrzahl der Scheidungen zwischen dem zweiten und vierten Ehejahr erfolgten, ist für die 1980er Jahre zu beobachten, dass die meisten Ehescheidungen nach einer Dauer von vier bis sechs Jahren ausgesprochen werden. Gleichzeitig war für die 1980er Jahre ein deutlicher Anstieg der Scheidungen von Ehen zu beobachten, die zwischen 20 und 25 Jahren bestehen. Der Anstieg der Ehescheidungen in dieser Gruppe wird häufig mit den Problemen begründet, im Anschluss an die Elternzeit die Paarbeziehung neu zu gestalten (vgl. Schütze 1994: 98, Peuckert 2008: 171). Hierbei sind es häufig Ehen, die traditionelle Rollenmuster ausgebildet haben, denen der Übergang in die nachelterliche Phase offensichtlich besonders Probleme bereitet, da diesen die Modifikation von bislang gelebten Rollen besonders schwer fällt (vgl. Fooken/Lind 1996: 147). Entsprechend des Anstiegs von Ehescheidungen nach bereits längerer Ehedauer ist auch ein Anwachsen des Alters zum Zeitpunkt der Scheidung sowie in höheren Altersgruppen zu beobachten. Allerdings ist mit Blick auf diese Ergebnisse das gestiegene Erstheiratsalter als intervenierende Variable zu berücksichtigen. Der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern spielt insofern eine Rolle, als die Ehe bei Partnern mit gleichem Alter oder Paaren, bei denen der Ehemann älter ist, stabiler ist. Allerdings ist bei wachsendem Altersunterschied – auch dann, wenn der Ehemann 49

älter ist – wiederum ein wachsendes Scheidungsrisiko zu beobachten. Regionale Unterschiede zeigen sich insofern, als ein NordSüd-Gefälle zu beobachten ist und Ehescheidungen in städtischen Räumen häufiger sind als in ländlichen (vgl. Bertram/Dannenbeck 1990: 85; Wagner 1993: 381), so dass vor allem in den nördlich gelegenen Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin eine hohe Scheidungsquote festzustellen ist (vgl. Dorbritz 1999: 17). Auszugehen ist vor allem mit Blick auf das Nord-Süd-Gefälle, dass hierbei auch die Konfessionszugehörigkeit einen intervenierenden Effekt hat. So zeigt sich bei Katholiken insgesamt eine schwächere Scheidungsneigung, was auf eine stärkere Bindung an traditionelle Werte zurückgeführt wird (vgl. Höllinger 1992: 217), wobei dieser Effekt offensichtlich erst ab einer Ehedauer von mehr als fünf Jahren hervortritt (vgl. Wagner 1993: 383). Hiervon abweichend resümieren von Gostomski et al., dass der zentrale Einfluss auf das Scheidungsrisiko weniger von der Religionszugehörigkeit beeinflusst als vielmehr dadurch bestimmt werde, ob es sich um eine kirchliche oder bloß standesamtliche Trauung gehandelt hat (vgl. von Gostomski et al. 1999: 60). Schließlich gelangen Rosenkranz et al. zu dem Ergebnis, dass insbesondere auch die Stabilität von Paarbeziehungen gefährdet sei, wenn kein Konsens über den Kinderwunsch zu erzielen ist (Rosenkranz et al. 1998: 65f.). Das Vorhandensein von Kindern wird im Allgemeinen als stabilisierender Faktor für den Bestand einer Ehe gesehen. Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen unterliegen Ehen ohne Kinder dem höchsten Scheidungsrisiko. Die Scheidungshäufigkeit nimmt mit einem Kind, noch stärker mit zwei und drei Kindern ab, steigt aber ab vier Kindern wieder etwas an, so dass von einem »Grenzwert« ausgegangen werden kann, bis zu dem sich das Vorhandensein von Kindern stabilisierend auswirkt – vor allem dann, wenn die Kinder noch im schulpflichtigen Alter sind (vgl. Hettlage 1992: 169; Simm 1987: 125). Andererseits zeigt sich, dass Trennungsprozesse bei Ehen ohne Kinder langwieriger und revidierbar sind, wogegen Paare mit Kindern zu eindeutigeren Entscheidungen neigen, die seltener rückgängig gemacht werden (Nave-Herz 1994: 146). 50

Die Ergebnisse zu schichtspezifischen Differenzen bei Ehescheidungen sind insgesamt wenig eindeutig, wobei allerdings ein destabilisierender Effekt von einer schlechten ökonomischen Lage ausgeht, so dass »eine wirtschaftliche Strukturschwäche von Regionen auf dem Weg hoher Dauerarbeitslosigkeit und geringer Beschäftigungschancen auch die Familienstrukturen schwächt« (Hartmann 1989: 217). Allerdings gilt dies unter den Vorzeichen einer klassischen Rollenverteilung lediglich dann, wenn Väter von längerer Arbeitslosigkeit betroffen sind. Für Frauen wird im wissenschaftlichen Diskurs über die Ursachen von Ehescheidungen häufig das Gegenteil unterstellt. Dieser Zusammenhang wird vor allem aus Perspektive der New Home Economics konstatiert. Mit der Erwerbstätigkeit der Frau nehme ein wesentlicher Faktor des Kosten-Nutzen-Kalküls, die arbeitsteilige Organisation der Familie und die damit verbundenen Vorteile, ab und mache Bindung fragiler: »Zunehmende Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit und die dadurch entstehenden Chancen auf ein ›eigenes Leben‹ […] machen es unwahrscheinlicher, daß langfristige Bindungen und Verpflichtungen mit der ihnen immanenten Gefahr des gegenseitigen Opportunismus eingegangen werden. Verstärkt werden diese Tendenzen zudem durch einen tendenziellen Rückgang der sozialen Eingebundenheit […]. Dieser Rückgang ist vor allem deshalb von Bedeutung, da hierdurch keine ›Überwachung‹ risikoreicher Interaktion mehr erfolgt, unvollständige Verträge also nicht mehr durchsetzbar sind.« (Kopp 1994: 192f.; vgl. u.a. auch Ott 1992: 411; Hartmann/Beck 1999: 198; Klein/Stauder 1999: 171ff.) Nach Diekmann kommt neben der Erwerbstätigkeit vor allem auch der stärkeren Bildungspartizipation von Frauen eine bedeutende Rolle zu, so dass das Scheidungsrisiko mit höherem Bildungsniveau der Frauen anwächst, während dies bei Männern keinen Effekt hat (vgl. Diekmann 1994: 85). Trotz dieser festzustellenden statistischen Regelmäßigkeiten ist es der Scheidungsforschung jedoch bislang noch nicht hinreichend gelungen, von der Darstellung einzelner Befunde zu erklärenden Modellen zu gelangen. Einigkeit besteht darin, dass »das Ehescheidungsrisiko von einer großen Anzahl sozialkultureller Faktoren beeinflusst wird«, so dass Skepsis gegenüber Ansätzen 51

angebracht ist, die »mit relativ einfachen monokausalen Thesen die Stabilität von Ehen und ihre historische Variabilität erklären wollen« (Wagner 1993: 391). Die damit angedeutete Komplexität kommt bspw. auch in den Untersuchungsergebnissen von Herlth zum Vorschein, der resümiert, dass die Bewältigung von sachlichen Problemen nicht mit der Qualität der emotionalen Beziehung korreliert (vgl. Herlth 1989: 544f.). Betrachtet man Erklärungen, die über diese genannten statistischen Zusammenhänge hinausgehen, so zeigen sich auch hier in erster Linie Einzelthesen, die nur in Ansätzen modellgeleitet Erklärungen bieten. In den 1990er Jahren wurde in diesem Zusammenhang verstärkt auf ökonomische Theorien, insbesondere auf die New Home Economics zurückgegriffen (vgl. Kapitel 1), auf Grundlage derer vielfältige Thesen zu Erklärung der Scheidungswahrscheinlichkeit abgeleitet wurden, die darauf rekurrieren, dass eine Ehescheidung dann vollzogen wird, wenn die Summe der Einzelnutzen der Partner bei einer Trennung größer als bei der Fortsetzung der Ehe ist. Die Summe der Nutzen wiederum definiert sich über unterschiedliche materielle und immaterielle Faktoren, wie das ehespezifische Kapital, rechtliche Bedingungen und Beschränkungen der Ehescheidung, Suchkosten im Hinblick auf eine etwaige neue Partnerschaft usw. Unterstellt wird, dass Nutzen und Kosten einzelner Güter einer Ehe im Zeitverlauf different bewertet werden, so dass sich entsprechend auch die Bilanz verändert. So sei bspw. davon auszugehen, dass Elternschaft mit der Zeit einen geringeren Ertrag erbringe, da diese sowohl sozial als auch mit Blick auf die Veränderung sozialer Sicherungssysteme geringer gratifiziert wird (vgl. u.a. Hartmann 1989; Hill/Kopp 1999; Kopp 1994). Eine weitere Erklärung für die Zunahme an Ehescheidungen gründet auf der Annahme, dass Ehen im Vergleich zur Vergangenheit mit immer höheren Ansprüchen besetzt sind. Scheidung ist entsprechend weniger Ausdruck einer nachlassenden als vielmehr einer wachsenden Bedeutung von Ehe, die aus den stetig wachsenden Erwartungen an die emotionale Seite von Ehe und – mit der Herauslösung aus normativen Bezügen – aus der Notwendigkeit zur Selbstdefinition ehelicher Erwartungen und Leitlinien erwächst (vgl. Nave-Herz et al. 1990: 65; Hettlage 1992: 52

174; Beck-Gernsheim 1994: 161; Schmidt et al. 2006: 33). Diese These erfährt allerdings Widerspruch, da sie einer gewissen Tautologie unterliegt: »Überspitzt zu Ende gedacht legt diese Überlegung als Konsequenz nahe: Je mehr Konflikte in Ehe und Familie in Zukunft festzustellen sind, umso höher könnte also deren Bedeutung sein. Was in dieser Argumentation jedoch im Dunkeln bleibt, ist die einfache Frage nach den Gründen der ›steigenden Anforderungen‹, woher sie kommen und vor allem, wie sich deren konkrete alltagssprachliche Vermittlung in der Partnerbeziehung/Eltern-Kind-Beziehung vollzieht.« (Schneider 1994: 42) Schließlich ist ein weiterer Erklärungsansatz zu erwähnen, der den selbstverstärkenden Effekt von Ehescheidungen hervorhebt. Demnach bieten sich, bspw. mit der Zunahme von Scheidungen, veränderte Optionen auf dem Heiratsmarkt und gleichzeitig führe eine hohe Scheidungsquote zu einem Vertrauensverlust in Ehe, der zu einer erhöhten Bereitschaft, sich selbst sozial abzusichern, und u.a. zu einer höheren Erwerbstätigkeit von Frauen führe, die wiederum destabilisierend auf Partnerschaften wirkt (vgl. Diekmann 1994: 95). Trotz dieser Ansätze ist insgesamt für die Scheidungsforschung zu resümieren, dass die jeweiligen Erklärungen zwar plausibel erscheinen, jedoch der notwendigen empirischen Basis entbehren, mit der es insbesondere gelingt, eine die Makro- und Mikroebene verbindende Perspektive einzunehmen, »welche in der Lage ist, die handelnden Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld konzeptuell zu erfassen, denn nur über die agierenden Individuen mit ihren Biographien, mit ihren Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen, ihren Lebensverhältnissen und sozialen Milieus können wir ein Geschehen wie eine Ehescheidung systematisch beschreiben und verstehen« (Herzer 1998: 19). Interessant sind in diesem Zusammenhang Ansätze, die verstärkt auf den konstruktivistischen Aspekt von Ehe abstellen und Scheidung entlang des sich verändernden Konsenses bzw. wachsenden Dissenses und anhand von Konsensfiktionen erklären (vgl. Fooken 2004).

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4. Wandel des generativen Verhaltens Das veränderte generative Verhalten wird als ein wesentlicher Indikator, partiell auch als ein Grund für den Wandel der Familie angeführt. Betrachtet man die Entwicklung des generativen Verhaltens, so zeigt sich für die alten Bundesländer ein deutlicher Geburtenrückgang im Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 und seitdem mit geringen Schwankungen ein kontinuierlich niedriges Geburtenniveau. Gleichzeitig ist das durchschnittliche Alter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes seit Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich gestiegen. Im Einklang mit dieser Entwicklung steht der Rückgang von Familien mit drei und mehr Kindern. Gleichzeitig ist der Anteil der kinderlosen Ehepaare sukzessive angewachsen und liegt, bspw. für die Eheschließungskohorten 1973-1977, bei 18 %, während er in den Eheschließungskohorten bis Mitte der 1960er Jahre noch bei 13-14 % lag (vgl. NaveHerz 1988: 17). Legt man die endgültige Kinderzahl von Frauen der Geburtsjahrgänge 1940 bis 1965 zugrunde, so ist für Deutschland ein Rückgang von durchschnittlich 1,97 (Westdeutschland) bzw. 1,99 (Ostdeutschland) Kindern auf 1,48 bzw. 1,57 zu beobachten. Diese Entwicklung entspricht derjenigen in einer Vielzahl europäischer Länder, wobei insbesondere in südeuropäischen Ländern ein überdurchschnittlich hoher Geburtenrückgang (Italien von 2,14 auf 1,51, Spanien von 2,55 auf 1,62) festzustellen ist. Dem entgegen fällt der Geburtenschwund für Frankreich (von 2,41 auf 2,03), Großbritannien (von 2,39 auf 1,90) und insbesondere für Schweden (von 2,05 auf 2,00) eher moderat aus (vgl. Huinink/Konietzka 2007: 85). Die Ansätze zur Erklärung dieses so genannten zweiten demographischen Übergangs fokussieren in erster Linie auf den Bedeutungsverlust von Kindern für die ökonomische und soziale Sicherung bei gleichzeitig hohen materiellen und immateriellen Kosten für Versorgung und Sozialisation der Kinder, konkurrierenden Leitbildern zur Elternschaft, Effekten der Erwerbs- und Bildungsbeteiligung von Frauen, besserer Verhütung mit Anwendung der »Pille« sowie familiendemographischen Faktoren

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im Zusammenhang mit der Pluralisierung der Lebensformen und der steigenden Scheidungsrate. Kinder können in der vorindustriellen Vergangenheit insofern als ein ökonomischer Faktor angesehen werden, da sie Arbeitskräfte darstellten und mit zum Familieneinkommen beigetragen haben. Die Industrialisierung hat mit ihren gestiegenen Anforderungen an Arbeitsprozesse und die damit notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen zu einem erhöhten Bildungs- und Ausbildungsbedarf geführt, der Kinder zunehmend zum Kostenfaktor hat werden lassen. Zudem führt der Übergang der sozialen Sicherungsfunktion von der Familie auf den Staat dazu, dass Kindern nicht mehr genuin die Aufgabe der Altersversorgung ihrer Eltern zukommt (Bolte 1980: 66; vgl. Kapitel II/3). Allerdings ist diese These insofern umstritten, als die empirischen Belege nicht zwingend für den damit intendierten Zusammenhang zwischen diesen ökonomischen Vorteilen und der Bereitschaft zur Elternschaft sprechen. So gelangt Roloff zu dem Ergebnis, dass zwar Auswirkungen der ökonomischen Rahmenbedingungen nicht grundsätzlich auszuschließen sind, jedoch »ein monokausaler Zusammenhang zwischen Einkommenslage und Kinderwunsch sowie der Zahl gewünschter Kinder empirisch nicht nachweisbar« (Roloff 1996: 120) ist und bei Jüngeren das Einkommen sogar einen negativen Zusammenhang mit dem Kinderwunsch aufweist. In diesem Zusammenhang lässt sich grundsätzlich fragen, inwieweit demographische Veränderungen in erster Linie Ergebnis von Einstellungs- und Wertewandel oder aber auf die fehlenden Möglichkeiten zur Realisierung von Kinderwünschen zurückzuführen sind. Die vorliegenden empirischen Befunde sind diesbezüglich uneinheitlich. Während partiell diagnostiziert wird, dass nur noch für eine Minderheit der Paare Kinder ein zwingender Bestandteil ihres Lebensentwurfes sind (vgl. Schumacher 1988: 202), stützen andere Untersuchungen die These, dass der Kinderwunsch grundsätzlich höher ist als dessen Realisierung und »viele Ehepaare innerhalb einer relativ kurzen Phase der Ehe ihre Kinderwünsche verändern, sei es in Form des Aufschubs, zeitlicher Konkretisierung oder zeitlicher Vorverlagerung der Realisie-

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rung der Elternschaft oder Veränderung der gewünschten Kinderzahl« (Bundesministerium für Familie und Senioren 1992: 346). Die hiermit unterstellte Diskrepanz zwischen Kinderwunsch und dessen Realisierung ist neben den ökonomischen insbesondere auf erwartete zeitliche, psychische und soziale Belastungen bzw. Einschränkungen zurückzuführen. Diese bestehen im historischen Vergleich unter anderem darin, dass die Anforderungen an die Erziehung von Kindern in industrialisierten Gesellschaften deutlich zugenommen und zu einer »Inszenierung von Kindheit« (Beck-Gernsheim 1988: 94) geführt haben. Dazu trägt bei, dass Eltern erhebliche erzieherische Investitionen zu leisten haben, um ihre Kinder sozial zu platzieren. Dies sowie das längere Verweilen der Kinder im Elternhaus führen zu einer relativen Geschlossenheit des familialen Systems, die auch dazu führt, dass Außenkontakte zu Kinderlosen seltener werden (vgl. u.a. Habich/Berger-Schmitt 1998: 21). Hieraus ziehen, so BeckGernsheim, mehr und mehr Paare die Konsequenz, auf Elternschaft zu verzichten, »indem sie sich für eine (gemäß ihren Erwartungen) befriedigende Ehebeziehung – damit gegen ein (erstes oder weiteres) Kind entscheiden« (Beck-Gernsheim 1980: 189). Hierbei spricht vieles dafür, dass vor allem Frauen einen entsprechenden Einstellungswandel vollziehen, da es nach wie vor in erster Linie sie sind, die entsprechende Belastungen zu tragen haben. Dies korrespondiert mit einer Zunahme an Optionen für die persönliche Lebensplanung und möglicher Beziehungsformen, wobei generative Entscheidungen eher kausal auf die Pluralisierung der Lebensformen als umgekehrt wirken. »In Deutschland (West) endet die Pluralisierung der Lebensformen spätestens beim zweiten Kind. Die Gesellschaft spaltet sich in einen wachsenden Sektor pluraler nicht-familialer Lebensformen und einen schrumpfenden, in sich relativ strukturstarren Familiensektor von Familien, die im übrigen mehrheitlich zwei Kinder haben, deren Mütter Hausfrauen sind« (Strohmeier/Schulze 1995: 8). Eine in diesem Zusammenhang häufig diskutierte These ist jene, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen den Kinderwunsch bzw. die Umsetzung des Kinderwunsches verhindert. Hoff-

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mann-Nowotny resümiert in diesem Sinne, dass »bei berufstätig bleibenden Frauen sowohl der Kinderwunsch sich vermindert, als auch die Zahl der effektiv geborenen Kinder geringer« ist (Hoffmann-Nowotny 1988: 243). Dies gelte insbesondere, wenn eine ausgesprochene Berufsorientierung zu beobachten ist, die den Beruf als Gegenentwurf zur Familie erscheinen lässt. Für Frauen gestaltet sich unter dieser Perspektive der richtige Moment der Elternschaft zunehmend schwierig: Geht sie zu früh aus dem Beruf, so vermindert dies Karrierechancen, geht sie zu spät, so ist nach der Elternzeit ein beruflicher Wiedereinstieg äußerst schwierig (vgl. Klein 1993: 293; Rerrich 1988: 62). Viele Frauen beantworten dieses Dilemma mit einem Aufschub der Elternschaft, dem Modell der kinderlosen Ehe, die immer wieder neu verhandelt wird (vgl. Lüscher 1988: 22). Dies kann allerdings dazu führen, dass aus einer »befristeten eine lebenslange Kinderlosigkeit« wird (Nave-Herz 1988: 98). Neben der Erwerbstätigkeit wird auch ein höheres Bildungsniveau bei Frauen als Faktor für die geringere Bereitschaft zur Elternschaft gesehen, wobei sich die Bildungsbeteiligung weniger auf die Zahl der Kinder als vielmehr auf die grundlegende Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, auswirkt (vgl. Klein 1989: 305). Diese These ist zum Teil mit dem Verweis darauf, dass Frauen mit höherem Bildungsniveau lediglich später Kinder bekommen und Kinderlosigkeit mit der Zeit der Ausbildung assoziiert sei (vgl. Blossfeld/Jaenichen 1990 187ff.), umstritten. Vor allem – und dies gilt auch für den vermuteten Zusammenhang zwischen Geburtenrückgang und Erwerbstätigkeit von Frauen – kann hiermit nicht erklärt werden, warum auch die Zahl der Kinder in Familien geringer ist, in denen eine klassische Rollenverteilung dominiert und kein überdurchschnittliches Bildungsniveau bei Frauen vorliegt (vgl. Höpflinger 1987: 256). Andererseits zeigen neuere empirische Untersuchungen, dass ein Einfluss auf die Anzahl der Kinder zu vermuten ist: »Frauen, die kein zweites Kind planen, orientieren sich, von der Unterbrechung durch den Erziehungsurlaub abgesehen, an einer simultanen Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft, während Frauen, die ein zweites Kind haben bzw. dies für die nächste Zukunft fest planen,

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sich eher am Drei-Phasen-Modell und damit an einer seriellen Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft orientieren.« (Rost/Schneider 1995: 193) Ein häufig in der Öffentlichkeit angeführter Grund für den Rückgang der Geburten in den 1960er Jahren ist die Einführung der »Pille« (so genannter »Pillenknick«), die überhaupt erst eine Familienplanung im eigentlichen Sinne und die Differenzierung von Sexualität und Fortpflanzung ermöglicht (vgl. Huinink 1989: 82). Wenn auch entsprechend dieser Vermutung parallel zur Verbreitung der Pille die Geburtenzahlen rückläufig waren, bleibt diese Erklärung insofern strittig, als die Ergebnisse der historischen Familienforschung bereits für die vorindustrielle Zeit eine effektive Geburtenkontrolle in Form von Verhütung, Abtreibung, Kindstötung, wie auch rechtlicher Zugangsbeschränkungen zur Ehe aufzeigen, so dass die Planbarkeit von Familie kein neues Phänomen ist (vgl. Imhof 1976: 223; Hausen 1977: 73f.). Ein zweiter Einwand gegen den maßgeblichen Einfluss der Verbreitung von Kontrazeptiva auf die Geburtenrate richtet sich in grundsätzlicher Weise gegen die Unterstellung, dass Entscheidungen für oder gegen Kinder in erster Linie als rationaler Prozess zu deuten sind. »Sie sind vielmehr das Resultat eines Entwicklungsprozesses vor und während der Ehe und sie sind vielfachen Einflüssen und Veränderungen unterworfen. Neben sozialen Erwartungen und Normen, sozialer Kontrolle, individuellen Gewohnheiten, Einstellungen und Orientierungen, Erfahrungen und antizipierten Folgen, spielen hier auch situative Einflüsse, ja Irrationalitäten, eine Rolle.« (Vaskovics/Rost 1995: 138) Schließlich ist ein deutliches Stadt-Land-Gefälle im Hinblick auf die Geburtenrate zu beobachten, wobei die Siedlungsdichte mit der Abnahme der relativen Geburtenhäufigkeit korreliert. Dieser Zusammenhang erklärt allerdings weniger den Geburtenrückgang als dass er vielmehr Wanderungen zwischen Stadt und Land entsprechend des Kinderwunsches aufzeigt (vgl. Strohmeier 1989). Die hier skizzierten Forschungsergebnisse zur Veränderung des generativen Verhaltens weisen auf mehrdimensionale Begründungszusammenhänge hin. Die genannten Faktoren auf Einstellungs- und Verhaltensebene durchdringen sich, so dass 58

monokausale Erklärungen zu kurz greifen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das generative Verhalten von zum Teil nicht explizierten Einstellungen, von mehr oder minder geplanten, in jedem Fall aber komplexen Entscheidungen der Partner und spezifischen sozialen und ökonomischen Kontextvariablen abhängt. Zudem ist zu vermuten, dass der Geburtenrückgang selbst einen Verstärkungseffekt auf die Entscheidungen für oder gegen Kinder hat und eine »Implosionsspirale« in Gang setzt (vgl. Kolbeck/ Kiefl 1989: 93), die eine »strukturelle Erweiterung der Optionen« (Peuckert 2008: 114) mit sich bringt.

5. Nichteheliche Lebensgemeinschaften Nichteheliche Lebensgemeinschaften (NEL) sind historisch kein neues Phänomen. Die durch Staat und Kirche legitimierte Ehe gewinnt erst im 11. Jahrhundert an Bedeutung und löst die so genannte Muntehe ab, welche durch Vereinbarungen unter Sippen legitimiert wurde. In dieser Zeit, aber auch in späteren Jahrhunderten, waren Konsens- oder Friedelehen weit verbreitet, was insbesondere auf die jeweiligen materiellen Voraussetzungen zurückzuführen ist, die für einen Eheschluss als konstitutiv vorausgesetzt wurden: »In Gruppen, in denen Männer und Frauen wenig oder nichts in eine Ehe einzubringen haben (und in denen kein Leib- oder Dienstherr etwaige Mitspracherechte geltend macht), wird der Unterschied zwischen einer Ehe und einem Konkubinat letztlich belanglos, da er ›nur ein geringes Maß praktischer Bedeutung‹ hat. Eine Ehe, wenn man sie so nennen will, entsteht dort, wie es scheint, einfach durch die Aufnahme der sexuellen Gemeinschaft eines Mannes mit einer Frau und allenfalls durch die nach außen propagierte Selbstdefinition ihrer so begründeten Beziehung als Ehe.« (Schröter 1985: 383) Erst im 15. und 16. Jahrhundert gewinnt der staatliche und kirchliche Einfluss an Durchsetzungskraft, was u.a. auf die Angst vor Überbevölkerung in den unteren sozialen Schichten und die damit verbundene soziale Fürsorgepflicht der Gemeinden für Kinder, die von den Partnern nicht ernährt werden können, zurückgeführt werden kann. Hieraus folgen Heiratsbeschränkun59

gen, denen bis ins 19. Jahrhundert hinein eine erhebliche Bedeutung zukam (vgl. Lengsfeld/Schwägler 1987: 4). Gerade in der sozialen Unterschicht stellte dementsprechend das Eingehen so genannter Konsensehen eine Möglichkeit dar, Bindungen einzugehen, die ihnen aufgrund fehlender materieller Voraussetzungen an sich verwehrt geblieben wären. Die Anzahl illegitimer Geburten nahm in der Folge vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, wobei sowohl im Hinblick auf die Verbreitung der Konsensehe als auch illegitimer Geburten zum Teil erheblich regionale Unterschiede bestanden. So waren vor allem im Ostalpenraum, in Sachsen und in Skandinavien hohe Illegitimitätsquoten zu beobachten; im Mittelmeerraum, dem Balkan sowie Russland jedoch vergleichsweise geringe Quoten (vgl. Mitterauer 1985: 566ff.; Schenk 1987: 103ff.). Dies ist wohl in erster Linie auf das »European Marriage Pattern« zurückzuführen, ein in Westund Mitteleuropa zu beobachtendes Phänomen später Eheschließungen. So hat das durchschnittliche Heiratsalter im Deutschen Reich vom Ende des 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein zwischen 25,5 und 28,9 Jahren gelegen (vgl. Imhof 1983: 176). Die späte Eheschließung ist insbesondere auf das in West- und Mitteleuropa dominante Anerbenrecht zurückzuführen. Da die Ressourcen der Landwirtschaft in der Regel nicht ausreichten, um drei Generationen zu versorgen, kam es zur Übergabe des ungeteilten Erbes an den ersten Sohn nach dem Tod des Vaters. Hiermit sollte insbesondere auch betriebliche Stabilität erzeugt und eine Parzellierung des Grundbesitzes vermieden werden (vgl. Mitterauer/Sieder 1977: 55). Diese Konstellation führte auch dazu, dass die Verbreitung von Mehrgenerationenfamilien in Westund Mitteleuropa im Vergleich zu Süd- und Osteuropa äußerst selten war: »Die Drei-Generationen-Familie ist also kein Phänomen der vorgeblich heilen Welt mitteleuropäischen vorindustriell-agrarischen Zuschnitts, sondern vielmehr ein Übergangsphänomen in einer Zeit sich schnell wandelnder Wirtschafts-, Gesellschafts- und Bevölkerungsstrukturen.« (Marschalck 1983: 448) Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Konsensehe an Bedeutung, wenngleich sie immer auch dann »reaktiviert« wurde, wenn sie im Vergleich zur Ehe ökonomische Vorteile er60

warten ließ, wie bei den so genannten Onkelehen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine weite Verbreitung fanden, um die Versorgungsansprüche aus den vormaligen Ehen nicht zu gefährden. Wenn also NEL bereits in vergangenen Jahrhunderten eine nicht unerhebliche Verbreitung erfahren haben, werden sie erst seit den 1980er Jahren zu einem zentralen Thema der Familiensoziologie und häufig als Indiz für den Bedeutungsverlust der Ehe verstanden. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass NEL, wie sie seit den 1970er Jahren an Relevanz gewinnen, nicht mehr in erster Linie aufgrund ökonomischer Motive eingegangen werden, sondern der »freiwillige« Charakter dieser Lebensform stärker hervortritt. Mit Blick auf die im Folgenden dargestellte Verbreitung von NEL ist zu berücksichtigen, dass diese sich in der Regel an den Daten der amtlichen Statistik orientieren – dies vor allem aus pragmatischen Gründen, da sich die Definition von NEL insgesamt schwierig gestaltet und durchaus umstritten ist. So ist zu fragen, ob eine NEL auch zwingend eine Haushaltsgemeinschaft voraussetzt. Die erste, Mitte der 1980er Jahre durch das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit herausgegebene, umfassendere Studie zur Situation von NEL in Deutschland sieht bspw. eine konstante Haushaltsgemeinschaft nicht als Voraussetzung und orientiert die Definition der NEL an der subjektiven Einschätzung der Beteiligten: »Zu den nichtehelichen Lebensgemeinschaften […] zählen alle Befragten, die in ihrer subjektiven Sichtweise mit einem andersgeschlechtlichen Partner zusammenleben, ohne mit ihm verheiratet zu sein und unabhängig davon, ob sie ständig in einem Haushalt mit ihm zusammenleben.« (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1985: 9f.) Weiterhin ist fraglich, wie lange eine Beziehung andauern muss, um als Lebensgemeinschaft zu gelten. Peuckert sieht als wesentliche Kriterien für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, dass Partner unterschiedlichen Geschlechts längere Zeit unverheiratet zusammenleben und gemeinsam wirtschaften« (Peuckert 1991: 50). Wie genau der Terminus »längere Zeit« zu fassen ist, bleibt allerdings unklar. Entsprechende Klärungsversuche geben 61

unterschiedliche Zeiträume, in der Regel zwischen drei und sechs Monaten, an, ohne dass eine zwingende Begründung für die Wahl eines spezifischen Zeitraums gegeben werden könnte (vgl. Altmeyer 1987: 4; Glatzer 1997: 11). In den vergangenen Jahrzehnten ist ein sukzessiver Anstieg der NEL in Deutschland zu beobachten. Gab es zu Beginn der 1970er Jahre noch ca. 137.000 NEL, waren es zu Beginn der 1980er bereits mehr als ein halbe Million und zu Beginn der 1990er bereits mehr als eine Million Paare, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebten (vgl. Glatzer 1997: 24). Die Daten weisen für 2006 bereits mehr als zwei Millionen NEL aus. Im europäischen Vergleich zeigt sich im Hinblick auf die Verbreitung nach wie vor ein Nord-Süd-Gefälle, was in dieser Form innerhalb von Deutschland nicht zu konstatieren ist. Erwartungsgemäß ist jedoch die Verbreitung von NEL in großstädtischen Regionen deutlich größer als in ländlichen. Die Altersstruktur in NEL unterliegt einem steten Wandel, was auf unterschiedliche Prozesse zurückzuführen ist. Zunächst ist die verlängerte Postadoleszenz aufgrund des späteren Heiratsalters zu nennen, die zu einem Anstieg vorehelicher Lebensgemeinschaften führt. Darüber hinaus ist allerdings auch ein Anstieg nichtehelicher Lebensformen bei Älteren zu beobachten, der zum einen dem demographischen Wandel, zum anderen höheren Scheidungsquoten geschuldet ist. Vor allem die Bedeutung der NEL für höhere Altersgruppen ist umstritten: Während einige hierin ein Lebensmodell in jüngeren Altersgruppen sehen (vgl. u.a. Peuckert 1991: 53; Schneider 1994: 131), gibt es durchaus auch Stimmen, die nichteheliche Lebensgemeinschaften im Alter als bewusstes Gegenmodell zu einer (nochmaligen) Ehe fassen (vgl. u.a. Wingen 1984: 38f.). Wenn auch NEL in allen sozialen Schichten auftreten, so ist eine stärkere Partizipation von Frauen und Männern mit höherem Bildungsabschluss zu beobachten (vgl. Strohmeier 1997: 306). Bertram gelangt in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass vor allem Partner mit höherem Bildungsabschluss eine NEL als bewusstes Gegenmodell zur Ehe verstehen (vgl. Bertram 1991: 647). Auch Meyer und Schulze bestätigen diese Einschätzung für besser gebildete Frauen (Meyer/Schulze 1988: 354). 62

Noch in den 1990er Jahren galt als eine wesentliche Erklärung für die Zunahme von NEL, interpretiert als Gegenentwurf zur Ehe, die Entkoppelung von Liebe und Ehe. Nichteheliche Lebensgemeinschaften seien unter dieser Perspektive als Reflex auf die erhöhten Anforderungen und »Komplexitätssteigerungen im emotionalen Bereich« (Nave-Herz 1994a: 24) zu interpretieren. Die Monopolisierung von Emotionen und Sexualität auf die Ehe genüge nicht mehr den vielschichtigen und differenzierten Ansprüchen emotionaler Beziehungen, so dass eine fortschreitende Differenzierung auf Ebene der Lebensgemeinschaften einsetze. »Ein wesentliches Phänomen neuerer gesellschaftlicher Entwicklung ist die Entkopplung von Liebe, Sexualität und Ehe. Sexualität und Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt sind nicht mehr ausschließlich an die Institution Ehe gebunden. Notwendige Voraussetzung dafür ist die Entschärfung des Tabus vorehelicher Sexualität. Der Plausibilitätsverlust, den die Institution Ehe erfahren hat, bezieht sich jedoch nur auf die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, nicht dagegen auf Elternschaft.« (Simm 1987: 46) Entsprechend resümiert auch Kaufmann zu Ende der 1980er Jahre, dass der enge Verweis von Elternschaft auf Ehe nach wie vor relevant sei (vgl. Kaufmann 1988: 397). Auf Grundlage dieses Zusammenhangs wird häufig argumentiert, dass NEL eher als Passage der Beziehungsbiographie im Sinne einer »Ehe auf Probe« denn als Gegenentwurf zu verstehen sind. Die bereits genannte, vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit herausgegebene Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass 71 % nichtehelicher Lebensgemeinschaften diesem Typus zuzurechnen sind (vgl. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1985: 32f.). Solche, auch in späteren Studien (vgl. u.a. Huinink/Konietzka 2004) bestätigten Ergebnisse sprechen zunächst dafür, dass NEL keine Gefährdung der Ehe als konstitutiv für die Familiengründung darstellen. Betrachtet man allerdings neuere Daten zum Aufkommen von NEL, so weisen diese einen erhöhten Anteil an Lebensgemeinschaften mit Kindern auf, wenngleich es sich hierbei nicht immer um gemeinsame Kinder handelt. Für die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung sei, so die Ergebnisse des Bamberger Ehepaar-Panels, vor allem in den neuen Bundesländern zu beobachten, dass der Ver63

weis von Elternschaft auf Ehe zunehmend fragil werde, so »dass die These der ›kindorientierten‹ Eheschließung auf die neuen noch weniger als auf die alten Bundesländer zutrifft. Die Kindorientierung stellt nur einen Aspekt innerhalb der vielfältigen Heiratsmotive der befragten junge Paare dar.« (Vaskovics/Rost 1995: 145) Resümiert man die hier kursorisch dargelegten Ergebnisse zur Entwicklung von NEL, so lässt sich insgesamt feststellen, dass die Kontrastierung zwischen Ehe, nichtehelichen Lebensgemeinschaften und anderen Beziehungsformen, wie jene des Living apart together, und Lebensformen, wie den Status als Geschiedener oder Verwitweter, bei genauerer Betrachtung selten trennscharf möglich ist. Die in der Familiensoziologie diagnostizierten Gründe für das Entstehen von NEL (veränderte Werte in Form nachlassender religiöser Bindungen, die Liberalisierung der Sexualmoral und einfachere Verhütung, die Ausbildung einer adoleszenten Lebensphase infolge verlängerter Zeiten des Bildungserwerbs und andere) stellen plausible Erklärungsmodelle dar, bilden allerdings vielfach nicht die Komplexität des Prozesses individueller Aneignung und Ausgestaltung von Lebens- und Beziehungsformen ab. Schneider gelangt folgerichtig zu der Einschätzung, dass die Lebensform der NEL durch Ambivalenzen gekennzeichnet sei: »Einerseits werden die Grenzen zwischen Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft immer fließender, andererseits haben nichteheliche Lebensgemeinschaften oftmals den Charakter einer eigenständigen Lebensform, die sich in der subjektiven Sinngebung gezielt von der Institution Ehe unterscheiden soll.« (Schneider 1994: 136f.) Betrachtet man die aktuelle Situation, so lässt sich eine zunehmende rechtliche Angleichung nichtehelicher Lebensgemeinschaften zu Ehen feststellen. Inwiefern dies Auswirkungen auf den Stellenwert der NEL hat, ist bislang nicht belegt. Allerdings könnte diese rechtliche Angleichung im Widerspruch zu dem Motiv stehen, ein gewisses Maß an Unverbindlichkeit und struktureller Unabhängigkeit (vgl. Peuckert 2008: 76) zu wahren.

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6. Alleinerziehende In den vergangenen Jahrzehnten nahm die Zahl der Alleinerziehenden zu. Mitte der 1990er Jahre lebten in Deutschland etwas weniger als zwei Millionen Alleinerziehende, von denen mehr als die Hälfte Kinder unter 18 Jahren hatten (vgl. Stegmann 1997: 13). Das Statistische Bundesamt geht für 1995 sogar von 2,7 Millionen Alleinerziehenden aus, wobei diese Zahlen insofern irreführend sind, als keine Differenzierung zwischen Alleinerziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften vorgenommen wird (vgl. Statistisches Bundesamt 1997: 36). Betrachtet man die aktuellen Daten für das Jahr 2007, so zeigt sich nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes mit insgesamt etwas mehr als 2,6 Millionen Alleinerziehenden eine gewisse zahlenmäßige Konstanz in den vergangenen Jahren. Der Anteil Alleinerziehender an Familien mit minderjährigen Kindern lag in 2005 bei 17,8 % (vgl. Matzner 2007: 225). Wenn auch nach wie vor der Anteil allein erziehender Frauen deutlich dominiert, ist derjenige männlicher Alleinerziehender sukzessive gestiegen und lag in den 1980er und 1990er Jahren bereits konstant zwischen 12 und 15 %. Dies hat sich bis zur Gegenwart nicht verändert: 2007 lag der Anteil bei 13,6 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2008: Tab. 2.3). Verändert hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Zusammensetzung der Gruppe Alleinerziehender, legt man die Beziehungsbiographie zugrunde. Grundmann resümiert für den Zeitraum Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre einen deutlichen Anstieg derjenigen Alleinerziehenden, die ledig sind, von 14 auf 31 %. Während der Anteil allein erziehender Geschiedener (45 bzw. 43 %) und getrennt Lebender (jeweils 16 %) annähernd identisch blieb, ging vor allem jener der Verwitweten (26 % bzw. 10 %) in der Gruppe der Alleinerziehenden deutlich zurück. Der Anstieg lediger Alleinerziehender geht konform mit der Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern, verweist allerdings auch wiederum auf das Abgrenzungsproblem zwischen beiden Gruppen. Zudem bedeutet der höhere Anteil Lediger, dass Alleinerziehende vermehrt auch in jüngeren Altersgruppen zu finden sind. 65

Betrachtet man den öffentlichen Diskurs, aber auch die familiensoziologischen Analysen zu Alleinerziehenden, so fällt auf, dass über lange Zeit die Untersuchung der ökonomischen Situation und damit verbunden etwaige Konflikte zwischen Arbeitsund Familienwelt im Vordergrund standen. Erst in den 1990er Jahren wurden auch Fragen der sozialen Vernetzung und der psychischen Bewältigung des Status als Alleinerziehende in den Blick genommen. Die wirtschaftliche Lage Alleinerziehender ist hierbei im Vergleich zu Kinderlosen als konstant schlecht zu bezeichnen. Im Vergleich zu Ehen mit Kindern ist für die 1990er Jahre eine etwas bessere Einkommensposition zu resümieren, wobei die ökonomische Situation gerade in der Gruppe Alleinerziehender deutlich streut, so dass das Armutsrisiko in dieser Gruppe insgesamt besonders hoch ist (vgl. Statistisches Bundesamt 1997: 474; Wagner 1999: 78ff.). Zu differenzieren ist zudem zwischen der Situation von allein erziehenden Frauen und Männern. Letztere haben ein höheres Durchschnittseinkommen und sind deutlich seltener von Armut bedroht (vgl. Niepel 1994: 61). Dies korrespondiert auch damit, dass allein erziehende Männer zu einem deutlich höheren Anteil einer Erwerbstätigkeit nachgehen, was wiederum auf die höhere Bereitschaft des sozialen Umfeldes zurückzuführen ist, allein erziehende Männer zu unterstützen, so dass diese häufiger ihre Erwerbsbiographie ohne Unterbrechungen fortsetzen können. Napp-Peters resümiert Mitte der 1980er Jahre, dass allein erziehende Väter eher dazu neigen, »zusätzliche Betreuungspersonen und -einrichtungen sowie Babysitter, Verwandte und Freunde einzuschalten. Ihre Kinder werden für mehr Stunden am Tag Kindertagesstätten oder Betreuungspersonen anvertraut und sie sind andererseits auch relativ häufiger nach der Schule ohne Aufsicht allein zu Hause als Kinder in der Obhut von Müttern.« (Napp-Peters 1985: 92f.) Wenn auch partiell klassische Rollenzuweisungen eine Revision erfahren und bspw. der Anteil derjenigen Väter wächst, die bereit sind, sich verstärkt an der Kindererziehung in Form von Erziehungsurlaub zu beteiligen, so ist nach wie vor eine sichtbare Diskrepanz zu beobachten, die sich nicht zuletzt in Zuschreibungen und Unterstützungsleistungen des sozialen Umfeldes niederschlägt. Die geringere Unterstützung allein erziehender Frau66

en durch ihr soziales Umfeld und die damit verbundene alleinige Verantwortungsübernahme führt bei allein erziehenden Müttern mehr als bei Vätern zum Gefühl der Überlastung und lässt den Konflikt zwischen Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung deutlicher hervortreten (vgl. Nestmann/Stiehler 1998: 286f.). Folge dieser mehrdimensionalen hohen Belastung ist auch, dass kaum noch genügend Zeit bleibt, soziale Kontakte zu pflegen. Die Organisation des Alltags verlangt ein enges Zeitkorsett, das kaum Flexibilität zulässt (vgl. Niepel 1994: 83f.). Die auf das Funktionieren des Alltags ausgerichtete Selektion von Kontakten führt vor allem bei allein erziehenden Müttern zu einer Verengung auf gleichgeschlechtliche Kontakte, womit die Möglichkeit, einen neuen Partner kennen zu lernen, zumindest eingeschränkt ist (vgl. Meyer/Schulze 1989: 137). Zu differenzieren ist hierbei insoweit, als berufstätige allein erziehende Mütter in der Regel über ein breiteres Kontaktnetz verfügen und vor allem auch Beziehungen pflegen, die nicht in erster Linie funktional im Sinne der Bewältigung der Situation als Alleinerziehende sind. Berufstätige Alleinerziehende befinden sich somit in einer ambivalenten Situation: Zum einen erfahren sie eine höhere physische und psychische Belastung durch die unterschiedlichen Anforderungen von Erwerbstätigkeit und Familie; andererseits verfügen sie über ein breiteres und vielschichtigeres soziales Netz. Inwieweit durch diese Einschränkung sozialer Kontakte auf in der Regel für das Familienleben funktionale Beziehungen auch Effekte für die Sozialisation der Kinder zu erwarten sind, ist umstritten. Die zum Teil unterstellte Parallelität eingeschränkter Kontakte auch bei Kindern Alleinerziehender ist in dieser Weise zumindest nicht zwingend als Effekt der Lebensform zu resümieren als vielmehr auf den Bildungsgrad der Mütter oder Väter zurückzuführen (vgl. Stein-Hilbers 1994: 129f.). Insgesamt zeigen diese wenigen Ausführungen, dass die Situation Alleinerziehender – wenn auch schichtspezifisch und geschlechtsspezifisch zum Teil mit deutlichen Variationen – durch hohe Belastungen gekennzeichnet ist. Gleichzeitig weisen die Forschungsergebnisse darauf hin, dass Alleinerziehende, die vorher in Partnerschaften lebten, ihre Situation trotz dieser Anforderungen als positiv resümieren, da sich neue Entscheidungs- und 67

Handlungsräume ergeben, die wiederum Selbstbewusstsein und Identität fördern. Diesen Momenten, so Erdmann, würde in der Literatur bislang zu wenig Beachtung geschenkt, was »den Blick auf die konstruktiven Elemente der Bewältigung einer Ein-Elternschaft, die dieser Familienform innewohnenden innovativen Potentiale und die positiven Auswirkungen dieser Lebensform« (Erdmann 1999: 182) verstelle. Andererseits zeigt sich allerdings auch, dass viele Alleinerziehende eine neue Partnerschaft anstreben und die Phase des Alleinerziehens als Statuspassage interpretieren (vgl. Stegmann 1997: 229ff.).

7. Alleinlebende Das Anwachsen von Ein-Personen-Haushalten, das bereits in den 1950er Jahren einsetzt (ihr heutiger Anteil liegt bei über einem Drittel), wurde in der Familiensoziologie erst vergleichsweise spät aufgegriffen und hatte, so Grözinger, eine lange wissenschaftliche »Inkubationszeit« (vgl. Grözinger 1994: 7). Interessanterweise gewann dieses Phänomen erst dann an Bedeutung, als es eng mit der Lebensform des Singles assoziiert werden konnte. Die zahlenmäßig weite Verbreitung von Verwitweten unter den in EinPersonen-Haushalten Lebenden wurde und wird – wie das Thema Verwitwung insgesamt – in weiten Teilen der Familiensoziologie ausgeblendet (vgl. Schneider 1994: 201; Vaskovics/Buba 1988). Das Interesse gilt dementgegen Alleinlebenden jüngerer Altersgruppen und im Anwachsen von jüngeren Alleinlebenden wird die konsequente Fortsetzung der Individualisierung in der Lebensform des Single gesehen. Vergleichbar den Abgrenzungsproblemen anderer Lebensformen ist auch die Singleforschung durch eine erhebliche Deutungsvielfalt gekennzeichnet, die eine trennscharfe Definition vermissen lässt und je nach Forschungsinteresse die Kriterien variiert, nach denen Personenkreise als Singles eingruppiert werden (vgl. Kern 1998: 16). Nach Bachmann weiß die Singleforschung »offenbar so recht nicht, worüber sie eigentlich spricht und worin ihr Forschungsgegenstand besteht. Die Begriffe des ›Single‹-Daseins,

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›Alleinlebens‹ und des ›Alleinstehens‹ scheinen in ihrer Vieldeutigkeit als semantische Metamorphosen eines kaum Faßbaren zu existieren, denen sich jeder bedienen kann, wenn es ihm um die Thematik eines wie auch immer ›ungebundenen‹ Lebens geht. Eine solche regellose Begrifflichkeit stellt die Vergleichbarkeit und den Wert von Aussagen und Ergebnissen einer ›Single‹-Forschung ernsthaft in Frage.« (Bachmann 1992: 28) Entsprechend dieser begrifflichen Uneindeutigkeit wird das statistische Phänomen der Zunahme von Ein-Personen-Haushalten unterschiedlich interpretiert. So ist fraglich, ob gerade die quantitative Zunahme jüngerer Alleinlebender mit dem Begriff Single richtig erfasst wird oder ob es sich nicht um eine vorübergehende Statuspassage handelt, die einen Übergang zu einer anschließenden Beziehung darstellt (vgl. Schneider et al. 1998: 203ff.). Berücksichtigt man, dass trotz Zunahme Alleinlebender in jüngerem Alter die Gruppe der Verwitweten nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt, kann zumindest nicht von einer weiten Verbreitung des Singledaseins in einem »radikalen« Sinne gesprochen werden. Legt man bspw. die Definition von Bachmann zugrunde, so sind Singles gekennzeichnet durch einen radikalen Beziehungsverzicht. »Singles leben jenseits aller sozialen Bindung – ohne die Gemeinschaftlichkeit, die sich aus einem kooperativen Haushalten, einer festen Partnerschaft oder einem Erziehungsverhältnis ergibt. Die besondere Typik ihrer Lebensweise besteht also gerade in dem Wegfall eines jeglichen beziehungsstrukturellen Gefüges, das Personen in anderen familialen Lebensformen in unterschiedlichem Maße als ihre jeweilige intime soziale Umwelt vorfinden. Ein derartiger Beziehungsverzicht bedeutet eine Vereinzeltheit in Bezug auf soziale Bindungen, nicht unbedingt eine soziale Vereinzeltheit generell« (Bachmann 1992: 43). Hradil sieht ebenfalls als zentrale Kriterien für die Lebensform des Singles das Fehlen einer Beziehung im Sinne von Partnerschaft sowie die Freiwilligkeit des Alleinlebens (vgl. Hradil 1995: 7ff.). Während das erstgenannte Kriterium unumstritten ist, gestaltet sich die Frage, ob von einem Single erst dann gesprochen werden kann, wenn Alleinleben den Status von »Freiwilligkeit« hat, deutlich schwieriger, da per Definition nicht nur die gewählte

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Lebensform, sondern auch spezifische Motive berücksichtigt werden müssten, die zumindest in der amtlichen Statistik keine Entsprechung finden. Betrachtet man den Forschungsstand in der Familiensoziologie zur Lebensform der Singles, so machen insbesondere diese zum Teil stark differierenden Definitionen einen Vergleich verschiedener Untersuchungsergebnisse äußerst schwierig und es verwundert nicht, dass einzelne Studien zum Teil zu gegensätzlichen Resultaten gelangen. Weitgehende Einigkeit besteht allerdings darin, dass das Single-Dasein keinesfalls mit Kontaktarmut einhergeht. Die quantitative Ausprägung der Außenkontakte unterscheidet sich nicht von anderen Lebensformen, wohl aber eine stärkere Verlagerung auf Kontakte zu Freunden bei gleichzeitig fortbestehendem Kontakt zur Herkunftsfamilie (vgl. Schlemmer 1996: 64ff.), wenn hierbei auch geschlechtsspezifische Unterschiede zu resümieren seien, indem bspw. das Freundes-Netzwerk von Männern etwas größer ist als jenes von Frauen. Weiterhin sind auch Differenzen entlang der Lebensform zu erkennen, die vor dem Single-Dasein relevant gewesen ist. So heben geschiedene Männer in besonderer Weise sexuelle Ungebundenheit als ein Merkmal des Single-Daseins hervor, wobei sie allerdings gleichzeitig in der Mehrzahl eine auf Dauer angelegte Sexualpartnerschaft präferieren (vgl. Bachmann 1992: 218ff.). Die Gruppe der Singles lässt sich, so die Ergebnisse Bachmanns, differenzieren nach den Formen »lonely singlehood« im Sinne unfreiwilligen Alleinlebens, »creative singlehood« als bewusste Entscheidung gegen eine Lebensgemeinschaft und »ambivalente singlehood« unterscheiden. Insgesamt überwiege das Muster des »ambivalente singlehood«, das eine Gleichzeitigkeit von Bindungsbereitschaft und Wunsch nach individueller Freiheit signalisiere. Diese Gruppe an Singles steht sowohl einer beruflichen als auch einer Familienorientierung positiv gegenüber und will auf beiden Ebenen erfolgreich sein (vgl. ebd.: 190ff.). Unter der Frage, inwieweit Alleinleben als bewusster Gegenentwurf zu traditionellen Familienformen gedacht wird, zeigen sich Unterschiede nach dem Bildungsgrad. So sind es vor allem Männer mit hohem Bildungsabschluss, welche die Lebensform des Singles als bewusste Alternative zur Ehe sehen (vgl. Kol70

beck/Kiefl 1989: 21). Dessen ungeachtet aber spielt diese Form des Singleseins eine untergeordnete Rolle: »Eine wirklich freiwillige Partnerlosigkeit gehört zum Selbstverständnis nur der allerwenigsten Singles. Wir gewannen vielmehr den Eindruck, daß das Ideal von Liebe und Zweisamkeit auch unter Singles weitgehend ungebrochen ist. Einer konkreten Realisation dieses Ideals wird jedoch von Singles mit weit gemischteren Gefühlen entgegengesehen. Die Ansprüche an eine Partnerbeziehung sind außerordentlich hochgeschraubt.« (Bachmann 1992: 234) Resümiert man die hier zusammenfassend dargelegten Befunde der Singleforschung, so zeigen sich in besonderer Weise die Folgen der genannten definitorischen Probleme. Während einerseits auf Grundlage der Zunahme an Ein-Personen-Haushalten vor allem auch in der Öffentlichkeit die Single-Gesellschaft proklamiert wird, sprechen die Forschungsergebnisse eher für ein differenziertes Arrangement der Lebensentwürfe von Singles, die mehr oder weniger freiwillig gewählt (vgl. u.a. Kern 1998: 262f.) und durch ein hohes Maß an Ambivalenzen gekennzeichnet sind (vgl. Schmidt et al. 2006: 73).

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IV. Das soziale Umfeld von Familien Unter dem sozialen Umfeld von Familien sind familiale und außerfamiliale Netzwerke zu verstehen, die in der Familiensoziologie insbesondere als Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen Bedeutung erlangen. Nicht zuletzt auch die sich durch die Zunahme der Ehescheidungen und die Pluralisierung von Lebensformen ergebenden Optionen lassen die besondere Relevanz dieses Themas erahnen, »denn jede Neukonstruktion von Familie verdoppelt aus der Sicht der Kinder die Elternschaft und steigert exponentiell das Universum der Verwandten« (Hettlage 1992: 196). Das soziale Umfeld ist seit jeher Gegenstand der Familiensoziologie – mit unterschiedlichen Gewichtungen. Während bis in die 1970er Jahre vorwiegend Verwandtschaftsbeziehungen – vor allem auch im Hinblick auf die These der isolierten Kernfamilie – thematisiert wurden, gewannen ab den 1980er Jahren umfassendere Konzepte unter den Stichworten der Netzwerkforschung und der ökologischen Familienforschung zunehmend an Gewicht. Gleichwohl aber blieben die mit dem Konzept der isolierten Kernfamilie und den damit verbundenen Fragen nach familialen Funktionen latente, in viele Themenbereiche der Familiensoziologie ausstrahlende Gegenstände, was insofern nicht verwundert, als Form und Dichte der Außenkontakte immer auch auf die Frage nach den Wirkungszusammenhängen zwischen Gesellschaft und Familie verweisen.

1. Die These der isolierten Kernfamilie Im Zentrum der so genannten »Isolationsthese« stand – wie bereits in Kapitel II/1 ausgeführt – die Auffassung, dass vor allem der in Folge der Emotionalisierung der Familie als Ideal bürgerlicher Familie eingetretene Funktionsverlust (besonders in ökonomischer Hinsicht) des familialen Verbandes dazu führt, den Verpflichtungscharakter zwischen den Generationen bzw. innerhalb der Verwandtschaft zu reduzieren. Die daraus folgende »strukturelle Privatisierung« sei, so Parsons, im Sinne einer De72

institutionalisierung des Verwandtschaftsverbandes als ein der funktionsteilig organisierten, industrialisierten Gesellschaft adäquates System zu verstehen, was u.a. im Konzept der Desintegration bei König eine Entsprechung findet (vgl. Parsons 1943, 1955). Nach König ist der Prozess der Desintegration allerdings weniger als Funktionsverlust denn als Funktionsverlagerung bzw. als Konzentration auf die primären Funktionen der Familie zu verstehen, »indem sie den Aufbau der sozial-kulturellen Einzelpersönlichkeit anbahnt, auf die heute der gesamte Gesellschaftsprozess unwiderruflich gestellt ist« (König 1955: 135). Desintegration fördert zugleich, so König, die binnenfamiliale Desorganisation, indem die soziale Absicherung der Familie durch das verwandtschaftliche, aber auch durch das nachbarschaftliche und örtliche System verloren geht (vgl. König 1946: 94). Auch für Schelsky charakterisiert die familiale Herauslösung aus ihren vormaligen Bezügen wesentlich das Verhältnis zwischen Familie und Gesellschaft in der Moderne. Schelsky allerdings sieht hierin keine Anpassungskrise der Familie an die gesellschaftliche Entwicklung, sondern die Gesellschaft umgekehrt müsse dafür Sorge tragen, dass sie ihre Subsysteme auf die Erfordernisse der Familie ausrichte. Hiermit nimmt Schelsky Bezug auf den institutionellen Charakter von Familie, da sie sich durch ein vergleichsweise hohes Beharrungsvermögen und Kontinuität auszeichnet. Damit tue sich eine zunehmende Ambivalenz zwischen Gesellschaft und Familie auf: »Indem die wesentlichen sozialen Beziehungen, in die der Mensch außerhalb der Familie eintritt, immer bürokratischer, d.h. unübersichtlicher, abstrakter und anonymer werden und jene sozialen Verhältnisse, die in genauer und intimer Kenntnis und Berührung von Mensch zu Mensch und damit aufgrund gesamtpersönlicher Verlässlichkeit im engen Kontakt beruhen, an sozialem Gewicht verlieren, wird der Zwiespalt, der sich im Menschen durch seine Bindung an den intimen Bereich der Familie einerseits und an die abstrakten Zweckorganisationen der Gesellschaft andererseits auftut, immer tiefer. In dieser sozialen Spannung wurzelt das durchgehende Gefühl sozialer Unzufriedenheit und Unsicherheit, das sich allenthalben als modernes Krisengefühl interpretiert.« (Schelsky 1951: 589) 73

Die hier nochmals zusammenfassend angeführten Positionen von König und Schelsky symbolisieren in ihren Grundaussagen eine lange Zeit dominante Sichtweise, die – wenn auch mit unterschiedlichen Folgerungen – eine funktionale Differenzierung zwischen Familie und Gesellschaft konstatiert. Neidhardt folgert, dass die gesellschaftliche Desintegration der Familie »mehr als eine bloß räumliche Distanzierung [sei], nämlich eine auch kulturelle Ausgliederung. Familistische Wertorientierungen finden keine Entsprechung in der Welt der Bürokratie. Dieser Sachverhalt ist für Stellung und Funktion der Familie in der modernen Gesellschaft zentral.« (Neidhardt 1966: 31) Insbesondere der Verlust der Mittlerfunktion des Verwandtschaftssystems zwischen Familie und Gesellschaft beschleunige die Desintegration der Familie, indem die Bindeglieder zwischen den nach unterschiedlichen Leitlinien sich entfaltenden familialen und gesellschaftlichen Bereichen fehlen. Die historische Form der Familie hingegen habe ihre Entsprechung in der Gesellschaft gefunden: Der gesellschaftliche Bereich der Familie war strukturkonform und die Familie galt »als Idealtypus sozialer Beziehungen überhaupt« (ebd.: 25). Diese strukturelle Äquivalenz der familialen und gesellschaftlichen Lebenswelt sei im Verlaufe der Modernisierung verloren gegangen, womit eine begrenzte Umweltoffenheit der Familie, eine Tendenz zur Isolierung und Abgeschlossenheit verbunden ist (vgl. Neidhardt 1976: 14). Unter Zugrundelegung dieser wesentlich durch Erwägungen aus dem Umfeld strukturfunktionalistischer Theorie geleiteten Thesen wurden bereits in den ersten Jahren der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre hinein empirische Untersuchungen durchgeführt, die auf die Frage abstellten, inwieweit eine tatsächliche Entkoppelung familialer Beziehungen zu beobachten sei. Die zentralen Ergebnisse dieser Studien werden im Folgenden exemplarisch für den deutschen Sprachraum zusammengefasst. Überraschend ist zunächst, dass bereits in den 1950er und 1960er Jahren die proklamierte Isolation der Kernfamilie nicht zwingend belegt werden konnte. So gelangt Wurzbacher zu Beginn der 50er Jahre zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Familien Verwandtschaftsbeziehungen pflegen, die als Schnittstelle zum öffentlichen Bereich fungieren und die Dichotomie von Fa74

milie und Gesellschaft überwinden. Der Typus der integrierten Familie dominiere nach wie vor und es zeige sich, »daß es sich nicht nur um konventionelle Überbleibsel handelt, sondern daß sie dazu beitragen, der modernen Kleinfamilie eine mit familialen Werten erfüllte Verklammerung mit der Gesamtgesellschaft zu geben. Sie wirken damit der Tendenz zur teils erfahrenen, teils erstrebten gesellschaftlichen Isolierung der modernen Kleinfamilie entgegen.« (Wurzbacher 1951: 235) Allerdings spricht dies nach Wurzbacher nicht gegen die grundsätzliche Tendenz einer fortschreitenden Herauslösung der Kernfamilie aus verwandtschaftlichen Bezügen, sondern kernfamiliale Eigenständigkeit und Eigenverantwortung setzten sich zunehmend durch und vergrößerten den Abstand zur Verwandtschaft; der kleinfamiliale Egoismus werde lediglich durch die besonderen ökonomischen Belastungen der Nachkriegszeit vorübergehend relativiert. Daher sind, so Wurzbacher später, »Verbundenheit, gegenseitige Anerkennung und Hilfen […] nicht primärer Ausdruck eines öffentlichen Gemeinsinnes, sondern gründen und beziehen sich auf die Individualität und egozentrische Selektivität der jeweiligen Person« (Wurzbacher/Kipp 1968: 35). Die Ergebnisse der von Fröhner et al. durchgeführten ersten Repräsentativerhebung für den deutschen Sprachraum verweisen ebenfalls auf die Familie als ausdifferenziertes, um die Ehe und die Eltern-Kind-Beziehung gruppiertes Bezugssystem. In mehr als drei Viertel der untersuchten Fälle sei der jeweilige Ehepartner engste Vertrauensperson, was dafür spreche, dass »das Binnenleben der Familie relativ unabhängig vom Außenraum, d.h. von den Beziehungen mit Bekannten oder Verwandten« (Fröhner et al. 1956: 65) ist. Gleichwohl halten die Autoren fest, dass damit keine generelle Abnahme von Außenkontakten verbunden ist, sondern sich diese vielfach vom Kreis der Verwandten auf Freundschaften und Bekannte verlagert hat: Die durch Kinder entstehenden Verpflichtungen und die damit verminderten Außenkontakte gehen »in erster Linie zu ungunsten der Verwandtschaftsbeziehungen, aber kaum zu Lasten der Bekanntschaftsverhältnisse« (ebd.: 244), wenngleich die Verwandtschaft nach wie vor ein in schwierigen Zeiten zu reaktivierendes Bezugssystem darstellt. Mithin sehen auch Fröhner et al. in der fortbestehenden 75

Kontaktdichte von Kernfamilie und Verwandtschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Übergangsphänomen. Zu differenzierteren Ergebnissen gelangt von Oppen im Rahmen einer Ende der 1950er Jahre veröffentlichten Studie, welche den Verstädterungsprozess einer Zechengemeinde und dessen Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Familien zum Gegenstand hat. Hiernach lassen sich zunächst drei Entwicklungen beobachten: die »Ausgrenzung des intimsten Bezirkes hinter der verschlossenen Wohnungstür« (von Oppen 1958: 102), die Fokussierung auf die Ebene individueller Außenkontakte statt solcher, welche die Familie als System umfassen, sowie eine Konzentration auf nahe Verwandte. Strukturelle Bindungen weichen, so von Oppen, der Disponibilität von Beziehungen, deren Gelingen davon abhängt, ob ein richtig bemessener Abstand, ein ähnlicher Lebensstil sowie auch die beständige Beziehungspflege und Hilfsbereitschaft vorhanden sind. Vor allem der letzte Aspekt verweist auf die geringe strukturelle Verpflichtung: »Als frei wählbare, jederzeit kündbare, nur begrenzt verpflichtende Chancen persönlicher Begegnung – so zeigen sich die institutionellen Formen, die den privaten Außenbeziehungen der besuchten Familien Stabilität verliehen; und damit standen sie nicht im Widerspruch zu der grundsätzlichen Gespanntheit, der individuellen Differenzierung und der Wandelbarkeit des ›richtig bemessenen Abstandes‹.« (Ebd.: 104) Diese Untersuchungsergebnisse werden bspw. durch Studien aus der gerontologischen Forschung der 1960er und 1970er Jahre bestätigt. Rosenmayr und Köckeis gelangen zu der Feststellung, dass die Beziehungen zwischen den Generationen durch die Gleichzeitigkeit des Wunsches nach Unabhängigkeit und nach Fortführung des familialen Kontaktes bestimmt seien. Dieses mit den Worten Grunows als »Intimität auf Distanz« (Grunow 1985: 148) bezeichnete Phänomen rekurriert auf eine Befragung von Heimstättenbewohnern, die darauf hinweist, dass trotz räumlicher Trennung die Beziehung zu den Kindern aufrechterhalten wird, solange die Entfernungen nicht allzu groß sind (vgl. Rosenmayr/Köckeis 1965: 104ff.). Unterstützend auf die Aufrechterhaltung generationenübergreifender Beziehungen wirkt hierbei vor allem das Vorhandensein von Enkelkindern, womit »ein hö76

heres Ausmaß der Teilhabe in der Rolle der Großeltern […] mit einer positiveren, aufgeschlosseneren Haltung gegenüber anderen Menschen« (Renner 1969: 164) verbunden ist. In diesem Sinne ist die von beiden Generationen angestrebte Distanz eine »Ablösung auf Widerruf« (Rosenmayr/Köckeis 1965: 231f.), die entlang familialer Phasen und spezifischer Ereignisse, wie die Unterstützung bei der Kinderbetreuung in der Familienaufbauphase oder die Pflege bei Krankheit, vorübergehend verlassen werden kann. Hierin ist eine Funktionsverlagerung hin zu »Subsidiär- und Komplementärfunktionen« (Köckeis 1970: 226) zu beobachten, durch die das Fortbestehen der Integration zwischen den Generationen in veränderter Form ermöglicht wird. Auch Tews und Schwägler gelangen zu dem Ergebnis, dass gelingende Beziehungen zwischen Großeltern, Eltern und Enkelkindern durch Freiwilligkeit bestimmt sind und die Integration der Großeltern erleichtert wird, »wenn die Möglichkeit zu zeitlich befristetem Engagement der 3. Generation gegeben ist, wenn diese Beziehung durch möglichst wenige Zwänge gekennzeichnet und durch die Norm gegenseitiger Unabhängigkeit geprägt ist« (Tews/Schwägler 1973: 293f.). Dies korrespondiert damit, dass die Beziehungen zwischen älteren Menschen und ihren Kindern und Enkelkindern weniger einen versorgenden als in erster Linie einen emotionalen Charakter tragen und die Beziehung sich verlagert »von einer Leistungsbasis auf eine Emotionsbasis, bzw. es verschmälert sich die Leistungsbasis bei gleich bleibender Emotionsbasis, wodurch der Eindruck einer Verstärkung der Emotionsbasis entsteht« (Rosenmayr/Köckeis 1965: 117f.). Ursache hierfür ist die zunehmende Bedeutung öffentlicher Sicherungssysteme, welche ein erzwungenes Zusammensein der Generationen hinfällig werden lässt. Die Möglichkeit, aufgrund materieller Eigenständigkeit lokale Distanz herzustellen, ist demnach Voraussetzung für die verstärkte Ausbildung emotionaler Beziehungen zwischen den Generationen. Auch spätere Untersuchungen bestätigen im Grundsatz den Wandel von einer instrumentell-materiellen zu einer emotional geprägten Beziehung zwischen den Generationen, womit »die Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern von einer distan77

ziert-respektvoll-hierarchisch strukturierten zu einer der Freundschaft wurde« (Wilk 1993: 207), die sich durch ein großes gegenseitiges Verständnis auszeichnet. Als wesentliche Voraussetzung für diesen Wandel wird die zunehmende Selbständigkeit der Großelterngeneration angeführt, die verstärkt ein durch Aktivität und soziale Integration gekennzeichnetes Leben führt, was sowohl auf die erfahrene materielle Absicherung, die damit verbundene räumliche Mobilität, als auch auf die bessere Gesundheitsversorgung zurückzuführen ist. Allerdings, so Stosberg, ist bei Älteren eine wachsende Konzentration auf die Familie der Kinder zu beobachten, wenn die eigene Mobilität mit dem Alterungsprozess nachlässt, was die Möglichkeit zur »Intimität auf Distanz« einschränkt (vgl. Stosberg 1995: 187f.). Darüber hinaus seien auch die jeweiligen Kommunikationsbedürfnisse von Großeltern, Eltern und Kindern sehr unterschiedlich. So verfügt die ältere Generation über eine geringere Empathiefähigkeit, erwartet aber gleichzeitig, dass sich Kinder und Enkelkinder auf ihre Kommunikationsbedürfnisse einstellen (vgl. ebd.: 119). Auch Marbach weist Mitte der neunziger Jahre darauf hin, dass Kinder zwar eine bedeutende Rolle für die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Eltern und Großeltern spielen und »als ›Katalysatoren‹ generationsübergreifender Familienbeziehungen« (Marbach 1994: 110) fungieren, jedoch hierbei materielle Motive – vor allem in Form finanzieller Unterstützung durch die Großeltern – im Vordergrund stehen. Uneindeutig sind auch die Ergebnisse im Hinblick darauf, ob die Bereitschaft zur Beziehungspflege grundsätzliche Präferenzen für Kontakte inner- und außerhalb der Familie widerspiegelt oder aber familiäre Kontaktpflege mit außerfamilialen Beziehungen konkurriert (vgl. Lehr/Thomae 1968: 121f.; Reichenwallner 1993: 163; Bien 1994: 24). Interessant erscheinen neue Forschungsergebnisse, die mit Blick auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Großeltern und Enkelkindern indirekte, über die mittlere Generation vermittelte Effekte betonen, die sich bspw. in der Beratung zur Elternrolle spiegeln. Entsprechend fordert Hagestad eine stärkere Fokussierung auf die Betrachtung des Drei-Generationen-Verhältnisses (vgl. Hagestad 2006). Fasst man diese Ergebnisse aus der gerontologischen For78

schung zusammen, tritt einerseits die genannte Gleichzeitigkeit von zunehmender Ablösung der Generationen voneinander bei gleichzeitig wachsender Emotionalisierung, andererseits die familienzyklische Brechung der Kontaktdichte hervor. Die Trennung des emotionalen vom sachlich-materiellen Aspekts der Beziehungen hat demnach zu einer »Lösung von sozialen Zwängen« und zur »Freisetzung individueller Kräfte und Begabungen« (Neidhardt 1966: 29) geführt. Die Erfindung der Moderne, so ließe sich schließen, ist mit gewissen Verzögerungen nicht nur die Emotionalisierung der Ehebeziehungen, sondern aller familialer Beziehungen mit entsprechendem Bedeutungsverlust der materiellen Sicherungsfunktion von Familie. »Intimität auf Distanz« stellt sich hierbei als ein von beiden Generationen forcierter Prozess der zunehmenden kernfamilialen Intimisierung und der Wahrung der Selbständigkeit der Elterngeneration dar. Doch auch hier deuten die vorliegenden Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass der generationenübergreifenden familialen Sicherungsfunktion zumindest temporär ein nach wie vor hoher Stellenwert zukommt. Dies geht konform mit Untersuchungsergebnissen, die eine familienzyklische Variabilität verwandtschaftlicher Unterstützungssysteme konstatieren, indem die Kontakte insbesondere zu den Eltern und Geschwistern mit dem Zusammenzug eines Paares zunächst in den Hintergrund treten (vgl. Marbach/Tölke 1993: 101), die Geburt eines Kindes jedoch zu einer deutlichen Intensivierung der Kontakte zur Elterngeneration und Nachbarschaft bei gleichzeitig nachlassender Beziehungsdichte zu Bekannten und Freunden führt (vgl. Krüger/Rabe-Kleberg 1984: 160; Diewald 1986: 59ff.). Studien aus dem Bereich der Stadtforschung bilden ab Mitte der 1960er Jahre einen zweiten Strang, der sich mit Fragen der Isolation der modernen Kernfamilie empirisch befasst. Die besondere Relevanz, die dem Verhältnis von Verstädterung und Familie beigemessen wird, geht auf frühe Vertreter der Familiensoziologie – wie Riehl – zurück, der in Industrialisierung und Verstädterung die Ursache für Entwurzelung und Vereinzelung und damit für die Bedeutungsabnahme von Verwandtschaft und Nachbarschaft sah (vgl. Riehl 1855). Untersuchungen in den 1960er Jahren relativieren dieses Bild insofern, als trotz räumli79

cher Trennung von Kernfamilie und erweiterter Familie Kontakte und gegenseitige Hilfeleistungen fortbestehen und so genannte »disperse 3-Generationen-Familien« entstehen. Zu beobachten ist eine städtische Mobilität und eine damit verbundene Orientierung an Verwandten und Bekannten auf Kosten der unmittelbaren Nachbarschaft, so dass »anstelle einer nachbarschaftszentrierten Gesellschaft […] eine familienzentrierte« (Pfeil 1965: 12) tritt, die durch Familien geprägt wird, welche nicht an den unmittelbaren lokalen Sozialraum gebunden sind, »sondern lokale und extralokale, urbane Sozialbeziehungen« (ebd.) aufnehmen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Kernfamilien und Verwandtschaft nach Möglichkeit ein räumliches Arrangement wählen, welches das Fortbestehen der verwandtschaftlichen Kontakte begünstigt (vgl. Pfeil/Ganzert 1973: 372). Verwandtschaftliche Beziehungsmuster hängen somit wesentlich davon ab, inwieweit eine hinreichende räumliche Erreichbarkeit gegeben ist und ob die durch die Aufrechterhaltung des Verwandtenkontaktes erhofften gegenseitigen Gewinne höher sind als die perzipierten Kosten (vgl. Marbach 1994: 102ff.). Allerdings bleibt auf Grundlage der empirischen Ergebnisse strittig, inwiefern Nachbarschaft tatsächlich an Bedeutung verliert oder aber eine veränderte Funktion einnimmt (vgl. Wurzbacher/Kipp 1968: 13; Pfeil 1970: 158). Unabhängig hiervon ist jedoch zu resümieren, dass »die Verwandtschaftsnetze wesentlich dichter sind, als dies die Haushaltsstatistik und die darauf aufbauenden Interpretationen zeigen können« (Bien 1994: 9), da diese nicht die vielfältigen sozialen Verflechtungen ausweisen. Im Einklang mit diesen Ergebnissen vertraten Lüschen und Lupri bereits zu Beginn der 1970er Jahre die Auffassung, dass »Familie und Verwandtschaft im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung in ihren Interaktionsmustern stabil sein werden und Mechanismen entwickeln, um sich an die veränderten Bedingungen der Gesellschaft anzupassen« (Lüschen/Lupri 1970: 279). Hierbei komme in modernen Gesellschaften Familienritualen, neuen Kommunikationstechnologien und der erhöhten räumlichen Mobilität besondere Bedeutung für die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen zu (vgl. Schwägler 1970: 160f.; Marbach 1994: 97). Darüber hinaus ist eine zunehmende Selektion der 80

Kontakte auch innerhalb der Verwandtschaft zu beobachten, die eine Präferenz für Kontakte mit Verwandten nahe legt, die ähnliche Merkmale – wie Alter und Beruf – aufweisen, was wiederum auf den zunehmend fakultativen Charakter von Verwandtschaftsbeziehungen verweist. Die im Rahmen dieser Studien nachzuweisende hohe verwandtschaftliche Kontaktdichte findet eine Entsprechung in dem bereits Mitte der 1960er Jahre durch Litwak vertretenen Konzept der »Extended family« (vgl. Litwak 1965; wie auch die Kritik am Konzept der isolierten Kernfamilien bei Young/Willmott 1957), das die räumliche Trennung bei gleichzeitigem Erhalt verwandtschaftlicher Kontakte beschreibt. Hieraus wurde auch gefolgert, dass die These der isolierten Kernfamilie nicht haltbar ist. Diese Folgerung ist allerdings insofern umstritten, als sie auf die Quantität der Kontakte, nicht aber auf ihren Institutionalisierungsgrad abstellt. Der Nachweis fortbestehender Beziehungen zwischen den Generationen bietet demnach keine hinreichenden Belege dafür, ob die Kernfamilie als ausdifferenziertes System verstanden werden kann, das auf struktureller Ebene isoliert ist, womit dem modellartigen Charakter der These der isolierten Kernfamilie zu wenig Bedeutung geschenkt wird (vgl. Tyrell 1976: 408ff.; Diaz-Bone 1997: 89f.). Auch bei Fortbestehen der Verwandtschafts- und Nachbarschaftskontakte kann demnach von einer isolierten Kernfamilie gesprochen werden, da diese Kontakte nicht in einer vermittelnden Form zu anderen Subsystemen auftreten. »Statt dessen gibt es nur noch einzelne Familien, die mit einigen anderen mehr oder weniger stabile und intensive Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen unterhalten, die also in ›private‹ Beziehungsnetze eingebunden sind, für die als solche konstitutiv ist, daß sie weder scharf markierte Systemgrenzen haben noch institutionellen Charakters sind.« (Tyrell 1979: 53) Für diese Auffassung spricht vor allem auch der nachlassende Verpflichtungscharakter der verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Sozialbeziehungen. In diesem Sinne können die zuvor dargelegten empirischen Ergebnisse der auf Emotionalität und »Wahlverwandtschaft« gründenden Sozialräume auch geradezu als Beleg für die strukturelle Isolation der Kernfamilie herangezogen werden. 81

Tyrell definiert die so verstandene Isolation der Kernfamilie durch die Begriffe der »relativen Autonomie«, der »funktionalen Spezialisierung« und der »thematischen Reinigung«. Während »relative Autonomie« auf die weitgehende Abschirmung des familialen Systems gegenüber den Interventionsformen anderer gesellschaftlicher Bereiche verweist, beschreibt »funktionale Spezialisierung« die Konzentration auf wenige, von der Familie getragene gesellschaftliche Funktionen, insbesondere den Verlust der ökonomischen und politisch-herrschaftlichen Funktionen. »Thematische Reinigung« schließlich bedeutet, dass die Reduktion auf spezifische Funktionen auch die Inhalte der Interaktionsund Kommunikationsprozesse neu definiert (vgl. Tyrell 1976: 396f.). »Funktionale Spezialisierung« bedeutet mithin zweierlei: Zum einen besetzt die Familie exklusiv Themen, zum anderen wächst damit ihre Abhängigkeit von anderen gesellschaftlichen Bereichen, da sie von zentralen ökonomischen und politischen Prozessen ausgeschlossen ist, womit »gesteigerte Autonomie und funktionale Spezialisierung […] notwendig zusammen mit gesteigerter Interdependenz und funktionaler Verflechtung« gehen (Tyrell 1979: 29). So gesehen folgt aus der strukturellen Ausdifferenzierung der Kernfamilie aus weiteren gesellschaftlichen Bezügen zugleich die Notwendigkeit, sich im alltäglichen Handeln anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu öffnen, da Familien »in gestiegenem Maße auf Leistungen, ›Ressourcen‹ aus ihrer Umwelt […] angewiesen sind, die sie selbst nicht (mehr) erzeugen, um die ihnen gesellschaftlich angesonnene Leistung der Erziehung von Kindern erbringen zu können« (Strohmeier 1983: 30). Eine solche Perspektive – die mit anderen Prämissen auch von der marxistischen Kritik eingenommen wurde (vgl. Rosenbaum 1973: 39; Henkel 1979: 95; Rauh 1990) – wendet sich gegen die Auffassung einer zunehmenden Dichotomie zwischen privatem und öffentlichem Bereich, die noch in den Arbeiten von Mayntz – mit der Gegenläufigkeit individueller Unabhängigkeit und struktureller Abhängigkeit (Mayntz 1955: 13) – sowie von Schelsky vertreten wurde. Trotz dieser Konsistenz der Argumentation ist allerdings auch Lüschen zu folgen, der mit Blick auf die empirische Operationali82

sierung kritisiert, dass der Verwandtschaftsbegriff innerhalb der systemtheoretischen Perspektive nicht klar umrissen ist (Lüschen 1989: 438), was zu einer gewissen Immunisierung der Isolationsthese gegenüber empirischen Befunden führt. Mit Blick auf die empirische Überprüfung ist zudem zu hinterfragen, ob die für die These der isolierten Kernfamilie unterstellten historischen Prämissen eines integrierenden, durch verwandtschaftliche Beziehungen geprägten Lebensraums aufrechtzuerhalten sind. Die Ergebnisse der historischen Familienforschung bestätigen dies nicht. Unabhängig von der Frage der Akzentuierung der Interdependenzen zwischen Familie und Gesellschaft weisen die Ansätze zur Isolation der Kernfamilie, so lässt sich zusammenfassend folgern, auf theoretischer Ebene einen zentralen Argumentationsstrang auf, der die Desintegration als einen aus der Ausdifferenzierung häuslicher und außerhäuslicher Arbeit, der damit einhergehenden Kontraktion auf die Kernfamilie und dem gleichzeitigen Funktionsverlust bzw. -wandel des familialen Systems resultierenden Prozess beschreibt. Konträr bleiben dabei die Einschätzung des Verhältnisses zwischen öffentlichem und privatem Raum und die Folgen für die Handlungsebene der Familie.

2. Familiale Netzwerke Das Konzept sozialer Netzwerke wurde von Elizabeth Bott bereits in den 1950er Jahren in die Familiensoziologie eingeführt (Bott 1957). Es schließt inhaltlich zwar grundsätzlich an die These der isolierten Kernfamilie an, bildet aber einen eigenständigen Diskurs in der Familiensoziologie aus. In den vorwiegend im angloamerikanischen Raum entwickelten Ansätzen lässt sich differenzieren zwischen strukturellen Aspekten, die sich auf die Erreichbarkeit, die Dichte und Größe des Netzwerkes beziehen, und interaktionalen Aspekten, die auf Dauerhaftigkeit, Häufigkeit, Intensität und Gehalt der Beziehungen abstellen (vgl. Mitchell 1969; Boissevain 1974; Kaufmann et al. 1989). Daneben unterscheidet die Netzwerkforschung zwischen formalen und informellen Netzwerken: Während formale Netzwerke einen hohen 83

Institutionalisierungsgrad – bspw. in Form gesetzlicher Sicherungssysteme – aufweisen, stellen informelle Netzwerke auf private Hilfe- und Unterstützungssysteme ab. Beide Arten von Netzwerken werden häufig als komplementär verstanden, indem die Zunahme formaler zur Abnahme informeller Netzwerke führt und umgekehrt. Dieser Ansatz würde im Sinne differenzierungstheoretischer Annahmen die These der isolierten Kernfamilie unterstützen. Eine Verstärkung staatlicher Sicherungssysteme führt hiernach dazu, dass im Sinne der Isolationsthese der Verpflichtungscharakter der familialen Solidargemeinschaft an Bedeutung verliert und »die sprunghaft angewachsene Verstaatlichung der Schutz- und Sicherheitsfunktionen […] die Abhängigkeit der Menschen von ihren persönlichen Beziehungsnetzen verwischt« (Schubert 1990: 6). Gleichzeitig wäre zu erwarten, dass in Zeiten ökonomischer Krisen und einer sich daraus ergebenden Schwächung staatlicher Sozialsysteme informelle Netzwerke an Bedeutung gewinnen und familiale Unterstützungssysteme reaktiviert werden. Zumindest mit Blick auf das bspw. in den 1980er und 1990er Jahren gewachsene politische und wissenschaftliche Interesse an diesen Fragestellungen erscheint eine solche These plausibel. In der Familiensoziologie schließen empirische Untersuchungen zu sozialen Netzwerken an die Frage der Desintegration der Kernfamilie an; sie gehen allerdings insofern darüber hinaus, als sie vor allem auf den Unterstützungscharakter sozialer Beziehungen fokussieren. Entsprechend werden primär informelle Netzwerke empirisch in den Blick genommen, wobei uneinheitlich interpretiert wird, ob die Familie als Gruppe oder einzelne Familienmitglieder der Bezugspunkt des Netzwerkes sind (vgl. Borchers/Miera 1993: 22f.). Im Mittelpunkt stehen hierbei so genannte egozentrierte Netzwerke, die einem Spinnennetz gleich das Netzwerk von einer Person bzw. einer Gruppe aus denken, so dass »in der Forschung nur selten das untereinander verknüpfte ›Netz‹ von Beziehungen Untersuchungsgegenstand ist, sondern nur die vom Netzwerkmittelpunkt ausgehenden Beziehungen erhoben werden« (Gräbe 1989: 23). Betrachtet man die zentralen empirischen Untersuchungsergebnisse zur Struktur von Netzwerken, so sind diese zunächst 84

wenig überraschend. Nach einer Studie von Schubert zeigt sich auf die Frage, welcher Personenkreis als verlässlich wahrgenommen wird bei der Suche nach Unterstützung, dass zwei Fünftel den Ehepartner und als weitere Optionen in absteigender Reihen folge die eigenen Kinder und Schwiegerkinder, Eltern und Schwiegereltern, Geschwister sowie andere Verwandte und Freunde angeben, womit primär auf Verwandte ersten Grades rekurriert wird (vgl. Schubert 1990: 57). Differenziert man diese Ergebnisse nach den jeweiligen Unterstützungsleistungen, so ist ersichtlich, dass diese Unterschiede in erster Linie für Pflegeleistungen sowie alltägliche Unterstützung in Form von Einkäufen und Hilfen im Haushalt gelten. Persönliche Kontakte und psychische Unterstützungsleistungen streuen hingegen über die unterschiedlichen Verkehrskreise und werden verstärkt im Nachbarschafts- und Freundeskreis gesucht (vgl. ebd.: 65, 76). Diese Ergebnisse gehen konform mit der in anderen Studien belegten großen Bedeutung der nahen Verwandtschaft als Unterstützungsnetz. Gleichzeitig weisen sie auf eine notwendige Differenzierung nach Art der Hilfeleistungen hin, die bspw. an dem Resümee Hettlages, die engere Verwandtschaft stelle sowohl in instrumenteller als auch in emotionaler Hinsicht das wichtigste Beziehungssystem dar, zweifeln lässt (vgl. Hettlage 1992: 198), da die Emotionalität der Sozialkontakte ganz offensichtlich über Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundeskreis in ihrer Qualität als auch in ihrer Bedeutung streut. Wenn auch die Emotionalisierung der Kernfamilie ein wichtiges Moment der Moderne ist, so sind zugleich die Optionen für von der Familie unabhängige, individuelle Außenkontakte gewachsen (vgl. Hebenstreit-Müller 1991: 42f.). Die Qualität bzw. Intensität der Kontakte gewinnt damit im Vergleich zu den Untersuchungen der 1960er und 1970er Jahre an Bedeutung. Erst die Qualität der familialen Außenbeziehungen, so die Perspektive der Netzwerkforschung, lässt darauf schließen, inwieweit sich das familiale System durch die Wählbarkeit der Außenkontakte bei gleichzeitig nachlassender Verpflichtung der sozialen Beziehungen charakterisieren lässt. Die Untersuchungsergebnisse bei Schubert deuten darauf hin, dass Unterstützungsleistungen in erster Linie vom jeweiligen Partner erwartet werden. Zwar lassen sich auch zur weiteren 85

Verwandtschaft, Nachbarschaft und in den Freundeskreis hinein vielfältige Kontakte beobachten, die aber deutlich unverbindlicher sind und in diesem Sinne auch im Hinblick auf das Unterstützungssystem als weniger verpflichtend wahrgenommen werden. Die Bindung zwischen direkt aufeinander folgenden Generationen hingegen ist wiederum ungebrochen eng, so dass davon ausgegangen werden kann, dass kongruente Verpflichtungssysteme jenseits institutioneller Vorgaben entstanden sind, die das strukturelle Moment kernfamilialer Außenbeziehungen ersetzen. Hierfür sprechen unter anderem auch die Untersuchungsergebnisse Biens, der auch bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Alleinerziehenden und Alleinlebenden eine nach wie vor überragende Bedeutung des unmittelbaren Verwandtschaftssystems resümiert: »Schaut man sich die Personen, die unter die entsprechenden Haushaltskategorien fallen, näher an, so zeigt sich, daß eine Einbindung ins Verwandtennetz über kurze Wohnentfernungen, hohe Kommunikationsdichte, Nutzung der Verwandtenkontakte für relevante Bereiche des Alltags auch in diesen ›postmodernen‹ Lebensformen nachweisbar ist.« (Bien 1994: 14) Diese Ergebnisse lassen sich tendenziell für ganz Europa bestätigen, wenngleich ein Nord-Süd-Gefälle in der Art zu beobachten ist: Die Bereitschaft zur Unterstützung zwischen den Generationen ist in den nordeuropäischen Ländern trotz besser ausgebauter sozialer Sicherungssysteme größer. In südeuropäischen Ländern wiederum ist zwar die Häufigkeit der Unterstützung geringer, dafür aber die Intensität aufgrund schwächer ausgebauter öffentlicher Unterstützungsleistungen höher (vgl. Brandt/Szydlik 2008). Prägend sei für verwandtschaftliche Unterstützungssysteme insbesondere auch der hohe Selbstverpflichtungscharakter, der im Vergleich zu anderen Hilfeoptionen weniger stark auf dem Prinzip unmittelbarer Reziprozität aufbaut und kaum auf persönliche Nutzenmaximierung abzielt (vgl. Alt 1994: 221f.). Während das Hilfesystem der engeren Verwandtschaft zwischen den Generationen als ausgeglichen empfunden wird, lässt sich diese Bilanzierung für andere Unterstützungsleistungen offensichtlich deutlich schwieriger aufrechterhalten. Tragend sei hierbei die Angst, ein unausgewogenes Tauschverhältnis bzw. empfundene Verpflichtungen einzugehen, die man selbst nicht ausgleichen kann. 86

Das Annehmen von Hilfeleistungen von Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen werde daher häufig als Belastung empfunden, was dazu führt, dass eine entsprechende Unterstützung abgelehnt wird (vgl. Borchers/Miera 1993: 49f.). Nach Lüscher verweist der hier skizzierte Fortbestand der Unterstützungssysteme auf Ebene der Verwandtschaft ersten Grades auf jene »für ›postmoderne‹ Lebens- und Gesellschaftsformen kennzeichnenden Ambivalenzen und Widersprüche« (Lüscher 1993: 44), die an den Schnittstellen zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit entstehen und den latenten Konflikt um Kontrolle und Unabhängigkeit zwischen den Generationen beschreiben (vgl. Lüscher/Pillemer 1996: 26). Der zuvor beschriebene Effekt der Nichtinanspruchnahme von Unterstützungsangeboten außerhalb der näheren Verwandtschaft verweist auf einen Aspekt der Netzwerkforschung, der erst in den 1990er Jahren häufiger thematisiert wird, indem der positiven Bewertung sozialer Netzwerke die möglichen Konflikte, Belastungen und Ambivalenzen gegenübergestellt werden. Neben den Verpflichtungen, die aus Netzwerken resultieren, und den zeitlichen Belastungen zur Pflege der Netzwerke (vgl. ebd.: 30ff.; Schneider 1994: 156) ist es vor allem die enorme Belastung der so genannten »Sandwich-Generation«, welche für die Beziehungen zwischen Familiengenerationen prägend ist. Kennzeichnend für die Situation dieser Generation ist nicht nur die Versorgung der eigenen Eltern, sondern auch das immer längere Verbleiben der Kinder im Haushalt, was auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen ist. Zum einen ist, so Vaskovics, vielfach eine fehlende ausreichende finanzielle Versorgung der jüngeren Generation zu beobachten, was zu einer fortbestehenden Abhängigkeit und dem Verbleib im Elternhaus, damit aber auch zu einer Fortschreibung der Versorgung durch die Elterngeneration führt (vgl. Vaskovics 1993: 190f.). Neben diesen ökonomischen Aspekten lassen sich allerdings auch andere Gründe anführen – wie die zunehmende Differenzierung zwischen Partnerschaft und gemeinsamer Haushaltsgründung bei jungen Paaren –, die zum Verbleib junger Erwachsener in der Herkunftsfamilie beiträgt (vgl. Härtl 1996: 87; Zinnecker et al. 1996: 304). Die Leistungen der Eltern sind hierbei nicht nur materieller Art, 87

sondern schließen bspw. häufig auch die Betreuung der Enkelkinder mit ein (vgl. Wald 1993: 258; Templeton/Bauereiss 1994: 266). Allerdings zeigen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse auf Grundlage der Allbus-Daten sowie des Wohlfahrtssurveys auch, dass die unterstellte Einseitigkeit dieser Beziehungen weniger stark ausgeprägt ist und die Bilanz zwischen der mittleren und jüngeren Generation in Hinblick auf alltägliche Unterstützungsformen als ausgeglichen erlebt wird (vgl. Kißler/KellerEbert 1994: 88). Dementgegen gestaltet sich die Bilanz zwischen mittlerer und älterer Generation deutlich weniger ausgeglichen, wobei häufig vor allem die Art der Unterstützung als belastend empfunden wird. So »erweisen sich bestimmte Leistungen als besonders belastend, und zwar vor allem pflegerische Tätigkeiten, wie sie auch für jüngere oder Gleichaltrige erbracht werden (beispielsweise Hilfe bei schweren Arbeiten, Besuche, Trost bei Kummer). Die in der Sandwich-Situation Lebenden sind diejenigen, die zwar nicht in allen Bereichen überdurchschnittlich viel Hilfe leisten, aber die Betreuung Kranker oder Behinderter wird von ihnen in besonderem Maße geleistet, und gerade dies ist, wie sich hier zeigt, für viele mit seelischen wie auch körperlichen Belastungen verbunden.« (Borchers/Miera 1993: 124) Diese zentrale Stellung der mittleren Generation im Hilfs- und Unterstützungsnetzwerk von Familien gewinnt insofern besondere Relevanz, als die längere Lebenserwartung und die »Überalterung« der Gesellschaft, verbunden mit einem hohen Anteil derjenigen, die zu Hause gepflegt werden, langfristige Unterstützungsverhältnisse konstituiert, die »sowohl für Kinder wie für Eltern ein Tabu [ist], das auf beiden Seiten Ängste hervorruft« (Schütze 1989: 97). Entsprechend der nach wie vor relevanten »klassischen« geschlechtsspezifischen Rollenmuster in Familien lässt sich feststellen, dass es vorwiegend Frauen sind, welche Unterstützung im Verwandtschaftssystem leisten. Dies gilt nicht nur für die mittlere, sondern für alle Generationen (vgl. Schütze 1993: 295). So werden Enkelkinder primär von den Großmüttern betreut (vgl. Templeton/Bauereiss 1994: 265), und es sind vor allem die Frauen der mittleren Generation, die der Doppelbelastung durch die 88

Pflege ihrer Eltern und Schwiegereltern und durch die Unterstützung der eigenen Kinder ausgesetzt sind. Für die mittlere Generation führt dies in der Regel zu Konflikten mit beruflichen Ambitionen, die insbesondere von Frauen als belastend empfunden werden, die erwerbstätig sind, einen hohen Bildungsabschluss haben, jedoch über ein Einkommen verfügen, das keine Ersatzbetreuung zulässt. Unabhängig von dieser konkreten Belastungssituation, so die Ergebnisse der Netzwerkforschung, hält das familiale Umfeld jedoch an den Betreuungserwartungen fest. Diese Ergebnisse finden ihre Entsprechung in einem geschlechtsspezifisch variierenden Zugang zu Verwandtschaft und Familie. Während Männer hauptsächlich auf die Partnerschaft fokussieren, ist bei Frauen »eine stärkere Orientierung auf ihr Netzwerk als ganzes« (Neyer 1994: 75) zu beobachten, was auch darin seinen Ausdruck findet, dass Frauen im Hinblick auf ihre Außenkontakte insgesamt stärker verwandtschaftlich ausgerichtet sind, Männer hingegen eher Sozialbeziehungen zu Freunden und Bekannten pflegen (vgl. Schneider 1970: 452; Marbach/Mayr-Kleffl 1985: 148). Allerdings bedürfen diese Ergebnisse der Differenzierung, da neue Untersuchungen darauf hinweisen, dass bspw. die Kontakte von Frauen zu Freunden häufiger sind als bei Männern, die wiederum ihr soziales Bezugssystem wesentlich auch im Arbeitsbereich finden (vgl. Pointner/Baumann 1990: 18f.). Wenngleich mit den zuvor beschriebenen Ergebnissen auch interessante empirische Impulse für die Familienforschung gegeben wurden, so zeigt sich dennoch, dass der umfassendere Ansatz der Netzwerkforschung bislang wenig Berücksichtigung findet. So ist es bislang eher die Darstellung von Einzelbefunden als eine Verbindung von Modellüberlegung und empirischen Arbeiten, die überwiegt. In diesem Zusammenhang ist das von Otto und Bauer herausgegebene zweibändige Werk »Mit Netzwerken professionell zusammenarbeiten« von besonderem Interesse, dessen Anlage eine stärkere Einbindung von allgemeiner Netzwerkforschung und Forschungen zu spezifischen Feldern – hierunter auch das der Familienforschung – bietet (vgl. Otto/Bauer 2005). Darüber hinaus zeigen die Untersuchungen zu sozialen Netzwerken wie auch zur Isolation der Kernfamilie eine starke Fokus89

sierung auf verwandtschaftliche Kontakte, während Freundschafts-, Nachbarschafts- und Arbeitsbeziehungen häufig nur als kontrastierender Hintergrund Beachtung finden. Nicht zuletzt unter der Perspektive, dass für junge Paare Freundschaftsbeziehungen eine weiter zunehmende Bedeutung haben, erscheint die Betrachtung außerfamilialer Sozialbeziehungen von Interesse. Nachbarschaftsbeziehungen gelangten vor allem in den 1970er Jahren vorübergehend in den Fokus der Familiensoziologie, werden in der Gegenwart jedoch eher im Rahmen sozialarbeiterischer Ansätze denn als familiensoziologisch relevante Kategorie behandelt. Arbeitsbeziehungen hingegen waren bislang nur am Rande Thema der Familiensoziologie, was der nach wie vor zu beobachtenden (auch wissenschaftlichen) Dichotomie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit entspricht. Mit Blick auf Freundschaften im Kontext familialer Beziehungsnetze gibt es vereinzelte Arbeiten, die insbesondere die Differenzierung zwischen Familie und Freundschaft analysieren (vgl. Nötzold-Linden 1997; Schütze/Wagner 1995: 309ff.), ohne dass allerdings auf die Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Beziehungsformen und damit auf das soziale Netzwerk als Ganzes rekurriert wird.

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V. Geschlechterbeziehungen und Familie Geschlechterbeziehungen in der Familie werden in der Familiensoziologie unterschiedlich wahrgenommen und thematisiert, wobei insgesamt überrascht, dass Intimität, Liebe und Sexualität zwar für Paarbeziehungen als konstitutiv gesehen, jedoch in der Forschung weitgehend ausgeblendet werden. Geschlechterbeziehungen werden hingegen in erster Linie als konflikthaftes Arrangement von Rollen und Aufgaben thematisiert. Im Vordergrund stehen hierbei Diskurse, die sich mit den Entscheidungsprozessen innerhalb von Beziehungen, mit Fragen der Partizipation am Berufsleben und damit verbunden mit der innerfamilialen Arbeitsteilung befassen.

1. Eheliche Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse Eheliche Machtverhältnisse werden nicht nur im Kontext feministischer Theorie lange Zeit unter dem Begriff des Patriarchalismus diskutiert. In den 1950er Jahren werden eheliche Beziehungen wesentlich im Hinblick auf die Frage erörtert, ob und inwieweit eine Verlagerung bzw. Neudefinition ehelicher Machtverhältnisse zu beobachten sei. Im Mittelpunkt dieser in Deutschland im Zeichen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus stehenden Studien finden sich allerdings nicht nur eheliche Machtbeziehungen, sondern Autoritätsstrukturen insgesamt (vgl. Horkheimer et al. 1936; Rodnick 1948; Schaffner 1948). Leitend für empirische Untersuchungen und Abhandlungen zu ehelichen Machtverhältnissen war die These, dass sich eine Entwicklung vom Patriarchat zur Partnerschaft beobachten lasse (vgl. Burgess/Locke 1945). So gelangt Gerhard Wurzbacher zu dem Ergebnis, dass bei der Mehrzahl der Familien ein Leitbild der Gleichrangigkeit zu beobachten ist. Gleichzeitig konstatiert er, dass patriarchal verfasste Familien eine sichtbar höhere Stabilität aufweisen, was auf die Eindeutigkeit der Entscheidungsstruktur zurückzuführen sei (Wurzbacher 1951: 91). Diese These findet im Zusammenhang mit den Erklärungen der Zunahme von Ehescheidungen im 91

Rahmen der Individualisierungsthese eine Entsprechung, indem die Offenheit und damit geringe Institutionalisierung familialer Rollenzuschreibungen Beziehungen zur steten Aushandlung der ehelichen Wirklichkeit verpflichtet: »Mit fortschreitender Modernisierung vermehren sich auch in der Familie die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge. Alles muß nun erörtert, gerechtfertigt, in seinen Folgen durchdacht werden – mit dem Effekt: Bislang Selbstverständliches verwandelt sich in Konfliktquellen; die Institution Familie zerfällt in die grundsätzlichen Lagen von Frauen und Männern.« (Beck 1987: 46) Die Parallelität der konkurrierenden Leitbilder des Patriarchalismus und der Gleichrangigkeit zwischen den Ehepartnern ist insbesondere als Cultural lag bzw. als Anpassungskrise der Partner an die Moderne interpretiert worden, die als »Entwickelungshemmung des Mannes« (Wurzbacher 1951: 114) bzw. mit dem Begriff des »Sekundär-Patriarchalismus« (vgl. König 1951: 240) bezeichnet wurde. Hiermit sind die Unterschiede zwischen sich verändernden Strukturen und sich erst allmählich anpassenden Einstellungen und Verhaltensweisen umschrieben, die auch in späteren familiensoziologischen Arbeiten als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (vgl. Beck-Gernsheim 1988: 87; Gerhard 1991: 426ff.) immer wieder als kennzeichnendes Phänomen für die Entwicklung und Ausgestaltung von Familie angeführt wird. Allerdings zeigen vergleichende Untersuchungen in den 1960er Jahren, dass im interkulturellen Vergleich zum Teil deutliche Unterschiede zwischen Einstellungen und Verhalten zu beobachten sind. So ist bspw. bei einem Vergleich von US-amerikanischen und deutschen Familien zu beobachten, dass das Verhalten ähnlich, die Einstellungen zu Fragen der Gleichrangigkeit zwischen Mann und Frau allerdings variieren (vgl. Heckmann 1968: 395). Diese Differenzierung zwischen Verhaltens- und Einstellungsebene wird auch in späteren Arbeiten konstatiert, so dass die vorzufindende Struktur der Familie nicht zwingend eine Entsprechung auf Ebene der Einstellungen nach sich zieht. »Die strukturelle Reproduktion der traditionellen Familie ist dann gewährleistet, wenn Männer und Frauen mehrheitlich die ihnen gesellschaftlich zugewiesenen familiären Rollen übernehmen. Strukturelle Reproduktion impliziert allerdings noch nicht, dass die Fa92

milie auch kulturell reproduziert wird, d.h. dass ihre spezifischen Merkmale gleichzeitig als selbstverständlich und als legitim betrachtet werden.« (Heintz/Obrecht 1980: 448) Unbestritten hingegen ist der enge Zusammenhang zwischen Industrialisierung, der Veränderung ökonomischer Verhältnisse und zunehmender Gleichberechtigung. Die Familie gehe auch hier mit der Gesellschaft, was der These, die Ausbildung des Nationalsozialismus in Deutschland habe insbesondere seine Wurzeln in einer autoritativen Familienverfassung, widerspricht (vgl. Lupri 1965: 66f.). Auch die Ergebnisse zu schichtspezifischen Differenzen im Hinblick auf die Autoritätsverhältnisse innerhalb der Familie, wie sie bereits in der Nachkriegszeit resümiert werden, finden in der Familienforschung späterer Jahre – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – weitgehend Zustimmung. So ist nach König das Fortbestehen patriarchaler Strukturen lediglich noch in der Oberschicht latent (vgl. König 1957: 230) und es wird insgesamt unterstellt, dass die Anerkennung der Autorität des Mannes größer sei, »je höher der Rang des Vaters in der Gesellschaft, je autonomer (z.B. durch eigenen Besitz an Produktionsmitteln) seine allgemeine soziale Stellung und je größer die materiellen und immateriellen Vorteile, die er seiner Familie deshalb verschaffen kann«, sind (Neidhardt 1966: 46). Die geringere soziale Anerkennung des Mannes in Unterschichtfamilien führe hingegen dazu, dass seine Machtposition nur dadurch aufrechterhalten werden kann, indem er seine physische Überlegenheit ausnutzt (vgl. Baumert/Hünniger 1954: 150). In der Nachkriegszeit sind, abgesehen von dem fortschreitenden Prozess der Modernisierung, durch die Kriegsgefangenschaft vieler Männer und die Übernahme der Ernährerfunktion durch die Frau nochmals besondere Bedingungen gegeben, welche die Partnerbeziehung nach Rückkehr der Männer prägen. Ein partnerschaftliches, gleichrangiges Verhältnis, das »zunächst unter dem ersten Eindruck der Kriegs- und Nachkriegsjahre und dem Drang nach fortschrittlichen Veränderungen grundsätzlich anerkannt und garantiert werden sollte« (Baumert/Hünniger 134f.), verliert in den 1950er Jahren zunehmend an Akzeptanz. Die damit verbundenen restaurativen Tendenzen finden im familiensoziologischen Diskurs insofern eine Entsprechung, als sie zu einer 93

Relativierung der These führen, dass sich Familien von einer patriarchalen hin zu einer partnerschaftlichen Struktur bewegen. Nicht zuletzt im Zeichen der an Bedeutung gewinnenden feministischen Kritik reifen Überlegungen, wonach die Machtverhältnisse nach wie vor ungebrochen und lediglich auf andere Handlungsfelder verlagert worden seien (vgl. Hinze/Knospe 1960; Pieper/Pieper 1975). Entgegen dem noch von Schelsky vertretenen Ansatz einer Dichotomie von öffentlichem und privatem Raum, durch den einer natürlichen Autorität »als ein unaufgebbares Kennzeichen der intimen, privaten Gruppe« (Schelsky 1953a: 666) abstrakte »Herrschaftsformen der unverhüllt und durchgängig bürokratisierten Gesellschaft« (Schelsky 1953: 327) gegenüberstehen, sei davon auszugehen, so Held, dass geschlechtsspezifische und gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen eng miteinander verwoben sind: Diese Verbindung zwischen gesellschaftlichen Strukturen und familialen Machtverhältnissen werde insbesondere über die Statusposition der Partner und deren gesellschaftlicher Bewertung hergestellt (Held 1978: 80). Eheliche Machtstrukturen werden mithin als kontinuierliche Universalie gefasst, bei der weniger die Frage, ob, als vielmehr jene, in welchem Ausmaß und in welchen Formen sie vorhanden sind, erkenntnisleitend sei. Ausgehend davon, dass Geschlechtsunterschiede sich bspw. in einer geringeren Flexibilität der Frau aufgrund der Geburt von Kindern oder in der körperlichen Überlegenheit des Mannes niederschlagen, kommt es letztlich darauf an, in welcher Weise die jeweiligen Fähigkeiten gesellschaftlich bewertet bzw. sanktioniert werden. Damit ist »die in der Ehe institutionalisierte geschlechtsspezifische Machtverteilung als Ergebnis einer Verflechtung zu begreifen, in der unterschiedliche Macht- und Ausscheidungskämpfe auf einer vorgefundenen gesellschaftlichen Stufe der Zivilisation spezifisch ausgetragen wurden« (Ernst 1996: 182). Dies bedeutet eine historische und sozialkulturelle Dynamik zwischen unterschiedlichen Machtdimensionen, die nicht nur in der Schichtzugehörigkeit, sondern in der direkten oder indirekten Partizipation an unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und deren sozialer Bewertung verankert ist. Hierauf wird im Kontext mit Fragen der Konflikthaftigkeit von Arbeitswelt und Familie eingegangen. 94

Denkt man den zuvor skizzierten Ansatz zu Ende, dass eheliche Macht stets mit der Frage kultureller Muster und Wertungen und damit mit der Frage nach der Legitimität von Handlungen verbunden ist, erscheint es konsequent, den Zusammenhang zu Formen ehelicher und familialer Gewalt herzustellen. Dieses bis heute in seinen unterschiedlichen Facetten tabuisierte Thema gewinnt zumeist an öffentlicher Relevanz, wenn es sich um Gewalt gegen Kinder mit schwerwiegenden Folgen handelt. Eheliche Gewalt als Ausdruck spezifischer Machtbeziehungen ist hingegen ein in der Familienforschung nach wie vor vernachlässigtes Themenfeld und die »Sozialwissenschaft ist mit familialer Gewalt erst spät in Berührung gekommen. Das Thema wurde ihr von außen angetragen. Wenn man überhaupt von einer ›Entdeckung‹ familialer Gewalt sprechen will, dann hat sich diese Entdeckung außerwissenschaftlich vollzogen, und zwar als philanthropische und politische Bewegung.« (Wahl et al. 1985: 401) Kennzeichnend für die Beschäftigung mit ehelicher oder familialer Gewalt sind schwierige Definitions- und Abgrenzungsprobleme, die sowohl in der öffentlichen als auch der wissenschaftlichen Diskussion zum Tragen kommen, so dass eine »Objektivierung« entsprechender Handlungen nicht möglich erscheint (vgl. Lange 1998: 8). Dementsprechend ist »die Vorstellung, ›Gewalt‹ (in Familien) sei eine gegenständliche (Angriff, Verletzung), objektivierbare […] Realität, die man ›entdecken‹ oder ›enttabuisieren‹ könne, […] ein moralisierender, verdinglichender Mythos. ›Gewalt‹ (in Familien) ist nicht vorfindlich, sondern tritt als soziale Wirklichkeitskonstruktion im Kontext eines gesellschaftlichen Konflikts um die Legitimität privater Gewalt auf.« (Honig 1986: 48) Verbunden hiermit sind eine enorme Dunkelziffer an Fällen familialer Gewalt sowie zum Teil sich deutlich widersprechende empirische Untersuchungsergebnisse. So zeigen die Ergebnisse einer amerikanischen Studie, dass die häufigsten Gewaltanwendungen zwischen Geschwistern stattfinden, gefolgt von Gewalthandlungen der Eltern gegenüber den Kindern, der Kinder gegenüber den Eltern und der Eltern untereinander (vgl. Straus/ Gelles 1990: 82f.). Bei diesen Ergebnissen ist allerdings zu fragen, inwieweit Gewalt in der Familie nicht grundsätzlich als Er95

gebnis eines Machtgefälles zu thematisieren sei (Simm 1983: 42f.). Ebenfalls uneinheitlich sind die Ergebnisse zu etwaigen schichtspezifischen Differenzen familialer und ehelicher Gewalt. Steht auf der einen Seite die Annahme, dass Gewalt hauptsächlich ein Unterschichtenphänomen ist (vgl. Klosinski 1994: 160), sehen andere Autoren Gewalt in der Familie als schichtübergreifendes Phänomen, das nicht vom Einkommen und Bildungsgrad abhängt, sondern lediglich in Unterschichtfamilien häufiger bekannt wird (vgl. Markefka/Billen-Klingbeil 1989: 348, Habermehl 1994: 263f.). Resümiert man den Diskurs um familiale Machtbeziehungen und Gewalt insgesamt, so zeigt sich ein wenig einheitliches Bild, das insbesondere unter der unklaren begrifflichen Abgrenzung und der zumindest zeitweise hohen öffentlichen Relevanz der Themenbereiche und damit verbunden einer partiellen Tabuisierung von Fragestellungen leidet.

2. Geschlechterrollen Der Rollenbegriff nimmt eine zentrale Stellung in der Soziologie ein. Von Ralph Linton (1936) eingeführt, soll er zur Beschreibung und Erklärung sozialen Handelns in gesellschaftlichen Kontexten beitragen. In Anknüpfung an den Strukturfunktionalismus werden unter Rollen »Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen«, verstanden (Dahrendorf 1974: 33). Bei Rollen handelt es sich damit um ein »regelmäßig ablaufendes Verhalten, das in bestimmten Situationen von den Mitgliedern einer Gesellschaft erwartet wird« (Miebach 2006: 40). Für die Gesellschaft als soziales System erscheinen Rollen daher als unverzichtbar, da es für das Funktionieren von Gesellschaft »der Existenz von Mustern des wechselseitigen Verhaltens« (Mikl-Horke 2001: 206f.) bedarf. Durch Rollen kann dementsprechend der Fortbestand des gesellschaftlichen Systems losgelöst von individuellen Persönlichkeiten gesichert werden (vgl. Linton 1945: 252). Ohne auf die Differenzierung rollentheoretischer Ansätze im Rahmen interpretativer 96

Theorien eingehen zu können, die insbesondere auf die aktive Aneignung von Rollen und damit die individuelle Interpretation und Ausgestaltung von Rollen abstellen, zeigt sich das Rollenkonzept im Sinne eines wissenschaftlichen Konstruktes (vgl. Dahrendorf 1974: 21) grundsätzlich geeignet, um familiale Beziehungen, Positionen und die daraus folgernden Konsequenzen beschreiben zu können. In der Familiensoziologie werden diese Rollenverhältnisse hauptsächlich unter der Perspektive arbeitsteiliger Familienorganisation und entsprechender Aufgabenverteilungen thematisiert. Die von Kaufmann provokant gestellte Frage, wer die schmutzige Wäsche wasche, ist als Symbol zu verstehen, die auf die schwierige, von Unsicherheit geprägte Konstruktion von familialen und persönlichen Identitäten und Rollen abzielt. »Diese Unsicherheit ist sehr konkret, da die Beteiligten zu einer Form der kollektiven Arbeitsteilung finden müssen, deren Regeln zu vereinheitlichen und festzulegen sind, um mit ihrer Hilfe eine reibungslose Erledigung der anfallenden Arbeiten zu garantieren.« (Kaufmann 1994: 9f.) Die Erörterung familialer Rollen ist entlang unterschiedlicher Differenzierungskriterien möglich. Wenn hier zunächst auf die Elternrollen eingegangen wird, dann deshalb, weil viele der für familiale Rollen relevanten Fragestellungen an der Schnittstelle zur Elternschaft auszumachen sind. Damit ist keinesfalls gesagt, dass in Beziehungen ohne Kinder keine geschlechtsspezifische Rollendifferenzierung vorzufinden ist, sondern lediglich, dass das Vorhandensein von Kindern eine Ausweitung möglicher familialer Rollen, aber häufig auch eine Radikalisierung der damit verbundenen Verhaltensoptionen und Konflikte bedeutet. Elternrollen sind – noch immer – geschlechtsdifferenziell, d.h. dass »Elternschaft nach wie vor für Väter und Mütter etwas gänzlich anderes bedeutet« (Schneider 2002: 147) und mit »dem Übergang zur Elternschaft […] eine nachhaltige (Re-)Traditionalisierung der partnerschaftlichen Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen« (ebd.) stattfindet. Trotz des damit beschriebenen Fortbestehens »klassischer« familialer Rollen wird gleichzeitig konstatiert, dass im Zuge wachsender Gleichberechtigung die Grenzen zwischen den Aufgabenbereichen von Mann und Frau bzw. 97

von Müttern und Vätern tendenziell geringer werden und »sich eine Annäherung von Männer- und Frauenrollen vollzogen« habe (Sommerkorn/Liebsch 2002: 99). Betrachtet man die Elternrollen in der Retrospektive, so ist für die gegenwärtige Verfassung der Familie der Übergang von der vorindustriellen Zeit in die Moderne wesentlich, da sich hiermit die Rollen insofern differenzierten, als Arbeitswelt und Familienwelt sukzessive an Abstand gewannen. Während in der vormaligen Agrargesellschaft Arbeit und Leben räumlich verbunden und beide Geschlechter für die Existenzsicherung der Familie zuständig waren, ist mit der Industrialisierung eine deutlichere Koppelung des Geschlechts an spezifische Aufgabenbereiche und Rollensegmente verbunden. Während der Vater nun alleine für die Versorgung der Familie zuständig war, entwickelte sich unter dem Begriff der bürgerlichen Familie eine Lebenswelt, die der Mutter eine intensivere Beschäftigung mit ihren Kindern zugesteht, insgesamt eine Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehungen zulässt (vgl. Shorter 1977) und ein differenzierteres Verhältnis zwischen Vätern und Kindern im Hinblick auf autoritative Strukturen ermöglicht (Mühling/Rost 2007: 10). »Während in der Zeit der patriarchalischen Gesellschaft emotionale VaterKind-Beziehungen verboten bzw. tabuisiert waren und väterliche Autorität im Mittelpunkt stand, vollzog sich mit der Aufklärung ein Wandel der Vaterrolle.« (Mühling/Rost 2007: 10) Ihren Höhepunkt hat die so verfasste Kernfamilie in den späten 1950er und 1960er Jahren erlebt, als sie einen hohen Verbindlichkeitscharakter hatte und eine weitgehend »eindeutige interne und externe Aufgabenteilung« gegeben war (Nave-Herz 2004: 183f.). Verbunden war diese Rollenteilung mit einem in der Öffentlichkeit, aber auch im wissenschaftlichen Umfeld vertretenen Familienbild, das den Wesensunterschied zwischen Mann und Frau betont: »Wenn wir die beiden Wesensstile zunächst in großen Zügen voneinander abheben, dürfen wir sagen, daß der Mann mehr auf das Werk, die Sache, das Objektive, das Schaffen, auf Tun und Leisten, auf das Aus-sich-Herausstellen, die Frau hingegen mehr auf das Sein, die Person, das Subjektive, das Verstehen, auf Tragen, Ertragen und Standhalten und auf das In-sich-Hineinnehmen angelegt ist.« (Schlüter-Hermkes 1950: 66) Hieraus wurde 98

gefolgert, dass Mann und Frau komplementär zu denken seien, sich in ihren Rollen ergänzen und zu einer »Ganzheit« zusammenwachsen. Die Ausformung der emotionalen Innenbeziehungen der Familie durch die Frau sei zu schützen gegenüber den »Spannungen zwischen primären und abstrakten Sozialbeziehungen, die das Lebens des Mannes in der modernen Gesellschaft schon lange bestimmen« (Schelsky 1953: 345). Seit den 1970er Jahren ist ein Normen- und Wertewandel zu beobachten, der einhergeht mit Veränderungen im Arbeits- und Bildungssystem, der Technisierung des Haushaltes und neuen familienrelevanten gesetzlichen Regelungen, die Auswirkungen auf das Ehe- und Familiensystem haben. Das Ergebnis dieser Veränderungen, so die verbreitete Auffassung in der Familiensoziologie, ist, »dass jüngere Generationen heute, angesichts veränderter Lebensbedingungen, traditionelle Rollenvorstellungen zunehmend in Frage stellen und neue Leitbilder von alltäglich gelebter Männlichkeit und Weiblichkeit entwickeln« (Grunow 2007: 50). Die Berufstätigkeit der Mütter erfahre deutlich mehr Akzeptanz und es komme zum »Rückgang des normativ erwarteten Ausmaßes an Aufopferung und Verzicht, das Mütter für ihre Kinder zu erbringen haben. Dabei sind die Erwartungen an die mütterliche Zuwendungsbereitschaft wesentlich geringer geworden« (Schneider 2002: 148), wenngleich die Umsetzung dieser egalitären Vorstellung im Alltag sich nach wie vor schwierig gestaltet. François de Singly resümiert dementsprechend drei wesentliche Entwicklungen, die auf die Ambivalenzen zwischen Einstellungen und Optionen, diese alltäglich zu realisieren, verweisen, wonach »eine spürbare Verringerung der objektiven Abhängigkeit der Frau, die Aufrechterhaltung eines geschlechtsspezifischen Unterschieds hinsichtlich des beruflichen und familialen Engagements, die Zunahme des Gefühls, den Geschlechterrollen entkommen zu können, als Ergebnis partnerschaftlicher Kompromisse« zu resümieren ist (Singly 1994: 144). Wesentlich für den in den 1970er Jahren einsetzenden Wandel waren die stärkere Partizipation an und die veränderte Einstellung zu Arbeit und Bildung. Gewandelt haben sich »dabei auch die Normen, faktischen Möglichkeiten, Einstellungen und Handlungsweisen von Frauen hinsichtlich Erwerbstätigkeit einerseits 99

und Mutterschaft andererseits« (Sommerkorn/Liebsch 2002: 99). Allerdings zeigte sich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vielfältigen Restriktionen unterworfen war und bis zur Gegenwart ist. Das in den 1960er Jahren proklamierte so genannte »Drei-Phasen-Modell« sollte im Sinne einer Sequenzierung des Lebenslaufs in eine Phase der Berufsausbildung, der Mutterschaft und des beruflichen Wiedereinstiegs mit dem Erwachsenwerden der Kinder zum einen Frauen die Option auf eine Beteiligung am Arbeitsleben ermöglichen, zum anderen den Bedenken jener Zeit gegen eine außerfamiliale Betreuung der Kinder entgegenkommen (vgl. Myrdal/Klein 1960; Pfeil et al. 1968; Kätsch 1965). Die vorliegenden empirischen Untersuchungen ließen allerdings früh Zweifel an der Funktionalität des Drei-Phasen-Modells aufkommen. So gestaltet sich die Reintegration in den Beruf wesentlich schwieriger und risikoreich, da zum einen die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit aufgrund des längeren Verbleibs der Kinder in der Familie (Spätadoleszenz) länger ausfällt, zum anderen die Dynamik der beruflich relevanten Wissensbestände zugenommen hat (vgl. Tölke 1990: 30). Vergleicht man die unterschiedlichen Muster des Wiedereinstiegs in den Beruf nach der Geburt eines Kindes, so zeigt sich, dass dieser eher gelingt, je kürzer die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit andauert (vgl. Schulz/Kirner 1992: 41). Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach der Geburt eines Kindes hängt jedoch maßgeblich davon ab, inwieweit es gelingt, zumindest Teile der Betreuungs- und weiterer innerfamilialer Aufgaben zu verlagern, da »die Koordination von familiärem und beruflichem Rollenansatz in hohem Maße von den bestehenden Möglichkeiten zur Delegation von Rollenelementen abhängt« (Eichentopf 1987: 178f.). Während die in der ehemaligen DDR weitreichend realisierte öffentliche Kinderbetreuung im Anschluss an die Wiedervereinigung geschwächt wurde, sind die Möglichkeiten einer Ersatzbetreuung in den vergangenen Jahren mit der flächendeckenden Versorgung mit Kindergartenplätzen und dem avisierten Ausbau von Kindertagesstätten sukzessive in allen Bundesländern gestiegen. Dennoch ist in der Regel für die gleichzeitige Realisierung von Berufstätigkeit und Familie ein soziales Netz notwendig, das jenseits professioneller Angebote Betreuungsaufgaben übernimmt. Entsprechende Forschungsergeb100

nisse weisen insbesondere die Großmütter als jene Personengruppe aus, die einen wesentlichen Beitrag hierfür leisten (vgl. Tietze/Rossbach 1991: 568). Im Hinblick auf die Verteilung weiterer familialer Aufgaben, insbesondere der Hausarbeit, ist nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen nach wie vor ein deutliches Ungleichgewicht zuungunsten der Frau festzustellen. Wie bereits zuvor angeführt, ist mit dem Übergang vom Paar zur Familie eine Traditionalisierung der familialen Rollen verbunden. Dieser Trend verstärkt sich häufig mit der Geburt eines zweiten Kindes. »Die Mehrbelastungen, die mit steigender Kinderzahl entstehen, werden fast ausschließlich von den Frauen getragen; die Männer reagieren nicht, so daß eine Traditionalisierung der relativen Verteilung der Hausarbeit die Folge ist. In Familien mit Klein- und Vorschulkindern beteiligen sich Männer allerdings doch absolut stärker an der Hausarbeit als die Männer in der kinderlosen Referenzgruppe« (Künzler 1994: 112), wobei andere Untersuchungen den Einfluss der Kinderzahl auf das Engagement von Vätern im Haushalt nicht bestätigen und ein gleich niedriges Niveau resümieren (vgl. Rosenkranz et al. 1998: 56). Diese Ergebnisse zeigen insbesondere für berufstätige Mütter ein Ungleichgewicht der Belastungen, das dazu führt, dass sie im Vergleich zu ihren Ehemännern weniger in ihre beruflichen Ambitionen investieren können (vgl. Singly 1994: 143f.). Interessanterweise sind zwar insofern schichtspezifische Unterschiede festzustellen, als höher gebildete Männer auf der Einstellungsebene der egalitären Aufteilung von Familienaufgaben zustimmen; die Forschungsergebnisse zur Entsprechung auf der Verhaltensebene sind allerdings nicht eindeutig. Während Ryffel-Gericke lediglich für Frauen mit einem höheren Bildungsniveau auch eine Veränderung der Aufgabenteilung konstatiert, so dass »ausgeprägte berufliche und bildungsmässige Qualifikationen der Ehefrau beim Mann eine Abkehr von patriarchalischen Prinzipien und sogar eine vermehrte Mitarbeit im Haushalt« (Ryffel-Gericke 1983: 269) bewirken, deuten neuere Forschungsergebnisse auch für Männer eine Komplementarität zwischen Einstellung und Verhalten an (vgl. Wengler et al. 2008). Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sich Effekte veränderter Einstellungen auf die 101

Verhaltensebene erst allmählich zeigen. So gelangen neuere Studien zu einer differenzierteren Sichtweise, die für spezifische Milieus einen veränderten Umgang mit der innerfamilialen Aufgabenzuschreibung erkennen lässt. »Deutlich sichtbar in den Großstädten und in akademischen Sozialmilieus, wächst eine VäterGeneration heran, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit tradierten Geschlechterrollen bricht« (Gesterkamp 2007: 99; vgl. auch Hofäcker 2007: 198), so dass von einer – zumindest partiellen – Familialisierung des Vaters gesprochen werden kann. Im Vordergrund stehen die wachsende Aufmerksamkeit, die Väter ihren Kindern schon im Säuglingsalter schenken, und die in zunehmendem Maße affektive Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern, die als Indiz für den Entdifferenzierungsprozess der Elternrollen angesehen werden kann. »Mit der Mutterrolle ist heutzutage nicht mehr das Monopol auf expressives Verhalten in Pflege- und Betreuungssituationen verknüpft« (Nave-Herz 2004: 184), und auch wenn die Väter den Müttern ihren Platz als Hauptverantwortliche nicht streitig machen, so zeigt sich doch eine »Feminisierung der Vaterrolle« (Cyprian 2007: 27), die sich darin ausdrückt, dass traditionelle männliche Ideale in der Erziehung, wie Ordnung, Regeln, Autorität und Gehorsam, an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig ist allerdings noch immer eine Verunsicherung zu beobachten, die darauf gründet, dass es keine entsprechenden Leitbilder bzw. sichtbare Rollen für Männer gibt, an denen sie ihr Verhalten orientieren können, was gleichzeitig viel Raum für individuelle Ausgestaltungen der Vaterrolle lässt und sich auch in der Vielfalt der Verhaltens- und Lebensmuster niederschlägt: »Es gibt ›neue‹ und traditionelle Väter, Ledige und Verheiratete, harmonisch getrennt Lebende und im Streit Geschiedene. Außerdem Stief-, Pflege- und Adoptivväter, Alleinernährer und Haupternährer, Hausmänner oder Väter, die mit geteilter Elternschaft experimentieren.« (Gesterkamp 2007: 97) Dies kommt einer bereits zu Beginn der 1990er Jahre geforderten stärkeren analytischen Differenzierung entgegen, die »sehr genau nach Lebensform, biographischer Phase, sowie nach Schichtungsfaktoren und Wertmustern« unterscheidet (Keddi/Seidenspinner 1991: 163). Zusammenfassend ist zu resümieren, dass familiale Macht102

verhältnisse und Rollen stark aufeinander bezogen sind und im Übergang zur Moderne sowie durch die kritische Auseinandersetzung ab den 1970er Jahren in ihrer gegenwärtigen Form konstituiert sind. Deutlich wird hierbei, dass neben den zu beobachtenden Handlungen der Konstruktion von Geschlechterrollen, des Selbstentwurfs männlicher und weiblicher Rollen sowie der Bewertung gesellschaftlicher und familialer Leistungen eine wesentliche Bedeutung zukommt. Die damit angesprochene Fragilität familialer Beziehungen charakterisiert allerdings nur eine Seite. Die zu beobachtende stärkere Beteiligung von Vätern an Prozessen der Kindererziehung und -betreuung – und damit verbunden die vielleicht auf Dauer besseren beruflichen Optionen für Mütter – könnte sich perspektivisch auch als in besonderem Maße funktional erweisen. Das Dilemma, dass mit der Familie und der Berufswelt »zwei Institutionen mit je institutionalen Eigenlogiken in ihrem Verfügungsanspruch an dieselbe Person in ein und derselben biographischen Phase des Lebenslaufs zeitlich aufeinanderprallen« (Krüger 1991: 690), könnte auf diese Weise insofern abgemildert werden, dass nicht nur Frauen für die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Anspruchswelten situationsspezifische Lösungen finden müssen. Dennoch weist dies auch darauf hin, dass grundlegende Veränderungen familialer Rollen auf Dauer nur dann nachhaltig sind, wenn zugleich strukturelle Anpassungen auf Seiten der Arbeitswelt realisiert werden.

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VI. Familiale Sozialisation Das Themenfeld der Sozialisation erreicht in den 1970ern und Anfang der 1980er Jahre einen hohen Stellenwert in der Familiensoziologie. Ausschlaggebend sind sozial- und bildungspolitische Diskussionen im Anschluss an die so genannte Bildungskrise, die eine zu geringe Partizipation am höheren Bildungswesen konstatierte und die Sozialisationsleistungen der Familie in den Blick nahm. Ein besonderes Gewicht lag hierbei auf schichtspezifischen Differenzen der Sozialisation, da vor allem in unteren Sozialschichten Potenzial gesehen wurde, um eine höhere Bildungsbeteiligung zu erreichen. Hiermit einher ging aber auch eine systematische Betrachtung grundlegender Ansätze und Begriffe der Sozialisationstheorie. Diese waren zunächst durch die bis in die 1970er Jahre hinein latente Dominanz strukturfunktionalistischer und im Anschluss daran durch den zunehmenden Einfluss interpretativer Ansätze gekennzeichnet. Wenn auch Sozialisation als Gegenstand familiensoziologischer Forschung im Verlaufe der 1980er und 1990er Jahre an Relevanz verloren hat, ist sie nicht zuletzt unter der Perspektive, dass der Erziehungsfunktion und dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern eine herausragende Bedeutung für die innerfamilialen Beziehungen zukommt, ein wichtiger Anknüpfungspunkt familiensoziologischer Arbeiten.

1. Begriff und Verständnis von Sozialisation Unter Sozialisation ist der Prozess zu verstehen, durch den »Kindern und Jugendlichen die in einer Gesellschaft herrschenden Werte, Normen und Techniken des Lebens vermittelt und verbindlich gemacht werden« (Neidhardt 1975: 61). Ziel ist es, »den einzelnen im Rahmen der kulturellen, sozialen und materiellen Bedingungen seiner eigenen Gesellschaft lebens- und funktionstüchtig zu machen« (ebd.). Die Notwendigkeit zur Sozialisation ergibt sich aus der im Gegensatz zu Tieren mangelnden Instinktausstattung des Menschen. Die biologischen, d.h. instinkt- und triebgesteuerten Verhaltensweisen werden zugunsten einer Ori104

entierung an kulturell vorgegebenen Verhaltensmustern zurückgedrängt – der Mensch bedarf einer zweiten, sozio-kulturellen Geburt (vgl. König 1955: 145f.), die dazu beiträgt, eine exzentrische Positionalität einzunehmen und ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln. »Die Möglichkeit, Mensch zu werden, wird mitgebracht, die Fähigkeit dazu, zur Bewältigung der ersten Schritte in die exzentrische Positionalität hinein, und das heißt auch: zu deren Schaffung, besitzt der menschliche Säugling nicht. Der Mensch ist auf Tradierung von Kultur angewiesen, denn nur in und mit Kultur kann er sich in seine genuine Positionalität begeben.« (Claessens 1962: 65) Der Prozess dieser Adaption kultureller Werte bzw. der Ausbildung eines Über-Ich erfolgt nach Claessens in drei Schritten: der Soziabilisierung, der Enkulturation und der sekundären sozialen Fixierung. Im Prozess der Soziabilisierung wird die Vermittlung grundlegender Werte im Sinne einer emotionalen Fundierung und primären sozialen Fixierung geleistet. Die im Kontakt mit der unmittelbaren Bezugsperson ausgebildete emotionale Fundierung trägt dazu bei, einen grundlegenden »sozialen Optimismus« und Erwartungssicherheit zu fördern. Das Grundvertrauen in Welt sowie in Handlungsabläufe entlastet das Kind und versetzt es in die Lage, »durch Übernahme und Verarbeitung von Weltelementen, die bereits geordnet, ›durchgearbeitet‹ sind, und durch entsprechende Bildung erster Regulative« (ebd.: 95) eine exzentrische Positionalität einzunehmen. Soziabilisierung ermöglicht demnach durch Anpassung die Ausweitung von Handlungsoptionen, die Loslösung von der rein biologischen Determinierung und durch die Einnahme einer Außenperspektive die Öffnung für Kultur. Der Prozess der Enkulturation schließt hieran an und trägt zur kulturellen Spezifizierung der durch die Soziabilisierung bereitgestellten Handlungsmuster bei: »Gibt die Soziabilisierung dem Säugling die Chance, menschlich zu werden, so engt die Enkulturation diese Chance im selben Prozess sofort wieder auf bestimmte ›Muster‹« ein (ebd.: 100). Enkulturation stellt somit auf die kulturspezifische Interpretation der emotionalen Fundierung und die Ausbildung von Sprache und Ausdrucksformen ab. Die Tradierung von Werthaltungen, die bereits in der nonverbalen 105

Entwicklungsphase des Kindes durch die Vermittlung von Symbolen angelegt wird, findet wesentlich in der Familie statt, die damit Mittler kultureller Deutungsmuster und Symbole ist. Wesentlich für den Prozess der Enkulturation ist die Internalisierung der vermittelten kulturellen Muster und Werte, d.h. die Aneignung bzw. reflektierte Übernahme von Verhaltensweisen und sozialen Rollen. Enkulturation ist allerdings nicht als bloße Übernahme von Werten und Normen zu verstehen – gerade in modernen Gesellschaften sind die Fähigkeiten zum situationsadäquaten Umgang mit kulturellen Regeln und zur individuellen Interpretation von sozialen Rollen und Erwartungen unerlässlich, womit Sozialisation »eine gruppen- und personenspezifische Aneignung und Verinnerlichung von Erfahrungen, ›Gütern‹, Maßstäben und Symbolen der Kultur zur Erhaltung, Entfaltung und Sinndeutung der eigenen wie der Gruppenexistenz« (Wurzbacher 1963: 14) ist. Dies verweist auf den Doppelcharakter des Sozialisationsprozesses in der Moderne: Zum einen soll dieser zur Tradierung bestehender Wertesysteme und damit zur Stabilität von Gesellschaft beitragen. Zum anderen sollen Sozialisation und insbesondere Enkulturation sowie Personalisation als »Ausbildung und Anwendung der menschlichen Fähigkeiten zur kritischen Analyse und Integration des sozialen und kulturellen Pluralismus« (ebd.: 14f.) dazu beitragen, Kinder auf die Vielfalt und die steten Wandlungen von Anforderungen und Aufgaben vorzubereiten. Entsprechend müssen Werte zwar soweit internalisiert werden, dass sie eine kulturelle und gesellschaftliche Verhaltensgrundlage darstellen, doch gleichzeitig darf dies nicht dazu führen, dass Handlungen auf Befolgung von Regeln verengt und weder an Situationen noch an im Zeitverlauf sich verändernde Erwartungen und Anforderungen angepasst werden. Dies erfordert einen besonderen Raum, der die Vermittlung von Wertvorstellungen realisiert und die Einübung individueller Interpretation und Umsetzung flexibel ermöglicht. Diesen sich durch eine hohe Elastizität auszeichnenden »Schonraum« stellt die Kernfamilie dar: »Sie hat diejenige Toleranz, die auch die Unverträglichkeit der universalen Geltungsansprüche sich widersprechender Werte in der Praxis des täglichen Lebens harmonisiert und negligiert. In ihr erfolgt 106

damit eine tief pragmatische Selektion von Verhaltensweisen, die bewirkt, daß kulturell-gesellschaftlich vorgegebene Konflikte in ihren Auswirkungen abgeschwächt werden, und sei es durch völliges Ignorieren ihres Vorhandenseins. Damit erweist sich die Kernfamilie als ein kulturell offenbar unabdingbares ›elastisches Medium‹ zur Tradierung wertorientiert-normgebundener Verhaltensweisen und damit von Werten selbst.« (Claessens 1962: 150) Familie stellt in diesem Sinne einen Schonraum zur Einübung von Verhaltensweisen und Kultur dar und lässt somit in einem gewissen Maß das Übertreten gesellschaftlicher und kultureller Normen zu, ohne diese im Grundsatz in Frage stellen zu müssen. Die Kernfamilie kann der Gleichzeitigkeit von erwarteter Normkonformität und ggf. abweichender individueller Interpretation von Werten entsprechen. Gleichzeitig eignet sich die Familie im Besonderen als Sozialisationsinstanz, als im Vergleich zu anderen Gruppen, wie bspw. den Gleichaltrigen, da innerhalb der Familie eine besondere Rollenvielfalt anzutreffen ist. Diese Funktionalität der Kernfamilie für den Sozialisationsprozess ist allerdings umstritten. Der bereitgestellte Schonraum könne, so die Kritik an dieser dem Strukturfunktionalismus verbundenen Sichtweise, auch dazu führen, dass Sozialisation und insbesondere Enkulturation nicht an die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen anschließt. »Die Kleinfamilie vereinfacht also auch die kognitiven Sachverhalte, schirmt sich von fundamentalen Konflikten der Gesellschaft ab und bewahrt sich vielmehr ein affektives, emotionales und an familistischen Kriterien ausgerichtetes Binnenklima. In diesem auf sich selbst beschränkten Familienraum scheinen kognitive Bezüge generell und damit auch die intellektuelle Entwicklung des Kindes vernachlässigt zu werden.« (Wurzbacher/Cyprian 1973: 44) Durch diese unterschiedliche Entwicklungsdynamik von Gesellschaft und Familie entstehe somit ein Cultural lag, das den auf die Kernfamilie fokussierten Prozess der Enkulturation fragil erscheinen lässt. Die angesprochene dritte Phase der Sozialisation nach Claessens, die sekundäre soziale Fixierung, verweist auf Sozialisationsprozesse im Anschluss an jenen der Enkulturation, die insbesondere von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen außerhalb der Familie, den so genannten sekundären Sozialisationsinstanzen, 107

wie der Schule, übernommen werden. Darüber stellt die Moderne durch ein komplexes Wechselspiel zwischen Person, Gesellschaft und Kultur sowie daran anschließende Prozesse der Neustrukturierung neue Anforderungen an die Sozialisation, die in differenzierten Gesellschaften zu einer Daueraufgabe werden und gegenwärtig in dem Begriff des »lebenslangen Lernens« eine Entsprechung findet. »Der Übergang von relativ geschlossenen Gesellschaften zum Zustand der relativ offenen Gesellschaft bedeutet also einen Übergang von einem im wesentlichen auf die Kindheit beschränkten zu einem lebenslangen Prozeß der Sozialisation, Enkulturation und Personalisation mit entsprechenden Desintegrationen und Konflikten.« (Wurzbacher/Schlottmann 1966: 113) Diese wesentlich an strukturfunktionalistische Modelle anknüpfenden Überlegungen erfahren entsprechend der Erweiterung rollentheoretischer Ansätze um interpretative Elemente eine Relativierung, bspw. in den Arbeiten von Goffman (1966, 1998), Hess und Handel (1959), Habermas (1968) oder Bronfenbrenner (1976). Wesentlich ist hierbei die stärkere Betonung des Prozesses der Aneignung von Welt durch das Individuum. Hierbei gehe es letztlich, so Habermas, um die Ausbildung von Ich-Identität als Ergebnis des komplexen Wechselspiels zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Bedürfnissen bzw. zwischen sozialer und persönlicher Identität. Die angemessene Ausbildung von Ich-Identität hängt wiederum davon ab, inwieweit es gelingt, mit diesen latenten Widersprüchen umgehen zu können, d.h. von der Fähigkeit, »Rollenambivalenzen bewusst zu ertragen, eine angemessene Repräsentation des Selbst zu finden und verinnerlichte Normen auf neue Lagen flexibel anzuwenden« (Habermas 1968: 13). Die Notwendigkeit, Balancen zwischen unterschiedlichen kollektiven und individuellen Bedürfnissen zu finden, gilt auch für das Sozialisationsfeld Familie – sowohl im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Familie und Individuum als auch zwischen Gesellschaft und Familie sowie zwischen den unterschiedlichen familialen und außerfamilialen Rollen der einzelnen Familienmitglieder. In allen Fällen muss eine »befriedigende Balance zwischen kollektiver Identifikation und Vereinzelung hergestellt« werden (ebd.: 18). 108

Für die Sozialisationsforschung sind diese beiden grundlegenden Positionen entlang des strukturfunktionalistischen sowie des interpretativen Paradigmas kennzeichnend, wenngleich sie in der Gegenwart nicht mehr in einer sich ausschließenden Form diskutiert werden, sondern in Sozialisationsmodellen zusammenfließen.

2. Schichtspezifische Sozialisation Nicht nur in den 1960er Jahren gelangte Sozialisation mit Blick auf den Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Auch zur Jahrtausendwende war die im internationalen Vergleich nach wie vor geringere Beteiligung am höheren Bildungssystem in Deutschland Thema. So lag im Jahr 2002 der Anteil an Akademikern eines Altersjahrgangs in Deutschland bei 19 Prozent, in den OECD-Staaten im Durchschnitt bei fast einem Drittel (vgl. OECD 2002: 77). Betrachtet man die schichtspezifische Verteilung derjenigen, die ein Studium aufnehmen, so ist für die vergangenen Jahrzehnte kein spürbarer Wandel eingetreten, d.h. dass die Partizipation derjenigen, die aus höheren Sozialschichten bzw. deren Eltern aus den Berufsgruppen der Selbständigen, Beamten und leitenden Angestellten- oder aus milieuspezifischer Perspektive aus liberal-intellektuellem, postmodernem oder modernem Arbeitermilieu entstammen, überproportional hoch ist (vgl. Gapski et al. 2000; Tippelt 1999). Der Anteil der Studierenden aus höheren Schichten ist trotz umfangreicher Bemühungen, schichtspezifische Differenzen der Bildungsbeteiligung zu nivellieren, in den 1980er und 1990er Jahren von 17 auf 29 Prozent angestiegen, während im selben Zeitraum der Anteil der Studierenden aus unteren sozialen Schichten von 23 auf 14 Prozent gesunken ist (vgl. Lewin 1997). Interessant ist hierbei, dass auch bei gleicher Abiturnote die Entscheidung für ein Studium schichtspezifisch zugunsten höherer Sozialschichten variiert (vgl. Bargel et al. 1999: 7) – ein Befund, der auch für den Übergang von der Grund- zu einer weiterführenden Schule zutrifft. Denn nicht nur der Übergang von der Schule zum Studium, sondern auch jener von der Grund109

schule zu weiterführenden Schulen unterliegt schichtspezifischen Selektionsprozessen, die sich sowohl im Entscheidungsverhalten der Eltern als auch in der Frage niederschlagen, ob Kinder eine Empfehlung bspw. für ein Gymnasium erhalten (vgl. Choi/ Schmidt 2006: 33ff.). Folglich sind Bildungschancen, berufliche Erfolge sowie das Einkommen entgegen den Versprechungen der modernen Leistungsgesellschaft nach wie vor maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängig. Gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen werden auf diese Weise reproduziert, aufrechterhalten und verfestigt (vgl. Hradil 2005: 164). Diese Diagnose weicht im Grundsatz nicht wesentlich von jener ab, die im Verlaufe der 1960er und 1970er Jahre zur Ausbildung der so genannten schichtspezifischen Sozialisationsforschung geführt hat. Ausgehend davon, dass die ungleiche Bildungsbeteiligung nicht auf Begabungsunterschiede zurückzuführen ist, rücken hierbei Erklärungen in den Vordergrund, die von einem zyklischen Prozess der Reproduktion sozialer Ungleichheit ausgehen. Wegbereiter dieses Ansatzes war Melvin Kohn, der zu Ende der 1960er Jahre die These erarbeitete, dass die Stellung im Beruf der Eltern – vorwiegend jene des Vaters – sowie die damit verbundenen Tätigkeiten und Erfahrungen auf die Erziehungseinstellungen der Eltern und damit auf die Sozialisation der Kinder wirken. Abbildung 2: Modell der schichtspezifischen Sozialisation Soziale Schichtzugehörigkeit

Berufsoption Arbeitsplatz

Bildungschancen Bildungsoption

Erziehungseinstellungen

Sozialisation

Quelle: vgl. Schmidt 2002: 223

110

Die Kritik an der mangelnden Qualität des Bildungssystems wurde hiermit auf den Prozess der Sozialisation innerhalb der Familie verlagert, die damit zu einem wesentlichen Element der Reproduktion sozialer Ungleichheit wird. Ausdruck hierfür ist nicht zuletzt, dass sich der Zweite Familienbericht der Frage familialer Sozialisation annahm (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1975) und damit Impulse für die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion setzte. Die divergenten Bildungschancen äußern sich hierbei zunächst in fehlenden kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten der Kinder, was ihre Chancen im Bildungssystem reduziert. In der schichtspezifischen Sozialisationsforschung der 1960er und 1970er Jahre wird hierbei in der Regel ein Vergleich zwischen Unter- und Mittelschicht zugrunde gelegt, während differenziertere Konzepte, wie jene sozialer Lagen und sozialer Milieus, erst in den 1980er und 1990er Jahren auch für die Familienforschung an Relevanz gewinnen. Die entsprechend der Annahme Kohns schichtspezifisch variierenden Arbeitsplatzerfahrungen sind durch unterschiedliche Faktoren bestimmt: Die Arbeitsbedingungen für Angehörige der sozialen Unterschicht sind durch manuelle Tätigkeit sowie monotone und weitgehend standardisierte Arbeitsabläufe gekennzeichnet, die wenige Entscheidungsspielräume geben (vgl. Mollenhauer 1975: 89f.). Die betriebliche Position bietet in der Regel keine oder nur geringe Einblicke in Strukturen des Unternehmens und des Kontextes des Arbeitsumfelds. Hiermit verbunden ist eine schwache berufliche Identifikation, die eine instrumentelle Einstellung zur Arbeit als Sicherung des Lebensunterhaltes nahelegt. Darüber hinaus ziehen die geringeren Aufstiegsmöglichkeiten für Angehörige der sozialen Unterschicht geringere Ambitionen und somit auch eine geringere Leistungsmotivation nach sich (vgl. Hradil 1999: 438). Schließlich führt die vergleichsweise geringere Arbeitsplatzsicherheit in der sozialen Unterschicht zu einer wertkonservativen Einstellung, die verbunden ist mit Angst vor Veränderungen. Die geringere Risikobereitschaft zur Veränderung der Lebenssituation führt zu einer passiven und fatalistischen Grundhaltung, die ein geringes Vertrauen in die eigenen Handlungskompetenzen und Potenziale nach sich zieht. Diese Einstellung »spiegelt sich wider in einem simplizierten dichoto111

mischen Gesellschaftsbild, das eine fremde, sie beherrschende, eher feindselig eingestellte soziale Außenwelt scharf von der überschaubaren, vertrauten Innenwelt unterscheidet« (Caesar 1972: 165). Die Arbeitsplatzerfahrungen von Mittelschichtangehörigen sind dagegen durch eine abwechslungsreiche Tätigkeit, »den Umgang mit Symbolen, Personen oder Ideen« (Gottschalch et al. 1967: 81), durch eine höhere Selbständigkeit im Hinblick auf Arbeitsabläufe und Entscheidungsspielräume sowie einen besseren Einblick in die Strukturen des Arbeitsplatzes, individuellen Aufstieg und Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitsplatz gekennzeichnet. Im Gegensatz zur sozialen Unterschicht erleben Mittelschichtangehörige eine höhere Arbeitsplatzsicherheit und bessere Aufstiegsmöglichkeiten, was zu einer stärkeren Zukunftsorientierung und zu einem Vertrauen führt, dass sich individuelle Leistung lohnt. Der Einfluss dieser schichtspezifisch differenten Arbeitsplatzsituation auf den Sozialisationsprozess lässt sich in mehreren Schritten beschreiben: In einem ersten Schritt werden die in der Regel väterlichen beruflichen Erfahrungen an die Ehefrau bzw. die primäre Erziehungsperson vermittelt. Angenommen wird hierbei, dass diese in Erziehungseinstellungen und -praktiken einfließen und auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes wirken. Schließlich wird unterstellt, dass diese »in der Familie sozialisierten Verhaltensmuster für das Kind generalisierbar und mit schichtspezifisch unterschiedlichen Konsequenzen übertragbar sind auf außerfamiliale Bereiche wie Schule und später Arbeitswelt« (Abrahams/Sommerkorn 1976: 72f.). Die Art der Übertragung der Arbeitsplatzerfahrungen auf die Familie wird in der Familienforschung wesentlich durch zwei unterschiedliche Thesen erklärt. Das Frustrations-Aggressions-Modell geht davon aus, dass die am Arbeitsplatz gemachten Erfahrungen, wie Monotonie des Arbeitsprozesses, fehlende interpersonelle Anerkennung und ausbleibende Möglichkeiten der Einflussnahme, durch Aggression innerhalb der Familie kompensiert werden. Die Väter verhielten sich entsprechend restriktiv und autoritär und schaffen damit ein familiäres Klima der Frustration und Aggression. Diese Verhaltensweisen werden, so die 112

zugrunde liegende Annahme, von Kindern angenommen und nachgeahmt (vgl. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1975: 55). Die zweite These unterstellt hingegen eine direkte Übertragung der am Arbeitsplatz erfahrenen Werte auf die Erziehungseinstellungen innerhalb der Familie (vgl. u.a. Grüneisen/Hoff 1977: 213). Unabhängig davon, ob die Transformation der beruflichen Erfahrungen auf die Familie als Aggressions-Frustrations-Prozess oder aber als Übermittlung von externen Werten auf Erziehungseinstellungen verstanden wird, geht die schichtspezifische Sozialisationsforschung davon aus, dass sich dies insbesondere auf drei Erziehungsdimensionen auswirkt: die Selbständigkeitserziehung, die Akzeptanz individueller Bedürfnisse und das Strafverhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern. Im Vergleich zur Mittelschicht wird das Kind in Unterschichtfamilien in deutlich geringerem Maße zu selbständigem Handeln motiviert, indem ein Klima der Ablehnung, der Ungeduld und Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen des Kindes erzeugt wird und Erziehung »weniger an einer von Autonomie und Entscheidungsfähigkeit getragenen Entwicklung des Kindes […] als an der einseitigen Durchsetzung der elterlichen Autoritätsposition« interessiert ist (Claessens/Milhoffer 1973: 168f.). Die fehlende Anerkennung der Persönlichkeit des Kindes führt zu einem geringen Selbstbewusstsein und zu einer passiven Form der Weltaneignung. Dieses schwach ausgeprägte Selbstbewusstsein wird als Grund dafür gesehen, dass Familien der sozialen Unterschicht dazu neigen, die Stabilität der innerfamilialen Beziehungen durch eine Schließung gegenüber der Außenwelt erreichen zu wollen. Schließlich sind schichtspezifisch unterschiedliche Erziehungspraktiken im Hinblick auf Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu beobachten. In Familien der sozialen Mittelschicht herrscht ein Erziehungsklima vor, das durch Nachsicht, Toleranz und persönliche Leistungsorientierung geprägt ist. Verhalten wird hauptsächlich auf der emotionalen Ebene durch positive Verstärkung oder Entzug von Zuwendung sanktioniert. Die Erziehung in Familien der sozialen Unterschicht ist hingegen durch Strenge und körperliche Strafe, Kontrolle und Überbehütung im Sinne fehlender Erziehung zur Selbständigkeit geprägt (vgl. Schendl113

Mayrhuber 1978: 144). Eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung, bei der dem Vater die häufig körperlich sanktionierende und der Mutter eine beschützende Funktion zukommt, lässt wenig Spielraum für die Entwicklung der Kinder und Ausbildung von Identität. Dies führt beim Kind zu einem Verhalten, das zugleich aggressiv als auch erwartungskonform und an unmittelbare Sanktionen gebunden ist, womit auch nur geringe Fähigkeiten zum Bedürfnisaufschub erlernt werden. Gerade diese Kompetenz aber ist notwendig für die Bereitschaft, in Leistungen zu investieren, die – wie im Bildungssystem – erst mittel- oder langfristig gratifiziert werden (vgl. Christe 1980: 103). Die Koppelung von Verhalten an unmittelbare Sanktionen und Gratifikationen führt zudem dazu, dass der Grad internalisierter Selbstkontrolle schwach ausgeprägt ist und die Aneignung der Lebenswelt nicht als ein aktiv gestaltender Prozess wahrgenommen wird. Diese »defensive Identifikation bedeutet die Introjektion der elterlichen Rollenmodelle primär aus Angst vor ihren strafenden Aspekten; sie wird daher auf eine eher autoritäre Einstellung und machtbezogene Sanktionsformen der Eltern zurückgeführt. Dieser Mechanismus wird folglich in der Unterschicht überwiegen, ebenso wie die generellen Verhaltensdispositionen, die als dessen Resultat angesehen werden können: Angst und Feindseligkeit, IchSchwäche und Unselbständigkeit.« (Caesar 1972: 76; vgl. auch Hurrelmann 1973: 33) Die Tendenz in Unterschichtfamilien, sich von der Außenwelt stärker abzukoppeln, findet nach den Ergebnissen der schichtspezifischen Sozialisationsforschung in den 1960er und 1970er Jahren ihren Niederschlag in der Form der Sozialbeziehungen. So spielen in Familien der sozialen Mittelschicht Kontakte zu Freunden und Bekannten eine bedeutendere Rolle, während diese in Unterschichtfamilien wesentlich stärker auf Verwandte ausgerichtet sind. Diese geringe Durchlässigkeit der Familie schützt davor, dass durch äußere Einflüsse Verunsicherung über die familialen Beziehungen und Deutungsmuster aufkommt und dass man sich über das familiale Selbstverständnis »durch stetige Diskussion und Interpretation vergewissern« muss (Oevermann 1969: 305). Diese starke Orientierung an Kernfamilie und naher Verwandtschaft wurde in der Sozialisationsforschung häufig als 114

Unterschichtenfamilialismus umschrieben (vgl. Neidhardt 1968: 177). Dieser trägt dazu bei, dass sich gerade die für die Moderne notwendige Rollenflexibilität und Rollendistanz durch Übernahme unterschiedlicher privater und öffentlicher Rollen bei Kindern aus Unterschichtfamilien nicht ausbilden kann, was mit einer geringeren kognitiven Stimulation einhergeht (vgl. Thomae 1972: 757). Schließlich, so die an die Arbeiten von Basil Bernstein anknüpfenden Thesen, kommt den sprachlichen Fähigkeiten eine hohe Relevanz zu, da sie wesentlich für die Kategorisierung der Objektwelt und mithin für die Aneignung der Lebenswelt sind. »Im Prozeß des Spracherwerbs werden die in der Umgangssprache objektivierten schichtenspezifischen Handlungsmuster und -strategien zur ›psychischen Realität‹. Die schichtenspezifischen Sprachformen werden also als Vermittlungsmechanismus zwischen der objektiven Sozialstruktur und der Persönlichkeitsstruktur interpretiert.« (Oevermann 1969: 301) Diese schichtspezifischen Differenzen der Sprachformen haben unter den Begriffen des elaborierten bzw. restringierten Codes (vgl. Bernstein 1964, 1972) Eingang in die Sozialisationsforschung gefunden. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Sprachcodes zeigt sich vorwiegend in der Bildung semantischer Felder und der Anwendung grammatikalischer Regeln. Der Spracherwerb von Kinder aus der sozialen Unterschicht stellt primär auf die Reproduktion vorstrukturierter semantischer Felder ab, wogegen die sprachliche Sozialisation in der Mittelschicht ein höheres Abstraktionsniveau intendiert, um »individuelle Differenzen zu signalisieren und Wortbedeutungen gleichsam durch sprachliche Regieanweisungen situations- und kontextspezifisch zu modellieren« (Oevermann 1969: 313). Die Ausbildung eines elaborierten Sprachcodes ermöglicht es daher, sich in unterschiedlichen Sprachcodes, also auch jenem der sozialen Unterschicht, bewegen zu können, was zur Ausbildung von Empathiefähigkeit und zur Öffnung für neue Erfahrungen und abweichende Lebenswelten führt. Darüber hinaus führt die Ausbildung und Anwendung eines elaborierten Sprachcodes auch zu einer besseren Ausschöpfung kognitiver Potenziale. »Auf dem Hintergrund des leistungssym115

biotischen Beziehungsverhältnisses von Sprache und Denken kann daher festgehalten werden: Die mangelnde Ausschöpfung des kognitiven Insgesamt in den sprachlich vermittelten sozialen Angeboten durch die Eltern evoziert im Kind eine mangelnde Erschließung eben dieser Angebote und begrenzt daher seine denkoperationalen Möglichkeiten.« (Mühlfeld 1976: 104) Ausgehend von dieser Diagnose der Reproduktion sozialer Ungleichheit – als Ergebnis eines zirkulären Prozesses von Arbeitsplatzerfahrungen, Erziehungseinstellungen, Sozialisationsund Aneignungsprozessen der Lebenswelt bis hin zur Ausbildung schichtspezifisch unterschiedlicher Leistungseinstellungen, Nutzung kognitiver Potenziale und der Platzierung im Beruf –, wurden unter dem Eindruck der Bildungskrise in den westlichen Industrieländern sowie des Anspruchs auf Chancengleichheit bereits in den 1970er Jahren Programme gefordert und eingerichtet, welche die als defizitär wahrgenommene familiale Erziehung kompensieren sollten. Die flächendeckende Einrichtung von Kindergärten kann als ein zentrales Ergebnis dieser Überlegungen gewertet werden.

3. Kritik an und Weiterentwicklung der schichtspezifischen Sozialisationsforschung Die Kritik an den Thesen der schichtspezifischen Sozialisationsforschung setzte bereits frühzeitig ein und bezog sich auf unterschiedliche Aspekte. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wird verstärkt das Fehlen eines gesellschaftlichen Leitbildes thematisiert, an dem die Angemessenheit familialer Sozialisation gemessen werden kann. Alleine der Verweis auf Flexibilität oder Mündigkeit genügt nicht, sondern »Sozialisationsziele bzw. die abhängigen Variablen einer Sozialisationstheorie« können sich erst »aus einer utopischen Konzeption der Gesellschaft« (Geulen 1973: 99) ergeben. Problematisiert wird in diesem Zusammenhang auch, dass die Verantwortung für soziale Ungleichheit und die jeweilige Lebenslage in die Familien selbst zurückverlagert wird und strukturelle gesellschaftliche Ursachen nicht in den Blick geraten. Hieran anschließend wird auch die kompensatorische Erzie116

hung skeptisch betrachtet, da sie dazu dient, Verhaltensstile der Mittelschicht den Angehörigen unterer sozialer Schichten aufzuzwingen. Bereits die zuvor dargestellte Defizitanalyse der Sozialisation in unteren sozialen Schichten fuße auf einem Werteraster, das der Mittelschicht und höheren Schichten entspringe, so dass es nicht verwundert, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten hieran scheitern. So wird der schichtspezifischen Sozialisationsforschung vorgeworfen, dass sie »die Vorstellungen von den Defekten einer Unterschicht zementiert«, um hieraus folgernd »technologische, prinzipiell die geltenden Normen stabilisierende Kompensationsmaßnahmen« zu fordern (Gloy 1973: 161). Diese Kritik entspricht einer umfassenderen Auseinandersetzung mit dem strukturfunktionalistischen Paradigma, dem anpassungsmechanistische Tendenzen unterstellt wurden, die den Status quo erhalten. Wesentlicher für die Auseinandersetzung mit Fragen der Sozialisation innerhalb der Familienforschung war allerdings die schwache empirische Datenbasis, auf der die jeweiligen Aussagen aufbauten. So folgert Tino Bargel zu Beginn der 1970er Jahre, dass es trotz der kaum noch zu überblickenden Anzahl an wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Fragen der Sozialisation an empirischen Untersuchungen mangelt, die Bedingungen und Auswirkungen des Sozialisationsprozesses sowie etwaige Interventionen in den Blick nehmen (vgl. Bargel 1973: 119). Die vorliegenden Daten sind zudem nicht dazu geeignet, den zuvor ausgeführten Ansatz der Reproduktion sozialer Ungleichheit bzw. einzelne Erklärungszusammenhänge zu bestätigen. So belegen Untersuchungen, die im Kontext des Zweiten Familienberichtes durchgeführt wurden, dass bspw. der unterstellte Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzerfahrung und familialer Sozialisation zumindest nicht in einer linearen Form nachzuweisen ist. Es konnte gezeigt werden, »daß kein Faktor zu finden war, auf den sich die verschiedenen von uns erhobenen Aspekte der Belastung durch den Arbeitsplatz (nervliche Anspannung, körperliche Arbeit, Schichtarbeit, überlange Arbeitszeit usw.) mit signifikanten Ladungshöhen versammelten. Das bestätigt unsere Vermutung, daß nicht schlechterdings eine lineare Abhängigkeit der Familienkommunikation von mehr oder weniger restriktiven Arbeitsbedingungen angenommen werden kann« 117

(Mollenhauer 1975: 126). Diese Ergebnisse werden für andere Dimensionen des Zusammenhangs zwischen beruflichem Bereich und familialer Sozialisation bestätigt – so für die nur schwache Wirkung von Berufsstatus und Einkommen auf Erziehungsstile (vgl. Steinkamp/Stief 1978: 295) und die schwache Korrelation zwischen Arbeitsplatzerfahrungen und Erziehungsleitbildern bei Vätern, wogegen dieser Zusammenhang für berufstätige Mütter deutlich stärker ausgeprägt ist (vgl. Grüneisen/Hoff 1977: 211). Hieraus wird unter anderem gefolgert, dass in der sozialen Unterschicht Väter ihrer Erziehungsfunktion kaum nachkommen, wogegen Väter der Mittelschicht einen höheren Stellenwert innerhalb der Familie und somit auch des Sozialisationsprozesses einnehmen. Diese Ergebnisse weisen bereits früh darauf hin, dass monokausale Erklärungen, die auf wenige Variablen rekurrieren, offensichtlich zu kurz greifen und insbesondere Einflussfaktoren des sozialen und räumlichen Umfeldes unberücksichtigt lassen. Schließlich zeigt eine an dem Untersuchungsmodell Kohns orientierte Studie, dass die unterstellten Zusammenhänge weit weniger signifikant sind als vermutet. So verlaufe bspw. entgegen der Annahme Kohns der Zusammenhang zwischen Autonomieerfahrung und Arbeitsplatzzufriedenheit nicht linear, sondern kurvilinear, d.h. dass die Arbeitsplatzzufriedenheit in der Mittelschicht am deutlichsten ausgeprägt sei, in höheren sozialen Schichten allerdings wieder nachlässt (Bertram 1978: 162). Die Kovarianz der von Kohn eingesetzten Variablen liegt zudem in keinem Fall bei mehr als 25 Prozent (vgl. Bertram 1981: 30f.). Insgesamt zeigt sich, »daß zumindest auf der Grundlage von Kohns empirischen Materialien keine eindeutige Verbindung zwischen den elterlichen Sozialisationserfahrungen in der Arbeitswelt und ihren Sozialisationswerten und sozialisatorischem Verhalten in der Familie herzustellen ist« (Abrahams/Sommerkorn 1976: 80). Wenn auch diese kritischen Befunde den Ansatz der schichtspezifischen Sozialisation nicht grundsätzlich in Frage stellen, so weisen sie doch darauf hin, dass die verwendeten Variablen nicht genügen, um dem komplexen Zusammenhang der schichtspezifischen Reproduktion sozialer Ungleichheit gerecht zu werden. Die ab Ende der 1970er Jahre ausgebildeten Ansätze zur ökologi118

schen Sozialisationsforschung bemühten sich in diesem Zusammenhang darum, den benannten Problemen der schichtspezifischen Sozialisationsforschung entgegenzutreten. Hierbei traten insbesondere drei Aspekte in den Vordergrund: die stärkere Berücksichtigung des Kindes als Person, die nicht nur elterliche Erziehung adaptiert, sondern eine eigene Weltsicht ausbildet – und somit der Prozess der Sozialisation eine Brechung erfährt; der Einbezug weiterer, insbesondere sozial-ökologischer Variablen in erklärende Modelle und schließlich die Berücksichtigung mehrerer Handlungsebenen und ihres eigenständigen Einflusses auf die Sozialisation. Hieran anschließend bildeten sich Ansätze aus, die zum einen Konzepte der Forschung zu sozialen Lagen und sozialen Milieus aufnehmen, zum anderen auf Mehrebenenmodelle rekurrieren, in denen die Familie nicht mehr bloß als Transformationsinstanz des Öffentlichen und insbesondere der Arbeitswelt für die Entwicklung der Kinder verstanden wird, sondern der inneren Konstitution und Dynamik der Familie selbst eine Wirkung auf Sozialisationsprozesse zugeschrieben werden. Hans Bertram sieht einen wesentlichen Mangel der Forschung zur Relevanz schichtspezifisch differierender Familienstrukturen für die Sozialisation darin, »daß die Familie weder theoretisch noch empirisch als Kleingruppe behandelt wird, die durch bestimmte strukturelle Variablen wie Größe, Wohnverhältnisse, Berufstätigkeit der Mutter und ein familientypisches Interaktionssystem gekennzeichnet ist« (Bertram 1976: 112). Das Mehrebenenmodell von Bertram unterscheidet zwischen der Aggregatsebene (sozialstruktureller Bereich), der Gruppenebene (Familie) und der Individualebene, die sozialisationsrelevante Wechselbeziehungen ausbilden und zunächst jeweils als unabhängige Variablen zu verstehen sind. Der Einfluss der Familie im Sinne einer Gruppenebene kommt unter anderem im Hinblick auf die Ausbildung moralischer Urteilsfähigkeit zum Tragen (vgl. Bertram 1978: 259). Parallel zu diesen Überlegungen gewinnen Ansätze an Bedeutung, die auf die Einbettung der Familie in spezifische sozial-kulturelle Lebensumwelten abstellen. So ist die zuvor auf den indirekten Einfluss der Arbeitswelt zurückgeführte geringere Partizipation von Unterschichtenfamilien an der außerfamilialen Um119

welt nicht monokausal zu erklären, sondern geht auf ein Set von familialen Struktureigenschaften und Umweltfaktoren zurück (vgl. Strohmeier 1983: 57). Berücksichtigt man zudem, dass Sozialisation ein Prozess der aktiven Aneignung ist, so ist »zu erwägen, ob nicht Familien in einem umfassenden Sinne als Human-Ökologien gekennzeichnet werden könnten: Sie beruhen auf materieller und ideeller Ressourcierung, aber zusätzlich sind sie durch ein ›menschliches Klima‹ charakterisiert, das die Ressourcierung teils relativiert, teils verstärkt, wobei die in einer Familie vorhandene Emotionalität – im positiven wie im negativen Sinne – von erheblicher Bedeutung ist.« (Lüscher et al. 1985: 26) Die hier nur kurz skizzierte ökologische Sozialisationsforschung war grundsätzlich dazu geeignet, die Probleme der schichtspezifischen Sozialisationsforschung auf konzeptueller Ebene zu lösen. Allerdings zeigte sich schnell, dass die Öffnung des Feldes durch die Berücksichtigung einer Vielzahl von Umweltvariablen, die damit verbundene Erweiterung des Schichtungsansatzes um die Betrachtung sozialer Lebenslagen und Milieus dazu führte, dass die Bedeutung für die empirische Forschung vergleichsweise gering blieb. Mit der nachlassenden Bedeutung bildungspolitischer Themen in der 1980er Jahren ist zudem ein nachlassendes Interesse an Fragen der familialen Sozialisation zu beobachten. Die gegenwärtige Sozialisationsforschung ist stärker eingebunden in Konzepte der Ungleichheitsforschung und rekurriert auf unterschiedliche theoretische Modelle, womit sowohl Aspekte der schichtspezifischen als auch der ökologischen Sozialisationsforschung Berücksichtigung finden (vgl. zu neueren Ansätzen der Sozialisationsforschung u.a. Grundmann 2006). Zudem ist die starke Fokussierung der Sozialisationsforschung auf das Verhältnis von Familie und Gesellschaft einer breiteren Ausrichtung gewichen, die gleichzeitig »die Perspektive der sich entwickelnden Personen, also der Handlungssubjekte [und] die Perspektive der sozialen Beziehungen, kollektiven Orientierungen und sozialen Hierarchisierungen« (Hurrelmann et al. 2008: 26) verbindet und mithin die Gleichzeitigkeit von Personalisation und Enkulturation auch in der Sozialisationsforschung wieder verstärkt an Gewicht gewinnt.

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VII. Ausblick Die vorherigen Kapitel geben einen Einblick in zentrale Themenbereiche der Familiensoziologie und deren historische Entwicklung, der notwendigerweise kursorischen Charakter haben musste. Blickt man über die einzelnen hier dargestellten Diskurse hinaus, so ist insgesamt festzuhalten, dass diese zwar in der Regel eine immanente Stringenz der Argumentation und Diskussion aufweisen, jedoch kaum zu einem umfassenden Verständnis von Familie und Familiensoziologie führen. Dies gilt zunächst für die thematische Differenzierung innerhalb der Familiensoziologie. Diskurse wie jener zur Sozialisationsforschung, zum generativen Verhalten, zur Scheidungsforschung wie auch zur historischen Familienforschung stellen nach wie vor weitgehend eigenständige wissenschaftliche Sinnwelten dar, die selten Anknüpfungen zu anderen Diskursen aufweisen, auch wenn der thematische Zugang dies grundsätzlich nahelegen würde. Unter dieser Perspektive ließe sich von mehreren Familiensoziologien sprechen, denen die Herstellung eines gemeinsamen familiensoziologischen Wissens- und Forschungsraums zumindest schwer fällt. Hiermit stehen weder die Familiensoziologie noch die Soziologie alleine, sondern dies ist kennzeichnend für nahezu alle Geistes- und Sozialwissenschaften, die im Bemühen um Abgrenzung und Behauptung spezifischer Themen und Zugänge nach wie vor den Gedanken inhaltlicher Bezugnahme und der Kumulation von Wissen jenem der Differenzierung und Exklusivität wissenschaftlicher Teilgebiete und Fragestellungen unterordnen. Diese fehlende Verknüpfung von Wissensbeständen ist allerdings nicht nur für die Familiensoziologie selbst, sondern auch im Hinblick auf die Zusammenführung mit anderen Disziplinen und Teildisziplinen zu beobachten. »Die Stärke familiensoziologischer Forschung liegt in der multidimensionalen Beschreibung, Typisierung und Erklärung von Eigenschaftsveränderungen familialer Lebenszusammenhänge. Wie die festgestellten Veränderungen im familialen Bereich von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen abhängig sind, bleibt jedoch im Regelfall ungeklärt. Die Familie wird allzu sehr als isolierter Gegenstand betrachtet, allenfalls geraten die unmittelbaren familialen Umweltbeziehun121

gen als erklärende Variable in den Blick. Es fehlt jedoch weitgehend an tragfähigen Brückenkonzepten, um gesamtgesellschaftliche und familiale Veränderungen angemessen zu verknüpfen.« (Kaufmann 1988: 391f.) Die Entwicklung der Familiensoziologie zeigt in den vergangenen Jahren zumindest für den deutschen Sprachraum einen nachlassenden Grad an Institutionalisierung, indem bspw. ehemals familiensoziologische Professuren im Rahmen ihrer Denomination eine andere Ausrichtung erhalten haben, die in der Regel auch Familiensoziologie – aber eben nicht mehr in erster Linie – zum Gegenstand hat. Dies geht konform mit der Einschätzung, dass die Familiensoziologie insgesamt insofern an Relevanz verloren hat, als es ihr nur bedingt gelungen ist, ihre Themen zu pflegen und weiterzuentwickeln. Ausgehend von unterschiedlichen Phasen familiensoziologischer Entwicklung ist nach wie vor im Anschluss an die breite Forschung zum Wandel der Familienformen eine Phase der Gegenstandssuche zu beobachten, die insbesondere der Partialisierung familiensoziologischer Teilbereiche entgegenwirkt (vgl. Schmidt 2002: 405f.). Die Zunahme von Einführungen in die Familiensoziologie in den vergangenen Jahren (vgl. u.a. Burkardt 2008; Huinink/Konietzka 2007) zeigt ein Bewusstsein für dieses Problem und lässt auf eine stärkere Integration und theoretische wie auch methodische Verknüpfung des breiten Spektrums an familiensoziologischen Wissen erhoffen.

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Wulf D. Hund Rassismus 2007, 170 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-310-5

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Einsichten. Themen der Soziologie Stephan Moebius Kultur 2008, 248 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-697-7

Andreas Reckwitz Subjekt 2008, 164 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-570-3

Thomas Schwinn Soziale Ungleichheit 2007, 166 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-592-5

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Einsichten. Themen der Soziologie Gabriele Abels, Alfons Bora Demokratische Technikbewertung 2004, 142 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-89942-188-0

Dirk Baecker Wirtschaftssoziologie 2006, 188 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN 978-3-933127-36-5

Holger Braun-Thürmann Innovation 2005, 118 Seiten, kart., 11,50 €, ISBN 978-3-89942-291-7

Frank Eckardt Soziologie der Stadt 2004, 132 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN 978-3-89942-145-3

Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher Identität 2004, 138 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN 978-3-89942-242-9

Matthias Gross Natur

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Boris Holzer Netzwerke 2006, 132 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-89942-365-5

Sabine Maasen Wissenssoziologie (2., komplett überarbeitete Auflage) Mai 2009, 126 Seiten, kart., 10,80 €, ISBN 978-3-89942-421-8

Helmut Willke Global Governance 2006, 152 Seiten, kart., 13,50 €, ISBN 978-3-89942-457-7

Andreas Ziemann Soziologie der Medien 2006, 132 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-89942-559-8

2006, 142 Seiten, kart., 13,00 €, ISBN 978-3-89942-340-2

Robert Gugutzer Soziologie des Körpers 2004, 218 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-244-3

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