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German Pages 328 Year 2014
Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.) Explosion und Peripherie
Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.)
Explosion und Peripherie Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited
Gefördert aus Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.
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Inhalt
Vorwort | 7
THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN Zur Funktionsweise kultureller Peripherien Albrecht Koschorke | 27 On a Semiotic Theory of Hegemony: Conceptual Foundations and a Brief Sketch for Future Research Peeter Selg/Andreas Ventsel | 41 Self- description, Dialogue and Periphery in Lotman’s Later Thought Daniele Monticelli | 57 Jurij Lotmans Modell der kommunikativen Asymmetrie: Entstehung und Implikationen Valerij Gretchko | 79 Jurij Lotman: Die vorexplosive Phase Renate Lachmann | 97 Continuous Models after Lotman Sergey Zenkin | 119 Der doppelte Lotman: Jurij Lotmans Konzeptionen kulturhistorischer Dynamik zwischen Gesetz und Zufall Thomas Grob | 133 Russische Poetik des Verhaltens und amerikanische Poetics of Culture: Jurij Lotman und Stephen Greenblatt Schamma Schahadat | 153
Lotman and the Cognitive Sciences: The Role of Autocommunication in the Language of Memory Edna Andrews | 175
ANWENDUNGSSTUDIEN Semiosphärische Störungen: Über den Sujettext als Kulturkatalysator Andreas Mahler | 193 Sphären, Grenzen und Kontaktzonen: Jurij Lotmans räumliche Kultursemiotik am Beispiel von Rudyard Kiplings Plain Tales from the Hills Michael C. Frank | 217 »Auf Empfang eingestellt«: Autokommunikation als kulturelle Dynamik in Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf (1973) Özkan Ezli | 247 Die Grenzen von Lotmans Semiosphäre: Grenzerzählungen in der »Westukraine« Annette Werberger | 269 Jurij Lotmans Kultursemiotik zwischen Russland und Europa Irina Wutsdorff | 289 Das Leben in der Asymmetrie: Bronisawa Wajs und Mariella Mehr Renata Makarska | 307 Autorinnen und Autoren | 323
Vorwort S USI K. F RANK , C ORNELIA R UHE & A LEXANDER S CHMITZ
1. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die Ende 2008 unter dem Titel »Integration und Explosion. Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans« an der Universität Konstanz stattfand. Planung und Durchführung dieser Veranstaltung standen im Rahmen eines Projektes, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Frage nach der Aktualität der Kultursemiotik Jurij Lotmans für neuere kulturwissenschaftliche Paradigmen zu stellen. Vorbereitend hierzu wurden die späten kulturtheoretischen Texte Jurij Lotmans in zwei kommentierten Übersetzungen der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht.1 Der Eindruck der Herausgeber war, dass wichtige Konzepte aus dem Bereich der Tartuer Kultursemiotik aufgrund der von Lotman selbst immer wieder thematisierten Übersetzungsschwierigkeiten die Wahrnehmungsschwelle jenseits der Slavistik nur selten überschritten hatten. Während in anderen Diskussionszusammenhängen eine Kontextualisierung und Aktualisierung der Kultursemiotik Jurij Lotmans und der Moskau-Tartuer-Schule längst stattgefunden hat (z. B. Andrews 2003, Zenkin 2004/2006, Schönle 2006, Lisse 2006), fehlte eine solche Auseinandersetzung bislang im deutschen Kontext.
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Lotman 2010a sowie 2010b.
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Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. Die Beiträge des ersten Teils haben eine vorwiegend theoretische Ausrichtung und befragen disziplinäre Dimensionen sowie zentrale Konzepte und Begrifflichkeiten der Lotmanschen Kultursemiotik in zwei Richtungen. Zum einen geht es um eine Rekonstruktion der Theoriebildung, um die Frage der Kontinuität und/oder Diskontinuität zwischen Lotmans eher text- und literaturwissenschaftlichem Frühwerk und seinem vorwiegend kulturtheoretischen Spätwerk. Zum anderen wird gezeigt, wie Lotmans Theoreme an aktuelle kulturtheoretische Diskussionen anschließen oder in sie intervenieren. In Anwendungsstudien gehen die Beiträge des zweiten Teils der Frage nach, welchen Erkenntnisgewinn und welche analytische Tiefenschärfe der kultursemiotische Ansatz in der Bearbeitung aktueller kulturwissenschaftlicher und -historischer Fragestellungen erbringen kann. Alle Beiträge dokumentieren eindrücklich und vielfältig die große kulturtheoretische Aktualität insbesondere von zwei kultursemiotischen Konzepten: des vorwiegend räumlichen Konzepts der Semiosphäre mit dem spezifischen Verständnis der Bedeutung und des Mechanismus von Peripherie und Zentrum und des vorwiegend zeitlich, historisch verstandenen Konzepts von kultureller Diskontinuität, welches der späte Lotman mit der Metapher »Explosion« bezeichnet hat. Für einige der theoretischen Beiträge erweisen sich diese beiden Konzepte als besonders gut anschließbar an jene aktuellen Theorien des Politischen und der sozialen wie kulturellen Dynamik, die im Kontext einer – imperialhistorisch verstandenen – Globalisierung und vor dem Hintergrund einer als endgültig eingeschätzten Absage an utopische und teleologische Emanzipationstheorien (Marxismus) versuchen, Orte und Möglichkeiten von Subversion und kreativ-emanzipativer ›Unterbrechung‹ in der historischen conditio der Gegenwart auszumachen. Für sie wie auch für die meisten anderen Beiträger übt das für Lotmans Kultursemiotik zentrale Moment der Offenheit der Semiose, welches Unvorhersagbarkeit impliziert und dem Faktor der Unbestimmtheit entscheidende Bedeutung beimisst, die größte Anziehungskraft aus. Einige andere Artikel nehmen, darin an eine vorwiegend russische 2 Diskussion der 1990er Jahre anknüpfend , eher historisierende Kon-
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Vgl. etwa den Aufsatz von Boris Gasparov (Gasparov 1994) und die gesamte im Sammelband Jurij M. Lotman i tartusko-moskovskaja semio-
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textualisierungen vor, indem sie Bezüge des Lotmanschen Ansatzes zur sowjetischen Kultur, die ihren Entstehungshintergrund bildete, aufzeigen und/oder indem sie die Kultursemiotik mit zeitgenössischen westlichen kulturwissenschaftlichen Ansätzen vergleichen. Manchmal werden bei einer solchen historischen Aufarbeitung auch Widersprüche und Inhomogenitäten sichtbar gemacht, die Teilaspekte des Ansatzes aus heutiger Perspektive problematisch erscheinen lassen. Widersprüche finden sich zum einen zwischen den theoretischen Konzepten (wie Semiosphäre bzw. Peripherie oder Explosion) auf der einen Seite und Lotmans kulturhistorischen und literaturwissenschaftlichen Analysen auf der anderen. Widersprüche finden sich jedoch auch innerhalb der theoretischen Argumentation selbst. Das Explosionskonzept hat dezidiert die Funktion, Einheiten unvorhersagbar auszuhebeln und so aufzulösen, dass Kontinuität unmöglich wird. Zugleich deuten Lotmans beispielhafte Veranschaulichungen der Funktionsweise von Explosion – insbesondere in den Bereichen der Kunst und der Politik, die bei ihm stets als gleichermaßen kulturkonstitutiv, d. h. als (in doppeltem Sinn) zentrale Instrumente/Diskurse kultureller Selbstbeschreibung angesehen werden – darauf hin, dass hier ein stark einheitliches Konzept von Individuum (konkret und abstrakt gedacht) als primärer Akteur kultureller Dynamik vorausgesetzt wird, das eher Bezüge zur romantischen Tradition politischer Theorie und Kulturtheorie aufweist als zu aktuellen post-essentialistischen und post-utopistischen Theorieansätzen3. Auf einen weiteren Widerspruch innerhalb der Theorie, der sich auch in manchen kulturhistorischen Untersuchungen Lotmans manifestiert, weisen einige Anwendungsstudien des vorliegenden Bandes hin (Werberger, Makarska). Er betrifft das Konzept der Semiosphäre einerseits und Lotmans Verständnis von interkulturellem Dialog andererseits, das er ebenfalls in einem Unterkapitel von Die Innenwelt des Denkens4 entwickelt. Die Art und Weise, wie Lotman verschiedene Phasen interkulturellen Dialogs unterscheidet und den Ablauf dieses Dialogs beschreibt, zeigt, dass er hier von festen Entitäten ausgeht, d. h. sie ganz im Sinne eines für das 19.–20. Jahrhundert typischen
tieskaja kola (1994) abgedruckte Debatte ehemaliger Mitglieder der Moskau-Tartuer Schule der Kultursemiotik um Jurij Lotman. 3
Vgl. dazu Frank/Ruhe/Schmitz 2010b.
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Vgl. Lotman 2010a: 191ff.
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Verständnisses von einheitlicher Nationalkultur versteht. Nach seiner eigenen Konzeptualisierung der Semiosphäre wird dabei allerdings nur eine semiotische Position berücksichtigt, nämlich die des die Einheit definierenden, kodifizierenden Zentrums. Was Lotman also mit dem Begriff »Dialog« beschreibt, ist zunächst nur die Ebene der zentralen Selbstbeschreibung und deren Mechanismus von Identifikation und Abgrenzung gegenüber einem symmetrisch verstandenen Gegenüber. Imperialen oder kolonialen Situationen hat Lotman in seinen kulturhistorischen Analysen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Theoriegeschichtlich betrachtet sind dies wichtige Aspekte einer kritischen Rekonstruktion und kontextsensitiven, historisierenden Dekonstruktion des kultursemiotischen Ansatzes. Bezogen auf die kulturtheoretische und kulturanalytische Diskussion der Gegenwart zeigen aber sowohl die theoretischen wie auch die kritischen, analytisch angewandten Beiträge dieses Bandes die Erweiterbarkeit, Fruchtbarkeit und Anschließbarkeit der aus heutiger Sicht wichtigsten kultursemiotischen Konzepte des späten Lotman: insbesondere der »Semiosphäre« und, damit verbunden, der »Peripherie« als durch Unbestimmtheit und Unvorhersagbarkeit charakterisierter Grenzraum in der Spannung zum »Zentrum«, sowie der »Explosion«. Die Tagung, die Editionen und auch der vorliegende Band wären nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung des Konstanzer Forschungsverbundes über Kulturelle Grundlagen von Integration, dem der herzliche Dank der Herausgeber gilt.
2. ALBRECHT KOSCHORKE geht es in seinem Beitrag darum, die Aktualität der Lotmanschen Kultursemiotik gerade im Kontext jener aktuellen kulturtheoretischen Tendenzen herauszuarbeiten, die sich prinzipiell von dichotomischem Denken distanzieren. Das unterscheidet sie auch von dem die Diskussion der letzten Jahrzehnte dominierenden postkolonialistischen Ansatz, der im Bestreben, hegemoniale Denkformen durch Übernahme der Perspektive der ›Anderen‹ aufzulösen, dennoch durch die Grundopposition von eigen und fremd dem Dichotomischen verhaftet geblieben war. Koschorke erkennt in Lotmans Konzept der Semiosphäre einen äußerst produktiven Weg, dichotomisches Denken im Ansatz zu vermeiden, und weist insbesondere auf vier Merkmale
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hin, die zugleich eine fruchtbare Anwendung auf aktuelle kultur- und politiktheoretische Fragestellungen wie z. B. im Rahmen von Imperientheorien ermöglichen: Imperien, wie sie allen voran bei dem britisch-amerikanischen Soziologen Michael Mann verstanden werden, entsprechen, so Koschorke, geradezu in idealtypischer Weise dem Lotmanschen Konzept der Semiosphäre. Semiosphären wie Imperien entstehen durch »Überwindung des Raumwiderstands«: Geht es semiotisch um Übersetzerketten und den dadurch bedingten informationellen Verschleiß, so geht es imperialpolitisch um Logistik und Machtrelais auf den Verkehrswegen, die die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie überwinden. Zur schwierigen Aufrechterhaltung der Macht im Imperium, so hat Michael Mann herausgearbeitet5, werden insbesondere auch Strategien des sog. »Machtsortentauschs« eingesetzt, wobei an die Stelle von »hard power«, d. h. militärischer Macht, die bei Expansion und Eroberung zum Einsatz kommt, die ideologische Macht, d. h. »soft power« tritt. Am Beispiel der Transformation des Christentums von einer zu unterdrückenden Marginalerscheinung zur Staatsreligion, die in die offizielle Herrscherideologie integriert wurde, um schließlich den Ausgangspunkt für deren innere Zersetzung zu bilden, hat der Politologe Mann nicht zuletzt auch einen komplexen semiotischen Prozess zwischen Zentrum und Peripherie aufgezeigt, der mit Lotmans Semiosphärenmodell präzise beschrieben werden kann. Abschließend benennt Koschorke drei Kernmomente, die Lotmans Semiosphärenkonzept mit der auf Imperien bezogenen Machttheorie Michael Manns verbinden: Antiintentionalismus des Verständnisses historischer Dynamik, die Betonung der Relevanz unvorhersagbarer Entwicklungen sowie die Umkehrbarkeit des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie bzw. die Relevanz der Entwicklungen an der Peripherie. Der Beitrag von PEETER SELG und ANDREAS VENTSEL erweitert die Perspektive auf die Verbindung zwischen Lotmans Kultursemiotik und den rezenten Diskussionen um das Politische, die hier durch Ernesto Laclau vertreten sind, und arbeitet heraus, welche Steigerung des analytischen Potentials mithilfe des kultursemiotischen Ansatzes erzielt werden kann. Laclaus Definition des politischen Raumes als Diskurs, seine Konzeption des »leeren Signifikanten« und damit seine Theorie des Politischen insgesamt entstehen in Auseinandersetzung
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Mann 1986a sowie 1986b/1991.
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mit den gleichen Traditionen, auf denen auch Lotmans Theorie fußt. Obschon an die poststrukturalistische Einsicht anschließend, dass es im differentiellen Gefüge der Signifikanten niemals zu einer Schließung des Diskurses aus sich selbst heraus kommen kann, insistiert Laclau darauf, dass sich eine politische Theorie nicht allein auf das Spiel der Zeichen, die Verweigerung von Sinn und die Dispersion von Bedeutung verlegen darf, sondern das Problem der Grenze als eminent politisches Problem ernst nehmen muss. Überlegungen zu einer postessentialistischen Theorie von Gesellschaft und Macht führen Laclau zum Konzept des »leeren Signifikanten« (»empty signifier«), der die differentielle Ordnung der anderen Bezeichnungseinheiten unterbricht, indem er aus dem Diskurs heraustritt. Damit, so Laclau, repräsentiert der leere Signifikant das »reine Sein«6 des Diskurses und wird zum zentralen Baustein einer Theorie der Hegemonie, die jedoch, so die Kritik von Selg und Ventsel, die konkreten sozialen Faktoren hegemonialer Ordnungen unterbelichtet bzw. nachträglich, etwa durch Einführung psychoanalytischer Modelle, in die Theoriearchitektur einzufügen sucht. Für die beiden Autoren tendiert die Theorie Laclaus deswegen zu einer Sozialontologie, die sich der konkreten empirischen Analyse sozialer Formationen entzieht. Die Autoren bringen Lotmans Begriff der Übersetzung zwischen unterschiedlichen kulturellen Systemen ins Spiel, um die Mechanismen dieser Systeme besser zu verstehen. Lotmans Überlegungen zur internen und externen, auf verschiedenen Ebenen ablaufenden Rekodierung von Diskursen eröffnen in dieser Perspektive eine differenziertere Sicht auf Logiken und Typologien hegemonialer Schließungen. Auch der anschließende Beitrag von DANIELE MONTICELLI setzt an der poststrukturalistischen Wende in Lotmans Spätwerk an und macht von dort aus den Schritt zu den Theorien des Politischen der Gegenwart. Die topologischen Begriffe der Grenze oder der Peripherie stellen die Totalität geschlossener Systeme ebenso in Frage, wie der historiographische Begriff der Explosion die Möglichkeit teleologischer Prozesse ad acta legt. Damit wird Lotmans Perspektive in eine Reihe gestellt mit der von Theoretikern wie Alain Badiou, Jacques Rancière oder Giorgio Agamben, die auch unter post-essentialistischen und post-marxistischen Bedingungen an der Möglichkeit emanzipatorischer Politik festhalten. Diese sieht sich jedoch mit politischen Dis-
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Laclau 2002: 69.
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kursen konfrontiert, die entweder im Zeichen einer Logik der Globalisierung und unter dem Schlagwort vom »Ende der Geschichte« oder aber im Zeichen der Wiedereinführung essentieller Identitäten und geschlossener Gemeinschaften ihre Möglichkeit negieren. Als möglicher Ausweg erscheint hier das kreative Potential etwa der kulturellen Übersetzungsprozesse, die als Kombinationen »von Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit (jeweils unterschiedlichen Grades)«7 einer Schließung des Diskurses entgegen stehen, weil sie das Vergessene und Vergangene, das Ausgeschlossene und auch das Fremde jeweils in die eigene semiotische Sphäre zurückholen – oder überhaupt erst in diese einführen. Solche Prozesse und die Unvorhersagbarkeit diskontinuierlicher, eruptiver und explosiver Ereignisse erzeugen das notwendige Maß an Unbestimmtheit, das den Fortbestand von Kulturen und ihre Offenheit gewährleistet.8 Wie auch die nachfolgenden Beiträge beschäftigt sich der Beitrag VALERIJ GRETCHKOS mit Fragen der Kontinuität und Entwicklung in Lotmans Theoriebildung. Gretchko interessiert sich für die Dichotomie als Invariante des Lotmanschen Denkens. Indem er ihrer Transformation im Laufe der Entwicklungsetappen des text- und kultursemiotischen Ansatzes nachgeht, zeigt er einerseits eine Tendenz der Ausweitung und Verallgemeinerung der Grundthesen in Bezug auf den kognitiven Bereich und den der Kultur und andererseits eine Tendenz zur Berücksichtigung der Koexistenz der Oppositionsglieder auf. Während sich die frühen, textbezogenen Modelle der 1960er Jahre durch einen eher taxonomisch-statischen Charakter auszeichnen und von einem Alternieren der entgegengesetzten Systeme ausgehen, stellt der spätere Lotman zum einen die Koexistenz der entgegengesetzten Modelle innerhalb eines Ganzen und zum anderen eine permanente semiotische Dynamik und Transformation in Rechnung. Gretchko benennt im Hinweis auf einzelne Arbeiten Lotmans die Etappen der Ausweitung und Transformation des Fokus, bei denen die Parallelisierung von kulturellen Prozessen und durch die Gehirnstruktur bedingten kognitiven Prozessen stets den Horizont bildete. Abschließend weist Gretchko darauf hin, dass einige der in den Arbeiten um 1980 gesetzten Schwerpunkte sich gerade im Kontext der heutigen kultur-
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Vgl. Lotman 2010a: 24.
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»Aus diesem Grunde bleibt zu vermuten, dass jede Kultur innere Mechanismen zur Erzeugung von Unbestimmtheit besitzt« (Lotman 1974: 418).
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theoretischen Forschung als überaus aktuell erweisen: Die Relevanz der Abweichung (von der Norm), die Unabdingbarkeit des Anderen und die Pluralität und Heterogenität koexistierender semiotischer Systeme als drei unabdingbare, konstitutive Momente kultureller Dynamik und Kreativität werden in Lotmans späten Arbeiten ergänzt durch die Berücksichtigung der Position eines Dritten – als welches Lotman wesentlich die Grenze und Grenzfiguren definiert –, das die Funktion der Vermittlung zwischen den Gegensätzen übernimmt. In ihrer Analyse des »vorexplosiven Lotman« spürt RENATE LACHMANN Momente einer durchgängigen »impliziten Axiologie« auf, in der offenen Zeichenprozessen und unabschließbaren semiotischsemantischen Spannungen auf allen Ebenen kultureller und textueller Semiose der Vorzug gegenüber Schließung und Eindeutigkeit gegeben wird. In ihnen erkennt sie Vorboten jener semiotischen Dynamik, deren Merkmale Unvorhersagbarkeit, Bifurkation und Diskontinuität Lotman in seinem letzten Werk mit der Metapher »Explosion« bezeichnet hat. Lachmann findet sie etwa da, wo das Zeichen als Bündelung und Schnittpunkt hervortritt, wo der Text als semiotische Potenz bestimmt wird, deren Möglichkeiten realisiert werden oder latent bleiben können; wo mithilfe des der Kybernetik entlehnten Begriffs der »Flexibilität« bzw. der »Elastizität« (»gibkost’«) auf das semantische Volumen des Textzeichens sowie auf eine die Entropie der Sprache bestimmende Größe generell verwiesen wird; wo mithilfe der Konzeptualisierung Petersburgs als Oxymoron die russische Kultur als eine Doppelkultur entworfen wird; wo im Zusammenhang mit dem »offenen Kulturtyp« von einer nicht voll ausgeschöpften Informativität die Rede ist, durch die Bedeutungen in Aussicht gestellt werden, die nicht sind, sondern sich erst in der Zukunft konstituieren. In all diesen sich im Laufe des Gesamtwerks herauskristallisierenden Aspekten erkennt Lachmann eine implizite Prävalenz der semiotischen Offenheit, Unabgeschlossenheit und Unvorhersagbarkeit, welche schließlich in jenes Konzept historischer Dynamik der Kultur mündet, welches Lotman in seinem Spätwerk mit der Metapher der Explosion auf den Punkt gebracht hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der Dynamik der Kultur begleitet Lotmans Überlegungen fortwährend und unter verschiedenen Gesichtspunkten – zunächst im Rahmen strukturalistischer und semiotischer Reflexionen, in den späteren Schriften dann vor allem im Hinblick auf geschichtliche Prozesse und
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Ereignisse. Kultur und Explosion widmet dieser Frage ein eigenes Kapitel unter dem Titel »Das Diskontinuierliche und das Kontinuierliche«9. Der Beitrag von SERGEY ZENKIN geht dieser zentralen Unterscheidung nach, indem er daran erinnert, dass Lotman seine Typologie kultureller Modelle aus der funktionalen Asymmetrie des menschlichen Gehirns ableitet und damit zugleich ihren universalistischen Anspruch begründet. Zenkin verfolgt die Ausgestaltung kontinuierlicher Modelle erstens anhand des Bildes, das Lotman zumeist als ikonisches Zeichen diskutiert und das als ununterbrochene Ganzheit wahrgenommen wird. Über Lotman hinausgreifend erweist sich zweitens die soziokulturelle Kategorie des Heiligen in einem bestimmten Sinne, der etwa durch die weltliche wie jenseitige Dimensionen umfassende Kraft des Mana angezeigt wird, als ebenso wichtiges Beispiel für kontinuierliche Modelle wie drittens der Körper in seiner organischen Totalität. Alle drei Modelle sehen sich nicht nur explosiven Kräften der Diskontinuität ausgesetzt, sondern sind in der Wissenschaft durch den Versuch einer rationalen Beschreibung ihrer Ganzheitlichkeit auch aus systematischen Gründen in einen Bezugsrahmen versetzt, der sich per se, nämlich als artikulierte Sprache, diskontinuierlich zu ihnen verhält. Zenkins Beitrag macht diese unauflösbare, aber stets faszinierende Spannung deutlich, auf die Lotmans Arbeiten den Blick geöffnet, aber die sie nicht theoretisch aufgehoben haben. Zugleich beschreibt Zenkin den Perspektivwechsel, den Lotman bei der Thematisierung kontinuierlicher und diskontinuierlicher Modelle zwischen den frühen strukturalistischen und semiotischen Theorieproblemen hin zu den späteren vollzieht, die historische und letzthin ontologische Fragen aufwerfen. Ebenfalls im Blick auf Diskontinuitäten in Lotmans Theoriebildung, aber mit besonderem Fokus auf Kultur und Explosion widmet THOMAS GROB sich der Frage nach der adäquaten Berücksichtigung der Problematik diachroner kultureller Dynamik – ausgehend von der zentralen Metapher in Lotmans letztem Werk, der »Explosion«. Grob diagnostiziert insbesondere für die älteren Arbeiten eine »gewisse evolutive Theorieschwäche«, die gerade vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie des bedeutenden russischen Formalisten Jurij Tynjanov, aber auch der Bemühungen Roman Jakobsons (u. a. im Zusammenhang der Tartuer Sommerschulen) um eine adäquate theoretische Kon-
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Vgl. Lotman 2010b: 21ff.
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zeptualisierung von Diachronie erstaunt. Darüber hinaus, so Grob, manifestiert sich im Blick auf Lotmans Gesamt- und insbesondere sein Spätwerk ein merkwürdiger Widerspruch zwischen einer komplexen Theorie kultureller Dynamik, in der Heterogenität und Offenheit Kernmomente bilden, und den zahlreichen Arbeiten zu Aleksandr Sergeevi Pukin. Seinen theoretischen Ansatz gleichsam konterkarierend arbeite Lotman hier ohne Einschränkung am sowjetischen Heldenmythos des russischen Nationaldichters mit, an einem Narrativ, das allen Thesen kultursemiotischer Dynamik zum Trotz durch und durch teleologisch und damit geschlossen sei. Zieht man die Betonung des Faktors der Unvorhersagbarkeit, der Kontingenz und der Plötzlichkeit in Kultur und Explosion in Betracht, so gewinne man den Eindruck einer geradezu schizoiden »Doppelung« bzw. Spaltung Lotmans, was Grob zu der offenen Frage treibt, ob nicht vielleicht der zwischen Wissenschaft und Literatur oszillierende essayistische Stil dieses Spätwerks Ausdruck einer Absicht sein könnte, den Widerspruch zwischen Unvorhersagbarkeit und Einheit, zwischen Offenheit und Geschlossenheit offen zu lassen. Aus wiederum anderer, nämlich kulturvergleichender Perspektive fokussiert auch SCHAMMA SCHAHADAT in ihrem Beitrag die Rolle des Individuums in Lotmans Werk und fragt zugleich anhand eines Theorievergleichs nach der kulturellen Bedingtheit der kultursemiotischen Perspektive wie nach ihrer kulturtheoretischen Aktualität. Schahadat setzt eine von Andreas Schönle10 eröffnete Debatte zur Differenz zwischen Stephen Greenblatts New Historicism und Jurij Lotmans Kultursemiotik fort. Schönle hatte in seiner Gegenüberstellung zwei zentrale Differenzpunkte herausgearbeitet: erstens die Diskrepanz im Hinblick auf die Einschätzung der Freiheit individuellen Handelns, welche sich bei Greenblatt als kaum vorhanden, bei Lotman dagegen als geradezu gewaltig erweise, und zweitens die Schwerpunktsetzung der Analysen. Schahadat stellt Lotmans Arbeiten zur Poetik des Verhaltens (»potika povedenija«) ins Zentrum. Während es Lotman darum ginge, Verhaltensmodelle aus realen und vertexteten Figuren herauszulesen, ginge es Greenblatt um die Berührung mit dem Realen. Schahadat führt diese Diskrepanz auf eine Differenz des bei beiden Autoren zugrunde gelegten Kulturmodells und des damit verbundenen Textverständnisses zurück: Während Greenblatt nicht nur im Hinblick auf Individuen,
10 Vgl. Schönle 2006b.
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sondern auch auf Texte in erster Linie deren Prägung durch die sozialen und politischen Umstände interessiere, führe ein »literaturzentrisches« Kulturverständnis Lotman dazu, den literarischen Text nicht – wie Greenblatt – als Repräsentation des historischen Kontexts zu analysieren, sondern als aktiven Mitgestalter der kulturellen Realität. Diesen grundlegenden Unterschied führt Schahadat nicht nur darauf zurück, dass Lotman im Gegensatz zu Greenblatt einen semiotischen Ansatz vertritt, der Kultur generell als semiotisch begreift und daher keinen grundlegenden Unterschied zwischen verschiedenen Diskursen, Textsorten und symbolischen Ebenen macht, sondern letztlich auch auf eine die differenten Ansätze begründende Verankerung Lotmans in einer grammatozentrischen Kultur wie der russischen. Schließlich eröffnet der aus einer kognitionswissenschaftlichen Perspektive verfasste Beitrag von EDNA ANDREWS eine weitere historisierende Perspektive, aus der Lotman als Neuerer erscheint. In einer Diskussion der im Konzept der Semiosphäre enthaltenen Theorie der linguistischen Bedeutung und Kommunikation stellt Andrews die Frage, wie diese sich in eine semiotische Tradition einfügen lässt, die mit den Namen Roman Jakobson, Charles S. Peirce, Thomas Sebeok und Michail Bachtin, vor allem aber mit dem Namen Lev Vygotskij verbunden ist. Im Hinblick auf letzteren erweist sich die Relevanz von Lotmans Überlegungen für die zeitgenössischen Kognitionswissenschaften vor allem durch das Konstrukt der Autokommunikation, das Andrews ins Verhältnis zu Vygotskijs unterschiedlichen Sprecharten setzt. Der Vergleich zeigt, dass Lotman, der den Einfluss Vygotskijs offen einräumt, dessen Überlegungen entscheidend modifiziert, indem er den Mechanismus der Autokommunikation gegenüber Vygotskijs egozentrischen und internen Sprecharten erweitert. Durch die Kontextualisierung der Erkenntnis unterschiedlicher Arten von Sprache innerhalb des semiosphärischen Raumes legt Lotman die Grundlage für einen neuen Ansatz zum kollektiven und sozialen Gedächtnis einer Gruppe und damit auch zum Verständnis der Prinzipien, die menschliche Wahrnehmung anleiten und formen.
3. Im Anschluss an diese kritische und vielseitige Beleuchtung des theoretischen Rahmens der Lotmanschen Kultursemiotik prüft der zweite
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Teil des Bandes die Anwendbarkeit der theoretischen Paradigmen anhand von Beispielen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Dabei ist es auffällig, dass die disziplinäre Verortung der Beiträger in spezifischer Weise nicht nur die Wahl des Anwendungsgegenstands bestimmt, sondern vielmehr auch Auswirkungen darauf hat, welcher Blick auf die Theorie gerichtet wird. Der erste Beitrag nähert sich Lotmans Theorien eher theorie- und literaturhistorisch und weist damit deren kontinuierliche – und eben nicht explosive – Entwicklung nach. Der Komparatist und Anglist ANDREAS MAHLER betont die Nähe der kultursemiotischen Thesen Lotmans zu seinen frühen Arbeiten zur Struktur literarischer Texte und weist nach, dass letztlich bereits die Überlegungen zum Charakter sujethafter und sujetloser Texte als Vorstudien zum kulturellen Austausch gelesen werden können. Mahler zeigt auf, dass die Texte, die eine Kultur produziert, in exemplarischer Weise den Prozess des »Austarierens kultureller Bedeutung« nachzeichnen, dem jede Kultur unterliegt. Die Entwicklung des sujethaften Erzählens ist parallel zu führen mit der Entwicklung der textinternen Grenzziehungen, »bis diese selbst an ihre Grenzen stoßen«, so Mahler anhand der kenntnisreichen und pointierten Analyse von Shakespeares As you like it, zweier Romane von Flaubert sowie einem Ausblick auf modernes und postmodernes Erzählen. Anders als die drei Beiträge der theoretischen Abteilung, die für die Aktualität Lotmans im Kontext der avancierten politischen Theorien der Gegenwart argumentieren, befragen die folgenden anwendungsorientierten Beiträge den Mehrwert der Lotmanschen Kultursemiotik im Zusammenhang mit den Postcolonial Studies. Die Beiträge des Konstanzer Anglisten MICHAEL C. FRANK sowie des Literaturund Filmwissenschaftlers ÖZKAN EZLI werfen beide einen Blick auf Lotman, der an den ›westlichen‹11 Theorien des Postkolonialismus und der Kulturwissenschaften geschult ist. Für beide, so zeigt sich auch an der Wahl der Untersuchungsgegenstände, bietet Lotman die Möglichkeit eines ideologisch freieren Zugangs zu Texten und Filmen, in denen sich hegemoniale Strukturen Bahn brechen.
11 Gegen die Einordnung des Postkolonialismus als westliche Strömung ließe sich einiges einwenden; hier dient diese Bezeichnung vor allem als Opposition zu den ›östlichen‹, russisch-slavistischen Theorien wie etwa denen Lotmans.
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MICHAEL C. FRANK widmet sich in seiner Untersuchung insbesondere den topologischen Aspekten der Lotmanschen Kultursemiotik12, die er innerhalb neuerer raum- und geschichtstheoretischer Arbeiten verortet. Anhand von Rudyard Kiplings Plain Tales from the Hills überprüft Frank schließlich die Thesen Lotmans auf ihre Anwendbarkeit in Kontexten, die bisher die klassische Domäne der Postcolonial Studies bildeten. Er problematisiert dabei, wie auch einige der nachfolgenden Beiträgerinnen, das bei Lotman kaum berücksichtigte Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie, das die Grenzüberschreitung in diesen Texten beispielsweise zu einem »exklusive[n] Privileg britischer Männer« macht. Dessen ungeachtet betont Frank die Bedeutung des Lotmanschen Ansatzes, den er als willkommene und gelungene Ergänzung der bisher in der westlichen Literatur- und Kulturwissenschaft verankerten Modelle sieht. Dass Kultur auf »Empfang eingestellt sein« muss,13 wie Lotman schreibt, um Dynamik, neue Information und Innovation zu generieren, gibt den Auftakt zu ÖZKAN EZLIS Beitrag. Lotman geht davon aus, dass kreative und weniger kreative, offene und geschlossene, dynamische und statische Phasen einer Kultur einander ablösen (können). Als Motor dynamischer Entwicklungen erweist sich dabei vor allem die Autokommunikation, da sie neue Informationen und Unvorhergesehenes im bestehenden kulturellen Raum kommensurabel macht. Dabei steht ihr besonderes Verhältnis zur Peripherie kultureller Semiosphären in Verbindung zur Funktion künstlerischer Sprachen, die auf unvorhersehbare Neuerungen innerhalb einer Gesellschaft häufig am sensibelsten und schnellsten reagieren. Für die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft stellte die Arbeitsmigration der 1960er und 70er Jahre eine solche unvorhersehbare – weil zunächst allein unter der Perspektive der Rückkehr der Migranten verhandelte – kulturelle Herausforderung dar. Inwiefern passten die Migranten in das Selbstbild, das die noch relativ junge Republik in unausgesprochener Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von sich zu zeichnen suchte, inwiefern ließen sich die neuen und teilweise als ganz anders wahrgenommenen kulturellen Codes in eigene übersetzen? Nach Ezlis Überzeugung war es vor allem der Neue deutsche Film, der den Verhältnissen von Zentrum und Peripherie und den komplexen
12 Vgl. hierzu auch Frank 2009. 13 Lotman 2010a: 198f.
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Relationen, in denen sich Homogenität und Heterogenität formiert, in besonderer Weise Rechnung trug. Anhand von Rainer Werner Faßbinders Film Angst essen Seele auf analysiert der Beitrag eine alternative Lesart der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, in deren Mittelpunkt komplexe Prozesse der Mehrfachcodierung von Menschen, Milieus und gesellschaftlichen Schichten stehen. Der Film macht, durch die Brille von Lotmans Theorie betrachtet, die semiotische Grenzstellung von Personen ebenso sichtbar wie die Offenheit und Schließung menschlicher Körper und Kommunikationen in kulturellen Übersetzungsprozessen. An diesen beiden Beiträgen erweist sich, dass Lotmans Modelle für mit dem Rüstzeug der Postcolonial Studies gewappnete Wissenschaftler unmittelbar anschlussfähig sind, obwohl sie aufgrund des disziplinären Kontextes, dem sie entstammen, gerade nicht an den politischen und theoriepolitischen Debatten im Umfeld der Postcolonial Studies teilhaben14. Diese Unabhängigkeit und Ideologiefreiheit macht sie offensichtlich besonders anregend. Zur Analyse kolonialer und postkolonialer Prozesse der Unterdrückung wie des Austauschs sind sie, so weisen Frank und Ezli in ihren Beiträgen nach, höchst geeignet; mit ihrer Hilfe werden Text- und Raumkonstellationen lesbar, die die bisherigen theoretischen Paradigmen in gewinnbringender Weise ergänzen. Die Slavistinnen ANNETTE WERBERGER, IRINA WUTSDORFF und RENATA MAKARSKA sind aufgrund ihrer fachlichen Herkunft länger und intensiver mit den Thesen Lotmans und auch der Kritik an ihnen vertraut. Für sie sind seine Thesen keineswegs als ideologiefrei zu sehen, vielmehr steht ihre Verortung in einem spezifisch sowjetischen Diskurszusammenhang im Vordergrund, der gerade der Theorie und ihren Exponenten selbst die Rolle der positiv verstandenen Peripherie innerhalb des Großreiches UdSSR zuweist. Werberger, Wutsdorff und Makarska beschäftigen sich in ihren Beiträgen jeweils mit Strukturen des kulturellen Austauschs, mit Dialogen, bei denen ein starkes Machtgefälle innerhalb eines imperialen Kontexts vorliegt. Mit Fokus auf das vorwiegend am Begriff der Nationalkultur geschulte Verständnis von interkulturellem Dialog kritisieren sie eine mangelnde Problematisierung dieses Machtgefälles, die sich insbesondere in Lotmans eigenen kultursemiotischen Anwendungsanalysen manifestiert.
14 Vgl. hierzu auch Frank/Ruhe/Schmitz 2010a: 390ff.
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Für ANNETTE WERBERGER wird der Machtfaktor anhand eines Kulturkontakts offensichtlich, der nicht etwa zwischen zwei Nationalkulturen stattfindet, sondern vielmehr innerhalb eines komplexen Gebildes unterschiedlicher Sprachen und Codes, wie er in der Westukraine der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorlag. Polnische, jüdische und ukrainische Kultur und Sprache treffen aufeinander und wirken aufeinander ein, grenzen sich aber zugleich voneinander ab. In Abwesenheit fixer Nationalstrukturen, die mit den jeweiligen Kulturen kongruieren, bilden sich jeweils unterschiedliche Geschichtsbilder heraus, die miteinander in Konkurrenz stehen. Der Dialog findet nicht etwa zwischen zwei (National-)Kulturen statt, sondern muss stets einen dritten oder sogar vierten Aktanten mitberücksichtigen, der den Austauschprozess komplexer gestaltet. Werberger problematisiert die Tatsache, dass die Ungleichzeitigkeit des zeitlichen Ablaufs bei Lotman ebenso unzureichend berücksichtigt sei wie das sich notwendig ergebende Machtgefälle. Zugleich aber führt sie vor, dass der von Lotman gelieferte Analyserahmen ein treffsicheres Instrumentarium für die Untersuchung dieser spezifischen multikulturellen Situation an einer imperialen Peripherie bietet. IRINA WUTSDORFF widmet sich in ihrem Beitrag der Kultur der tschechischen Wiedergeburt, die »auch typologisch zwischen Russland und Europa lag«. Hierbei handelt es sich um eine synkretistische Kulturperiode, deren Dialogstrukturen sich überwiegend im Medium der Literatur niederschlugen. Anhand der Analyse dieser »kleinen slavischen Literatur« untersucht Wutsdorff dabei auch die Frage nach dem Stellenwert der Literatur in Lotmans Modell. Der Beitrag verdeutlicht in exemplarischer Weise, wie innerhalb der tschechischen Wiedergeburt die Literatur, aber auch ihre Fälschung eine zentrale, identitätsstiftende Funktion erhielt. Dabei handelt es sich wie im vorangegangenen Beitrag um eine Literatur, die ihren Platz innerhalb der »großen« europäischen Literaturen auch mit ungewöhnlichen Mitteln suchen (und finden) muss, aufgrund der Tatsache, dass sie in der entsprechenden Hierarchie eine eher marginale Rolle einnimmt. RENATA MAKARSKAs Beitrag konzentriert sich ebenfalls auf eine Literatur, die selten im Zentrum des Interesses steht: die der jenischen Schweizer Autorin Mariella Mehr und der polnischen Roma Bronisawa Wajs. Beide Autorinnen literarisieren ihr eigenes Leben bzw. werden literarisiert und machen somit die Stellung der eigenen Volksgruppe an der äußersten Peripherie der jeweiligen Gesellschaften deut-
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lich. Makarska schildert in eindrücklicher Weise die zum Teil institutionalisierten Unterdrückungsmechanismen, die gegen die Roma und Sinti zum Einsatz kommen und macht deutlich, dass der Prozess des kulturellen Austauschs hier allzu oft einer Assimilation oder zwangsweisen und gewaltsamen Einverleibung in die Mehrheitsgesellschaft gleichkommt. Sie betont die Asymmetrie im Verhältnis der beiden aufeinander einwirkenden Kulturen und stellt wie auch die ihr vorangegangenen Beiträgerinnen die Frage nach dem Machtgefälle und seiner unzureichenden Problematisierung innerhalb des Lotmanschen theoretischen Systems. Es kommt so, wie Makarska nachweist, weniger zu einem tatsächlichen Austausch als vielmehr zur beidseitigen aktiven Verhinderung eines Austauschs, der durch die Asymmetrie des Verhältnisses bestimmt wird. Es ist bezeichnend, dass die Frage nach der Hierarchie innerhalb des Lotmanschen Systems von den Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Disziplinen je unterschiedlich gestellt wird. Ist es für Frank noch mehr ein Befund innerhalb des analysierten Textes von Kipling, der den peripheren Stimmen keinen Raum gibt, was mit dem theoretischen Instrumentarium Lotmans zwar vielleicht nicht zu problematisieren, aber durchaus zu beschreiben wäre, so gerät derselbe Befund in den Augen der slavistischen Beiträgerinnen zur Kritik: Die eigene, periphere Position, so scheinen die Autorinnen den Vorwurf an Lotmans Theorien zuzuspitzen, führe zu einer Idealisierung der Möglichkeiten der Peripherie, zu einer David-gegen-Goliath-Ideologie, die die Problematik der eigenen Lage bewusst ausblende bzw. nur ihre Vorzüge sehen wolle. Eine solche Apologie der peripheren Position findet sich auch in Texten postkolonialer Theoretiker als wiederkehrendes Motiv, macht ein Beibehalten der dezentrierten Perspektive zur conditio sine qua non der eigenen Untersuchungen. Unberücksichtigt bleibt dabei nicht selten, dass die Veränderungen, die mit der zunehmenden Akzeptanz einer Theorie wie eines Theoretikers einhergehen, auch Auswirkungen auf die eingenommene Perspektive haben: Was im Zentrum längst angekommen und dort zum Paradigma geworden ist, kann legitimerweise nicht mehr als peripher betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden auch die unterschiedlichen ideologischen Einordnungen Lotmans lesbar: Seine theoretischen Positionen und ihre Diskussion haben in der russischen und slavistischen Diskussion einen dezidiert anderen Stellenwert als in der westlichen Wissenschaftslandschaft, die ihn in den letzten Jahren – wieder – zu
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entdecken beginnt: Ist er für die Einen inzwischen ein zentraler Bestandteil akzeptierter theoretischer Paradigmen, so erschließt er sich den Anderen als ungewöhnlicher und spannender Beitrag, der von der wissenschaftlichen Peripherie kommt. In diesem Kontext sind folglich auch die ideologischen Bewertungen zu sehen, die Lotman einerseits im Rahmen einer langen russisch-slavistischen Diskussion in einen kontinuierlichen Prozess einordnen, während er im Westen andererseits – noch? – als diskontinuierliche, anregende Stimme vernommen wird. Vielleicht, so soll hier nur angedeutet werden, liegt für die ihn neu entdeckende deutschsprachige Theoriedebatte in der Differenz zu den sich hegemonial verfestigenden Theorien der mehrfach beschworene Vorzug Lotmans, seine Ideologiefreiheit: Seine Texte enthalten sich bewusst einer Wertung, die im diskursiven Kontext der Sowjetunion nicht ohne Risiko gewesen wäre. Seine Thesen als eine kluge Interpretation seines eigenen kulturellen Kontextes zu lesen, ist ebenso möglich wie nahe liegend – er selbst lädt nicht dazu ein. Sein Interesse liegt an anderer Stelle: in der präzisen und universell übertragbaren Beschreibung von Entwicklungen, deren Bewertung und ideologische Aufladung dem jeweiligen Leser und Interpreten überlassen bleibt.
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Theoretische Überlegungen
Zur Funktionsweise kultureller Peripherien A LBRECHT K OSCHORKE
1. Das kulturwissenschaftliche Interesse der letzten Jahrzehnte hat sich vor allem auf kulturellen Fremdkontakt, auf Erfahrungen von ›Andersheit‹ über symbolische, systemische oder kulturelle Grenzen hinweg gerichtet. Diese Sensibilisierung für Andersheit ging mit einer breiten Hinterfragung von Konzepten des Eigenen, der Identität, Ganzheit, Geschlossenheit usw. einher. Darin hatten philosophische Subjektkritik, Dekonstruktion der Geschlechterpolarität und Postkolonialismus ihren gemeinsamen Nenner. Ihnen allen war es in ähnlicher Weise darum zu tun, hegemoniale Denkformen aufzulösen, indem sie sich gewissermaßen auf die Seite des Anderen stellen. Indessen teilen alle diese Ansätze ein Problem: nämlich dass die Umwertung innerhalb von Dichotomien dem dichotomischen Schema als solchem niemals vollständig entkommt. (Man könnte sagen, dies ist das strukturalistische Erbe, das der Poststrukturalismus im Namen trägt und nicht zu überwinden vermag.) Wer von Identität auf Alterität umstellt, bleibt, und sei es in einer begrifflich noch so kunstfertigen Weise, im Bannkreis einer negativen Fixierung auf Identität. Darin besteht die Schranke der Dekonstruktion, die nur dort wirklich stark ist, wo sie sich im Energiebereich starker Gegner aufhält: der Logozentriker, Phallokraten, Essenzialisten oder wie sie alle heißen mögen.
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Das gleiche Schicksal ereilt das Konzept der Hybridität, das schon allein wortgeschichtlich seine Herkunft aus einer Biologie der reinen Arten nicht abstreifen kann. Auch den Heterotopien ergeht es nicht anders, die vom Abseits leben und dadurch unfreiwillig den Blick auf hegemoniale Strukturen gerichtet halten. Und selbst die Rede von einem »third space« zwischen entgegengesetzten kulturellen Regimes bleibt unergiebig, solange sie diese »thirdness« lediglich als Zustand der Nichtzugehörigkeit zur einen wie zur anderen Seite und damit wiederum abstrakt und negativ fasst. Obwohl sie eigentlich einem entgegengesetzten Impetus folgen, laufen diese Konzepte noch immer Gefahr, die Konstellation von Fremderfahrung modellhaft zu verfestigen – und zwar in Hinsicht auf alle drei beteiligten Komponenten: das Eigene, das Fremde und den Grenzverlauf zwischen beiden. Dann stehen sich kollektive Entitäten mehr oder weniger monolithisch gegenüber und sind durch eine klare Unterscheidungsgrenze voneinander getrennt. Oft wird Interkulturalität ja nach dem Vorbild der Interaktion zwischen Subjekten modelliert, die sich als geschlossene und in sich homogene Einheiten begegnen. In diesem Fall liegen sogar Psychologisierungen nahe, etwa durch Verwendung des Begriffs der »Projektion«. Projektion beschreibt einen Mechanismus, in dem ein Subjekt das andere dadurch verfehlt, dass es in das Bild des Anderen die mit dem Selbstbild unvereinbaren Wünsche und Ängste auslagert. Projektion ›überschreibt‹ also das Fremde und gesteht ihm keinen Eigenwert zu; sie ist insofern nur die Kehrseite einer narzisstischen Verblendung. Wer Kulturkontakt vorrangig nach einer solchen wahnhaften Logik beschreibt, verleiht dieser Blindheit ein theoretisches Gütesiegel, statt sie als Teil eines komplexen und beweglichen Spiels von Optionen zu analysieren. Aber nur in einer sozusagen keimfreien theoretischen Isolation lassen sich Ego und Alter als zwei identitäre Wesenheiten denken, die sozusagen erst im Nachhinein in ein Verhältnis zueinander treten. Und nur in grob schematischen Modellen bilden Kulturen so etwas wie geschlossene Blöcke, zwischen denen eine eindeutige und allseits verbindliche Grenzlinie verläuft. Die kulturelle Empirie sieht anders aus. Man muss sie sich in Analogie zu ethnischen Verbreitungskarten vorstellen: Da leben heterogene Populationen diesseits und jenseits der Grenze, die in einem ständigen nachbarschaftlichen Austausch stehen, Güter und Frauen tauschen (Lévi-Strauss), verwandtschaftliche oder religiöse Verbindungen unterhalten und teilweise untereinander mehr
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Gemeinsamkeit haben als mit den jeweiligen politischen Machtzentren, denen die nominelle Kontrolle über ihre Gebiete obliegt. Und was mit Blick auf soziostrukturelle Verhältnisse gilt, lässt sich entsprechend in das Vokabular der Kultursemiotik übersetzen. Auch von Symbolen, Begriffen, kulturellen Codes und schließlich ganzen Semiosphären müssten sich ja Verbreitungskarten anfertigen lassen, und diese wären mindestens so unübersichtlich wie die Karten der Ethnographen. Sie hätten ein vielschichtiges In- und Durcheinander von Selbst- und Fremdzuschreibungen aufzuzeichnen, das einerseits Übergänge, Vermischungen und Synkretismen hervorbringt, andererseits eine Matrix für potenziell gewalttätige Abgrenzungen bildet. Es gäbe also auf semiotischer Ebene einen ähnlichen Flickenteppich von identitären Mustern wie in jeder einigermaßen genauen politischen Kartographie. Solchen Verhältnissen ist weder mit begrifflichen Dichotomien noch mit einer abstrakten Dekonstruktion solcher Dichotomien beizukommen. Sie erfordern eine Theoriesprache, die nicht in schematischen Gegensätzen, sondern Graduierungen, genauer: in Abweichungsbandbreiten denkt. Genau an dieser Stelle setzt die Wiederentdeckung von Jurij Lotman ein, wobei sich die Aufmerksamkeit weniger auf seine Poetik als auf seine jüngst in deutscher Übersetzung edierten kultursemiotischen Arbeiten richtet (Lotman 2010a und b). So skizzenhaft sie oft bleiben, sie enthalten doch Bausteine zu einer Feldtheorie kultureller Zeichenprozesse, die enorm hilfreich sind, um gewisse Verlegenheiten der gegenwärtigen Theoriediskussion zu überwinden. Zwar leitet sich auch die Kultursemiotik Lotmanscher Prägung aus der Tradition des Strukturalismus ab und steht im Bann Saussures. Gleichwohl gibt sie begriffliche Werkzeuge an die Hand, um das Wechselspiel zwischen Struktur und Entstrukturierung zu denken. Und anders als das Denken in poststrukturalistischen Bahnen erlaubt es Lotmans Modell, dieses Wechselspiel in einer konkreten, ja man möchte sagen: empirienahen Weise zu fassen und zu analysieren.
2. Es sind vier Merkmale, die eine Wiederanknüpfung an Lotmans Modell der kulturellen Semiosphäre als besonders fruchtbar erscheinen lassen:
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Erstes Merkmal ist die Interdependenz (und nicht bloß das hierarchische Gefälle) zwischen Zentrum und Peripherie, wobei das Zentrum als ›kalte‹, die Peripherie als ›heiße‹ Zone erscheint. Bekanntlich weist Lotman der Peripherie eine Schlüsselrolle im semiotischen Mechanismus zu. Dort lösen sich die Codierungen der Semiosphäre auf, fragmentieren und vervielfältigen sich. »Die Einteilung in Kern und Peripherie«, heißt es, »ist ein Gesetz der inneren Organisation der Semiosphäre. Im Kern sind die dominierenden semiotischen Systeme angesiedelt. […] Die peripheren semiotischen Gebilde müssen nicht geschlossene Strukturen (Sprachen) sein, sondern können aus Sprachfragmenten oder auch nur aus einzelnen Texten bestehen.« (Lotman 1984: 295) Am Rand einer Semiosphäre weichen also deren innere Ordnungsmuster auf. Zugleich ist sie dort in einem besonderen Maß fremden Einflüssen ausgesetzt. Denn anders als Niklas Luhmanns Systemtheorie sieht Lotman die Grenze nicht als eine operativ unüberschreitbare Trennlinie an1. Im Gegenteil, sie stellt eine Kontaktzone dar, in der sich die Zeichenprozesse verdichten. Lotman nennt »die semiotische Grenze eine Summe von zweisprachigen Übersetzer-›Filtern‹, bei deren Passieren der Text in eine andere Sprache (oder andere Sprachen) übersetzt wird, die sich außerhalb der gegebenen Semiosphäre befindet.« (Lotman 1984: 290) Solche »Übersetzer-›Filter‹« haben nicht allein die Aufgabe, die Mitteilungen, die das Grenzgebiet kreuzen, von einem (fremden) Code in einen anderen (eigenen) zu übertragen; vielmehr müssen sie ihnen in der eigenen semiotischen Sphäre überhaupt den Charakter von Information verleihen, das heißt die Voraussetzungen für ihre kulturelle Assimilierbarkeit schaffen 2. In dieser
1
Zum Problem der intransitiven Systemgrenze bei Luhmann vgl. Koschorke 1999 sowie 2004; als Modell für semiotischen Grenzverkehr ist Lotmans Theorie jedenfalls derjenigen Luhmanns bei weitem überlegen.
2
»Die Funktion einer beliebigen Grenze und eines Gewebes oder Films […] besteht in der Beschränkung des Eindringens des Äußeren in das Innere. […] Auf der Ebene der Semiosphäre bedeutet sie das Trennen des Eigenen vom Fremden, die Filtration der äußeren Mitteilungen und ihre Übersetzung in die eigene Sprache, ebenso wie auch die Umwandlung äußerer Nicht-Mitteilungen in Mitteilungen, d. h. die Semiotisierung des von außen Hereindringenden und dessen Verwandlung in Information. Von diesem Standpunkt aus gehören alle Mechanismen der Übersetzung, die Kon-
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Pufferzone der kulturellen Peripherie, um eine andere Metapher Lotmans zu variieren3, werden die den Binnenraum beherrschenden Strukturen fluide und wandelbar, während umgekehrt das Fremde durch »Semiotisierung«, das heißt durch seine Übertragung in systemimmanent prozessierbare Zeichen, zu innerkultureller Geltung gelangt. Die kollektive Phantasie bevölkert das Grenzgebiet der jeweiligen Semiosphäre mit einem entsprechend ambivalenten Personal, man könnte fast sagen: mit Experten für Mehrdeutigkeit und diffuse Identitäten. Hier kann Lotman Anleihen an der strukturalen Märchenanalyse aufnehmen, obwohl oder gerade weil ihn Prozesse der Auflösung von Strukturen mindestens ebenso interessieren wie eine strukturale Kombinatorik, die sich in der Auswechselbarkeit der Elemente immer gleich bleibt. Denn an der Peripherie geht es ja nicht um bloße Varianz innerhalb von feststehenden Codes, sondern um die Umschmelzung und Transformation des Codesystems selbst. All dies macht Lotmans Ansatz erzähltheoretisch interessant, zumal im Hinblick auf Mythen der Welt- bzw. Kulturgrenze. Er bietet überdies eine gute Handhabe zur Erklärung der Synkretismen, die sich an den Rändern von hegemonialen Semantiken bilden, etwa von Glaubenssystemen. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte an die postcolonial studies. Schließlich ist in Rechnung zu stellen, dass Lotman zufolge Ungleichmäßigkeit im Innern ein Grundmerkmal von Semiosphären bildet (vgl. Lotman 1984: 290), dass diese innerhalb ihrer jeweiligen Umgrenzung nochmals vielfach gegliedert und von internen Barrieren durchzogen sind, so dass sich in Folge dessen Zentren und Peripherien multiplizieren und unzählige Interferenzen erzeugen. In dieser Weise kann ein fortentwickelter Begriff der Semiosphäre dabei helfen, dezentrierte Sozialordnungen beschreibbar zu machen, wie sie die gegenwärtige Debatte im Hinblick auf die Weltgesellschaft als ganze beherrschen. Als zweiter Vorzug der Lotmanschen Kultursemiotik ist das ihr zugrunde liegende Kommunikationsmodell zu nennen. Lotman setzt sich ja von dem herkömmlichen Kommunikationsschema ab, das auf dem Vierschritt Sender – Codierung der Nachricht – Decodierung der
takte nach außen aufrecht erhalten, zur Struktur der Grenze der Semiosphäre.« (Lotman 1984: 292) 3
Lotman spricht von der »Funktion eines Puffermechanismus, der die Information umwandelt, einer eigenartigen Übersetzungsvorrichtung« (ebd.).
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Nachricht – Empfänger beruht (vgl. Lotman 1974a) und als Normalfall ansetzt, dass sich Sender und Empfänger desselben Codes bedienen. Aus Lotmans Sicht trifft das genaue Gegenteil zu: »[...] those exchanging information use not one common code, but two different ones, to some extend intersecting. Thus the communicative act is not a passive transmission of information but a translation, a re-encoding of the message.« (Lotman 1974a: 302) Das bedeutet, dass sich zwischen sinnhafter und sinnloser, zwischen codierter und nicht mit einem erkennbaren Code versehener Zeichenübermittlung, mit einem Wort: zwischen Information und Rauschen keine glatte Trennlinie ziehen lässt. Kulturelle Kommunikation spielt sich in der gesamten Bandbreite eines partiellen Verstehens und Umformens ab. Alles zählt gleichviel und ist im gleichen Maß Bestandteil der kulturellen Semiosis: »Non-understanding, incomplete understanding, or mis-understanding are not side-products of the exchange of information but belong to its very essence.« (Ebd.) Dieser Ansatz erspart lange Grundsatzdebatten zwischen Hermeneutikern und Dekonstruktivisten, ob die kulturelle Welt als ein Sinnganzes anzusprechen ist oder nicht. Er lässt vielmehr vor unseren Augen eine Art Kulturtopographie neuen Typs entstehen. Wir können auf dieser Grundlage Zonen von geringerer und größerer Sinndichte unterscheiden und der Frage nachgehen, in welcher Weise Zentren einer (tendenziell hegemonialen) Hochsemantik einerseits, Räume der Dislozierung oder sogar Destabilisierung von Sinn andererseits miteinander interferieren. Dass Kommunikation nicht darin besteht, Nachrichten wie Pakete von einem Ort an den anderen zu schicken, sondern immer ein Moment der ›Brechung‹, der Übersetzung und Transformation in sich trägt, macht Polyglossie als wesentliches, funktionales Charakteristikum von Kulturräumen beschreibbar. Wie gleich noch näher auszuführen sein wird, verbindet sich eine so verstandene kultursemiotische Analyse mit der Analyse kommunikativer Infrastrukturen. Sie leitet uns zu einem ganzen Fächer von Fragen: An welchen Orten und in welchen Institutionen werden die hegemonialen Codes einer Kultur generiert und gehegt? Auf welchen Wegen verbreiten sie sich? Wo stoßen sie auf semantische Gegenzentren, die ihnen artikulierten Widerstand bieten? Unter welchen Bedingungen verlieren sie ihre Energie und zerstreuen sich in eine Art von kraftlosem Gemurmel? – Infrastrukturen wiederum sind Wegenetze der Macht, so dass auch von dieser Seite der Lotmanschen Theo-
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rie her das Studium von Zeichenprozessen und von Machtverhältnissen zusammenlaufen. Der dritte Gesichtspunkt, der deshalb Hervorhebung verdient, zielt auf Lotman als Theoretiker der Unordnung ab. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass in seinem Modell die sozusagen glatte Übermittlung von Nachrichten in einem für Sender und Empfänger identischen Code innerhalb einer Semiosphäre keinen bevorzugten Stellenwert genießen kann und nicht einmal unbeschränkt wünschenswert ist. Im kulturellen Stimmengewirr bauen sich Codierungen pausenlos auf und ab, und beides sind notwendige Prozesse: »formation« ebenso wie »decay of single codes«, so wieder Lotman, »[…] exist as two opposing, but mutually conditioned and equally essential, semiotic mechanisms of culture. The final victory of any one of them would make communication either unnecessary or impossible.« (Lotman 1974a: 303) Unmöglich wird die Kommunikation, wenn alle Codierungen ausfallen und folglich auch keine Übersetzung zwischen den Kommunikanten stattfinden kann; unnötig wird sie, wenn alle Individuen auf den gleichen Code geschaltet sind. An dieser Stelle tritt in Lotmans Äußerungen eine anti-kollektivistische Tendenz zutage, deren konkreten historischen Hintergrund wohl das Sowjetsystem bildet, die aber darüber hinaus systemfunktionalistisch (man könnte auch sagen: ökologisch) verallgemeinerbar ist. Denn individuelle Abweichung ist notwendig, um semiotische Varietät (Artenvielfalt) zu gewährleisten.4 Indessen sorgt, wenn man Lotman glauben will, der Zeichenmechanismus von Kulturen hier selber vor und stellt von sich aus das nötige Maß an Störung und Vervielfältigung der Nachrichtenwege sicher. Lotman äußert die Überzeugung, »that culture is, in its internal movement, constantly and purposefully multiplying the mechanisms which impede the process of message-transmission.« (Ebd.: 302) Auf diese Weise bringen sie eine Qualität hervor, die in Lotmans Semiotik geradezu eine Grundvoraussetzung für kulturelle Kommunikation bildet, nämlich Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit entsteht immer
4
»The use of one and the same code, and the circulation of one and the same message unaltered in the process of transmission, would result in the collective being composed of semiotically uniform individuals, that is, in the loss of one of the most essential features that distinguish one personality from other. A collective composed in such a way would suffer extreme loss of stability and viability.« (Lotman 1974a: 303)
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neu und heftet sich sogar noch parasitär an alle historischen Versuche, sie durch semiotische Disziplinierung zu überwinden. Zwar schufen solche Versuche »neue Kulturen, führten jedoch noch nie zur Ausmerzung [des Moments] der Unbestimmtheit in ihrem Mechanismus (in den Fällen, wo in künstlichen und begrenzten Räumen ein solches Ziel erreicht schien, schwanden die Lebensfähigkeit, die Homöostatik und die Fähigkeit des kulturellen Mechanismus, sich selbst zu entwickeln). Aus diesem Grunde bleibt zu vermuten, dass jede Kultur innere Mechanismen zur Erzeugung von Unbestimmtheit besitzt.« (Lotman 1974b: 418)
Der Begriff der Unbestimmtheit hat auch in der deutschen Poetik eine wichtige Rolle gespielt, vor allem bei Roman Ingarden und in der Konstanzer Rezeptionstheorie. Ingarden spricht von »Unbestimmtheitsstellen«, die in allen Kunstwerken vorkommen und durch die produktive Einbildungskraft des Rezipienten aufzufüllen sind (Ingarden 1968: 302). Es gebe, so schreibt er, »in jedem literarischen Kunstwerk [...] Stellen des Nichtgesagten, des Verschwiegenen, des Unbestimmten, Offengelassenen, die trotz ihrer merkwürdigen Anwesenheit und ihres ebenso merkwürdigen Unbemerktseins und Unbeachtetseins doch eine wesentliche Rolle in der künstlerischen Struktur des Kunstwerks spielen.« (Ebd.: 303)
Zwischen der Theorie des schöpferischen Rezipienten einerseits und dem Kommunikationsmodell der Semiosphäre andererseits zeigen sich interessante Resonanzen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass ›Unbestimmtheit‹ in Lotmans kultursemiotischer Kybernetik etwas anderes meint als in der phänomenologischen Tradition, aus der Ingarden schöpft, auf den sich wiederum Wolfgang Iser bezieht. Denn bei Lotman geht es nicht vorrangig um einen ästhetischen Appell zur »Konkretisation« (vgl. Ingarden 1968: 49ff.) dessen, was nur halb gesagt und schwach ausgeleuchtet ist. Unbestimmtheit ist bei ihm keine Eigenschaft künstlerischer oder empirischer Phänomene, sondern Effekt der kommunikativen Struktur. Jeder Zeichentransfer, jede kulturelle Kommunikation, sogar jede Verständigung enthält einen Rest, der nicht ›aufgeht‹, der mehrdeutig oder vage bleibt. Dieser Rest – um das noch einmal zu betonen – ist nicht bloß eine Störgröße oder der kos-
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tentreibende Nebeneffekt einer idealiter reibungsfreien Informationsübermittlung, sondern ein funktioneller Bestandteil des Kommunikationsuniversums. Mehr noch, die Summe und Interferenz solcher ›Reste‹ könnte sich als der eigentliche Nährboden erweisen, in dem sich die kulturprägenden Inhalte und Leitvorstellungen auskristallisieren – das flüssige Medium, aus dem Herrschaftssemantiken, Ideologien oder kulturelle Identitäten hervorgehen und in das sie sich wieder verlieren. Wie in einem Vexierbild treten bei einer solchen Betrachtungsweise nicht die sozusagen offiziellen Gestaltungen einer Kultur hervor, sondern die Spielräume des Informellen, der schwachen und dispersen Kausalitäten, der Indetermination. Man könnte mit einem neueren Ausdruck von der »fuzzy logic« sich vervielfältigender kultureller Randzonen sprechen. Nicht obwohl, sondern weil wir in einen Raum des Diffusen hinein sprechen, sind Gesellschaften einigermaßen integrierte Gebilde. Jeder kommunikative Akt erzeugt einen Überschuss von Möglichkeiten, und es ist gerade der Mangel ihrer Kalkulierbarkeit, das Überborden der Unordnung über die Ordnung, der kulturelle Elastizität und damit sozialen Fortbestand sichert. Der vierte Grund für Lotmans erneuerte Aktualität liegt in den bemerkenswerten Parallelen zwischen der Struktur der Semiosphäre und der Raumgrammatik gegenwärtiger Machttheorien. Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich hierbei vor allem um Theorien des Imperiums handelt. Ähnlich wie Lotman den kulturellen Kommunikationsraum als ein dichtes Medium ansieht, das die Zeichen nicht einfach durchleitet, sondern auf ihre Übermittlung einwirkt und sie verändert, steht auch die Analyse politischer Machtgebilde seit längerem im Zeichen eines widerständigen, anisotropen Raumes. Das Problem, das Imperien logistisch zu bewältigen haben, heißt entsprechend: Überwindung des Raumwiderstandes. Deshalb genügt es nicht mehr, die Aufmerksamkeit allein auf das imperiale Machtzentrum zu richten, weil dessen Vorgaben und Maßnahmen die Ränder des Machtraumes nicht unverändert erreichen. Von ganz anderen fachsprachlichen Voraussetzungen aus gelangen so die Imperiumstheorien zu Beschreibungsweisen, die denen der Semiosphäre ähneln. Was bei Lotman die Übersetzerketten sind, die Sender und Empfänger weniger verbinden als distanzieren, sind in diesen Theorien die Machtrelais auf den Verkehrswegen zwischen Zentrum und Peripherie. Und was Lotman wie einen sozusagen informationellen Verschleiß in sein Kommunikationsmodell einberechnet, erscheint in den politischen Analy-
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sen als Kostenfaktor. Die Aufrechterhaltung von Macht ist kostspielig, weil sie der Gegenkraft des Raumes abgerungen werden muss – weil Straßen gebaut und aufrechterhalten, Botensysteme etabliert, militärische Stützpunkte errichtet, lokale Eliten willfährig gemacht und Ressourcen weiträumig umverteilt werden müssen. Dieser Prozess geht auf allen Ebenen mit Energieverlusten durch Kompromissbildungen einher, die so etwas wie ein machtpolitisches Äquivalent zu Lotmans Beobachtung darstellen, »that culture is, in its internal movement, constantly and purposefully multiplying the mechanisms which impede the process of message-transmission« (Lotman 1974a: 302). Was für Nachrichten im Allgemeinen gilt, trifft auf Befehle im Besonderen zu, deren Weitergabe auf vielfältigen Übersetzungswiderstand stößt. Wahrscheinlich lässt sich dieser Mechanismus von semiotischen Transfers auf materielle übertragen: Unter vormodernen Bedingungen jedenfalls gehorchen Steuern oder Truppenerhebungen den gleichen Diffusionsregeln wie Informationen; je länger der Weg und je mächtiger die Zwischeninstanzen, desto bruchstückhafter gelangen sie an ihr Ziel. Bei Michael Doyle und Herfried Münkler führen solche Infrastrukturanalysen dazu, die besondere Rolle ideologischer Machtausübung über große Entfernungen hinweg zu betonen. In der Konsolidierungsphase eines Imperiums, die mit Bezug auf das beginnende römische Kaiserreich als »augusteische Schwelle« bezeichnet wird, gewinnt ideologische Integration gegenüber rein militärischen Zwangsmaßnahmen an Bedeutung5. Der nüchterne Grund dafür ist, »dass die Beherrschungskosten gesenkt werden müssen«; vor allem ideologische Macht sei »im Vergleich zu militärischer Macht viel preiswerter zu generieren« (Münkler 2005: 80) und über große Entfernungen hinweg zu verbreiten. Durch einen solchen »Machtsortentausch« (ebd.: 116)6 kommt es zu einer »Verwandlung von potestas in auctoritas (von Macht in Autorität)« (ebd.: 115), modern ausgedrückt von »hard power« in »soft power«. In diesen Zusammenhang ist der Aufstieg des Christentums im Imperium Romanum einzuordnen, logistisch begünstigt durch das System der Handelswege im mediterranen Raum (Mann 1986b: 104-116).
5
Vgl. Doyle 1984: 93ff., sowie Münkler 2005: 80ff., 112ff.
6
Unter Bezug auf Michael Mann.
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Aber die Ausbreitung einer universalistischen Religion, die schließlich zur römischen Staatsreligion erhoben wird, ist zugleich ein Beispiel dafür, dass solche Prozesse nicht vom Zentrum her dirigiert werden, sondern einer Dialektik zwischen Zentralherrschaft und peripheren Dynamiken unterliegen. Das Christentum, das als kleine chiliastische Sekte am östlichen Rand des Imperium Romanum entstand, musste eine Vielzahl von Übersetzungen durchlaufen, um zur offiziellen Ideologie der kaiserlichen Herrschaft zu werden; es ist dieser Herrschaft jedoch nicht nur dienstbar gewesen, sondern hat sie umgeformt und langfristig sogar zu ihrer Zersetzung beigetragen. Unter den Imperiumstheoretikern zeigt Michael Mann die größte Nähe zu den Annahmen der Kultursemiotik Lotmanscher Prägung – auch wenn Mann sich für Kultur selbst nur oberflächlich interessiert. Zu erkennen sind vor allem drei Parallelen. Die erste besteht in dem ausgeprägten Anti-Intentionalismus beider Theorien. Mann zufolge verdankt sich die Geschichte »rastlosen Trieben, welche die Menschen veranlassen, verschiedenartige Netze extensiver und intensiver Machtbeziehungen zu knüpfen« (ebd.: 35). Auch Mann geht also nicht von einem unitarischen Gesellschaftsbild, sondern von einer Vielzahl schwach koordinierter Strebungen aus, die jeweils ihrem eigenen Bewegungsgesetz gehorchen. Das kann unter bestimmten Umständen zu gezielter und direkter Veränderung führen; es sei aber ebenso gut möglich, schreibt Mann, »daß das Ganze unabsichtlich und ›interstitiell‹, d. h. in den Zwischenräumen zwischen den Institutionen und an ihren Rändern, passiert« (ebd.). Damit ist ein zweites Stichwort genannt, das die Machttheorie mit der Kultursemiotik verbindet: die Rolle von »interstices« oder, noch weiter gefasst, »interstitial emergence« (Mann 1986a: 16ff.)7, das heißt der unvorsehbaren Neuerungen, die aus der Interferenz zwischen Machtfunktionen und Institutionen, oder semiotisch: zwischen verschiedenen Codes erwachsen. Manns gesamtes Theoriedesign stützt sich auf die historische Wirkmächtigkeit solcher interstitieller Effekte. Drittens schließlich entwirft Mann ein zyklisches Modell, nach dem die Ausbreitung antiker Imperien immer wieder ihren eigenen Untergang nährt. Der entscheidende Mechanismus besteht darin, dass zum Schutz des Territoriums Ressourcen, Knowhow und Befehls-
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In der deutschen Übersetzung: »interstitielle Emergenzen« (Mann 1986b/ 1991: 36).
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gewalt vom Zentrum zu den »marchlords«, den Machthabern an den porösen Außengrenzen des Reiches, verlagert werden müssen. Das hat zur Folge, dass sich langfristig die Abhängigkeiten umkehren und an der Reichsgrenze neue Herrschervölker und -dynastien entstehen, die sich die bestehende Infrastruktur zunutze machen, um schließlich auch die Macht im Zentrum an sich zu reißen. Diese historische Schaukelbewegung bildet ein machttechnisches Äquivalent zu den Zeichenprozessen, die Lotman zufolge an der Peripherie von Semiosphären wirksam sind.
3. Diese knappen Bemerkungen sollen genügen, um das erneuerte Interesse an Jurij Lotman verständlich zu machen. Er bietet die Umrisse einer Theorie, die literatur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbinden kann. Der Generalnenner dieser Ansätze besteht darin, Modelle für polyzentrische, von Grenz- und Übergangsdynamiken bestimmte, in ihren vielfältigen Strebungen schwach koordinierte und vor allem durch die »Kraft schwacher Bindungen« zusammengehaltener Gesellschaften zu entwickeln (vgl. Granowetter 1973). Anders gesagt: Modelle, in denen Bedeutungsfixierung und Unschärfe, Ordnung und Unordnung, Integration und Desintegration keine strikten Gegensätze, sondern Komponenten eines Wechselspiels sind.
L ITERATUR Doyle, Michael (1984): Empires, London. Granowetter, Mark (1973): »The Strength of Weak Ties«, in: American Journal of Sociology 78, S. 1360-1380. Ingarden, Roman (1968): Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen. Koschorke, Albrecht (1999): »Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie«, in: Ders./Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin, S. 49-60. — (2004): »Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung«, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der
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Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? (DFG-Symposion 2003), Stuttgart, S. 175-184. Lotman, Jurij M. (1974a): »The Sign Mechanism of Culture«, in: Semiotica 12, S. 301-305. — (1974b): »Zum kybernetischen Aspekt der Kultur«, in: Ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. v. Karl Eimermacher, Kronberg, S. 417-421. — (1984): »Über die Semiosphäre«, in: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), S. 287-305. — (2010a): Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, hg. v. Susi K. Frank, Cornelia Ruhe u. Alexander Schmitz, übers. v. Gabriele Leupold u. Olga Radetzkaja, Frankfurt a. M. — (2010b): Kultur und Explosion, hg. v. Susi K. Frank, Cornelia Ruhe u. Alexander Schmitz, übers. v. Dorothea Trottenberg, Frankfurt a. M. Mann, Michael (1986a): The Sources of Social Power. Bd. I: A history of power from the beginning to A.D. 1760, Cambridge u. a. — (1986b/1991): Geschichte der Macht. Bd. 2: Vom römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Frankfurt a. M./New York. Münkler, Herfried (2005): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin.
On a Semiotic Theory of Hegemony Conceptual Foundations and a Brief Sketch for Future Research 1
P EETER S ELG /A NDREAS V ENTSEL
The article sets out to deal with the problem of political power. We seek to provide some suggestions for approaching this issue from the semiotic point of view. Our paper stems largely from a set of theoretical congenialities between Jurij Lotman and Ernesto Laclau, an increasingly influential political theorist whose conception of hegemony and discourse marks for many a new starting point in political and social sciences.
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This research was supported by the European Union through the European Regional Development Fund (Center of Excellence CECT), Estonian Science Foundation grant ETF7988 »The Power of the Nomination in the Society and in the Culture« and Grant ETF 8804 »Semiotic perspectives on the analysis of power relations and political communication«.
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P OWER
AS A PRIMARY TERRAIN FOR POLITICS
The present approach abandons the narrow definition of politics: it does not limit itself to classical political theory. In addition, it does not refer only to the thematic field of what politicians do in parliaments, to the rhetoric of the pre-election debates, or to all that we see in the political sections of daily newspapers. Why? Because this article primarily deals with analysing the logic of certain signification processes that do not only appear in political discourse but also in other fields which constitute social life. Thus, in this framework, politics can be conceptualised as a practice for creating, reproducing, and transforming social relations which cannot themselves be located at the level of the social. For »the problem of the political is the problem of the institution of the social, that is, of the definition and articulation of social relations in a field crisscrossed with antagonism« (Laclau/Mouffe 1985: 153). It can thus always be understood as expressing the power of discourses. This brings us directly to the need to conceptualise the relations between power and politics. In searching for an answer, we are consciously moving away from essentialist approaches to power (the bestknown of which would be liberalism and Marxism). Such approaches define power as a determinate »thing«, seeing their biggest problem in the normative »justification« (liberalism) or »critique« (Marxism) of this »reified« power. The basis for our work is instead the tradition that has developed through Antonio Gramsci’s theory of hegemony and Michel Foucault’s approach to »discourse« and »power«. For Gramsci, hegemony is not something that can be described by the traditional characteristics of power, coercion, or domination (dominio). It is instead dependent on the »spontaneous« consent of those who occupy the subaltern positions in the relations of subordination (Gramsci 1975). It should be emphasized that Gramsci does not think of the legitimisation of hegemonic formations as a consequence of propaganda or brainwashing. Nor is it explainable merely as a calculation of rational interests. Rather, all these factors have a part in forming that agreement. As we know, Foucault does not consider power to be merely an instrument of repression, but instead as what makes things and talking about them possible. Power does not only say »no« but it constructs things – inducing pleasure, forming knowledge, and producing dis-
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courses (Foucault 1980: 37). For the most part, the mechanisms in the functioning of power are not based on justice, law, and the threat of punishment, but rather on techniques, ideals that express normalcy, and diverse mechanisms of control (Foucault 1976/1990: 89-90). In view of Foucault’s contribution, the old questions, such as »who has power?« or »who is repressed by power?« lose their previous acuity. The approach described draws attention to analysing hidden power relations, especially the power of discourse. It contrasts with the previous object of analysis of social scientists – the relations between the people and the state and its administrative apparatus. Hegemony becomes the central concept for defining political discourse.
L ACLAU ’ S
CONCEPT OF HEGEMONY
From an anti-essentialist perspective, power relations are not something pre-given. They are instead constructed through social and cultural meanings. All power relations are understood as discursive relations, and »objectivity« as such is constructed specifically in discourse (Laclau 2005: 68). Yet this perspective has nothing to do with debates between realists and idealists. Laclau does not deny that earthquakes and other physical phenomena exist. But whether an earthquake is constituted in terms of divine wrath or as a natural disaster depends on discursive structurations (Laclau/Mouffe 1985: 108). It is important in applying the concept of discourse that it is not only limited to writing or speech but also refers to any complex of elements where relations play a constitutive role (Laclau 2005: 68). For Laclau, the question of social and political reality thus boils down to the question of how discourse is constituted. Hegemony for Laclau is to be understood on the terrain of discourse. Thus, a hegemonic relation is a certain articulation of meanings. And such an articulation requires that a particular difference loses its particularity and becomes a universal representative of the signifying system as a whole. In that way, closure for that system is provided for. Since every system of signification is essentially differential, its closure is the precondition of signification being possible at all (Laclau 1996a: 36-46). But any closure requires the establishment of limits, and no limit can be established without simultaneously positing what is beyond it. But how can one posit what is beyond the limits
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of the system of all differences? Laclau’s answer is: only through radical or antagonistic exclusion. But this exclusion operates through two contradictory logics: On the one hand it makes possible the system of differences as a coherent totality. Yet on the other hand, the differences that now form a totality are no longer merely different but also – with respect to their relation to the excluded element – equivalent to each other. Their identity, based on a more or less clear difference from each other, tends to be corrupted or subverted by their equivalence to one another. This insurmountable tension between the logic of difference and that of equivalence is unavoidable when constituting any discourse. But a very important conclusion from this tension is that discourse – i. e., the systemic totality of differences – is an object that is simultaneously impossible and necessary (Laclau 1996b). It is impossible because there cannot be a final victory of one of these logics over the other. And since the tension between those logics is insurmountable, there is no literal object that corresponds to a discourse. But the totality of discourse is also a necessary object that has to be created. For without it, there would be no signification. This means that its creation can only be figural or tropological construction – not a literal recognition (Laclau 2006: 103-114). To explain this logic of figural construction, Laclau coins the category of »empty signifier«. Put roughly: in the formation of discourse, differences lose their identity which is based on differentiality. In other words: the signifiers that form discourse are increasingly emptied of their specific meaning. But some signifiers tend to become »more empty« than others. Of course no signifier can lose its differential meaning altogether, yet Laclau’s idea is that the one that loses it the most – the empty signifier – can also represent the discourse as a whole and thus embody the totality of the whole system of differences. Just which signifier assumes this function is contingent. It cannot be determined a priori but is constituted through hegemonic operations in the political struggle. If it could be determined a priori, the relation between the empty signifier and all other differences would be a conceptual relation, one in which the empty signifier would express a common core of all the particular differences belonging to the discourse. But that is exactly what Laclau rejects (Laclau 2006: 108-109). The relationship between the empty signifier and the discourse as a totality is the relationship between a name and an object.
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So the problem of naming is at the centre of his theory of discourse and hegemony. Through the act of naming, hegemonic relations are established. But how are names and objects related to each other? Here Laclau takes a radically anti-descriptivist stance. Antidescriptivism as outlined in the works of Saul Kripke asserts that naming does not involve any conceptual mediation but is a »primal baptism« through which a name is assigned to an object. But Laclau, referring in this context to the theoretical contribution of iek (1989), goes even further. He argues that the object is not something pre-given or something that a name can be assigned to. Rather, the unity or identity of the object is the result of naming it (Laclau 2006). Objects are created, as it were, when they are named. The name is the basis for a thing – not the other way round. That means that the study of naming strategies is of utmost importance for political analysis. But this raises a very important question concerning this logic of discourse: what are the forces behind these operations which enable naming to be the basis for discourse? And here is where our approach begins to depart from Laclau’s, drawing as it does primarily from Lacanian psychoanalytic conceptions of affect, desire, and drive. Our aims are more empirically-oriented. That is why we dismiss the vocabulary of affect, desire and drive from the model of hegemony, and substitute it with the vocabulary of translation. And this is where the works of Jurij Lotman enter the picture.
C ULTURAL
SEMIOTICS ’ CODING OF MEANING
For Lotman, human consciousness – on both the collective and individual levels – is heterogeneous. And the general basis for this presumption is that »[a] minimal thinking apparatus must include at least two differently constructed systems to exchange the information they each have worked out« (Lotman 1990/2001: 36). Lotman refers to discrete and non-discrete (or continuous) coding systems. According to him, the mutual untranslatability of these coding systems is due to their fundamentally different structuring principles. For Lotman, the basic bearer of meaning in a discrete system is the sign or segment. In the continual or non-discrete systems the primary bearer of meaning is the text that does not dissolve into signs but itself is a sign and isomorphic to sign (Lotman 1978/2004a: 570).
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According to Lotman this »minimal structure [i. e. minimal thinking structure] contains a third component: a block of contingent equivalences, a metaphorogenous device [ ] that makes possible operations of translation in the conditions of untranslatability« (Lotman 1989/2004b: 641). The same function is attributed to the empty signifier in Laclau’s conception: it links the different signifiers in a chain of equivalence. And through that operation, the signifiers lose their differential identity and become governed by a logic of equivalence. Using Lotman’s vocabulary in order to make the same point, one might say that a non-discrete strategy of translation generally prevails in political discourse. Discrete and clearly differentiated signs are translated into a non-discrete totality. Its universal law, in turn, is that everything resembles everything else, and its organizing structural relation is homomorphism. Yet this leaves us with an important question: through which act is the discourse closed as a meaning-bearing totality? And the answer is: naming. In Lotman’s semiotics of culture, names and naming perform a function very similar to Laclau’s »empty signifier«. Although a name by its nature is discrete, it functions as a name for an entire significant totality, and it would be more accurate to say that it generates the whole as a meaningful semiotic object in the primary process of semiotization (Lotman 1989/2004b: 647). The meaning of the name can function as a representation of a continuous totality. Or in the borderline case, it can become the totality. This borderline case, as observed by Lotman, is the logic of mythological naming.2 For Laclau, it would be a case of not merely equivalence between the name and the object it names but one of identity, in which case altering the name would imply altering the object that is named. Having identified two theoretically extreme cases of naming, it is vital to point out that naming is not the only genuine translation strategy related to hegemonic operations. We might concur with Laclau and Lotman that it is the most fundamental hegemonic operation, having its most authentic effect in situations of intense political disorder or in political revolutions. But an important theoretical and practical problem for political analysis is the question of conceptualising less fundamental forms of hegemonic operations.
2
Cf. Selg/Ventsel 2008 and Ventsel 2009.
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Laclau’s basic claim is that a name is the basis for a discourse in which previously unorganised or unarticulated elements are unified into an organised totality by which the identity of those elements is transformed. But this is an ontological claim that begs a number of questions: How is this transformation performed and how might we study it? Are there any possible typologies for the various logics of this transformation? These questions are implicitly present in Laclau’s conception. But we will attempt to make them more explicit using Lotman’s conception of translation and different translation strategies like internal, external, and multilevel recoding.
S KETCH
OF A POLITICAL ANALYSIS : THE DISCOURSE OF ›T HE S INGING R EVOLUTION ‹ The example to be discussed here belongs to one of the most revolutionary periods of the recent history of Estonia. This period was accompanied by the collapse of the Soviet Union. In addition, the Soviet identity (the so-called homo sovieticus), which until then had been maintained in the public communicational space through total censorship, was collapsing and was being replaced by a new identity constructed on the basis of nationality or ethnicity. National identity might be seen as a coherent discourse (or text) through which the homogeneity of a cultural system is established. As mentioned above, this system implicitly demarcates itself from the extra-semiotic reality or a reality of certain other semiotic system. Thus understood, identity formation can be seen as an ordering principle of cultural reality. The need to rearticulate cultural identity usually stems from changes in culture’s position either due to internal or external factors. In most cases, the main causes for intensifying identity creation are external. In this connection, we might first point to political or economic pressures (including direct dangers of war). The second factor involves the intensification of dialogue and the diversification of cultural contacts – as well as the transformation of the operating cultural and power relations. Third, there is the transformation of the communicational space through the introduction and dissemination of new media (Kotov 2005: 189). All these conditions were present in the Estonia of the late 1980s: The internal communicational space was becoming disengaged from
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the total censorship of the Soviet Union. Further, various civic initiatives were emerging; communication channels were opening up, and contacts with the world abroad were expanding. Polemics concerning the incompatibility of Estonian and Soviet identity entered increasingly the public communicational space of Estonia. This antagonism discursively tended to divide society into two opposing camps – ›Estonians‹ and ›Otherians‹.3 That is, of course, a clearly undemocratic tendency (in the sense outlined below) though it might be added in retrospect that the aim of this construction served the struggle of restoring a democratic order in Estonia. Besides that, it had an effect of increasing the risk that local initiatives would be strongly repressed by the Soviet central authorities. The victims of events in Baku, Tbilisi, Riga, and Vilnius demonstrated how tangible this danger was in the late 1980s and the early 1990s. One of the most powerful discourses constructing Estonian nationnal identity during the period in question was a chain of various events and phenomena that has become widely known under the unifying name ›Singing Revolution‹. The term ›Singing Revolution‹ was first used by Heinz Valk in an article that appeared on 17 June 1988 in ›Sirp ja Vasar‹ (›Hammer and sickle‹), a weekly newspaper widely read at the time (Valk 1988). In Estonian as well as wider historical memory, ›Singing Revolution‹ signifies a set of events that contributed to the expansion of the economic and political rights of the local Estonian people, in the long run leading to the restoration of the Estonian Republic.4 Here we can only point out the most significant of these events. First, there was the socalled ›Phosphorite War‹, during which the Estonian press publicly opposed Moscow’s plan to establish a phosphorite mine in the eastern part of Estonia. Second, there was the policy plan for Estonia’s inde-
3
An untranslatable word ›muulased‹ was coined to signify all the non-Estonians. Grammatically it is an artificial form that could approximately be translated as ›otherlanders‹ or even more literally ›otherians‹ referring to a pseudo ethnicity of ›Otheria‹.
4
See Singing Revolution (2006), a film by James Tusty & Maureen Castle Tusty. Mountain View Production/Allfilm/Northern Light Production. USA/Estonia. Another indication of the wider acceptance of the signifier could be illustrated by the entry ›Singing Revolution‹ in Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Singing_Revolution.
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pendent economy which came to be known under the name ›IME‹ (the word ›ime‹ means ›wonder‹ in Estonian), an acronym for ›Isemajandav Eesti‹ (›Self-managing Estonia‹). Third, the blue-black-white tricolour was restored as the Estonian national flag. Fourth, public communication was dominated by an idealized image of the first independence period of 1918–1940, especially the so-called ›Golden Age of Päts‹5, despite the fact that in the historical studies the regime was usually depicted as authoritarian in its final years. Fifth, the nightly song festivals took place spontaneously in the summer of 1988. Sixth, five patriotic songs by a young pop-music composer, Alo Mattiisen, become extremely popular. Seventh, the so-called ›Baltic chain‹, a mass protest meeting on the 23rd of August 1989 commemorated the 50th anniversary of the Hitler-Stalin Pact, gathering together about two million people in a 620-kilometer human chain across the Baltic States from Tallinn to Vilnius. The hegemonic power of the signifier ›Singing Revolution‹ could be demonstrated, among other things, by the fact that a rival signifier from that period had the same status as the unifying name for the same events at the beginning of the period in question. That term, ›The Second Awakening‹, has now virtually vanished from the common usage of Estonians even though it was clearly associated with a very common signifier in Estonian historical consciousness, namely ›the National Awakening‹. The latter, in fact, is a stipulative term coined by Estonian historians in the first decades of the 20th century. It refers to a period when, against the background of economic and social change in the second half of the 19th century, nationality began to be acknowledged in Estonian literary communication. At the same time, national self-consciousness was awakened and the national movement started to emerge. That signifier has established itself quite firmly in Estonian historiography as well as in common parlance. Yet that is not the case with ›The Second Awakening‹. And one way to explain – or conceive of – this state of affairs would be in terms of hegemony. For compared with the signifier ›Singing Revolution‹, ›The Second Awakening‹ made too little reference to the Estonian cultural tradition to become hegemonic. But it still needs to be clarified why the ›Singing Revolu-
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Konstantin Päts (1874–1956) was the first president of Estonia (1938– 1940).
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tion‹ continues to have hegemonic status for identifying certain events in recent Estonian history. We shall be approaching this issue in terms of translation strategies. Those events aggregated under the name of ›Singing Revolution‹ are incommensurable with respect to their particularity. For instance, the nocturnal song festivals and the ›Baltic Chain‹ are completely different events. But it is exactly the constructed political identity which lets us see them – at least from an internal point of view – as parts of one unified whole. It meant that the heterogeneity of phenomena was brought into unity through equivalent political articulations and that the term ›Singing Revolution‹ served as the basis for that unity. Using Lotman’s terminology: »the equivalence of non-equivalent elements forces us to assume that signs which have different denotata on the linguistic level have a common denotatum on the level of secondary system« (Lotman 1971/1977: 47). The different symbols of the Singing Revolution became symbols of the dislocation in the status quo, thus signifying the pursuit of national self-determination. Precisely this is the moment in Laclau’s thinking that we intend to supplement with Lotman’s conception of translation. According to Laclau, the movement from one hegemonic formation to another is always a radical break. Not that the elements are completely new, but the name of a discourse – or the empty signifier around which the new formation is constructed – does not derive its central position from any logic that already functioned in a previous situation (Laclau 2005: 228). We do not intend to claim that the translation from one formation to the other is determined by a pre-given structural deduction. Nonetheless, we should like to put forward a more moderate proposition: that some relations of equivalence and some names for discourse are more probable than others. We try to show this in part by analysing the relationship between the Estonian tradition of singing festivals and the signifier ›Singing Revolution‹, i. e., the name of the discourse forming the unity of the Estonian political struggle for independence. In so doing, we make use of Lotman’s sub-typology for different translation strategies. The ›Singing Revolution‹ as a name constituting a discourse is a good example for an ostensibly contingent name which was nevertheless able to establish itself in popular consciousness on account of the preceding cultural tradition. The article by Valk in which he ascribed the label ›Singing Revolution‹ to the nocturnal song festivals ultimate-
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ly converged around the term the meaning of many events in Estonian cultural history. We can identify a primary translation here that consists in giving a verbal name to a nonverbal phenomenon. From the Lotmanian point of view, it may be typologized as ›external recoding‹ where »equivalence is established between two chain-structures of different type, and between their individual elements« (Lotman 1971/1977: 36). The pre-history of the discourse of the ›Singing Revolution‹ goes back to 1869 when the tradition of song festivals was inaugurated in Estonia. The first Baltic-German song festivals were held in 1857 in Tallinn and in 1861 in Riga. These were guiding models for the first song festivals of the Estonians. The roots of the first song festivals could be traced back to clerical songs of Swiss-German provenance. We can observe a second moment of translation here that could be conceptualised as a ›plural external recoding‹. In this instance, a meaningful totality is constructed by translating several independent structures into a mutual relation of equivalence (Lotman 1971/1977: 36). A text originating from aesthetic-religious language is translated into a manifestation of a nation’s cultural unity. And it is important that an originally sacral moment was transmitted to the tradition of Estonian song festivals, becoming one of the cornerstones of Estonian nationality. In this context, it is especially relevant to emphasize another of Lotman’s observations: Although every text is unique, an ad hoc construction of a unified sign for expressing a specific meaning, it may become a part of the coding language in further communication (Lotman 1971/1977: 51-53). It then comes to function as an element of language through which it is possible to construct or deconstruct new texts and/or political discourses. As time progressed and the need for both cultural and political self-expression emerged, the tradition of song festivals was recoded into political language. The national consciousness evidenced in the Soviet period and especially the 1980s was informed by an idealized image of a monolingual and mono-ethnic nation-state (Aarelaid 1998; Aarelaid 2000; Kotov 2005; Ots 1998; etc). One might describe the national-romantic consciousness as monolingual (at least from an internal standpoint) when the meaning of each member is derived from certain immanent recoding rules. »When meaning is formed by the correlation of a series of elements (or chains of elements) within a structure, we can speak of plural internal recoding« (Lotman
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1971/1977: 36). According to Lotman, such immanent relational meanings are especially common in those systems which pretend to be generally accepted and to systematize all of human reality (Lotman 1971/1977: 37). Such systems are relatively closed to the outside world. The song festivals had a firm place and meaning in the system of national-romantic consciousness. And in explaining it, Lotman’s concept of internal recoding can be helpful. Typologically, the internal recoding is clearly a continuity-oriented translation strategy, which constitutes an antidemocratic or authoritarian discourse. It should be noted that we conceive of »authoritarianism« and »democracy« as merely stipulative terms for specific signifying logics: ›Authoritarian‹ tends towards closedness (or equivalence and continuity); ›democratic‹ has discreteness as its central characteristic. The exact logic in between these theoretical limit-cases is in need of much further clarification that cannot be undertaken in the present essay (see Selg/Ventsel 2010: 463-464 for an initial explanation and Selg 2010 for further developments in this direction). If we assume the concept of song festival as it occurs in the national-romantic system, we can easily determine its content once we have defined the relation of the concept to the others in that system. The song festivals are located on the signifying poles of ›own/other‹, ›upper/lower‹, ›good/bad‹, ›freedom/slavery‹, ›exceptionality/mediocrity‹, ›educated/uneducated‹, and so on. All the left-hand members of these paired oppositions, on the one hand, and all the right-hand members, on the other hand, are variants of an archetypical meaning, which gives us some idea of what this concept means within the structural framework of the national-romantic consciousness. From the nationalromantic viewpoint, however, there is no need to go outside the system. Within this kind of consciousness, the problem of the objective meaning of concepts does not generally arise in the language of another system of thinking (Lotman 1971/1977: 37). The discourse of the ›Singing Revolution‹ formed a fairly closed, self-centric discourse. From a typological point of view, it could be described as authoritarian. Yet we can also observe a tendency in the opposite direction in the new communicative situation of the 1990s. The discourse of the ›Singing Revolution‹ has disintegrated as has the
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national-romantic self-image of Estonians6 in light of globalisation and the effects of multicultural ideology as well as a decreased sense of direct foreign danger owing to the collapse of the Soviet system and the changed demographic situation that ensued. All this opened the door for more democratic (or discrete) forms of communication, and the role of the song festivals as a constituting text of nationality disappeared or was marginalized. Amid these new conditions, it was no longer possible to utilize previous – and mostly mono-structural – translation strategies. In that period the question how the meaning of a concept in the structure related to its extra-systemic meaning was of primary importance. The focus was thus on generating new ideas for building up the newly formed country that had recently regained its independence on its integration into the structures of the European Union and NATO. One is again able to observe the increasing prevalence of the discrete coding system in the society. And the song festivals are seen first and foremost as a part of culture not so much as a phenomenon embodying all of Estonian culture and society.
C ONCLUSION In light of our theoretical considerations thus far, the name ›Singing Revolution‹ no longer seems contingent. Rather, its ability to translate different phenomena into a unity of discourse, and to become attached to popular consciousness as the name of this discourse, can be specifically explained in terms of the semiotics of culture. The ›external recoding‹ in the article by Valk – the hegemonic act through naming – was so successful due to the fact that the Estonian cultural tradition of singing had a very sacral or religious character as well as a long tradition of ›internal recoding‹ – a translation strategy constituting a discourse in which contact with other discourses is of secondary importance. At the same time, our analysis sheds light on the problem of authoritarian forms of communication. It is important to identify the dif-
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Native Estonians comprised just over 60% of the entire population of Estonia. A massive urbanisation had taken place. The development of heavy industry had resulted in the emergence of a working class that was hardly compatible with the national-romantic image of a monolingual peasant culture.
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ference between democratic and authoritarian communication as a form of communication. In its authoritarian form, internal recoding is predominant, thus rendering the discourse quite closed to other possible discourses. However, the ›content‹ of the communication – whether ›good‹ or ›bad‹ from a value-perspective – is not an issue when it comes to assessing political communication. It could certainly be claimed that the discourse of the ›Singing Revolution‹ is a type of authoritarian hegemonic discourse that gives a certain ›singing‹ aspect to all its elements. (And a widely known identification for Estonians has always been: ›Estonians – the singing people.‹) During the Soviet period, the song festivals were virtually the only time and place (every five years) in which Estonians could gather together and manifest their collective unity. But this precise form of communication also remained dominant after the collapse of the Soviet Union, only beginning to disintegrate after a few years. ›Singing Revolution‹ still functions as a signifier of the events and the period mentioned above. It is, however, no longer the signifier.
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Self-description, Dialogue and Periphery in Lotman’s Later Thought D ANIELE M ONTICELLI
S OME
ELEMENTS FOR A COMPARISON WITH CONTEMPORARY POLITICAL THINKING
The new theoretical paradigm which Lotman outlined from the beginning of the 1980s until his death (see Lotman 2007: 143f., 150f.; Torop 2005: 167f.) could represent, in my opinion, the new starting point for contemporary semiotics in so far as it is particularly apt to enter into dialogue with similar ideas circulating today in the humanities and social sciences.From a disciplinary point of view the later works of Lotman clearly mark a shift of semiotic thought in a poststructuralist direction; his revision of topological notions such as the ›boundary‹ or the ›periphery‹ put into question the very same idea of structural totality in the form of a self-enclosed system, as it already appears in the first sentence of his last book, (›Culture and Explosion‹) »For any given semiotic system, the most important question concerns its relation with the external world beyond the boundaries of the system« (Lotman 2001: 9).1
1
On the contrary, Ferdinand de Saussure started from the puzzling evidence that »[language] lies astride the boundaries separating various domains« (Saussure 2000: 10) only in order to overcome this epistemological im-
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If there have recently been some attempts to place Lotman’s semiotics of culture into a Peircean or biosemiotic framework (see for instance Sebeok 1998: 103-116; Merrell 2001, Kotov 2002: 41-52; Kull 2005: 175-189), I have instead tried to evidence some possibilities for the development of Lotman’s theoretical legacy within the framework of contemporary continental philosophy, drawing some parallels between Lotman’s ideas and analogous moments in the theories of thinkers such as Jacques Lacan and Jacques Derrida (see Monticelli 2008).
P OLITICAL
TOTALIZATION AND EMANCIPATION
In what follows I will make an attempt to show how Lotman’s later thought provides us with a general framework and concepts apt to interact from a theoretical point of view with the turn which took place in radical political thinking over the last twenty years in the works of philosophers such as Giorgio Agamben, Alain Badiou and Jacques Rancière.2 The crucial point for these authors is how to rethink emancipating political action in the age when, on the one hand, the so called
passe with the help of his theory of the linguistic system (langue). The definition of the linguistic system is therefore a question of delimitation – the fixation of the relevant boundaries which gives rise to a separated whole coming to coincide with the object of study »in its entirety«: »Langue, seen from an internal point of view is… PERFECTLY WHOLE« (Saussure 2006: 57; see also Saussure 2000: 8). After this delimiting fixation of boundaries between an internal space – immanently structured and intelligible – separated from the external space – a series of disparate, heterogeneous elements, Saussure insists on the fundamental need to keep separated the internal and the external and never »blur the boundaries which separate the two domains« (Saussure 2000: 20-23). 2
I am of course not claiming that Lotman’s thought should be conceived as some kind of political or social theory which it clearly is not – although Lotman uses examples from political and social history, too. The contacts I am trying to establish between Lotmanian and political theory emerges rather from a metatheoretical point of view, it is not the content but the logic of the theories in question to present interesting similarities and possibilities of reciprocal integration.
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»death of Marxism« and, on the other, the narrow limits of the postmodern politics of difference seem to imply a definitive defeat of any idea of emancipation. They speak in this sense of an »eclipse« (Agamben 2000: ix), »absence« (Badiou 1985: 9) or »end« of politics (Rancière 1998: 9), which would coincide with a definitive separation of the political sphere from its original field of polemic tensions and antagonisms.Pierre Bourdieu has pinpointed how this dispossession of political agency from its potentially universal subjects goes together with its appropriation by a restricted group of professionals who tends more and more to coincide with administrators, technocrats and the professionals of the media: »The production of a politically effective and legitimate form of perception and expression is the monopoly of professionals, and is thus subjected to the constraints and limitations inherent in the functioning of the political field […]. These constraints weigh heavily on the choices made by consumers, who are all the more dedicated to an unquestioned loyalty to recognized brands and to an unconditional delegating of power to their representatives the more they lack any social competence for politics and any of their own instruments of production of political discourses or acts.« (Bourdieu 1991: 173)
The people (the demos of democratic politics) are thus substituted by the public opinion. If the demos always maintains a problematic, undeterminable and ungraspable character making of it a possible source of unpredictable novelty, public opinion is conceived today as totally subjected to calculation, prediction and manipulation. In the terms of the topic of the conference at the origin of these proceedings, we could understand this end of politics as the attempt to bring about a kind of social integration which would not recognize any remainder (or, in Lotman’s terms, ›non-systemic elements‹), that is an integration which would definitively exclude the possibility of some new explosion.3 The discourse of globalization (think to Francis Fukuyama’s »The End of History and the Last Man«) well represents this ideal of a definitive integration on a planetary scale. The contemporary politic of identity is often considered as a reaction to the »side effects« of globalization – economic crisis, intensive migratory movements,
3
In what follows I will define ›political totalization‹ as this attempt to transform the social into an universally representable whole.
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terrorism and war – and it draws its strength on fear and uncertainty which are canalized into communitarian self-enclosure and hostility against all that seems to somehow endanger it, be the ground of this identitarian closure and the consequent hostility ethnic, national, religious or cultural. In this respect, the apparently opposite discourse of globalization and politics of identity have the similar consequence of reducing the question of social and political integration to a simple choice between assimilation within an already existing order or exclusion, thus effacing the possibility of any emancipation. As Rancière writes, the political remainder, which cannot find its place within a broader field of tensions, is transformed today into a ›bare alterity‹ [altérité nue] excluded from any access to language and symbolization (Rancière 2007: 30-1). This is the reason for the apparent paradox we are facing in our world, where an almost complete reduction of politics to administration by competent professionals goes hand-in-hand with the reemergence of all the worst forms of pure hatred against ›others‹: »The new visibility of the other in all the nakedness of their intolerable difference is strictly a hangover [le reste] from the consensus operation« (Rancière 1991: 119). The never-ending »war on terrorism«, on the one hand, and the recent electoral results all over Europe with the success of the nationalist and xenophobic far-right, on the other, well illustrate this kind of widespread political feelings. Given its bare alterity, the political remainders (of the process of globalization as of identitarian politics) come today to be surreptitiously identified with the gap still separating society from its (impossible) definitive integration, and far from becoming potential subjects of emancipation, are destined to remain a mere object of persecution to be eliminated. Emancipating politics, both in its traditional Marxist and postmodern form, needed, on the contrary, as a starting point the demystifying individuation of the fundamental exclusion(s) on which a given social and political order is grounded. The remainders of political totalization (be they the Marxian proletariat or let’s say women, young peoples, blacks, homosexuals and so on in postmodern politics) are then conceived as able to transform their exclusion into a political power with explosive effects on the kind of social integration which was grounded on that very same exclusion. This understanding of the remainders of political totalization in the perspective of their possible political activation, of their potential capacity as political agent, and
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not as simple »bare alterity« continues to be a central point in the contemporary rethinking of political emancipation. Anyway, other fundamental assumptions of the Marxist and postmodern paradigms have meanwhile become untenable. As for the Marxist tradition, what should be abandoned is the eschatological idea of a final explosion (the proletarian revolution) which would give access to some kind of definitive and complete social integration. Derrida has shown how this teleological vision of history of evident Hegelian origin dangerously resembles the contemporary discourse of globalization (see Derrida 2006). As for postmodern politics, on the one hand, we should renounce the universalization of difference, the idea of otherness as something unnameable and absolutely incommensurable (this is too similar to the idea of a »bare alterity«).4 On the other hand, also the politics of ›particular‹ differences or ›alternative‹ identities with which postmodern politics reacted to the ›death of Marxism‹ seems to have exhausted all its emancipating potentiality by now. In fact, not the alternative and ›liberating‹ identities/differences of postmodern politics (women, blacks, homosexuals and so on), but essentialist and excluding identities (ethnic, national, religious) reappear today in a pre-eminent position.5
R ETHINKING
EMANCIPATION : DISIDENTIFICATION ,
BORDERS AND GENERICITY The turn in radical political thinking which has been brought about over the last twenty years by thinkers such as Agamben, Badiou and Rancière is aimed at overcoming the particularistic stance of the postmodern politics of alternative differences/identities without at the same time affirming the ineffability of »the other« and also avoiding a return to the Marxist identification of emancipating politics with some kind of definitive overturning. I have elsewhere tried to discuss the
4
For a critical discussion of this kind of approaches see for instance Haber
5
On the complex relations between difference and identity in postmodern
1994. political theory see the interesting discussion in Connolly 2002.
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differences in the thought of the philosophers mentioned above.6 Here I will try instead to pinpoint the fundamental similarity of their approach. First of all in the work of Agamben, Badiou and Rancière we are testimony to the elaboration of what could be defined as a »politics of disidentification« which would put into question any given articulation of particular differences or identities. We can speak of emancipating politics when the remainder, which was so far excluded from the political articulation of the social field, manifests itself as a possible political subject through a subtractive disidentification from all the conceivable (legal) forms of representation within the political field. 7 This political manifestation of the remainder is no longer simply aimed, as in postmodern politics, at the recognition of some previously denied and removed difference ending up in the simple addition of the corresponding part (identity) to the existing parts of a given social whole. 8 On the contrary, the manifestation of the remainder should bring about a visible demonstration of the constitutive contingency and injustice of the very same political law of differentiation and identification which orders the social whole. Laclau formulates this idea as follows: »politics is what prevents the social from crystallizing in a fully fledged society, an entity defined by its own clear cut distinctions and functions« (Laclau 2004: 42). Rancière, Badiou and Agamben thus shift the attention from the relation between particularity and totality – the question of identification within the social whole as articulated by politics, to the relation
6
See Monticelli 2008: 236-237, 267-269, 298.
7
Agamben calls the remainder of political totalization ›bare life‹ [nuda vita] with reference to its despoilment of any socio-political quality, Badiou employs the mathematical concept of ›singularity‹ [singularité] to stress the ungraspability of the remainder by political representation and Rancière write of the ›part of those without part‹ [part des sans-part] thus describing the absence of the remainder from the political partition of the social field.
8
As Wendy Brown has observed, »contemporary identity-based institutions invariably become conservative as they are forced to essentialize the identity and naturalize the boundaries of what they once grasped as a contingent effect.« (Brown 2001: 35)
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between singularity and genericity (to use Badiou’s terminology9) – the question of disidentification at the borders of that whole, where something comes into existence (a singularity) not by determining its (particular) position within the totality, but by referring to a principle of indetermination (genericity) of all the existing relations of parts between themselves and with the whole. Thus, according to Rancière, political subjectivation takes place when the ›part of those without part‹ appropriates the empty (im)property of equality as the anarchic ground of each political order and, according to Agamben, a ›whatever singularity‹ emerges when bare life appropriates ›belonging itself‹, the event of language as the Most Common cutting off each real community. If (particular) identity is based on the idea of inclusion in an internal space with clear boundaries, a ›generic singularity‹ can be understood as the boundary itself, the paradoxical place where all (particular) inclusions fail in univocally determining what is at stake. Oliver Marchant defines the kind of approaches I have just briefly described as »foundationalist theories«, according to him the principle of indetermination mentioned above must be understood as some kind of negativity by which »the social is prevented from closure and from becoming identical with itself« (Marchant 2007: 5). It is exactly this »absent ground of the social« to put into question the kind of political emancipation theorized by Marx, according to whom society has a »material ground« and exactly this ground is the place of emancipative forces. But if the ground of the social is ›absent‹, the political subjectivation of the remainder cannot coincide with its presupposed, essential and objective capacity of representing the real and authentic whole of society as against the fake and inauthentic totality of the ideological (mis)representation of particular social interests. On the other hand, far from coinciding with any kind of transcendental alterity, the absence of the social ground as a general principle of indetermination is immanent to society, its negativity always being declinable into an affirmative power when emancipatively appropriated by the remainder of political totalization. The remainder itself even in its ›bareness‹ or ›singularity‹ is not an ›absolute other‹ but the concrete result of the
9
Agamben uses the concept of ›whatever‹ [qualunque] (see Agamben 1998b: 2f.) and Rancière of ›equality of no matter who with no matter whom‹ [l’égalité de n’importe quoi avec n’importe qui] (see Rancière 1991: 16f., 33).
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series of exclusions brought about by the political totalization of a given socio-historical situation. This is why, as Agamben observes, the remainder is never completely external to the social whole from which it is excluded, but continues to haunt the latter from its border position of in-between. And exactly this position makes possible the encounter of the remainder with the principle of indetermination of the social whole, makes possible, in other words, emancipative politics. Thus notwithstanding the differences of their approaches, the common nucleus of Agamben’s, Badiou’s and Rancière’s conception of (emancipative) politics can be summarized as follow: (1) emancipative politics should be understood as an interruption, a discontinuity in the procedure of political totalization of the social field, an interruption which brings to the fore the exclusion (remainder) upon which that procedure lays; (2) the subject of emancipative politics cannot be understood in the terms of some particular identity. It emerges, on the contrary, when a relation between singularity and genericity is (re)established.
L OTMANIAN
NOTIONS
Coming now to Lotman, if it is true that his texts do not present an explicit »overarching metatheory« (Andrews 2003: 12), it is possible, in my opinion, to develop in that sense a series of scattered ideas and observations contained in his later work. What he comes to describe through his analyses of the functioning of culture is in fact a general semiotic mechanism which may contribute in my opinion to throw some new light on the two points mentioned above. As for the understanding of the antagonistic relation between emancipative politics and political totalization understood as different kinds of temporalities, what I have elsewhere called the Lotmanian ›dialogism of history‹ (see Monticelli 2008: 88-98) importantly focuses on the nature of discontinuity (explosion) and its after-effects on the totality (continuous process) that the explosion interrupts and makes vulnerable to indeterminacy and unpredictability. I will reserve a future work to this kind of analysis. Here I will concentrate on the second idea mentioned above and characteristic of Agamben’s, Badiou’s and Rancière’s conception of politics: the remainder of political totalization may become the agent
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of emancipating politics when it (always unpredictably) encounters a general principle of indetermination which potentially ungrounds any actual totalizing attempt to the self-enclosure of the social field. It is, in my opinion, exactly this kind of explosive encounter that Lotman delineates from a general semiotic point of view in his later works. In what follows I will consider the notion of ›self-description‹ in relation to Badiou’s and Rancière’s conception of the instrument of political totalization (respectively ›state of the situation‹ and ›police‹); the notion of ›periphery‹ in relation to Badiou’s, Rancière’s and Agamben’s conception of the political remainder; and the notion of ›dialogue‹ or ›translation of the untranslatable‹ in relation to what I have called ›the general principle of indetermination‹ (Agamben’s ›whateverness‹, Badiou’s ›genericity‹ and Rancière’s ›equality‹). These Lotmanian notions are all related with the new approach to the notion of boundary elaborated by Lotman within his theory of the semiosphere, where the boundary comes to be understood in all its complexity and ambiguity 1) as an instrument of separation (by self-description) 2) as an instrument of connection (›filter‹, ›membrane‹, ›recaptors’ terminal‹, ›translation block‹, ›bilingual belt‹) and 3) as an instrument of differentiation (periphery). Self-description As a preliminary step for the elaboration of a new conception of (emancipative) politics, Agamben, Badiou and Rancière engage in a thorough critique of Western political philosophy which, according to them, has been leaded by the desire of reducing »the political« to a well delimited and separate field, a totality the parts of which are transparently recognizable and ordered according to an internal principle of identification. Badiou calls this totality ›State‹ [etat] and he understands it as the ›metastructure‹ which is responsible for the count as one of all the parts of the ›socio-historical situation‹ and of the situation itself as a whole (see Badiou 2005: 89-111). If society is in itself open to (potentially) infinite additions and to the disrupting effects of this borderlessness, the State is the procedure of political totalization – »the law of the count« (Badiou 2005: 106) – by which the Whole of society is furnished with a fictional being: »[t]he state is a sort of metastructure that exercises the power of counting over all the subsets of the situation« (Badiou 2005b: 143). Representability by the State
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comes in this way to coincide with existence according to the State, what is not representable does simply not exist. In Rancière’s terminology, the count of the parts of society (that he defines as »the partaking of the perceptible«) condemns to invisibility what cannot be included into a recognizable part: those without part do not exist (see Rancière 1991: 8f., 19, 58; 1998: 240-1). Lotman’s notion of self-description offers a general theoretical characterization of this kind of separating, closing and excluding operation. According to Lotman self-description brings about a centralization and hierarchization of the semiotic space by which one of its languages or structures occupies the center and starts to function as a metalanguage/metastructure (Lotman 1990: 254f.; 2001: 10f.; 2002: 2647, 2651f.; Lotman/Uspenskij 2001: 65). It is clear that being one of the real languages of the semiotic space, the metalanguage moves at the same time into a special and idealized position. In this sense it is possible to consider the systemic self-description as a ›mythological image‹ or an ›ideological self-portrait‹ opposed to ›the semiotic reality‹ as always crossed by different, incommensurable, inconsistent semiotic systems (see Lotman 1990: 408; 2000: 129; Lotman/Uspenskij 2001: 132 f.). It is thus only from the point of view of the metalanguage that it becomes possible to count as one, to understand as a whole, the different systems and languages of the semiotic space, that the plurality of systems is reduced to a »single, finite truth«. Thus, the identitarian separation and self-enclosure of a given semiotic space (be it a person, a culture, a society) should not be understood as some kind of ordinary condition, but as the result of a procedure of self-description, which draws a clear-cut boundary between an internal (described or describable) and an external (undescribable) space. The self-description establishes as a criterion for the inclusion of different elements into the internal space their translatability into the metalanguage. From its privileged position, the metalanguage thus becomes a principle of universal translatability within the totalized semiotic system: any single element circulating within the system is determined by the possibility of its being identified without any differential residuum in the terms of the metalanguage of self-description 10 (Lotman 1985: 84, 89, 117 f.; 1990: 284). In this sense, self-descrip-
10 The role played by the metalanguage in the totalization of the semiotic space can be compared with the role of the general equivalent in the logic
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tion functions as a mechanism of exclusion. All that is not translatable in the terms of the metalanguage is insignificant and it is expelled outside the boundary of the semiotic space as inexistent (Lotman 1990: 252, 255, 266; 1999: 15, 17; 2000: 129; 2002: 2652). As in Rancière’s description of the partaking of the perceptible, what is unsayable is invisible and what is invisible is inexistent.
Figure 1: Self-description and universal translation The »homogeneous structural whole« resulting from self-description is rigidly organized and self-regulating, developing only according to its internal law, all the developments being totally predictable. Just like Badiou’s »state« and Rancière’s partaking of the perceptible a whole of this kind would make explosive processes – the generation of new and unpredictable meanings – impossible. Lotman writes of metalinguistic self-description as exhausting the reserve of indeterminacy of a given semiotic space, which may thus lose its dynamism, become inflexible and incapable of further development (Lotman 1990: 266; 2000: 134). Even if he does not develop this into an explicit analysis, he is also conscious of the political import of self-descriptional totalization: »The moment of self-description determines the boundary of
of economic value as described by Marx in the first part of Capital. As Bourdieu has observed »when one language dominates the market, it becomes the norm against which the prices of the other modes of expression, and with them the values of the various competences, are defined.« (Bourdieu 2003: 152)
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culture, but when political and institutional considerations are also a part of the process, the latter often acquires a dramatic character« (Lotman 2001: 196; my translation – D.M.). Periphery Quite in tune with the just referred worries, Derrida has stated the condition of (im)possibility for unpredictable change and novelty as follows: »guaranteed translatability, given homogeneity, systematic coherence in their absolute forms, this is surely (certainly, a priori and not probably) what renders […] the other impossible […]. There must be disjunction, interruption, the heterogeneous if at least there must be, if there must be a chance given to any ›there must be‹«. (Derrida 2006: 42; 40)
As we have seen, of fundamental importance for a new theoretical conception of emancipating politics was therefore not only to affirm that the political totalization of the social field has actually always some remainder (ideological demystification), but to show that the remainder is not some kind of absolute and dispensable alterity. On the contrary, the remainder always insists as the heterogeneous, disjunctive, interrupting on the borders of the political space which sanctioned its exclusion. The philosophers I am referring to characterize this insisttence in the terms of a topological paradox. Badiou uses the notion of »singularity« or »evental site« to define those places of the socio-historical situation »upon which the state’s metastructure has no hold« but which still belong to the situation as positioned »on the edge of the void« (he brings as an example a family of illegal immigrants) (see Badiou 2005: 173-177). Agamben uses the term »exception« in order to characterize that no man’s land which does not lay neither inside nor outside the politico-juridical order, but keeps open at its borders a space of indeterminacy »in which the outside is nothing but the exclusion of an inside and the inside is in turn only the inclusion of an outside« (Agamben 2004: 37; see also Agamben 1998a: 15-29). This kind of topological paradoxes is captured by Lotman in the notion of »periphery«. The boundary is here understood not as a line of separation but as a peculiar space with a topography which essentially differs from the homogeneous hierarchical organization of the
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center. The difference between the periphery and the center introduces in the semiotic space that element of heterogeneity, disjunction and interruption evoked by Derrida. In order to describe the toposymbolic paradox of the Lotmanian periphery we can use another Derridean concept of Hamletic ascendancy, that of ›disadjustment‹ or ›being outof-joint‹ (see Derrida 2006). The border-zone as periphery is out-of-joint because it belongs at the same time to the internal and to the external space or, it is the same, it does not belong to the internal neither to the external space (Lotman 1990: 398; 2000: 140). A so/as or neither/nor logic substitutes itself here for the exclusive either/or logic of binary oppositions. The topological undecidability of the periphery coincides with its semiotic undecidability in so far as the periphery is free of selfdescription, the central metastructure of the semiotic space is a language »unable to reflect the semiotic reality beneath it [the periphery]« (Lotman 2000: 134; see Andrews 2003: 34), just as according to Badiou the singularity was ungraspable by the state’s metastructure. If in the centre of the semiotic space the significance of the lowerlevel structures is fixed by the metalinguistic self-description, on the periphery it is the metastructure itself which becomes insignificant. In the periphery, »texts generated in accordance with these norms [the norms imposed by the central metastructure] hang in the air, without any real semiotic context; while organic creations, born of actual semiotic milieu, come into conflict with artificial norms«. (Lotman 2000: 134)11
The periphery as border-zone represents therefore a threat for the clear-cut toposymbolic separations introduced by self-description, being the place where the proper is always already improper, where ›our language‹ is ›someone else’s language‹ and ›someone else’s language‹ our own. This is why Lotman defines the periphery as an ›extracultural space‹ or a ›zone of structural neutrality‹, where elements are gathered together which are insignificant according to the central selfdescription and whose relations with the surrounding context remain
11 Once again Derrida: »the liminal space is thus opened up by an inadequation between the form and the content of discourse or by an incommensurability between the signifier and the signified« (Derrida: 1972: 18).
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ambivalent (Lotman 1985: 110; 1990: 259; Lotman/Uspenskij 1984: 4). If the metalinguistic self-description established a strict relation between translatability (meaningfulness) and right to existence, in the periphery this transition from epistemic to ontological exclusion is interrupted: what is insignificant, irrelevant (and therefore excluded) from the point of view of the center does not stop to exist at the periphery (Lotman 1997: 9; Lotman 2001: 131; see also Andrew 2003: 44). The periphery thus offers hospitality to the remainders and excessive elements of the semiotic space, the pieces, fragments, whole texts or languages, which are not significant any more (they have been expelled from the semiotic space by self-description) or are not yet significant (they penetrate into the periphery from outside the totalized semiotic space). Non-actuality, unpredictability, indeterminacy characterize the periphery as a place of suspended (insignificant and unidentifiable) existences or of potential significance without fixed meanings, where all may be significant precisely because there is no more/not yet meaning in place. Absence is never absolute (alterity destroyed) just as presence (totalization without residuum) never is; and the border-zone is precisely this in-between place of non-actualization/holding in reserve. Through the hospitality granted to pieces of otherness by the periphery, a »reserve of polyglotism« and »indeterminacy« is constituted at the border of the semiotic space (Lotman 1999: 20; 1990: 398). The border-space as periphery enters therefore into tension and collision with the center of the system that it makes vulnerable to non-systemic elements thus contesting the privileged position of the dominating self-description. The meta-structure occupying the center of the semiotic space slows down the dynamic of development and change, while the periphery becomes the ›hottest spot‹ of the semiotic space, a zone of increased semiotic activity through which the system may have access to explosive processes. If the metalinguistic self-description functioned within the system as a principle of universal translatability, or in other words exhaustive identifiability of future elements in the terms of past ones, the periphery is »the field of tension where new languages come into being.« (Lotman 2000: 134)
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Dialogue as translation of the untranslatable As we have seen the topologically ambiguous position of the remainder made impossible for Agamben, Badiou and Rancière to understand emancipative politics in the simple terms of an overturning in which the external become the internal, or the periphery comes to occupy the center; neither we can reduce emancipation to the simple integration of the remainder as a (new) identifiable part within the field delimited by the metastructural self-description. On the contrary, the kind of emancipative politics imagined by Agamben, Badiou and Rancière brings together the supplementation of the political field with the remainder as a new political subject with the subtractive disidentification of the latter from all the conceivable forms of representation within the social field. This disidentification has no mystical character (the ›unnameable‹ and so on), but it is made possible by a general principle of indetermination (or radical democracy) which Agamben names ›whateverness‹, Badiou ›genericity‹ and Rancière ›equality‹. All these concepts have in common the idea that emancipative politics draws its power from an always renewable potentiality of ›being together‹ beyond or notwithstanding already given identities and differences, a potentiality which, on the one hand, grounds but, on the other, always already undermines any actual and particular articulation of identities and differences. It is exactly because of its indifference to any given identity, that the remainder is the point at which the separated political field with its well determined system of identities and differences can be made vulnerable to the general principle of indetermination (radical democracy). At a first glance, Lotman seems to follow another strategy here. He often describes the relation between the center and the periphery as a process of substitution by which what was the periphery at a given time has later become the center only in order to be at its turn substituted by its own periphery at some later time, and so on.12 Still, this understanding of the relation between the center and the periphery is not, in my opinion, the most original and interesting aspect of Lotman’s work. More relevant is his description of the mechanism for the
12 One of Lotman’s favorite examples is avant-garde art, which is at the beginning peripheral and refused, but becomes later mainstream, even academic (central), coming to be contested by a new avant-garde, and so on.
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restitution of a self-enclosed (totalized) space to a larger field of tensions (principle of indetermination) through the opening mediation of the remainder (the periphery or border-space).13 He distinguishes in this sense between the artificial and ideal character of the metasystemic self-description and what he calls ›the semiotic reality‹. Within the semiotic reality a given semiotic space can never really close on itself and what appeared from the point of view of selfdescription as an external and separating boundary, actually consists of a bundle of boundaries which do not separate but, on the contrary, connect different parts of the semiotic space with what was to be considered external and therefore inexistent from the point of view of the self-description. Each semiotic system is always immersed in a bigger semiotic space, where it forms together with (at least) another system a bigger whole characterized by internal pluralism and heterogeneity (Lotman 1985: 127; 1990: 251; 1999: 18; 2001: 195). This means that in the semiotic reality, a general mechanism of indetermination and displacement is at work which counterbalances the closing and separating effects of self-description.14 Lotman defines this aspect of the semiotic reality in different ways, for the sake of my argument I will consider the notions of ›translation of the untranslatable‹ and ›dialogue‹. Figure 2 is an illustration of what Lotman calls »the smallest functioning semiotic mechanism« which presents itself at first sight as a paradoxical construction consisting of »at least two semiotic mechanisms (languages) which are in a relationship of mutual untranslatability, yet at the same time being similar, since by its own means each of them models one and the same extrasemiotic reality«. (Lotman 1997: 10; see also Lotman 1985: 104; 1990: 402; 2001: 10)
Now, the ›functioning‹ of a heterogeneous, asymmetric, (at least) binary semiotic mechanism implies the crossing of the border-space, a
13 This is in nuce what could be described as Lotman’s commitment with the ›semiosphere‹, a methodological instrument not to be confounded with some kind of hypostasized and all-encompassing totality. 14 »[...] a language is a function, a cluster of semiotic spaces and their boundaries, which, however clearly defined these are in the language’s grammatical self-description, in the reality of semiosis are eroded and full of transitional forms« (Lotman 2000: 124).
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kind of translation which clearly differs from the unproblematic universal translation taking place within a homogeneous semiotic space as the one represented in Figure 1.
Figure 2: Translation in cases of untranslatability – dialogue While universal translatability within a given system was warranted by the metalanguage occupying the center of that system, Lotman uses the oxymoronic expression »translation in cases of untranslatability« to describe the kind of communication characteristic of the borderspace. Universal translation had to be total and exhaustive. All the untranslatable was declared irrelevant and kept outside the boundary of the semiotic space. In the border-space translation always remains, on the contrary, inadequate and incomplete in two senses: 1) inexhaustibility: since the untranslated remainder never dries up, always new and unpredictable results emerge from translation (the crossing of the boundary), thus indefinitely deferring the fixation of a final result; and 2) irreversibility: if we translate back, that is if we cross the boundary in the other direction, we never get back to the original point, but always to a new one.15 While in the case of completely warranted translatability we have trivial communication and in the case of absolute untranslatibility we do not have any communication at all,
15 These characteristics importantly coincide, in my opinion, with Derrida’s concept of differance: (1) a deferring in the fixing of meaning (ever new translations) and (2) the non-identity of the original text with itself (ever new originals or backward translations) (see for instance Derrida 1982: 327).
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dialogue presupposes translation in cases of untranslatability. As Lotman writes, »one can say that the untranslatability of translation is a bearer of valuable information« (Lotman 2001: 15; see also Lotman 1990: 268, 397; 2000: 140). Just like the general principle of indetermination (radical democracy) described above cannot be reduced to any given political totalization of the social field, according to Lotman the »dialogic situation« precedes the instruments of semiosis and the semiotic act: »[…] dialogue precedes language and generates language. This is the basis for the semiosphere-image: the association of semiotic constructions precedes (not heuristically but functionally) any singular, isolated language and is the condition for the existence of the latter. Without semiosphere language not only cannot function, furthermore it does not exist«. (Lotman 1999: 25; see also Lotman 2000: 144 and Andrews 2003: 32)
Dialogue is in this sense the ground(lessness) of any language (semiotic system) insofar as it is the place where all the possible articulations of identities and differences take place, but also the place where they are all constantly called into question. This second aspect that I would define as the emancipative capacity of dialogue, is directly related by Lotman with the peripheral remainder as reserve of indeterminacy and polyglotism. In fact, on the one hand, it is because of the peripheral remainder that no self-descriptional closure is strong enough to efface once and for all the ungrounding capacity of dialogue, but, on the other, it is because of dialogue as general principle of indetermination that the peripheral remainder becomes something more than a chaotic set of insignificant and irrelevant elements. As Lotman writes: »the ability of one and the same monad […] to become a part of various other wholes, and in this respect to be non-identical with itself, inevitably presumes a complex polyglotism of its internal structure«. (Lotman 1997: 12)
But if two monads, which would otherwise be self-enclosed totalities, establish a contact with each other through their periphery and if the periphery is a structurally neutral space, it would be right to say that what is shared in dialogue is not fundamentally a code or a language (a structuring device), but a space of unstructured potentialities. Only what is neutral, neither mine nor yours, can be shared. This means that
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what we share in dialogue is also what makes each of us (potentially) different from what we are, something in a way ›improper‹, and at the same time ›common‹. Lotman writes of a »reciprocally related difference«, differing both from identity and from unrelated (absolute) difference, which would make dialogue respectively trivial or impossible (Lotman 1999: 27; see also Lotman 1985: 81). In dialogue, each language is always exposed, it is made vulnerable to a shared space of potentialities (the peripheral remainder) whose actualization may trigger important changes in the language itself. Here the most important aspect of communication is not the adequate transmission of a preexisting message, but the generation of new meanings and languages. This conception of the encounter between the peripheral remainder and the displacing principle of dialogue is the place where Lotman’s later thought may, in my opinion, most fruitfully interact on the theoretical level with that kind of political thinking (well represented by the work of Agamben, Badiou and Rancière) which is interested in reelaborating a conception of emancipative politics in the age when it is said to have been forever banned from human history. I hope to have given in this article a preliminary demonstration of the conceptual instruments for this possible interaction. My intention was so far only to pinpoint some elements of comparison that certainly need to be further discussed in order to investigate not only the important similarities but also the important divergences in the conceptual apparatus developed by the authors considered in the present article.
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Jurij Lotmans Modell der kommunikativen Asymmetrie Entstehung und Implikationen
V ALERIJ G RETCHKO
Das wissenschaftliche Interesse Jurij Lotmans zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Breite aus, und die Aufsätze zu seinem Werk, die in dem vorliegenden Band versammelt sind, zeugen noch einmal davon. Bei aller Verschiedenheit der von Lotman behandelten Themen lassen sich jedoch bestimmte Konstanten erkennen, die für sein Werk charakteristisch sind. Sie betreffen nicht so sehr die Thematik oder die Auswahl des Materials als vielmehr die allgemeine Herangehens- und Betrachtungsweise der untersuchten Erscheinungen. Wenn man die wissenschaftliche Tätigkeit Lotmans selbst als ein gewisses »Kulturphänomen« betrachtet, dann kann man von bestimmten »strukturellen Invarianten« sprechen, die in seiner Forschung deutlich durchscheinen. Eine solche Invariante stellt ohne Zweifel das Prinzip der Dichotomie dar. Die Grundidee, wonach die kommunikativen bzw. kulturellen Prozesse in zwei prinzipiell unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten können, zieht sich nämlich wie ein roter Faden durch die Mehrzahl von Lotmans Arbeiten. Erinnert sei hier nur an deren so typische Titelanfänge wie »Über zwei Typen von…« oder »Zur Opposition von…« Im Folgenden werden wir uns mit Jurij Lotmans Modell
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der kommunikativen Asymmetrie befassen. Dabei soll gezeigt werden, wie das invariante Dichotomieprinzip, das ihm zugrunde liegt, auf jeder Etappe des Lotmanschen Werks sich transformiert, spezifiziert und seinen Anwendungsbereich ändert. Anschließend werden wir einige theoretische Implikationen diskutieren, die dieses Grundmodell enthält. Eine der frühesten ausführlichen Darstellungen der Dualität semiotischer Prozesse finden wir in dem Aufsatz »Zum Problem der Bedeutungen in sekundären modellbildenden Systemen« (1965)1. Darin beschreibt Lotman zwei prinzipiell unterschiedliche Typen semiotischer Systeme, von denen jeder durch eine besondere Art der Bedeutungsbildung charakterisiert ist. In einigen dieser Systeme werden die Bedeutungen durch die »äußere Umkodierung« gebildet, d. h., die Elemente eines Systems werden durch die Elemente ersetzt, die außerhalb dieses Systems liegen (wie es in der natürlichen Sprache geschieht, wo die Konzepte mit phonetischen Komplexen – Wörtern – in Entsprechung gebracht werden). In den anderen semiotischen Systemen werden dagegen die Bedeutungen durch die »innere Umkodierung« gebildet, indem die Bedeutungen ihrer Elemente durch die anderen Elemente innerhalb desselben Systems ausgedrückt werden (wie es in mathematischen Formeln oder in der Musik der Fall ist).2
1
»O probleme znaenij vo vtorinych modelirujuich sistemach« (vgl. Lotman 1965). Die erweiterte Variante dieses Artikels wurde von Lotman später als Kapitel in sein Buch Die Struktur des künstlerischen Textes (Struktura chudoestvennogo teksta, 1970) übernommen, von dem auch die deutsche Übersetzung vorliegt (vgl. Lotman 1972; das Kapitel »Das Problem der Bedeutung im künstlerischen Text«). Das Problem der Bedeutungsbildung bei Lotman wird ausführlich in dem aufschlussreichen Artikel von Renate Lachmann (1995) behandelt.
2
Eine ähnliche Gegenüberstellung zweier Typen der Bedeutungsbildung finden wir auch bei Roman Jakobson. In seinem Artikel »Language in relation to other communication systems«, der auf dem Vortrag aus dem Jahre 1968 basiert (dt. Übers. vgl. Jakobson 1974), führt er die Begriffe »extroversive« und »introversive« Semiose ein und bezieht sie – ähnlich wie Lotman – auf die Systeme der Sprache und der Musik (in der semiotisch geprägten Musikwissenschaft ist der Begriff »introversive Semiose« mittlerweile fest etabliert – vgl. Agawu 1991). Es sei hier angemerkt, dass sich sowohl bei Lotman als auch bei Jakobson diese Gegenüberstellung
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Obwohl der Begriff »Kommunikation« in ihm praktisch nicht vorkommt, enthält bereits dieser Aufsatz die Grundthesen des späteren Kommunikationsmodells: Das Vorhandensein zweier Typen semiotischer Systeme, in denen der Prozess der Semiose auf zwei prinzipiell unterschiedliche Weisen verläuft, das Verständnis des Problems des Inhalts als eines Umkodierungsproblems sowie der Hinweis, dass der informative Wert der Umkodierung umso größer wird, je verschiedenartiger die Systeme sind3 – all dieses bildet die Grundlage von Kommunikationsmodellen, die von Lotman später vorgestellt wurden. Im Vergleich zu diesen späteren Modellen fallen allerdings auch die Unterschiede ins Auge. Sie betreffen zunächst einmal den Anwendungsbereich des Modells: Die verschiedenen Typen semiotischer Systeme beziehen sich vor allen Dingen auf die Ebene der Textanalyse; der ganze Bereich der Kultur sowie der kognitiven Prozesse wird auf dieser frühen Etappe des Lotmanschen Œuvres noch nicht explizit angesprochen. Außerdem werden diese zwei Typen semiotischer Systeme als alternierend und nicht simultan dargestellt – die Frage nach dem semiotischen Austausch zwischen beiden und dem dadurch entstehenden kreativen Potenzial wird nicht gestellt. Damit hat dieses frühe Modell denselben textbezogenen und etwas taxonomisch-statischen Charakter, der sich auch allgemein in den Arbeiten der TartuMoskauer Schule aus den 1960er Jahren feststellen lässt.4
zweier Typen der Verhältnisse zwischen Ausdrucks- und Inhaltsebene auf die Saussuresche Unterscheidung der außersystemischen Bedeutung und des innersystemischen Wertes (valeur) zurückführen lässt (vgl. Saussure 1967, Kapitel 4: »Der sprachliche Wert«). 3
Vgl. z. B. die folgende Passage: »[…] je weiter die im Prozess der Umkodierung einander gleichwertig gemachten Strukturen voneinander entfernt sind, je unterschiedlicher ihre Natur ist, desto inhaltsreicher wird der Akt der Umschaltung aus einem System in das andere sein« (Lotman 1965: 25; dt. Übers. V.G.).
4
Diese Einschätzung wird auch von den Vertretern der Schule selbst geteilt. So charakterisiert Boris Uspenskij in seinem retrospektiven Überblick über die Entstehungsgeschichte der Tartuer Semiotik die 1960er Jahre als die Zeit der Suche nach neuen Wegen und konstatiert, dass die Schule damals im Zeichen der strukturellen Linguistik mit ihrer vorwiegenden Aufmerksamkeit auf den Text als solchen und der Hervorhebung formaler Momente der Analyse stand (vgl. Uspenskij 1994: 274-275).
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Die Grundidee der Dichotomie semiotischer Prozesse, die dem Kommunikationsmodell Lotmans zugrunde liegt, findet ihre weitere Entwicklung Anfang der 1970er Jahre. Im sechsten Band der Tartuer Arbeiten über Zeichensysteme (Trudy po znakovym sistemam) aus dem Jahre 1973 erschienen gleich zwei Beiträge, die hierfür von fundamentaler Bedeutung sind. In dem Aufsatz »Mythos – Name – Kultur«, den Lotman zusammen mit Boris Uspenskij verfasst hat,5 wird das dichotome Prinzip auf den Bereich des Bewusstseins übertragen. Neben der ausführlichen Charakteristik und Gegenüberstellung der mythologischen bzw. nichtmythologischen (deskriptiven) Bewusstseinstypen werden zwei Momente artikuliert, die einen wichtigen Platz im Lotmanschen Kommunikationsmodell einnehmen. Hierbei handelt es sich erstens um die Heterogenität des Bewusstseins, die gleichzeitige Anwesenheit zweier Mechanismen in ihm, die sich nach dem Typ der Semiose grundlegend voneinander unterscheiden. Zweitens ist es die Idee der unvollständigen Übersetzbarkeit, die als konstruktives Prinzip des Bewusstseins betrachtet wird. Die Autoren stellen fest, dass: »[…] die Heterogenität eine ureigene Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins ist, für dessen Mechanismus wenigstens zwei nicht restlos ineinander zu übersetzende Systeme wesentlich notwendig sind« (dt. Übers. aus Eimermacher 1986: 889). In dem anderen Aufsatz mit dem Titel »Zwei Kommunikationsmodelle im System der Kultur«6 überträgt Lotman das duale Kommunikationsmodell auf den Bereich der Kultur. Er geht von einer informationstheoretischen Auffassung der Kultur aus, die er in einem späteren Aufsatz als »die Gesamtheit aller nicht vererbten Informationen mit den Verfahren ihrer Organisation und Speicherung« definiert (Lotman 1981a: 26). Dabei unterscheidet er sowohl auf der Ebene des individuellen Bewusstseins als auch auf der des kollektiven Bewusstseins der Kultur als Ganzes zwei prinzipiell verschiedene Typen der Kommunikation: den des Informationsaustausches zwischen verschiedenen
5
»Mif – imja – kul’tura« (vgl. Lotman/Uspenskij 1973; dt. Übers. in: Eimermacher 1986).
6
»O dvuch modeljach kommunikacii v sisteme kul’tury« (vgl. Lotman 1973; dt. Übers. in: Eimermacher 1986). Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den Lotman auf der 4. Sommerschule über sekundäre modellbildende Zeichensysteme in Tartu gehalten hat (vgl. Lotman 1970).
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Adressa(n)ten und den der Autokommunikation (was offensichtliche Parallelitäten mit der schon erwähnten Gegenüberstellung von äußerer und innerer Umkodierung aufweist). Das bekannte Kommunikationsschema von Roman Jakobson, das aus der mathematischen Informationstheorie stammt (Jakobson 1960), wird von Lotman revidiert, so dass es dem dualen Organisationsprinzip der Kultur Rechnung trägt: »Im Mechanismus der Kultur verläuft die Kommunikation über wenigstens zwei verschieden gebildete Kanäle« (dt. Übers. aus Eimermacher 1986: 909). Das Lotmansche Kommunikationsmodell erreicht die höchste Stufe seiner Ausarbeitung in den Arbeiten vom Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre. Man denke hier nur an den Aufsatz »Das Phänomen der Kultur« (»Fenomen kul’tury«, vgl. Lotman 1978a), in dem sich neben den oben genannten Charakteristika des Kommunikationsmodells zwei weitere Aspekte behandelt finden, und zwar das Problem der Generierung neuer Texte und die Parallele zwischen der Kommunikation im System der Kultur und im individuellen Bewusstsein. Dabei zieht Lotman Analogien zwischen der Heterogenität semiotischer Mechanismen der Kultur und den Unterschieden im Aufbau der Hemisphären des menschlichen Gehirns.7
7
Neurophysiologische Arbeiten, die experimentell die funktionale Asymmetrie der menschlichen Großhirnhemisphären demonstrierten, wurden in der USA Anfang der 1960er Jahre durchgeführt (das sog. »split-brain research« von R. Sperry, M. Gazzaniga, J. Bogen u. a.). In der Sowjetunion wurden die neuen Erkenntnisse unter den Spezialisten schnell aufgenommen und erreichten – in etwas popularisierter Form – schon in den 1970er Jahren ein breiteres Publikum (vgl. etwa einen Beitrag zu diesem Thema in dem viel gelesenen populärwissenschaftlichen Magazin Wissenschaft und Leben [Nauka i izn’] – vgl. Deglin 1975). Die neuen Erkenntnisse, die vom Vorhandensein zweier unterschiedlicher Modi zur Repräsentation der Außenwelt im Kognitionsapparat des Menschen zeugten, fielen in der sowjetischen Semiotik auf fruchtbaren Boden. Schon in den 1930er Jahren hatte Vygotskij in seinen Arbeiten die Idee zweier verschiedener Denktypen (das logische Denken und das Denken in Komplexen) geäußert (Vygotskij 1934). Dabei betonte er, dass das »primitive« Denken in Komplexen nicht bloß einen Stadialcharakter im ontooder phylogenetischen Sinne hat (als Denken in den früheren Stadien der menschlichen Geschichte oder als Denken im Kindesalter), sondern auch
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Diese beiden Aspekte finden eine weitere Entwicklung in dem Aufsatz »Gehirn – Text – Kultur – künstlicher Intellekt« (»Mozg – tekst – kul’tura – iskusstvennyj intellekt«, vgl. Lotman 1981b). Darin wird der kreative Aspekt der Kommunikation, das Problem der Entstehung »neuer Texte«, ausführlich behandelt. Im Anschluss an seine Arbeiten aus den 1970er Jahren postuliert Lotman hier die »strukturelle sowie funktionale Isomorphie« zwischen dem individuellen Be-
einen organischen Bestandteil der Psyche des modernen Menschen darstellt, der mit dem logischen Denken koexistiert und sich mit ihm in ständiger Wechselwirkung befindet. In die gleiche Richtung gingen auch die Überlegungen Éjzentejns zum künstlerischen Schaffen, in welchem er eine Regression zu früheren Denkformen sah (Éjzentejn 1964: 121); ähnliche Ideen hatte in Bezug auf die poetische Sprache schon in den 1920er Jahren Jakubinskij formuliert – vgl. Jakubinskij 1986: 196 (dieser ganze Ideenkomplex geht offensichtlich auf die Freudsche psychoanalytische Konzeption der Persönlichkeit zurück). In diesem Zusammenhang gehören auch Roman Jakobsons Interesse für Aphasien sowie die experimentellen Untersuchungen zur Neurophysiologie der Sprache von Lurija, bei dem Anfang der 1960er Jahre Vjaeslav Vs. Ivanov gearbeitet hat. Ivanov war auch der erste unter den Vertretern der Tartu-Moskauer Schule, der die semiotische Theorie mit den neuen Erkenntnissen aus der Neurophysiologie zu verbinden versuchte. In seinem 1978 erschienenen Buch Gerade und Ungerade (wie Ivanov im Vorwort anmerkt, wurde das Buch schon 1976 geschrieben) werden die Daten über die Asymmetrie des Gehirns auf die Analyse verschiedener Bereiche der Kultur angewendet. Auch Lotman zeigte großes Interesse für die neuen Ideen. Wahrscheinlich ging er zum ersten Mal auf diese Problematik in seinem Vortrag vor dem VINITI (All-Unions-Institut für Wissenschaftliche und Technische Information) ein, wo er auf die »überraschende Isomorphie« zwischen der Kultur und der Asymmetrie des menschlichen Gehirns hinwies (vgl. Lotman 1977). Sehr schnell stellte Lotman den Kontakt zu den Wissenschaftlern her, die auf diesem Gebiet in der UdSSR arbeiteten (L. Balonov, V. Deglin, N. Nikolaenko u. a.). Als Ergebnis dieser Zusammenarbeit erschienen Anfang der 1980er Jahre einige Bände der Arbeiten über Zeichensysteme (vgl. insb. Bde. 16, 17 und 19), die ein selten gelungenes Beispiel des Dialogs zwischen den Vertretern der »zwei Kulturen« (im Sinne von C. P. Snow 1959) darstellen.
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wusstsein, dem neuen Text und der Kultur. Diese Isomorphie erlaubt es Lotman, von den allgemeinen Organisationsprinzipien einer »intellektuellen Einrichtung«, d. h. eines Mechanismus zur Generierung neuer Texte, zu sprechen. Er stellt fest: »Linke und rechte Hemisphäre des menschlichen Gehirns, die verschiedensprachigen Subtexte des Texts, der prinzipielle Polyglottismus der Kultur […] bilden ein einheitliches invariantes Modell: Eine intellektuelle Einrichtung besteht aus zwei (oder mehr) integrierten Strukturen, die die äußere Realität auf prinzipiell unterschiedliche Weise modellieren« (zit. nach Lotman 1992: 29). Die Generierung neuer Texte wird im Prozess der bedingtadäquaten (»nicht trivialen«) Übersetzung möglich, die den Ausgangstext durch die außersystematischen Elemente bereichert. Die wesentliche Weiterentwicklung in diesem Aufsatz besteht darin, dass Lotman in das Kommunikationsschema eine dritte Komponente einführt – einen Vermittler zwischen zwei verschieden aufgebauten Systemen, den er »Block der nicht-trivialen Übersetzung« nennt und als »zweisprachige Einrichtung mit flexiblen Äquivalenzregeln« (ebd.: 27) charakterisiert. Auf die Frage nach der vermittelnden Struktur werden wir noch im Zusammenhang mit den interessanten Parallelen zurückkommen, die das Lotmansche Modell mit der Kreativitätsforschung in den Neurowissenschaften aufweist. Das Interesse an den Daten aus der neuronalen Forschung ist in den späteren Arbeiten Lotmans deutlich zu spüren. Eine interessante Entwicklung zeitigt dieses Interesse im 16. Band der Arbeiten über Zeichensysteme, der im Jahre 1983 erschienen ist. Neben den Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten der Kultursemiotik sind dort auch empirisch fundierte Studien von Kognitions- und Neuroforschern vertreten. In ihnen wird der Versuch unternommen, die semiotischen Theorien mit jenen Daten zu verbinden, die bei den experimentellen Untersuchungen der Asymmetrie der Hirnhemisphären gewonnen wurden. In dem Aufsatz mit dem charakteristischen Titel »Asymmetrie und Dialog« (»Asimmetrija i dialog«, vgl. Lotman 1983) zieht Lotman eine weit reichende Parallele zwischen den kommunikativen Mechanismen der Kultur und dem Dialog der Hemisphären, auch wenn er vorsichtig anmerkt, dass solche Analogien lediglich einen bedingten Cha8 rakter haben. Trotz dieser Einschränkung kommt Lotman zu dem
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»Es muss mit der ganzen Entschiedenheit betont werden, dass die Begriffe ›rechts-‹ bzw. ›linkshemisphärisch‹ in Bezug auf das Material der Kultur
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Schluss, dass im Lichte neuer experimenteller Daten »die Idee der Kultur als einer (mindestens) aus zwei Kanälen bestehenden Struktur, die die unterschiedlich aufgebauten semiotischen Generatoren verbindet, ein neuro-topographisches Fundament bekommt« (Lotman 1983: 25, dt. Übers. V.G.). In der Lateralisierung der Großhirnhemisphären und der dadurch entstehenden kommunikativen Asymmetrie sieht Lotman jetzt auch die Lösung für das Problem der Entstehung neuer Texte, das ihn schon lange beschäftigt hat: »Der Zustand, der als Inspiration bezeichnet wird, gleichwie auch einige andere psychologische Affekte, die für das kreative Denken und die kreative Tätigkeit kennzeichnend sind, stehen wahrscheinlich mit der zielgerichteten Destabilisierung der Hemisphärenaktivität in Verbindung«. (Ebd.: 20, dt. Übers. V.G.)
Wir sehen somit, dass das Kommunikationsmodell Lotmans in den mehr als 20 Jahren seiner Entwicklung eine wesentliche Evolution erfahren hat. Dennoch hat es auf allen Etappen seiner Entwicklung jene Grundidee beibehalten, nach der die semiotischen bzw. kommunikativen Prozesse in zwei prinzipiell unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten können. So weisen die für das spätere Werk Lotmans charakteristischen Formulierungen über die konkurrierenden Hemisphären und Typen des Bewusstseins, von denen der eine »auf eine extreme Desemantisierung und freies Spiel mit Zeichen, der andere dagegen auf ihre genauso extreme Semantisierung, Kupplung mit der Außenrealität orientiert ist« (ebd.: 21), einerseits eine nicht zu übersehende Affinität zur Konzeption der inneren und äußeren Umkodierung auf, die von Lotman schon in den 1960er Jahren entwickelt worden ist. Andererseits hat das Modell im Laufe der Entwicklung mehrere neue Aspekte in sich aufgenommen, seinen Anwendungsbereich wesentlich erweitert und einen dynamischen Charakter bekommen. Wird es in den 1960er Jahren noch vornehmlich auf die Ebene der Texte bezogen, so wendet es Lotman später auf die menschlichen Denkprozesse sowie die Kultur als Ganzes an. Das statische Modell, in dem zwei verschiedenartige Kodes parallel nebeneinander existieren, wird durch einen dynamischen Aspekt ergänzt, der eine
von uns äußerst bedingt verwendet werden, man sollte sie so verstehen als stünden sie in Anführungszeichen« (Lotman 1983: 21).
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ständige Wechselwirkung zwischen ihnen voraussetzt. Durch den Aufweis der Parallele mit dem Funktionieren des menschlichen Gehirns gewinnt das Modell außerdem auch eine naturwissenschaftliche Begründung. Bei aufmerksamer Betrachtung des Lotmanschen Kommunikationsmodells stößt man auf eine Reihe wichtiger, mehr oder weniger impliziter Annahmen, auf denen es aufgebaut ist. Eine wichtige Aufgabe besteht nun darin, diese Annahmen zu explizieren und zu überlegen, welche Bedeutung sie für die Erforschung der Kultur haben können. 1. Eine der Implikationen dieses Modells ist die prinzipielle Wichtigkeit des Unrichtigen, der Abweichung von der Norm, im Kommunikationsmechanismus der Kultur. Nach Lotmans Auffassung schafft ein fehlerfreier Text, eine korrekte Übersetzung keine Bedingungen für die Generierung neuer Information. Die Abwesenheit außersystematischer Elemente, die die Rolle der Strukturreserve des Systems erfüllen, beeinträchtigt die Dynamik semiotischer Prozesse. Diese Dynamik wird mit der Erarbeitung normativer Grammatiken und Selbstbeschreibungen der Kultur noch weiter verlangsamt. Diese These wird von Lotman in verschiedenen Varianten vertreten, so z. B., wenn er vom Spannungsverhältnis zwischen dem Kode und der Botschaft spricht, die Wichtigkeit des Zufälligen unterstreicht oder die Dynamik der Peripherie dem Erstarren des Zentrums gegenüberstellt.9 2. Eng verbunden mit dieser These ist die Annahme, dass für die erfolgreiche Kommunikation das Vorhandensein des »Anderen« not-
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Es sei hier angemerkt, dass diese Idee über die innere Schwäche und Fruchtlosigkeit des dogmatischen »Zentrums« an sich nicht neu ist, nur wurde sie vielleicht zu selten – besonders im ›westlichen‹ Kontext – artikuliert. Dazu bemerkte Laotse: »Dass Schwaches das Starke besiegt / und Weiches das Harte besiegt,/weiß jedermann auf Erden,/aber niemand vermag danach zu handeln« (Laotse, Tao Te King: 78, Übers. von Richard Wilhelm). Es ist bezeichnend, dass Lotman für seinen Artikel »Dynamisches Modell des semiotischen Systems« (»Dinamieskaja model’ semiotieskoj sistemy«, vgl. Lotman 1978b), der sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie befasst, ein Epigraph aus orientalisch-gnostischen Manuskripten von Nag-Hammadi wählte: »Zeigt mir den Stein, den die Bauleute verworfen haben: Er ist der Eckstein«.
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wendig ist, eines Systems, das nach anderen Gesetzen funktioniert und dennoch den Austausch von unterschiedlich kodierten Botschaften oder – anders gesagt – den Dialog ermöglicht. Lotman sieht in der dynamischen Spannung, die im Prozess des Dialogs entsteht, ein konstitutives Moment jeder »sinnerzeugenden Einrichtung« (sei es ein individuelles Bewusstsein oder die Kultur als Ganzes); als deren Existenzbedingung tritt in diesem Modell das Vorhandensein oder gegebenenfalls die Erschaffung »des Anderen« auf: »Ein jedes Bewusstsein modelliert sich einen ›Anderen‹ einen Gesprächspartner, der in das System von Verstehen – Nicht-Verstehen, von kommunikativer Zusammenarbeit und Kampf eingeschlossen wird. […] Dialog ist die Zusammenführung von zwei zu einem und Entzweiung des Einigen« (Lotman 1984a: 4, dt. Übers. V.G.). Das Bestreben nach Vereinnahmung des ganzen Kulturraumes und Gleichschaltung des »Anderen« weist sich als Weg zur Selbstzerstörung aus. Diese Einstellung auf den »Anderen«, diese Gerichtetheit auf den Dialogpartner lässt uns natürlich an die Bachtinsche Dialogizität denken oder auch an die Arbeiten einiger religiöser Denker, z. B. an Uchtomskij mit seiner Konzeption der (wie er etwas befremdlich ausgedrückt hat) »Dominante auf den Gesprächspartner« (dominanta na sobesednika, vgl. Uchtomskij 1997). 3. Eine wichtige Grundlage für Lotmans Kommunikationsmodell bildet ferner die Annahme der prinzipiellen Heterogenität semiotischer Systeme selbst – seien es einzelne Texte, individuelles Bewusstsein oder die Kultur im Ganzen. Jedes der sie bildenden Subsysteme (von denen es bei Lotman immer zwei gibt) ist ein in sich geschlossenes Ganzes, stellt jedoch zugleich einen Teil des komplexeren Systems dar. Da sich diese Subsysteme im Zustand der dynamischen Asymmetrie befinden, kann die Illusion entstehen, das in jedem gegebenen Moment dominierende Subsystem sei das einzige. Jedoch darf man gemäß Lotman nicht vergessen, dass es auch »die andere Seite des Mondes« gibt – eine latente Komponente, die in vielem die innere Dynamik des Systems bestimmt.10 In dieser Auffassung liegt ein wesentlicher Unterschied des Lotmanschen Verständnisses der Dualität zum Prinzip der binären Oppo-
10 Wie schon erwähnt, konnte sich Lotman bei der Entwicklung dieser Idee auf eine reiche Tradition stützen – man denke nur an die Theorie der Psychoanalyse, die Kontrastierung von Denken in Komplexen und logischem Denken in den Arbeiten Vygotskijs usw.
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sition im engeren strukturalistischen Sinne. Während Binarität auf dem Prinzip der Disjunktion basiert und die Wahl eines der Oppositionselemente voraussetzt, was zugleich den Verzicht auf das andere bedeutet (idealiter wird dieses Prinzip in der Gegenüberstellung distinktiver Merkmale in der Phonologie oder in der maschinellen Logik vertreten, die auf der Wahl zwischen 0 und 1 beruht), verlangt das duale Prinzip in Lotmans Kommunikationsmodell keine solche Wahl, obgleich es sich auch auf die Gegenüberstellung zweier verschiedenartiger Mitglieder einer Opposition stützt. Im Gegenteil, nur bei ihrer gleichzeitigen Anwesenheit und in dynamischer Wechselwirkung zwischen ihnen wird das Funktionieren des Systems im Ganzen erst ermöglicht. 4. Die nächste wichtige Annahme der Kommunikationstheorie Lotmans stellt die Anwesenheit eines dritten Elements dar – des Vermittlers zwischen den zwei verschieden aufgebauten Subsystemen. Wie schon ausgeführt wurde, erscheint dieses Element im Schema Lotmans nicht von Anfang an, sondern – zunächst unter der Bezeichnung »Block der nicht-trivialen Übersetzung« – erst seit dem Beginn der 1980er Jahre. Später wurde die Idee des Vermittlers von Lotman allgemeiner formuliert, und zwar in seinen Überlegungen über die Grenze, die er als »Block der Übersetzung« oder »Summe der bilingualen Übersetzer-Filter« charakterisiert (vgl. Lotman 1984b: 8).11 Somit verwandelt sich die Grenze von der einfachen Oberfläche, die mechanisch zwei Teilnehmer des Kommunikationsakts trennt, zu einer Komponente mit einer komplizierten Struktur, die eine entscheidende Bedeutung für die Durchführung der Kommunikation besitzt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die ersten beiden Annahmen – die der Wichtigkeit der Peripherie bzw. der außersystematischen Elemente sowie die der Notwendigkeit des Dialogs mit dem
11 An gleicher Stelle weist Lotman auf die mathematischen Analogien hin. Es sei hier angemerkt, dass sowohl der Begriff »nicht-triviale Übersetzung« (netrivial’nyj perevod) als auch das Konzept der Grenze als einer vermittelnden Struktur bei Lotman unter dem offensichtlichen Einfluss der Topologie entstanden sind – desjenigen Gebiets der Mathematik, das sich mit dem Konzept der Stetigkeit (räumlicher Kontinuität) beschäftigt. Insbesondere die Arbeiten des französischen Wissenschaftlers R. Thom (z. B. seine 1975 auf Russisch erschienene Topologie und Linguistik) haben einen nachhaltigen Einfluss auf Lotman ausgeübt.
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»Anderen« – keinen deskriptiven, sondern einen axiologischen, sogar etwas präskriptiven Charakter haben. Sie betreffen nicht den Aufbau des Kommunikationssystems selbst, sondern besagen, welche Momente beim Kommunikationsablauf Lotman als wichtig erscheinen. Kritiker hätten hier ein leichtes Spiel, denn sie könnten den Vorwurf erheben, hinter diesen Annahmen stehe nichts anderes als die psychologischen, ethischen oder sogar politischen Einstellungen von Lotman selbst, die durch persönliche Umstände seines Lebens am Rande eines großen Imperiums und durch seine Erziehung im Milieu der Intelligencija (mit ihrem Respekt gegenüber dem Anderen) bedingt seien. Tatsächlich hält z. B. Alexandrov in dem folgenden Zitat Lotman indirekt Wunschdenken vor: »[…] it is quite probable that his [Lotmans] cultural preferences were influenced by his distaste for the monologism, coercion, ritualization, and brutality typical of the former Soviet Union« (Alexandrov 2000: 358). Lotmans Verständnis der Kultur bezeichnet er als »precursory and even optimistic« (ebd.: 359).12 Verglichen mit den ersten beiden Annahmen sind die Annahme der Heterogenität (konkreter: Dualität) semiotischer Systeme wie auch diejenige über die Rolle des bilingualen Vermittlers weniger spekulativ und ideologiebezogen. Sie charakterisieren die wichtigsten Komponenten des Kommunikationssystems selbst und können sich daher auf empirische Evidenz berufen. In der Tat hat das Modell in den letzten Jahrzehnten Unterstützung von unerwarteter Seite bekommen: von der Hirnforschung. Das Grundschema der Kommunikation und Erzeugung neuer Texte, das Lotman seit Anfang der 1960er Jahre ausgearbeitet hat, fand einige erstaunliche Parallelen in den Erkenntnissen, die bei der Erforschung der funktionalen Asymmetrie der Großhirnhemi-
12 Die theoretischen Aspekte der interessanten Frage nach dem Zusammenhang zwischen der methodologischen Position eines Wissenschaftlers, seinen »tiefen psychologischen Einstellungen« und der »Konfiguration pragmatischer Bestrebungen« werden in einem aufschlussreichen Artikel von Isaak Revzin (1971) behandelt. Den Versuch, die Spezifik und methodologische Perspektive der ganzen Tartu-Moskauer Schule aus der ideologischen Situation in der damaligen Sowjetunion bzw. der dadurch beeinflussten Prägung der Persönlichkeiten ihrer Mitglieder abzuleiten, unternahm Boris Gasparov (1989). Bekanntlich ist sein Artikel auf eine eher verhaltene Reaktion Lotmans und anderer Vertretern der Schule gestoßen (vgl. Lotman 1994; Egorov 1994).
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sphären gemacht wurden. Die von Lotman aufgeführten Oppositionen zwischen der inneren und der äußeren Umkodierung, dem mythologischen und nicht-mythologischen Bewusstsein, dem ikonischen und verbalen Prinzip der Informationsverarbeitung finden eine ziemlich direkte Parallele im kognitiven Stil der rechten bzw. linken Hemisphäre. Auch die Lotmansche Theorie der Generierung neuer Texte, in der eine wichtige Rolle dem bilingualen Vermittler (dem »Block der nicht-trivialen Übersetzung«) zugewiesen wird, hat viel Gemeinsames mit den Ansichten, die in der neuronalen Kreativitätsforschung geäußert werden. So wird z. B. in der Kreativitätstheorie, die von einem der Pioniere der split-brain-Forschung, Joseph Bogen, aufgestellt wurde, die Kreativität ebenfalls durch die Dynamik der interhemisphärischen Prozesse erklärt. Die Funktion des Zentralregulators und Koordinators übernimmt dabei das Corpus Callosum (Balken) – der Grenzbereich, der die beiden Hemisphären verbindet und den gegenseitigen Informationsaustausch zwischen ihnen ermöglicht (vgl. u. a. Bogen/Bogen 1988 und 1999).13 Somit bekommen diese Aspekte des Lotmanschen Kommunikationsmodells eine solide, experimentell begründete Basis, die in einem so spekulativen Forschungsgebiet wie den Kulturwissenschaften natürlich hochwillkommen ist. Wie wir gesehen haben, durchläuft Lotman in der Entwicklung seines Modells konsequent die Ebenen des Texts, des individuellen Bewusstseins und der Kultur als Ganzes. Dieses Operieren mit Phä-
13 Eine ähnliche Konzeption wird in Arbeiten des russischen Neurophysiologen Nikolaenko vertreten (vgl. Nikolaenko 2003), der schon in den 1980er Jahren mit den Tartuer Semiotikern zusammengearbeitet hat (vgl. u. a. seine Beiträge in Arbeiten über Zeichensysteme oder seinen in Koautorschaft mit Lotman geschriebenen Artikel – Lotman/Nikolaenko 1983). Es sei hier angemerkt, dass das Erklärungsprinzip selbst, nach dem die kreative Information (»neue Texte«) als Ergebnis wiederholter Informationszirkulation zwischen zwei auf verschiedene Weise organisierten Bereichen des Gehirns entsteht (wobei es auf jeder Runde zu einem Zuwachs an Information kommt, was Lotman unter Bezugnahme auf die griechische Philosophie »selbst steigernden Logos« nennt), hat in der letzten Zeit in den Kognitions- und Neurowissenschaften eine weite Verbreitung gefunden. Vgl. z. B. solche Konzepte wie »reentrant circuit« von Gerald Edelman (1990), »creative loop« von Erich Harth (1993) oder »growth point« von David McNeill (2005).
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nomenen unterschiedlicher Natur und verschiedener Komplexitätsgrade ruht auf noch einer wichtigen Annahme, die implizit im Kommunikationsmodell Lotmans enthalten ist: dem Isomorphismus der semiotischen Systeme der verschiedenen Ebenen. Alle diese Ebenen gleichen konzentrischen Kreisen, die die vorangehenden Ebenen in sich einschließen und ihre Aufbauprinzipien auf der nächsten Stufe reproduzieren. Da jede dieser Ebenen ein traditionelles Objekt verschiedener Wissenschaften bildet, finden die Erkenntnisse und Methoden aus Linguistik und Kunstgeschichte, Psychologie und Neurowissenschaften, Philosophie und Kulturforschung in den Arbeiten von Lotman ihren Niederschlag. Zu Recht verweist daher Karl Eimermacher darauf, dass Lotman »[…] traditionell verwendete Verfahren und Begriffe mit methodologischen Erkenntnissen und systematischen Begriffen anderer Wissenschaften konstruktiv verband« und eben darin eine der Ursachen für den Erfolg von Lotmans Arbeiten gelegen habe (Eimermacher 1995: 203). Bei allen Ungenauigkeiten, die bei solchen Verbindungen unvermeidlich entstehen und deren sich Lotman selbst sehr wohl bewusst war, stellen die Parallelisierungen und Analogisierungen, die ständige Übersetzung der Elemente des Forschungsapparats der einen Wissenschaft in die Sprache der anderen die starke Seite, die Faszination des wissenschaftlichen Stils von Lotman dar und gewährleisten in vielen Fällen das Neuartige seiner Ideen. Somit erweist sich die Lotmansche Kommunikationstheorie selbst als ein gutes Beispiel dafür, welch kreatives Potential und welche Produktivität eine nicht-triviale Übersetzung zwischen verschieden aufgebauten Sprachen entfalten kann.
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Jurij Lotman: Die vorexplosive Phase R ENATE L ACHMANN
Als Jurij Michajlovi Lotman 1964 seine Lektionen zur strukturalen Poetik veröffentlichte, war die literaturwissenschaftliche Szene der Sowjetunion bestimmt von literaturhistorischen- und interpretatorischen Arbeiten, deren Abhängigkeit von ideologisch kontrollierten Konzepten die Annäherung an neue Methoden ausschloss. Lotman konnte jedoch auf dem Theoriefundament aufbauen, das die Anfang der 30er Jahre verbotene russische formale Schule hinterlassen hatte, ebenso wie auf Theoremen des Prager Strukturalismus der 30er Jahre, auf Vladimir Propps Morphologie des Märchens, auf Lévi-Strauss’ strukturaler Anthropologie. Dazu kamen Konzepte (oder Denkfiguren) aus der Linguistik (der Zeichenbegriff de Saussures, Shannons Übersetzungstheorie), Konzepte aus der Semiotik, Kybernetik, Neurologie, Thermodynamik, die Lotman mit dem Ziel einer zunehmenden Verwissenschaftlichung seiner Disziplin adaptierte, sie führten endgültig aus einem Feld heraus, das von der Doktrin des Historischen Materialismus beherrscht war. In der sich in den 60er Jahren konsolidierenden Moskau-Tartuer Schule, die auf Lotmans Initiative zurückging und die sich in der Publikationsreihe µ (Arbeiten über Zeichensysteme), (die seit Ende der 60er Jahre erscheinen) zu artikulieren begann, waren Literaturwissenschaftler, Linguisten, Historiker, Ethnographen, Anthropologen, Mythenforscher, Religionswissenschaftler, Kunsthistoriker ver-
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sammelt, die an der Profilierung eines Kulturbegriffs arbeiteten, der Begriffe wie Struktur, Zeichen, System, Gedächtnis, Modell und Text einschloss. Es ging um die Entwicklung einer auf Beschreibung und Vergleich gründenden Typologie von Kulturen, deren jeweilige Erscheinungsform als systembildendes Zeichenensemble aufgefasst werden sollte. 1971 veröffentlichten Lotman und Boris Uspenskij, prominentes Mitglied des Moskauer Flügels der Gruppe, einen programmatischen Artikel in der µ, aus dem ich zitieren möchte: »Im weitesten Sinne kann Kultur als das nicht vererbbare Gedächtnis eines Kollektivs verstanden werden, das in einem bestimmten System von Verboten und Vorschriften seinen Ausdruck findet. Diese Auffassung schließt keineswegs einen axiologischen Zugang zur Kultur aus: Tatsächlich erscheint die Kultur dem Kollektiv jedesmal als ein bestimmtes System von Werten. Die Unterschiedlichkeit des Zugangs kann auf den Unterschied zwischen dem Außenstandpunkt des abseits stehenden Beobachters und dem Innenstandpunkt des Trägers der Kultur selbst zurückgeführt werden. Der axiologische Zugang erfordert unbedingt die Berücksichtigung gerade des Innenstandpunkts, d. h. die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Kultur. Die Kulturforscher nehmen in diesem Fall die entfremdete Position eines außerhalb stehenden Beobachters ein: Die Beobachtung von innen wird zum Gegenstand der Forschung. Kulturgeschichte in diesem Sinne ist nicht nur die Dynamik bestimmter Vorschriften und Verbote, sondern auch die Dynamik des Selbstverständnisses der Kultur, die in einem bestimmten Maß die jeweilige Veränderung der normativen Einstellungen (d. h. der Vorschriften und Verbote) erklärt. Und so erscheint die Kultur – das System des kollektiven Gedächtnisses und des kollektiven Bewusstseins – gleichzeitig notwendig als eine für das jeweilige Kollektiv einheitliche Wertstruktur. […] Es sollte jedoch nicht darum gehen, die Modelle der Selbstbeschreibung vergangener Kulturen automatisch in den Text der historischen Forschung zu überführen, sondern darum, sie als einen bestimmten Typ des Kulturmechanismus zu einem speziellen Forschungsobjekt zu machen.« (Lotman/Uspenskij 1971b: 1f.)
Es wird deutlich, dass die Differenz zwischen System zum einen und Beobachterstandpunkt zum andern in die Reflexion des Beobachters als Thema eingeht. Wobei das beobachtete Wertesystem auf der Objektebene in der Metasprache der Beobachter seinen Niederschlag findet.
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Der Modellbegriff, der hier in Bezug auf kulturelle Selbstbeschreibung benutzt wird (dazu gehört auch die Prägung »avtomodel’« [Automodell, Selbstmodell]), wie er etwa in der Bestimmung der russischen Kultur als einer Doppelkultur zum Ausdruck kommt, meint zweierlei: zum einen lässt sich Modell als eine beschreibend-abbildende, zum andern als eine organisierend-eingreifende Leistung bezeichnen. »Modell« funktioniert als ordnendes (reduzierendes) Abbild und als Entwurf.1 Für die Beschreibung kultureller Vorgänge wird ein Inventar von Kategorien und Konzepten aufgeboten, das der Beschreibung von Techniken der Selbstinterpretation und der Selbstmodellierung gilt, mit denen sich eine Kultur stabilisiert: Transformation, Umkodierung, Übersetzung gehören dazu, während Begriffe wie »Systemhaftigkeit – Nichtsystemhaftigkeit«, »Geordnetheit – Nichtgeordnetheit« eines Systems in die Analyse der Resultate solcher Techniken eingehen. Im Folgenden geht es zunächst um das Verhältnis von Text und Kultur. »Text« und »Kultur« stehen in einer Art Wechselbeziehung: Zum einen werden zwischen beiden Begriffen Analogien hergestellt, die Übertragungen (mit metaphorischen Implikationen) in beide Richtungen erlauben, zum andern erscheint Kultur als die Summe ihrer Texte, als Makrotext. In beiden Fällen kann von einer textomorphen Struktur der Kultur ausgegangen werden, die mithin derselben Beschreibungsprozedur unterliegt wie der Text, wobei »Text« die geordnete, Bedeutung erzeugende Zeichenkonfiguration unterschiedlicher Materialität meint (Literatur, Bildende Kunst, Musik). Text und Kultur sind vermittelt durch den Begriff des Zeichens und den der Bedeutung. Die Abkehr von rein innertextlicher Analyse hat bereits in einer späteren Phase des russischen Formalismus eingesetzt. Hier knüpft Lotman an, wenn er in seinen Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik schreibt: »Der Text existiert überhaupt nicht an sich, er ist unvermeidlich in einen historisch-realen oder fiktiven Kontext eingeschlossen. Der Text existiert als Kontrahent zu den außertextlichen Strukturelementen, die mit ihm wie zwei Glieder einer Opposition verbunden sind.« (Lotman 1964/1972: 171)
Und weiter heißt es:
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Zum Modellbegriff vgl. Eimermacher 1995.
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»Es ist ganz offensichtlich, daß der reale künstlerische Bedeutungsgehalt [im Original: »znaimost’«] der Textelemente nur in der Beziehung zu den außertextlichen verständlich wird. Wird dieselbe Menge von Textelementen mit verschiedenen außertextlichen Strukturen in Korrelation gebracht, so entsteht ein unterschiedlicher künstlerischer Effekt. Nur die Beziehung der Gesamtheit der künstlerischen Elemente auf allen Ebenen, in ihrer gegenseitigen Korrelativität und in der Beziehung zur Gesamtheit der außertextlichen Elemente und Verbindungen kann als vollständige Beschreibung der Struktur eines bestimmten Werkes gelten.« (Ebd.: 181)2
Das Konzept des Extratextuellen lässt sich an den Begriff des »Hintergrunds« (fon) anschließen, der in Lotmans Vorlesungen in der Opposition Zeichen vs. Hintergrund auftaucht. Es ist ein Begriff, der zum terminologischen Inventar der Formalisten gehört. Die Präzisierung dessen, was Lotman unter extratextuellen Strukturen versteht, die er an anderer Stelle vornimmt, lässt es zu, Extratextualität als ein historisches Moment, als Bestandteil des Bewusstseins eines konkreten soziokulturell bestimmten Kollektivs zu fassen, das innerhalb des Kommunikationsraums, in dem Texte wirken, einen Platz innehat. »So existieren im Bewusstsein des Lesers die ihm vertrauten Begriffsverknüpfungen, die durch die Autorität der natürlichen Sprache und der ihr eigenen semantischen Struktur sanktioniert sind ebenso wie durch sein Alltags-Bewusstsein, durch die Begriffsstruktur der Kulturperiode und des Kulturtyps, dem der Interpret eines Textes angehört, und schließlich, durch die gesamte ihm vertraute Struktur künstlerischer Konstruktionen.« (Lotman 1970a: 241)3
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Der von Lotman explizierte Gedanke der »znaimost’« lässt sich aus den Tynjanovschen Kategorien der Syn- und der Autofunktion entwickeln; vgl. Tynjanov 1927: 438. Zu Lotmans Anschluss an formalistische Konzepte und deren Weiterentwicklung vgl. Lachmann 1977: 1-36; sowie Lachmann 1982: 134-155.
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Soweit nicht anders angegeben stammen die Übersetzungen aus diesem Text von mir (R. L.); Vergleichsstellen der edierten deutschen Übersetzung (Lotman 1970b/1972) werden jeweils angegeben. Im Fall des vorliegenden Zitats verdreht die dortige Übersetzung den semantischen Gehalt (vgl. ebd.: 300).
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Man kann diese Feststellung als Versuch interpretieren, Kulturerfahrung als Erfahrung semiotischer und kommunikativer Strukturen zu denken, oder weiter gefasst: als Erfahrung des Eigenverständnisses einer Kultur sowie der Metasysteme, die sie zur Beschreibung ihrer semiotisch-kommunikativen Interaktion und zu deren Organisation herausgebildet hat, und schließlich als Erfahrung ihrer Kommunikationsmechanismen, die von Kodes mit systemstabilisierender Funktion einerseits und solchen mit system-instabilisierender Funktion andererseits geprägt werden. Ausgangspunkt für die Theoriebildung ist ein Textbegriff, der sich in zwei Ansätzen entfaltet, die hinsichtlich ihrer Motivationen und Perspektiven stark divergieren. Während der eine seine linguistischen Anleihen nicht verleugnen kann, von einem binaristischen Zeichenbegriff ausgeht und ein Bedeutungsmodell entwirft, das einem szientistischen Erkenntnisinteresse zu folgen scheint, ist der andere Ansatz »metalinguistisch« orientiert, lässt einen eher »dialogisch« verstandenen Zeichenbegriff vermuten, der an eine in der russischen Wissenschaftstradition bestehende semantische Theorie anknüpfen kann, die von Bachtin ausformuliert worden ist. Zunächst der binaristische Ansatz: Lotman bedient sich des linguistischen Zeichenbegriffs (allerdings ohne die Implikation der Arbitrarität) und überträgt ihn auf den Text als Ganzheit: »Die Zeichen der Kunst haben keinen konventionellen Charakter wie in der Sprache, sondern einen ikonischen, darstellenden.« (Lotman 1970a: 31)4 Mit der Entscheidung für einen binären Zeichenbegriff, dessen Komponenten zum einen mit der Ausdrucksebene (signifiant, vyraenie), zum andern mit der Inhaltsebene (signifié, soderanie)5 gleichgesetzt werden, ergeben sich für die Entwicklung eines Beschreibungsmodells für die textuellen Bedeutungsoperationen folgende Konsequenzen: Die Ineinssetzung von Zeichen und Text wird durch die Opposition Ausdruck vs. Inhalt motiviert. Ein (nicht mehr teilbarer) Ausdruck korreliert mit einem (nicht mehr teilbaren) Inhalt. Diese Relation ist stabil: Es gibt keine Veränderung auf der Ausdrucksebene ohne
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Vgl. Lotman 1970b/1972: 41. Andererseits beruft er sich auf inkin
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Die Verkürzung des Hjelmslevschen Modells macht es unmöglich, den
(1961), dessen Zeichendefinition das Arbitraritätskonzept impliziert. glossematischen Ansatz, auf den sich Lotman beruft, herauszuarbeiten und gegenüber einem ›einfachen‹ Binarismus zu profilieren.
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Konsequenzen auf der Inhaltsebene: »Das Zeichen modelliert seinen Inhalt.« (Lotman 1970a: 31)6 Lotman lässt die Relation zwischen Ausdruck und Inhalt als Ergebnis einer Prozedur erscheinen, die er als »Umkodierung« (perekodirovka) bezeichnet. Diese spezifische Inbeziehungsetzung der Ausdrucks- und der Inhaltsseite des ZeichenTextes generiert die Bedeutung des je konkreten Textes. Genauer: Der Text wird im Spannungsfeld zweier Strukturketten situiert, der Ausdruckskette und der Inhaltskette. Indem zwischen diesen beiden Ketten eine Äquivalenzbeziehung hergestellt wird, wird die Bedeutung des Textes generiert. Die Äquivalenzbildung ist dabei lediglich der Nachvollzug der Ikonizität und damit die Realisierung der modellierenden Handlung, die das Text-Zeichen bezüglich eines außertextlichen Objekts vollzogen hat. Durch die Zeichenqualität der Ikonizität (und Nichtarbitrarität) erhält die Bedeutungsherstellung zwangsläufig ein Moment des Adynamismus. Andererseits lässt Lotmans Konzeption eine gewisse Instabilisierung dadurch zu, dass die Prozedur der Äquivalenzherstellung als ein wiederholbarer Akt gedacht werden kann, der immer andere ikonische Beziehungen ermöglicht. Die Invarianz des Textes und die Stabilität des Bezuges zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene, wie sie die Nichtarbitrarität nahelegt, werden überspielt durch den Gedanken der Instabilisierung der Textbedeutung in der Herstellung je unterschiedener Beziehungen zwischen einem konkreten Text (als Ausdruckskette) und den Inhaltsketten außertextlicher Strukturen. Der Begriff der »Umkodierung« gewinnt in diesem Kontext eine zentrale Stellung. Der Begriff entstammt der Übersetzungstheorie und meint die Herstellung von Äquivalenzen (zwischen zwei Sprachen), hier zwischen zwei Strukturketten, der des Inhalts und der des Ausdrucks. Im Bereich der Umkodierung werden vier Typen unterschieden, die entsprechende Weisen der Bedeutungsherstellung formulieren: die »äußere paarige«, die »äußere multiple« Umkodierung und die »innere paarige«, die »innere multiple« Umkodierung (Lotman 1965: 22-37 und 1970b/1972: 58-87). Lotman, der zum expansiven und generalisierenden Gebrauch seiner Kategorien neigt, versucht aufgrund der genannten Umkodierungs-Typologie, epochenspezifische Weisen der Bedeutungsherstellung literarischer Texte zu differenzieren. So ordnet er etwa die innere Umkodierung als dominierenden Bedeutungstyp der
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Vgl. Lotman 1970b/1972: 41.
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Romantik, die äußere Umkodierung dem Realismus zu. Der Fall der äußeren multiplen Umkodierung erweist sich als besonders interessant, da dieser Typ in der Ablösungsphase des romantischen durch das realistische System als ein ›zweideutiges‹ Stilphänomen auftritt und innerhalb der Erzählerstandpunkttechnik bestimmte Strategien einer nicht mehr einheitlichen Perspektivik (Polyperspektivismus) motiviert. Zugegeben: Die Konzeption des semantischen Prozesses, den Lotman mit dem Vorgang der Umkodierung verbindet, hat durch die Fixierung auf den Binarismus zweier Strukturketten eine deutliche linguistische Orientierung. Die Perspektiven dagegen, die das Moment der Multiplizität im Typ der »multiplen Umkodierung« verspricht, deuten bereits eine andere, kontextuelle, eigentlich metalinguistische Dimension seines Bedeutungsbegriffs an. So geht folgende Bestimmung des Zeichenbegriffs über den strengen Binarismus hinaus: »Die Überschneidung zweier Strukturketten in einem zweieinigen Punkt werden wir Zeichen nennen, wobei die zweite der Ketten, also diejenige, zu der ein Entsprechungsverhältnis hergestellt wird, als Inhalt und die erste als Ausdruck auftreten werden.« (Lotman 1970a: 48)7 Das die Texttotalität repräsentierende Zeichen, Ort der Überschneidung, erscheint demnach als zweieiniger Punkt, in dem die Bedeutung nicht als Resultat, sondern als Spannung zwischen zwei in Beziehung gesetzten Systemen verstanden werden kann. Die Formulierung lässt die Vorstellung zu, dass die Doppelheit des Punktes die Beziehung der beiden Ketten als eine sich immer neu konstituierende Beziehung, als dialogische Beziehung abbildet. Eine weitere Modifikation des Zeichenbegriffs, die das Bedeutungsmodell stärker tangiert, ist mit seiner Bestimmung als »Bündel wechselseitig äquivalenter Elemente verschiedener Systeme« (ebd.: 50)8 gegeben. Damit verliert die als mechanischer Prozess vorgestellte Umschaltungsprozedur aus einer Kette in die andere ihre Rigorosität: Das Text-Zeichen tritt als Bündelung und Schnittpunkt hervor, in dem die Bedeutungserfahrung gegenwärtig wird. Die ›Überschneidung‹ ist nicht notwendig die Herstellung von Äquivalenzen nach festgelegten Beziehungsmustern, und »Bündel« weist nachdrücklich auf jenen anderen Bedeutungsaspekt hin, wie er sich im Konzept einer ›multiplen Umkodierung‹ artikuliert.
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Vgl. Lotman 1970b/1972: 63.
8
Vgl. Lotman 1970b/1972: 66.
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Dieser Ansatz ermuntert zu folgender Bestimmung des eigenartigen semiotischen Status des Textzeichens: Der Text ist ein spezifischer Zeichentyp, der sich weder durch den Binarismus Ausdruck " Inhalt, bzw. Bezeichnendes " Bezeichnetes noch auf qualifizierte binäre Bezüge (Arbitrarität/Nichtarbitrarität, Symbolizität/Ikonizität) festlegen noch ausschließlich kognitiv begreifen lässt. Es ist ein Zeichentyp, der Verstehensweisen bündelt, der semiotische Handlungen akkumuliert, ein Zeichentyp, dessen Signifizität in der Konstruktion von Zeichenkreuzungen (Intersignifizität) besteht. Der Text wird somit als Speicher bestimmbar, der eine semiotische Potenz anbietet, deren Möglichkeiten entweder realisiert werden oder unrealisiert bleiben. Der Aufbau einer semiotischen Potenz ist von einer Vielzahl geltender Kodes ebenso abhängig wie ihre Ausschöpfung oder Nichtausschöpfung. Obwohl Lotman die Polysemie des Textes nicht im Textzeichen selbst begründet und obwohl er keine Regeln angibt, die die Gleichwahrscheinlichkeit konkreter Bedeutungsherstellungen restringieren, weist die Einführung des Begriffs der »Flexibilität« bzw. der »Elastizität« (gibkost’), den Lotman, auf den Kybernetiker Andrej N. Kolmogorov rekurrierend, in seine Argumentation einbezieht, auf das semantische Volumen des Textzeichens zurück. Die Elastizität (gibkost’) der Sprache ist neben dem Fassungsvermögen (emkost’) eine die Entropie einer Sprache bestimmende Größe. Die Elastizität erscheint dabei als Quelle der poetischen Information (ebd.: 38).9 In einem weiteren Schritt geht es der Kultursemiotik darum, die Bedeutungsmodelle aus den Kontexten der Kulturen, die sie hervorgebracht haben, zu begreifen und aus den beobachtbaren Differenzen Typologien zu erstellen. Die Typologie, die Lotman intendiert, gründet in der Kardinalfrage: »Was bedeutet Bedeutung haben?« (ebd.: 45)10 und ist angewiesen auf Untersuchungen, die die Rolle des Textes und die Rolle des Zeichens in einzelnen Kulturen oder in einzelnen Stadien der Entwicklung einer Kultur ermitteln. Der bevorzugte Zeichentyp (Texttyp) wird zum Parameter in der Beschreibung von Kulturen.11 Diese Kulturen (verstanden als einheitlicher Text mit einheit-
9 Vgl. Lotman 1970b/1972: 50. 10 Vgl. Lotman 1970b/1972: 59. 11 Vgl. Gasparov 1973: 44; präzisiert: »Auf diese Weise hat der Zeichentyp, der von einem System als der elementare gewählt wird, einen starken Ein-
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lichem Kode und als Gesamt von Texten mit entsprechenden Kodes) prägen spezifische Modi der Bedeutungsbildung. Lotman stellt hier generell die Frage nach dem Verhältnis zu Zeichen und Zeichenhaftigkeit, das eine als Zeichensystem funktionierende Kultur entwickelt hat. Dieses »Verhältnis zu Zeichen und Zeichenhaftigkeit« spiegelt sich einmal in der »Selbsteinschätzung« (samoocenka) einer Kultur, in ihren Metatexten (d. h. den Grammatiken, die sie über sich selbst entwirft), zum andern in der Art und Weise, wie die von der Kultur hervorgebrachten oder für sie relevanten Texte in ihrer Funktionalität bewertet werden. Die Frage nach dem Zeichen- und die nach dem Texttyp sind verbunden, beide sind Fragen nach der »Zeichenhaftigkeit« (znakovost’). In der Zuerkennung und Aberkennung von Zeichenhaftigkeit grenzt sich eine Kultur von der Extrakultur ab, die sie entweder als Anti-Kultur (Zuerkennung einer negativen Zeichenhaftigkeit) oder Un-Kultur (Negierung jeglicher Zeichenhaftigkeit) bestimmt. Der kulturelle Mechanismus, d. h. die Ablösung von Kulturtypen vollzieht sich nach demselben Prinzip. Damit erweist sich in Lotmans Konzept der kulturelle Dynamismus als Entsemiotisierung von Bereichen, denen während eines bestimmten Stadiums einer Kultur Zeichenhaftigkeit zukam, und als Semiotisierung neuer Bereiche. Das innere Funktionieren einer Kultur beschreibt Lotman anhand der Präferenz eines Zeichentyps, wobei die Qualifizierung des Bezugs zwischen signifiant und signifié ebenso relevant ist wie die Tendenz, signifiant oder signifié dominieren zu lassen. Es ergeben sich aus dieser Perspektive zwei Kulturtypen, die linear oder konkurrent auftreten können. Lotman nennt einmal den geschlossenen Kulturtyp, in dem der Text, bzw. was als Text gilt, als eindeutig begriffen wird (weil er die vollkommene Wahrheit abbildet). Die semantische Relation ist also im Text eindeutig festgelegt. Damit erhält der Text eine paradigmatische Funktion. Das signifiant wird als die ›richtige‹, d. h. die ›einzig richtige‹ Benennung gewertet, die unauswechselbar ist. Es kommt zu einer Fetischisierung des Ausdrucks. Lotman nennt daher diesen Typ »auf den Ausdruck bezogen«. Im Gegensatz dazu profiliert er den offenen Kulturtyp, der keine Festlegung der semantischen Relation
fluss sowohl auf das gegebene System als auch auf die Richtung seiner Entwicklung und schließlich auf die Formen der Wechselbeziehung mit anderen Systemen.« (Übersetzung R.L.)
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kennt, in dem der Text sich in seinem funktionalen Wert bestimmt (weil er noch nicht der wahre Text ist, sondern sich als solcher immer erst konstituieren wird). Der funktionale Wert ist durch die Bedeutung des Textes dimensioniert, so dass dieser Typ folglich »auf den Inhalt zentriert« genannt wird. Das bedeutet auch, dass nicht der Text Paradigma sein kann, sondern die Regel Geltung hat, nach der er generiert ist.12 Lässt man die Bestimmung der Zeichenrelation zum Kriterium werden, so ergibt sich, dass der Ausdruckstyp in der Festlegung der semantischen Bezüge von der Vorstellung ihrer Motiviertheit ausgeht. Gewiss handelt es sich bei der Festlegung der Beziehung Ausdruck Inhalt um eine auf Konvention gegründete Entscheidung einer Kultur, doch in ihrem Eigenverständnis lehnt eine so funktionierende Kultur sowohl jede Arbitrarität wie Konventionalität ab, da sie von der (Gottoder Natur-)Gegebenheit der Zeichen ausgeht. D. h. die Zeichen, die in Umlauf gebracht werden, werden nicht in ihrer Symbolizität, sondern in ihrer Ikonizität benutzt. Geht man von der Opposition Arbitrarität vs. Motiviertheit aus, die zum einen Lehrmeinungen über das Wesen der Zeichen abbildet, zum andern die aus dem Eigenverständnis von Kulturen hervorgehenden Zeichenbegriffe beschreibt, so lässt sich die Opposition reduzieren auf: Festlegung der Eindeutigkeitsbeziehung »signifiant/signifié« vs. Offenhaltung dieser Relation. Die Konfrontation der beiden Zeichentypen, die Lotman zur Grundlage seiner dualistischen Kulturbeschreibung macht, ist in Analogie zu Zeichenpaaren zu sehen, die ebenfalls nach dem Kriterium der Festlegung/Nichtfestlegung der semantischen Bezüge, der Zuerkennung von Eindeutigkeit/Mehrdeutigkeit der Zeichenleistung zustande gekommen sind. Die Beschreibung der Stadialität einer bestimmten Kultur, nämlich der russischen Kultur vom 11. bis zum 19. Jahrhundert, die vier Typen in linearer Abfolge vorsieht, basiert auf demselben dualistischen Modell der Zeichen, obgleich Lotman durch die Dichotomie semantischer Typ/syntaktischer Typ einen anderen Akzent setzt: Er unterscheidet hier folgende Typen: 1. semantischer (symbolischer) Typ; 2. syntaktischer Typ; 3. asemantischer und asyntaktischer Typ; 4. semanto-syn-
12 Lotman entwickelt diese Konzeption in einer Reihe kulturtypologischer Arbeiten; vgl. besonders Lotman/Uspenskij 1971a, sowie Lotman/Pjatigorskij 1968.
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taktischer Typ. Die vier Typen beschreiben das »Bedeutungs-Verhalten« 1. des russischen Mittelalters; 2. des Absolutismus; 3. der Aufklärung; 4. des Realismus des 19. Jahrhunderts (jeweils auf Russland bezogen), und zwar Bedeutungs-Verhaltensweisen, wie sie sich in allen semiotischen Praxisformen artikulieren (Lotman 1970c). Es wird aber deutlich, dass in der Abfolge der Kulturtypen die beiden genannten Zeichenqualitäten einander abwechseln. Der Prozess der Entsemiotisierung, der den semantischen Typ ablöst und zur Profilierung des syntaktischen führt, impliziert die Verneinung der Ikonizität. In der Beschreibung des dritten Kulturtyps weist Lotman auf einen Zeichenskeptizismus hin, der sich in der Negierung sowohl des semantischen wie des syntaktischen Typs manifestiert und den Versuch signalisiert, aus der Welt der Zeichen, einer Welt kompromittierter Ausdrücke und Bedeutungen, auszubrechen. Lotmans Beschreibungsmodell verfolgt den Abbau und Aufbau von Zeichenhaftigkeit, es zeigt die Motoren der kulturellen Dynamik in den Prozessen der Semiotisierung und Entsemiotisierung. (Michel Foucaults semiotische Argumentation aus Les mots et les choses ließe sich als Parallele heranziehen, da hier ebenfalls generalisierend eine Epochentypologie über den Wechsel des Zeichenparadigmas vorgeschlagen wird, von einem epistemologischen Umbruch die Rede ist, der das ikonische Paradigma der Ähnlichkeit durch das indexikalische der Aufzählung der Dinge ablöst.) Die Kultursemiotik geht hinsichtlich der Vorgänge, die eine Kultur bestimmen, von einem Mechanismus aus, der eine Pendelbewegung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, Dynamik und Stillstand bewirkt. Die immanenten Wertkriterien der Kulturtypologie werden in Lotmans Arbeiten mit z. T. aus der Kybernetik stammenden Begriffen bezeichnet, die den ›Zeichenzustand‹ einer Kultur beschreiben sollen: Die »Verstärkung der homöostatischen Tendenzen« bewirkt das Anwachsen der inneren »Eindeutigkeit« des Systems, dieser Kraft entgegen fördert die »unvollständige Geordnetheit« die Ambivalenz und Vieldeutigkeit, führt das System einer »Aufweichung« zu, einem Zustand, dem diametral derjenige der »Verknöcherung« gegenübersteht. Hier ist auch die Rede vom Anwachsen der inneren Monosemie. Das bedeutet Abbau von Ambivalenz und zugleich den Versuch, die unvollständige Geordnetheit des Systems in Geordnetheit zu überführen. Allerdings verfügt die unvollständige Geordnetheit über das interne Potential, das System dynamisch zu halten, die zentrifugalen Kräfte zu
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nutzen etc.13 Indem nun regulierende Systeme kollabieren, wird die bekannte Zeichenordnung opak. Es kommt zu einem Transparenzverlust. Oder zugespitzt: es entstehen semiotische Lücken, ein Vakuum, in das das Andere (das Verdrängte, Vergessene) einbrechen kann. Dies alles klingt nach ›Selbstregulierung‹, aber Lotman hat die Anleihen bei der Kybernetik durch das Insistieren auf der Bedeutungsgenese überspielt, die sich einem anderen als dem autopoetischen Mechanismus verdankt. Auch Luhmann hat dem rein kybernetischen Systembegriff den der Sinnorientierung des Systems vorgezogen. Bedeutung bei Lotman und Sinn bei Luhmann sind gewiss nicht kompatibel. Während Sinn als Resultat, Produkt einer Entscheidung bei der Kontingenzbewältigung erscheint, ergibt sich Bedeutung aus Umschaltungsprozessen, sowie aus der Herstellung und Interpretation von Verweisungszusammenhängen. Doch in beiden Fällen erhält die Autopoesis ein Korrektiv. Für Lotman gilt die Bedeutungsgenese insbesondere für einige Thesen zum kulturellen Gedächtnis, die in »memoria«-bezogenen Diskussionen gelegentlich zitiert werden, obgleich auch hier von personalen Agenten keine Rede sein kann. (Die Neigung zu generalisierendem, apodiktischem Diskurs ist wie andernorts unüberhörbar.) »Es ist das Wesen der Kultur, dass die Vergangenheit, im Gegensatz zum natürlichen Zeitablauf, nicht ins Vergangene fortgeht, d. h. nicht verschwindet. Fixiert im Gedächtnis der Kultur, gewinnt sie [...] Dauer. Das Gedächtnis der Kultur ist aber nicht nur als Fundus von Texten konstruiert, sondern auch als ein bestimmter Erzeugungsmechanismus. Die durch ihr Gedächtnis mit der Vergangenheit verbundene Kultur erzeugt nicht nur ihre Zukunft, sondern auch ihre Vergangenheit und stellt in diesem Sinne einen Mechanismus dar, der der natürlichen Zeit entgegenwirkt. [...] Die Spezifik der russischen Kultur fand insbesondere darin ihren Ausdruck, dass die Bindung an die Vergangenheit objektiv immer dann am stärksten zu spüren war, wenn subjektiv eine Einstellung dominierte, die mit der Vergangenheit brach.« (Lotman/Uspenskij 1971b: 39)
13 Lotman entwickelt dieses Konzept vor allem in Dinamieskaja model’ semiotieskoj sistemy (Ein dynamisches Modell des semiotischen Systems), Moskau 1974.
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Kultur, Kollektiv und Gedächtnis sind korreliert. Als nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs tritt die Kultur vermittels eines überindividuellen Speicher- und Transformationsmechanismus in Erscheinung. Mit Hilfe des Kollektivs gemeinsamer Texte, konstanter Kodes und einer bestimmten Gesetzmäßigkeit in der Transmission kultureller Information garantiert dieser Mechanismus eine Art Bedeutungsinvarianz, gleichzeitig aber bietet er ein generatives Potential an, das neue Mechanismen der Transformation anzeigt (Lotman 1985: 39).14 Der Kulturraum wird als Raum eines »Gemeingedächtnisses« definiert, in dem »bestimmte Gemeintexte gespeichert und aktualisiert werden können« (ebd.). Texte, in denen die Kultur sich realisiert, fungieren als nicht-personale Träger des Gedächtnisses, indem sie zum einen als ›Akkumulatoren‹ kultureller Bedeutung und zum anderen als deren ›Generatoren‹ auftreten. Entscheidend für die dynamische Konzeption, die die Kultursemiotik vertritt, ist, dass die akkumulierte Bedeutung nicht ›lagert‹, sondern im Kulturgedächtnis ›wächst‹. Das Gedächtnis ist mithin kein passiver Speicher, sondern ein komplexer Textproduktionsmechanismus. Konzepte wie das des Speicherns kultureller Erfahrung und kultureller Bedeutung sowie der Untilgbarkeit von Zeichen, die Kulturen gesetzt haben und durch Modi der Rekonstruktion verfügbar halten, aber auch solche des Löschens kultureller Daten gehören zum Objektbereich kultursemiotischer Beschreibung. Die Modellierungsversuche gelten dabei der komplexen Verflechtung von Selbstbeschreibungsentwürfen einer Kultur und deren semiotischer Dynamik (wobei Metasprache und Modellbildung der Kultursemiotik ihrerseits wieder Objekt werden können). Der durch die Annahme einer zunehmenden Bedeutungskomplexion suggerierten Vorstellung von der Unzerstörbarkeit eines ständig zunehmenden semantischen Potentials einer Kultur, die weder mit dem Regulativ der Selektion noch damit zu rechnen scheint, dass Bedeutung verdrängt und vergessen wird, tritt die Kultursemiotik nun selbst mit kompensierenden Konzepten entgegen. Entscheidend ist jenes, das einen Mechanismus von Einschluss und Ausschluss kultureller Bedeutung voraussetzt, der das Vergessen als Ruhepause – im Sinne einer vorübergehenden Inaktivität eines Bedeutungssystems –, den Wechsel von Vergessen und Erinnern als die Eigenbewegung der
14 Das Konzept des »Gemeingedächtnisses«, der kulturellen Identitätsbildung lässt eine gewisse Nähe zu Maurice Halbwachs’ Konzept der »mémoire collective« erkennen.
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Kultur zu interpretieren erlaubt. Mit anderen Worten, die Kultursemiotik geht von einem das stabile Funktionieren kultureller Kommunikation garantierenden Mechanismus aus, der, vom Selbstbeschreibungsmodell einer Kultur jeweils anders legitimiert und gesteuert, der Regulierung des vorhandenen Zeichenhaushalts gilt. Dieser von der kulturtragenden Gruppe durch spezifische Techniken in Gang gesetzte Mechanismus manifestiert sich als De- und Resemiotisierung kultureller Zeichen. (Der Kultur- und Gedächtnisraum ist nun allerdings keineswegs einheitlich, sondern ist durch Untergruppen gegliedert, die eigene ›Gedächtnisdialekte‹ herausgebildet haben und damit zu einer mnemonischen Pluralisierung des Systems beitragen.) Desemiotisierung bedeutet, dass ein Zeichenträger seine Zeichenqualität, d. h. sowohl seine semantische als auch seine pragmatische Funktion, die er innerhalb des Systems und seiner Institutionen wahrgenommen hat, verliert. Der Verlust der Zeichenqualität eines Elements bedeutet zwar dessen kulturelle Inaktivität, nicht aber dessen Löschung; denn die ›vakanten‹ Zeichen bleiben innerhalb der Kultur in einer Art Reserve, die wie ein negativer Speicher fungiert. In einer späteren Phase ihrer Entwicklung kann die Kultur aufgrund von Veränderungen in ihrem Selbstbeschreibungsmodell, die bestimmte Ausgrenzungen als problematisch erscheinen lassen, die vergessenen Elemente wieder eingrenzen und damit resemantisieren. Wichtig ist, dass die Zeichen, deren Verschiebung in die Latenz kulturelles Vergessen bewirkt, vom semiotischen Prozess wieder eingeholt und in der bestehenden Kultur erneut manifest werden können. Mit der funktionalen Differenzierung des Gedächtnisses in ein informatives einerseits und ein kreatives andererseits wird der komplexe Prozess von Eingrenzen und Ausgrenzen kultureller Bedeutung in eine weitere Perspektive gestellt. Das informative Gedächtnis verfügt insofern über eine Zeitdimension, als es von der chronologisch letzten Schicht des Akkumulierten ausgehend kontinuierlich und prospektiv operiert: es ist auf Erfinden ausgerichtet. Dagegen wird das kreative Gedächtnis als panchron und raumkontinuierlich gedacht, wobei das Gesamttextmassiv einer Kultur potentiell aktiv ist. Das Funktionieren dieses zeitresistenten Gedächtnisses ermöglicht die Reaktualisierung von Texten der Vergangenheit, die als quasi neue in das Ensemble bestehender Texte einer Kultur eingebracht werden. Im Wechsel ihrer mnemonischen Paradigmen, die Ein- und Ausgrenzen, Erinnern und Vergessen steuern, besteht der semiotische Mechanismus einer Kultur. Vergessen als Ausgrenzen
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passiv gewordener Elemente (temporäre Desemiotisierung) ist dabei notwendiger Bestandteil des kulturellen Kommunikationsprozesses, der letztendlich dem kulturellen Vergessen im Sinne eines Löschens entgegen arbeitet. Während die Kultursemiotik mit Blick auf den binären Mechanismus, den sie generell für Kulturen ansetzt, auf Erinnern und Vergessen als deren Motoren besteht, sieht sie sich zugleich genötigt, extreme, diesen Mechanismus dementierende Positionen als Bestandteil des Selbstbeschreibungsmodells bestimmter Kulturen (oder bestimmter Gruppen innerhalb einer Kultur) ernstzunehmen. Denn offenbar entwickelt eine Kultur verschiedene Weisen ihrer mnemo-nischen Konstruktion, die im Extrem Löschbarkeit einerseits und Unlöschbarkeit der Zeichen andererseits als Leitparadigmen favorisieren. Diese extremen Positionen interagieren, koexistieren oder lösen einander ab. Stehen für das Löschungsprojekt künstlerische und intellektuelle Avantgarden, die sich durch die Negierung der Vergangenheit definieren (vgl. den Futurismus), so stehen für den konservativen oder konservierenden Pol künstlerische und intellektuelle Gruppierungen, die demselben Kontext angehören und sich von den avantgardistischen durch eine aktive Arbeit am kulturellen Gedächtnis unterscheiden (vgl. Akmeismus). Der Ort des transindividuellen, nicht vererbbaren Gedächtnisses ist der Text.15 Als Beispiel, wie ein Text, bzw. eine Texttradition kulturelle Repräsentanz im Sinne der Selbstwahrnehmung erlangen und im Sinne des Beobachterstandpunkts zu einem Metatext avancieren kann, mag der von Lotman und Vladimir Toporov vorgestellte »Petersburger Text« skizziert werden. »Petersburger Text« meint ein Ensemble von literarischen Texten, die der Stadt Petersburg gewidmet sind, (ihrem Gründungsmythos, ihrer Gesellschaftsstruktur, ihrer Architektur, ihrem Klima, kurz ihrer Phänomenologie). Es geht um Texte, die stadtbezogene Sujets entwickelt haben, an einer spezifischen Stilistik und Topik partizipieren und zudem in einem intertextuellen Zusammenhang aufeinander verweisen (von Pukin, Gogol’, über Dostoevskij zu Belyj). D. h. der »Petersburger Text« ist eine von Literaten in Bezug auf die eigene Kultur (als besonderen Fall innerhalb der größeren russischen und der Makrokultur überhaupt) entwickelte Schreibweise, die primär metatextuell zu lesen wäre. Von den Autoren des Begriffs »Pe-
15 Zur Gedächtnisproblematik siehe Lachmann 1990.
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tersburger Text« wird sie zum Objekt gemacht, über den sich der eigene kultursemiotische Diskurs als sekundär-metatextueller legt. Oder: Text und Kultur werden hier in einem Entsprechungsverhältnis gesehen, wobei die Texte die Kultur zum einen wiederholen, zum andern konstruieren. Der Versuch der Kultursemiotik, die in der mythopoetischen Schreibweise16 des »Petersburger Textes« verdichteten semantischen Komplexe zu bestimmen, besteht in einer stratifizierenden und zugleich ordnenden Systematisierung der Topoi – kosmologische, meteorologische, historische, charakterologische, architektonische werden aufgerufen. Die Opposition Natur vs. Kultur wird durch Wasser, Sümpfe, Regen, Wetter, Nebel, Feuchtigkeit einerseits und durch Türme, Kuppeln, Linien, Prospekte (also perspektivisch angelegte, strahlenförmig aufeinander zulaufende breite Straßen), Plätze, die NevaQuais, das Winterpalais, die Peter-Pauls-Festung andererseits repräsentiert. Hierbei werden die horizontale Flächigkeit der Natur, ihre Ungleichmäßigkeit und ihr Amorphismus der vertikalen Gradlinigkeit und dem klar Gefügten des Gebauten und Angelegten. Chaos gegen Kosmos. Es entstehen Formen der Vermischung und der Unklarheit in beiden Bereichen: Mirage, Traumgesichte, Trugbilder, Schatten, Effekte der Doppelung, Spiegelreflexe. Als weiteren Grund für die Isolierung einer spezifischen Texttradition, der des »Petersburger Textes«, innerhalb der russischen Literatur geben Lotman und Toporov auch einige Konstanten an, die die sprachliche Ebene des Textes, d. h. der diesen Text konstituierenden individuellen Texte, in signifikanter Weise organisieren: ein PetersburgLexikon wird erstellt, das Bezeichnungen für konträre Stimmungen, für widersprüchliche Wahrnehmungen der Stadt ebenso umfasst wie Beschreibungsbegriffe für die Art und Weise, wie man sich in der Stadt bewegt, sie interpretiert und liest (als extreme, unbeschreibbare, unerreichbare, unerklärliche etc.). Metabeschreibungsbegriffe sind dabei ebenso tragend wie immediat-deskriptive: die Stadt als Theater oder Kulisse, ihre Bewohner als Marionetten, Akteure, Regisseure, Doppelgänger, Phantome etc. Der paradigmatischen Ordnung dieser Konstituenten korrespondiert auf der syntagmatischen Achse eine Kombinatorik, die von dem Motiv zentrifugaler oder zentripetaler
16 Hierzu Lotman 1984, sowie Toporov 1984.
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Bewegung der Helden bestimmt ist. Besonderes Augenmerk gilt auch der in den Texten entwickelten Mythopoetik. Der Zusammenhang von Stadt, Mythos und Text wird von einer Vorstellung konstruiert, die im Petersburger Text die literarische Manifestation des Stadtmythos, zugleich aber auch die Quintessenz des staatlich-politischen, ökonomischen, lebensweltlichen, intellektuellen und psychischen Lebens sieht und zwar in der ihr eigenen Doppelpoligkeit: am Rande des Abgrunds, jedoch mit Zukunft verheißenden Signalen. Es ist nun keine Frage, dass dieser deskriptive Versuch einer Annäherung an die der Stadt geltenden Texte, die Tradition, die sie darin konstruiert, selbst weiterschreibt, und dass die Metasprache, derer sie sich bedient, in dasselbe Lexikon gehört. Eine solche Interpretation der Stadt legt einen postarchaischen Mythos frei, dessen kosmologische Spuren in den vielschichtigen textuellen Transpositionen, die die Literatur hervorgebracht hat, lesbar bleiben. Im Petersburg-Text wird eine Art kulturelle Imago bricoliert, in der die dualistischen Ideologeme und Mythologeme, mit denen sich die russische Kultur beschreibt, zum Schnitt gebracht werden und der Dualismus selbst als eine totalisierende Denkfigur dargestellt wird. Petersburg, als Stadt, als Buch und als Kulturidee repräsentiert wie ein großes Oxymoron den Zusammenstoß jener konträren Konzepte, die die Doppelstrukturen zum Ausdruck bringen, wie sie für die Selbstmodellierung Russlands ebenso wie für seine kulturelle Praxis bestimmend sind. Im Oxymoron Petersburg wird die russische Kultur als eine Doppelkultur entworfen. Peter der Große ist das dominierende Kulturzeichen, das diese Doppelkultur repräsentiert. Er ist zugleich historische Figur und das Reiterstandbild, das in den Texten von Pukin bis Belyj erscheint. So betrachtet verkörpert das Kulturzeichen »Peter der Große« die genannten Antinomien, und es ist die Kultursemiotik, die die Zeichen aufspürt und sie zu lesen vermag. Der dualistische Mechanismus hat nicht nur diachronen, sondern auch synchronen Charakter, sofern er innerhalb des kulturellen Systems in verschiedenen Phasen seiner Entwicklung die Spaltung in zwei oppositive Teilsysteme, d. h. die Herausbildung einer schismatischen Struktur bewirkt, die Lotman und Uspenskij mit dem Begriff »Dop-
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pelkultur« (dvojnaja kul’tura)17 bezeichnet haben. Die Doppelkultur ist als ständiger Antagonismus zweier Kulturmodelle innerhalb derselben Nationalkultur zu begreifen. Der Antagonismus ist produktiv, er bildet auf verschiedenen Ebenen kulturelle Strukturen heraus, die immer nur in Bezug auf eine Gegenstruktur interpretierbar sind. Der Antagonismus hat einen funktionalen und einen formalen Aspekt: jedes Kulturmodell entwickelt für sich ein Konzept des Gegenmodells und konstituiert seine Identität in Abhängigkeit von diesem. Der Begriff Doppelkultur hat eine konzeptuelle und eine strukturelle Implikation. Als konzeptuelle Größe ist er Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses, das sich in einer Reihe von Metatexten artikuliert. Auf dieser primär-metatextuellen Ebene bilden sich Vorstellungen von Kanon und Gegenkanon heraus. Er ist aber auch Bestandteil kulturtypologischer Modelle und damit modellierender und modellierter Begriff zugleich. Die sekundären Metatexte des 20. Jahrhunderts (also die der Kultursemiotik) sind Beschreibungen der primären, sie stellen eine konzeptuelle Metaebene über einer konzeptuellen Objektebene her. Als strukturelle Größe bedeutet Doppelkultur ein Ensemble dualistisch-binaristischer Kodes sozialen Verhaltens, textueller und ikonischer Praxis und verschiedener Zeichentypen: Hier sind die Strukturen, die von Zensur und Gegenzensur bestimmt sind, fassbar als offizielle/inoffizielle; offen-dialogische/geschlossen monologische, hierarchische/antihierarchische. Für das russische 17. Jahrhundert ist das Schisma zwischen Reformkirche und den Altgläubigen der kulturelle Signifikant der Doppelkultur, der die Kodes des höfischen und kirchlichen Zeremonials, der Zensurausübung, der zentripetalen Staatseinheitskultur mit den Kodes der zentrifugalen, dehierarchisierenden Gegenkultur konfrontiert. Hier ergeben sich Parallelen zu Michail Bachtins Kulturkonzept. Lotman, der den Kulturtyp bzw. die kulturellen Kodes des 20. Jahrhunderts aus seinem Modell ausgespart hat, lässt seine Präferenz für den offenen Kulturtyp erkennen, in dem der funktionale Text gilt und die semantischen Relationen instabil sind. Es ist der Kulturtyp, dessen Semiotisierung nicht abgeschlossen ist, der seine dynamische Ambivalenz einer stagnierenden Eindeutigkeit und seine kreative Offenheit einer dogmatischen Geschlossenheit entgegenhalten kann, weil
17 Dieses Konzept wird von Lotman und Uspenskij in Die Rolle dualistischer Modelle (1971b) entwickelt.
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die »Informativität des Systems« noch nicht voll ausgeschöpft ist. Der kybernetische Terminus verdeckt hier den wertenden Aspekt ebenso wie er ihn aufnötigt: Die nicht voll ausgeschöpfte Informativität hält eine Vieldeutigkeit bereit und stellt damit Bedeutungen in Aussicht, die nicht sind, sondern sich in der Zukunft konstituieren. Es ist dieser Aspekt in Lotmans Theorie, der das später entwickelte Konzept argumentativ und konzeptuell vorbereitet, das der Explosion. Lotmans typologische Entwürfe sind dichotomisch angelegt. Die Oppositivität der kulturellen Kodes, die sowohl die Diachronie einer Kultur als auch ihre Synchronie bestimmen können, gründet in folgenden Kriterien: Wie modelliert eine Kultur ihr Verhältnis zur Extrakultur; welche Rolle schreibt eine Kultur den Texten zu; wie qualifiziert eine Kultur die Zeichen? Durchgängig ist die Vorstellung von Dynamik und Stillstand, von Offenheit und Geschlossenheit, von Homöostase, Aufweichung, Verknöcherung. Hier, um es noch einmal zu sagen, wird kybernetische Selbstregulierung durch die Herausstellung der Bedeutungsgenese überblendet, und der Systembegriff durch den des Zeichenhaften, des Modellierens und des Kommunikativen bestimmt. »Der besondere Charakter der Kunst als System, das gleichzeitig der Erkenntnis und der Information dient, bestimmt das Doppelwesen des Kunstwerks – das modellierend ist und Zeichencharakter besitzt« (Lotman 1965: 29), heißt es 1965. Folglich ist auch die Rede von der »Erkenntnis- und Kommunikationsfunktion«. Diese Bestimmung greift Lotman 1970 wieder auf, wobei er auf die Verschränktheit der beiden Funktionen besonders hinweist: »Und so kann jedes kommunikative System eine modellierende Funktion ausüben und umgekehrt jedes modellierende System eine kommunikative Rolle spielen.« (Vgl. Lotman 1970b/ 1972: 30) Da die Modellierung kultureller Mechanismen zu deren weiterer Organisation und Strukturierung beitragen kann, übernimmt der Kultursemiotiker, wenn er Bedeutungstypen und Zeichenqualitäten benennt, bezüglich seines aktuellen kulturellen Kontextes selbst eine organisierende und strukturierende Funktion. Er kann, indem er konkurrierende Bedeutungstypen erkennt, die auf das Vorhandensein oppositiver Kodes zurückzuführen sind, Entscheidungen treffen, die für die semiotisch-ideologische Interaktion des Systems, dem er als Beschreiber angehört, von Belang sein können. Und hiermit deutet sich die wertende Implikation des Bedeutungskonzepts für die Kulturtypologie
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an, wenngleich weder von Kulturkritik noch vom Aufzeigen bestehender Machtstrukturen, Abhängigkeitsverhältnisse und Unterdrückungsmechanismen die Rede sein kann (Lotman 1970a: 22).18 Eine implizite Axiologie verbindet sich mit einem analytischen (szientistischen) Anspruch und »thick description« der Texte der Kultur (und der Kultur als Text) mit der Formulierung generalisierender Thesen. Obzwar manche Beschreibungen semiotischer Vorgänge (Desemiotisierung und Resemiotisierung, die Ablösung verschiedener – Epochen bestimmender – Zeichentypen, Typen der Umkodierung u. a.) den Eindruck erwecken können, dass hier ein Konzept des Autopoetischen seine Rolle spielt, steht am Beginn der Typologie das Studium der »Automodellierung« (avtomodel’) einer Kultur, d. h. der Deutung, die sie ihren eigenen Strukturen, ihrer Geschichte zukommen lässt, und des Entwurfs, der ihrer Zukunft gilt. Methodisch entscheidend bei der Differenzierung (bzw. Aufstellung) von Kulturtypen ist die Berücksichtigung der Sprache der Selbstbeschreibung – Selbstbeurteilung (samoocenka) der jeweiligen Kultur, deren Begriffe in die kulturtypologische Metasprache aufgenommen bzw. in diese übersetzt werden.
18 Die Konfrontation der Lotmanschen Konzeption mit der von Julia Kristeva vertretenen Position des französischen Strukturalismus der 60er und 70er Jahre macht Unterschiede und Ähnlichkeiten deutlich. Kristeva zieht die Konsequenz aus der von Bachtin formulierten dialogischen, metalinguistischen Theorie für die Etablierung eines neuen Wissenschaftsbegriffs (discours critique et autocritique), den sie einem szientistischen Wissenschaftsbegriff entgegenhält. Es ist der Verzicht, die semiotische Praxis als Prozess, als eine »pratique signifiante« zu begreifen, den Kristeva der Tartu-Gruppe vorwirft, obschon sie andererseits im Konzept einzelner Vertreter der Schule, auch Lotmans, die Ansätze zu einer Wissenschaftspraxis im Sinne des ideologischen »discours autocritique« entdeckt ebenso wie den Versuch, die rein linguistisch ausgerichteten Beschreibungsmodelle zu transzendieren. Den Begriff Semiotik, den sie selbst als Titel genutzt hat, (Semeiotike) ersetzt sie durch Semiologie mit Akzent auf der spezifischen Konnotation. Vgl. Kristeva 1969.
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L ITERATUR Eimermacher, Karl (1995): Wie grell, wie bunt, wie ungeordnet. Modelltheoretisches Nachdenken über die russische Kultur, Bochum. Gasparov, Boris M. (1973): »Nekotorye aspekty semiotieskoj orientacii vtorinych modelirujuich sistem«, in: Maria Renata Mayenowa (Hg.), Semiotyka i struktura tekstu, Wroclaw/Warszawa, S. 33-44. Kristeva, Julia (1969): »La sémiologie comme science des idéologies«, in: Semiotica I, S. 196-204. Lachmann, Renate (1977): »Zwei Konzepte der Textbedeutung bei Jurij Lotman«, in: Russian Literature 5, S. 1-36. — (1982): »Wertaspekte in Jurij Lotmans Textbedeutungstheorie«, in: Bernd Lenz/Bernd Schulte-Middelich, Beschreiben-InterpretierenWerten, München, S. 134-155. — (1990): Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. Lotman, Jurij M. (1964/1972): Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, übers. v. Waltraud Jachnow, hg. v. Karl Eimermacher, München. — (1965): »O probleme znaenij vo vtorinych modelirujuich sistemach«, in: Trudy po znakovym sistemam II, Tartu, S. 22-37. — (1970a): Struktura chudoestvennogo teksta, Moskau. — (1970b/1972): Die Struktur des künstlerischen Textes, übers. v. Rainer Grübel, Walter Kroll u. Hans-Eberhard Seidel, hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a.M. — (1970c): »Problema znaka i znakovoj sistemy i tipologija russkoj kul’tury 11.-19. vekov«, in: Stat’i po tipologii kul’tury I, Tartu, S. 12-35. — (1974): Dinamieskaja model’ semiotieskoj sistemy, Moskau. — (1984): »Simvolika Peterburga i problemy semiotiki goroda«, in: Trudy po znakovym sistemam 18, S. 30-45. — (1985): »Pamjat’ v kul'turologieskom osveenii«, in: Wiener Slawistischer Almanach 16, S. 5-9. — /Pjatigorskij, Aleksandr (1968): »Tekst i funkcija«, in: Jurij M. Lotman (Hg.), Letnjaja kola po vtorinym modelirujuim sistemam 3, Tartu. — /Uspenskij, Boris (1971a): »O semiotieskom mechanizme kul’tury«, in: Trudy po znakovym sistemam,V, Tartu, S. 144-166.
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— /Uspenskij, Boris (1971b): »Die Rolle dualistischer Modelle der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts)«, übers. v. Agnes Fiala u. Karla Hielscher, Poetica 9. Toporov, Vladimir (1984): »Peterburgskij tekst russkoj literatury«, in: Trudy po znakovym sistemam 18, S. 1-40. Tynjanov, Jurij (1927): »Über die literarische Evolution«, übers. v. Helene Imendörffer, in: Jurij Striedter (1969): Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München. inkin, N. I. (1961): Znaki i sistema jazyka, Moskau.
Continuous Models after Lotman S ERGEY Z ENKIN
In his articles of the 1970s, and later in his book Culture and Explosion (1992), Yuri Lotman indicated how important the opposition discontinuous/continuous was for making a typology of cultural models. The purpose of this essay is to analyze the content and the evolution of this idea, exploring Lotman’s works in comparison with other contemporary trends in the human sciences. In one of his most general formulations, Lotman treats this opposition as a fundamental duality when culture is considered as collective intellect. For being a thinking system, culture must make use of at least two languages, irreducible one to another. And the best example of such complementary languages turns out to be structured by the conceptual pair »discontinuous/continuous«: »Let us assume two languages, L1 and L2, whose structures are so fundamentally different that any exact translation from one to another seems generally impossible. Let us suppose that one of them will be a language with discrete signifying elements, having stable meanings, and a syntagmatic organisation that progresses linearly; the other will be characterized by a non-discrete and spatial organisation of its elements. Thus, the tables of content of those lan-
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guages will be constructed in fundamentally different ways.« (Lotman 1992: 35)1
Lotman then proclaims this dualistic scheme to be a general cultural pattern: »The most universal feature of the structural dualism in human cultures is a coexistence of discrete verbal and iconic languages, the diverse signs of which do not constitute chains but are in a homeomorphic relationship, like symbols similar one to another.« (Ibid.: 36)
The second mention of the same important opposition is applied well to culture considered as a generalized consciousness. Just as in the previous text, Lotman distinguishes two »types of consciousness« (Lotman 1992b: 55) whose complementary functions are traced back to the functional asymmetry of the cerebral hemispheres. Their respective features are displayed in a table, the first two rows of which are especially significant.
1.
2.
I Non-discreteness. The text is more manifest than the sign, and constitutes a primary reality compared with it.
II Discreteness. The sign is clearly manifested and constitutes a primary reality. The text is given as a secondary formation as compared with signs.
The sign is figurative.
The sign is conventional.
(Lotman 1992a: 54)
The functional asymmetry of human brain is a frequent topic in the Tartu semiotic school’s publications in the 1970s2, but Lotman highlights in particular the structural principle of this asymmetry, i. e., the duality of continuous and discontinuous. As a literary critic, he seems particularly attentive to discrete structures of literary language; nevertheless, he remains aware of their limitations, due to the existence of
1
Here and elsewhere, all the translations are mine.
2
The most significant of these texts was Viacheslav Vs. Ivanov’s book et i neet. Asimmetrija mozga i znakovych sistem (Moskau), later re-entitled Even and odd.
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non-verbal and correspondingly non-discrete semiotic structures, such as iconic signs. I cannot list here all the uses of the opposition »continuous/ discontinuous« in Lotman. Moreover, some of them are more implied than explicit. Let me cite a few of Lotman’s other texts that manifest the same opposition with a variety of intents. To begin with, this opposition serves to conceptualize the distinction between oral speech and writing: »Written discourse is discrete and linear, and oral speech tends to non-discreteness and to a continuous structure.« (Lotman 1992c: 187)
The same dualism opposes ordinary and literary (rhetorical) language: »While the text in natural language is organized in a linear manner and discrete by its nature, the rhetorical text is semantically integrated.« (Lotman 1992d: 179)3
The same opposition is discovered in two levels of a metaphor: »It is obvious, however, that even in a logically elaborated trope one of its elements has a verbal character and the other a visual one [...]. The non-discrete image (visual or acoustic) constitutes an implied intermediary link between two discrete verbal components.« (Ibid.: 169)
Finally, the continuous, non-discrete character opposes myth to anecdote as the two prototypes of the modern narrative:
3
Lotman clearly recalls Yuri Tynianov’s idea of poetic language characterized by its »unity and tightness«, that is by its higher degree of integration. Nowadays the integrated, non-discrete nature of literary text can be claimed as an objection to Lotman’s structural poetics, as for example in D. Sobolev 2008. In fact, Lotman himself superseded his structural poetics of the 1960s when he acknowledged that it was possible for every tiny (and hence continuously articulated) element of a literary text to undergo functionalization and semantization. This approach becomes the foundation of his semiotics of literature in the 1970s and 1980s. The aforementioned sentence about the »semantically integrated« rhetorical/literary text might indeed serve as a counterargument to his critics.
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»The topological world of the myth is not discrete [...] the discreteness appears thanks to its translation into discrete meta-languages of non-mythological type.« (Lotman 1992c: 225)
Hence, although Lotman never conceptualized the general logic of continuous/discrete, he systematically utilized the opposition to analyze various problems, both on the macro-level (of a whole culture or poetic language) and on the micro-level (of a metaphor, for instance). He might have been influenced by Claude Lévi-Strauss, who operated with the concepts of continuous/discontinuous (understood in a diversity of senses) in his monograph La pensée sauvage (1961). Yet there are other continuous models in modern human sciences which have been applied in different fields of thought in the course of the twentieth century, sometimes without any link to structural linguistics and Lotman’s semiotics. The first of these models is the image (mostly discussed under the label of »iconic sign« by Lotman himself). We perceive visual or acoustic images as complete entities without rupture or quantifiable articulations. That is why it is so difficult to analyze them in structural terms. They are integrated in the sense that their totality precedes analytical characters; the text precedes its own signs. The case is the same with external artificial images produced by reproductive devices. Roland Barthes indicates this in his account of the photographic image: »In this way, there appears a particular status of the photographic image: it is a message without code; a sentence from which an important corollary must be immediately deduced – the photographic message is a continuous one.« (Barthes 1993: 939)
The image appears as a paradoxical semiotic object which manages without articulated signs. Or at least it is this way on the primary level of denotation; matters become more complicated on the secondary level of connotation. In fact, some elements can stand out against the prime continuous message, carrying connotative meanings; Barthes labels them connotators while stressing their discreteness: »[T]hey constitute, within a total image, discontinuous traits, or even better, erratic traits« (Barthes 1993a: 1428). The continuity of the image may be explained by its inability to display negation. For contemporary French essayist Régis Debray, this
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fundamental deficiency of the image in comparison with language implies: that the image cannot display the general (only the individual); that it ignores the hypothetical mode (requiring disjunctive constructions such as »either… or«); that it has no markers of time (the progressive movement of which makes possible all kinds of negation, overcoming, or Aufhebung)4. Another implication might be added: since negation is a necessary condition of discontinuity (dividing up separate items and organizing them in an articulated unity), so the image cannot be anything but continuous. The second important field of continuity is the body. It is considered less within the process of acculturation and »civilization«, classification and partition (a predominant viewpoint in modern human sciences since Foucault), than as a genuine source of phenomenological experience, related to the body’s certainty of being a continuous totality. In fact, in our live sensations we feel our body is not only separated from the external environment but also has no discrete articulations within. For instance, we can never show at which precise point the neck ends and the head begins. This is the origin of Antonin Artaud’s famous intuition of a »body without organs« which Gilles Deleuze and Félix Guattari proposed as a fundamental concept in their »schizoanalysis«. According to them, the body without organs is a particular level of being (»the plan of consistence«), inhabited by »nomadic essences«, »continuums of intensity«, »becomings«, »smooth spaces« – as well as other kinds of continuous movements, »currents« and »lines of escaping«. All of these in turn can be represented by continuous »diagrams«5. Mikhail Yampolsky, a former participant in the Tartu semiotic school, has tried to apply this philosophical notion in more concrete studies, analyzing in particular the phenomena of mimetic body in literature and visual arts. The processes in which such a body is involved have a continuous, diagrammatic quality and can be characterized as deformations: »I am treating processes that I ascribe to the sphere of deformations. Such processes are fixed first of all in purely corporeal modifications, in deformations in the literal sense of the word. The body drops, stretches, and is traversed by currents and pulsations of energy. It falls into water, is set in rotation, and dis-
4
Debray 1992: 446-447.
5
Deleuze/Guattari 1980: 633.
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solves in water (where motionless objects are »blurred«), and so forth. The traces of those power effects can be described as diagrams.« (Jampol’skij 1996: 16)6
The third sphere of continuous models is the sacred. After Émile Durkheim and Marcel Mauss, many philosophers and sociologists used to envisage the sacred as a fluid, efficient substance, thought to circulate in the world and empower creatures. It resembles the primitive mana, blood in traditional beliefs and rituals, or the heat and electricity in modern physics. The sacred does not emanate from gods but is produced in social processes of concentration or integration as well as in the catastrophic disintegration of a group. The last case (»sacrificial crisis«) is discussed particularly in René Girard’s books. In Violence and the Sacred (1970), for instance, Girard suggests the undifferentiated character of a human group in crisis, when the normal differences between individuals give way to elemental movements of generalized violence. The writers and thinkers mentioned here understand the sacred in more general terms than Lotman, who only connects it with representations of gods. The social movements from which the sacred originates may be represented as a concentration/dispersion of continuous substances. As a result, it is contrasted as a substantial element in religion with its formal element, the symbolic, which results from discontinuous exchanges and substitutions (see Tarot 2008). Finally, the French writer and philosopher Georges Bataille proposed in the late 1940s a general explication of religion based on the opposition between continuous (= »natural«) and discontinuous (= »social«) modes of existence: differentiating itself from animals who live in continuity with their environment and stay within it »like water in the midst of the water« (Bataille 1976: 295), humankind feels a need to return from time to time into an immanent (quasianimal) state, characterized by a liberation of »violence«, i. e., fluid and efficient energy. In that sense, the sacred proves to be a necessary illusion, a socially determined and eminently important figure of »totally other« forces and beings, sharing with the image and the body an integral, indivisible structure.
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I have published in French a more detailed critical account of Yampolsky’s book: Zenkine 2001.
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These three different applications of continuous models in human sciences make us aware that the duality continuous/discontinuous functions as an essential opposition of the human thought. Exploring it further can lead to an extension of the semiotic field (such as in the case of the image) and/or to a union between semiotics and other cultural discourses. But what is the epistemological status of continuous models for rational, scientific inquiry? In other terms, to which degree are they translatable into that articulated (discontinuous) language which is opposed to them in the general configuration of culture? Let us return now to Lotman, because his reflections upon this fundamental duality did not end in the 1970s and 1980s. In his final book, Culture and Explosion (1992), Lotman reconsiders the issue of continuity/discontinuity. Here he treats it in several chapters, one explicitly titled: »Preryvnoe i nepreryvnoe« (»Discontinuous and continuous«). His newer approach is different from that practiced earlier. In his articles of the 1970s Lotman speaks of spatial or quasi-spatial continuous organisations (A non-verbal language, he writes, would »be characterized by a non-discrete and spatial organisation of its elements«). In Culture and Explosion, however, he replaces continuity and discontinuity with a temporal perspective. Henceforth, these binaries are presented as alternating modes of historical progress, characterizing its predictable (evolutionary) and unpredictable (revolutionary) periods. The duality of culture and the dialectical relations between the two terms remain the same, but they are moved from the synchronic to the diachronic axis. In nearly the same manner, the »principle of equivalence« is moved from the paradigmatic to the syntagmatic axis (if we follow Roman Jakobson’s theory of poetic function). Lotman considers the discontinuous factor in diachronic processes as isolated moments of »explosion«. These in turn give way to periods of »gradual« development (comparable to the relationship between a continuous image and its punctual and discrete connotators, according to Barthes): »The moment of explosion is at the same time where the informational capacity of the system increases sharply. The curve of progress jumps to an absolutely new, unpredictable and more sophisticated path. The dominant element, which appears as a result of explosion and determines future development, may be any system element – or even an element of another system – that is
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accidentally drawn by the explosion into the web of future possibilities. But in the following phase, it will have created a predictable chain of events.« (Lotman 1992: 28f.)7
Lotman’s conception of historical progress undoubtedly makes use of the physical theory of points of bifurcation in natural processes (points of indeterminacy = »explosions« in Lotman), as revealed for example in Ilya Prigogine and Isabelle Stenghers’ book Order out of chaos (first published in French in 1979 under the title La nouvelle alliance). These authors cite (among others) Henri Bergson, and they attempt to reintroduce the scientific idea of irreversible time in the life-experience, an idea which has been underestimated by classical mechanics. The time of diachronic evolution, as analyzed by Lotman, has some features in common with psychic time as defined by Bergson. It tends to overcome its own moments of discontinuity (»explosions«) by integrating them retrospectively into a »gradual«, »predictable« process of self-understanding. While the explosions are often due to external (economic or political) events, the reduction of their indeterminacy in »gradual« (continuous) periods should be mainly internal or mental. However, Lotman’s idea of continuous time is quite different from both Bergson’s as well as Prigogine and Stenghers’. And what is more curious, it contradicts Lotman’s own ideas as outlined in his earlier articles. Paradoxically, the moments of explosion do not present a dispersion but instead an extreme concentration – and integration – of contradictory possibilities. From a temporal perspective, this implies that an explosion can be integrated (!). Its discontinuity and rupture are semantically richer than the continuity of »gradual development«. This becomes clear when Lotman attempts to combine the opposition »continuous/discontinuous« with another great opposition in culture: »common names/proper names«:
7
A more traditional opposition of »culture/civilization« can easily be read into this distinction. But the change and partial permutation in terminology is no longer fortuitous: Lotman, a brilliant theoretician of culture, was aware of culture’s limits and did not raise it to an absolute. Thus, in the title of his book, he designates it as something that instead resembles a stable and gradually developing »civilization« while he designates the violent and creative element of history by introducing the new, non-cultural term of »explosion«.
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»The world of common names tends toward processes of gradual development [...]. The space of proper names is a space of explosion. It is no accident that historically explosive epochs push »great people« to the surface, i. e., they actualize the world of proper names.« (Ibid.: 211)
And he continues: »Thus, dynamic processes of culture are uniquely constructed as swings of a pendulum between the state of explosion and the state of organisation, which is realized in gradual processes. The state of explosion is characterized by a moment of identification of all opposites. The different appears to be the same.« (Ibid.: 245)
When we contrast these statements to those of Lotman’s essays in the 1970s, we can observe that their conceptual distribution has been inverted. In the article quoted above, »The Origin of Narrative in a Typological Perspective«, Lotman associates a continuous state with myth, and in another article, »Myth – Name – Culture« (written with Boris A. Uspensky in 1976), he describes myth as based on the proper-names model8. Now, as we now see, a continuous state appears on the opposite side, in the gradual development regulated by the common-names model. In the same article on the origin of narrative, Lotman finds that a feature of mythological proto-narrative (whose »topological world [...] is not discrete«) is the identification of different, even opposing characters (which only really begin to be distinguished in genuine narratives of the later literary epoch). Nonetheless, his final book reverses this perspective as well: the »identification of all opposites«, in which »the different appears to be the same«, takes place in explosions that operate as a discrete break, not a continuous advancement.
8
A more detailed analysis of these two related problems in Lotman – the narrative and the proper name – is proposed in Zenkin 2008.
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Continuous (integrated)
Discontinuous
Articles of the 1970s/1980s
Myth Proper names The different as the same
Culture and Explosion
Gradual development Common names
Anecdote Common names [System of relations] Explosion Proper names The different as the same [Isolated points]9
This apparently confounding permutation of terms is justified by a fundamental change of object: in Culture and Explosion, Lotman treats the continuous and discontinuous as characteristics of objective processes taking place in cultural and (more broadly) historical development; yet earlier he identified them with subjective tools employed by semiotic culture in order to make the non-semiotic reality intelligible10. An ontological view of the relationship between continuous and discontinuous thereby takes the place of a gnoseological one. In this way, the diachronic time on which Lotman’s theory of explosions is based differs from Bergson’s subjective durée. For it develops by itself, independent of any subject or its culturally shaped experiences. It is a real period of evolution, combining and alternating continuous and discontinuous segments. Not surprisingly, in the final chapter of his book, Lotman attempts to apply his conception to ongoing political events, such as the breakdown of communism, and to different perspectives on post-Soviet Russia. His new theory of continuous/discontinuous factors no longer serves to explore the conventional figures of
9 The meaning of the concept »discontinuity« has also changed inasmuch as Lotman’s articles of the 1970s-1980s are in fact referring to discontinuous structures of relations, which unify diverse elements into a coherent system that has its own paradigmatic and syntagmatic order. In Culture and Explosion, however, he addresses discontinuous points of explosion which are disseminated along the non-systemic syntagmatic axis of history. 10 A »survival« of such a conception is still found in Culture and Explosion when Lotman refers to the »necessity of reconciling the non-discreteness of being with the discreteness of consciousness« (Lotman 1992: 251).
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culture but rather the unconditional reality of history that is not reducible to culture. It should also come as no surprise that in the title (and the conceptual structure) of his book, the term »culture« is topical and placed besides another, non-cultural term, »explosion«. Yuri Lotman was never an orthodox »structuralist« if we understand structuralism as the absolute predominance of the synchronic over the diachronic or as a methodological refusal to inquire into the origins and the laws of historical evolution. Let us consider once more Lotman’s article »The Origin of Narrative in a Typological Perspective«. Its title alone is indicative of the author’s evolutionist preoccupations. Moreover, its argument presents a real »myth of origin«, explaining the birth of narrative by a kind of dialectical synthesis of two pre-narrative or proto-narrative forms. Not surprisingly, in his late period Lotman resolutely turned to diachronic and evolutionist problems such as the onto- and phylogenesis of human consciousness and the dynamics of historical progress. After this threshold is reached, the function of the continuous/discontinuous duality shifts radically. When this duality is envisaged synchronically, it demarcates a variety of signifying systems or even different approaches to interpretation. Some of them, such as poetry or the image – and we might also add here the body or the sacred – produce (more or less imaginary) mimetic representations of the world in the manner of analog cybernetic machines. Other ones, such as language and language-like systems11, construct discrete models of the world in a series of separate operations, as do digital machines12. In semiotic research, they were both objects of analysis, i. e., of translation into its discontinuous meta-language. For obvious reasons, such translation was easier with (quasi-)linguistic systems, themselves dis-
11 Can literature be counted among these systems? The recognition of the integrated, continuous nature of its texts should suggest a negative answer. 12 This parallel with cybernetic machines ought to be defined more precisely: In their inner functioning, the two types of machines (whose elementary examples might include the slide-rule and the abacus) practice both continuous and discontinuous modelling of incoming data. To read the results of their calculation, however, a discrete interface is needed (for instance, a graduated scale on the slide-rule or another analog device). Consequently, the discontinuous remains present even in the machines dominated by the principle of continuity.
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cretely organized, whereas the continuous systems (images, etc.) resisted translation and could be only comprehended by it in part. Because they were opaque, these did not permit an exhaustive analytical description. But when the duality of continuous/discontinuous takes on diachronic form, the continuous segments of »gradual« evolution – highly predictable and transparent in the case of abstract notions – turn out to be less substantial or interesting for historians than discontinuous points of »explosion« – which are dense, integrated, and rich in possibility. Continuous models in semiotics, philosophy and sociology were created in Lotman’s lifetime (or afterwards), and they were primarily non-historical, exploring either synchronic interactions or highly generalized processes that developed in indeterminate, quasi-geological time13. However, Lotman’s own intellectual trajectory also led him to historicize the relationship between the continuous and discontinuous. It thereby – as we must acknowledge – led him out of semiotics towards socio-philosophical reflection for which the facts of culture are no longer signs of anything but independent, substantial things and events which take place according to their own logic and for their own sake. Finally, continuous models have proven to be strange and difficult to grasp. As long as Lotman, along with many other researchers, was envisaging them as cultural artefacts, as semiotic and/or mental structures, they ineluctably remained on the margins of culture. By their
13 One thinks particularly of Deleuze and Guattari’s concepts of »migration« and »deterritorialization«, which are intended to explain massive movements in human history in the manner of instinctual movements of other living organisms in nature. The theoretician who approaches Lotman’s dualism most closely seems to be René Girard. His theory is that »sacrificial crises« appear from time to time and then yield to »gradual developments« (in Lotman’s terms) when society works to forget and/or misunderstand the collective crime it committed in the moment of crisis. Nonetheless, precisely historical evolution is what is eliminated from Girard’s conception inasmuch as a forgotten, misunderstood crisis can do little to teach people and must therefore reoccur time and again. On the contrary, Lotman’s historicism implies not only a periodical repetition of crises, but also a renewal, and development of society in their wake. (To a certain extent, it is an idea deriving from Marxist historical dialectics, relying on evolution and revolution.)
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alterity, they have demarcated a much more intelligible field of discontinuous systems. Nonetheless, when Lotman attempted to historicize and at the same time ontologize these continuous models in Culture and Explosion, they became relatively weak, relinquishing their plethora of integrated meanings to discontinuous moments of explosion. It remains an open question how we might still deploy historical semantics in order to examine objects that are so hard to access and yet so attractive.
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Der doppelte Lotman Jurij Lotmans Konzeptionen kulturhistorischer Dynamik zwischen Gesetz und Zufall
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In seinen letzten Jahren interessierte sich Jurij M. Lotman auffallend für Konzepte der Nicht-Vorhersagbarkeit und des Zufalls in historischen Prozessen. Am breitesten wird dies in seinem letzten Buch Kul’tura i vzryv (wörtlich »Kultur und Explosion«, auf den Titel komme ich zurück) entfaltet. Am Ursprung der folgenden Überlegungen stand die Absicht zu klären, wie weit diese neue Ausrichtung im Kontext der heutigen theoretischen Diskussion um die Literaturgeschichte trägt und in welchem Verhältnis sie zu früheren Ansätzen Lotmans steht. Überraschenderweise nahm jedoch meine Unklarheit über diese Fragen mit fortschreitender Lektüre eher zu. Von Anfang an hatte ich Zweifel an der Meinung von zwei US-amerikanischen Slavisten: »[…] Lotman’s last book […] synthesizes the work of the Moscow-Tartu school of more than 35 years.« (Deltcheva/Vlasov 1996: 148)
Sogar diese Autoren, die Kul’tura i vzryv als ›Synthese‹ lesen, sehen eine Differenz zu Lotmans früherem Werk, und sie begründen die neue Ausrichtung mit den politischen Entwicklungen nach 1989. Dabei können sie sich insbesondere auf den Schluss des Buches berufen,
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wo Lotman explizit auf die politische Wendezeit Bezug nimmt und mit mahnendem Gestus die Hoffnung ausspricht, dass Russland seine binären Traditionen verlassen und sich dem europäischen ternären Kulturmodell anschließen könnte. Lotman hat in semiotischen Thesen kurz vor seinem Tod auch geäußert, die Gegenwart sei ein Tynjanovscher »promeutok« (eine »Zwischenzeit«)1 und hätte es sich zur Aufgabe gemacht, den Strukturalisten auszulachen und seine raffinierten Modelle zu zerschlagen (Lotman 1992b: 408f.). Doch eine retrospektive Deutung der Lotman-Schule auf ihre politische Leistung und ihre Entwicklung auf die Veränderungen des Umfelds zu reduzieren, würde ihr ihren wissenschaftlichen Wert nehmen. Auch Kul’tura i vzryv ist mehr als die Kulturtheorie zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Deutung dieser letzten ›Wende‹ Lotmans scheint mir grundsätzliche Fragen aufzuwerfen. So fällt auf, um es in seinen späten Kategorien zu sagen, dass der Grad an Erwartbarkeit der späten Thesen innerhalb der Evolution seines Werks nicht sonderlich hoch ist. Dies spricht – immer nach seinem eigenen Ansatz – tatsächlich für einen Einfluss äußerer, Lotman würde wohl sagen: außersemiotischer Ereignisse. Doch lässt Lotmans Spätwerk viele Fragen offen, oder wie Schönle/Shine gerade in Bezug auf die Frage der späten Entdeckung der Unvorhersagbarkeit bemerken: »He died before he could consider how this new premise would transform his interpretations of distinct episodes of Russian literature and culture« (Schönle/Shine 2006: 4). Übrigens ist auch die Frage von Tod und evolutionärer Kontingenz, darauf ist zurückzukommen, ein Thema seiner späten Arbeiten. Die Sachlage spricht allerdings nicht dafür, dass Lotman die innere Spannung seiner Theorie aufgelöst hätte, hätte er dafür nur genügend Zeit gehabt. Vielmehr geht es im Folgenden um eine Form der Widersprüchlichkeit, die vermutlich in Variationen immer schon sein Werk prägte. Doch zuerst müssen wir etwas weiter zurückgehen. Jurij Lotman steht im weiten Feld der Semiotik (und erst recht des Strukturalismus) für
1
Dabei bezieht er sich implizit sicher auf die literaturhistorische wie gegenwartsbezogene Verwendung des Terminus bei Jurij Tynjanov im Boris Pasternak gewidmeten Aufsatz Promeutok (Zwischenzeit, 1924), wo Tynjanov eine Analyse der Gegenwart gleichsam aus literaturhistorischer Distanz versucht.
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eine betont historische Position. Dies zeigt das Spektrum seiner Forschungen, dies sagte er auch selbst, etwa wenn er retrospektiv den »prinzipiellen Unterschied zwischen unserer und der westlichen Semiotik« darin sah, dass die russische Semiotik die Modelle nicht als Selbstzweck, sondern zur »Disziplinierung des Geistes« und als Hilfsmittel (orudie) verwendet habe (Lotman 1990b: 296). Klaus Städtke (Städtke 1981: 405) betonte in der Einführung zu seiner deutschen Anthologie mit Aufsätzen Lotmans, dass bei diesem die »Spezialstudien zur russischen Literaturgeschichte« den rein theoretischen Arbeiten auch biographisch vorausgingen. Vermutlich hat diese historische Ausrichtung damit zu tun, dass man es bei Lotman bzw. der »Moskau-Tartu-Schule« nicht mit einem geschlossenen Theoriegebäude zu tun hat. Christa Ebert (2002) meint zu Recht, das »Ideal einer stringenten wissenschaftlichen Methode« sei nie erfüllt worden, »die Schaffung einer eigenen Zeichentheorie« sei aber »auch gar nicht beabsichtigt« gewesen. Auch Klaus Städtke (Städtke 1981: 431) bemerkte, Lotman habe »keine geschlossene Literaturtheorie oder Poetik geschrieben« und »keinen Begriff des Kunstwerkes oder des Ästhetischen schlechthin entwickelt«; er wiederum führt dies auf formalistische Traditionen zurück. Ob allerdings das Nicht-Stringente bei Lotman tatsächlich stringente Methode ist, ist zu bezweifeln. Jedenfalls ist die Kritik Boris Gasparovs aus den 90er Jahren nicht ganz von der Hand zu weisen, der umgekehrt sogar von einem »absoluten«, ja utopischen Deutungsanspruch der Schule spricht (Gasparov 1994: 292). Lotman selbst sieht in seiner Replik auf Gasparov die historische Leistung der sowjetischen Semiotik immerhin im Sprung von der Nichtwissenschaft zur Wissenschaft (Lotman 1990b: 297) – was wiederum tatsächlich in formalistischer Tradition steht. Auffallend ist jedenfalls Lotmans unübersehbarer Hang einerseits zu metaphorischen Erklärungen und Begrifflichkeiten, andererseits zu einer betont fächerübergreifenden Perspektive. Ersteres geschieht, obwohl er sich auch in den späten Arbeiten zumindest kritisch über 2 wissenschaftliche Metaphorik äußert; letzteres wiederum müsste man
2
Die Wahrnehmung der Forschung (»Lotman, der metaphorische Begriffe liebte« (Ebert 2002); vgl. Lang 1981: 446f., der u. a. davon spricht, dass von Lotman ganze »Begriffsreihen« metaphorisiert würden) entspricht nicht Lotmans metaphorikkritischem Selbstbild. Noch in Kul’tura i vzryv
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im Licht der Kybernetikbegeisterung der 50er und 60er Jahre untersuchen, die sich als Metawissenschaft, aber auch als Ort kultureller Macht und Kontrolle etablierte. Lotmans durchgehend historische Position ist in einem Punkt zu relativieren. Im engeren Sinne evolutionäre bzw. prozessuale Fragen, die Diachronie nicht nur als Summe synchroner Schnitte betrachten, spielen bei ihm nur lokal eine Rolle. In den Indices, die Rainer Grübel seiner deutschen Übersetzung der Struktur des künstlerischen Textes (Lotman 1973) und Karl Eimermacher seiner Anthologie von LotmanAufsätzen (Lotman/Eimermacher 1974) beigefügt haben, finden sich keinerlei Stichworte wie Evolution oder Prozess, die über isolierte Randbemerkungen hinausgehen würden; dies ändert sich auch später lange nicht. So lassen sich überall Beispiele von Epochenmerkmalen finden, kaum aber Überlegungen zu Übergängen, zur evolutionären Dynamik, zu Ungleichzeitigkeiten oder zu Entwicklungsrhythmen verschiedener kultureller Bereiche, zur Dynamik von Biographie und Generation, zur Frage der Offenheit historischer Momente. Dabei treten, neben der Darstellung von Epochencharakteristika, gerade in der Struktur des künstlerischen Textes die Schnittstellen zu diesen Fragen offen zutage: etwa in der Entropiefrage, in der These der Umkodierung von Elementen der außertextlichen Realität, der Frage der Verletzung von Normen und Erwartungshorizonten oder derjenigen der »Energie« von Texten. Diese Lücke erstaunt nicht, wenn man die sowjetische Semiotik im Kontext des linguistischen Paradigmas und des westlichen Strukturalismus sieht. Sie erstaunt aber durchaus vor dem Hintergrund der formalistischen Theorie, insbesondere natürlich derjenigen Tynjanovs, an dessen Evolutionstheorie Lotman später explizit ansetzen wird; es wäre auch Roman Jakobson zu nennen, der einige Zeit Teilnehmer der berühmten Tartuer Sommerschulen war und viel Energie in solche Fragen investiert hatte. Lotman sah dies auch selbst gelegentlich anders. In seinem Vorwort zu Städtkes Aufsatzsammlung (Lotman 1981b: 9) meint er, in den siebziger Jahren hätte mit der Hinwendung zu textübergreifenden Fragen auch eine zu »diachronen Prozessen« in semiotischen Systemen stattgefunden. Ersteres hat aber sicher eine ungleich höhere Bedeutung als letzteres.
stellt er eine Opposition von Metaphorik und »genauen Modellen« auf (Lotman 1992a: 35; dt. 2010b: 29).
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Lotman teilt seine gewisse evolutive Theorieschwäche mit Vertretern ganz anders gelagerter Schulen, strukturalistischen wie sowjetmarxistischen. Sie ist jedoch gerade vor dem Hintergrund dessen, dass er ein Bollwerk gegen offizielle Ideologismen in der Literaturgeschichte darstellte, mehr als eine belanglose Lücke. Mehr noch: Sie affiziert zentrale Positionen seiner eigenen historiographischen Arbeit auf eine manchmal irritierende Weise. Ich weise dazu nur auf ein Beispiel hin. Es gibt in der sowjetischen Literaturgeschichte eine durchaus von großen Namen wie Boris Tomaevskij oder Grigorij Gukovskij getragene Tendenz, Pukin als Überwinder der russischen Romantik schon um das Jahr 1823 zu zeigen. Diese Periodisierung ist stark ideologisch motiviert und dem der russischen Tradition eigenen, apriorischen Primat realistischer Schreibweisen geschuldet; sie dient vor diesem Hintergrund v. a. der Kanonsicherung, kann so doch die wahre, unikale und geniale Größe Pukins (und, vorbereitend, die vermeintliche Zäsur von 1825) gezeigt werden. Nimmt man Epochenbegriffe ernst (was alle diese Literaturhistoriker an sich tun), dann führt dieses Modell auch intern zu unlösbaren diachronen Widersprüchen: Es lässt die russische Romantik enden, fast bevor sie begonnen haben kann, und es postuliert einen Realismusbegriff, der mir jede Möglichkeit einer genaueren Bestimmung der Phasen bis mindestens 1842 nimmt. So wird Pukin im besten Fall zum Realisten unter Romantikern, was alle Terminologie im Grunde ad absurdum führt.3 Als Epochenmodell ist dies auch mit den verwandten europäischen Romantiken (etwa in Frankreich oder Polen) vollständig inkompatibel. Überraschenderweise übernimmt Lotman, der dem offiziellen Realismusbegriff immer kritisch gegenüberstand, dieses Modell weitgehend. Noch im Jahr 1988 führt er Pukins »Realismus« auf die Krise romantischer Positionen im Jahre 1823 zurück (Lotman 1988a: 14ff.), die zu einer zunehmenden Brechung auf der Ebene von Sprache bzw. Stil wie der eingeführten Realia führe; bereits zum Ende der zwanziger Jahre erkennt Lotman eine »neue Phase des Realismus« (ebd.: 21). Lotman neigt in diesen Kategorisierungen dazu, die Überschreitung aller Arten von klischierten Verfahren wie auch Pukins zunehmenden
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Dies kann hier nicht ausgeführt werden; siehe dazu Th. Grob, Russische Postromantik: Das Epochenproblem und die postromantische Biographie (Osip Senkovskij) [im Druck].
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»Historismus« (ebd.: 20 u. a.) als Verlassen der Romantik und dies wiederum über die Feststellung einer Tendenz zum »Objektiven« (ebd.: 17) als Realismus zu deuten; auch Pukins Hinwendung zu dramatischen und dann zu prosaischen Formen wird so gedeutet. Folgerichtig wird der ›späte‹ Pukin der dreißiger Jahre zum Inbegriff des klassischen Werks, das zu »Reife und Tiefe« fand (ebd.: 124) und das als symbolisches »System« gelesen werden kann (ebd.: 131). Diese Rahmenkonzeption entspricht nicht Lotmans sonstigem Sinn für Mehrfachkodierungen und Komplexität. Sie bleibt auch nicht marginal, sondern strukturiert die Darstellung und stellt diese in den Dienst der Kanonisierung, was bisweilen auf Kosten der analytischen Tiefenschärfe geht. Das Phänomen bleibt auch dann auffallend, wenn es hier teilweise didaktischen Absichten in einem Text für eine breitere Leserschaft geschuldet ist: Lotmans Pukin-Lektüre übergeht damit das Widersprüchliche und Paradoxale, die Relativität jeder ästhetischen Wahrnehmung und Wertung, geschweige denn der Wirklichkeitsmodellierung. Vor allem aber nimmt sie Lotmans eigene, diffizilere Darstellungen von Pukins Spiel mit literarischen und nichtliterarischen Kodes und Texten zurück. Lotman opfert damit die Komplexität einem übergeordneten »Sujet« von Ganzheitlichkeit und einer Teleologie der Reifung: Er suggeriert, der ›späte‹ Pukin sei der ›fertige‹ Pukin und seine Entwicklung habe nur das Ziel haben können, zum Genie der Nation zu werden. Dieses Modell findet sich beinahe wörtlich auch in Lotmans Pukin-Biographie aus den frühen 80er Jahren. Diese stellt eine große Leistung dar, was die Entdeckung der Lesbarkeit einer Biographie betrifft. Doch durchzieht die Monographie eine sonderbare, sich gegen Schluss steigernde Narrativierung: Der Pukinsche Heldenmythos dominiert das Erzählen und muss in allen Dingen unbeschädigt bleiben, Pukin steht meist gegen seine Zeit, immer aber über ihr, er ist seinen literarischen Kollegen immer voraus, seine Probleme sind monumentaler als die der anderen, und er bleibt im Tod der Sieger, da er 4 in die Unsterblichkeit eingeht. Alles läuft auf den letztlichen Triumph hinaus – auch wenn die Zeitgenossen und noch die folgenden Jahrzehnte keineswegs bereit waren, diesen zu erkennen – und damit auf den späteren Kanon. Die Linearität dieses Ansatzes überrascht umso
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»Puschkin starb nicht als Besiegter, sondern als Sieger« (pobeditelem); »Puschkin hatte gesiegt« (pobedil) (Lotman 1989: 324 bzw. 331).
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mehr, als die Selbsterfindung und -stilisierung dieses Dichters, seine Selbstmystifizierung zum eigentlichen Leitthema werden.5 Lotmans Mitstreiter Boris Egorov (1995) kritisierte die PukinBiographie aus solchen Gründen. In gewisser Weise tat er das, darauf hat schon Christa Ebert (2002) hingewiesen, mit Lotmans eigenen späten Kategorien. Egorov (Egorov 1995: 15) argwöhnt in Lotmans Versuch, in Pukin nur den Sieger zu sehen, eine Verflachung von dessen Tragik. Mich interessiert hier weniger dieser eher ethische Aspekt oder, dass eine derart simplifizierende Rollenverteilung etwa in ökonomischen Dingen oder auch in der Charakterzeichnung nur schwer mit den Quellen in Übereinstimmung zu bringen ist.6 Hier geht es mir ausschließlich um den theoretischen Konflikt. Denn es stehen sich damit gleichsam zwei Lotmane gegenüber; wir könnten sie den ›narrativen‹ und den ›nichtlinearen‹ nennen. Ich versuche diesen Gegensatz zu präzisieren und stelle die Frage, warum Lotman diesen nicht gesehen bzw. thematisiert hat. Wenn man Egorovs Kritik konsequenter am späten Lotman orientieren würde, müsste sie noch radikaler ausfallen. Sie beträfe Pukins biographische Repräsentation ebenso wie den historischen Automatismus im Realismusbegriff. Ihr wesentliches Kriterium wäre die Frage einer evolutionären Kontingenz. Die Kontingenzfrage ist der Kern der späten Arbeiten Lotmans zur Evolutionsfrage, auch wenn er das Wort selbst, das im Russischen ohnehin schlecht eingeführt ist, meines Wissens nicht verwendet. Eine kontingenzorientierte Betrachtung würde eine Darstellung verhindern, in der sich Formgeschichte a priori auf den Realismus zubewegen muss, in der eine Biographie in strenger Linearität und Teleologie auf das reife Genie hinausläuft (wobei die
5
Abram I. Rejtblat hat diesen Aspekt mit seiner Arbeit Wie Pukin unter die Genies ging (Kak Pukin vyel v genii) (2001) schon im Titel zum Ausdruck gebracht, und ist damit (wie übrigens teilweise schon die Formalisten) Lotmans Theorie näher als dieser selbst.
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Die Phasen eines charakterlich kritischen Pukin-Bildes, die (außer unter Zeitgenossen) v. a. aus dem Umfeld des Formalismus stammen, können hier nicht rekapituliert werden. Sie haben auch einen Teil der westlichen Forschung beeinflusst (siehe etwa die auf ökonomische Aspekte fokussierte Monographie von André Meynieux [1966]).
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Reife natürlich vor dem Tod eintritt) und eine Rezeption auf den kanonisierten Nationaldichter. Der späte, kontingenzorientierte Lotman thematisiert die Textualität allen historischen Materials und die intrinsische Neigung der historischen Narration, ihr Material zu ›ordnen‹, aus ihm Chaotisches und Zufälliges herauszufiltern. Im Kapitel Historical laws and the structure of the text aus dem zu Lebzeiten nur englisch erschienenen Buch Universe of the Mind (dt. Die Innenwelt des Denkens) setzt er sich für Kategorien wie Unbestimmtheit (Lotman 1990a: 227, 236ff.)7, Unvorhersagbarkeit und Zufall (ebd.: 228ff.)8 und damit für eine Verbindung von Zufall und Gesetzmäßigkeit in der historischen Betrachtung ein, und er problematisiert die Orientierung historischer Narrative auf Anfänge und Enden (ebd.: 237ff.).9 Der Schluss des Kapitels zitiert beinahe eine verbreitete Definition von Kontingenz: »that the forms of culture which we know are certainly not the only ones possible.« (Ebd.: 244)10 Mit anderen Worten: Es könnte immer auch anders (gekommen) sein. Auch wenn diese Bestimmung nicht bedeutet, dass gänzlich zufällig wäre, wie »es« gekommen ist, so hätte eine konsequent auf diese Weise ausgerichtete Perspektive auf Literaturgeschichte doch weiträumige Konsequenzen von der Betrachtung phasenspezifischer Phänomene bis hin zu dynamischen Modellen formaler, thematischer, biographischer Art, ja sogar mit Bezügen auf einzelne Sujets bzw. »plots«. Im erwähnten Kapitel Lotmans ist von Literatur kaum die Rede, vielmehr polemisiert Lotman hier gegen hegelianisch geprägte Ge-
7 Dt. Lotman 2010a: 317ff. 8 Dt. ebd.: 306ff. 9 Dt. ebd.: 317ff. Dieses Buch, eigens für seinen englischen Verlag geschrieben, basiert auf Aufsätzen, die in die sechziger Jahre zurückreichen. Deswegen zeigt es Spuren verschiedener Entwicklungsstadien von Lotmans Denken. Die postume russische Ausgabe unter dem Titel Vnutri mysljaich mirov (Lotman 1996) verarbeitet noch Entwürfe aus der Entstehungszeit des Buches (vgl. die editorische Notiz ebd., XV). Auf seiner Basis entstand die 2010 erschienene deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Innenwelt des Denkens. 10 Vgl. ebd.: 335.
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schichtsperspektiven und gegen die französische »Annales«-Schule.11 Entsprechend fehlen all die Beispiele, die man als Literaturhistoriker hier erwarten könnte. So wie exakt dieser Aspekt des Kontingenten fehlt, wenn es um die Biographie Pukins geht. Konkreter werden die Beispiele in Kul’tura i vzryv, in deutscher Ausgabe Kultur und Explosion (siehe zu Lotman 1992a). Die durchaus korrekte deutsche Übersetzung verschiebt die Bedeutung dieses Titels. Zwar bedeutet »vzryv« »Explosion« oder »Detonation«, doch bezeichnet das Wort Vorgänge allgemein, die sich plötzlich ereignen: So finden sich in Wörterbüchern etwa die Beispiele »vzryv smecha« (lautes Auflachen), »vzryv vesel’ja« (Heiterkeitsausbruch) oder »vzryv aplodismentov« (Beifallssturm). In all diesen Fällen würde man deutsch oder englisch kaum das Wort Explosion benutzen. Im semantischen Substrat von »vzryv« geht es also nicht unbedingt darum, dass sich in einem System Druck aufbaut und dann explosionsartig entlädt – obwohl dies in Lotmans Fall besonders die politischen Assoziationen nahelegen könnten. Beinahe im Gegenteil geht es, wie sich hier bestätigen wird, um Phänomene, die nicht vorhersagbar sind – was im Wort »Explosion« wiederum nicht unbedingt der Fall ist. »Plötzlichkeit« oder »Eruption« würde das, was Lotman meint, vielleicht präziser treffen. Lotman lehnt sich schon im erwähnten Kapitel von Universe of the Mind (1990a: 230ff.)12 an den Physikochemiker Ilya Prigogine (Il’ja Romanovi Prigoin, 1917–2003) an, einen bedeutenden Vertreter der manchmal als Chaostheorie bezeichneten »complex dynamics« Theorien, die sich eben nicht mit ›Chaos‹, sondern mit komplexen Ordnungen bzw. Dynamiken befassen. Prigogine wird von Lotman eingeführt als Denker, der das Zufällige und das Gesetzmäßige zu verbinden vermöge. Der Belgier russischer Abstammung hatte 1977 den Nobel-
11 Im letzten Kapitel von Universe of the mind (269-272) (dt. Die Innenwelt des Denkens 2010a: 370-375), das von der Frage nach der Möglichkeit einer Geschichtsschreibung ausgeht, scheint Lotman dann aber alle Brüche weitgehend wieder einzuebnen. Es bleibt die Kritik vor allem an der »Annales«-Schule (vgl. auch Lotman 1992c). Lotman verknüpft die Kritik an der »longue durée« mit dem Hinweis, erst durch die Zufälligkeit sowie die ›unbewussten‹ Erscheinungen komme auch Freiheit und Individualität in den historischen Prozess. 12 Dt. Lotman 2010a: 313ff.
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preis erhalten; 1982 wurde er Mitglied der russischen Akademie. Sein Beitrag zu den Theoriefeldern nichtlinearer Prozesse liegt vor allem auf dem Gebiet der Asymmetrie von physikalischen und chemischen Abläufen, der Differenzierung thermodynamischer Prozesse und der Rolle von Zeitachsen bzw. Elementen der Irreversibilität; berühmt wurden seine Untersuchungen zur Entstehung von geordneten Strukturen in sog. dissipativen Systemen, die fern sind von energetischen Gleichgewichtszuständen.13 Es sind diese Systeme, die bei Energieveränderungen unvorhersagbare Zustandsveränderungen vollziehen, wofür sich offenbar Lotman besonders interessierte. Lotman hält sich in seiner Rezeption vermutlich an eine russische Übersetzung aus dem Jahr 1986 unter dem Titel Ordnung aus dem Chaos (Prigoin/Stengers 1986).14 Eine genaue Bezugnahme wäre aber erst noch näher zu untersuchen. Prigogines Forschungen kreisen um sogenannte dissipative Systeme, um Systemzustände weit ab von einem energetischen Gleichgewicht. Dabei treten die von Lotman nun oft zitierten »Bifurkationen« auf, Momente, in denen ein System in seiner Entwicklung gleichsam Sprünge macht: Es muss sich für einen Weg entscheiden oder spaltet sich gleichsam, indem es sich gleichzeitig für verschiedene Wege entscheidet, wobei die Art der Entscheidung durch einen Beobachter nicht vorhersagbar ist. Die in solchen Bifurkationen entstehenden neuen Zustände sind irreversibel und dienen als Grundlage für die weitere Entwicklung. Der neue Zustand hat sich damit, auch dies ist ein zentrales Element dieser Theorien, von den ›urspünglichen‹ Systembedingungen und damit von kausalen Bezügen der Herleitung abgelöst. Die Frage ist in diesem Fall weniger, wie sehr Lotman diese Terminologie metaphorisch einsetzt. Auch innerhalb der Natur- und erst recht der Sozialwissenschaften haben Anwendungen chaostheoretischer Theoreme wohl immer einen metaphorischen Einschlag. Phänomene aus ganz verschiedenen Feldern terminologisch zusammenzu-
13 Für eine vertiefte Erklärung für Nicht-Fachleute siehe z.B. Cramer 1988/1993: 35ff. 14 1991 erschien zudem ein russischer Aufsatz unter dem Titel Philosophie der Instabilität (Filosofija nestabil’nosti. In: Voprosy filosofii 1991/6: 4652). Welche Arbeiten im englischen Original oder in anderen Übersetzungen von Lotman verwendet wurden, müsste eigens abgeklärt werden.
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bringen, ist jedoch in gewisser Weise das Wesen der immer interdisziplinären »complex dynamics« Forschungen. Prigogine arbeitet Lotmans kulturwissenschaftlicher Übertragung gleichsam vor; auch er weitet seine Forschungserkenntnisse immer wieder zu breiten wissenschaftstheoretischen, ja philosophischen Theoremen aus. So meint auch er, das Phänomen der Bifurkation müsse in der Verbindung von Zufall und Notwendigkeit, von Sprung und Stabilität »im Zusammenhang mit katastrophalen Veränderungen und Konfliktsituationen« gesehen werden, und auch er sieht darin, wie nun Lotman, »eine Quelle von Innovation und Diversifikation« (Prigogine/Nicolis 1987: 109ff.). Kul’tura i vzryv ist keine geschlossene, systematisierte Darstellung eines Problems, obwohl ihm eine theoretische Einführung in die Thematik vorangestellt ist. Dort heißt es, die Beziehung zur Außenwelt (»otnoenie k vne-sisteme, k miru«, Lotman 1992a: 7) einerseits, Statik und Dynamik (»otnoenie statiki k dinamike«, ebd.)15 andererseits seien die zentralen Fragen bezüglich jedes semiotischen Systems. Beide Aspekte werden sich durch den Text ziehen. Im dritten der kurzen Kapitel dann kommt das evolutionäre Modell in den Blick: Bewegung nach vorn, wie wir sie wahrnehmen würden, sei auf zwei Wegen möglich: kontinuierlich, und in diesem Sinne vorhersagbar, und als im »vzryv« realisierter Wechsel (izmenenie), und damit unvorhersagbar (ebd.: 17).16 Gewisse Kulturbereiche könnten sich nur kontinuierlich bewegen, und der »vzryv« andererseits geschehe immer im Wechselspiel mit stabilisierenden Mechanismen. Diese Gegenüberstellung zieht sich nun leitmotivisch durch das Buch, wobei sich der »vzryv« mit diversen semantischen Elementen anreichern und variieren wird. So sieht Lotman die beiden polaren Evolutionstypen, die sich bedingen und nie in reiner Form auftreten, im Wechsel, wenn sie Phasen bilden bzw. beenden, er sieht sie aber auch synchron, da verschiedene kulturelle Bereiche gleichzeitig verschiedene Geschwindigkeiten zeigen könnten (ebd.: 25).17 Der »vzryv« auch mit erhöhter Informativität verbunden (ebd.: 28f.),18 sei doch ein Prozess ohne Unvorhersagbarkeit redundant (izbytonyj). In
15 Dt. Lotman 2010b: 7. 16 Ebd.: 15. 17 Ebd.: 21. 18 Ebd.: 23.
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historischen Momenten des »vzryv« werde Geschichte zum Experiment, der »vzryv« bringe neue »Etappen« hervor (ebd.: 32)19 – auch wenn die Historiker dem Prozess später seine Unvorhersagbarkeit wieder nehmen würden. Unter den »vzryv« werden nun aber auch ganz andere Dinge gefasst: künstlerisches Neuerertum (ebd.: 26),20 der Moment in einem Gedicht, in dem »Unübersetzbares« Übersetzbares werde (ebd.: 40f.),21 wo man in eine andere Zeit falle, oder Pukins Verständnis von Inspiration (ebd.: 41, vgl. Kap. 5).22 Auch der Konflikt von Kodes bzw. Sprachen im Textinneren fällt unter den Begriff, der hier dem Statischen gegenübersteht. Die zahlreichen Beispiele entstammen häufig der Literaturgeschichte (und da meist der Romantik), doch zeigt sich auch eine Tendenz zu Bereichen wie Anthropologie, Eigennamen, Psychologie (insbesondere zum Traum), kulturellem Verhalten und anderem. Dieses Spektrum und die gelegentliche Sprunghaftigkeit der Erörterung können irritieren. So spricht Lotman beispielsweise in Bezug auf die Problematik des »Endes« bzw. zyklischer und linearer Zeitmodelle (ebd.: 248ff.)23 auf wenigen Seiten über die Semiotik des Todes, über Rituale der Vereinigung mit der Erde, freudianische Vorstellungen, religiöses Bewusstsein, Shakespeares Falstaff, den Selbstmord, den Tod im Abendland und die Symbolik der Sexualität. Der Schluss, ein kulturkritischer Hieb auf eine Gesellschaft, die Sex zu ihrer Metapher mache, ist mit dem Thema des Kapitels bestenfalls noch lose verbunden. Epochendiskussionen im eigentlichen Sinn sind nicht unter den Themen des Buches. Es gibt nur einzelne Hinweise; so sollen stabilere Phasen eigene Heldenbilder hervorbringen – er nennt die Byline, die Idyllenliteratur des 18. Jhs. –, während die wechselvolleren, sei es die Renaissance, die petrinische Zeit oder das spätere 19. Jh., ein weniger vorhersagbares, breiteres Spektrum hervorbringen und die Individualität betonen würden (ebd.: 101).24 Auch hier bilden die Figuren »zwei sich abwechselnde Typen der historischen Entwicklung« (ebd.). Wie andernorts erscheinen bei Lotman neben linearen auch zyklische und
19 Ebd.: 27. 20 Ebd.: 18. 21 Ebd.: 34. 22 Ebd.: 34. 23 Ebd.: 203ff. 24 Ebd.: 85.
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pulsierende historische Modelle – auch aufgrund des Wechsels zwischen Kontinuität und »vzryv«. Zu einem zentralen dynamischen Element wird so auch der ständige Wechsel von Streben nach Stabilität und dem Drang nach Neuem (ebd.: 125).25 Lotman nennt in Kul’tura i vzryv den Namen Prigogines nicht mehr. Doch sind sein Ansatz und seine Terminologie – er spricht nun wie schon in Universe of the Mind auch von »Selbstorganisation« (ebd.: 224)26 – von solchen Lektüren gleichsam imprägniert. Der Grund für diese Lücke liegt eher darin, dass Lotman überhaupt kaum mehr Hinweise auf verwendete Theoriemodelle gibt. Dies gilt auch beispielsweise für das konstruktivistische Autopoiesis-Modell, das er hier wie schon in den Thesen zur Semiosphäre zitiert, wenn er betont, die Außenwelt semiotischer Systeme könne für diese nur wirksam werden, wenn es in die innere Sprache übersetzt werde (ebd.: 205f.).27 Ob Lotman etwa den Biologen Humberto Maturana kannte, von dem Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann den Autopoiesis-Begriff borgten, bleibt unklar. Ähnliches gilt für das Paradigmenmodell von Thomas S. Kuhn (1962/1976), das durchschimmert, aber ebenfalls nicht genannt wird; dieses hatte Lotman allerdings schon früher zitiert (so z. B. in Lotman 1988b). Die Verschleierung des theoretischen Dialoges wird geradezu zu einem Merkmal dieser späten Texte. Die dem Buch Kul’tura i vzryv und den parallel dazu entstandenen Aufsätzen zugrunde liegenden evolutionären Modelle, die Theorien der Nichtlinearität entstammen, stellen einen eigentlichen Paradigmenwechsel im Denken Lotmans in Richtung einer nicht-teleologischen historischen Betrachtung dar. Dieser schließt produktive Modelle ein, die etwa die alte historische Problematik der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ oder die Problematik einer retrospektiven Linearisierung thematisieren. Der Gestus des Neuen wird durchaus explizit; dass er der neuen Phase zuschreibt, den Strukturalisten auszulachen, wurde zitiert. Lotman stellt nun frühere Ansätze durchweg als reduktionistisch dar, ohne sie aber abzulehnen. Ganz analog argumentieren übrigens die sogenannten »Chaostheoretiker« oft so, dass der bisher angenommene ›Normalfall‹ im neuen Paradigma zur
25 Ebd.: 104. 26 Ebd.: 183. 27 Ebd.: 169.
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Ausnahme wird, also einfachere Ordnung als Spezialfall von komplexerer Ordnung gesehen werden muss.28 Lotmans spätes Interesse für Kontingenz, Nichtlinearität und das ›deterministische Chaos‹, für Modelle komplexer Ordnung, im Grunde alle Ebenen des Denkens vom Ganzen des semiotischen Kosmos, der kein geordneter Raum ohne Zufälle mehr sei (Lotman 1992a: 208),29 bis hin zum Textbegriff, der nicht mehr eine isolierte, stabile Einheit meine (ebd.: 122, 178f.) 30. Die Frage bleibt jedoch bestehen, wie konsequent Lotman diesen Paradigmen folgt. Lotmans bevorzugte Beispiele vernachlässigter historischer Kontingenz kreisen um den Tod. Er weist darauf hin, welche Konsequenzen es gehabt haben könnte, wäre der überaus talentierte älteste der Turgenev-Brüder, Andrej, nicht so früh und überraschend verstorben (ebd.: 29)31. Lotman schließt vom Tod des jungen angehenden Dichters darauf, dass die Missachtung der Unvorhersagbarkeit in der Betrachtung historischer Prozesse diese redundant mache. Dabei verschweigt er allerdings, dass der weitere Verlauf auch dann nicht vorausgesagt werden könnte, wenn das junge Genie weitergelebt hätte – gerade das Beispiel des Todes trägt in Kontingenzfragen nicht sehr weit. Lotman meint weiter, dass Pukin zwar historisch eine gewichtige Rolle gespielt habe in der Entwicklung des literarischen Textes zur Ware – dass dies ohne Pukin aber mit Sicherheit ebenfalls eingetreten wäre. Dies alles passt durchaus in ein Modell nichtlinearer ›Kausalitäten‹. Seine Annahme jedoch, die weitere russische Literatur, ihre Funktion in der Gesellschaft, ja im »Schicksal Russlands« wäre ohne Pukin oder dessen Evgenij Onegin eine ganz andere geworden (ebd.: 97)32, ist theoretisch nicht mehr gedeckt. Sollte mit dieser Folgerichtigkeit eine ganz bestimmte Entwicklung gemeint sein, widerspricht dies der Nichtlinearität der Betrachtung sogar eindeutig. Hier zeigt sich wiederum die rhetorische Struktur, dass der sehr oft genannte Pukin immer als »Sieger« vom Platz geht: er widersteht allen epigonalen Tendenzen, auf ihn lassen sich alle großen positiven
28 Dazu gehört etwa, was im Kontext Prigogines relevant ist, die klassische Thermodynamik (vgl. etwa Cramer 1988/1993: 147ff.). 29 Dt. Lotman 2010b: 171. 30 Ebd.: 101, 158ff. 31 Ebd.: 23f. 32 Ebd.: 81.
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Entwicklungen zurückführen, er erfüllt die überindividuellen Anforderungen der Zeit. Hinter der ungebrochenen Mythisierung der Figur Pukins stehen zudem weitere narrative Mythoide, denen die Zufallsthematik nichts anhaben zu können scheint. Das erste dieser Narrative betrifft die Sonderrolle der Kunst, die je nachdem in Opposition steht etwa zur Wissenschaft oder manchmal auch mit dieser zusammen zur Technik (ebd.: 18; vgl. auch 37)33 – so wie »echte« Kunst der »scheinbaren« entgegensteht (ebd.: 186)34. Der Kreativität wird dabei ein stets positiver, systematischer Ort mit einer strukturellen Spezifik zugewiesen. Dies beerbt gleichsam Lotmans frühere, immer schon problematische Gegenüberstellung von Alltagssprache und sekundären Modellierungen; mit Evolutionsmodellen aus der nichtlinearen Dynamik ist das keinesfalls zu begründen. Deutlich zeigen sich hier noch Spuren des insularen Selbstverständnisses der sowjetischen Intelligenz. Für den Gestus, künstlerische Kreativität von der Normalität abzuheben, steht synekdochisch Pukin, und darauf laufen die Pukin-Beispiele auch meistens hinaus. Dahinter steht ein weiteres mythoides Narrativ, das mit den neuen Theoriemodellen konfligiert. Für Lotman sind die Momente weit ab vom Gleichgewicht, die Momente der unerwartbaren und plötzlichen Systementscheidungen gleichbedeutend mit Momenten von Freiheit und Individualität. Mit diesen Kategorien, die bei ihm nun zu einem Leitmotiv der evolutionären Betrachtung werden, verlässt Lotman die Position des Betrachters und überträgt die Unentscheidbarkeit als Willens-Spielraum auf den Akteur der Geschichte. Dies geht nicht widerspruchfrei, sieht er doch gleichzeitig in diesen Phasen eine erhöhte Zufälligkeit, und er gesteht andernorts auch zu, Massen könnten mindestens so unerwartbar reagieren wie Individuen (Lotman 1990a: 234)35. Er hätte ebensogut erwähnen können, dass revolutionäre Situationen die Freiheit der Individuen auch einschränken können. Mit der Theorie des Nichtlinearen jedenfalls hat diese Ethisierung oder sogar Moralisierung nur noch von ferne zu tun. Am deutlichsten wird diese Tendenz im erwähnten politischen Schluss des Buches. Hier wird die mahnende Pointe aufgebaut, dass Russland in der Umbruchzeit der zerfallenden Sowjetunion von den
33 Ebd.: 20, 41. 34 Ebd.: 154f. 35 Ebd.: 316f.
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binären, apokalyptischen Entwicklungsmodellen zu den ternären eines evolutionären Denkens finden müsse; dieser Diskurs wird selbst in leicht apokalyptischem Ton vorgetragen. Lotman greift hier ohne expliziten Verweis auf seinen früheren, legendär gewordenen Aufsatz mit Uspenskij über die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur zurück (Lotman/Uspenskij 1977). Abgesehen davon, dass schon diese Thesen angreifbar waren: Von einer Binarität in diesem Sinne zur Vorstellung eines »vzryv«, wie sie aus den »complex dynamics« kommt, gibt es allenfalls eine lose metaphorische, ja assoziative Verbindung. Das ist nur eine der Inkonsistenzen dieser späten Ansätze, die deswegen jedoch nichts von ihrem anregenden Charakter verlieren. Zwischen Lotmans Begriff der Semiosphäre und seinem ZufallsDiskurs liegt nur eine sehr kurze Zeitspanne, und Kul’tura i vzryv zitiert aus den Erörterungen zur Semiosphäre, als könne man dies einfach integrieren. Tatsächlich aber findet hier noch einmal eine beträchtliche Verschiebung der Gewichte statt. 36 Zwar hatte Lotman schon früher, im Aufsatz Über die Semiosphäre, die notwendige innere Heterogenität (neodnorodnost’) der Semiosphäre als Potential ihrer Dynamik betont (Lotman 1984/1992: 16)37, doch lag im Kontext der Semiosphäre – die ein Konzept der frühen 80er Jahre war und dies nie ganz abstreifte – die Betonung auf dem gemeinsamen Kosmos. Dies war begleitet von einer organizistischen Metaphorik, und der Aufsatz mündet in eine lange Erörterung der universalen Gesetze der Symmetrie. In Kul’tura i vzryv hingegen liegt der Akzent anders. Immer noch gibt es ein »Gedächtnis des Ganzen« in allen Elementen eines Systems, doch ist nun »der semiologische Raum erfüllt mit frei sich be-
36 Kim Su Kvan (2003: 14ff.) spricht von einer allgemeinen »dvusmyslennost’« (eigentlich »Zweideutigkeit«, 15) bzw. einer »dvojstvennost’« (Dualität, 17) des Lotmanschen Denkens, dies synchron – durch die Tendenz zur Systematisierung einerseits, die diese durchbrechenden Beispiele andererseits – wie auch in seiner Entwicklung, die von der frühen »panlinguistischen« Systematisierung zu einem prinzipiellen »Polyglottismus« führe (15). Kvan stellt letzteres in den Rahmen einer allgemeinen Tendenz vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus (16). 37 Dt. Lotman 2010a: 166.
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wegenden Bruchstücken aus verschiedenen Strukturen«.38 Es ist dies, um es in einem beinahe Lotmanschen Beispiel zu sagen, eine Differenz wie zwischen dem klassizistischen und dem romantischen Garten. Wiederum steht man gleichsam zwei Lotmans gegenüber: einem, der auf der Wissenschaftlichkeit der Methode und ihrem umfassenden Charakter beharrt, und dem, der das Neue betont, mit einer Terminologie der unerwarteten Wende argumentiert, der sich zu widersprechen und die Nichtkohärenz zu denken wagt, der zumindest in praxi seine Methode der abschweifenden, metaphorischen Beispiele als Teil der Theorie präsentiert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich im späten Denken Lotmans das Interesse am Unvorhersehbaren und das Einheitsdenken gleichzeitig verstärkt haben. Präferiert man die theoretische Wendung zu kontingenter Offenheit, dann wird man einige Elemente dieser Theoriebildung, insbesondere in den Wertungen, nicht übernehmen können. Dennoch bleibt in dieser Perspektive Kul’tura i vzryv ein spannenderes Buch als die Arbeiten der 1980er Jahre und noch Universe of the mind, das vom Bemühen um die Synthese geprägt ist. Bei Kul’tura i vzyv ist es eher so, dass Versuche wie bei Deltcheva/Vlasov (1996), daraus ein System abzuleiten, etwas hilflos wirken. Nimmt man diese späte Akzentverschiebung in Lotmans Denken also ernst, dann wird man diesen Lotman öfter gegen den anderen lesen müssen. Man kann sich dabei an Lotmans eigenes Bild der schwebenden Bruchstücke halten, was die Synthese seiner Ansätze relativiert. Der Vorzug der späten Arbeiten ist ihr anregender Charakter: sie postulieren Neues, auch wenn sie es noch nicht durchgehend einlösen können. Gemessen an Lotmans eigenen Kriterien, die der poetischen Sprache eine höhere Unbestimmtheit zuschreiben, würde man damit allerdings Lotman tendenziell ästhetisch lesen – gegen seinen expliziten Willen: denn der wissenschaftliche Text, so behauptet er noch in Universe of the Mind, brauche keine Mediation.39 Seine späten Texte brauchen diese aber in erhöhtem Maße, ist doch ihre Uneindeutigkeit und Unvorhersagbarkeit deutlich gewachsen.
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